Michael Paschen Erich Dihsmaier Psychologie der Menschenführung
Michael Paschen Erich Dihsmaier
Psychologie der Menschenführung Wie Sie Führungsstärke und Autorität entwickeln. Alle Kapitel als Hörbeiträge auf CD Mit 21 Abbildungen und 10 Tabellen
1C
Erich Dihsmaier Südhang 29 51580 Reichshof E-Mail:
[email protected]
Michael Paschen Profil M Beratung für Human Resources Management GmbH & Co. KG Berliner Straße 131 42929 Wermelskirchen E-Mail:
[email protected] www.profil-m.de
ISBN-13
978-3-642-19877-9
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Joachim Coch Projektmanagement: Michael Barton Lektorat: Daniela Böhle, Berlin Umschlaggestaltung: deblik Berlin Fotonachweis Überzug: alle Fotos © imago Grafiken: www.diebotschafterin.de Satz: Crest Premedia Solutions (P) Ltd., Pune, India SPIN: 12662388 Gedruckt auf säurefreiem Papier
26/2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Dieses Buch ist Ergebnis jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema Menschenführung. Wir interessieren uns als Psychologen vor allem für die psychologischen Phänomene in der Führung. Uns wurde im Laufe der Zeit immer klarer, dass Führung letztlich der Sammelbegriff für alle angewandte Psychologie ist: Wer führen will, der möchte, dass sein Wille in der sozialen Welt geschieht! Wer darüber nachdenkt, wie man Einfluss auf andere Menschen gewinnt, berührt alle Fragen der angewandten Psychologie. Dieses Buch ist gedacht für alle Leser (oder Hörer, denn alle Kapitel finden sich als Hörbeiträge im mp3-Format, vom Autor Erich Dihsmaier für Sie in seinem Arbeitszimmer aufgenommen, auf der beiliegenden CD), die sich dafür interessieren, ein tiefgründigeres Verständnis für die psychologischen Phänomene in der Führung zu gewinnen, jenseits von kochrezeptartigen und oberflächlichen Ratgebern. Wer sich dafür interessiert, wie Charisma entsteht und wirkt, wer etwas über die kulturschaffende Kraft großer Führer erfahren möchte, wer nicht bei einfachen Handlungstipps für den Führungsalltag Halt machen möchte, sondern Führungsprobleme aus unterschiedlichen Perspektiven interpretieren und verstehen will, wird in diesem Buch fündig werden. Wer sich mit Fragen von Macht und Machterwerb beschäftigen will, wer die zugrunde liegende Dynamik in Konflikten sensibler erfassen möchte und die psychischen Probleme der Mächtigen genauer kennenlernen will, für den wurde dieses Buch geschrieben. Wer verstehen will, warum bestimmte Führungskräfte Führungsstärke und Autorität gewinnen und warum andere scheitern, für den wird dieses Buch Denkanstöße und Einsichten bereithalten. Das Buch richtet sich aber auch an Führungskräfte, die ihren eigenen Entwicklungsstand kritisch reflektieren möchten und Klarheit über diejenigen Persönlichkeitsaspekte gewinnen wollen, in denen Chancen für weiteres Wachstum liegen. Dieses Buch ist kein wissenschaftliches Buch in dem Sinne, dass wir Befunde zitieren und einen Überblick über den Forschungsstand versprechen. Es ist theoretisch fundiert, aber dennoch aus einem ganzheitlichen Praxisblick heraus verfasst. Wir arbeiten seit vielen Jahren im Training, im Coaching und in der Entwicklung von Führungskräften, aber auch in ihrer Beurteilung, Potenzialanalyse und Auswahl. Wir schreiben damit dieses Buch nicht aus einer theoretischen Distanz heraus, sondern auch auf der Basis unzähliger intensiver Stunden Arbeit und Austausch mit Führungskräften und Managern. Je mehr wir uns mit dem Thema Menschenführung beschäftigt haben, umso faszinierender, inspirierender und facettenreicher ist das Thema für uns geworden. Wir würden uns freuen, wenn wir in diesem Buch ein wenig von dieser Faszination weitergeben konnten. Zum Gelingen dieses Buches haben aber noch andere Personen beigetragen: Zunächst einmal danken wir Herrn Coch und Herrn Barton vom Springer Verlag für ihre konstruktive Begleitung des Werkes und für viele Anregungen im Detail. Unser Dank gilt aber auch Frau Anika Borchardt, Frau Yvonne Faerber, Frau Britta Herrmann, Frau Elena Malinova, Frau Agnes Mariani und Herrn Patrick Wiederhake, die jedes Kapitel sehr kritisch gelesen und viele Formulierungen und Argumentationslinien verbessert haben. Ein besonderes Dankeschön gilt unserer Lektorin, Frau Daniela Böhle, die mit ihrem Sprachgefühl und ihrem konstruktiv-kritischen Blick ohne Zweifel zur Verbesserung des Werkes beigetragen hat. Michael Paschen Erich Dihsmaier
Februar 2011
VII
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9
Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden . . . . . . . . . . . . . Was Führung ist und was Führung nicht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gegenteil von Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die drei Wesensmerkmale von Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Führungsprozess: Was wir beobachten, wenn wir Führung sehen . . . . . . . . . . . . . . . . Führung und Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führen und geführt werden: Schwierigkeiten im Führungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Entstehung von Führungszielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung als Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung und Führungsherausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum gibt es Führung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Skulptur« der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen Führungs-Kraft erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6 2.6.1
Das Führungsattribut »Charisma« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die rationale und die irrationale Seite der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charisma und Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung und Angst: Die psychologischen Grundlagen von Charisma . . . . . . . . . . . . . . . . . Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der charismatische Beziehungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unempfänglichkeit für Charisma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung von Charisma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Entwicklungsschritte auf dem Weg zur charismatischen Führungspersönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann man als Führungskraft Charisma entwickeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brauchen wir charismatische Führungspersönlichkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6.2 2.7
1 3 3 4 6 8 13 15 17 19 20 22 25
27 29 31 33 34 40 46 48 50 50 56 61
3
Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation, Überzeugung und Durchsetzung Führungs-Kraft erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4
Der Mechanismus der Verhaltensbeeinflussung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die drei Führungs-Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen . . . . . . . . . . Sinnstiftung und Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht und Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Initiative und Motivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der grundsätzliche Wirkmechanismus der Führung: eine Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen und Krisen Führungs-Kraft erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
4.1
Psychologische Kompetenzen der Führungskraft im Umgang mit Situationen: Situationssensibilität und Deutungskraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Prozessschritte in der Erzeugung von Führungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Elemente der Deutungskraft von Führungspersonen: Wie werden Situationen erklärt? . . . . 103
4.1.1 4.1.2
63 64 65 70 71 79 84 91
VIII
Inhaltsverzeichnis
4.1.3 4.2 4.3
Erklärung und Deutung von Situationen durch die Nutzung von Metaphern . . . . . . . . . . . . . . 105 Situation und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Von der Krise zur Grausamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5
Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende und verlockende Ziele Führungskraft erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3
Über den Charakter von Zielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen über das wahre Wesen von Zielen in der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Missverständnisse vieler typischer Zielvereinbarungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das 3-V-Modell der Zielkriterien: Kriterien von Zielen, die Führungs-Kraft auslösen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursprung und Arten von Zielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 5.3 5.4
115 115 118 120 121 124 126
6
Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen Führungs-Kraft erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2
Die Wirkungsweise von Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innere und äußere Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über das Wesen von Führungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schaffung von Führungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung und Führungseffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führungsprobleme und Führungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderung von Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was macht Veränderungen so schwierig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise für die erfolgreiche Umsetzung von Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.4
Psychologische Ursachen von Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte und Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte und Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschärfende Bedingungen in Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele erfolgreichen Konfliktmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfliktmanagement als Führungsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasen in der Entwicklung von Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien des Konfliktmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führung und Gruppendynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Missverständnisse zum Thema Konfliktmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige Interaktion Führungs-Kraft erzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
8.1
Qualitätskriterien von Führungskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebenen der Führungskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikative Anforderungen auf der kontextuellen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikative Anforderungen auf der nonverbalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikative Anforderungen auf der verbalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Probleme in der Führungskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3
132 132 134 135 140 140 142 143 145
151 154 155 158 159 161 161 162 165 171 174
176 178 179 180 182 186
Inhaltsverzeichnis
IX
9
Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
Macht ist Möglichkeit, nicht Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Stadien in der Entwicklung von Machtbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien zum Erlangen von Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsveränderung durch Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zähmung und Begrenzung von Macht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen Fehlentwicklungen Führungskräfte besonders anfällig sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
10.1 10.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7 10.3.8
Psychopathologie und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensumstände von Führungskräften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische psychische Fehlentwicklungen von Führungskräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führungskräfte mit Fehlentwicklungen aus dem narzisstischen Formenkreis . . . . . . . . . . . . . Hinweise zum Coaching narzisstischer Führungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führungskräfte mit Störungen aus dem depressiven Formenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zum Coaching depressiver Führungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führungskräfte mit Dispositionen aus dem zwanghaften Formenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zum Coaching zwanghafter Führungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führungskräfte mit Störungen aus dem egozentrischen Formenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zum Coaching egozentrischer Führungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige Entscheidung treffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
11.1 11.1.1
Ethik und Moral – Klärung der Grundbegriffe und der Grundprobleme . . . . . . . . . . . . . . . Gesinnungsethik und Handlungsethik als Begründungsrahmen für ethisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das grundsätzliche, ethische Dilemma der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moral und Ethik – Wie würden Sie entscheiden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regeln als Kompass für ethische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung und Güterabwägung in der Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung ethischen Führungshandelns und Verantwortungsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Legitimation von Führung und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.1.2 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
192 193 195 199 200 202
206 209 212 212 215 216 217 217 218 218 220
222 223 226 227 229 231 234 237
Kommentierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
1
Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden 1.1
Was Führung ist und was Führung nicht ist – 3
1.1.1 1.1.2 1.1.3
Führung und Sprache – 3 Das Gegenteil von Führung – 4 Die drei Wesensmerkmale von Führung – 6
1.2
Der Führungsprozess: Was wir beobachten, wenn wir Führung sehen – 8
1.3
Führung und Ziele – 13
1.4
Führen und geführt werden: Schwierigkeiten im Führungsprozess – 15
1.5
Über die Entstehung von Führungszielen – 17
1.6
Führung als Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben – 19
1.7
Führung und Führungsherausforderungen – 20
1.8
Warum gibt es Führung? – 22
1.9
Die »Skulptur« der Führung – 25
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1
2
1
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
Führung ist überall im Leben präsent.
Verschiedene Perspektiven auf das Thema Führung
Praktische Antworten auf Führungsprobleme
Führung erleben wir in der Arbeitswelt besonders explizit und reflektiert.
Das Thema Führung ist nicht irgendein Thema unter anderen. Das Thema Führung beinhaltet letztlich die fundamentalen Fragen unseres gesamten Lebens. Auf den ersten Blick mag diese Behauptung ein wenig groß und weitreichend wirken. Aber schon am Ende des ersten Kapitels wird klar sein, welche große Präsenz Führungsprobleme in unserem Leben haben und wie stark der Erfolg unseres sozialen Lebens und unserer Arbeitsleistung davon abhängt, wie wir mit Führungsproblemen umgehen. Unsere Perspektive wird hierbei vor allem die psychologische Perspektive sein: Wir betrachten Führung unter dem Blickwinkel der Menschenführung, wir verstehen Führung als ein zentrales soziales Phänomen des Lebens. Aber auch die psychologische Perspektive hat viele Facetten, denn man kann Führung aus den Blickwinkeln von Persönlichkeitseigenschaften betrachten, aus dem Blickwinkel von Instrumenten und Methoden (ein typischer Ansatz vieler Bücher über Führung), aber genauso aus der Perspektive der Beziehung zu den Geführten oder aus der Perspektive der Dynamik des Kontextes und der Situationen, in denen Führung stattfindet. Jedes Kapitel des Buches wird einer ganz bestimmten Perspektive auf das Phänomen Führung gewidmet sein, jedes Kapitel wird das Thema Führung unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt betrachten. Erst der ganzheitliche Blick, der sich nicht durch ideologische Vorannahmen oder Exklusivitätsansprüche bestimmter Theorien auf ausgewählte Perspektiven selbst begrenzt, kann ein wirkliches Verständnis und eine echte Faszination für das Thema Führung erzeugen. Dieses Buch richtet sich an Führungskräfte oder angehende Führungskräfte in Wirtschaftsunternehmen oder anderen Organisationen, die sich konzeptionell und psychologisch breiter für diese Aufgabe wappnen möchten. Darum haben wir darauf geachtet, in allen Kapiteln konzeptionelle Grundlagen und fundamentale Einsichten mit sehr praktischen Implikationen und Empfehlungen zu verknüpfen. Das Buch soll kein akademisch-wissenschaftliches Buch sein. Dennoch möchten wir in konzeptioneller und psychologischer Hinsicht einen Tiefgang erreichen, der es dem Leser ermöglicht, neue, spannende und faszinierende Einsichten zum Thema Führung zu erhalten. Darüber hinaus wollen wir bei allem Praxisbezug auch keinen einfachen Ratgeber vorlegen, der plakative Rezepte und Verhaltensregeln beschreibt. Wir versprechen aber auf jeden Fall, dass dieses Buch praktische Antworten auf die wichtigsten Führungsprobleme und Führungsherausforderungen geben wird. Dieses erste Kapitel beschreibt zunächst einmal das Phänomen der Führung. In diesem Kapitel klären wir die Begriffe und Gegenstandsbereiche. Dabei werden wir viele Themen anreißen, die in den späteren Kapiteln noch sorgfältiger dargestellt werden. Ab dem zweiten Kapitel wird der praktische Fokus für den organisationalen Kontext sehr klar zutage treten: Sie werden reflektieren können, wo Sie in Ihrer eigenen Entwicklung als Führungskraft stehen und wie Sie Ihre persönlichen »Führungs-Kräfte« wie Charisma, Durchsetzungs-
1.1 • Was Führung ist und was Führung nicht ist
fähigkeit oder Motivationsfähigkeit stärken und entwickeln können. Teilweise werden wir auch Beispiele der politischen Führungswirklichkeit heranziehen, weil man sich auf die allgemeine Bekanntheit der Hintergründe stützen kann. Aber alle hier beschriebenen Überlegungen sind auf das Führungsgeschehen in Wirtschaftsunternehmen anwendbar. Unsere Arbeitswelt ist oft derjenige Lebensraum, in dem wir Führung besonders explizit und reflektiert erleben. Am Anfang des Buches möchten wir Sie zunächst in einer etwas fundamentaleren Betrachtung darauf einstimmen, dass das Thema Führung letztlich die Frage nach der Lebensbewältigung selbst beinhaltet.
1.1
Was Führung ist und was Führung nicht ist
1.1.1
Führung und Sprache
Wenn man über einen Gegenstandsbereich diskutieren möchte, braucht man zunächst eine gewisse Klarheit darüber, worum es sich bei diesem Gegenstand eigentlich handelt. Beim Thema Führung ist diese Begriffsbestimmung kniffliger, als es auf den ersten Blick scheint. Wenn man Menschen befragt, was Führung ist, so erhält man auf einer intuitiven Ebene zunächst sehr oft Antworten, die eine ethische oder normative Komponente beinhalten. Sehr häufig wird man hören, dass Führung bedeute, »Verantwortung für andere zu tragen« oder »andere zu motivieren« oder aber »sich um die Belange der Mitarbeiter zu kümmern«. Bei all diesen Aussagen schwingt etwas Normatives mit, eine ethische Erwartung, die offenbar an Führungskräfte gestellt wird. Führungskräfte sollen verantwortlich handeln oder sich um emotionales Wohlbefinden der zu führenden Menschen kümmern. Natürlich gehören diese Erwartungen zum Gegenstandsbereich der Führung, jedoch beschreiben sie nicht das Phänomen der Führung selbst. Wenn man in die reale Welt schaut, sieht man, dass Führung geschieht, auch wenn sie nicht besonders verantwortungsvoll, besonders motivierend oder auf allgemein wünschenswerte Ziele ausgerichtet ist. Die größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte waren in einem gewissen Sinn erfolgreiche Führer, auch wenn ihr Handeln nicht als ethisch bezeichnet werden kann (wir benutzen übrigens das Wort »Führer« als Synonym für Führungskraft oder – im englischen – »Leader« und ohne jedweden Bezug zu der Konnotation des Wortes im dritten Reich. Wir schließen in diesen Begriff männliche und weibliche Führungskräfte ein, ohne dass wir sprachlich immer beide Geschlechtsformen benutzen). Das Phänomen der Führung ist also zunächst einmal unabhängig davon zu beschreiben, ob es gut oder wünschenswert ist. Führung geschieht offenbar in der sozialen Welt unabhängig von ethischen Erwartungen.
3
1
Führung beinhaltet die Frage nach der Lebensbewältigung.
Intuitiv wird Führung oft normativ definiert.
Das Phänomen Führung existiert unabhängig von ethischen Erwartungen.
4
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
1
Sprachliche Herkunft des Wortes Führung
Als nächstes könnte man sich nun über die Sprache dem Thema Führung nähern. Das Wort »Führung« benutzen wir ja nicht nur für die »Menschenführung« im engeren Sinne, die der Hauptgegenstand dieses Buches sein wird, sondern wir benutzen das Wort auch in ganz anderen Zusammenhängen, wie z. B.: »Der Mann führte seinen Hund aus«, »Die Straße führt in die Stadt«, »Er ist der technische Maschinenführer«, »Er führte das Argument ad absurdum«, »Sie führte ihn aufs Glatteis«, »Er hat das Projekt nicht zu Ende geführt«, »Er führte ein gutes Leben«, »Sie führten eine glückliche Ehe«. Das Wort Führung wird im Duden als Veranlassungswort zu »fahren« beschrieben im Sinne von »in Bewegung setzen, die Richtung bestimmen«. Eine erste grundlegende Begriffsbestimmung von Führung kann damit wie folgt aussehen: > Führung ist Bestimmung von Bewegung.
Führung in der sozialen Welt
Schauen wir uns zunächst einmal an, was diese Begriffsbestimmung an Implikationen mit sich bringt. Bewegung findet in der Welt zeitlich und räumlich statt. Räumliche Bewegung ist ein technischer Vorgang. Wir denken hier z. B. direkt an das Autofahren. Führung findet als Prozess immer über gewisse Zeiträume statt. Führung ist der Versuch, die Zeit zu bestimmen, oder zu bestimmen, was im zeitlichen Ablauf geschehen soll. Führen ist Bestimmen in der sozialen Welt und in der Welt der Dinge. Dieses Buch wird natürlich vor allem davon handeln, wie wir über die soziale Welt bestimmen. Das Führen von technischen Objekten ist eher ein handwerkliches oder methodisches Problem. Auch wenn sich viele Grundüberlegungen der Führung auf diesen Kontext anwenden lassen, so ist er dennoch unter dem Blickwinkel der Führungsproblematik weit weniger interessant.
1.1.2
Das Gegenteil von Führung
Gegenteilige Zustände von Führung
Bevor wir nun diese Begriffsbestimmung von Führung auf unseren Gegenstand der sozialen Welt beziehen, wollen wir zunächst einmal deutlich machen, was Führung nicht ist, weil es das Verständnis dafür schärft, was wir im Späteren diskutieren wollen. Dafür zeigen wir nun drei Zustände, die das Gegenteil von Führung darstellen.
Freiheit ist ein Gegenteil von Führung.
Die vollständige individuelle Freiheit. Wenn Führung die Bestimmung von Bewegung ist, aber eine Person sich völlig frei verhalten kann (und ihr Verhalten von niemandem sonst bestimmt wird), so wird sie in dieser Situation auch nicht geführt und wir können in dieser Situation keine Führung beobachten. Allerdings werden wir später sehen, dass ein solcher Zustand eher ein theoretischer Zustand ist, denn wir werden nicht nur durch äußere Einwirkungen geführt, sondern auch durch unsere internalisierten Normen und unsere inneren Strukturen, die Ergebnisse von vergangenen Führungsleistungen sind. Diese bestimmen auch in »freien« Situationen unser Ver-
1.1 • Was Führung ist und was Führung nicht ist
5
1
halten. Insofern gibt es diese individuelle Freiheit als vollständige Unbestimmtheit nicht als dauerhaften und grundsätzlichen Zustand, aber es gibt ihn zumindest mehr oder weniger. In denjenigen Situationen, in denen Sie Entscheidungen treffen können, ohne eine äußere Bestimmtheit zu erleben, findet Führung in unserem Sinne nicht statt. Diese Situationen individueller Freiheit können aber durchaus die Beeinflussung durch andere Personen beinhalten. Nehmen wir beispielsweise eine Zugfahrt, in der sie zufällig in ihrem Abteil eine Bekanntschaft machen. In solchen Situationen beeinflusst man sich selbstverständlich gegenseitig (ein Fahrgast öffnet das Fenster; der andere zieht daraufhin seine Jacke an; der erste entschuldigt sich; man kommt ins Gespräch über das Wetter etc.). Aber diese Beeinflussung geschieht, ohne dass eine absichtsvolle, regelmäßige und länger andauernde Bestimmung über die andere Person realisiert wird oder angestrebt ist. Es gibt also Situationen mit einem zufälligen sozialen Aufeinandertreffen, in denen man sich gegenseitig beeinflusst, aber keine willentliche Bestimmung durchsetzt. In solchen Situationen kann Führung nicht beobachtet werden. Individuelle Freiheit ist ein Gegenteil von Führung! Der Konflikt oder Krieg. Der Konflikt ist genau dadurch gekenn-
zeichnet, dass man über den Konfliktpartner nicht bestimmen kann, sondern dieser sich offenbar ebenso machtvoll den Bestimmungsversuchen widersetzt. In einem Konflikt erzeugt man durch das eigene Handeln zwar wiederum eine Reaktion (Schlag und Gegenschlag), insofern ist Beeinflussung auch in diesen Situationen gegeben. Aber letztendlich kann keiner der beiden Konfliktpartner den anderen in der angestrebten Weise bestimmen, denn sonst wäre der Konflikt sofort beendbar. Der Konflikt ist damit das Gegenteil der Führung. Ein Mitarbeiter, der seinem Vorgesetzten implizit oder explizit zurückmeldet: »Chef, in dieser Situation folge ich dir nicht mehr«, kündigt in gewissem Sinne die Führungsbeziehung auf. Natürlich sind Konflikte trotz dieser Einordnung integraler Bestandteil des Führungsgeschehens. Zum einen treten sie als laterale Konflikte auf. Bei diesen Konflikten auf gleicher Hierarchieebene erleben Führungskräfte oft besonders stark die Begrenzung ihrer Möglichkeit, bestimmen und damit den Konflikt im eigenen Sinne beenden zu können. Zum anderen gibt es Konflikte mit zugeordneten Mitarbeitern. Bei diesen Konflikten stellt man fest, dass es immer wieder Aspekte gibt, in denen die eigene Führungsautorität nicht absolut ist: Es gibt Aspekte in der Führungsbeziehung, in denen sich der andere »nicht führen lassen möchte«. Die Aufgabe einer Führungskraft in Konflikten lässt sich dementsprechend auch so verstehen, dass die Beendigung des Konfliktes gleichbedeutend mit der Herstellung einer akzeptierten Führungsbeziehung ist. Die komplette Determination von Verhalten. Verhalten beschreiben
wir dann als komplett determiniert, wenn es zu 100% kausal durch
Der Konflikt ist ein Gegenteil von Führung.
Determination von Verhalten ist ein Gegenteil von Führung.
6
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
einen bestimmten Sachverhalt bedingt ist. Diesen Zustand haben wir bei einem naturgesetzlichen Phänomen. Es steht außer Zweifel, dass die Gravitationskraft der Sonne die Erde in ihre Bahn »zwingt« (allerdings merkt man recht schnell, dass das Wort »zwingen« hier nicht 100-prozentig zutrifft, sondern schon eine Metapher ist). Die Sonne determiniert durch ihre Gravitationskraft die Bahn der Erde, aber in unserem Sinne wird die Erde nicht geführt. Den komplett determinierten Reiz-Reaktions-Schemata fehlt das Absichtsvolle, das wir als notwendig dafür erachten, dass man in unserem Sinne von bestimmter Bewegung sprechen kann. In komplett determinierten Systemen führt nicht ein Subjekt ein anderes, sondern beide werden gleichsam von unsichtbaren Mächten geführt.
1
1.1.3
Die drei Wesensmerkmale von Führung
Um Führung als »bestimmte Bewegung« noch etwas plastischer darzustellen, betrachten wir im Folgenden noch einige weitere Aspekte, die die eigentlichen Wesensmerkmale von Führung ausmachen. . Tab. 1.1 listet Merkmale und Gegenteile von Führung auf.
Führung als soziales Phänomen Führung ist eine soziale Beziehung.
Führung verstehen wir als ein soziales Phänomen. In diesem Sinne bedeutet Führen, in einer absichtsvollen und regelmäßigen Weise zu bewirken, dass andere Menschen folgen. Führungserfolg bemisst sich darin, wie gut es gelingt, andere Menschen zum Folgen zu bewegen. Führung beinhaltet eine soziale Hierarchie. Zu führen bedeutet, dass es gelingt, andere Menschen dazu zu bewegen, eigene potenzielle Freiheitsgrade nicht zu nutzen, sondern dem Willen der Führungskraft zu folgen. Führung ist in diesem Verständnis eine soziale Beziehung, in der Einigkeit darüber herrscht, wer führen und bestimmen darf und wer folgt. Je größer und unbedingter diese Einigkeit ist, umso konfliktfreier ist eine solche Beziehung. Dies unterstreicht noch einmal, warum Führung das Gegenteil eines Konfliktes ist.
Führung braucht einen Sinn Führung braucht ein verheißungsvolles Ziel.
Ein zweites wichtiges Merkmal von Führung ist, dass sie zielorientiert geschieht. Führung braucht einen Sinn (in Abgrenzung zu komplett determinierten Kausalzusammenhängen). Der Sinn von Führung besteht im Allgemeinen darin, Kräfte zu bündeln, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Kutscher, der eine Kutsche mit vier Pferden führt, beweist seine Führungsleistung, indem er in der Lage ist, die Kräfte der Pferde auf sein Ziel hin auszurichten. Führung ist das Effektivmachen individueller Kräfte. Führung von Menschen ist in diesem Sinne erfolgreiche soziale Sinnstiftung. Wenn es Ihnen als Führungskraft gelingt, deutlich zu machen, dass es ein gemeinsames verheißungsvolles Ziel gibt, für das sich Anstrengung und Kraftaufwand lohnen, so haben Sie damit bereits eine der wesentlichen Füh-
7
1.1 • Was Führung ist und was Führung nicht ist
1
. Tab. 1.1 Führung und Gegenteile von Führung Führung ist …
Führung ist nicht …
… Bestimmung von Bewegung
… zufällige Beeinflussung (weil das Absichtsvolle fehlt)
… eine hierarchische soziale Beziehung, in der man verlässlich damit rechnen kann, dass andere folgen
… Konflikt und Krieg (weil nicht endgültig über den anderen bestimmt werden kann)
… erfolgreiche soziale Sinnstiftung
… komplette kausale Determination (weil diese nicht zielorientiert ist)
… mächtig und potenziell. Sie beinhaltet die Möglichkeit, anderen Menschen »Kosten« zu verursachen
rungsleistungen vollbracht und anderen Menschen einen sinnvollen Grund gegeben, Ihnen zu folgen.
Führung benötigt Macht Führung benötigt Macht. Sie können als Führungsperson nur damit rechnen, dass man Ihnen verlässlich und regelmäßig folgt, wenn Sie irgendetwas tun können, um auf ein Ausscheren aus der Gefolgschaft zu reagieren. Sie müssen die Möglichkeit haben, denjenigen Personen, die sich Ihrer Führung widersetzen, »Kosten« zu verursachen (Kosten sei hier als Metapher verstanden). Bei diesen Kosten kann es sich natürlich einerseits um tatsächliche Sanktionen im Sinne von Bestrafungsmechanismen handeln. Sie können aber auch darin bestehen, dass bestimmte Belohnungen vorenthalten werden. Ohne diese Macht, anderen Kosten zu verursachen, können Sie keine dauerhaft erfolgreiche Hierarchie schaffen. Hierbei genügt es im Übrigen, dass Sie die Möglichkeit haben, diese Kosten zu verursachen, und diese Möglichkeit androhen können. Sie müssen es nicht zwangsläufig auch tun. Macht ist immer potenziell. Manchmal genügt es, wenn die Folgenden wissen, dass bestimmte Kosten entstehen, wenn man die Gefolgschaft verweigert. Genau dieses Wissen kann die Folgenden davon abhalten, es in der Realität auch zu tun. Insofern kann es sein, dass der Mächtige seine Macht letztlich nie nutzen muss (in dem Sinne, dass er die Kosten tatsächlich erzeugt).
Führung braucht die Möglichkeit, anderen »Kosten« zu verursachen.
> Führung ist bestimmte Bewegung, absichtsvoll, zielorientiert, Sinn gebend, potenziell mächtig und bewirkt, dass andere Menschen folgen.
Die Frage nach dem »Wie« Diese Begriffsbestimmung ist zunächst einmal rein phänomenologisch und deskriptiv. Die Begriffsbestimmung ist nicht normativ und beinhaltet in keiner Weise, wie geführt werden soll. Ob Führung autoritär oder nicht autoritär erfolgt, ist eine stilistische Frage oder eine Frage des »Wie«. Wir haben hier zunächst die Frage des »Was« beantwortet, also des grundsätzlichen Phänomens. Führung bedeutet,
Deskriptive und normative Begriffsbestimmung von Führung
8
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
1
Führung ist nicht zwangsläufig gut.
Macht erzeugt ethische Dilemmata.
zu bewirken, dass andere Menschen folgen. Ob man dies in einer autoritären oder partnerschaftlich-motivierenden Weise tut, ist damit noch nicht impliziert. Aber auch eine partnerschaftlich motivierende Führung hat das Ziel, andere dazu zu bewegen, zu folgen und sie auf das gemeinsame Ziel auszurichten. Wenn das nicht wesentlicher Bestandteil der Beziehung wäre, würden wir nicht von Führung reden, sondern von Kooperation oder Freundschaft. Man sieht an unserer Begriffsbestimmung, dass Führung nicht zwangsläufig gut ist oder etwas Gutes bewirkt. Führungserfolg bemisst sich zunächst einmal danach, ob es gelungen ist, eine Hierarchie zu erzeugen und die Kräfte von Individuen auf ein gemeinsames Ziel auszurichten und zu bündeln und in diesem Sinne zu bestimmen. Es hat in der Weltgeschichte genug in diesem Sinne »erfolgreiche« Führer gegeben, die die ihnen folgenden Menschen in einer verheerenden Weise in den Abgrund geführt haben. Führung geschieht auch dann, wenn sie nicht gut ist und durch den Führer keine guten Ziele verfolgt werden. Das Thema Führung ist damit im praktischen Handeln keineswegs frei von ethischen Fragen. Führung wirft viele ethische Fragen auf: Je mehr Macht eine Person hat, umso größer werden die ethischen Dilemmata, die mit ihrem Handeln verbunden sind. Je mehr Macht jemand hat, umso mehr Menschen sind von seinem Handeln betroffen und die Auswirkungen seines Verhaltens oder Fehlverhaltens sind viel gravierender als bei Machtlosen. Ethische Fragen sind in der Führung wichtig, aber das Phänomen der Führung geschieht auch unabhängig von der Ethik. Wir werden uns dem Thema Führungsethik in 7 Kap. 11 widmen.
1.2
Führung kann man nur als Prozess sehen.
Der Führungsprozess: Was wir beobachten, wenn wir Führung sehen
Im ersten Abschnitt des Kapitels haben wir uns damit beschäftigt, was Führung ist. Im nächsten Schritt ist nun zu untersuchen, was man eigentlich genau beobachten kann, wenn man das Führungsgeschehen analysieren möchte. Beginnen wir zunächst wieder mit der Analogie des Führens in einem technischen Kontext, wie z. B. das Fahren eines Autos. Wenn Sie sicher beobachten wollen, dass jemand ein Auto fährt (oder führt), dann müssen Sie eine gewisse Sequenz dieser Leistung wahrnehmen können. Es genügt nicht, eine Person hinter einem Lenkrad in einem Auto zu sehen (wie z. B. auf einem Foto). Denn in diesem Fall könnte das Auto auch stehen. Um sicher sein zu können, dass es sich um die Führungsleistung in einem Fahrzeug handelt, brauchen Sie einen Film (darum haben wir in der Überschrift dieses Unterkapitels Führung auch einen Prozess genannt). Sie müssen über einen gewissen Zeitraum sehen, dass jemand das Auto tatsächlich steuert. Üblicherweise wird das Auto über eine Straße oder einen Weg gesteuert. Der Fahrer, der das Auto führt, benutzt eine vorgegebene Struktur (die Straße), um auf dieser Struk-
1.2 • Der Führungsprozess: Was wir beobachten, wenn wir Führung sehen
tur die Führungsleistung (das Fahrzeug von A nach B zu fahren) zu erbringen. Dieses eher triviale Beispiel offenbart genau die drei Elemente, die wir beobachten können, wenn wir Führung sehen: Wenn wir Führung beobachten, sehen wir auf den allerersten Blick zunächst einmal Führungsaktionen. Führungsaktionen betreffen die tatsächliche Handlung der Einwirkung oder Beeinflussung. Wir sehen, wie eine Führungskraft einem Mitarbeiter eine Anweisung gibt, wie ein Politiker ein Gesetz im Parlament verteidigt oder ein General die Soldaten auf die Schlacht einschwört. Alles das sind Führungsaktionen, die den unmittelbaren Einwirkungsprozess zum Inhalt haben. Allerdings finden diese Führungsaktionen nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern sie geschehen üblicherweise im Rahmen bestehender Strukturen. So wie das Auto über die Straße geführt wird, so gibt der Vorgesetzte seine Anweisungen im Rahmen arbeitsvertraglicher Grundlagen, definierter Prozesse im Unternehmen, Kompetenz- und Stellenbeschreibungen und im Rahmen der strategischen Vorgaben. Das, was für das Auto die Straßen sind, sind in anderen Kontexten Führungsstrukturen, die die Leitplanken bilden, innerhalb derer sich die Führungsaktionen abspielen. Wenn wir auf das zweite eben genannte Beispiel schauen, auf den Politiker, der ein Gesetz im Parlament durchbringt, so sind das Werben für den Gesetzesentwurf oder der vorherige Einbezug von Kritikern die offensichtlichsten Führungsaktionen, die wir sehen. Aber selbstverständlich wird der eigentliche Prozess der Durchsetzung des Gesetzes im Rahmen einer vorgegebenen Struktur erfolgen. Diese Struktur wird repräsentiert durch die Institution des Parlaments, durch Abstimmungsregeln, die innerhalb des Parlaments herrschen, durch Regeln von Kabinettsdisziplin oder Fraktionszwang und andere Leitplanken, innerhalb derer die Führungsleistung erfolgt. Auch der General, der seine Soldaten auf die Schlacht vorbereitet, ist in eine solche Struktur eingebettet. Diese Strukturen sind im Kriegsfalle beispielsweise die Genfer Konvention, die bestimmte Strategien im Krieg aus Menschenrechtsüberlegungen heraus ausschließen und dementsprechend die Leitplanken für die erlaubten Vorgehensweisen bilden. Diese Strukturen sind aber auch geographische oder geologische Besonderheiten, die die Strategie der Kriegsführung begrenzen. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Führungsstrukturen in gewissem Sinne auch die Freiheit der Führungsperson in einer konkreten Situation begrenzen können. Je enger die Leitplanken sind, die durch vorgegebene Strukturen erzeugt werden, umso weniger Platz bleibt für konkrete Führungsaktionen. Je breiter und unbestimmter die vorgegebenen Strukturen sind, umso größer ist der Freiheitsgrad der Führungskraft, mögliche Führungsaktionen auszuwählen. Um es in einem anderen Bild zu sagen: Führung wird zu »Leitung«, je enger die Strukturen die möglichen Führungsaktionen eingrenzen. Stellen Sie sich zum Beispiel eine Wasserleitung vor: Wenn man Wasser hierdurch »führen« möchte, muss
9
1
Führungsaktionen sind die Einwirkungsversuche der Führungsperson.
Führungsstrukturen lenken Verhalten.
Führungsstrukturen begrenzen die Führungsaktionen.
10
1
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
Führungsstärke und Führungsstrukturen Eine erste praktische Einsicht, die aus dem Zusammenspiel von Führungsstrukturen und Führungsaktionen folgt, liegt darin, dass Unternehmen mit starken Strukturen sich leichter schwache Führungskräfte erlauben können. Die vorhandenen Führungsstrukturen (z. B. Prozesse, Arbeitsabläufe, Kompetenzabgrenzung, Belohnungssysteme etc.) lenken das Verhalten der Mitarbeiter bisweilen so stark, dass auch schwache Führungskräfte, die nicht das Potenzial für herausragende Führungsaktionen mitbringen, erfolgreich agieren können. Der Erfolg ist dann zwar sichtbar, hat aber letztlich nicht so viel mit
Führungsstrukturen sind das Vermächtnis früherer Führungsaktionen.
Führungsergebnisse sind das Resultat von Führungsaktionen.
dem Führungshandeln zu tun. Je schwächer die Strukturen einer Organisation sind, umso mehr muss durch konkrete Führungsaktionen Lenkungswirkung erzeugt werden. Je enger die Leitplanken in einer Organisation oder einem sozialen Kontext sind, umso weniger hängt der Erfolg von der Persönlichkeit der aktuellen Führungsperson ab. Wenn wir uns noch einmal dem technischen Beispiel zuwenden, so kann man diesen Zusammenhang von Führungsstärke und Führungsstruktur auch hier sehen. Beispielsweise ist das Fahren eines Zuges über vorgegebene Schienen letztlich eine geringere steuerungs-
technische Leistung des Fahrzeugs (von anderen technischen Fragen abgesehen) als das Fahren eines Fahrzeugs über eine Straße. Die Strukturen der Schiene begrenzen letztendlich die Freiheit des Führungshandelns. Noch geringer sind die Strukturen beispielsweise für einen Geländewagen, der über Feldwege durch unwirtliches Terrain gefahren wird. Hier stellen die Wege noch unverbindlichere Leitplanken im Vergleich zur Straße dar, auf der sich ein normales Auto bewegt. Die Führungs- bzw. Fahrleistung des Fahrzeugführers ist dementsprechend höher, die vorgegebene Struktur ist schwächer.
man es nur mit Druck in die Leitung befördern. Der Weg des Wassers ist durch die Leitung bestimmt, durch die Führungsstruktur. Man »leitet« das Wasser aus diesem Grunde auch durch ein Rohrsystem, aber man »führt« ein Auto (üblicherweise nachdem man einen »Führerschein« erworben hat, der zur Führung des Fahrzeuges berechtigt). Das Auto lässt mehr Freiheitsgrade in den Führungsaktionen zu, deswegen kann man es führen (s. auch 7 Exkurs »Führungsstärke und Führungsstrukturen«). Führungsstrukturen sind natürlich auch das Ergebnis von Führungshandeln. Führungsstrukturen bilden sich nicht in luftleeren Raum. Führungskräfte sichern die Kontinuität ihrer Führungsleistung, indem sie Strukturen schaffen, die auch unabhängig von ihren augenblicklichen Führungsaktionen in ihrem Sinne verhaltenslenkend wirken. Ein Politiker, der ein umstrittenes Gesetz durchs Parlament boxt, erbringt seine Führungsleistung vor allen Dingen in der Aktion der Überzeugung des Parlamentes. Durch das Gesetz werden hingegen Strukturen geschaffen, die zukünftig das Verhalten der Menschen lenken werden, auch wenn die diese Strukturen ursprünglich initiierende Führungsperson längst nicht mehr in Funktion ist. Führungskräfte sichern das Vermächtnis ihres Führungshandelns, indem sie über sie hinausreichende Führungsstrukturen schaffen. Wenn Sie sich große Führungspersönlichkeiten der Weltgeschichte anschauen, so sehen Sie rückblickend noch die Strukturen, die sie hinterlassen haben, und nicht mehr die konkreten Führungsaktionen, mit denen sie das bewirken konnten. Bei gegenwärtigen Führungskräften können Sie noch mehr beobachten: Sie sehen die Strukturen, innerhalb derer sie sich bewegen. Sie sehen aber auch das konkrete Führungshandeln, mit dem sie ihre Vorhaben durchsetzen. Sie sehen aber immer auch
1.2 • Der Führungsprozess: Was wir beobachten, wenn wir Führung sehen
noch etwas Drittes: Ein Führungsergebnis. Dieses Führungsergebnis ist das Resultat, das die Führungsperson durch ihre Führungsaktionen erreichte. Je langfristiger und größer die Projekte sind, an deren Realisierung eine Führungskraft arbeitet, umso schwieriger ist es, rückblickend den Erfolg zu bewerten oder das Ergebnis wirklich auf sie zurückzuführen. Nehmen wir einmal an, eine Regierung beschließt, zur Stärkung der Kaufkraft die Steuern zu senken. Im nächsten Jahr gibt es dann tatsächlich eine Veränderung im Konsumverhalten der Bürger. Wer kann dann mit Sicherheit sagen, wie viel dieser Veränderung auf die Steuersenkung und wie viel auf mögliche andere Ereignisse in der Zwischenzeit zurückzuführen ist? Langfristig ist Erfolg immer strittig. Am einfachsten ist es, wenn sehr konkret messbare Ziele gesetzt werden. Hier ist zumindest feststellbar, ob das Ziel erreicht worden ist. Im sozialen Bereich ist das aber oft kaum möglich. Betrachten wir z. B. einen Kontext des Privatlebens, in dem Führung eine große Rolle spielt: die Kindererziehung. Kindererziehung ist auf jeden Fall ein langfristiges Führungsprojekt. Wenn junge Eltern ein Baby bekommen, haben sie üblicherweise eine Reihe von mehr oder weniger spezifischen Zielen oder Idealen im Kopf, an denen sie ihre Erziehung ausrichten wollen, und sie haben auch ein mehr oder weniger spezifisches Bild eines möglichen Ergebnisses ihrer Erziehung: Eltern haben ein Bild davon, was für eine Persönlichkeit sie sich als Kind wünschen und durch welche Verhaltensweisen, Kompetenzen und Werte sich dieses Kind auszeichnen soll. Bei einem so langfristigen Projekt geschehen aber zumeist zwei Dinge: Die letztlich erreichten Ziele weichen in der Realisation fast immer von den vorher gedachten Zielen ab. Selten wird man als Resultat seiner Erziehung exakt die Persönlichkeit erzeugt haben, die man sich vielleicht ausgemalt hat. Selbstverständlich ist am Ende an dem Ergebnis des erwachsenen Kindes kaum festzustellen, wie viel Anteil an diesem »Produkt« die Erziehungsleistung der Eltern hatte oder wie viel letztlich auch so passiert und so gekommen wäre (z. B. aufgrund genetischer Disposition und anderer Einflussfaktoren), wenn die Eltern in einer ganz anderen Weise oder gar nicht eingewirkt hätten. Letztlich sieht man am Ende immer irgendwelche Ergebnisse von Führung. Je langfristiger und sozialer (also auf Menschen und nicht auf Dinge bezogen) die ursprünglichen Ziele gewesen sind, umso mehr muss man sich mit den folgenden Unsicherheiten abfinden: 5 Man bekommt als Ergebnis häufig etwas anderes, als man sich ursprünglich ausgemalt hatte, und weiß nicht genau, warum. 5 Man weiß nicht genau, welcher Anteil des Ergebnisses wirklich auf die Führungsperson zurückgeht und was auch ohne seinen Einfluss passiert wäre.
11
1
Führungserfolg ist manchmal schwer zu beurteilen.
Messbare Ziele sind im sozialen Bereich schwieriger.
Realisierte Ziele weichen von den gedachten Zielen ab.
12
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
> Wenn man Führung beobachten möchte, kann man drei Dinge sehen: 5 Man sieht Führungsaktionen. Diese Aktionen sind die tatsächlichen Akte der Einflussnahme von Seiten der Führungsperson. 5 Man sieht Führungsstrukturen als Ergebnis vergangener Führungsaktionen. Diese gegebenen Führungsstrukturen begrenzen den Spielraum der Führungsaktionen und übernehmen einen Teil der Führungsarbeit. 5 Man sieht Führungsergebnisse: Je langfristiger die Ziele gewesen sind und je stärker sie nicht technisch messbare Aspekte beinhalten, sondern soziale Ziele, desto schwerer lassen sie sich auf die Führungsleistung zurückführen.
1
Kultur ist die Summe der gelebten Führungsstrukturen.
Führungskräfte schaffen Kultur durch die Hinterlassenschaft von Führungsstrukturen.
Die Summe der gelebten Führungsstrukturen einer Gruppe von Menschen oder einer Gesellschaft nennt man Kultur. Die Kultur ist die Zusammenfassung der in dieser Gruppe von Menschen geteilten und gelebten Verhaltensregeln und Verhalten lenkenden Leitplanken, die das Leben und die möglichen Verhaltensweisen aller in dieser Gruppe lebenden Individuen begrenzen. Kultur ist damit das Ergebnis von Führung. Allerdings ist unsere Kultur nicht das Ergebnis einer einzelnen Führungsleistung, sondern vieler Millionen kleiner Führungsaktivitäten, die im Laufe der Zeit die Strukturen geschaffen haben, in denen sich heute unser Verhalten abspielt. Unsere Kultur ist nicht das Ergebnis eines einzelnen Masterplans, der von einer Führungsperson erfolgreich implementiert wurde. Stattdessen wuchsen im Laufe der Zeit die Führungsaktionen und Führungsstrukturen, die sich kumulierten oder durch andere Führungsaktionen auch umgewälzt oder weiterentwickelt wurden. Natürlich möchten Führungskräfte Kultur schaffen (also Führungsstrukturen hinterlassen, die das Verhalten der Menschen in ihrem Sinne leiten), auch wenn spürbar ist, wie ungewiss der Ausgang eines solchen Unterfangens ist und wie wenig sicher man sich als Führungsperson sein kann, dass man selbst tatsächlich das entscheidende Element ist. Daraus folgt eine ganz wesentliche Quintessenz, die wir in 7 Kap. 2 unter der Perspektive von Charisma noch einmal an anderer Stelle als eine wichtige Grundlage für Führungserfolg überhaupt diskutieren werden. > Wenn Sie führen wollen, müssen Sie trotz der Unsicherheit und der gegebenen Strukturen zunächst einmal positiv (mit Mut und Hoffnung) beginnen. Sie müssen daran glauben, dass Sie Ihre Ziele trotz aller Unsicherheit erreichen können. Sie müssen die Überzeugung haben, dass es möglich ist, Ergebnisse zu schaffen, neue Führungsstrukturen zu etablieren und Sie müssen das Selbstvertrauen haben, dass Sie es schaffen können. Ohne diese Grundvoraussetzung startet keine neue Führung.
1.3 • Führung und Ziele
13
1
Der Wahlkampfspruch des amerikanischen Präsidenten Barack Obama »Yes, we can« repräsentiert in diesem Sinne das hohe Zutrauen an die Formbarkeit der Zukunft durch die eigene Führungsleistung.
1.3
Führung und Ziele
Auf den ersten Blick erscheint es wie eine Binsenweisheit, dass Führung immer ein Ziel benötigt, denn schließlich muss man ja irgendwohin führen. Es lohnt sich aber, noch einen Augenblick zu reflektieren, welche Schlussfolgerungen sich daraus ergeben. Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Chef, der offenbar gerade mit viel Anstrengung versucht, einen Mitarbeiter von der Übernahme einer ungeliebten Aufgabe zu überzeugen. Wir sehen, dass der Vorgesetzte argumentiert, wirbt etc. Handelt es sich bei diesem Verhalten um Führungshandeln? Einem ersten Impuls nachgebend würden Sie sagen: »Ja!« Was macht Sie dabei eigentlich so sicher? »Na ja«, werden Sie vielleicht antworten, »es scheint sich doch offenbar um eine sehr zielorientierte und absichtsvolle Beeinflussung in einem hierarchischen Kontext zu handeln.« So oder so ähnlich könnte Ihre Antwort lauten, wenn Sie unsere Begriffsbestimmung aus dem Anfang dieses Kapitels heranziehen. Woher wissen Sie aber so genau, dass diese Beeinflussung absichtsvoll und zielorientiert ist? Ganz streng genommen wissen Sie das nämlich nicht! Das Ziel, das die Führungskraft anstrebt, können Sie überhaupt nicht sehen. Sie erschließen es aus ihrem Führungshandeln. Sie erschließen aus ihrem Handeln, dass die Führungskraft offenbar das Ziel verfolgt, beim Mitarbeiter ein ganz bestimmtes Verhalten auszulösen.
Führung ist nicht ohne Ziele vorstellbar.
> Ein bestimmtes Handeln lässt sich nur dann sicher als Führungshandeln interpretieren, wenn man Ziele unterstellt.
Ziele müssen beim Beobachten von Führungshandeln immer mitgedacht werden, damit die Beobachtungen verstehbar werden. Wir sehen immer nur Verhalten. Ob dieses Verhalten auf ein Ziel ausgerichtet ist, sehen wir nicht direkt, sondern wir erschließen es. Die Schlüsselfrage ist nun, woraus wir eigentlich erschließen, dass ein ganz bestimmtes Verhalten tatsächlich zielorientiert ist. Denken Sie noch einmal an unser obiges Beispiel mit dem engagiert argumentierenden Vorgesetzen. Vergleichen wir diese Situation mit einer Situation, in der ein anderer Vorgesetzter scheinbar belanglos plaudernd mit einem Mitarbeiter über eine mögliche neue Aufgabe spricht. Missmut und Gegenreaktion des Mitarbeiters scheinen hierbei die Führungskraft weder sonderlich zu stören noch seine Bemühungen zu verstärken. In diesem zweitgenannten Beispiel wären Sie vielleicht wesentlich weniger sicher, dass Sie gerade Führungshandeln beobachten. Diesen Unterschied machen Sie an der Überwindungs- und Anstrengungsleistung fest, die Sie sehen. Wenn wir eine Führungskraft
Ziele kann man nur unterstellen oder erschließen, niemals beobachten.
Führungshandeln erschließen wir aus der Überwindungsund Anstrengungsleistung.
14
1
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
Führung unter der Perspektive der Selbstführung Die beschriebene Dynamik gilt übrigens auch, wenn Sie Führung unter dem Blickwinkel der »Selbstführung« betrachten. Auf den ersten Blick erscheint es unlogisch, innerhalb einer Person auch von einem Führungsgeschehen zu sprechen. Hirnforscher würden vielleicht einwenden, dass es bei einem Konzept der Selbstführung unter neurobiologischer Perspektive schwer ist, auszumachen, wer da wen führen soll, denn letztlich gibt es nur einziges Gehirn. Trotzdem möchten wir diesem Argument die folgende Sichtweise entgegensetzen: Wir haben als Mensch die Möglichkeit, für uns selbst Ziele zu bestimmen und uns an diese Ziele zu binden. Führungsleistung im Hinblick auf uns selbst erleben wir genau dann, wenn Anstrengung und Überwindungsleistung nötig sind, diese Ziele zu erreichen. Wenn bestimmte Ziele uns quasi magnetisch anziehen, dann ist das Erreichen dieser Ziele keine Führungsleistung gewesen. Mit diesem Argument möchten wir auch ausschließlich auf Motivation und positive emotionale Verstärkung angelegte Führungstheorien kriti-
sieren. Motivation können wir zunächst pragmatisch als einen positiven emotionalen Drang zu einer Handlung verstehen. Eine positive Motivation lässt uns sozusagen lustgetrieben auf ein bestimmtes Ziel zusteuern. Spannend wird es aber, wenn Menschen von einer solchen rein lustgetriebenen Lebensführung abweichen und sich Ziele setzen, die es bedingen, sehr viele andere Bedürfnisse in sich zu vernachlässigen und sich möglicherweise auch eine unmenschliche Anstrengungsleistung abzuverlangen. Wer selbstbestimmt in einer Revolution für das Ideal der Freiheit stirbt, hat jede Menge seiner typischen biologischen Triebe (die letztlich allesamt auf Selbsterhalt zielen) überwinden müssen. Es muss eine Instanz in uns geben, die uns an ein Ziel binden lässt, auch wenn der Weg dahin uns viele demotivierende und wenig lustvolle Zeiten beschert. Wir nennen diese Instanz in uns unseren Willen. Unser Wille ist die entscheidende Kraft, mit der wir uns an ein Ziel binden und uns ihm verpflichten können und dieses Ziel mit Anstrengung weiterverfolgen,
selbst wenn uns der Weg viele emotional wenig lustvolle Zustände beschert. Unser Innenleben (mit seiner Angst, seiner Unsicherheit, seiner Bequemlichkeit und seiner Lustzugewandtheit, mit seinem Sexualtrieb, seinem Hunger und seinem Anschlussbedürfnis) schert sich oft nicht um die Ziele, die wir haben. Selbstüberwindung, Charakterstärke und Willenskraft ergeben als Attribute menschlichen Handelns überhaupt nur dann Sinn, wenn wir unterstellen, dass es unserem Willen möglich ist, auch unabhängig von unserem emotionalen Innenleben Ziele weiterzuverfolgen. Gelungene Selbstführung zeigt sich also darin, sich absichtsvoll ein Ziel zu setzen, sich an dieses Ziel zu binden und die teilweise auch gegen das emotionale Innenleben notwendigen Anstrengungsleistungen zu erbringen, um das Ziel zu erreichen. Der Hedonist, der sich letztendlich nur für den maximalen Lustgewinn des Augenblicks interessiert, kann in diesem Sinne kein erfolgreicher Führer seiner selbst sein.
sehen, die mit viel Energie und Anstrengung eine bestimmte Wirkung erzielen will, dann erschließen wir, dass dieses Handeln absichtsvoll auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet ist. Dies bedeutet, dass Führungshandeln stattfindet, wenn zwei Bedingungen gegeben sind: 5 Die Führungsperson vermutet, dass das von ihm angestrebte Ziel nicht von allein eintritt und deswegen das Führungshandeln durch ihn erforderlich ist. 5 Dieses Führungshandeln erfordert eine gewisse Anstrengungsund Überwindungsleistung. Das heißt, auch die Führungsperson würde nicht automatisch so handeln (z. B. wie in der obigen Szene, in der die Führungskraft engagiert diskutierte), sondern sie erbringt diese zusätzliche Anstrengung, obwohl es vielleicht Kräfte in ihr gibt, die sie eigentlich lieber etwas anderes tun lassen würden. Je größer die Überwindungs- und Anstrengungsleistung ist, je stärker also eine Führungsperson andere Bedürfnisse in sich (z. B. das Bedürfnis nach Ruhe, nach Lebensfreude, nach Behaglichkeit) vernachlässigen muss, umso stärker ist offenbar die Bindung an das Ziel, die die Führungsperson antreibt.
1.4 • Führen und geführt werden: Schwierigkeiten im Führungsprozess
Das, was für die Selbstführung gilt (s. auch 7 Exkurs »Führung unter der Perspektive der Selbstführung«), gilt selbstverständlich auch für die Führung in einem hierarchischen sozialen Kontext. Jeder Führende braucht zunächst einmal die Bindung an ein für sich bestimmtes und gedachtes Ziel. Dieses Ziel selbst können wir nie sehen. Wir sehen aber ein Führungshandeln und wir sehen dem Führungshandeln unter Umständen Überwindungsleistung und Anstrengung an. Das Ausmaß und die Unbedingtheit, mit der eine Führungsperson sich an eigene Ziele gebunden hat, erschließen wir aus dem Ausmaß der Anstrengungsleistung, das wir wahrnehmen. > Das hier beschriebene Verständnis von Führung ergibt also nur dann Sinn, wenn wir den Willen als Instanz in uns zulassen. Wir müssen anerkennen, dass wir als Menschen nicht ausschließlich emotional und triebhaft gesteuert sind, sondern dass wir in der Lage sind, uns an Ziele zu binden, auch wenn die Anstrengungsleistung bei der Verfolgung dieser Ziele uns dazu zwingt, konträr zu anderen eigenen Bedürfnissen und Trieben zu handeln.
1.4
15
1
Je stärker die Bindung an ein Ziel, umso größer die Anstrengungsbereitschaft
Wir Menschen haben einen Willen, der uns von rein triebhaft gesteuerten Wesen unterscheidet.
Führen und geführt werden: Schwierigkeiten im Führungsprozess
Wenn wir uns nun noch einmal Führung als Prozess verdeutlichen, so stellen wir auf Seiten der Führungskraft die folgenden Prozessschritte fest: 1. Willensbildung. Wer führen oder bestimmen will, braucht eine Absicht und ein Ziel. Dies haben wir im vorherigen Absatz ausführlich dargelegt. Der erste Teil des Führungsprozesses ist dementsprechend die Willensbildung. 2. Identifikation und Bestimmung der folgenden Personen. Im nächsten Schritt muss eine Führungsperson diejenigen Personen bestimmen, von denen sie erwartet, dass sie ihr folgen, also die Zielpersonen oder Objekte ihres Führungshandelns. Der Sinn von Führung liegt in der Bündelung von Individualkräften. Die Führungskraft wird also im nächsten Schritt solche Personen identifizieren, von denen sie sich die effektivste und sinnvollste Bündelung von Einzelkräften verspricht. 3. Die Führungsaktion. Im dritten Schritt können wir beobachten, wie eine Führungsperson Einwirkungs- und Beeinflussungsversuche auf die vorher ausgewählten Personen unternimmt.
Der Führungsprozess auf Seiten der Führungsperson
Auf Seiten der Geführten können wir diesen Ablauf in einer ähnlichen Weise beschreiben. Auch aus der Perspektive der Geführten gibt es drei Prozessschritte: 1. Aufsuchen des situativen Kontextes. Eine erste Bedingung an die Geführten ist, dass diese sich überhaupt in einen Kontext be-
Der Führungsprozess auf Seiten der Geführten
16
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
geben, in dem Führung eine Rolle spielt. Dies tut man beispielsweise, indem man einen Arbeitsvertrag in einem Unternehmen unterschreibt und sich dabei der hierarchischen Organisation dieses Unternehmens unterwirft. Damit hat man in gewissem Sinne durch den Kontext anerkannt, dass man die Offenheit dafür mitbringt, geführt zu werden. 2. Ausrichtung auf die Führungsperson. Im nächsten Schritt müssen die Geführten sich an der Führungsperson ausrichten. Das heißt, sie müssen Offenheit für den Empfang von dessen Wünschen mitbringen und in der Lage sein, seine Aussagen als Appelle oder Aufforderungen zu hören oder zu verstehen. Wir werden später sehen, dass das Thema »Vertrauen« das wesentlichste Merkmal ist, wenn man sich fragt, wie gut diese Ausrichtung auf die Führungsperson gelingt. 3. Übernahme des fremden Willens. Im dritten Schritt muss es auf Seiten der Geführten zu der Bereitschaft kommen, die von der Führungskraft dargestellten Ziele zu eigenen Zielen zu machen und sich an diese zu binden. Sobald der zunächst fremde Wille der Führungskraft zu eigenen Zielen geworden ist, kann man als Führungskraft darauf vertrauen, dass die Geführten ebenso wie man selbst Anstrengungs- und Überwindungsleistungen zum Erreichen der Ziele erbringen (die, wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, manchmal auch konträr zum eigenen emotionalen Innenleben erbracht werden).
1
Wer Führung vollständig ablehnt, bleibt Rebell oder Eremit.
Wer eine konkrete Führungsperson ablehnt, ist nicht grundsätzlich unführbar.
Auf Seiten der Geführten können nun in jedem dieser drei Prozessschritte Schwierigkeiten entstehen, die dazu führen, dass der Führungsversuch letztlich nicht erfolgreich ist und die vom Führenden angestrebte Bestimmung nicht erfolgen kann: 1. Grundsätzliche Ablehnung von Kontexten, in denen Geführtwerden stattfindet. Die erste Grundbedingung auf Seiten der Geführten besteht in der Akzeptanz oder der grundsätzlichen Offenheit für das Geführtwerden. Teilweise trifft man aber auf Menschen, die es rundheraus ablehnen, sich in einen Kontext zu begeben, in dem sie geführt werden. Diese Menschen bleiben entweder die ewigen Rebellen gegen alles, was nach Macht und Hierarchie zu riechen scheint, oder aber sie werden zu Eremiten und entziehen sich in gewissem Sinne allen größeren sozialen Kontexten. 2. Mangelnde Ausrichtung auf die konkrete Führungspersönlichkeit. Das zweite Problem kann in der mangelnden Ausrichtung auf eine Führungsperson liegen. Dieses Problem entsteht dann, wenn jemand es nicht akzeptieren kann, von einer bestimmten Person geführt zu werden. Dies muss nicht gleichbedeutend mit der Ablehnung des Geführtwerdens als solchem zusammenhängen, sondern es kann sein, dass man Führung lediglich durch eine bestimmte Person nicht akzeptiert (z. B. weil man ihr nicht vertraut). In diesem Fall sind Menschen zwar grundsätzlich
1.5 • Über die Entstehung von Führungszielen
17
1
führbar, aber nur von denjenigen, denen es gelingt, ihr Vertrauen zu gewinnen. 3. Widerstand gegen einen konkreten Willen der Führungsperson. Die dritte Problematik besteht darin, dass Widerstand gegen einen ganz bestimmten Willen oder gegen ein ganz bestimmtes Ziel einer Führungsperson aufkommt. In diesem Fall akzeptieren die Geführten zwar grundsätzlich, von ihrer Führungsperson geführt zu werden, akzeptieren aber in einem konkreten Fall seinen Willen nicht und bringen Widerstand gegen die eingeforderten Ziele zum Ausdruck.
Wer ein konkretes Ziel ablehnt, kündigt nicht grundsätzlich die Akzeptanz zur Führungsperson auf.
Alle drei Problematiken begegnen uns im Führungsalltag. Wenn Sie Führungserfahrung besitzen, dann fallen Ihnen vermutlich für alle drei geschilderten Probleme unmittelbar Beispiele ein. In 7 Kap. 3 werden wir diskutieren, wie mit diesen Widerständen umgegangen werden kann. In diesem Kapitel werden wir uns mit den Führungsstrategien im engeren Sinne befassen.
1.5
Über die Entstehung von Führungszielen
Wenn wir uns noch einmal an die drei Elemente des Führungsprozesses aus Sicht einer Führungsperson erinnern, so ist an dieser Stelle der erste Schritt, nämlich die Willensbildung, von besonderem Interesse. Die spannende Frage in diesem Zusammenhang ist, wie eine Führungsperson überhaupt zu ihren Zielen gelangt. Denn Ziele als derzeit nicht reale Sollzustände der Zukunft sind im Augenblick nicht sinnlich zu erfahren, sondern nur gedachte Ideale, nur Erwartungshaltungen in unserer Vorstellungskraft. Im ganz strengen Sinn ist ein Ziel sogar nur ein Gefühl. Vermutlich sind nur Menschen in der Lage, sich langfristige Ziele zu setzen und mit Selbstüberwindung für die Realisierung ihrer Ziele zu kämpfen. Aber wo kommen diese Ziele her, die man im Unternehmen gerne auch »Vision« nennt, was ihren imaginären Charakter eher noch unterstreicht? Wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass die Quelle dieser Ziele sowohl Enttäuschung als auch Optimismus sein kann. Ziele, die aus Enttäuschung entstehen, zielen auf die Überwindung eines gegenwärtigen oder vergangenen Mangels. Ziele, die aus Optimismus entstehen, entstehen aus dem Wunsch heraus, etwas als schön oder wünschenswert Erfahrenes zu wiederholen. Konkret besprochen bedeutet dies, dass die Quelle für Ziele entweder unser Wunsch ist, etwas zu haben, was wir früher oder jetzt nicht haben können, oder etwas zu wiederholen, was wir als schön und wünschenswert in Erinnerung haben. Die großen Anstrengungen Amerikas, die nötig waren, um erfolgreich zum Mond zu fliegen, sind letztendlich der Vision geschuldet, Amerika ein echtes Alleinstellungsmerkmal in der Welt zu geben. Die Vision des Mondfluges
Woher kommen die Ziele von Führungspersonen?
Ziele sind nicht sinnlich erfahrbar, sondern nur gedankliche Ideale in unserer Vorstellungskraft.
Ziele entstehen durch Enttäuschung oder Optimismus.
18
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
1 Ziele sind immer ethisch und normativ.
Führung benötigt den Glauben an die Erreichbarkeit der Ziele.
wurde insofern aus der Furcht geboren, die Alleinstellung in der Welt zu verlieren. Eine Führungsperson, die sich selbst bestimmte Ziele setzt, wird also Zukunftserwartungen formulieren, die entweder aus einem Mangelerleben heraus geboren werden oder aus dem Wunsch, etwas positiv Erlebtes zu wiederholen. Beides, sowohl das Mangelerleben als auch der Wunsch der Wiederholung von etwas Schönem, können beim Führenden auf sich selbst bezogen sein (»Ich möchte gerne reich werden«) oder aber im anderen Extrem auch die gesamte Menschheit mit einschließen (»Ich möchte die Armut besiegen«). Der Prozess der Zielbildung in einer Führungspersönlichkeit hat übrigens immer eine intuitive, wir können aber auch sagen eine ethische Komponente. Ziele können nur normativ sein. Was wir als Menschen anstreben sollen, kann uns nicht die Wissenschaft oder die Empirie sagen. Zielsetzungen sind normativ und nicht deskriptiv. Im ersten Schritt der Willensbildung entsteht also ein Entwurf der Zukunft, der eine Verheißung beinhaltet. Damit der Führungsprozess in Gang kommt, ist nun noch ein zweiter Schritt nötig: Die Führungsperson braucht auch noch den Glauben, dass sie es schaffen kann. Ohne das Selbstvertrauen, dass es möglich ist, die eigenen Ziele und den eigenen Willen zu verwirklichen, kommt der Prozess der Führung nicht in Gang.
Alle Visionen sind letztlich vergangenheitsbezogen.
> Letztendlich sind alle unsere Zukunftsvisionen nur eine Fortschreibung der Vergangenheit. Wir können das Schöne oder Gute nicht neu denken. Wir können es nur neu illustrieren, mit neuen Inhalten versehen. Die wahren Visionen sind vergangenheitsbezogen, als eine Wiederholung der Vergangenheit oder ein Ausbrechen aus der Vergangenheit.
Wenn Ziele die Bündelung von Kräften benötigen, ist die Voraussetzung für Führung gegeben.
Wenn die Ziele, die Sie sich gesetzt haben und die Ihren normativen Zukunftsentwurf darstellen, nur für Sie selbst relevant sind und nur durch eigene Anstrengungsleistung erbracht werden können, dann beginnt das, was wir bereits mit der Idee der Selbstführung beschrieben haben. Sie erbringen dann die Anstrengungs- und Überwindungsleistungen, die nötig sind, um auf Ihre Ziele hinzusteuern. Es gibt aber Ziele, die letztendlich nur über andere Menschen erreicht werden können, über ihre Mitwirkung, über die Bündelung ihrer Kräfte. Sobald die Ziele, die Sie sich gesetzt haben, den Einbezug anderer Menschen bedingen, ist die Voraussetzung für Führung gegeben. In einer komplexen sozialen Welt erfordern die meisten Ziele die Bündelung von Kräften anderer Menschen. Führung ist damit in jedem von uns. Im Minimalsten ist Führung dann in uns, wenn wir uns in selbstbestimmter Ausrichtung auf selbst gewählte Ziele vom reinen Hedonismus entfernen und uns an Zukunftsverheißungen binden, für die uns Anstrengungen wert erscheinen. Darüber hinaus stecken aber in jedem von uns Ziele, die wir nur durch die Bündelung der Kräfte anderer Menschen erreichen können. Unabhängig davon, ob
Führung ist in jedem von uns.
1.6 • Führung als Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben
19
1
Sie nun im Unternehmen, in einer anderen Organisation oder in der Politik formal als Führungsperson tätig sind, werden Sie auch in vielen anderen sozialen Kontexten Führungsherausforderungen erleben. Führung ist in jedem von uns.
1.6
Führung als Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben
Wir haben in den vergangenen Abschnitten gesehen, dass wir in jedem Fall »bestimmte Lebewesen« sind. Wir begeben uns zum Teil aus freiem Willen in soziale Kontexte, in denen wir offen dafür sind, geführt zu werden, und in denen wir uns bereitwillig einem fremden Willen unterwerfen. Wenn wir versuchen, solche sozialen Kontexte zu vermeiden, so werden wir dennoch geführt. Wir werden geführt durch die Kultur, die in ihrer Gesamtheit die Summe der etablierten Führungsstrukturen ist und die unser Verhalten durch vielerlei Normen, Regeln und Werte lenkt. Wir werden aber noch fundamentaler geführt. Wir folgen auch internalisierten Führungen, die wir in unserer Biographie erworben haben, durch die Verhaltensstrukturen, die in uns entstanden sind als Ergebnis unserer Erziehung durch Eltern, Lehrer oder andere, in unserer Kindheit und Jugend prägenden Personen. Wir werden als Mensch bestimmt und geführt und wir können diesem Zustand nicht entrinnen. Wenn wir uns mit dem Thema Führung beschäftigen, dann geschieht dies aber zumeist aus einer anderen Triebfeder heraus. Führungskräfte beschäftigen sich nicht mit Führung, um festzustellen, dass sie als Mensch geführt und bestimmt werden. Sie setzen sich mit dem Thema auseinander, um etwas darüber zu erfahren, wie man noch besser von einem bestimmten zu einem bestimmenden Wesen werden kann.
Wir werden immer geführt, im Mindesten durch unsere Kultur und durch unsere internalisierten Werte.
Wir können dem Geführtwerden nicht entrinnen.
Wer sich für Führung interessiert, will von einem bestimmten zu einem bestimmenden Menschen werden.
> Je größer unsere Fähigkeiten sind, bei anderen Menschen die Bindung an unseren Willen und unsere Ziele zu erzeugen, umso größer können die Aufgaben sein, die wir uns zutrauen dürfen. Das minimale Ziel ist ein selbstbestimmtes Leben in Richtung der eigenen Ziele. Das größere Ziel vieler Führungspersönlichkeiten ist es aber, die eigenen Fähigkeiten so zu stärken, dass man noch besser, effizienter und erfolgreicher andere führt und zunehmend größere Führungsherausforderungen bewältigt. Durch große Aufgaben werden Führungspersonen zu Helden.
Die Geschichte bietet vielerlei Beispiele für Führer, die Katastrophales und Verheerendes in der Welt bewirkt haben. Die Geschichte bietet aber auch viele Beispiele für Führungskräfte, die es geschafft haben, immense Herausforderungen zu meistern und Ziele zu erreichen, an die außer ihnen selbst zunächst kaum jemand zu glauben bereit war.
Je größer die Ziele und Aufgaben, umso mehr Führungsstärke ist notwendig.
20
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
1.7
1
Je größer die Gefahr, desto größer die Führungsherausforderung
Je stärker die Leugnung von Handlungsbedarf, desto größer die Führungsherausforderung
Je schwieriger die Persönlichkeit der Geführten, desto größer die Führungsherausforderung
Je mehr Konflikte in einer Gruppe, desto größer die Führungsherausforderung
Führung und Führungsherausforderungen
Was macht aber Führungsherausforderungen aus? Welche Schwierigkeiten müssen überwunden werden, um als Führungspersönlichkeit wachsen zu können und um zunehmend größere Ziele erreichen zu können? Insgesamt lassen sich hier sechs Aspekte unterscheiden, die die Größe von Führungsaufgaben kennzeichnen: 5 Die Größe der Not oder der Gefahr. Ein erster wichtiger Aspekt, der die Größe von Führungsherausforderungen bestimmt, liegt in der Not oder in der Gefahr, die überwunden werden muss. Eine Not oder eine Gefahr ist dann groß, wenn die Möglichkeit zur Bewältigung dieser Gefahr durch die Geführten nicht offenkundig oder selbstverständlich ist. Je weniger stark die Geführten sich eine Bewältigung der Problematik zutrauen oder je weniger die entsprechenden Fähigkeiten gegeben zu sein scheinen, umso größer ist die Herausforderung für die Führungskraft. Die Führungskraft muss dann auch die noch nicht realisierten Potenziale der Geführten erwecken und realisieren. 5 Die Leugnung von Veränderungsnotwendigkeiten. Ein zweiter Aspekt, der Führungsherausforderungen groß macht, liegt darin, dass bisweilen durch die Geführten keinerlei Veränderungsnotwendigkeiten gesehen werden. In diesem Fall muss der Führende deutlich machen, welche Gefahren im Falle einer Nichtveränderung drohen können oder aber welche positiven Ziele unrealisiert bleiben müssen, wenn keine Veränderung erfolgt. Je größer die Kräfte der Beharrung auf dem Status Quo und je geringer die Veränderungsbereitschaft, umso größer muss die aufzuwendende Führungsleistung sein. 5 Die Zusammenarbeit mit »schwierigen« Geführten. Geführte mit »schwierigen« Persönlichkeitszügen machen Führung komplizierter. Schwierige Persönlichkeitszüge der Geführten machen unter Umständen Reaktionen schwerer vorhersehbar, das Verhalten der Geführten unberechenbarer, schwerer beeinflussbar und Widerstand gegen die Führungskraft wahrscheinlicher. Die Größe einer Führungsherausforderung bemisst sich auch darin, wie gut man es schafft, auch gerade die schwierigen Personen an das gemeinsame Ziel zu binden und in die Bündelung der gemeinsamen Kräfte zu integrieren. 5 Das Ausmaß der Dynamik und der Konflikte zwischen den Geführten. Je intensiver und konfliktärer sich die Dynamik zwischen den Geführten darstellt, umso größer ist die Herausforderung für den Führenden. Je größer die Konflikte zwischen den Geführten, umso schwieriger ist offenbar die Bündelung auf ein gemeinsames Ziel und das Erreichen einer konstruktiven und kooperativen Bündelung der gemeinsamen Kräfte. Die Größe
1.7 • Führung und Führungsherausforderungen
einer Führungsherausforderung bemisst sich für eine Führungsperson auch darin, mit wie viel Konfliktpotenzial sie innerhalb der eigenen Gefolgschaft umgehen muss. 5 Schwierigkeiten in der Kommunikation. Die Führungsperson ist letztlich nur in der Lage, eine Bindung an ihren Willen zu erzeugen, wenn es ihr gelingt, ihre Ziele und Erwartungen für die Geführten verständlich und klar zu vermitteln. Je mehr Verständigungsschwierigkeiten aufgrund von Sprache, Bildungsniveau, erfahrungsbedingten Unterschieden oder anderen kommunikativen Hemmnissen bestehen (z. B. schlichtweg auch wenig Kontakt zwischen Führungsperson und Geführten), umso größer ist die Führungsherausforderung. 5 Traditionelle oder dysfunktionale Führungsstrukturen. Wir haben früher in diesem Kapitel argumentiert, dass man als Führender mit seinen Führungsaktionen zumeist im Rahmen gegebener Führungsstrukturen agiert. Manchmal liegt aber die Herausforderung gerade darin, gegebene Führungsstrukturen zu überwinden und durch neue Führungsstrukturen zu ersetzen. Im Großen wie im Kleinen kann dies als Evolution, manchmal aber auch als Revolution oder Paradigmenwechsel verstanden werden. Je stärker eine Führungsperson zur Erreichung ihrer Ziele traditionelle Führungsstrukturen zerstören und durch neue ersetzen muss und je weniger sie etablierte Führungsstrukturen als Weg zu seinem Ziel nutzen kann, umso größer ist für sie die Führungsherausforderung. Wenn wir uns auf den Weg machen, unsere Führungsfähigkeiten zu verbreitern, dann möchten wir immer mehr und immer größere der hier beschriebenen Herausforderungen erfolgreich bewältigen. Wir möchten unsere Freiheit nutzen, vom bestimmten Mensch zum Bestimmer zu werden. Wir möchten in der Lage sein, uns und andere auf selbst gewählte Ziele ausrichten zu können. Überpointiert könnte man sagen, dass unsere Entwicklung als Mensch weg von der Reflexamöbe (als rein Reiz-Reaktions-bestimmtes Lebewesen) zu einem selbstbestimmten Leben in Freiheit über Führung führt. Die Frage nach Führungsfähigkeiten ist damit für unser Leben fundamental. Die Kernfrage, die am Ende der Beschäftigung mit dem Thema Führung beantwortet werden muss, lautet: Wie können wir unsere Freiheit in der sozialen Welt vergrößern? Freiheit ist hier verstanden als die positive oder handlungsorientierte Seite von Macht. Macht erlebt man als Geführter im Allgemeinen als Begrenzung der eigenen Freiheit. Wenn jemand anderes Macht über Sie hat, dann grenzt er Ihre Freiheit ein. In positivem Sinne erlebt man Macht als Freiheit, nämlich als die Möglichkeit, selbstbestimmt und autonom zu handeln.
21
1
Je mehr Verständigungsschwierigkeiten zwischen Führungsperson und Geführten, desto größer die Führungsherausforderung
Je dysfunktionaler die Führungsstrukturen, desto größer die Führungsherausforderung
Wer führen will, will seine Freiheit in der sozialen Welt vergrößern.
22
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
> Führungskritische Literatur zeichnet sich oftmals dadurch aus, dass dem Streben nach Macht grundsätzlich pathologische Züge unterstellt werden. Diese Schlussfolgerung teilen wir nicht. Zunächst einmal ist das Streben nach Macht gleichzusetzen mit dem Streben nach Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung. Wir würden eher das Gegenteil, nämlich das Streben nach Ohnmacht und Unterwerfung, als pathologisch beschreiben.
1
Bestimmen zu wollen ist eine normale Triebfeder unseres Lebens.
Führung wird gut oder schlecht durch die Ziele, die man verfolgt, und die Mittel, die man dabei einsetzt.
Bestimmt werden wir ohnehin durch internalisierte Führungen, durch Kultur oder dadurch, dass wir nicht vermeiden können, uns in hierarchische soziale Kontexte zu begeben. Dass wir vom Bestimmten nun auch zum Bestimmer werden wollen, ist dabei kein pathologischer Vorgang, sondern eine ganz normale Triebfeder unseres Lebens, die im Übrigen auch biologische Wurzeln hat, wie wir im nächsten Abschnitt darlegen werden. Ob nun das, was wir als Bestimmer bewirken, etwas Gutes für die Welt ist, bemisst sich letztlich an einer anderen Frage. Es ist nicht die Frage, ob Führung selbst etwas Gutes oder Schlechtes ist (Führung als solches ist weder gut noch schlecht, sondern einfach nur existent). Die ethische Problematik bemisst sich an zwei anderen Fragen, nämlich welche Ziele wir anstreben und wie weit wir bei der Verfolgung dieser Ziele gehen würden. Diese beiden Fragen haben immense ethische Implikationen, zu denen man eine Position finden muss. Die Tatsache, dass wir Ziele erreichen möchten, die nur durch Einwirkung auf andere erreichbar sind, ist für sich genommen weder pathologisch noch gut oder schlecht.
1.8
Warum gibt es Führung?
Hierarchische Beziehungen müssen einen Vorteil haben.
Wenn das Leben uns schon so einen machtvollen Mechanismus wie das Thema Führung schenkt, können wir natürlich die Frage stellen, warum es einen solch fundamentalen Mechanismus eigentlich überhaupt gibt. Es muss offenbar einen Vorteil bringen, sich in hierarchischen Beziehungen zu organisieren. Hierin liegt der Sinn der Führung selbst. Wir Menschen sind in der Lage, über den Sinn von Führung zu reflektieren. Wir können uns letztlich ja sogar bewusst dafür entscheiden, welche Lebensaufgaben wir hierarchisch angehen und welche Lebensaufgaben wir unter Umständen partnerschaftlich und »auf Augenhöhe« bewältigen. Wenn wir nun versuchen, den Sinn von Führung zu verstehen, so gelangen wir zu drei großen Vorteilen, die uns eine hierarchische Form des Zusammenwirkens eröffnet:
Sehr komplexe Aufgaben brauchen eine hierarchische Organisation.
Komplexitätsreduktion. Einer der wichtigsten Vorteile, die eine hierarchische Form der Zusammenarbeit bietet, besteht in der Komplexitätsreduktion. Je komplexer eine Aufgabe ist, umso effizienter ist deren Bewältigung, wenn man sie hierarchisch zerlegt. Wenn Sie sich als Unternehmer vornehmen, ein Auto zu bauen, dann funktioniert
1.8 • Warum gibt es Führung?
23
1
der Prozess im Allgemeinen so: Ganz oben muss es die letztgültige Entscheidungsinstanz geben, die eine Vision davon hat, welche Eigenschaften das Auto auszeichnen sollen. Dann beginnt die hierarchische Zerlegung in Teilaufgaben entlang der verschiedenen Funktionsbereiche und Hierarchien des Unternehmens. Schrittweise werden die Arbeitsergebnisse aber wieder hoch eskaliert und für ausreichend oder nicht ausreichend befunden und nachgebessert. Schließlich entsteht das neue Produkt, das letztlich die Führungspersönlichkeit repräsentiert (bei Volkswagen ist der Phaeton beispielsweise deutlich mit dem seinerzeitigen Vorstandsvorsitzenden, Herrn Piëch, verbunden. Der Wagen repräsentiert ihn, obwohl er natürlich das Ergebnis unzähliger kleinerer Führungen ist). Derart komplexe Aufgaben, wie der Bau eines Autos, lassen sich überhaupt nur auf hierarchische Weise effektiv ausführen. Nur durch Führung kann es zu einer erfolgreichen Bündelung der tausenden Individualkräfte kommen, die an dem Gesamtergebnis mitwirkten. Entscheidungsgeschwindigkeit. Ein zweiter großer Vorteil hierar-
chisch organisierter Gruppen ist die Entscheidungsgeschwindigkeit in Gefahrensituationen. In einer hierarchisch organisierten Gruppe kann eine immens schnelle Reaktion einer großen Anzahl von Lebewesen in einer derartig koordinierten Weise erfolgen, dass auf Gefahren (oder manchmal auch Chancen, deren Nichtnutzung dann die Gefahr darstellt) reagiert werden kann. Bei uns Menschen führt dies beispielsweise zu der Tatsache, dass solche Organisationen, in denen sicherheitsrelevante Aspekte eine größere Rolle spielen, dazu tendieren, sich immer hierarchischer aufzustellen. Armee und Polizei sind nur erfolgreich, wenn die Führenden in diesen Organisationen darauf vertrauen können, dass im Zweifel schnell und bedingungslos gefolgt wird. Kompetenz. Ein großes Potenzial der Hierarchiebildung liegt in der
Möglichkeit, Personen mit besonderen Fähigkeiten an den richtigen Stellen in der Organisation zu platzieren. Personen, die aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit das größte Potenzial haben, die richtigen Entscheidungen zu treffen oder andere anzuleiten und auszubilden, können ihre Leistungsmöglichkeiten in einer Führungsrolle multiplizieren. In gut funktionierenden Hierarchien können Leistungsträger ermittelt werden und deren Leistungsfähigkeit nutzbar gemacht werden, indem sie an diejenigen Stellen gebracht werden, in denen das größte Multiplikationspotenzial liegt. > Es ist mitnichten so, dass der beschriebene Nutzen aufgrund einer reflektierten Entscheidung erzeugt worden ist. Es gab keine grundsätzliche Entscheidung in der menschlichen Kulturgeschichte, Hierarchien zu bilden. Hierarchien bildeten sich immer und überall, in jeder Kultur und zu jeder Zeit. Die Kultur selbst ist ja das Ergebnis von Führung.
Hierarchie sichert Entscheidungsgeschwindigkeit.
Hierarchie vereinfacht die Multiplikation und Weitergabe von Kompetenz.
24
1
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
Führung gibt es auch im Tierreich.
Herdentiere ziehen einen Nutzen aus Hierarchie.
Der Nutzen von Führung bei uns Menschen entspricht den Mechanismen im Tierreich.
Wenn man die Ursachen für Führung noch etwas fundamentaler verstehen will, hilft ein Blick auf die Evolution oder die Biologie. Denn Führung ist kein rein menschliches Phänomen. Führung gibt es selbstverständlich auch im Tierreich. Führung gibt es natürlich vor allem bei Herdentieren, die entweder gemeinsam jagen oder gemeinsam in der Herde Schutz vor Gefahren suchen. Welchen Nutzen bringt eine hierarchische Organisation für eine Herdentierart? Hier sind drei Nutzenaspekte relevant: 5 Erziehung des Nachwuchses. Komplexere Lebewesen, deren Nachwuchs kein Nestflüchtling ist, erziehen ihren Nachwuchs, schützen ihn und bilden ihn aus. Dies geschieht bisweilen sogar in einer arbeitsteiligen Form (z. B. bei Delphinen, wo der Nachwuchs tatsächlich in einer Art »Schule« zusammengefasst wird, um bei den anderen Tieren Ressourcen für die Jagd frei zu machen). Je hilfloser ein Neugeborenes ist, umso länger und intensiver ist die Brutpflege und Anleitung, die die Eltern oder ein Elternteil leisten müssen. 5 Koordination bei Jagd und Gefahr. Jagd und bisweilen auch Gefahrenabwehr sind für Herdentiere unter Umständen komplexe Aufgaben, bei denen ein koordiniertes Vorgehen wichtig ist. Teilweise müssen rasche Entscheidungen gefällt werden, denen die gesamte Herde in schneller Reaktionsgeschwindigkeit folgen muss. 5 Ermittlung der stärksten Tiere. Die Frage, wer in einer Herde führt, wird im Allgemeinen nach dem Prinzip der Stärke ermittelt. Bisweilen sind hierzu echte Rangkämpfe nötig, manchmal genügen entsprechende symbolische Akte. Es ergibt natürlich Sinn, den Stärksten an die Spitze eines Rudels zu stellen, weil dieser dem Rudel oder der Herde den größten Nutzen bringt. Oft führt dies auch zu einer Rangordnung beim Fressen. Selbstverständlich dürfen die stärksten Tiere und die Anführer sich zuerst beim Futter bedienen und die schwächsten Tiere müssen sich mit den Resten zufrieden geben. Dies sichert dem Rudel, dass die für das Überleben des Gesamtrudels wichtigsten Leistungsträger auf jeden Fall gut versorgt werden. Möglicherweise ist es Ihnen beim Lesen bereits aufgefallen: Die Nutzenaspekte, die wir für Hierarchie im menschlichen Zusammenwirken beschrieben haben, sind absolut analog zu den biologischen Nutzenprinzipien, die uns die Evolution geschenkt hat. Die Erziehung des Nachwuchses ist die entscheidende Komplexitätsreduktion, um autonom handelnden Wesen innere Strukturen in einer komplexen Welt zu geben. Die internalisierten oder gelernten Strukturen erlauben auch komplexeren Tieren eine Orientierung durch das Leben. Sie lernen von ihren Eltern, wie man Beute jagt, welche Lebensmittel man fressen sollte und welche man vermeiden sollte, wie man sich im Rudel verhält und andere Dinge. Diese Art von Erziehung macht die Welt zunehmend handhabbarer und klarer. Die Koordination bei Jagd und Gefahr entspricht bei uns Menschen der Entscheidungsgeschwindigkeit. Der Mechanismus ist analog zu sehen.
1.9 • Die »Skulptur« der Führung
Die Ermittlung von Leistungsträgern in einer Hierarchie durch Rangkämpfe und die anschließende Rangordnung bei der Nahrungsaufnahme ist analog zu der Kompetenzthematik bei uns Menschen zu sehen. Selbst das Thema Rangordnung bei der Futteraufnahme hat eine gewisse Analogie: Unternehmen oder Organisationen bezahlen ihre Leistungsträger und Führungskräfte immer etwas besser als diejenigen, die ihnen folgen.
25
1
Der Sinn von Führung ist beim Menschen und im Tierreich sehr ähnlich.
> Die Tatsache, dass es Führung gibt, ist keine kulturelle Leistung der Menschen, sondern umgekehrt: Unsere Kultur ist das Ergebnis dessen, dass die Evolution und unsere Biologie uns einen derart machtvollen Faktor geschenkt haben, der uns zu großen Aufgaben und Leistungen befähigt.
1.9
Die »Skulptur« der Führung
Zum Abschluss des Einstiegskapitels wollen wir an dieser Stelle noch einmal einen kurzen Überblick über die Logik und den Aufbau dieses Buches geben. Wir fühlen uns in der Analyse des Phänomens Führung keiner Denkschule verpflichtet, sondern vertreten einen ganzheitlichen Ansatz. Metaphorisch gesprochen ist für uns das Thema Führung eine Skulptur und kein Bild. Der Unterschied zwischen einem Bild und einer Skulptur ist, dass man eine Skulptur niemals von allen Seiten gleichzeitig betrachten kann. Je nach Betrachtungswinkel der Skulptur sieht man immer etwas anderes. Jeder Betrachtungswinkel ist für sich genommen aber »wahr« und liefert uns Eindrücke zum Verständnis der Skulptur. Wer aus ideologischen Gründen nur eine Seite der Skulptur sehen will, beraubt sich eines ganzheitlichen Verständnisses. Bei einem Bild ist das anders. Hier benötigt man nur eine Perspektive, um die komplette Wahrheit des Bildes zu erfassen. Führung ist in seiner Komplexität aber eher eine Skulptur als ein Bild. Wir werden in den nächsten Kapiteln das Thema »Die Skulptur der Führung« von sehr unterschiedlichen Seiten betrachten. Wir werden es in 7 Kap. 2 von der Persönlichkeitsseite der Führungskraft betrachten und untersuchen, welche Persönlichkeitsaspekte einer Führungsperson in welcher Weise auf die Geführten wirken. In diesem Zusammenhang werden wir das Thema Charisma als Beschreibung besonders außergewöhnlicher Führungserlebnisse differenzierter diskutieren. Im 7 Kap. 3 werden wir uns mit der Frage beschäftigen, welche praktischen Führungsstrategien genutzt werden können und in welcher Weise diese auf die Persönlichkeit der Geführten abgestimmt sein sollten. Im Rahmen dieser Betrachtung führen wir die drei fundamentalen Führungs-Kräfte Macht, Sinn und Motivation ein. Im 7 Kap. 4 werden wir uns dem Problem zuwenden, dass Führung nicht im luftleeren Raum geschieht, sondern immer in bestimmte Situationen (z. B. Herausforderungen und Krisen) einge-
Führung wird in diesem Buch ganzheitlich dargestellt.
Führung ist eine Skulptur und kein Bild.
26
Kapitel 1 • Die Philosophie der Führung: Bestimmen und bestimmt werden
1
Führung wird oft nur unter der Perspektive von Kommunikation und Konfliktmanagement betrachtet.
bettet ist. Wir werden den Einfluss der Situation auf das Herausbilden von Führung und Führungsleistungen diskutieren. Im 7 Kap. 5 wird es um das Thema Ziele in der Führung gehen: Führung ist nicht ohne Ziele vorstellbar, denn irgendwohin muss man ja führen. Wir werden aufzeigen, welche Arten von Zielen echte Führungs-Kraft entfalten können. 7 Kap. 6 ist dem Umstand gewidmet, dass Führung nicht immer nur als unmittelbare personale Einwirkung geschieht, sondern auch durch die Schaffung verhaltenslenkender Strukturen. Hier wird es darum gehen, wie man als Führungsperson Strukturen und Kultur schafft und wie man diese aber auch verändert. Im 7 Kap. 7 werden wir Führung aus der Perspektive des Konflikts betrachten: Führung ist insofern immer auch erfolgreiches Konfliktmanagement, als eine vollständig mit sich selbst und der äußeren Welt im Einklang handelnde Gruppe nur wenig Führungsbedarf hat. Führungsbedarf entsteht damit auch durch Konflikte. Im 7 Kap. 8 werden wir schließlich das Thema der Führungskommunikation diskutieren. Wir werden hier nicht nur die oberflächlichen Kommunikationsphänomene anschauen, sondern vor allem auf die impliziteren und weniger sichtbaren Prozesse eingehen. Die 7 Kap. 2 bis 8 betrachten damit unterschiedliche Seiten der Skulptur Führung und Führungskompetenz. Viele Führungstheorien fokussieren auf nur einzelne Aspekte. Auch in der typischen Führungsqualifizierung (z. B. in vielen Führungskräftetrainings) wird Führung oftmals nur unter der Perspektive von Führungskommunikation und Konfliktmanagement betrachtet. Wir glauben jedoch, dass nur eine ganzheitliche Betrachtung der Skulptur Führung neue Einsichten schafft und die Augen für diejenigen Perspektiven öffnen kann, die man durch die eigene Intuition bislang nicht erreichen konnte. Die 7 Kap. 9 bis 11 haben einen etwas anderen Charakter als die vorangehenden Kapitel. 7 Kap. 9 beschreibt das Phänomen der Macht und des Machterwerbs und schaut damit aus einer Art Meta-Perspektive auf das Thema Führung. In 7 Kap. 10 wenden wir uns den typischen psychologischen Störungen zu, für die Führungskräfte besonders anfällig sind. Wir zeigen aber auch auf, dass es nicht gerechtfertigt ist, das Streben nach Führung und Macht grundsätzlich zu pathologisieren. Im Abschlusskapitel des Buches (7 Kap. 11) gehen wir auf ethische Dilemmata in der Führung ein: Führungskräfte mit viel Macht greifen stark in das Leben anderer Menschen ein und damit wird ihr Handeln sofort auch moralisch bewertet. Wir zeigen auf, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Macht aussehen sollte.
27
Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen Führungs-Kraft erzeugen 2.1
Das Führungsattribut »Charisma« – 29
2.2
Die rationale und die irrationale Seite der Führung – 31
2.3
Charisma und Biologie – 33
2.4
Führung und Angst: Die psychologischen Grundlagen von Charisma – 34
2.5
Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung – 40
2.5.1 2.5.2
Der charismatische Beziehungsvertrag – 46 Unempfänglichkeit für Charisma – 48
2.6
Entwicklung von Charisma – 50
2.6.1
Psychologische Entwicklungsschritte auf dem Weg zur charismatischen Führungspersönlichkeit – 50 Wie kann man als Führungskraft Charisma entwickeln? – 56
2.6.2
2.7
Brauchen wir charismatische Führungspersönlichkeiten? – 61
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
2
28
2
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
Die Geschichte der Menschheit wird entlang großer Führungspersönlichkeiten erzählt.
Welche Merkmale machen Menschen zu Führungspersönlichkeiten?
Führungserfolg ist nicht unabhängig von der Persönlichkeit der Führungsperson zu verstehen.
Im vorigen Kapitel haben wir erklärt, dass das Thema Führung ein universelles Phänomen ist, das überall dort auftritt, wo Kräfte gebündelt werden müssen, um solche Ziele zu erreichen, die über die Leistung Einzelner hinausgehen. Das Phänomen der Führung ist dadurch bei Menschen und bei Tieren zu beobachten, kulturübergreifend und zeitlos. Die Geschichte der Menschheit wird vor allen Dingen entlang großer Führungspersönlichkeiten erzählt. Das Gelingen unseres eigenen Lebens hängt zum einen maßgeblich von gelungener Selbstführung ab, zum anderen von der Frage, ob wir von guten und erfolgreichen Führungspersonen geführt werden. Schon lange haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht, warum bestimmte Personen erfolgreiche Führungspersönlichkeiten werden, andere jedoch scheitern, warum es bestimmten Personen gelingt, tatsächlich die Führung zu übernehmen, und warum es andere Personen nicht schaffen, Kräfte in einer sinnvollen Weise zu bündeln. Historiker, Soziologen, Anthropologen und Psychologen haben sich mit dem Phänomen der Führung aus historischer, kultureller, soziologischer oder psychologischer Perspektive beschäftigt. Im ersten Kapital haben wir gezeigt, warum es Führung überhaupt gibt. In diesem zweiten Kapitel wird es vor allen Dingen um die Frage gehen, wie sich bei bestimmten Menschen die Fähigkeit des Führens herausbildet und wieso es bestimmte Menschen deutlich besser schaffen als andere, dass man ihnen folgt. In diesem Kapitel wird vor allen Dingen die persönlichkeitsorientierte Perspektive eingenommen. Wir werden also fragen, welche Merkmale Menschen zu Führungspersönlichkeiten machen. Auf den ersten Blick scheint es nun so zu sein, als fühlten wir uns einer »Great-man-Theory« verpflichtet, also einer frühen psychologischen Erklärungstheorie für Führung, die vor allen Dingen Persönlichkeitsattribute von Führungspersonen zur Begründung seiner Führungsleistungen heranzieht. Diese »Great-man-Theory« ist im Verlauf der Psychologiegeschichte heftig kritisiert worden. Viele andere Erklärungsmodelle sind entstanden, die das Thema Führung aus der Situation heraus erklären wollten, aus den Rahmenbedingungen, aus historischen Zwängen oder Besonderheiten der zu führenden Menschen etc. Wir negieren die Einflussfaktoren dieser anderen Aspekte in keiner Weise: Alle unterschiedlichen Blickwinkel auf Führung haben einen gewissen eigenen Erklärungswert, auf den wir im Verlauf des Buches noch eingehen. Aber zu behaupten, dass die Persönlichkeit letztendlich keine wichtige Determinante bei der Ausbildung von Führungs-Kraft sei, hieße auch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Nicht jeder Mensch hätte Jesus, Buddha, Fidel Castro oder John F. Kennedy werden können. Diese Aussage negiert nicht, dass die genannten Personen in einem sehr speziellen historischen Bezugsrahmen agierten, der Platz für eine ganz bestimmte Art von Führung ließ. Aber es ist eben auch so, dass dieser Platz nicht von jedem hätte ausgefüllt werden können.
29
2.1 • Das Führungsattribut »Charisma«
Wenn wir in diesem Buch nun mit der persönlichkeitsorientierten Seite der Führung beginnen, so ist dies der Tatsache geschuldet, dass das Verständnis von Führungskompetenz als Persönlichkeitsattribut in der Praxis intuitiv zunächst das dominanteste Erklärungsmoment ist. Trotz aller Kritik an der »Great-man-Theory« sehen wir im Alltag und im Berufsleben bestimmte Menschen, denen wir deutlich größere Führungsleistungen zutrauen als anderen. Wenn wir das Führungsgeschehen analysieren, können wir das, was wir sehen, nicht von der beobachteten Führungspersönlichkeit entkoppeln. Aus diesem Grunde wollen wir uns zunächst einmal der Frage zuwenden, welche persönlichen Voraussetzungen Menschen zu Führungspersönlichkeiten werden lassen.
2.1
2
Persönlichkeit ist intuitiv das dominanteste Erklärungsmoment für Führungserfolg.
Das Führungsattribut »Charisma«
Mit dem Begriff »Charisma« tun wir uns vor allem in Deutschland schwer. Wenn man über Charisma nachdenkt, entdeckt man die folgende Ambivalenz: Viele Führungskräfte wären gerne charismatisch und interessieren sich schon aus praktischen Gründen dafür, ihr Charisma zu verbessern. Auf der anderen Seite hat Charisma für viele Menschen etwas Mystisches und damit Irrationales oder vielleicht auch etwas Unethisches, weil Charisma mit Verführungskunst und Verblendung zu tun zu haben scheint. Allerdings wird auch fast niemand widersprechen, dass zu dem Zeitpunkt, an dem Führungspersönlichkeiten durch die Größe ihrer Aufgaben zu Helden werden, die meisten von ihnen als charismatisch zu bezeichnen sind. Eine spezifisch deutsche Reaktion auf Charisma wurde beispielsweise von dem Schriftsteller Werner Fletcher so formuliert:
Charisma hat für viele Menschen etwas Mystisches und Irrationales.
» Charisma ist ein gebündelter Strauß von Verlogenheit, Illusionen, Verblendungen, deren Blüten synthetische Exzesse entduften, die Sinn benebelnd wirken sollen, um den Schweißgeruch primitiver animalischer Bestialität zu überdecken. (Fletcher 2005)
«
Diese Äußerung ist vermutlich vor dem Hintergrund zu verstehen, dass das Deutschland des vergangenen Jahrhunderts ohne Zweifel katastrophale Erfahrungen mit charismatischer Führung gemacht hat. Aus diesem Grunde möchten wir der Charisma-Diskussion Folgendes voranschicken: Charisma an sich ist weder gut noch schlecht. Dass es das Phänomen großer Führer gibt, die Großes bewirken (seien es Katastrophen, seien es Fortschritte für die Menschheit), ist vermutlich unstrittig. Es ergibt also keinen Sinn, den Mechanismus von Charisma selbst zu kritisieren. Unter welchen Bedingungen charismatische Führung etwas Gutes für die Welt bewirken kann, werden wir im 7 Kap. 11 zum Thema Führungsethik noch ausführlicher untersuchen und diskutieren.
Schlechte Erfahrungen mit charismatischer Führung
30
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
Charisma beschreibt das außergewöhnliche Führungserlebnis.
2 Historisch denkt man bei Charisma an Religionsstifter, weise Könige oder Helden.
Charisma bezieht sich auf irrationale Effekte, ist aber sehr wohl rational analysierbar.
Bislang haben wir bereits von Charisma gesprochen, ohne den Begriff als solchen genauer zu bestimmen. Dem Alltagsverständnis von Charisma kommt vermutlich die folgende Definition am nächsten: Charisma beschreibt die Aura und das Erlebnis der »großen« Führungspersönlichkeiten oder das außergewöhnliche Führungserlebnis. Charismatische Führungskräfte scheinen den Menschen durch eine ganz besondere Kraft das Gefühl vermitteln zu können, Teil eines besonderen, eines großen Führungsgeschehens oder einer wichtigen Bewegung zu sein. Viele Führungspersonen erscheinen gerade in der historischen Perspektive charismatisch. Wenn man sich die Attribute anschaut, die den als charismatisch beschriebenen, historischen Führungspersönlichkeiten zugeschrieben werden, so gelangt man häufig zu folgenden Punkten: Gnade, Glaube, Weisheit, Zungenrede, Heilung, Erfüllung, Sinn, Vision und Prophetie. Bei diesen Begriffen denken Sie vermutlich an die großen Religionsstifter, vielleicht aber auch an weise Könige. Vielleicht sehen Sie auch heldenhafte Rebellen und Revolutionäre. In dieser Begriffswelt scheint der mystische und unerklärliche Teil des Charismas besonders präsent zu sein. Allerdings wird es nun sehr wichtig, die folgenden beiden Aspekte sauber auseinander zu halten: Charisma selbst beschreibt in seiner Wirkung selbstverständlich nicht nur auf den Verstand bezogene, sondern vor allem emotionale Erlebnisse und Effekte. Insofern hat die Wirkung von Charisma auf die Geführten durchaus eine zum Teil irrationale Wirkung. Dies bedeutet aber nicht, dass die Wirkungsweise von Charisma als solche irrational ist und sich Erklärungsversuchen entziehen würde. Wie genau es charismatischen Führungspersönlichkeiten gelingt, irrationale Effekte zu erreichen, wie genau die Beziehungsstruktur zwischen charismatischen Führungskräften und ihren Geführten funktioniert, das ist sehr wohl rational erklärbar. > Wir können ein sehr präzises und rationales Bild davon gewinnen, warum bestimmte Führungspersonen als charismatisch wahrgenommen werden und andere nicht. Wir können erklären, wie sich Charisma entwickelt und welchen Weg charismatische Führungspersonen in ihrer eigenen psychologischen Entwicklung nehmen. Wir können sehen, warum einige von ihnen damit erfolgreich sind und andere scheitern.
Charisma kann wachsen und sich entwickeln.
Wir können (7 Abschn. 2.6.2) aufzeigen, wie man an der Entwicklung des eigenen Charismas arbeiten kann. Charisma ist kein Gottesgeschenk. Wenn Sie sich zum Beispiel die deutsche Politikerszene anschauen und diejenigen Personen sehen, die schon lange als Berufspolitiker tätig sind, dann werden Sie vermutlich Politiker sehen, die im Laufe der Zeit charismatischer geworden sind, wohingegen andere als eher tragische Figuren endeten. Es gibt also etwas, das man tun kann, um Charisma zu entwickeln.
2.2 • Die rationale und die irrationale Seite der Führung
2.2
31
2
Die rationale und die irrationale Seite der Führung
Im ersten Kapitel wurde schon dargelegt, dass eine der Grundbedingungen für Führung überhaupt darin besteht, dass die Führungskraft ein Ziel anstrebt, das für seine Erreichung Anstrengungs- und Überwindungsleistung erfordert und für das sie die Kräfte der Geführten bündeln muss. Je erfolgreicher die Bündelung dieser Kräfte gelingt, umso wahrscheinlicher können auch große Ziele erreicht werden. Wenn man sich jetzt den Prozess der Führung aus einer psychologischen Perspektive anschaut, sieht man Folgendes: Wenn Sie als Führungskraft mit einem ganz bestimmten Ziel starten, haben Sie in Ihrer eigenen Wahrnehmung zunächst einmal etwas Rationales vor. Sie können einen Soll-Zustand in der Zukunft benennen, den Sie durch die gemeinsamen Anstrengungen anstreben. Hiermit ist keineswegs gemeint, dass die Phase der Zielfindung durch die Führungskraft ein rationaler Prozess sein muss. Welche Ziele Sie anstreben, hängt in höchstem Maße auch von Ihrer eigenen Psychodynamik ab. Der Prozess der Zielfindung ist immer intuitiv: Niemals kann man analytisch ableiten, was angestrebt werden soll. Aber sobald das Ziel feststeht, hat es eine rationale Qualität. Übrigens ist bei dieser rationalen Qualität der Ziele nicht entscheidend, ob Sie Gutes oder Schlechtes anstreben – das ist eine ethische Frage. Es macht ein Ziel auch nicht rationaler oder irrationaler, ob Sie eher egoistische und persönliche Ziele verfolgen oder Ziele für die Allgemeinheit bzw. für andere Menschen. Sobald das Ziel da ist, liegt die rationale oder funktionale Seite der Führung darin, dieses Ziel zu erreichen. Am leichtesten wird dies vermutlich verständlich, wenn man sich große Organisationen anschaut. Dort wird das große Ziel der Organisation (in Wirtschaftsunternehmen beispielsweise Profit) im Allgemeinen auf viele kleine Ziele verteilt, die die jeweiligen Führungskräfte im Unternehmen erreichen müssen. Die Frage, ob es gut oder schlecht ist, Profit zu machen, braucht innerhalb des Systems der Marktwirtschaft nicht diskutiert zu werden. Die Führungskräfte in den Wirtschaftsunternehmen haben nun die Aufgabe, ihre Teilziele zu erreichen, damit auch das Gesamtziel erreicht werden kann. Die verschiedenen Führungskräfte im Unternehmen haben damit eine Funktion. Ihre Funktion ist die Bündelung der Mitarbeiterkräfte im Sinne der Zielerreichung. Das ist eine sehr rationale und klar beschreibbare Aufgabe. Sie können als Führungskraft das funktionale Ziel haben, in Ihrem Bereich die Kosten um 10% zu reduzieren. Dieses Teilziel mag sinnvoll, logisch und nachvollziehbar im Sinne der erreichten Gesamtziele sein. Vor diesem Hintergrund streben Sie ein rationales Ziel an. Dies ist die funktionale Seite der Führung. In der Praxis passiert allerdings Folgendes: Sie haben nun das rationale Ziel vor sich und Sie haben auch die Funktion, dieses Ziel zu erreichen. Sobald Sie aber das Ziel verkünden, lösen Sie auf der an-
In ihrer eigenen Wahrnehmung haben Führungskräfte mit ihren Zielen etwas Rationales vor.
Die individuelle Zielfindung ist immer intuitiv, nicht analytisch.
Führungskräfte im Unternehmen haben eine Funktion, durch die ihre Ziele mitbestimmt werden.
Rationale Ziele führen zu emotionalen Reaktionen.
32
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
deren Seite etwas Emotionales aus. Sobald Ihr Ziel eine Bedeutung
für die Geführten hat, ist diese emotionale Reaktion unumgänglich. Die emotionale Bedeutung des Ziels kann dabei natürlich die Anstrengungs- und Überwindungsleistung betreffen, die nötig erscheint. Sie kann aber auch das Ziel selbst betreffen, das Sie den Geführten aufzeigen oder zumuten wollen. Die emotionalen Reaktionen können ausgesprochen unterschiedlich ausfallen. Selbstverständlich kann es Ziele geben, mit denen Sie als emotionale Reaktion Begeisterung oder Euphorie wachrufen. Bestimmte Ziele erzeugen Freude und Lust. Mit anderen Zielen (oder mit dem gleichen Ziel, aber bei anderen Geführten) lösen Sie vielleicht Angst, Wut, Enttäuschung, Trauer, Hass oder Mutlosigkeit aus (man braucht sich ja nur die unterschiedlichen Reaktionen von Menschen auf von Politikern verkündete Ziele in der politischen Debatte anzuschauen). Auch wenn Sie als Führungskraft das Ziel für sich selbst rationalisiert haben, können Sie nicht vermeiden, dass Ihnen als Reaktion darauf Emotionen begegnen. Wenn Sie sich diesen Mechanismus vor Augen führen, wird auch unmittelbar klar, worin auf der Persönlichkeitsseite die entscheidende Herausforderung in der Führung liegt.
2
> Die maximale Kraftbündelung im Sinne Ihrer Ziele werden Sie als Führungskraft erreichen können, wenn es Ihnen gelingt, die durch diese Ziele wachgerufenen Emotionen so zu kanalisieren und zu nutzen, dass aus ihnen Kraft zur gemeinsamen Zielerreichung erwächst. Führungserfolg entsteht durch die erfolgreiche Integration der emotionalen Reaktion.
Allein mit Ihrem rationalen Ziel wird Ihnen das nicht gelingen. Wenn Sie sich nur rational definieren, werden Sie immer mit Geführten zusammentreffen, bei denen Sie nicht in der Lage sein werden, die maximale Leistungsbereitschaft wachzurufen. Ohne dass die emotionalen Reaktionen auf ein bestimmtes Ziel in einer sinnvollen Weise genutzt und bearbeitet werden, wird es immer ungenutzte Potenziale geben, im schlimmsten Fall auch lähmenden Widerstand. Grundbedingungen für Führungserfolg 5 Um als Führungspersönlichkeit erfolgreich zu sein, benötigen Sie zunächst einmal ein Ziel (wir könnten auch sagen, eine Botschaft, ein Sinnangebot, eine Verheißung, eine Hoffnung). 5 Wenn Sie die von Ihnen geführten Personen mit diesem Ziel konfrontieren, müssen Sie mit den dadurch erzeugten Emotionen in erfolgreicher Weise umgehen.
Charisma bündelt die emotionalen Reaktionen der Geführten im Sinne des Ziels.
Hiermit wird auch klar, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt, die rationale oder die emotionale Seite der Führung gegeneinander auszuspielen. Führung braucht beides. Sie brauchen ein rationales Element (denn sonst fehlt der Sinn) und Sie brauchen die Fähigkeit, die emotionale Kraft und die emotionalen Reaktionen der Geführten so zu bündeln, dass die Anstrengungsleistung zur Erreichung des Ziels
2.3 • Charisma und Biologie
33
2
erfolgreich erbracht wird. Diesen Prozess wollen wir hier als Charisma bezeichnen. > Charisma sehen wir zunächst als die Fähigkeit an, Sinnhaftigkeit in den kommunizierten Zielen zu vermitteln und die emotionalen Reaktionen erfolgreich zu bündeln und zu nutzen.
Charisma bezieht sich damit natürlich auf emotionale – oder irrationale – Prozesse. Wenn Sie in einer Organisation schon einmal einen schwierigen Veränderungsprozess gestalten mussten und mit den vielfältigen Ängsten umzugehen hatten, die Ihnen entgegenschlugen, so können Sie sich das vermutlich sehr gut vorstellen. Der Prozess, wie Sie möglichst erfolgreich (oder sagen wir einfach charismatisch) mit diesen Emotionen umgehen, ist für sich genommen aber kein irrationaler Prozess, sondern, wie wir später sehen werden, sehr klar und präzise psychologisch zu beschreiben. In diesem Zusammenhang werden wir eine genauere Definition von Charisma vornehmen. Führung hat also immer eine funktionale und eine irrationale Seite. Als charismatische Führungspersönlichkeit vermitteln Sie durch Ihre Ziele, dass es Sinn ergibt, Ihnen zu folgen. Damit bedienen Sie die funktionale Seite. Gleichzeitig erzeugen Sie bei den Geführten eine emotionale Verfassung, die die benötigte Anstrengungsleistung zur Erreichung der Ziele wahrscheinlich macht. Sie sehen direkt, dass man in diesem Verständnis Charisma nicht ablehnen kann. Große Ziele brauchen die emotionale Bereitschaft der Geführten und große Ziele brauchen Führungspersönlichkeiten, denen es gelingt, die Ängste, Widerstände und Enttäuschungen auf dem Weg zur Zielerreichung in einer sinnvollen Weise zu bearbeiten. Wer nicht will, dass es Führungspersönlichkeiten gibt, die dazu in der Lage sind, lehnt das Phänomen von Führung als Ganzes ab (was aber aufgrund der im ersten Kapitel beschriebenen Verflechtung von Führung und Kultur nicht geht, wenn man möchte, dass die Menschheit sich großen Zielen widmet). Oder anders gesprochen:
Der erfolgreiche Umgang mit Emotionen kann psychologisch klar beschrieben werden.
Große Ziele brauchen Charisma, weil sie intensive Emotionen wachrufen.
> Man kann Charisma nicht ablehnen, wenn man will, dass große Führungen stattfinden. Man kann nur Ziele unterstützen oder ablehnen, die Charismatiker verfolgen.
2.3
Charisma und Biologie
Wir hatten im vorherigen Kapitel schon gewisse Parallelen zwischen Führung im Tierreich und Führung als menschlichem Phänomen aufgezeigt. Nun können wir diese Parallelen auch beim Thema Charisma weiterführen. Führung benötigt ein Sinnangebot und ein Ziel sowie eine gute Strategie zum Umgang mit den wachgerufenen emotionalen Reaktionen. In der Tierwelt wird die funktionale oder sinn-
Die sinnstiftende Seite der Führung wird in der Tierwelt nicht erlebt.
34
2
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
Im Tierreich ist Charisma physische Stärke und Dominanz.
hafte Seite der Führung nicht bewusst erlebt. Kein Rudelführer kann den »Sinn« seiner Führung als solches deutlich machen oder seine Ziele kommunikativ vermitteln. Der Sinn der Führung liegt im Tierreich letztlich in evolutionären Kräften verwurzelt. Die funktionale Seite ist präsent und für uns Menschen beschreibbar, wird aber vom individuellen Tier nicht bewusst wahrgenommen. Kräftebündelung bei der Jagd oder Aufzucht des Nachwuchses sind beispielsweise die Sinn ergebenden Aspekte von Führung im Tierreich (die ja durchaus auch ihre Parallele bei uns Menschen haben). Wenn diese funktionale Seite im Tierreich nicht durch den Anführer bewusst gelebt werden kann, bleibt im Tierreich nur die irrationale, emotionale (oder sagen wir ruhig charismatische) Seite der Führung. Im Tierreich ist diese Seite der charismatischen Führung die Stärke. Im Tierreich wird man durch physische Stärke und Dominanz zum Anführer. Je mehr Stärke und Dominanz ein Tier vermittelt, umso wahrscheinlicher ist es, dass die anderen Tiere sich unterwerfen. Das charismatische Tier muss eine »Aura« von Stärke um sich schaffen, die dazu führt, dass sich potenzielle Herausforderer nach Möglichkeit von Anfang an abgeschreckt fühlen. Je mehr Stärke ein Anführer vermittelt, umso konsequenter wird er in der Lage sein, ein Rudel zusammenzuhalten und gemeinsame Reaktionen des Rudels in Gefahrensituationen (z. B. gemeinsame Flucht oder gemeinsamer Angriff ) sicherzustellen. Die funktionale Seite der Führung geschieht unbewusst. Im Tierreich gibt es nur Charisma.
2.4
Menschen lassen sich nur führen, wenn es einen psychologischen Nutzen gibt.
Menschen haben Ängste, bestimmte Verheißungen nicht zu erreichen.
Führung und Angst: Die psychologischen Grundlagen von Charisma
Auf den ersten Blick scheint »Stärke« durchaus auch bei uns Menschen etwas mit Charisma zu tun zu haben. Aber bei uns ist es etwas komplexer und differenzierter als im Tierreich. Wenn man die psychologischen Ursachen des menschlichen Führungsgeschehens betrachten will, so gelangt man sehr schnell zu einer ganz grundlegenden Emotion, die wir benötigen, um das Führungsgeschehen beim Menschen zu beschreiben. Diese Emotion ist Angst. Die dominante Rolle, die diese Emotion im Führungsgeschehen spielt, wird deutlich, wenn man sich die folgenden Überlegungen vor Augen führt: Warum sollten sich Menschen eigentlich überhaupt führen lassen? Warum könnten Menschen überhaupt bereit sein, eigene Freiheitsgrade einzuschränken, autonome Entscheidungsmöglichkeiten abzugeben und sich zu bemühen, den Anforderungen einer Führungspersönlichkeit gerecht zu werden? Es muss einen psychologischen Nutzen geben, den sie davontragen. Sie würden als Mensch nicht unbegründet eigene Freiheitsmöglichkeiten reduzieren. Sie würden sich nicht ohne Not einer Führung anvertrauen oder sogar unterwerfen. Sie würden nicht ohne Notwen-
2.4 • Führung und Angst: Die psychologischen Grundlagen von Charisma
35
2
»Angst« als Auslöser für Führung bei Menschen Brechen wir unsere Argumentation auf ein paar alltägliche Erfahrungen herunter, da das Wort »Angst« sonst vielleicht für den Kontext der Führung zu dramatisch erscheint: 4 Anstelle von »Angst« könnte man alltagssprachlich Folgendes sagen: Wenn die Führungsperson keine Probleme löst, wenn sie keinen Nutzen für die
Geführten stiftet (und Nutzen kann man nur stiften, wenn es einen Mangel gibt, und dieser Mangel ist in unserer Darlegung durch Angst beschrieben!), ergibt es wenig Sinn, ihr zu folgen. 4 Nicht immer, wenn Sie eine Führungskraft in einer Organisation handeln sehen, sehen
digkeit nach Führung rufen. Die Ursache hierfür ist Angst, nämlich die Angst, dass ein ganz bestimmtes verheißenes Ziel aus eigener Kraft nicht erreicht werden kann. Es ist die Angst, ein bestimmtes Ziel nicht zu erreichen, wenn man nicht bereit wäre, sich der Führungspersönlichkeit zu unterwerfen, die dieses Ziel repräsentiert. Menschen lassen sich von solchen Personen führen, die die Hoffnung und die Verheißung repräsentieren, dass unter ihrer Führung das versprochene Ziel erreicht werden kann. Angst ist hier nicht zwangsläufig gemeint als eine aktuell erlebte Furcht, die sich vielleicht in Herzklopfen und kaltschweißiger Stirn bemerkbar macht. Angst ist als eine viel grundlegendere Triebfeder des Handelns gemeint. Angst in diesem Sinne bedeutet die Furcht davor, Ziele nicht zu erreichen, die erreicht werden könnten, Potenziale nicht zu nutzen, die genutzt werden könnten, Lebensmöglichkeiten nicht auszuschöpfen, die man ausschöpfen könnte, Lust und Freude nicht zu erleben, die man erleben könnte. Sobald eine Führungspersönlichkeit in der Lage ist, zu repräsentieren, dass unter ihrer Führung diese Angst besiegt werden kann oder irrelevant wird, ist die emotionale Bereitschaft erzeugt, sich führen zu lassen. Der in diesem Sinne komplett angstfreie Mensch wäre tatsächlich für die irrationale Seite der Führung oder für Charisma nicht ansprechbar, sondern nur über Sinn und Logik zu erreichen. Die meisten Menschen sind allerdings durch Charisma anzusprechen, wenn die charismatische Führungspersönlichkeit eine erfolgreiche Angstabwehr verkörpert. Der erfolgreiche Mechanismus der Angstabwehr heißt Vertrauen. Menschen folgen denjenigen Führungspersönlichkeiten, denen sie vertrauen, dass unter ihrer Führung eine bestimmte Angst (z. B. die Angst, ein Ziel nicht zu erreichen oder einen Missstand nicht abstellen zu können) nicht mehr bedeutsam sein wird (hierzu auch 7 Exkurs »Angst als Auslöser für Führung bei Menschen«). Vertrauen hat nun zwei ganz wesentliche Aspekte: 5 Integrität. Wenn Menschen jemandem vertrauen, so liegt der erste Einflussfaktor in der Frage nach seiner persönlichen Integrität, also seiner Ehrlichkeit, seinem Humanismus und seiner Prinzipientreue. Sie vertrauen Führungspersönlichkeiten, von
Sie automatisch charismatische Menschenführung, die auf Angstbindung basiert! Bitte erinnern Sie sich an die Ausgangsdiskussion im ersten Kapitel: Wir hatten argumentiert, dass manchmal die Struktur führt. Bei starken Strukturen braucht man weniger Charisma, um zu führen.
Angst erzeugt die emotionale Bereitschaft, sich führen zu lassen.
Menschen folgen Führungspersönlichkeiten, denen sie vertrauen.
Integrität führt zu Vertrauen.
36
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
2
. Abb. 2.1 Vertrauen als Quelle von Charisma
Zutrauen führt zu Vertrauen.
denen sie den Eindruck haben, dass sie keine Ziele gegen die Geführten verfolgen und ihre Ziele ehrlich verkünden. Sie gestatten diesen Führungspersonen, dass sie parallel auch eigene Ziele verfolgen. Diese dürfen aber nicht konträr zu den kommunizierten Zielen sein, wenn sie integer wirken wollen. Wenn Sie als Vertriebsführungskraft flammend dafür werben, im Herbst noch einmal die letzten Kraftreserven zu nutzen, um einen erfolgreichen Jahresendspurt hinzulegen, so werden Sie dies unternehmerisch begründen. Ihre Mitarbeiter gestehen Ihnen das zu, auch wenn Sie natürlich parallel das eigene Ziel verfolgen, den persönlichen Bonus zu optimieren. Die Ziele sind nicht konträr, sie können demnach integer sein. Die erste Dimension von Vertrauen ist also Integrität. 5 Zutrauen. Die zweite Dimension von Vertrauen heißt Zutrauen (diese Dimension korrespondiert am ehesten mit der Stärke, die wir als Charisma-Faktor im Tierreich beschrieben haben). Menschen sind solchen Führungspersönlichkeiten zu folgen bereit, denen sie zutrauen, dass unter ihrer Führung die verheißenen Ziele erreicht werden können. Wenn der Führende ihnen nicht kompetent oder fit genug erscheint, um unter seiner Führung zum Ziel zu kommen, dann fehlen das Zutrauen und damit das Vertrauen (. Abb. 2.1). Charismatischen Führungspersönlichkeiten gelingt es, bei den Geführten das Vertrauen (und damit auch das Zutrauen und die Wahrnehmung von Integrität) zu erzeugen, dass man sich ihrer Führung ruhig anvertrauen kann. > Charisma ist die Fähigkeit, durch suggestive Kraft Vertrauen zu erzeugen.
Charisma ist die Erzeugung von Vertrauen.
Wenn Sie vor der Frage stehen, ob Sie einer ganz bestimmten Führungskraft folgen wollen, so fragen Sie sich intuitiv, ob Sie der Person
2.4 • Führung und Angst: Die psychologischen Grundlagen von Charisma
37
2
vertrauen, ihr die Erreichung der versprochenen Ziele zutrauen und sie für integer und glaubwürdig halten! Beispiele für Vertrauen als Bedingung für die Bereitschaft des Geführtwerdens Schauen wir uns verschiedene Situationen an, in denen Sie die Wahl haben, welcher Führungskraft Sie folgen möchten und ob Sie folgen möchten. Ein erstes Thema wären politische Wahlentscheidungen. Je mehr eine Wahlentscheidung eine Personenwahl ist, umso stärker werden Sie bei der Frage, wen Sie wählen wollen, genau diese beiden Fragen für sich reflektieren: Kann man diesem Politiker vertrauen? Meint er es ehrlich? Besitzt er die Kompetenz und die Stärke, seine Versprechen auch einzulösen? Wahrscheinlich werden Sie letztendlich für denjenigen Politiker stimmen, der Ihnen die für Sie positivste Antwort auf diese Fragen vermittelt hat. Ein weiteres Beispiel wäre eine anstehende schwierige Operation. Auch hier würden Sie nach Anhörung verschiedener Ärzte vielleicht Referenzen einholen oder sich selbst mit den Operationsmethoden vertraut machen. Sie würden sich folgende Fragen vorlegen: Welche Erfahrungen hat der Operateur? Wie ist sein Ruf? Wie erfolgreich ist die Operation in vorherigen Fällen verlaufen? Am Ende würden Sie sich für denjenigen Operateur entscheiden, dem Sie eine erfolgreiche Operation am ehesten zutrauen und den Sie für ehrlich und glaubwürdig halten. Letztlich geht es in beiden genannten Fällen um Angstreduktion: im ersten Beispiel um Zukunftsangst, die dadurch gemildert werden kann, dass Sie sich einem Politiker anvertrauen, der Ihnen am meisten Zukunftshoffnung und Problemlösekompetenz vermittelt. Im zweiten Beispiel geht es um die Angst vor dem Misslingen der schwierigen Operation und möglichen Folgeschäden bei schlechter Durchführung. Natürlich sieht man in solchen Situationen den charismatischen Mechanismus am Werk. Letztendlich ist der Mechanismus, der bewirkt, dass Sie sich führen lassen, Angstreduktion.
Sie geben eigene Freiheitsgrade des Handelns nur ab und vertrauen bestimmte Entscheidungen und Vorgehensweisen anderen Menschen nur dann an, wenn Sie daraus einen psychologischen oder emotionalen Nutzen ziehen. Sie würden nicht aus freien Stücken die eigene Entscheidungsfreiheit reduzieren für eine Führungspersönlichkeit, bei der Sie das Gefühl hätten, dass es unter ihrer Führung noch schlechter kommt als es schon ist. In diesem Fall würden Sie sich nur bei Zwang unterwerfen, aber niemals freiwillig an dem von ihr angebotenen Sinn mitwirken (s. auch 7 Exkurs »Integrität oder Zutrauen – Was hat im Zweifel Priorität?«). Angst ist der Schlüsselmechanismus für Charisma. Wenn man sich diesen psychologischen Schlüsselmechanismus der Führung noch einmal genauer anschaut, dann versöhnt sich letztendlich die anfangs erwähnte »Great-man-Theory« mit situativen
Sie wählen Politiker, denen Sie vertrauen.
Sie entscheiden sich für Ärzte, denen sie eine erfolgreiche Behandlung zutrauen.
Führung muss einen emotionalen Nutzen bringen.
Persönlichkeitsansätze und situative Führungsmodelle sind kein Widerspruch.
38
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
Integrität oder Zutrauen – Was hat im Zweifel Priorität?
2
Wir hatten ja gesagt, dass Vertrauen durch zwei Pole wirkt, nämlich Integrität und Zutrauen. Natürlich kann man sich nun die Frage stellen, welcher dieser beiden Mechanismen letztlich wichtiger ist. Wenn die Menschen sich entscheiden müssen, weil die zur Verfügung stehenden Führungspersönlichkeiten nicht beide Pole ausreichend bedienen, wem folgen die Menschen dann? Folgen sie der integeren, ehrlichen und humanistischen Führungsperson, die aber nicht die Fitness
Charisma ist nur als Beziehungsphänomen zu verstehen.
vermittelt, als Kapitän auf der Brücke auch den zu erwartenden rauen Stürmen etwas entgegensetzen zu können? Oder folgen die Menschen dem starken Anführer, auch wenn man Zweifel an der Lauterkeit seiner Motive hat? Auch wenn die Antwort auf den ersten Blick nicht zu gefallen scheint, folgen die Menschen im Zweifel lieber dem Zweitgenannten. Dieser Mechanismus gilt umso stärker, je größer die Krise ist, aus der die kraftstrotzende Führungs-
persönlichkeit herausführen muss, oder je stärker die Angst der Geführten. Die Vermittlung von Zutrauen ist der vorrangige Faktor einer erfolgreichen Angstreduktion. Viele Vorgänge der Weltgeschichte erscheinen so etwas besser erklärbar. In Krisensituationen ist für Charisma die Erzeugung von Zutrauen wichtiger als die Vermittlung von Integrität. Genau dieser Mechanismus hat viele unethische Führer in verantwortungsvolle Positionen gebracht.
Ansätzen der Führung. Den charismatischen Führungspersönlichkeiten der Geschichte und der Gegenwart ist die Fähigkeit gleich, sich als Projektionsfläche für Ängste zu eignen. Alle charismatischen Führungspersönlichkeiten haben erfolgreich vermitteln können, dass man unter ihrer Führung das Vertrauen haben darf, Dinge erreichen zu können, die die eigenen Lebensängste bewältigen helfen oder irrelevant erscheinen lassen. Aber welche Ängste dies nun gewesen sind, ist in der Weltgeschichte völlig unterschiedlich gewesen. In der von endzeitlicher Stimmung und Unterdrückung geprägten Atmosphäre des Judentums vor zweitausend Jahren hatte die Botschaft Jesu mit dem jenseitigen Erlösungsversprechen und der Nächstenliebe als Prinzip des Zusammenlebens die Fähigkeit zu einer immensen Angstbindung. Auf dieser großartigen charismatischen Fähigkeit baute sich mit der katholischen Kirche letztlich eine der überlebensfähigsten Organisationen der Weltgeschichte auf. In einer von Nationalismus und Judenhass getränkten Atmosphäre, in der zusammengebrochene Größenphantasien, der als ungerecht empfundene Friede von Versailles und schlimme Zukunftsängste durch die Wirtschaftskrise dominierten, gelang es selbst einer hinsichtlich seiner Persönlichkeit aus der heutigen Distanz betrachtet ziemlich befremdlichen Figur wie Adolf Hitler, charismatische Kraft zu entfalten. Er konnte die Ängste, die er vorfand, erfolgreich für seine Ziele bündeln. Wenn man sich diesen Extremvergleich anschaut, so wird klar, wie kultur- und zeitgeschichtlich abhängig das Thema Charisma ist. Diejenige Führungskraft, die heute mit den von ihr gebundenen Ängsten charismatisch wirkt, wird es unter Umständen schon morgen nicht mehr sein. Bei vielen Charismatikern von gestern können wir nur noch aus der historischen Perspektive, aber nur schwer noch aus dem eigenen Erleben nachvollziehen, wie diesen Menschen so erfolgreich Angstbindung gelang. Charisma ist eben keine Persönlichkeitseigenschaft »an und für sich«, sondern ein Beziehungsphänomen.
2.4 • Führung und Angst: Die psychologischen Grundlagen von Charisma
39
2
> Charisma ist relativ. Es entwickelt sich immer relativ zur Zeit, Kultur, Geschichte und kollektiven Psyche der Geführten. Charismatischen Führungskräften gelingt es im Sinne eines Schlüssel-Schloss-Prinzips, sich als Erlöser für genau diejenigen Ängste zu empfehlen, die bei den von ihnen geführten Personen in der jeweiligen Zeit und in der jeweiligen Situation relevant sind.
Von daher wird es auch verständlich, warum die Suche nach denjenigen Persönlichkeitsattributen, die erfolgreiche Führungskräfte (oder sagen wir erfolgreiche Charismatiker) grundsätzlich prägen, so wenig nachhaltig erfolgreich ist. Das Einzige, was Charismatiker wirklich gemeinsam haben, ist ihre Fähigkeit zur Angstbindung der Geführten. Ansonsten braucht man sich ja nur die unterschiedlichen Charakterprofile der vielen Führungskräfte anzuschauen, die in der Welt etwas bewegen, um sich vor Augen zu führen, wie wenige Persönlichkeitsattribute es geben wird, die alle Führungspersönlichkeiten gleichzeitig auszeichnen. Die Fähigkeit aber, durch suggestive Kraft Vertrauen zu erzeugen, ist allen großen Führungspersonen gleich. Charisma ist damit das einzige verbindende Attribut, das die Klammer in der Liste der Anforderungen an Führungskräfte bildet. Alle anderen Anforderungen sind kontextabhängiger. Wie wir gesehen haben, ist selbst Charisma in seinen Inhalten kontextabhängig (z. B. abhängig von der historischen Situation), nicht aber in seinem Wirkmechanismus (Angstbindung). Diese Argumentation bedeutet natürlich nicht, dass Charisma unabhängig von der Persönlichkeit eines Führenden wäre. Unsere Botschaft ist, dass die Persönlichkeitsattribute einer Führungsperson, die Persönlichkeitsattribute der Geführten und der Kontext in einer ganz bestimmten Weise zueinander passen müssen, damit eine charismatische Führungsbeziehung entstehen kann. Es gibt noch einen weiteren Begriff, den es sich an dieser Stelle lohnt, in die Diskussion einzuführen. Es handelt sich hier um das Konzept der Autorität. Menschen, die in einem ganz bestimmten Thema das Zutrauen vermitteln, dass man sich ihrer Führung anvertrauen kann, bezeichnet man auch gerne als »Autorität«. Autorität ist damit bei uns Menschen das Äquivalent zu Stärke und Dominanz im Tierreich. Eine der kulturellen Leistungen der Menschheit kann man nun darin sehen, dass Führung von der reinen physischen Dominanz losgekoppelt wurde. Um charismatisch zu sein, genügt es bei uns Menschen nicht, sich »nur« dominant zu verhalten. Sie müssen auch ein Sinnangebot machen, für das sie stehen. Sie müssen auch die Autorität ausstrahlen, die Umsetzung Ihrer Ziele realisieren zu können. Das ist der Grund, warum wir Menschen auch Führungspersonen akzeptieren können, die nicht im animalischen Sinne dominant sind. Autorität kann durchaus auch durch Kompetenz vermittelt werden. Viele große menschliche Kulturleistungen können überhaupt nur dadurch erklärt werden, dass es Führungspersonen gab, die nicht nur Dominanz zeigten, sondern die durch ihre Autorität oder ihre
Angstbindungskraft ist das entscheidende Persönlichkeitsattribut für große Führungsleistungen.
Autorität entsteht nicht nur durch Dominanz, sondern auch durch Kompetenz und Sinnstiftung.
40
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
suggestive Kraft sinnstiftende Zukunftsentwürfe vermitteln konnten und die Fähigkeit ausstrahlten, diese gemeinsam mit den Geführten auch zu erreichen.
2 2.5
Welche psychischen Kräfte treiben unser Leben an?
Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung
Im vorigen Abschnitt haben wir ausgeführt, dass die Grundlage von Charisma in erfolgreicher Angstbindung besteht. Hierbei hatten wir schon den Unterschied zwischen der aktuell erlebten Furcht und Angst als einem fundamentalen Motivationsmechanismus beschrieben. Bislang ist diese Beschreibung noch etwas unspezifisch. Um die Wechselwirkung in einer charismatischen Beziehung tiefer verstehen zu können, benötigen wir ein genaueres Verständnis derjenigen Kräfte, die uns auf der psychologischen Seite antreiben und unser Leben bestimmen (s. a. Riemann 2009). Wenn wir die Rolle, die Angst in unserem Leben spielt, verstehen wollen, so müssen wir zunächst einmal ein Verständnis davon entwickeln, welche fundamentalen psychischen Kräfte unser Leben bestimmen. > Grundsätzlich gibt es zwei große Fragen, auf die wir in unserem Leben Antworten finden müssen: 5 Wie positionieren wir uns zu anderen Menschen und zu Beziehungen? Welche Kräfte bestimmen unser soziales Zusammenleben? 5 Wie finden wir unsere Identität über die Zeit? Wie finden wir unsere Identität in einer sich verändernden Welt?
Wir werden geprägt durch Erfahrungen und Gene.
Diese beiden Fragen sind grundlegende lebensbestimmende Dimensionen. Wir müssen in unserem Leben eine Haltung finden, mit der wir anderen Menschen begegnen. Wir müssen eine Haltung finden, wie wir unseren Platz in der Welt sehen wollen, und zwar in einer Welt, die sich verändert. Jetzt ist es nicht so, dass wir die Antworten auf diese Fragen bewusst geben. Wir treffen keine rationale grundsätzliche Entscheidung, wie wir uns zu diesen beiden Fragen positionieren. Es ist vielmehr so, dass unsere Prägungen, unsere Erfahrungen, unsere Kindheit, unsere Erziehung und vermutlich auch unsere Gene in einer komplexen Wechselwirkung unsere Antworten bestimmen. Jede dieser beiden Fragen kennt nun zwei mögliche Antworten.
Wir suchen Nähe oder Abgrenzung.
Wie positionieren wir uns zu anderen Menschen und zu Beziehungen? Die erste Frage impliziert, dass wir in unserem Leben eine Posi-
tion zu anderen Menschen und damit grundsätzlich zum Charakter unserer Beziehungen finden müssen. Die beiden Antworten, die es auf diese Frage geben kann, markieren zwei gegensätzliche Pole. Auf der einen Seite kann die Antwort dahingehend gegeben werden, dass
2.5 • Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung
wir enge Beziehungen zu anderen Menschen anstreben und dementsprechend Nähe und Aufgehen in Beziehungen suchen. Die andere Antwort markiert genau das Gegenteil: Wir können uns auch gegenüber anderen abgrenzen wollen und eher Individualität und Autonomie suchen. Man sieht schon, dass die Antwort auf diese Frage nicht im engeren Sinn eine Entscheidung darstellt, sondern eher als grundlegende Kraft zu verstehen ist, nämlich als diejenige Kraft, die uns auf andere Menschen zutreibt oder uns Abgrenzung von anderen anstreben lässt. Nennen wir die erste Kraft Beziehungsorientierung und die zweite Kraft Autonomieorientierung. Beziehungsorientierte Menschen suchen Nähe und Geborgenheit. Sie sind teamorientiert, offen für andere, gewähren einen Vertrauensvorschuss und genießen Offenheit und Zusammensein mit anderen Menschen. Autonomieorientierte Menschen möchten sich nicht in Beziehungen zu anderen verlieren, sondern suchen in der Abgrenzung ihre Einzigartigkeit. Autonomieorientierte Menschen sind in diesem Sinne eher konkurrenzorientiert als teamorientiert, eher individualistisch als kollektivistisch und streben Herausgehobenheit aus der Masse und den Status von etwas Besonderem an. Andere Menschen spielen für autonomieorientierte Menschen dennoch eine große Rolle, denn es sind ja gerade die anderen, die als ständiger Vergleichsmaßstab dafür dienen, dass man selbst in der Lage ist, etwas Besonderes darzustellen. Selbstverständlich haben die meisten Menschen Anteile beider Kräfte in sich. Viele Menschen erleben Kontexte, in denen sie sich Nähe und Geborgenheit wünschen, und andere Kontexte, in denen sie Abgrenzung wollen. Nichtsdestotrotz ist es so, dass bei vielen Menschen eine der beiden Seiten überwiegt. Diese überwiegende Seite tritt besonders im Konflikt hervor. Wenn Sie sich die Menschen in Ihrem Umfeld anschauen, werden Sie sicherlich sagen können, ob jemand seinen zentralen Kompass in der Beziehungsgestaltung eher in Individualität, Abgrenzung und Konkurrenz sieht oder eher im Aufgehen in der Gemeinschaft. Es gibt auch Menschen, die in extremer Weise durch einen dieser beiden Pole zu charakterisieren sind. Sie sind dann nicht in der Lage, sich von anderen abzugrenzen, oder nicht fähig, sich in Beziehungen fallen zu lassen. Diese pathologischen Extreme werden wir in 7 Kap. 10 noch einmal betrachten. Diese beiden Orientierungen können auch als Ängste verstanden werden. Die Kraft, die uns in eine Richtung treibt, lässt sich genauso gut verstehen als Angst, die uns vor der anderen Seite flüchten lässt. Beziehungsorientierte Menschen zeichnen sich demnach durch die Angst vor Einsamkeit und Isolation aus. Autonomieorientierte Menschen zeichnen sich durch die Angst aus, Individualität und Besonderheit zu verlieren und in der Masse aufzugehen. Die fundamentale oder lebensbestimmende Kraft dieser Angst spüren Sie manchmal, wenn Sie Menschen sehen, die eine unglaubliche Energie investieren, von anderen gemocht und akzeptiert zu werden und sich zu einem Team gehörig fühlen zu dürfen. Sie können das Ausmaß dieser Angst
41
2
Beziehungsorientierte Menschen suchen Nähe.
Autonomieorientierte Menschen suchen Abgrenzung.
Im Konflikt tritt die Orientierung besonders deutlich hervor.
Beide Orientierungen kann man auch als Ängste verstehen.
42
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
2
Die grundlegenden Tendenzen kann man auch bei sich selbst feststellen.
Unsere Identität in einer sich verändernden Welt
Balanceorientierung ist die Furcht vor Unbestimmtheit.
Stimulanzorientierung ist die Furcht vor der Einschränkung.
aber auch erahnen, wenn Sie bei anderen Menschen die Energie betrachten, die investiert wird, um sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Mittelpunkt zu rücken und immer wieder die eigene Überlegenheit deutlich zu machen. Wenn Sie sehen, wie lebensbestimmend diese Verhaltenstendenzen sind und wie stark sie die Zusammenarbeit, die Partnerschaft, die Erziehung und die Rolle in einer Gemeinschaft bedingen, dann kann man ermessen, wie fundamental diese beiden gegensätzlichen Tendenzen eigentlich sind. Bei sich selbst müssten sie in der Lage sein, eine Tendenz festzustellen: Was ist Ihnen vom Grundsatz her wichtiger? Nahe, offene, vertrauensvolle Beziehungen, Gemeinsamkeit, Augenhöhe, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, positive Rückkoppelung, Altruismus? Oder ist es Ihnen wichtiger, sich abzuheben, anders zu sein, mehr zu leisten, individueller zu leben und sich ganz klar abzugrenzen von den Menschen, mit denen Sie sich nicht auf Augenhöhe erleben? Wie finden wir unsere Identität? Die zweite fundamentale Frage betrifft unsere Identität in einer sich verändernden Welt. Auch auf diese Frage können wir mit zwei antagonistischen Polen antworten. Die erste Antwort besteht darin, sich in einer verändernden Welt eine Struktur von Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit und Kontrollmöglichkeit zu schaffen. Dieser Pol nennt sich Balanceorientierung. Balanceorientierte Menschen suchen Regeln, Regelmäßigkeit, Vorhersehbarkeit und Struktur. Die antagonistische Kraft ist die Stimulanzorientierung. Das Lebensmotto stimulanzorientierter Menschen könnte man so beschreiben: Wenn sich die Welt schon laufend verändert, so möchte ich diese Veränderung in vollen Zügen erleben. Stimulanzorientierte Menschen suchen Neuartigkeit und Veränderung und sind gekennzeichnet durch Abenteuerlust und Neugier. Auch hier können wir die zugrunde liegenden Kräfte als Angst beschreiben. Balanceorientierte Menschen haben in gewissem Sinne Angst vor Ungewissheit, vor Unbestimmtheit, vor Spontaneität und damit auch vor Freiheit. Diese Angst wird besiegt durch das Schaffen von Regeln, Kontrollmechanismen und einer Insel der Vorhersehbarkeit. Stimulanzorientierte Menschen hingegen erleben Angst vor Gleichförmigkeit und Bestimmtheit. Das Schlimmste im Leben wäre, etwas Wichtiges oder Großes verpasst zu haben. Ihre Angst ist die des Festgelegtseins, des Eingeschränktseins und der Unmöglichkeit von Freiheit und Spontaneität. Wie massiv und lebensbestimmend diese Ängste sein können, werden Sie auch für diese Orientierung in Ihrem Umfeld leicht entdecken. Vielleicht haben Sie in Ihrem Umfeld Menschen, die erkennbar darunter leiden, wenn in ihrem Leben Regelmäßigkeit fehlt, wenn plötzliche oder überraschende Ereignisse Flexibilität erfordern oder wenn sich Dinge nicht wie geplant entwickeln. Vielleicht sehen Sie in Ihrem Umfeld aber auch Menschen, die sehr darunter leiden, sich festlegen zu müssen, sei es auf einen Lebenspartner, auf einen Lebens-
2.5 • Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung
43
2
. Abb. 2.2 Beispiele für die vier unterschiedlichen Orientierungen anhand der Frage nach dem letzten Urlaub
entwurf oder aber auch nur auf eine Verpflichtung. Diese Menschen leiden, wann immer sie den Eindruck haben, in ihrem Leben eine Tür zuschlagen zu müssen, die sich anschließend nicht mehr öffnen lässt. Um diese vier typischen Grundkräfte oder Grundformen der Angst noch etwas plakativer darzustellen, skizzieren wir im Folgenden einige idealtypische Reaktionen auf eine Alltagsfrage (»Wie war Ihr letzter Urlaub?«). Diese sind als plakativ überzeichnete Beispiele zu verstehen, charakterisieren aber ganz gut den grundsätzlichen Blickwinkel, unter dem Menschen aus der Perspektive ihrer jeweiligen Orientierung die Welt interpretieren (. Abb. 2.2). Vermutlich sind diese vier Kräfte für Sie jetzt schon ein wenig plastischer. . Tab. 2.1 fasst noch einmal die wichtigsten Attribute jeder der vier Orientierungen zusammen. Natürlich können wir diese vier Orientierungen auch direkt auf das Thema Führung beziehen. Wenn Sie beispielsweise Auswahlgespräche mit Bewerbern um Führungsaufgaben führen, erkennen Sie die grundsätzliche Tendenz recht schnell bei der Frage nach der Führungsmotivation. Die vier Antworten, die Sie in . Abb. 2.3 vorfinden, sind keine wortwörtlichen Antworten, sondern idealisierte, hinter der wortwörtlichen Antwort liegenden Aussagen. Bei einem Verständnis dieser vier generellen Tendenzen ist übrigens noch Folgendes wichtig: Wir beschreiben mit diesen vier Tendenzen Kräfte oder Motivationen, aber nicht zwangsläufig Kompeten-
Die grundsätzlichen Orientierungen erkennt man auch bei Bewerbern.
Die vier grundsätzlichen Orientierungen sind Motivationen, nicht aber automatisch Fähigkeiten.
44
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
. Tab. 2.1 Attribute der vier Orientierungen Die Kraft der Beziehungen
2
Beziehungsorientierung (Angst vor Einsamkeit und Alleinsein)
Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, … … die Nähe zu anderen Menschen zu suchen, … eine Aufgabe zu suchen, die es ermöglicht, für andere etwas Sinnvolles zu tun und sie zu fördern, … auf andere Menschen mit viel Einfühlungsbereitschaft und Offenheit zuzugehen, … sich emotional an andere zu binden und tolerant mit ihren Fehlern umzugehen, … sich anderen Menschen tendenziell eher altruistisch, friedfertig und bescheiden zu nähern, … ein moralisches und humanistisches Verhalten zu bevorzugen, … unter Distanz und Zurückweisung zu leiden, … eine harmonische Atmosphäre in der Zusammenarbeit anzustreben, … andere nur ungern zu kritisieren.
Autonomieorientierung (Angst vor fehlender Individualität und Bedeutung)
Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, … … Bewunderung und Anerkennung zu suchen, … einen hohen Wert auf Außerordentlichkeit und Individualität zu legen, … Unterschiede zwischen sich und anderen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, … ein starkes Selbstbewusstsein zu vermitteln, … Abhängigkeit von anderen zu vermeiden, … sich emotional eher abzugrenzen, … kritisch und skeptisch auf andere Menschen zuzugehen, … Konflikte ohne großes persönliches Belastungsempfinden zu ertragen, … sich in vielen Situationen in Konkurrenz zu anderen zu erleben.
Die Identität in einer sich verändernden Welt Balanceorientierung (Angst vor Unbestimmtheit und Orientierungslosigkeit)
Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, … … Ordnung und Sicherheit zu suchen, … Aufgaben mit Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit und Ausdauer zu erfüllen, … Beständigkeit zu suchen, … feste Gewohnheiten zu etablieren, … eher vorsichtig mit Risiken umzugehen, … verlässlich, zuverlässig und pflichtbewusst vorzugehen, … auf Regeleinhaltung zu pochen und Regelabweichungen zu sanktionieren, … andere Menschen konsequent zu kontrollieren.
2.5 • Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung
45
2
. Tab. 2.1 Fortsetzung Stimulanzorientierung (Angst vor Gleichförmigkeit und Bestimmtheit)
Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, … … Festlegungen zu vermeiden und sich viele Optionen offen zu halten, … flexibel und spontan mit verschiedenen Situationen umzugehen, … die Vergangenheit hinter sich zu lassen und Neues auszuprobieren, … Risiken einzugehen, … neugierig und phantasievoll mit neuen Themen und Herausforderungen umzugehen, … Beziehungen zu beenden und neue einzugehen, wenn damit das Potenzial neuer Erfahrungen verbunden ist, … Anregungen und Abenteuer zu suchen.
. Abb. 2.3 Unterschiedliche Führungsmotivationen, die mit den vier Orientierungen verbunden sind
zen. Es ist z. B. so, dass es autonomieorientierten Führungspersonen leichter fällt, unpopuläre Entscheidungen auch gegen die Geführten zu treffen, als beziehungsorientierte Führungspersonen dies tun. Das heißt aber nicht, dass nicht auch diese dazu in der Lage wären. Sie leiden letztlich mehr darunter und ringen vielleicht mehr mit sich,
46
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
2 In jedem von uns sind alle Orientierungen wirksam.
aber sie können unpopuläre Themen im praktischen Sinne ähnlich exekutieren wie autonomieorientierte Führungskräfte. Das Treffen unpopulärer Entscheidungen ist allerdings für autonomieorientierte Führungskräfte deutlich mehr Selbstbestätigung und angestrebte Verantwortung als für beziehungsorientierte Führungskräfte. Wir beschreiben eindeutig Motivationen (oder Ängste), nicht aber Kompetenzen (im Sinne von Fähigkeiten). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass wir immer von vier unterschiedlichen Orientierungen oder Kräften gesprochen haben, damit aber nicht zwangsläufig von vier Persönlichkeitstypen. In uns allen sind beide Achsen präsent. So sieht man z. B. oft Personen, die sowohl autonomie- als auch stimulanzorientiert sind. In der Beziehungsgestaltung sind diese Menschen autonomieorientiert, in ihrem Erleben der Welt hingegen stimulanzorientiert. > Die beiden Orientierungen sind polar, aber nicht digital. Jeder Mensch trägt Anteile aller vier Orientierungen in sich, aber mit unterschiedlicher Priorität und Ausprägungsstärke. Am deutlichsten sieht man die dominante Ausprägung immer in Konflikten. Fragen Sie sich, wie Sie typischerweise in Konflikten reagieren: abgrenzend und dominant oder eher nachgiebig und traurig? Regelorientiert und prinzipiell oder eher impulsiv und situativ? Ihre Persönlichkeit offenbart sich in Konflikten am klarsten.
2.5.1 Der charismatische Beziehungsvertrag wird zwischen Angst und Angstbindungskraft geschlossen.
Je mehr verschiedene Ängste eine Führungskraft binden kann, umso größer ist das Charisma.
Der charismatische Beziehungsvertrag
Als wir im vorangegangenen Abschnitt die vier fundamentalen Kräfte oder Motivationen eingeführt haben, haben wir teilweise schon Beispiele angeführt, die auf unterschiedliche Personen mit eben diesen Tendenzen zutreffen. Wollen wir den charismatischen Beziehungsvertrag verstehen, müssen wir diese unterschiedlichen Grundängste jetzt aus der Sichtweise der Geführten betrachten. Wir haben argumentiert, dass Charisma sich entwickelt, wenn man als Führungskraft in der Lage ist, erfolgreich Ängste zu binden. Dann haben wir im nächsten Schritt die vier wesentlichen lebensbestimmenden Ängste kennen gelernt. Aus der Perspektive dieser vier Ängste heraus werden Führungskräfte als charismatisch wahrgenommen, die sich für genau diese Ängste als Projektionsfläche eignen. Hierdurch entsteht der Beziehungsvertrag zwischen Führungspersönlichkeit und Geführten. Dieser implizierte Beziehungsvertrag wird in . Tab. 2.2 für die vier beschriebenen Urängste genauer dargestellt. Je mehr Sie sich als Führungskraft als Projektionsfläche für diese Ängste eignen, umso stärker ist der charismatische Beziehungsvertrag. Die Herausforderung liegt darin, für die verschiedenen Orientierungen gleichermaßen charismatisch zu sein. Wenn Sie als Füh-
2.5 • Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung
47
2
. Tab. 2.2 Der implizierte Beziehungsvertrag Angst bzw. Kraft
Der Beziehungsvertrag zwischen der charismatischen Führungspersönlichkeit und den Geführten
Beziehungsorientierung: Angst vor Einsamkeit und Alleinsein
Sehr beziehungsorientierte Menschen erleben genau diejenigen Führungspersonen als charismatisch, die ihnen die Eingebundenheit in eine Gemeinschaft vermitteln, die ihnen Familiengefühle oder Team-Spirit, Nähe und Geborgenheit geben. Der unausgesprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren: Führungspersönlichkeit: »Unter meiner Führung wirst du in eine Gruppe kommen, in der du dich zu Hause fühlen kannst. Du wirst Menschen um dich haben, die dich unterstützen, wertschätzen und mit dir gemeinsam an unseren Zielen arbeiten. Wenn du dich von mir führen lässt, wirst du Teil einer großen Familie.« Geführte: »Wir folgen dir, weil wir unter deiner Führung nicht mehr einsam sind, weil wir uns unter deiner Führung in einer Gruppe geborgen wissen und weil du etwas dafür tust, dass wir uns im Team wohlfühlen und füreinander da sind.«
Autonomieorientierung: Angst vor dem Verlust von Individualität und Bedeutung
Autonomieorientierte Menschen erleben solche Führungskräfte als charismatisch, durch die sie in ihrem Gefühl der Herausgehobenheit bestärkt werden, die ihnen den Eindruck vermitteln, etwas ganz Besonderes zu sein und an einer ganz besonderen Sache mitzuwirken. Der unausgesprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren: Führungspersönlichkeit: »Wenn du mir folgst, wirst du deine besonderen Anlagen und Talente erfolgreich entwickeln können. Wenn du mir folgst, wirst du besondere Aufgaben erhalten, mit denen du beweisen kannst, was in dir steckt. Du wirst die Chance bekommen, etwas Außergewöhnliches zu leisten und dich schneller und besser zu entwickeln als viele andere.« Geführte: »Wir folgen dir, weil du uns das Selbstbewusstsein gibst, etwas Besonderes zu sein, und wir unter deiner Führung den Eindruck bekommen, zu Recht von anderen bewundert und wertgeschätzt zu werden. Unter deiner Führung erleben wir die Wahrnehmung unserer Individualität, wie sie uns gebührt.«
Balanceorientierung: Angst vor Unbestimmtheit und Orientierungslosigkeit
Balanceorientierte Menschen werden diejenigen Führungskräfte als charismatisch empfinden, die ihnen Sicherheit, Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit vermitteln. Der unausgesprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren: Führungspersönlichkeit: »Unter meiner Führung werdet ihr Stabilität und Ordnung erleben. Bei mir könnt ihr euch sicher fühlen in einer unruhigen Welt. Ich schaffe Klarheit und Regeln, die euch Orientierung geben, und bewahre euch vor Unsicherheit und Ungewissheit. Auf mich könnt Ihr Euch verlassen.« Geführte: »Wir folgen dir, weil du die Welt für uns ordnest und uns Eindeutigkeit und Klarheit gibst. Du löst für uns Ambivalenzen und Unsicherheiten auf und wir sehen eine Struktur, an die wir uns halten können. Du bist für uns die Konstante und die Stabilität, die uns langfristige Orientierung gibt.«
Stimulanzorientierung: Angst vor Gleichförmigkeit und Bestimmtheit
Stimulanzorientierte Menschen erleben eine Führungskraft als charismatisch, die ihnen spannende neue Horizonte, Lernmöglichkeiten, Abenteuer und Erlebnisse versprechen kann. Der unausgesprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren: Führungspersönlichkeit: »Unter meiner Führung kann man neue Horizonte erreichen. Wir können die Dinge neu erfinden und viel in der Welt bewegen. Wir lösen uns von den Einengungen und Leitplanken und vertrauen auf unsere schöpferische Kraft.« Geführte: »Wir folgen dir, weil unser Leben dadurch intensiver wird. Wir folgen dir, weil wir viel Spannendes und Neuartiges erleben können, weil wir etwas Wichtiges und Visionäres vorhaben und weil wir die Fesseln der Gegenwart überwinden.«
48
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
2
Charismatisch kann man nur in den Augen anderer sein, niemals für sich allein.
Charismatische Prozesse gibt es in fast allen Führungsbeziehungen.
rungskraft für Struktur, Stabilität und Ordnung und damit vermutlich auch für einen Wertkonservatismus stehen, werden sehr stimulanzorientierte Menschen Sie möglicherweise als nicht so charismatisch erleben. Wenn Sie hingegen sehr revolutionär, visionär, offen und veränderungsbereit sind, werden sehr balanceorientierte und Struktur suchende Menschen bei Ihnen vermutlich nicht die Projektionsfläche für Angst finden, die sie benötigen würden. Ihr eigenes charismatisches Potenzial ist nun umso größer, je mehr dieser Ängste Sie bedienen, also je flexibler Sie – trotz eigener Präferenzen und Prägungen – unterschiedliche Menschen dort erreichen, wo diese ansprechbar sind. Je stärker Sie beziehungsorientierten Menschen aufzeigen können, dass man bei Ihnen Nähe und Geborgenheit findet, und je stärker Sie gleichzeitig autonomieorientierten Menschen das Gefühl vermitteln können, etwas Besonderes zu sein, umso größer ist Ihr charismatisches Potenzial. Je stärker Sie als Führungskraft deutlich machen können, dass man sich Ihrer Führung anvertrauen kann, weil Sie Stabilität und Ordnung schaffen, und gleichzeitig vermitteln können, dass man unter Ihrer Führung neue Horizonte erreichen kann, umso größer ist Ihr charismatisches Potenzial. Je mehr Zutrauen Sie schaffen, dass man unter Ihrer Führung die beschriebenen Ängste nicht mehr haben muss, umso größer ist Ihr charismatisches Potenzial. Aus dieser Beschreibung wird noch einmal klar, warum Charisma an sich keine Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern immer ein Beziehungsphänomen. Charismatisch wird man nur durch die Augen der Folgenden und niemals für sich allein. Wenn man sich die Leistungen charismatischer Führungspersönlichkeiten ansieht, kann man rückblickend die Ausgestaltung der hier beschriebenen Beziehungsverträge recht gut erkennen (s. auch 7 »Beispiele für die Angstbindungskraft charismatischer Führungspersönlichkeiten«). Wenn bei den hier dargestellten Beispielen häufig Politiker, Staatsmänner oder vielleicht Religionsstifter herangezogen werden, so ist das vor allen Dingen dadurch erklärbar, dass sie jeder Leser kennt und die Rahmenbedingungen einschätzbar sind. Selbstverständlich ist diese charismatische Wirkung aber keineswegs auf große Staatsmänner beschränkt, sondern der Mechanismus, den wir hier beschrieben haben, ist in nahezu jeder Führungsbeziehung präsent.
2.5.2 Ohne Angst ist kein Platz für charismatische Führung.
Unempfänglichkeit für Charisma
Wir hatten dargelegt, dass Charisma als Wechselwirkung zwischen Führendem und Folgenden in dem Mechanismus von Angst und Angstbindung besteht. Diese Wechselwirkung ist natürlich nur dann möglich, wenn auf Seiten der Geführten tatsächlich Angst existiert. Es gibt damit zwei wesentliche Gründe, warum bestimmte Menschen sich nicht charismatisch führen lassen: Der erste Grund wäre, dass es
2.5 • Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung
49
2
Beispiele für die Angstbindungskraft charismatischer Führungspersönlichkeiten Nehmen wir zur Verdeutlichung zunächst einmal ein sehr negatives Beispiel von Charisma, weil wir die charismatische Wirkung – so unangenehm das auch sein mag –auch bei furchtbaren Tyrannen und Diktatoren sehen können. Wir hatten Adolf Hitler bereits als Beispiel erwähnt. Versetzen wir uns einmal in die Zeit des damaligen Deutschlands: Der erste Weltkrieg war verloren und das deutsche Volk lebte mit einem als ungerecht empfundenen Frieden. Die Wirtschaftskrise zerstörte Besitz und Perspektiven. Adolf Hitlers Botschaften haben in der damaligen Zeit die vier beschriebenen Ängste in einer nahezu perfekten Weise bedienen können. Die große Bedeutung, die das Thema der »Volksgemeinschaft« hatte, und die vielfältigen damit verbundenen Beziehungsangebote (die HitlerJugend war nur eine der vielen Organisationen, die die Nationalsozialisten hierzu geschaffen hatten) gaben beziehungsorientierten und einsamen Menschen ein neues Zugehörigkeitsgefühl und eine neue Heimat. Der Glaube an die Überlegenheit der deutschen Rasse und dem Anrecht der deutschen Rasse auf die Herrschaft über andere gab den durch den verlorenen Krieg frustrierten und niedergedrückten autonomieorientierten Personen die Möglichkeit, sich wieder als etwas Besonderes zu fühlen. Selbstbewusstsein war als Deutscher wieder möglich. Im Chaos der Nachkriegsjahre und der Wirtschaftskrise schuf Hitler eine Struktur, die den Balanceorientierten den Glauben an Stabilität, Recht und Ordnung wiedergab. Für die Stimulanzorientierten hielt Hitler die große Vision des Tausendjährigen Reiches bereit, eine vollständige Umwälzung der bisherigen Verhältnisse und nach
den Nachwehen des ersten Weltkrieges die Hoffnung auf ganz neue Horizonte. Hitlers Ideologie ist vor dem Hintergrund seiner Ziele also recht gekonnt zusammengefügt gewesen. Nur deswegen hat sie letztendlich ihre Verführungskunst entfalten können. Die vielen inneren Widersprüchlichkeiten, der auch vor damaligem wissenschaftlichem Hintergrund rassische Unsinn, die Verlogenheit und Geschichtsfälschung in der Judenfrage konnten letztendlich der psychologischen Wirkung seiner Botschaft nicht ausreichend etwas entgegensetzen, um den Weg in die Katastrophe zu verhindern. Konrad Adenauer sei als ein positives Beispiel charismatischer Beziehungsgestaltung angeführt. Als Konrad Adenauer nach dem Ende des Krieges und der Besatzungszeit zum ersten deutschen Bundeskanzler wurde, hatte er den Menschen Folgendes anzubieten: Den beziehungsorientierten Menschen ersparte er letztlich zu viel Schmach und Scham und zu viel Gefühl, mit dem Deutschsein brechen zu müssen. Durch seine eigene moralische Integrität während der Nazizeit und seine nicht allzu intensive Aufbereitung der Vergangenheit konnten beziehungsorientierte Menschen beginnen, sich mit dem eigenen Deutschsein wieder im positiven Sinne zu versöhnen. Konrad Adenauer schaffte es, dass die Menschen, die unter dem Verachtetsein als Deutsche litten, schon bald ein neues Heimatgefühl erwerben konnten. Für die Autonomieorientierten boten Konrad Adenauer und Ludwig Erhard die Chancen des deutschen Wirtschaftswunders. Deutschland hatte ein neues Betätigungsfeld erhalten, in dem Menschen ihre überlegene Leistungskraft und Kon-
sich um Menschen handelt, die in ihrem Leben weitestgehend angstfrei sind. Völlig angstfrei ist niemand, insofern handelt es sich auch hier eher um graduelle Unterschiede. Je angstfreier Sie sind, desto weniger würden Sie sich als Geführter oder Geführte in charismatische Beziehungen begeben. In diesem Fall würden Sie vorrangig die funk-
kurrenzfähigkeit beweisen konnten. Das Wirtschaftswunder wirkte in optimaler Weise der Angst vor der Bedeutungslosigkeit entgegen und schuf einen sich selbst verstärkenden Mechanismus ungeahnter Energie. Für die Balanceorientierten repräsentierte Konrad Adenauer genug Konservatismus, um ein neues Deutschland auf Basis konservativer Werte zu schaffen. Beständigkeit und auch Provinzialität waren klare Kennzeichen der Adenauer-Regierung und der Bruch mit bestimmten Strukturen der Nazizeit ist sicherlich nicht in allen Organisationen Deutschlands so konsequent gewesen, wie bestimmte gesellschaftliche Kräfte es sich rückblickend gewünscht hätten. Adenauers Wahlspruch: »Keine Experimente« zeigt noch einmal sehr klar, wie Adenauer balanceorientierte Ängste bediente. Dennoch gab es auch für die Stimulanzorientierten im neuen Deutschland des Nachkriegs ausreichend Wirkungsfelder und Veränderungen. Adenauer schaffte den Spagat, die Westbindung Deutschlands voranzutreiben, die amerikanische Freundschaft zu intensivieren und im Hinblick auf demokratische Werte und – wie bereits erwähnt – im Hinblick auf wirtschaftliche Freiheit einige fundamentale Brüche mit der Nazi-Vergangenheit zu erzeugen und dadurch eine Zukunftsvision für ein Deutschland zu schaffen, in dem man in Freiheit und Wohlstand leben kann und das keine Katastrophen mehr über die Welt bringen würde. In diesem Versprechen gab es dann auch für die stimulanzorientierten Personen noch genug neue Horizonte und Ziele, die trotz Provinzialität und Konservatismus auf der anderen Seite ausreichend Angstbindungskraft entwickeln konnten.
50
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
2 Ohne Vertrauensfähigkeit gibt es keinen charismatischen Beziehungsvertrag.
Misstrauische und skeptische Menschen sind schwer führbar.
tionale Seite der Führung betrachten. Sie würden die Sinn gebenden Ziele einer Führungskraft stärker unter einer rationalen Perspektive bewerten. Letztendlich muss aber das Sinnangebot einer Führungsperson auch in diesem Fall auf psychisches Bedürfnis passen. Ganz ohne Angst (oder Antrieb) geht es also nicht. Es ist nur eine Frage der Ausprägung. Allerdings gibt es einen zweiten, viel gravierenderen Mechanismus, der Menschen unempfänglich für Charisma oder in extremer Ausprägung auch »unführbar« macht. Wir haben gesagt, dass Charisma in der Fähigkeit besteht, durch suggestive Kraft Vertrauen zu erzeugen. Auf Seite der Geführten ist damit die Minimalbedingung, einer Führungskraft zu folgen, die Fähigkeit, anderen Menschen vertrauen zu können. Ohne die Fähigkeit des Vertrauens wird man sich niemals einer Führung anvertrauen und damit eigene Freiheitsgrade reduzieren. Ein Grund dafür, warum Menschen ihre Fähigkeit zu vertrauen verlieren oder niemals richtig ausbilden, liegt beispielsweise in frühkindlichen Missbrauchserfahrungen. Derartige Erfahrungen können so gravierend und einschneidend sein, dass es diesen Menschen nie gelingt, sich in Beziehungen anderen hinzugeben. Stattdessen bleiben diese Menschen oftmals die ewigen Rebellen und Skeptiker, die aus dieser Erfahrung heraus anderen Menschen mit ständigem Misstrauen begegnen. Als Führungskraft hat man dann nicht selten das Problem, dass trotz aller Bemühungen keine Beziehung herzustellen ist, in der der andere bereitwillig folgt. Jede Anforderung an den anderen ist für sich ein Kampf und ein Konflikt, der nicht ohne weiteres durch die Hierarchie gelöst werden kann. > Nicht jeder Mensch ist gleich gut führbar und bei bestimmten Menschen ist die Anforderung, sie zu führen, besonders hoch. Als Führender müssen Sie Vertrauen erzeugen, als Geführte oder Geführter müssen Sie vertrauen können.
Charisma ist nicht einfach angeboren, sondern hat eine individuelle Entwicklungsgeschichte.
2.6
Entwicklung von Charisma
2.6.1
Psychologische Entwicklungsschritte auf dem Weg zur charismatischen Führungspersönlichkeit
Charisma ist – wie wir eben ausgeführt haben – keine Persönlichkeitseigenschaft und erst recht kein angeborenes Attribut. Charisma ist die Fähigkeit zur Angstbindung durch eigene Stärke, aber die dazu notwendigen Persönlichkeitsaspekte differieren historisch und abhängig vom Führungskontext: In Sekten werden andere Typen als charismatisch wahrgenommen als in Wirtschaftsunternehmen. Die lapidare Aussage »entweder man hat’s oder man hat’s nicht« wird auch bei der Frage nach der Entwicklung von Charisma der Komplexi-
2.6 • Entwicklung von Charisma
tät der Wirklichkeit nicht gerecht. Charismatische Führungspersönlichkeiten durchlaufen eine Entwicklungsgeschichte, die es im Allgemeinen gut verstehbar macht, warum sie irgendwann in der Lage sind, charismatische Beziehungen auszubilden. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den typischen psychologischen Entwicklungsprozess charismatischer Fähigkeiten nachzuvollziehen und verstehbar zu machen. Unser Erklärungsmodell basiert auf dem Menschenbild der Tiefenpsychologie. Die Tiefenpsychologie hat den Begriff der »psychischen Energie« geprägt, der für unseren Erklärungsansatz von zentraler Bedeutung ist. Die Tiefenpsychologie postuliert, dass das Handeln jedes Einzelnen von uns durch eine psychische Energiequelle vorangetrieben wird. Diese psychische Energie gibt uns die nötige Kraft zu handeln und Anstrengungs- und Überwindungsleistungen auf uns zu nehmen. Sie haben z. B. bereits erfahren, dass Führung immer Anstrengungs- und Überwindungsleistungen voraussetzt. Woher kommt nun diese psychische Energie, die uns antreibt, Dinge zu tun? Wodurch wird die Kraft der Menschen gespeist, etwas an ihrem Leben oder an der Welt verändern zu wollen? Welches ist die entscheidende Triebfeder, die bestimmte Menschen zu übermenschlichen Anstrengungen zu drängen scheint und sie viele andere Bedürfnisse zurückstellen lässt? Und für uns hier besonders relevant: Welche Energiequelle bewirkt, dass Menschen sich zu Charismatikern entwickeln, die mit Enthusiasmus und Hingabe für ihre Ziele eintreten, kämpferisch mit ihren Gegnern umgehen und für große Ziele begeistern können? Schon bei der Wahl des Ziels sieht man, dass es nicht völlig rational zugehen kann. Die einen Menschen entwickeln Charisma, weil sie als Unternehmer einfach nur reich werden möchten. Andere Menschen möchten Leid und Armut in der Welt besiegen oder nutzen ihr Charisma für die Umwelt, für politische Ideen, aber auch für visionäre Produkte. Wie kommt es, dass Menschen sich ausgerechnet einer ganz bestimmten Idee verschreiben und die psychische Energie aufbringen, in charismatischer Weise für diese Idee einzustehen? Die Ursache für diese Anstrengungsleistungen beschreibt die Tiefenpsychologie durch das Konzept der »Kompensation«. Menschen, die Anstrengungen unternehmen, um bestimmte Dinge zu erreichen, geht es um ganz persönliche Kompensation, Kompensation von »gefühlten inneren« Missständen. Was ist darunter nun genau zu verstehen? Kompensation bedeutet Ausgleichen. Insofern muss es ein Missverhältnis in der wahrgenommenen eigenen Psychobalance geben, das einen Ausgleich benötigt. Dieses Ungleichgewicht bereitet uns ein starkes Unwohlsein, das wir, um uns besser fühlen zu können, ausgleichen möchten. Insofern unternehmen wir große Überwindungsleistungen, um unsere eigene Psychobalance wieder herstellen zu können.
51
2
Welche Energiequelle treibt Menschen zu besonderen Anstrengungen an?
Die Wahl von Zielen ist kein rationaler Prozess.
Große Anstrengungsleistungen sind angetrieben vom Bedürfnis nach Kompensation.
52
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
> Übermenschliche Anstrengungen sind immer ein Zeichen für starke Kompensationsnotwendigkeiten. Wir müssen uns nicht um etwas bemühen, aus dem wir keinen Nutzen für unsere Psychobalance schöpfen können.
2 Man kann nicht einfach entscheiden, was einem wichtig ist.
Karrierestreben lässt sich aus dem Blickwinkel der Kompensation besser verstehen.
Lassen Sie uns das Ganze noch deutlicher machen: Psychische Energie setzen wir dann frei, wenn uns bestimmte Dinge als verlockend und erstrebenswert scheinen. Wenn z. B. jemand viel Energie für seine Karriereentwicklung aufbringt, so tut er dies vermutlich deshalb, weil es ihn belohnt, sich als erfolgreich wahrzunehmen. Wenn jemand als Missionar nach Südamerika geht, so tut er dies unter Umständen deshalb, weil es ihm ein gutes Gefühl gibt, anderen Menschen den christlichen Glauben nahezubringen. Diese beiden Beispiele machen auch deutlich, dass es sich um sehr individuelle Triebfedern handeln kann und dass sich keiner bei den o. g. Beispielen »mal eben so« anders entscheiden würde. Das bedeutet, dass die dahinterliegende psychische Energie jedes Einzelnen so fundamental ist, dass es schon besonderer Lebensereignisse oder -veränderungen bedarf, die eigenen Energien in andere Herausforderungen zu investieren. Der Wunsch bzw. das Bedürfnis nach Kompensation speist unser Handeln. Warum ist denn nun Karriere in einem Wirtschaftsunternehmen für den einen verlockend, für den anderen aber nicht? Betrachten wir es einfach von der anderen Seite, der Seite der Kompensation: Eine Nicht-Karriere wäre demnach aversiv. Und weil dies persönlich als so schrecklich empfunden wird, unternehmen wir außerordentliche Anstrengungen, um eine Karriere zu erzielen. Wäre eine Karriere eher belanglos, dann würde man auch nicht viel Energie dafür aufwenden. Die Kompensation könnte nun z. B. darin bestehen, dass man es nicht mag, »einer unter vielen« zu sein, dass man sich, wenn man seine Potenziale und Fähigkeiten nicht zeigen kann, verkannt und weniger wertgeschätzt fühlt, dass das Lebensmotto: »Sein Licht unter den Scheffel stellen« innere Panik auslöst. All diese unangenehmen, ganz persönlichen Gedanken können dann einen Einzelnen große Energien entwickeln lassen, dieses Unbehagen durch starkes Leistungsstreben zu kompensieren. Für eine andere Person kann genau das Gegenteil der Fall sein: Großes Leistungsstreben bereitet ihr Unwohlsein und ein Gefühl der Überforderung. Karriere bedeutet für diesen Menschen unter Umständen zu große Verantwortung. Insofern könnten seine kompensatorischen Bemühungen dahin gehen, sich einem Team anzuschließen, um darin »ein- und untertauchen« zu können. Im Mittelpunkt zu stehen ist für diese Person vielleicht beängstigend. Deshalb unternimmt dieser Mensch große Anstrengung, sich einer solchen Situation keinesfalls aussetzen zu müssen, und der gutgemeinte Vorschlag seines Vorgesetzten, bei der nächsten Sitzung einen Vortrag zu halten, wird entschieden abgelehnt.
2.6 • Entwicklung von Charisma
53
2
. Abb. 2.4 Die fünf Stufen der Entwicklung zur charismatischen Führungspersönlichkeit
Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Betrachtung sei nun an nächster Stelle unser Modell in der Entwicklung von Charisma erklärt. . Abb. 2.4 zeigt die fünf Stufen, durch die sich Menschen zu charismatischen Führungspersönlichkeiten entwickeln. Diese Stufen sollen im Folgenden kurz erläutert werden: 1. Stigma, Verwirrung, Leidensdruck. Das Wort Stigma hat griechisch-lateinischen Ursprung und bedeutet »Stich«. Den damaligen Sklaven der Griechen und Römer wurde ein Mal aufgebrannt, um sie als Sklaven erkennen zu können. Wir benutzen es an dieser Stelle als persönliche Verwundung, Kränkung, die einem widerfahren ist und die man überwinden möchte. Diese Kränkungen ergeben sich z. B. aus der persönlichen Biografie (schwierige Lebensumstände wie Armut, schwere Kindheit, Tod, Unfall etc.) oder aus der eigenen Interpretation und Reflexion derselben (Minderwertigkeitsgefühle, Versagensängste etc.). Diese Vorkommnisse oder Selbstreflexionen können bei einem Menschen der starke Antrieb sein, diese Verwundung(en) überwinden zu wollen und letztlich enorme Anstrengungen auf sich zu nehmen. Daraus ergibt sich, dass der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Charisma immer ein Stigma ist (bzw. Stigmata sind). 2. Kompensation, Entdeckung. Bitte erinnern Sie sich an die Ausführungen zum Thema Kompensation: Es bedarf immer einer psychischen Energie, eines empfundenen Ungleichgewichts, um Kraft für Anstrengungsleistungen aufzubringen. Das heißt, um das selbstwertgefährdende Stigma »abschütteln« oder zumindest ausgleichen zu können, bedarf es Kompensationsstrategien. Häufig sind die ersten Kompensationsstrategien – z. B. bei Kindern – noch unzulänglich und bringen nicht sofort den gewünschten Erfolg. Oft handelt es sich zunächst um Angriffs- oder Fluchtstrategien. Ist das Stigma z. B. mangelnde Anerkennung, so können wir bei Kindern unzulängliche (aus der Perspektive der Erwachsenen) Versuche beobachten, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Handelt es sich bei dem Stigma um
Der charismatische Prozess beginnt mit einer Kränkung.
54
2
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
Die ersten Kompensationsstrategien sind oft nicht erfolgreich. Man erkennt manchmal schon bei Kindern die Kompensationsstrategien, die später charismatisches Potenzial entfalten können. Asketen kompensieren durch Körperbeherrschung.
Ekstatiker kompensieren durch Emotionalität.
Rebellen kompensieren durch Kampf für Veränderung der Zustände.
Exhibitionisten kompensieren durch Enthusiasmus für neue Horizonte.
erlebte Ohnmachtsgefühle (eine Person konnte sich einer für sie schrecklichen Situation nicht entziehen), so können die ersten Kompensationsversuche eher hilflos wirken, die Kontrolle zu gewinnen und Einflussmöglichkeit zu haben. Jedoch lassen sich bereits in dieser Phase erste Ansätze der für den Charismatiker typischen Kompensationsstrategien ausmachen. Diese Vorgehensweisen lassen sich in vier Strategien unterteilen, wobei zwei Strategien eher weltanschaulich-religiös und zwei weitere konkret-situationsbezogen sind: 5 Die asketische Kompensation. Die erste weltanschaulich religiöse Kompensationsstrategie ist die Askese. Die Askese ist eine Kompensationsstrategie, die sich auf den eigenen Lebensentwurf bezieht. Das spätere Charisma wird eher aus der Vorbildwirkung kommen können und aus der Konsequenz, mit der dieser Lebensstil umgesetzt wird. Bei der asketischen Kompensation stehen Körperbeherrschung, Entsagung, Freiheit von niederen Bedürfnissen und das »Sich-selbst-genugSein« im Vordergrund. 5 Die ekstatische Kompensation. Die zweite weltanschaulich religiöse Kompensationsstrategie bezeichnen wir als ekstatisch. Anders als die rational dominierte Askese (der Geist besiegt den Körper) ist die ekstatische Kompensation durch eine sehr hohe weltanschauliche oder religiöse Emotionalität geprägt. Der spätere ekstatische Charismatiker hat, wenn er im Weltanschaulich-Religiösen verhaftet bleibt, eher einen Lebensentwurf für ein gelungenes Leben weiterzugeben als ein direktes Veränderungsinteresse in der realen und konkreten Welt. 5 Die rebellische Kompensation. Die rebellische Kompensationsstrategie ist die erste der beiden konkreten oder historischen Kompensationsstrategien. Der Rebell sieht sich als Antithese zu vorgefundenen Zuständen und möchte diese verändern. Während die beiden weltanschaulich-religiösen Kompensationsstrategien eher auf Gesamtlebensentwürfe abzielen, zielen die beiden konkreten historischen Kompensationsstrategien eher auf reale Problemlösungen in der Welt ab und äußern sich anlassbezogen. 5 Die exhibitionistische Kompensation. Auch die exhibitionistische Kompensation ist eine konkret historische Kompensationsstrategie. Sie äußert sich enthusiastisch für ein bestimmtes Ziel in der Welt, damit aber nicht zwangsläufig als Kampf gegen ein anderes (dies wäre eher die rebellische Strategie). Bei dieser Kompensation geht es um Visionen und neue Horizonte. Grundsätzlich kann man sagen, dass den ersten Kompensationsstrategien schon anzumerken ist, ob der spätere Charismatiker sein Charisma eher in Bezug auf einen grundsätzlichen Lebensentwurf entfaltet oder eher in Bezug auf
2.6 • Entwicklung von Charisma
praktische Problemlösungen in der wirklichen Welt. Das eigentliche Ziel, auf das sich diese Kompensationsstrategien richten werden, wird allerdings erst in der nächsten Phase sichtbar. 3. Sendung, Erweckung und Berufung. In der dritten Phase erfolgt der Prozess der übergeordneten Zielbildung. Anstatt einer unzureichenden ersten Kompensation tritt zunehmend stärker ein größeres Ziel hervor, dem man sich verschreibt. Der nach Anerkennung Strebende nimmt sich eine wirklich große Leistung vor, die ihm Bewunderung versprechen könnte. Der Ohnmächtige formuliert für sich den klaren Willen, Macht und Einfluss zu gewinnen, um die als unzulänglich erlebten Zustände ändern zu können. In diesen Phasen bilden sich diejenigen Ziele, die Anstrengungs- und Überwindungsleistungen wert sind. Es ist die Phase, in der sich charismatische Führungspersonen dafür entscheiden, ihre Energie in den Dienst eines Ziels zu stellen. 4. Identifikation, Anerkennung, erste Leistung. Im nächsten Schritt werden für dieses Ziel Anhänger gesammelt. Das Ziel wird enthusiastisch verkündet und erste Erfolge werden sichtbar. Bei den beginnenden Charismatikern steigt die »Selbstwirksamkeitsüberzeugung«, also das Gefühl, dass das Angestrebte machbar ist und dass es gelingt, andere dafür zu begeistern. Neben dem Gewinnen von Anhängern gehört aber selbstverständlich auch die Bewältigung von Gegnern in diese Phase. 5. Etablierung, Inszenierung, Ritualisierung und Institutionalisierung. In dieser letzten Phase der charismatischen Entwicklung hat die charismatische Führungskraft ihre Sturm- und Drangzeit überwunden. Der Charismatiker hat Strukturen geschaffen (Sie erinnern sich an die Betrachtungen über Führungsstrukturen in 7 Kap. 1), die ihn selbst überdauern können. Der Charismatiker hat eine Organisation etabliert, die ihre Prozesse und Rituale hat, die ihre eigenen Symbole inszeniert, die am Ende aber doch ihn repräsentiert. Und diese geschaffenen Strukturen sind dann das Vermächtnis des Charismatikers, die ihn überdauernd repräsentieren, selbst wenn viele andere Menschen daran mitgewirkt haben (das Haus repräsentiert den Architekten und nicht die Menschen, die es gebaut haben). Wichtig ist nun zum Abschluss dieses Kapitels noch eine Anmerkung: Unsere Beispiele und unsere Wortwahl mögen implizieren, wir würden das Thema Charisma für die ganz großen historischen Persönlichkeiten reservieren wollen, die Geschichte geschrieben haben. Wir nutzen nur gern diese Bilder, weil sie die Inhalte und Botschaften so überdeutlich hervortreten lassen. Tatsächlich sehen wir aber Charisma keineswegs auf die übermenschlich erscheinenden großen Führungspersönlichkeiten beschränkt. In jedem Unternehmen, in jeder Organisation gibt es Führungskräfte, die sich einer Botschaft oder einem Ziel verschrieben haben und dafür charismatische Kraft
55
2
Erste Ziele bilden sich heraus.
Andere werden für die Ziele begeistert.
Führungsstrukturen werden etabliert.
Charisma ist nicht nur für große und historische Führungskräfte von Bedeutung.
56
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
entfalten können. Dies kann neben den großen historischen Dingen auch die Weiterentwicklung eines Teams oder eines Produktes sein oder ein anderer kleiner oder großer Erfolg, der im Sinne der eigenen charismatischen Botschaft die Welt ein kleines bisschen verändert.
2
2.6.2
Charisma braucht Selbstbewusstsein.
Charisma braucht eine Krise.
Wie kann man als Führungskraft Charisma entwickeln?
In diesem Kapitel werden wir Ihnen eine Art »Kochrezept« zur Ausbildung von Charisma vorstellen. Dieses Kochrezept vereint in seiner Abfolge die Erkenntnisse und Dynamiken, die in diesem Kapitel beschrieben worden sind, und formuliert sie handlungsorientiert. Um die Anleitung zum Charismatiker besonders plastisch auszudrücken, haben wir eine plakative oder vielleicht sogar ironisch erscheinende Darstellung gewählt. Hierdurch tritt die eigentliche Botschaft sicherlich sehr deutlich zutage. Wir sehen das Thema Charisma deswegen aber keinesfalls aus einer zynisch abgeklärten Perspektive heraus – die in diesem »Kochrezept« zusammengefassten Mechanismen sind die zentralen Stellhebel, die Sie beobachten, wenn Sie Führungskräfte charismatisch werden sehen (. Abb. 2.5). Dieses »Kochrezept« für Charisma werden wir im Folgenden kurz erläutern: 5 Vertraue darauf, dass du es schaffst! Der Ausgangspunkt für Charisma ist das Selbstvertrauen, etwas ändern zu können. Ohne die positive Überzeugung, dass andere Ziele möglich sind, kann kein Führungsprozess beginnen (hier sei noch einmal auf das erste Kapitel verwiesen). Darüber hinaus haben wir gesehen, dass die psychologische Wirkung von Führung auf Angstreduktion basiert. Deswegen ist es eine wichtige Grundlage für den Beziehungsvertrag zu den von Ihnen geführten Personen, dass Sie das Zutrauen erzeugen können, Ziele zu erreichen. Dieses Zutrauen werden Sie genau dann ausstrahlen können, wenn Sie auch das Selbstvertrauen haben, dass Sie es schaffen können. 5 Suche dir eine Krise, wenn nötig erzeuge eine! Im 7 Kap. 4 werden wir noch einmal viel deutlicher auf den Sachverhalt eingehen, dass nur die Krise die Zeit der Führung ist. Wenn es gerade keine Krise gibt, so bedeutet dies doch das Folgende: Die gegenwärtigen Führungsstrukturen lenken das Verhalten in die gewünschte Richtung und können bestehen bleiben. Es gibt keine Notwendigkeit, etwas zu ändern. Wohin sollte man in einer solchen Situation führen? Es reicht, innerhalb der bestehenden Strukturen eine gewisse Anleitung und Kontrolle zu geben, aber Führung im charismatischen Sinne ist nicht nötig. Nur Not schreit nach Führung, nicht Glück. In Glückszeiten werden Sie sich nur schwer als Führender positionieren, weil Sie für die Geführten kein Problem lösen, weil Sie keine Botschaft haben, wohin Sie führen möchten. Sie brauchen zum Führen eine Kri-
2.6 • Entwicklung von Charisma
. Abb. 2.5 »Kochrezept« zur Entwicklung von Charisma
se, und sei es eine vorausgesehene mögliche Krise der Zukunft (»Wenn wir uns heute nicht verändern, dann werden wir morgen vor riesigen Problemen stehen«), die Sie durch Ihre Führung rechtzeitig abwenden werden. Ganz ohne Krise geht es nicht, wenn sie charismatisch sein wollen. Insofern schlägt in Krisenzeiten die Stunde der großen Charismatiker. Auf der anderen Seite kann man in diesem Schritt auch den Grund dafür erkennen, warum Führungskräfte manchmal erst eine Krise erzeugen müssen, um sich ausreichend zu positionieren (z. B. durch die Restrukturierung eines Bereichs, durch einen Strategiewechsel etc.). Erst eine so erzeugte Krise bietet die Chance für eine eigene Zielbildung, die für Charisma unerlässlich ist. > Man kann auch ohne eine Krise formal Führungskraft sein. Dann leitet man an und verlässt sich auf die bestehenden Führungsstrukturen. In der Arbeitswelt kommt so etwas ständig vor und selbstverständlich besteht der Alltag einer Führungskraft im Unternehmen nicht nur aus Krisen. Aber in Zeiten ohne Krisen geschieht weniger Führung und vor allem weniger charismatische Führung!
57
2
58
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
Charisma braucht eine Lösungsidee für die Krise.
2
Charisma braucht Enthusiasmus.
Charisma braucht die Glaubwürdigkeit erster Erfolge.
Charisma braucht Menschen, die empfänglich für Angstbindung sind.
5 Finde eine Erklärung für die Krise und eine plausible Bewältigungstheorie! Wenn die Krise nun da oder geschaffen ist, müssen Sie im nächsten Teil beweisen, dass Sie sich als derjenige empfehlen, der die Krise zu lösen versteht. Hierzu brauchen Sie eine Erklärung für die Krise und eine glaubwürdige Bewältigungstheorie. Dies ist die Zeit der Sinnstiftung. In dieser Phase der Entwicklung von Charisma müssen Sie verdeutlichen, dass es Sinn ergibt, Ihnen zu folgen. Wenn man Ihnen folgt, wird man die Krise verstehen können und Wege sehen, wie man sie bewältigt. 5 Verkünde deine Bewältigungstheorie enthusiastisch! Dieser Punkt bezieht sich darauf, dass Charisma in seiner unmittelbaren Wirkung immer eine gewisse Enthemmtheit voraussetzt. Sie können nicht gehemmt und zugleich charismatisch sein. Wenn Sie Zutrauen erzeugen wollen, dann dürfen Sie nicht gehemmt sein. Je größer und weitreichender Ihre Ziele sind, umso enthusiastischer müssen Sie sie verkünden können, damit Sie in der Lage sind, die suggestive Kraft zu entfalten, dass diese Ziele unter Ihrer Führung auch erreichbar scheinen. Nur wenn man Ihnen abnimmt, dass Sie selbst an die Zielerreichung glauben, wird man Ihnen folgen. Je größer das ist, was Sie vorhaben, umso mehr Kraft müssen Sie vermitteln können, damit dieser Glaube entsteht. 5 Sorge für erste Erfolge! Nachdem Sie Ihr Programm verkündet haben, geht die Arbeit los. Damit die Glaubwürdigkeit Ihrer Bewältigungstheorie und Ihres Erklärungsansatzes für die Krise keinen Schaden nimmt, müssen die ersten Aktivitäten unbedingt erfolgreich sein. Hier müssen Sie unter Umständen dabei mithelfen, diese Erfolge zu organisieren (in Unternehmen organisiert man erste Erfolge weitreichender Veränderungen gerne als »Pilotprojekte«, die so aufgesetzt werden, dass die handelnden Personen genug Einflussmöglichkeiten haben, das Projekt in jedem Fall zu einem Erfolg werden zu lassen). Die ersten Erfolge geben Ihrer Krisenerklärung und Bewältigungstheorie neue Nahrung und nachhaltige Glaubwürdigkeit. 5 Identifiziere oder suche dir identitätsschwache (Autonomieorientierung!), beziehungshungrige (Beziehungsorientierung!), orientierungslose (Balanceorientierung!) und erfahrungssüchtige (Stimulanzorientierung!) Menschen!
Nun brauchen Sie die Menschen, die Ihnen folgen. Wir haben die unterschiedlichen Motivationen, die wir als Grundlage des charismatischen Beziehungsvertrages beschrieben haben, noch einmal etwas überpointiert zum Ausdruck gebracht. Hiermit ist letztlich nichts anderes gesagt, als dass Sie Menschen brauchen, die bereit sind, diesen Beziehungsvertrag mit Ihnen zu schließen und denen Sie damit in psychologischer Hinsicht etwas anzubieten haben. Rein praktisch gesehen »suchen« Sie sich diese Menschen natürlich nicht immer neu. Sie können diese Aufforderung
2.6 • Entwicklung von Charisma
59
2
auch in dem Sinne interpretieren, dass Sie in einer passenden Weise auf die vorhandenen und in Ihrem Team gegebenen Orientierungen aufbauen und diese nutzen. 5 Bestätige diese positiv, damit du eine wichtige Instanz in ihrem Leben wirst! Im nächsten Schritt müssen Sie Ihren Teil des Beziehungsvertrages erfüllen. Sie müssen den autonomieorientierten Menschen Bedeutung verleihen, den beziehungsorientierten Menschen Nähe und Geborgenheit vermitteln, den balanceorientierten Menschen Klarheit und Struktur geben und für die stimulanzorientierten Menschen ausreichend spannende Herausforderungen bereithalten. Wenn Ihnen das gelingt, ist die wesentliche Integrationsleistung geschafft. Sie haben ein Team gewonnen, von dem Sie überdurchschnittliche Anstrengungsund Überwindungsleistungen erwarten dürfen. 5 Inszeniere dich rituell! Damit Ihre charismatische Botschaft präsent bleibt, braucht es Symbole und Rituale. Schaffen Sie um sich herum eine Aura des Besonderen! Halten Sie große Ansprachen! Lassen Sie sich zitieren! Ihr Charisma wird länger halten, wenn Sie gute Rituale zur Verkörperung Ihrer Botschaften finden (vermutlich wird niemand widersprechen wollen, wenn wir behaupten, dass die katholische Kirche in dieser Hinsicht ohne Zweifel die erfolgreichste Organisation der Weltgeschichte ist, die es immer wieder verstanden hat, ihre Charismatiker durch entsprechende Zeremonien so zu inszenieren, dass die Aura des Besonderen und Erhabenen bestehen bleibt). 5 Sorge für eine Aristokratie! Irgendwann wird Ihre Organisation und Ihre Aufgabe so groß, dass Sie weitere Führungskräfte und Anhänger brauchen, die Ihre Botschaft weitertragen. Die Belohnung dafür ist, Ihnen nahe sein zu dürfen und zu Ihrem engen Zirkel zu gehören. Führungskräfte steuern ihr Charisma auch teilweise dadurch, dass sie bestimmte Leute in ihre Nähe lassen, andere aber nicht (»Es tut mir sehr leid, aber unser Vorstand hat in den nächsten sechs Wochen leider keinen Termin für Sie frei.«). Wenn Sie charismatisch sein wollen, brauchen Sie einen Zirkel von Leuten, die sich stark mit Ihrer Botschaft identifizieren. Sie brauchen einen Initiationsritus, damit nur die Loyalsten und Fähigsten in diesen Zirkel hineinkommen. Verteilen Sie Titel und Orden, beschränken Sie den Zugang zu sich! Abschließend sei noch auf einen letzten Punkt in der Entwicklung von Charisma verwiesen. Wir hatten zwischendurch argumentiert, dass ein enthusiastisches oder auch enthemmtes Auftreten eine Voraussetzung für die charismatische Wirkung ist. Wenn Sie den Werdegang und das Auftreten bestimmter Politiker beobachten, dann können Sie im Allgemeinen den Prozess in der Entwicklung von Charisma gut sehen. Manchmal kommt das Charisma nämlich erst dann, wenn man ein bestimmtes Amt und damit eine bestimmte Verantwortung hat. Nicht alle Führungskräfte werden erst charismatisch und begin-
Charisma braucht die Erfüllung der Beziehungsverträge.
Charisma braucht Symbole und Rituale.
Charisma braucht eine Ausweitung auf ein Team.
Manchmal entsteht Charisma erst im Amt.
60
Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen
nen dann, zu führen. Viele Führungskräfte bekommen einen Platz in der Organisation und entwickeln dann schrittweise auf diesem Platz ihr Charisma.
2
Beispiel für die Entwicklung und Ausbildung von Charisma durch eine gegebene Aufgabe Den Prozess der Entwicklung von Charisma durch eine gegebene Aufgabe kann man sich wie folgt vorstellen: Nehmen wir einmal an, Herr Meyer wird plötzlich zu einer Top-Führungskraft im Konzern. Auf einmal hat Herr Meyer in formaler oder funktionaler Hinsicht eine hohe Sichtbarkeit und Machtausstattung. Herr Meyer macht nun die folgende Erfahrung: Sobald er etwas sagt, wird es durch die anderen erledigt. Wenn er einen Witz macht, lachen alle. Wenn er eine Aufgabe definiert, bemühen sich alle, sie bestmöglich zu erfüllen. Bei Herrn Meyer könnte nun der folgende Erkenntnisprozess in Gang kommen: »Wenn ich etwas möchte, scheinen mir alle zu folgen. Das kann ja nur bedeuten, dass ich ungeheuer charismatisch bin.« Herr Meyer unterschätzt bei dieser Schlussfolgerung aber, wie stark bestimmte Leute letztlich aufgrund von Funktionsmacht und formaler Hierarchie folgen und wie wenig das möglicherweise mit seinem Auftreten als Person zu tun hat. Die Schlussfolgerung von Herrn Meyer hat aber folgenden Effekt: Herr Meyer gewinnt die Selbstüberzeugung, dass er anderen etwas geben kann. In Herrn Meyer reift das Zutrauen zu sich selbst, dass er eine Botschaft hat, die andere Menschen an ihn bindet. Dieses gewachsene Selbstvertrauen führt dazu, dass Herr Meyer in der Lage ist, seine Überzeugungen tatsächlich selbstbewusster und enthusiastischer zu verkünden. Wenn er sie nun selbstbewusster und enthusiastischer verkündet, wird die positive Rückkoppelung, die er erfährt, umso intensiver, denn durch seine wachsende Enthemmtheit wird er auch überzeugender. Hier kommt nun ein Kreislauf mit positiver Rückkoppelung in Gang, der im Ergebnis dazu führen kann, dass Herr Meyer tatsächlich Charisma entwickelt und zunehmend stärker auch unabhängig von seiner formalen Funktionsmacht in der Lage ist, anderen Menschen etwas zu geben. Manchmal werden Menschen durch die Größe einer Aufgabe, die ihnen durch die Umstände in den Schoß fällt, zu Charismatikern, auch wenn sie noch nicht charismatisch waren, als sie mit der Bewältigung der Aufgabe begannen.
Der Prozess der charismatischen Entwicklung kann auch bösartige Tyrannen heranreifen lassen.
Wir haben den Prozess der Ausbildung von Charisma so beschrieben, dass am Ende der Entwicklung eine charismatische, handlungsfähige Führungskraft steht. Natürlich kann diese Entwicklung auch an jeder Stelle misslingen. Ob der Prozess der zunehmenden Enthemmung eine charismatische Führungskraft erzeugt oder aber einen sich selbst überschätzenden, aggressiven Narzissten, ist zunächst einmal nicht gesagt. Ein gewisser Narzissmus, der genug Selbstvertrauen in eigene Fähigkeiten und Potenziale erzeugt, ist für die Entwicklung von Charisma unumgänglich. Sie brauchen das Selbstvertrauen, anderen etwas geben zu können. Ohne diesen Glauben in die eigenen Mög-
2.7 • Brauchen wir charismatische Führungspersönlichkeiten?
61
2
lichkeiten können Sie es nicht schaffen. Ein gewisser Narzissmus und Charisma schließen sich damit nicht aus, sondern das eine bedingt sogar das andere. Allerdings können sich all die Dynamiken, die wir in diesem Kapital beschrieben haben, die Orientierungen und Motivationen, die dahinter stehen, und natürlich auch die Kompensationsstrategien, die die Energie für die charismatische Entwicklung liefern, in einer gestörten Form entwickeln und bösartige Führer heranreifen lassen. Auf diese Seite der psychologischen Störungen in der Führung gehen wir in 7 Kap. 11 ein.
2.7
Brauchen wir charismatische Führungspersönlichkeiten?
Am Anfang dieses Kapitels sind wir kurz auf den gerade in Deutschland verbreiteten Charisma-Skeptizismus eingegangen, der sicherlich historisch verständlich, aber aus führungspsychologischer Sicht nicht sinnvoll ist. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass wir charismatische Führungspersönlichkeiten benötigen. Wenn Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sich in einer Vertrauenskrise befinden, helfen uns nur funktionale Führungskräfte allein nicht weiter, denn sie binden keine Angst und bündeln keine Kräfte für eine positive Zukunftsvision. Wir brauchen Charismatiker, damit Anstrengungs- und Überwindungsleistungen erzeugbar sind, die auch große Ziele erreichbar werden lassen. Kulturell befinden wir uns in einer Phase, in der die Veränderungsgeschwindigkeit überall zunimmt. Diese Aussage bleibt auch dann richtig, wenn sie mittlerweile wie ein banalisiert wirkender Platzhalter in jeder beliebigen Ansprache von Politikern oder Wirtschaftsführern vorkommt. Die Veränderung ist die Zeit der Krise. Gerade in Krisen brauchen wir Menschen, die in der Lage sind, Ängste zu binden, Hoffnung zu machen und das Zutrauen erzeugen können, dass die Krise durch gemeinsame Kraft bewältigbar ist. Ohne Charisma kann es keinen Mut geben, keine außergewöhnlichen gemeinsamen Leistungen, keine Ausrichtung auf ein großes Ziel, das nicht von allein erreicht wird. Wenn wir sagen, dass charismatische Führungskräfte benötigt werden, so rufen wir damit ganz bestimmt nicht nach Verführern und Manipulatoren. Die suggestive Kraft des Charismas beruht auf Vertrauenswürdigkeit, Integrität, Hingabe an größere Ziele, Kompetenz und Stärke, Mut, Risikobereitschaft und aufrichtiger Zukunftshoffnung. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass keine relevante Krise dieser Welt sich nachhaltig und erfolgreich ohne die hier beschriebenen Attribute lösen lässt.
Rein funktionale Führungskräfte helfen in Krisenzeiten nicht weiter.
Ohne Charisma gibt es keine außergewöhnlichen Führungsleistungen.
63
Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation, Überzeugung und Durchsetzung Führungs-Kraft erzeugen 3.1
Der Mechanismus der Verhaltensbeeinflussung – 64
3.2
Die drei Führungs-Kräfte – 65
3.3
Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen – 70
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Sinnstiftung und Überzeugung – 71 Macht und Durchsetzung – 79 Initiative und Motivation – 84
3.4
Der grundsätzliche Wirkmechanismus der Führung: eine Metapher – 91
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
3
64
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Die erste Seite der Skulptur »Führung« war die Seite von Charisma und Angstbindung.
3
Die zweite Seite der Skulptur ist die praktische und situative Seite des Führungshandelns.
Im vorangegangenen Kapitel haben wir vor allen Dingen die charismatische Führungsbeziehung betrachtet. Wir haben gesehen, dass die Führungsleistung darin besteht, einen Beziehungsvertrag zu erzeugen, der die Basis für Anstrengungsleistungen für über die Gegenwart hinausreichende Ziele ist. Wenn Sie sich an unser Beispiel mit der Skulptur erinnern, in dem wir argumentiert haben, dass das Phänomen der Führung von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann (aber nicht von allen Seiten gleichzeitig), so haben wir im letzten Kapitel die Entstehung und Etablierung einer Führungsbeziehung in den Vordergrund gerückt. Die eigentliche Führungsleistung wurde also aus der Perspektive betrachtet, wie man sich durch Charisma und Angstbindungswirkung zur Führungsperson empfiehlt und in dieser Rolle akzeptiert wird. In diesem Kapitel betrachten wir Führung nun ein wenig »handwerklicher«. Wir gehen einen Schritt weiter und richten unseren Blick auf einen weiteren wichtigen Aspekt des Phänomens Führung: Wir wollen Ihnen in diesem Kapitel aufzeigen, welches Handwerkszeug Sie benötigen, um ganz gezielt Einfluss auf das Verhalten von Personen nehmen zu können. Auf der Grundlage des bereits geschlossenen Beziehungsvertrages und Ihrer Erkenntnisse hinsichtlich der unterschiedlichen Orientierungen Ihrer Mitarbeiter (z. B. eher beziehungsoder autonomieorientiert) gilt es nun, spezifische Führungsaktionen bewusst zu planen und umzusetzen. Wir zeigen in diesem Kapitel auf, welche Einflussmöglichkeiten Führungskräfte auf ihre Mitarbeiter haben. Damit verlagern wir den Fokus auf konkrete Führungsaktionen, die die Leistungsfähigkeit eines Menschen in Richtung des angestrebten Zieles lenken sollen. Wir betrachten in diesem Kapitel eher die praktische und situative Perspektive des Führungshandelns, im letzten Kapitel haben wir eher auf das psychologische Fundament geschaut.
3.1
Verhalten wird erzeugt durch Verstand und Gefühl.
Der Mechanismus der Verhaltensbeeinflussung
Wenn man als Führungskraft ein konkretes Verhalten beeinflussen möchte, so muss man sich zunächst die Frage stellen, welche psychischen Instanzen Verhalten determinieren. Wenn Sie Verhalten beeinflussen möchten, müssen Sie genau an denjenigen Stellen ansetzen, an denen Verhalten verursacht wird. Unser Verhalten hat nun zwei zentrale Quellen, durch die es ausgelöst wird: Verstand und Gefühl. Verhalten wird verursacht durch Lust und Unlust (und selbstverständlich viele weitere, diese plakativen Überschriften ausdifferenzierende Gefühle), aber auch durch unseren Verstand, unsere Überzeugungen, Ziele, Werte, Ideale und Philosophien.
3.2 • Die drei Führungs-Kräfte
65
3
. Abb. 3.1 Die drei Führungs-Kräfte: Was führt?
Wenn man nun das Verhalten anderer Menschen beeinflussen möchte, so kann man an genau diesen beiden Instanzen ansetzen. Sie können versuchen, das Verhalten anderer Menschen zu beeinflussen, indem Sie ihren Verstand adressieren und versuchen, rationale Gründe dafür zu vermitteln, warum sie Ihre Beeinflussung akzeptieren sollten. Sie können aber auch versuchen, auf der emotionalen Ebene Gründe dafür zu erzeugen, dass jemand sich Ihren Beeinflussungsversuchen nicht widersetzt. Schauen wir im nächsten Schritt, welches die entscheidenden Dimensionen sind, durch die Beeinflussung auf den beschriebenen Ebenen gelingt.
3.2
Verhaltensbeeinflussung kann am Verstand oder am Gefühl ansetzen.
Die drei Führungs-Kräfte
Betrachten wir die drei verhaltensbeeinflussenden Dimensionen in . Abb. 3.1. Die Spitze des Dreiecks markiert die Dimension für die Beeinflussung über den Verstand. Die unteren beiden Aspekte repräsentieren die Dimensionen für die Verhaltensbeeinflussung über das Gefühl. Der Mechanismus in der Beeinflussung des Verstandes heißt Sinn. Sie richten Ihr Verhalten grundsätzlich so aus, dass es aus Ihrer Sicht Sinn ergibt. Kein Mensch verhält sich innerhalb seiner eigenen gedanklichen Landschaft »unsinnig«. Wenn Sie ein Verhalten zeigen, ergibt es in dieser Situation aus Ihrer Sicht Sinn, sich so zu verhalten. Es gibt zwar durchaus Situationen, in denen Sie sagen: »Da habe ich etwas nicht Sinnvolles gemacht.« Meistens bedeutet dies aber, dass Sie zu dieser Einschätzung aus einer rückblickenden Distanz kommen und das Ergebnis, das Sie erzielen wollten, sich nicht erreichen ließ, Sie aber in der Situation selbst durchaus die Hoffnung hatten, zum Ziel zu kommen. Manchmal würden Sie einen solchen Satz auch formulieren, um deutlich zu machen, dass Sie etwas vordergründig rational nicht ganz Nachvollziehbares gemacht haben. In Ihrer eigenen gedanklichen Landkarte muss das Verhalten aber trotzdem Sinn ergeben haben, denn sonst hätten Sie es nicht getan.
Sie wählen Ihr Verhalten so aus, dass es für Sie Sinn ergibt.
66
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Verhalten wird durch Sinnangebote beeinflusst.
3
Wenn es nun einer Führungskraft gelingt, bei Ihnen die Überzeugung reifen zu lassen, dass ihre Ziele und Verhaltenserwartungen Sinn ergeben, so kann sie damit Ihr Verhalten erfolgreich beeinflussen. Sobald Sie das Sinnangebot der Führungskraft übernommen haben und deren zunächst externes Sinnangebot zum Bestandteil Ihrer eigenen gedanklichen Landkarte oder Wertelandschaft wurde, ist die Beeinflussung geglückt. > Die erste Führungs-Kraft ist erfolgreiche Sinnstiftung. Diese Führungs-Kraft wirkt über den Verstand. Führende, die verdeutlichen können, dass ihre Ziele Sinn ergeben, können damit eine erfolgreiche Verhaltenslenkung hervorrufen: Auf der rationalen Seite führt Sinn.
Verhalten wird durch gute und schlechte Gefühle gelenkt.
Macht ist die Möglichkeit, negative Konsequenzen einzuleiten.
Macht würde nicht benötigt, wenn das Sinnangebot erfolgreich wäre.
Auf der emotionalen Seite gibt es zwei Dimensionen, die betrachtet werden müssen: Eine erfolgreiche Verhaltenslenkung kann sowohl aus der Vermeidung schlechter Gefühle als auch aus dem Anstreben guter Gefühle hervorgehen (lässt man sich diese beiden Mechanismen auf der Zunge zergehen, so merkt man, dass sie letztendlich nur zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.) Eine erste Dimension, die auf die negativ besetzte Seite der emotionalen Skala abzielt, ist das Thema Macht. Vielleicht erinnern Sie sich an unsere Ausführungen in 7 Kap. 1, dass Führung potenziell mächtig sein muss, weil ansonsten in Konflikten (wenn andere Methoden nicht mehr greifen) keine Beilegung oder Lösung erzwungen und Widerstand gegen die Führung nicht bewältigt werden kann. Die Macht und die Zwangsmechanismen sind nicht immer präsent und spürbar, müssen aber potenziell vorhanden sein. Macht bedeutet, dass man in der Lage ist, Konsequenzen einzuleiten, die die Geführten lieber vermeiden würden (oder mit anderen Worten gesprochen: die bei den Geführten angstbesetzt sind). Auf der emotionalen Seite führt Macht, indem sie die negativen Folgen aufzeigt, die im Falle des Nichtfolgens von den Geführten zu erwarten sind. Die Angst vor diesen Konsequenzen ist der Mechanismus, der führt. Macht ist damit ganz klar eine emotionale FührungsKraft. Wenn eine Führungskraft Macht benötigt, ist dies ein Indikator dafür, dass das rationale Sinnangebot nicht gereicht hat, um ausreichende Gefolgschaft zu erzeugen. Deswegen muss es zur Androhung von Zwang oder sogar zu Zwangsmaßnahmen kommen. > Die zweite wichtige Führungs-Kraft ist Macht. Macht beschreibt immer die Möglichkeit oder Potenz einer Führungsperson, bei den Geführten Konsequenzen einzuleiten, die angstbesetzt sind und lieber vermieden werden. Erfolgreiche Machtdemonstrationen können dazu führen, dass die Machtmöglichkeit selbst gar nicht exekutiert werden muss. Die Angst vor der Macht ist ausreichend, um die Bereitwilligkeit zu folgen auszulösen. Die Führungsperson muss in
3.2 • Die drei Führungs-Kräfte
67
3
diesem Fall ihre Macht nicht nutzen, sondern nur zeigen: Auf der negativ besetzten emotionalen Seite führt Macht.
Möglicherweise werden Sie sich jetzt bereits Fragen über die ethischen Implikationen des Einsatzes von Macht und Zwang stellen. Menschen zu etwas zu zwingen, erscheint auf den ersten Blick unethisch. Auf den zweiten Blick sieht man aber sofort, dass sich viele Ziele ohne Zwang nicht erreichen lassen. So lässt sich die körperliche Unversehrtheit potenzieller Opfer manchmal nur durch das Einsperren potenziell gewaltbereiter Täter sicherstellen. Unter welchen Bedingungen Macht, Zwang und Angstinduktion sozial und ethisch akzeptabel sind, werden wir zu einem späteren Zeitpunkt in 7 Kap. 11 darlegen. Die dritte Führungs-Kraft, die das Verhalten der Geführten beeinflussen kann, nennen wir Initiative. Mit der Initiative meinen wir alle Handlungen einer Führungsperson, die in Kommunikation und Interaktion mit den Geführten die positive emotionale Bereitschaft des Folgens erhöht. Wir benutzen den Begriff der Initiative, weil Macht im Unterschied dazu potenziell führt und oftmals einfach nur da sein muss. Positive emotionale Erlebnisse sind nicht einfach nur da. Der Führende muss etwas dafür tun, damit die Menschen ihm mit positiver Stimmung folgen. Im typischen Sprachgebrauch in der Managementliteratur oder auch in vielen Personalpublikationen wird diese Initiative als Motivation beschrieben. Der Versuch des Motivierens beschreibt alle Aktivitäten, mit denen emotionale Widerstände oder Vorbehalte gegenüber der erwarteten Leistung oder den angestrebten Zielen abgebaut werden oder mit denen umgekehrt die positive Energie in Richtung dieser Ziele und Aktivitäten gefördert wird. Initiative kann zum Beispiel die Vermittlung von Wertschätzung sein, die Bereitstellung neuer Herausforderungen, Bonifikationen oder die Eröffnung von Lernmöglichkeiten. Der Sinn muss erklärt werden. Die Macht lauert als Möglichkeit im Hintergrund und erlaubt Zwang, wenn sich jemand dem Führenden widersetzt oder seine Ziele in Gefahr bringt. Die vielen Initiativen und Handlungen, die man in der praktischen Führungsarbeit sieht, sind aber auf die Motivation der Geführten ausgerichtet.
Der Einsatz von Zwang hat immer ethische Implikationen.
Die Schaffung positiver emotionaler Erlebnisse erfordert eine Initiative der Führungsperson.
Die praktische Führungsarbeit besteht oft aus Handlungen, die Motivation erzeugen sollen.
> Die dritte Führungs-Kraft ist die Initiative. Eine Führungsperson versucht durch unterschiedlichste Aktivitäten emotionale Vorbehalte abzubauen und die Bereitschaft, ihr zu folgen, zu steigern. Die möglichen Initiativen, die bei unterschiedlichen Geführten Erfolg versprechen, sind sehr vielfältig und facettenreich: Auf der positiv besetzten emotionalen Seite führt Initiative.
Wenn Sie sich nun das Phänomen Führung in unterschiedlichen Kontexten und unterschiedlichen Zeiten der Menschheitsgeschichte anschauen, so wird schnell deutlich, dass diese drei fundamentalen Führungs-Kräfte sich zumindest zum Teil kompensieren können:
Sinn, Macht und Initiative können sich zum Teil gegenseitig kompensieren.
68
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
3
Große Sinnangebote sind im Wirtschaftsleben heute oft schwierig.
Viele Führungskräfte fühlen sich heute machtloser als in früheren Zeiten.
Die Initiative ist die Führungs-Kraft der Postmoderne.
Wenn Sie als Führender ein Sinnangebot machen können, das für die Geführten anknüpfungsfähig und evident ist, können Sie mit vergleichsweise wenig Macht sehr viel Führungs-Kraft entfalten. Jesus von Nazareth ist ohne Zweifel ein Beispiel für eine Führungspersönlichkeit, die ihre Führungs-Kraft vor allen Dingen aus ihrem Sinnangebot bezog. Wenn Sie im Vergleich dazu als Führender sehr viel Macht haben (und skrupellos genug sind, diese auch einsetzen und nutzen zu wollen), so brauchen Sie sich über Sinn (und erst recht über Initiative und Motivation) nicht so sehr den Kopf zu zerbrechen. Die Überzeugungskraft vieler Diktatoren in der Übermittlung ihrer Sinnangebote ist dementsprechend nicht immer besonders hervorstechend gewesen: Hat Erich Honecker Sie mit seinen Sinnangeboten fesseln können? Die heutige Führungssituation ist jedoch eher durch den Einsatz der dritten Kraft gekennzeichnet. Viele Führungskräfte im Wirtschaftsleben haben in der heutigen Zeit keine Möglichkeit mehr, wirklich große Sinnangebote zu machen (wir nehmen hier etwas überpointiert schon einmal eine spätere Argumentation vorweg: Wenn der Sinn einer Firma letztlich nur darin besteht, die Inhaber reicher zu machen, so ist dies sicherlich kein Sinn, der für die Geführten eine große identitätsstiftende Kraft entfalten kann). Gleichzeitig haben typische Führungskräfte im Unternehmen (und letztlich auch in der Politik) nicht mehr so viele Machtmöglichkeiten, die sie nach eigenem Gutdünken nutzen können. Die historische Macht, die viele Führende in der Vergangenheit hatten, ist heutzutage gebändigt und gezähmt durch Gesetze, Instanzen, Regularien und Verpflichtungen (oder, wie wir im ersten Kapitel argumentiert haben, durch Führungsstrukturen). Als typische mittlere Führungskraft im Unternehmen fühlen Sie sich vielleicht in bestimmten Situationen deutlich machtloser als Sie es sich wünschen würden und ärgern sich darüber, dass Sie sich nicht so durchsetzen können, wie Sie das wollen. Wir wollen hier nicht falsch verstanden werden: Die Machtbändigung, die durch unsere modernen, zivilisatorischen Strukturen erreicht worden ist, halten wir in jedem Fall für sinnvoll. Wir beschreiben hier lediglich die individuelle Not vieler Führender, die ihre Begrenztheit in der Nutzung dieser Führungs-Kraft erleben. Wenn Sinnangebote und Macht heutzutage schwieriger geworden sind, so bleibt die Initiative – die Führungs-Kraft der Postmoderne. Führungspersonen müssen motivieren, locken, positive emotionale Erlebnisse schaffen und durch ihre Aktivität und ihr Kommunikationsgeschick führen. > Der Tyrann konnte sich auf seine Macht verlassen. Er brauchte nicht viel Sinn und nicht viel Motivation. Der Papst kann über Sinn führen. Das Sinnangebot der katholischen Kirche war auch in Westeuropa in vielen Phasen der Geschichte so fundamental Sinn gebend, dass der Papst keine
3.2 • Die drei Führungs-Kräfte
69
3
Armeen brauchte. Wer als Führungsperson nicht so viel Sinn anzubieten hat und gleichzeitig nicht über viel Macht verfügt, muss motivieren können.
Die immense Aufwertung, die das Thema »soziale Kompetenz« als Anforderungsmerkmal für Führungskräfte in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, ist genau dieser Tatsache geschuldet. Warum müssen Führungskräfte heute besonders sozial kompetent sein? Weil sie nicht mehr über die Sinn- und Machtbasis der historischen Führungspersönlichkeiten verfügen, sondern die Bereitschaft des Folgens durch ihre Fähigkeit zu einer gelungenen sozialen Interaktion fördern müssen. Die immensen Ressourcen, die viele Unternehmen dafür aufwenden, ihre Führungskräfte im weitesten Sinne sozial kompetent zu machen (durch Führungskräfte-Trainings, Nachwuchskräfte-Programme, 360°-Feedback, Coaching etc.), sind genau diesem Umstand geschuldet. Über Jahrtausende konnten Führungspersonen mit Macht und Sinn so viel Führungs-Kraft entfalten, dass ihre soziale Kompetenz längst nicht den Perfektionsgrad benötigt hat, der heute von vielen Führungskräften erwartet wird.
Durch die historische Verschiebung der Führungs-Kräfte wurde soziale Kompetenz für Führungspersonen so wichtig.
> Die drei großen Führungs-Kräfte Sinn, Macht und Initiative können kompensatorisch wirken. Wer als Führungskraft von einer der drei Kräfte mehr anzubieten hat, benötigt unter Umständen von den anderen beiden weniger. Lebensumfassende Sinnangebote sind schwieriger geworden und Macht wird zumeist institutionell stark beschnitten oder zumindest geregelt. Die Fähigkeit zu sozialer Initiative und Kommunikation ist damit praktisch gesehen für viele typische Führungskräfte in Unternehmen das zentrale Erfolgsattribut geworden.
Auch wenn wir oben argumentiert haben, dass die drei FührungsKräfte kompensatorisch wirken können, so kann keine dieser drei Führungs-Kräfte vollständig ausgeblendet werden, möglich ist lediglich eine Gewichtsverschiebung. Ganz ohne Macht sind Sie bei Konflikten machtlos, schwach und angreifbar in der Führungsrolle (Jesus von Nazareth war durch sein Sinnangebot eine große Führungspersönlichkeit, aber letztlich wurde er doch gekreuzigt). Deswegen haben Sie auch als mittlere Führungskraft im Unternehmen trotz vieler institutioneller und betriebsverfassungsrechtlicher Einschränkungen sehr wohl noch Macht, bestimmte Ziele durchzusetzen. Auch wenn allumfassende Sinn- und Wahrheitsangebote heutzutage schwieriger geworden sind, können Sie selbstverständlich trotzdem noch Ziele und deren Bedeutung vermitteln. Wenn Sie als Führungskraft erfolgreich sein wollen, müssen Sie in der Lage sein, alle drei FührungsKräfte zu nutzen und situativ einzusetzen. Dies leitet über zu den drei Führungsstrategien.
Die Fähigkeit zur Nutzung aller drei Führungs-Kräfte ist für den Erfolg wichtig.
70
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
3
. Abb. 3.2 Die drei Führungsstrategien: Die Nutzung der drei Führungs-Kräfte in der Praxis
3.3
Konkrete Strategien zur Verhaltenslenkung
Sinnstiftung gelingt durch Überzeugung.
Macht äußert sich in Durchsetzung.
Motivation entsteht durch emotionale Verlockungen.
Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
Im letzten Absatz haben wir die drei Führungs-Kräfte vorgestellt, also diejenigen Kräfte, durch die eigentliche Verhaltenslenkung zustande kommt. In diesem Kapitel werden wir uns nun mit den konkreten Strategien beschäftigen, durch die diese drei Kräfte genutzt und angewandt werden können (. Abb. 3.2). Die drei zentralen Führungsstrategien, durch die die drei vorher dargestellten Kräfte genutzt werden können, ergeben sich aus den Kräften selbst. Die Führungsstrategie der Sinnstiftung ist die Überzeugung. Wenn es Ihnen gelingt, andere von Ihren Zielen, Ihren Vorhaben, Ihren Visionen und Ihren vorgeschlagenen Problemlösungsstrategien zu überzeugen, haben Sie die Anforderung der Sinnstiftung erfolgreich bewältigt. Wenn Ihre Mitarbeiter davon überzeugt sind, dass es richtig ist, ein bestimmtes Ziel anzustreben, und dass der von Ihnen vorgeschlagene Weg auch der erfolgversprechendste ist, so haben Sie Sinn gestiftet. Sie haben einen Weg aus einer Krise gezeigt oder eine verlockende Zukunft aufgezeigt, für die sich Anstrengungsleistung lohnt. Manchmal ist Ihr Ziel aber auch bescheidener gewesen: Vielleicht haben Sie auch nur davon überzeugen können, dass etwas getan werden muss, damit zukünftig antizipierte Probleme gelöst werden. Dann sind Ziele im Vergleich zur Gegenwart zwar nicht unbedingt verlockend, aber immer noch das kleinere Übel im Vergleich zum Nichtstun. In allen drei beschriebenen Fällen haben Sie auf jeden Fall Sinn gestiftet. Wenn Sie durch Ihr Führungsverhalten Ihren Mitarbeitern die Konsequenzen aufzeigen, die bei nicht ausreichender Leistung gezogen werden, dann haben Sie sich durchgesetzt. Die Durchsetzung ist die Führungsstrategie der Macht. Wenn Sie bei Ihren Mitarbeitern durch den Fokus auf positive Emotionen und Verlockungen die Bereitschaft zum Mitmachen gesteigert haben, haben Sie erfolgreich motiviert und damit die Führungs-Kraft der Initiative genutzt.
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
71
3
Wenn Sie als Führungskraft bestehen wollen, müssen Sie alle drei Karten ausspielen können. Die drei zentralen Führungsstrategien Überzeugen, Durchsetzen und Motivieren stehen jetzt noch etwas plakativ nebeneinander. Jede von ihnen rechtfertigt aber, dass wir uns detaillierter mit ihrer konkreten Anwendung und Umsetzung beschäftigen.
3.3.1
Sinnstiftung und Überzeugung
Führung ist auf der rationalen Ebene erfolgreiche Sinnstiftung. Führungskräfte, die von ihren Zielen, Visionen und Strategien überzeugen können, bewirken erfolgreich, dass Menschen ihnen folgen. In folgendem Absatz betrachten wir, welche Mechanismen im unternehmerischen Kontext Überzeugungs-Kraft entfalten können. Hierbei müssen zunächst einmal zwei Dinge auseinander gehalten werden: Der erste Aspekt ist das Ziel selbst, von dem der Impuls oder das Momentum ausgeht. Hier werden wir uns im nächsten Abschnitt die Charakteristika möglicher Ziele und die Probleme vieler Führungskräfte anschauen, die bei der Kommunikation von Zielen und Sinn praktisch auftreten. Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt, der zu einem erheblichen Teil die Kompetenz der Führungskräfte in der Sinnstiftung ausmacht. Bei diesem Aspekt handelt es sich um die Überzeugungs-Kraft im engeren Sinne. Bei der Überzeugungskraft im engeren Sinne ist nicht so sehr das Ziel selbst der Gegenstand der Betrachtung und Untersuchung, sondern es geht viel eher um die Art der Vermittlung. Wenn wir nach Überzeugungskraft als Führungskompetenz fragen, so fragen wir nach sprachlicher Eloquenz, Logik, argumentativer Schärfe, emotionaler Ausdruckskraft und Präsenz, darstellerische Qualität und letztendlich nach der Fähigkeit, ein Publikum zu fesseln und für sich persönlich einzunehmen. Diese Kompetenz ist im engeren Sinne der Gegenstand der Rhetorik. In der Rhetorik geht es zunächst nicht um das Ziel selbst, sondern um die Frage, wie man in einer bestimmten Überzeugungssituation dieses Ziel vermitteln muss, damit die Wahrscheinlichkeit groß wird, dass die anwesenden Zuhörer die Überzeugung teilen werden. Da wir hier kein Buch über Rhetorik schreiben, beschäftigen wir uns mit dieser Perspektive nicht intensiver, sondern schauen vorrangig auf das Ziel selbst. Ungeachtet dessen sind wir aber davon überzeugt, dass das Thema Überzeugungskraft eine der zentralen Kernkompetenzen für Führungskräfte darstellt. Die Fähigkeit zur Sinnstiftung kann eine so eminente Führungs-Kraft entfalten, dass Führungskräfte ohne die Fähigkeit zu überzeugen kaum auskommen können. > Als Führungskraft ist die Überzeugungskraft und die Fähigkeit zur Sinnstiftung gerade in Krisensituationen, in denen
Gute Ziele erzeugen Impuls und Momentum.
Überzeugungskraft ist die Kompetenz für erfolgreiche Sinnstiftung.
Überzeugungskraft ist eine Schlüsselkompetenz für Führungskräfte.
72
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Typische Rhetorik-Seminare für Führungskräfte
3
Leider wird dem Thema Überzeugungskraft in der Qualifizierung von Führungskräften oft nicht der Platz eingeräumt, der dieser fundamentalen und letztendlich ältesten aller trainierten Sozialkompetenzen gebührt. Meist verkommt das Thema Überzeugungskraft zu einer Präsentationsschulung, in der die Perfektionierung der technischen Hilfsmittel deutlich stärker im Vordergrund steht als die Arbeit an den persönlichkeitsbezogenen
Überzeugungsfaktoren, und in der die Dominanz von Powerpointfolien und Animationen einen Redner mehr beschränkt, als ihm als eigentlicher Träger der Botschaften gebühren würde. Viele Veranstaltungen zum Thema Überzeugungskraft reduzieren neben der Visualisierung das Thema Überzeugung auch sehr stark auf den Bereich Körpersprache. Diese ist in medialen Kontexten sicherlich sehr wichtig, in denen in nur wenigen Sekunden TV-taug-
liche Botschaften formuliert werden müssen. Im unternehmerischen Kontext ist die schöpferische Kreativität im Finden der Argumente, der Scharfsinn und die Durchdachtheit in der Diskussion, die Klarheit und Stringenz in der Gedankenführung und die Relevanz und Anknüpfungsfähigkeit der Darstellungen jedoch oftmals deutlich wichtiger, als eine lebhafte Arbeit der Arme.
nicht so leicht motiviert werden kann, besonders wichtig. Wenn Machtmöglichkeiten begrenzt sind und man nicht so viele persönlich verlockende Angebote für die Mitarbeiter bereitstellen kann, bleibt nur die Möglichkeit, den Sinn der Impulse und Ideen zu vermitteln, um erfolgreich beeinflussen zu können. Überzeugungskraft ist eine demokratische Kompetenz.
Überzeugungskraft ist damit letztlich auch eine demokratische Kompetenz. Überzeugen muss man im politischen Wettstreit nur, wenn die Menschen die Wahl haben, welchem Führenden sie sich anvertrauen. Nicht ohne Grund ist die hohe Schule der Überzeugungskraft und Rhetorik in der ersten Demokratie der Weltgeschichte zu ihrer ersten Blüte gereift, im antiken Griechenland und Athen (s. auch 7 Exkurs »Typische Rhetorik-Seminare für Führungskräfte«).
Argumentationsfiguren in der Vermittlung von Zielen und Sinn
Oft werden Ziele und ihre Indikatoren verwechselt.
Wenden wir uns der Frage zu, wie sich im Unternehmen (und natürlich auch in anderen Führungskontexten) Sinnstiftung umsetzen lässt. Der Sinn einer Tätigkeit oder eines Ziels kann als die Bedeutung verstanden werden, die dieses Ziel oder die Idee besitzt (. Abb. 3.3). Der Sinn einer Sache kennt darum zwei Bezugspunkte. Wenn man als Führungskraft Sinn für ein Ziel vermitteln möchte, so muss man zwei Argumentationsfiguren beherrschen und nutzen können: Die erste Argumentationsfigur betrifft die Fähigkeit, ein Ziel zu beschreiben. Auf den ersten Blick hört sich das banal an, es ist auf den zweiten Blick aber deutlich schwieriger als angenommen. Häufig werden nämlich in der unternehmerischen Wirklichkeit Ziele und Indikatoren für diese Ziele verwechselt. Die Aussage: »Wir wollen im nächsten Jahr 5% mehr Umsatz machen« ist in diesem Sinne nämlich kein Ziel, sondern lediglich der Indikator für ein dahinter liegendes Ziel.
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
73
3
. Abb. 3.3 Sinnstiftung und Bedeutung von Zielen
Stellen wir uns die Frage, welche Zukunft mit der oben beschriebenen Aussage eigentlich genau angestrebt wird. Was ist das »Zielfoto«, für das sich Einsatz und Mühsal lohnen? Wenn die 5% Umsatzsteigerung nur für die Erwartung der Inhaber stehen, mehr Geld verdienen zu wollen, so wird auch unmittelbar deutlich, warum von einem solchen Ziel keine verlockende oder anziehende Kraft für die Geführten ausgehen kann. Ein Ziel muss ein wirklicher Zukunftsentwurf sein, damit es Führungs-Kraft entfalten kann. Indikatoren für Ziele entfalten keine Führungs-Kraft, sondern bedienen höchstens den Wunsch nach einer Messbarkeit und Operationalisierung des Ziels. Aber das Ziel, dass 5% mehr Umsatz angestrebt sind, kann ein Indikator für einen sinnhaften Zukunftsentwurf sein. Geht es darum, den schärfsten Konkurrenten überholen zu wollen und dadurch eine hohe Sicherheit für die Zukunft zu erwirken? Geht es darum, die Investitionsmittel für eine Produktneueinführung zu verdienen? Geht es darum, die eigene Reputation auszubauen, indem man zum Marktführer wird und dadurch die Überlegenheit der eigenen Lösungen gegenüber Wettbewerbsprodukten beweist? All dies sind Ziele, die ein wirkliches Zukunftsbild in sich tragen. Wenn Sie als Führungskraft Sinn stiften wollen, müssen Sie also erklären können, wohin Sie wollen. Ein wesentliches Kriterium guter Führung besteht in der Fähigkeit, Zukunftsbilder malen zu können. Wenn Sie nicht klar und bildhaft zum Ausdruck bringen können, wohin Sie wollen, fällt es schwer, Ihnen zu folgen. Wenn Sie nur Indikatoren für Ihre Ziele benennen können, bleibt Ihr Zukunftsentwurf schal und blutleer. Sinnstiftung entsteht, wenn Sie deutlich machen, wohin Sie wollen und wie es dort aussehen wird, wenn man angekommen ist. Die Fähigkeit, ein »Zielfoto« zu malen, ist aber nur eine Hälfte der Medaille. Die zweite Hälfte besteht in der Kompetenz, dieses Ziel sinnvoll zu begründen: Was ist der eigentliche Zweck, der durch die Erreichung des Ziels erfüllt wird? Warum ist es wichtig, zum Marktführer zu werden? Warum ist es wichtig, den Wettbewerb zu überholen? Warum muss in diese neue Technologie investiert werden? Hier wird es in verschiedenen Produktwelten, Märkten und Unternehmenskontexten unterschiedlich schwierig, Gründe aufzuführen.
Ziele brauchen einen wirklichen Zukunftsentwurf, um Führungs-Kraft zu entfalten.
Gute Führungskräfte können Zukunftsbilder malen.
Ziele brauchen sinnvolle Begründungen.
74
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Ein Pharmaunternehmen, das die Platzierung eines neuen Produktes vorbereitet, durch das potenziell Tausende von Menschenleben gerettet werden können, findet einen Grund, der durch einen ethischen Bezugsrahmen für viele Leute anknüpfungsfähig ist. Es ist aber evident, dass derartige Argumentationsfiguren nicht in allen Produktwelten gleichermaßen Anwendung finden können.
3
> Führungskräfte brauchen für die Sinnstiftung zwei Fähigkeiten: Zum einen müssen sie Ziele der Zukunft »malen« können, zum anderen müssen sie diese Ziele sinnvoll begründen können. Wenn sinnvolle Ziele fehlen, fehlt eine sinnvolle Zukunft, für die sich Einsatz lohnt. Wenn eine sinnvolle Zukunft fehlt, für die sich Einsatz lohnt, werden – etwas überpointiert gesagt – Söldner geschaffen. In diesem Fall muss nämlich durch Motivation überkompensiert werden, was an Sinn fehlt. Fehlender Sinn muss durch Motivation kompensiert werden.
Viele Großkonzerne haben nur noch Kapitalgebervisionen, die für die Mitarbeiter keine Identifikation mehr bieten.
Gerade Großkonzerne tun sich manchmal mit einer guten Sinnstiftung schwer. Unmittelbar erkennt man, warum dementsprechend viele große Konzerne Gefahr laufen, Mitarbeiter zu produzieren, die ihre eigene Einsatzbereitschaft kleinlich entlang der erwarteten Kompensationen durch das Unternehmen bemessen und jedes Zusatzengagement am eigenen Nutzen spiegeln. Wenn sinnvolle Ziele und Zukunft fehlen, wenn die Hoffnung auf eine Welt fehlt, für die sich Einsatz und Entbehrungen lohnen, werden Menschen käuflich. Hiermit ist nicht gesagt, dass finanzielle Kompensation die einzige Motivationsmöglichkeit ist. Dies werden wir auch später zeigen. Wir haben dieses Argument etwas überpointiert herausgearbeitet, um deutlicher erklären zu können, dass fehlender Sinn durch Motivation kompensiert werden muss. Rein vom Kapitalmarkt getriebene Unternehmen haben oft keine für die Mitarbeiter anschlussfähige Vision mehr. Fehlende Anschlussfähigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es keine Vision mehr gibt, die auch aus Sicht der Mitarbeiter ein erstrebenswertes Zukunftsbild darstellt. Meistens sind die unternehmerischen Visionen vieler Großkonzerne in erster Linie die Kapitalgebervisionen und keine Unternehmensvisionen. Ein rein ökonomisches und auf Gewinnmaximierung angelegtes System enthält kein Versprechen mehr für die Welt, sondern nur noch ein Versprechen zur Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Es gibt nur noch die Logik der Zahl selbst. Es gibt keine Hoffnung mehr, die den beteiligten Mitarbeitern noch Identifikation bieten könnte. Wie an anderen Stellen des Buches polarisieren wir auch an dieser Stelle, um das Argument und die Botschaft deutlicher herauszuarbeiten, selbst wenn in der Wirklichkeit die Unterschiede gradueller Natur sind. Selbstverständlich gibt es große Unternehmen, die es noch schaffen, eine für ihre Mitarbeiter teilbare Zukunftshoffnung zu kommunizieren. Ohne Zweifel gibt es aber auch Großkonzerne, die außer dem Prinzip der Gewinnmaximierung für
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
75
3
. Abb. 3.4 Werteschema für die Begründung unternehmerischer Ziele
die Shareholder keine Hoffnung erweckenden Versprechen für ihre Mitarbeiter mehr bereithalten. Die typische mittlere Führungskraft steht nun vor einem Dilemma. Als Führungskraft bekommt man selbst in dem oben beschriebenen Sinne »sinnlose Ziele«, wie z. B. Kostenreduktion im Bereich XY von 10%, Effizienzsteigerung im Bereich Z von 4%, Personalkostenabsenkung im Bereich ABC um 20%. Derartige Ziele, die aus einem beliebigen Zielvereinbarungssystem im mittleren Management stammen könnten, haben ihren Sinn zunächst einmal nur durch die Augen der Shareholder. Vielleicht sind sie (im Gegensatz dazu) aber tatsächlich Indikatoren für sinnvolle Ziele. In beiden Fällen jedoch steht unsere mittlere Führungskraft vor der Aufgabe, diesen Zielen Sinn zu verleihen, sie zu illustrieren, zu begründen, auszuschmücken und so zu erklären, dass sie für die zugeordneten Mitarbeiter anschlussfähig werden. Je sinnloser die Ziele sind, umso größer die Herausforderung für die Führungskraft. Im nächsten Absatz wird nun dargestellt, mit welchen typischen Argumentationsfiguren man Ziele begründen kann. . Abb. 3.4 zeigt drei zentrale Werte, die die Begründungszusammenhänge für Ziele darstellen. Unternehmerische Ziele können üblicherweise durch dieses Werteschema begründet werden und nachgelagerte oder »mittlere« Ziele können aus diesen Zielen abgeleitet werden. Oben auf der Zielhierarchie steht das Thema Wirtschaftlichkeit. Wirtschaftlichkeitsziele betreffen entweder den Umsatz, die Kosten oder den Ertrag, sichern den Fortbestand einer Firma und markieren ihren Erfolg. Wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen haben damit zumindest auch die Sinnperspektive, dass die Produkte offenbar aus Sicht der Kunden sinnvoll sind, da diese bereit sind, dafür Geld zu bezahlen. Insofern kann der Sinnbegründungszusammenhang für Wirtschaftlichkeitsziele auch aus dem Sinn der Produkte für die Kunden kommen und muss nicht
Mittlere Führungskräfte müssen oft auch solchen Zielen Sinn geben, die sie selbst als sinnlos empfinden.
Wirtschaftlichkeitsziele repräsentieren den sichtbaren Erfolg einer Firma.
76
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
3 Leistungsziele tragen mittelbar zum Erfolg einer Firma bei.
Zusammenarbeitsziele sollen leistungsförderlich sein.
ausschließlich durch die Gewinnerwartungen der Kapitalgeber erläutert werden. Letztlich sind nur solche Produkte erfolgreich, die aus Sicht der Kunden ein Problem lösen oder einen Mehrwert bieten. Wirtschaftlichkeitsziele stellen damit die erste Zielebene im Unternehmen dar. Ihr Begründungszusammenhang kann neben den Gewinnerwartungen der Kapitalgeber aber auch aus dem Nutzen der Produkte für Kunden und Gesellschaft kommen. Die zweite Ebene unternehmerischer Ziele betrifft die Leistungsziele (Produktivität, Qualität und Innovation). Leistungsziele malen ein Bild der Zukunft, in der die Produkte des Unternehmens mit noch weniger Ressourcen und Aufwand, mit noch besserer Qualität oder mit noch innovativeren Eigenschaften produziert werden können. Die Begründung und der Sinn der Leistungsziele liegen in der Wirtschaftlichkeit, also in der darüber angesiedelten Zielkategorie. Leistungsziele ergeben für sich allein genommen noch nicht ausreichend Sinn, sondern erhalten ihren Sinn erst, wenn durch sie der unternehmerische Erfolg gesteigert wird. Die dritte Kategorie der unternehmerischen Ziele betrifft Zusammenarbeitsziele. Hierbei geht es um Integrationsziele (z. B. die Schnittstellenoptimierung betreffend oder die rasche Herstellung von Leistungsfähigkeit neuer Mitarbeiter durch gute Einarbeitung). Es gibt aber auch Qualifikationsziele (z. B. die Kompetenzsteigerung mit einem Team) und Motivationsziele. So kann man sich vorstellen, dass eine Führungskraft von dem nächsthöheren Vorgesetzten das Ziel erhält, z. B. das kundenorientierte Verhalten der Mitarbeiter im eigenen Bereich zu stärken, was ja ein klares Motivationsziel ist. Den Sinn oder den Begründungszusammenhang der Ziele zur Zusammenarbeit erhalten diese im Allgemeinen aus den Leistungszielen, manchmal aber auch als kulturellen Gründen. Warum soll denn die Zusammenarbeit besser werden, die Qualifikation höher oder die Motivation und Kundenorientierung stärker? Üblicherweise soll das passieren, damit die Leistung steigt, also die Produktivität oder die Qualität, oder aber, weil man eine bestimmte Unternehmenskultur anstrebt, die langfristig wieder als leistungsförderlich beurteilt wird. Und hier sind wir erneut in der Zielhierarchie: Warum soll die Leistung steigen? Natürlich um im nächsten Schritt die Wirtschaftlichkeit zu steigern und damit ein Unternehmen ggf. mehr Nutzen für die Gesellschaft (respektive für den Kunden) erzeugen kann. Mit dieser Zielhierarchie kann man als Führungskraft objektiv argumentieren. Je unmittelbarer bestimmte Führungskräfte und Mitarbeiter für Wirtschaftlichkeit verantwortlich sind, umso stärker können ihre Ziele direkt aus wirtschaftlichen Kennziffern abgeleitet werden und benötigen dann im nächsten Schritt natürlich einen sinnvollen Begründungszusammenhang. Etwas weiter unten in der Hierarchie wird man in erster Linie Leistungsziele brauchen. Hier stehen meist präzise Wirtschaftlichkeitskennziffern nicht mehr zur Verfügung oder sind aufgrund unklarer Einflussverhältnisse für die
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
sinnvolle Zielausrichtung nicht nützlich. In diesem Fall benötigt man Leistungsziele. Auf den unteren Hierarchieebenen sind oft auch Leistungsziele kaum noch sinnvoll messbar oder nur mit großem Aufwand zu erfassen. In diesem Fall bieten sich Ziele zur Zusammenarbeit an. Die Logik bleibt aber: Wir müssen unsere Wirtschaftlichkeitsziele erreichen, um durch unsere Produkte einen Mehrwert für Gesellschaft und Kunden liefern zu können! Wir müssen unsere Leistungsziele erreichen, um unsere Wirtschaftlichkeitsziele zu erreichen! Wir müssen unsere Zusammenarbeitsziele erreichen, um unsere Leistungsziele zu erreichen! Wenn man sich diese Hierarchie in der unternehmerischen Argumentation von Zielen und ihrer Begründung anschaut, wird auch direkt deutlich, dass der Messbarkeitsfetischismus, der mit den Zielvereinbarungssystemen vieler Unternehmen verbunden ist, nur bedingt Sinn ergibt. Wirtschaftlichkeitsziele sind noch im engeren Sinne zu messen, wenn man die Darstellung durch eine belastbare Kennziffer meint. Leistungsziele sind nur noch bedingt zu messen (Produktivitätsfortschritte lassen sich vielleicht noch durch Kennziffern messen, die Güte von Innovationen lässt sich hingegen oft nicht sinnvoll durch eine Kennziffer ausdrücken). Am deutlichsten nimmt die Messbarkeit von Zielen ab, wenn wir über Zusammenarbeitsziele reden. Motivation, Qualifikation und Integration lassen sich nicht einfach in Kennziffern abbilden. Ziele auf oberen Ebenen sind darum oft noch im engeren Sinne messbar, Ziele auf unteren Hierarchieebenen im Unternehmen sind oft nur noch beurteilbar. Zu strenge Kriterien an Messbarkeit in Zielvereinbarungssystemen führen dann zu dem folgenden Phänomen: Auf den oberen Ebenen funktioniert das System. Weiter unten in der Hierarchie werden solche Ziele, die viel Sinn ergeben, aber nicht messbar sind, nicht vereinbart. Stattdessen werden Dinge vereinbart, die nicht selten nutzlose Sonderaufgaben beinhalten, aber gut messbar sind. Solche Zielvereinbarungen, die wenig sinnvolle Ziele beinhalten und aus Sicht der Mitarbeiter eher nervige Sonderaufgaben repräsentieren, sterben dann (und letztendlich ist dies ja sogar sinnvoll und rational) meist einen langsamen, aber geräuschlosen Tod: Im Verlauf des Jahres werden die Ziele aus dem Blickfeld verloren und die Organisation hat sich zumindest an dieser Stelle reflexhaft aber erfolgreich dem Zwang widersetzt, sinnlose Ziele verfolgen zu müssen (s. auch 7 Exkurs »Endgültige Wahrheiten zur Begründung von Zielen«). > Führung ohne Ziele ist undenkbar. Irgendwohin muss man ja führen. Man kann aber nur zu Zielen führen und nicht zu Indikatoren für diese Ziele. Nur bildhafte Ziele, die eine für die Mitarbeiter anknüpfungsfähige Zukunftshoffnung repräsentieren, können Sinn stiftend wirken. Gute Führungskräfte können Zukunftsentwürfe malen und diese sinnvoll begründen. Die Begründung von Zielen ist schwieriger ge-
77
3
Wenn man ein Zielsystem zu stark auf exakte Messbarkeit fokussiert, fallen wichtige Zielkategorien heraus.
Sinnvolle Ziele fallen manchmal dem Zwang zur exakten Messbarkeit zum Opfer.
78
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Endgültige Wahrheiten zur Begründung von Zielen
3
Führungskräfte hatten in früheren Zeiten oft letztgültige Begründungen für ihre Ziele, die allgemein akzeptiert waren (»Das ist Gottes Wille«). Damit war der Sinn gegeben und auch ohne weitere Begründungen und Herleitungen für alle evident. Im Zuge der Aufklärung ging dieser allgemein geteilte Sinn verloren und wurde durch die gewachsene Freiheit in den Lebensentwürfen durch konkurrierende Sinnangebote ersetzt. In der heutigen Zeit haben Führungskräfte dadurch oft keine allseits geteilte Basis mehr, auf der sie die Begründungen ihrer Ziele fußen lassen können. Ziele müssen heutzutage darum
in gewissem Sinne »erfunden« werden, weil es so wenig Axiome gibt, aus denen sie sich einwandfrei ableiten ließen. Unser Leben ist in diesem Sinne durch und durch existenzialistisch geworden: Es gibt nur die Wahrheiten, Ziele und Sinnangebote, die wir ihm geben oder für unser Leben erfinden. Unser Leben hat nur diejenigen Ziele, die wir ihm selbst geben. Es gibt nichts Großes, Übergeordnetes, was uns von der Last befreien könnte, unser Leben selbst zu erfinden und ihm den Sinn einzuhauchen, dem wir uns verpflichten wollen. Gute Führungskräfte müssen darum in der Lage sein, Sinn zu stiften, ohne
einen eindeutigen Referenzrahmen zu haben, aus dem man die Ziele einfach deduzieren könnte. Die Anforderungen an Führungskräfte sind gewachsen, weil man sich in der Begründung seiner Ziele argumentativ immer gegen konkurrierende Zielangebote behaupten und durchsetzen muss. Außerdem muss man aufkommende Zweifel gegen die Sinnhaftigkeit von Zielen (bei sich selbst und bei den Geführten) immer wieder überzeugend bekämpfen. In einer Welt mit allseits geteilten Wahrheiten ist dieser Prozess einfacher.
worden, seit uns endgültige Wahrheiten und Gewissheiten verloren gegangen sind.
Im Vergleich zu den Menschen, die in einer Welt der absoluten Gewissheiten und Wahrheiten lebten, ist der postmoderne Mensch ein identitätsschwacher Mensch geworden. Es gibt keine Welt mit einer sich kontinuierlich entwickelnden Wahrheit mehr, es gibt nur noch Episoden, Offenheit und Zufälligkeit. Dieses Problem gilt auch für die Führungskräfte, die in dieser Situation Ziele finden und begründen müssen. Unsere Führungspersonen heutzutage spielen (wenn sie es gut machen) die Rolle für uns, Ziele und Sinn zu erfinden, an denen wir uns auch dann orientieren können, wenn die Eindeutigkeit von Autorität und Wahrheiten verloren gegangen ist. Sinn kann man heute nicht mehr aus allgemein akzeptierten Wahrheiten ableiten.
Der Glaube an den »Markt« kann den Platz überzeugender Sinnangebote nicht einnehmen.
> Je charismatischer eine Führungsperson sein will, umso stärker muss ihre Leistung sein, die Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten, Unbegründbarkeiten und Vieldeutigkeiten in der Wahrnehmung der Welt zu verdrängen, um so viel Eindeutigkeit und Klarheit wie möglich erzeugen zu können. Die Leistungsanforderung an Führungskräfte in der heutigen Zeit im Bereich Sinnstiftung ist darum größer geworden als in allen Zeitaltern davor.
Manchmal findet man gerade in der wirtschaftskritischen Presse Formulierungen, in denen gesagt wird, der Glaube an den Markt hätte heutzutage die Religion ersetzt und andere Wahrheiten verdrängt. Diese Aussage ist nicht richtig, denn der Markt kann seiner inneren Logik nach diese Funktion überhaupt nicht übernehmen. Innerhalb eines ökonomischen Systems gibt es nur Indikatoren – also Zahlen –, aber niemals einen darüber hinaus weisenden Sinn. Im Grunde ist es ja noch schwieriger: Selbst der Markt und der Glaube an das Sys-
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
79
3
tem taugt für viele Menschen nicht als anknüpfungsfähiges Sinnangebot, was man gerade an der skeptischen Einstellung ablesen kann, die mittlerweile viele Menschen gegenüber den Mechanismen des Marktes hegen. Nicht der Markt hat die Gewissheiten verdrängt. Die Gewissheiten der Vergangenheit sind im Zuge der Aufklärung und Liberalisierung der Ideologien und Religionen verschwunden und selbst ein so machtvoller Mechanismus wie der Markt hat den Platz nicht einnehmen können. > Erfolgreiche Führung heißt, in der heutigen abendländischen Welt, trotz konkurrierender Wahrheiten und postmodernem Skeptizismus, in einer Zeit ohne große übergeordnete gesellschaftliche oder religiöse Ziele, sondern mit individuell sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen und Glückshoffnungen noch Sinn vermitteln und stiften zu können.
3.3.2
Macht und Durchsetzung
Macht ist die Möglichkeit, anderen Menschen »Kosten« zu verursachen. Kosten sind hier im metaphorischen Sinne gemeint und verweisen auf ein für den anderen ungewolltes Ereignis oder eine unerwünschte Konsequenz. Wer andere zwingen will oder sich durchsetzen möchte, braucht Macht. Ohne die Fähigkeit, einem anderen Menschen Kosten zu verursachen, kann man sich ihm gegenüber nicht durchsetzen. Bevor wir uns jetzt der Frage zuwenden, wie »durchsetzen« im engeren Sinne funktioniert, wollen wir uns einmal kurz der ethischen und sozialen Frage zuwenden, die mit dieser »dunklen Seite« der Führung verbunden ist. Die Mechanismen der Macht sind Ängstigung und Zwang. Wenn man durch das Potenzial seiner Macht ängstigt, zeigt man zunächst nur (direkt oder symbolisch) die Kosten auf, die man zu erzeugen in der Lage wäre, wenn die Geführten sich den Zielen widersetzen würden. Wenn man Zwangsmaßnahmen einleitet, realisiert sich das Potenzial der Macht. Man löst schrittweise die Konsequenzen aus, die bei den Geführten den Leidensdruck so stark erhöhen, dass die Bereitschaft steigt oder zurückkehrt, sich wieder in den normalen Leistungs- und Zielverfolgungsprozess einzureihen. Unter welchen Bedingungen scheint denn nun die Ausübung von Zwang sozial und ethisch vertretbar und akzeptabel? Verkürzt kann man das Argument folgendermaßen darstellen: Wenn Sie als Führender ein Ziel verfolgen, halten Sie dieses Ziel für sinnvoll und aus Ihrer Perspektive für ethisch vertretbar, verantwortbar und legitim. Sie fühlen sich Ihrem Ziel gegenüber verantwortlich. Sie haben sich an dieses Ziel gebunden und investieren eigene Kraft und Anstrengungsbereitschaft zur Erreichung des Ziels. Wenn sich nun jemand widersetzt,
Macht ist die Möglichkeit zu unangenehmen Konsequenzen.
Macht funktioniert über Ängstigung und Zwang.
Macht ist ethisch zu rechtfertigen als Verteidigungsleistung für gute Ziele.
80
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
der sich aus Ihrer Sicht mit Ihnen für dieses Ziel engagieren müsste (z. B. einer Ihrer Mitarbeiter), so bringt dieser Mensch aus Ihrer Sicht ein Ziel in Gefahr, das verantwortbar, sinnvoll und wichtig ist. Sie werden dann als Führungskraft das Pflichtgefühl erleben, etwas für die »Rettung« Ihres Ziels tun zu müssen. Unter Umständen würden Sie in diesem Fall Zwang nicht ganz ausschließen wollen. Falls Sie nämlich mit den anderen beiden Führungsstrategien (Überzeugen und Motivieren) scheitern, müssten Sie es zulassen, dass ein Ziel in Gefahr gebracht wird, das aus Ihrer Sicht wichtig und nutzstiftend für die Welt ist. Ihre Zwangsmaßnahmen und Ihre Machtausübung würden dementsprechend nicht durch die Beschädigung der anderen Person motiviert sein, sondern durch die Rettung Ihres Ziels.
3
> Eine sozial akzeptable Durchsetzung zeichnet sich dadurch aus, dass die Zielrettung den klaren Kompass der Handlung darstellt und nicht die Beschädigung der anderen Personen. Gute Führungskräfte können sich so durchsetzen, dass ein persönliches Verhältnis nach einem Durchsetzungsakt nicht zwangsläufig zerrüttet ist. Kompetente Durchsetzung muss nicht zwangsläufig zu Beziehungszerrüttungen führen.
Machtausübung und hohe Beziehungsqualität zu den Geführten sind nicht immer gleichzeitig optimierbar.
Ihre implizite Botschaft an einen Mitarbeiter lautet: »Ich habe versucht, dir zu erklären, warum dieses Ziel wichtig und unabdingbar für uns ist, und ich habe versucht, deine persönlichen Bedürfnisse bei der Art der Zielverfolgung zu berücksichtigen. Damit bin ich nicht erfolgreich gewesen. Ich werde dich jetzt zwingen müssen, mein Ziel nicht weiter in Gefahr zu bringen, weil ich für das Ziel verantwortlich bin und es für sinnvoll erachte. Ich tue das nicht als Maßnahme gegen dich als Person, sondern aufgrund meines Pflichtbewusstseins für das Ziel. Dies bedeutet aber auch, dass wir aus meiner Sicht unser Verhältnis jederzeit normalisieren können, wenn ich von dir wieder die Leistungsbereitschaft bei der Zielverfolgung erwarten kann, die notwendig ist und die ich aufgrund unseres Rollenverhältnisses (schließlich hast du ja einen Arbeitsvertrag und erhältst Gehalt) erwarten darf.« Die Minimalvoraussetzung für eine sozial und ethisch vertretbare Machtausübung liegt also in der Tatsache, dass sie durch die Zielrettung sinnvoller Ziele angetrieben ist und nicht durch die Beschädigung der sich widersetzenden Personen (s. auch 7 Exkurs »Ethische Fragen in der Rechtfertigung von Durchsetzungsstrategien«). Aus Sicht der Führungskraft ist das Thema Durchsetzung auch aus einem anderen Grund immer ein Balanceakt. In jedem Durchsetzungsproblem liegt die innere Ambivalenz: Je unbeeindruckter vom Widerstand der Geführten eine Führungskraft bestimmte Ziele durchsetzt, umso mehr kann sie augenscheinlich in der Zielverfolgung erreichen, aber umso stärker läuft sie Gefahr, die Beziehung zu den Geführten zu ruinieren. Wenn eine Führungskraft hingegen eine möglichst unbeschadete Beziehung zu den Geführten in den Vordergrund rückt, ist dies bisweilen nur möglich, wenn dafür Ziele geopfert werden. Diese innere Ambivalenz bleibt die Ambivalenz der Macht. Wenn man Machtmöglichkeiten voll nutzt, erreicht man
81
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
3
Ethische Fragen in der Rechtfertigung von Durchsetzungsstrategien Selbstverständlich ist die hier gegebene Antwort zur ethischen Rechtfertigung von Durchsetzungsstrategien nicht erschöpfend. Wir haben zunächst nur eine notwendige Bedingung für sozial verträgliches Durchsetzen beschrieben. Die ethisch letztgültige Begründung ist damit selbstverständlich noch nicht
gegeben. Der ethische Begründungszusammenhang repräsentiert sich in den zwei folgenden Fragen: 4 Welche Ziele darf man überhaupt anstreben? 4 Wie weit darf man bei der Verfolgung (bzw. Rettung) dieser Ziele gehen?
unter Umständen sachlich viel, isoliert sich aber persönlich. Wenn man persönlich hoch integriert bleiben will, kann man bestimmte Machtmaßnahmen nicht einleiten und muss dafür Ziele opfern, die man potenziell hätte erreichen können. Führung und Machtausübung beinhalten den ständigen Balanceakt, diese beiden antagonistischen Bedingungen in der Führungsarbeit zu optimieren. Kompetente Führungskräfte können üblicherweise je nach Bewertung der Situation beide Strategien umsetzen. Sie sind emotional unabhängig genug, bei bestimmten Handlungsnotwendigkeiten auch die Beziehungsqualität in ihrem Umfeld zu riskieren, um notwendige Ziele durchzusetzen. Auf der anderen Seite können kompetente Führungskräfte auch aus sozialen Erwägungen heraus bei der Verfolgung vermeintlich sachlich gegebener Ziele Kompromisse machen. Wer grundsätzlich eine der beiden Seiten optimieren will, wird in bestimmten Situationen Erfolgsbegrenzungen erleben.
Die Antworten auf diese Fragen sind selbstverständlich wesentlich komplexer und vieldeutiger, als bislang dargestellt. Diese Diskussion wird in 7 Kap. 11 ausführlicher geführt.
Als Führungskraft braucht man Durchsetzungskraft und Kompromissfähigkeit.
Konkrete Durchsetzungsstrategien Im nächsten Absatz stellen wir den eigentlichen Prozess in der Durchsetzung von Zielen vor. Vorher sei noch angemerkt, dass die praktischen Durchsetzungsprozesse sich in vielen Situationen letztlich nicht so martialisch realisieren, wie unsere Wortwahl möglicherweise zu implizieren scheint. Praktisch gesehen ist die »Erhöhung der Kosten«, die Führungskräfte im Unternehmen ausüben, oft viel subtiler. Eine typisch durchsetzungsorientierte Bemerkung kann folgendermaßen lauten: »Lieber Mitarbeiter XY, ich bin nicht ganz sicher, ob wir das Konzept wirklich so lassen sollten oder ob wir noch einmal eine Überarbeitungs- und Abstimmungsschleife benötigen. Ich könnte mir vorstellen, dass das Konzept im gegenwärtigen Format Irritationen bei der Bereichsleitung hervorrufen könnte.« Auch in dieser Situation hat die Führungskraft im gewissen Sinne »geängstigt«. Sie hat dem Mitarbeiter aufgezeigt, welche möglichen Konsequenzen (»Irritationen bei der Bereichsleitung«) folgen könnten, wenn nicht noch eine Leistungssteigerung erfolgt. Möglicherweise genügt dieser kleine Hinweis, um genug Angst wachzurufen, damit die geforderte Überarbeitung engagiert erbracht wird. Wir sehen also, dass Durchsetzung im Führungsgeschehen ständig an der
Macht wird im Unternehmen vielfach zunächst subtil ausgeübt.
Durchsetzung ist ein integraler Teil der Führungsarbeit.
82
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
. Tab. 3.1 Operative Durchsetzungsstrategien Eskalationsstufen in der Durchsetzung
3
Typisches Verhalten der Führungskraft
Spannung
Krise
Eskalation
Abbruch bzw. Veränderung der Beziehung
Präsenz als Führungskraft erhöhen
Krise definieren oder »ausrufen«
Maßnahmen einleiten
Versetzung des Mitarbeiters
Schnell auf Leistungsmängel reagieren
Sanktionen androhen
Entscheidungen verkünden
Entlassung
Anforderungen und Kritiken expliziter verdeutlichen
Konsequenzen aufzeigen
Konsequenzen einleiten
Veränderung des Aufgaben- und Verantwortungsbereiches
Spannung führt zu ersten Beziehungsbelastungen.
Die Krise wird explizit formuliert.
Tagesordnung ist. Laufend erhöhen Führungskräfte Kosten (oder stellen Kostenerhöhungen in Aussicht), wenn bestimmte Leistungserwartungen nicht erfüllt werden. Führungskräfte nutzen in diesem Sinne die gegebene Macht, um ihre Erwartungen durchzusetzen. Durchsetzung beginnt also keinesfalls mit der Abmahnung oder der Trennungsdrohung. Durchsetzung ist üblicherweise ein viel früherer und integralerer Teil des Führungsgeschehens, der sich nicht auf Extremsituationen beschränkt. Die Möglichkeiten der Führungskraft in der Durchsetzung ihrer Erwartungen spiegeln sich in mehreren, aufeinander aufbauenden Eskalationsstufen wider. . Tab. 3.1 verdeutlicht den schrittweisen Prozess in der Durchsetzung eigener Erwartungen. Der erste Schritt, den man in der Durchsetzung geht, besteht üblicherweise in der Erzeugung einer persönlichen Spannung. Metaphorisch gesprochen liegt »Elektrizität in der Luft«, wenn Führungskräfte beginnen, ihren Mitarbeitern klar zu machen, dass bestimmte Erwartungen nicht ausreichend erfüllt werden oder Kritik an den Vorgehensweisen bei der Zielverfolgung besteht. Diese Spannung geschieht zunächst durch die von der Führungskraft ausgelöste Beziehungsbelastung zum Mitarbeiter. Für viele Mitarbeiter stellt diese Beziehungsbelastung schon »Kosten« genug dar. Auch die Mitarbeiter möchten die Beziehung gerne wieder normalisieren und richten ihr Verhalten entsprechend anders aus. Zum anderen symbolisiert die Spannung auch die Bereitschaft der Führungskraft, sich den gesehenen Problemen wirklich zu widmen, und impliziert bereits, dass eine mögliche Eskalation denkbar ist. Sollte nach diesem ersten Durchsetzungsversuch keine Verhaltensänderung erfolgen, wird die Führungskraft im nächsten Schritt eine Krise herbeiführen. Hier wird dann üblicherweise nicht nur die mangelnde Leistung thematisiert, sondern aus der mangelnden Leistung wird auch explizit eine Krise gemacht. Diese ist natürlich be-
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
drohlicher als eine Spannung (die Aussage: »Das Konzept ist nicht ausreichend gut« könnte der Indikator für eine Spannung sein, wohingegen die Aussage: »Wir haben ein Problem miteinander« eine Krise ausruft). Während in der Phase der Spannung die Drohungen etwas impliziter in der Luft liegen, werden sie in der Krise explizit formuliert. Sollte auch hierdurch keine Verhaltensänderung zu erwarten sein, wird eine machtbewusste und durchsetzungsbereite Führungskraft im nächsten Schritt eskalieren. Das bedeutet, dass die angedrohten Maßnahmen eingeleitet und Entscheidungen getroffen werden, Sanktionen erfolgen und die Machtpotenziale in Handlungen umgewandelt werden. In der Krise wird noch gedroht und geredet, in der Eskalation wird gehandelt. Die letzte Möglichkeit, die dann noch verbleibt, ist es, die Rollenkonstellation und Beziehung zu verändern: Wenn auch durch die Umsetzung der Sanktionen keine Verhaltensänderungen bewirkt werden können, kann dies zu einem Abbruch der Beziehung (in einem Unternehmen wäre es die Kündigung) führen. Denkbar ist auch eine Veränderung der Beziehung in einer Art und Weise, dass in Zukunft von der nicht folgenden Person keine Gefährdung der Ziele mehr ausgehen kann (z. B. Versetzung oder Veränderung der Aufgaben). Die meisten Führungskräfte ziehen diese Karte nicht gern und nutzen den hier beschriebenen Prozess nur dann, wenn die anderen Wege nicht erfolgsträchtig gewesen sind. Natürlich gibt es aber auch Führungskräfte, für die Ängstigen die bevorzugte Führungsstrategie ist. In der hier beschriebenen Diskussion liegt noch eine weitere Erkenntnis: Wer von vorneherein die Nutzung von Macht für sich ausschließt, kann als Führender in Situationen geraten, in denen er seine Ziele nicht gegen Widerstände verteidigen und retten kann. Möglicherweise ist aber der ethische Schaden, der dadurch entsteht, dass potenziell erreichbare gute Ziele nicht erreicht werden können, wesentlich größer, als die ethische Problematik, die Widerständler zu ängstigen oder mit Zwang aufzuhalten. Wer also aus einem falsch verstandenen »Gutmenschentum« heraus Durchsetzung und Zwang für sich ausschließt, macht sich unter Umständen ethisch angreifbar, weil er der Welt einen Nutzen nicht bringt, den er ihr vielleicht hätte stiften können. Zwang und Durchsetzung für sich auszuschließen, macht also nicht unbedingt »ethisch reiner und schuldfreier«, als wenn man gute Ziele auch verteidigt. Wer ja sagt zu dem Thema Führung und damit das Versprechen ausdrückt, Ziele zu verfolgen, die über die Gegenwart hinausreichen, muss die Nutzung von Machtmöglichkeiten einkalkulieren, um für Krisensituationen gewappnet zu sein. > Wer selbstbewusst seine Macht demonstriert oder symbolisiert, kommt seltener in die Notwendigkeit, sie auch exekutieren zu müssen. Insofern kann die gestrenge Demonstra-
83
3
In der Eskalation wird sanktioniert.
Der letzte Schritt der Durchsetzung ist der Abbruch der Beziehung.
Machtausübung ist für viele Führungskräfte nicht die erste Wahl.
Wer führen will, muss einkalkulieren, Zwang und Durchsetzung nutzen zu müssen.
84
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
tion von Macht durchaus ein Frieden schaffendes Mittel sein und ein Disziplinierungswerkzeug, das Konflikte und Gewalt verhindern hilft.
3
Die Vermeidung von Macht macht Menschen nicht notwendigerweise ethischer.
Wir erinnern uns noch aus Schulzeiten daran: Die strengsten Lehrer hatten oft die wenigsten Klassenbucheintragungen oder Disziplinarmaßnahmen und erreichten nicht selten mehr Lehrerfolge. Wir wissen, dass wir das ethische Dilemma von Macht hier nur angerissen haben. Ethisch vertretbar bleibt die Nutzung von Macht nur, wenn verantwortbare Ziele verfolgt werden und die Wahl der Mittel zur Zielverfolgung in einem sinnvollen Verhältnis zum angestrebten Nutzen steht. Der Abwägungsprozess in der Wahrnehmung dieser Verantwortung ist die ethische Herausforderung in der Nutzung von Macht. Die Vermeidung des Einsatzes von Macht lässt einen Menschen aber nicht notwendigerweise ethischer werden, weil hierdurch vielleicht gute Ziele nicht erreicht werden oder (oft noch schlimmer) solche Führenden sich angespornt fühlen, die ihre Macht skrupelloser zu nutzen bereit sind, weil sie wenig Widerstand befürchten müssen.
3.3.3
Initiative und Motivation
Der grundsätzliche psychologische Mechanismus von Motivation und Motiviertheit Heutzutage ist die Bewährungsprobe vieler Führungskräfte ihre kommunikative und motivatorische Kompetenz.
Viele Bestandteile von Führungstrainings betreffen letztlich das Thema Motivation.
Sexualität als Beispiel für eine mächtige emotionale Triebfeder
Wir hatten in den vorangegangenen Abschnitten erläutert, dass die Notwendigkeit der Motivation der Hauptgrund dafür ist, warum es heutzutage so eminent wichtig geworden ist, Führung und Führungskommunikation zu lernen. Den Sinn konnte man früher aus übergeordneten Wahrheiten ableiten. In bestimmte Machtverhältnisse wurde man zumeist hineingeboren. Wir leben heute in einer Zeit, in der sich Führungskräfte kommunikativ bewähren müssen und in der das positive, emotionale Element der Führung eine bedeutende Rolle spielt. Viele Bestandteile klassischer Führungskräfteausbildung (»Die Führungskraft als Coach«, »Konstruktive Gesprächsführung für Führungskräfte«, »Zielvereinbarungs- und Beurteilungsgespräche führen«, »Umgang mit unterschiedlichen Mitarbeitertypen und -persönlichkeiten«, »Partnerschaftliche Konfliktlösung für Führungskräfte« etc.) betreffen letztlich das Thema Motivation, also die Steigerung von Leistungsbereitschaft und -einsatz durch positive emotionale Erlebnisse. Im folgenden Absatz möchten wir zunächst einmal den ganz grundsätzlichen Mechanismus von Motivation erläutern (durch diese Erläuterung klärt sich übrigens auch die in vielen Führungstrainings oftmals etwas fruchtlos und blutleer geführte Diskussion, ob man als Führungskraft »überhaupt motivieren« kann). Im nächsten Schritt zeigen wir die für Führungskräfte in heutigen Unternehmen nutzbaren Motivationsstrategien auf. Unter Motivation wollen wir hier die emotionale Energie verstehen, durch die ein Handeln veranlasst wird. Wenn man den Mecha-
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
85
3
Motivation und Sexualität Die Menschen zu hoher sexueller Aktivität zu »motivieren«, war eine der wichtigsten Erfindungen und Erfolgsstrategien der Evolution. Sexualität sichert durch die Steigerung der genetischen Variabilität unsere Anpassungsfähigkeit und eine ständige Bewegung im »Genpool«. Sich asexuell fortpflanzende Lebewesen produzieren zumeist weniger Variabilität und dadurch weniger Mutationen, die durch besondere Fähigkeiten verbesserte Anpassungsleistungen an Umweltbedingungen ermöglichen. Was hat die Natur nun letztlich getan, damit Sex geschieht? Was hat die Natur getan, um uns Menschen so nachhaltig und nachdrücklich zu sexuellem Verhalten zu motivieren, dass dieses Thema eine so immense Dominanz und Präsenz in praktisch jedem menschlichen Leben hat? Die Natur hat uns drei große Mechanismen geschenkt, die zu dieser Motivation beitragen. Der erste Mechanismus ist ein starker
Sexualtrieb. Die regelmäßige »Aufladung« dieses Triebes ist ein biologisch und hormonell gesteuerter Prozess, der kontinuierlich und weitgehend unbeeinflusst von unserem Willen passiert. Dieser Sexualtrieb ist also die Bedingung in uns selbst, die uns zu sexuellem Verhalten motiviert. Darüber hinaus hat uns die Natur attraktive Verlockungen geschickt, die wir als Ziel zum Ausleben der sexuellen Bedürfnisse auswählen können. Attraktive Verlockungen sind geeignet, den Sexualtrieb in bestimmten Situationen besonders stark zu aktivieren und zu aktualisieren. Als drittes hat uns die Natur einen lustvollen Prozess geschenkt und so den Akt der Sexualität selbst zu einer erstrebenswerten Aktivität gemacht. Alle drei Aspekte stehen in einem dynamischen Verhältnis. Der Sexualtrieb drängt uns zu sexuellen Aktivitäten. Aber es ist nicht die Entladung des Triebes allein, die uns Erfüllung verschafft (sonst wäre Selbstbefrie-
nismus von Motivation verstehen möchte, lohnt es sich, einen Blick auf eine der mächtigsten emotionalen Triebfedern zu lenken, die uns Biologie und Evolution geschenkt haben, die Sexualität. An diesem Beispiel lassen sich die drei entscheidenden Kräfte der Motivation besonders gut ablesen (s. auch 7 Exkurs »Motivation und Sexualität«). Aus dem Beispiel der Sexualität lassen sich die drei wesentlichen Kräfte der Motivation (. Abb. 3.5) ableiten, die auch in anderen Zusammenhängen Gültigkeit besitzen: 1. Innere Dränge und Bedürfnisse. Die erste Kraft, die zur Motivation nötig ist, betrifft innere Bedürfnisse oder Dränge (analog zum Sexualtrieb im obigen Beispiel). Wenn Sie motivierbar sind, muss es etwas in Ihnen geben, das als Bedürfnis ansprechbar ist. Wenn Ihnen nichts wichtig ist, gibt es nichts, was für Sie eine emotionale Belohnung darstellen könnte. Auf das Berufsleben bezogen bedeutet dies, dass die meisten Menschen nicht nur arbeiten, um satt zu werden. Fast alle Menschen haben darüber hinausgehende Erwartungen, Bedürfnisse und Hoffnungen an ihr Berufsleben. Motivation im Berufsleben bedeutet, diese inneren Dränge und Bedürfnisse zu integrieren, d. h. sie mit bestimmten Aufgaben und Rahmenbedingungen zu verbinden. Wer beispielsweise ein hohes persönliches Interesse an neuen Lernerfahrungen hat, wird solche Aufgaben als motivierend
digung ja letztendlich die perfekte sexuelle Aktivität). Der Sexualtrieb energetisiert uns nur. Er richtet sich dann aber auf verlockende Ziele und auf einen lustvollen Prozess. Diese drei Dinge tragen übrigens gewisse gegenseitige Kompensationsmöglichkeiten in sich: Auch wenn der Sexualtrieb zunächst nicht besonders präsent oder aktiviert erschien, so kann die Begegnung mit einem verlockenden Ziel diesen Zustand rasch verändern. Umgekehrt gilt aber auch, dass ein über längere Zeit nicht entladener Sexualtrieb im Allgemeinen bei der Auswahl der Zielobjekte weniger kritisch macht. Ein besonders schöner Prozess oder ein lange nicht entladener Sexualtrieb können wiederum dafür entschädigen, dass das Ziel, das man sich gesucht hat, nicht ganz den Attraktivitätserwartungen entspricht, die man gerne realisieren würde.
Wer motivieren will, muss die inneren Dränge und Bedürfnisse kennen.
86
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
3
. Abb. 3.5 Die Kräfte der Motivation
Wer motivieren will, muss Belohnungen und Kompensationen bereitstellen können.
empfinden, in denen Möglichkeiten zum Lernen bereitgestellt werden. Wer ein hohes Bedürfnis nach sozialem Austausch und Kontakten hat, wird solche Aufgaben als motivierend erleben, die Interaktion und soziale Beziehungen beinhalten. Wer ein hohes Bedürfnis nach Macht und Einfluss hat, wird solche Aufgaben als motivierend erleben, die es ermöglichen, Gestaltungsimpulse zu setzen und eigene Konzepte einzubringen und umzusetzen. Die erste Führungsaufgabe in der Mitarbeitermotivation besteht also darin, diejenigen Kräfte und Dränge herauszufinden, durch die jemand in einer besonderen Weise angetrieben und motiviert wird. Diese Sensibilität mitzubringen, ist eine wichtige Voraussetzung für gute Führungskräfte und einer der Gründe dafür, warum dieses Kapitel mit dem Aspekt »Menschenkenntnis« überschrieben ist. 2. Belohnungen und Kompensationen. Die zweite Kraft der Motivation betrifft die eigentliche Belohnung oder aber die Kompensation (analog zu den attraktiven Verlockungen im Beispiel der Sexualität). Nicht immer ist man als Führungskraft in der Lage, Mitarbeitern nur solche Aufgaben bereitzustellen, die im engeren Sinne als motivierend erlebt werden, weil sie unmittelbar zu einem bestimmten Bedürfnis passen. Immer wieder gibt es ungeliebte Routineaufgaben oder Notwendigkeiten, die emotional keinen Bestätigungscharakter mitbringen. In diesem Fall kann man Belohnungen in einer kompensatorischen Art und Weise bereitstellen. Der damit verbundene »Deal« in der Motivation lautet: »Lieber Mitarbeiter, ich weiß, dass diese Aufgabe an sich für Sie nicht besonders verlockend ist. Wenn ich aber trotzdem auf Ihren unbedingten Einsatz zählen kann, kann ich dies durch folgendes Angebot wieder gutmachen: …«. Selbstverständlich ist diese Art der Kompensation oder Wiedergutmachung oft nicht explizit ausgesprochen, sondern eher Bestandteil eines impliziten Vertrages. Als Mitarbeiter wendet man sich am liebsten Aufgaben zu, die im engeren Sinne deswegen motivierend sind, weil sie unmittelbar zu den eigenen Bedürfnissen passen. Man
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
akzeptiert auf der anderen Seite aber meist, dass es andere Aufgaben gibt, an die man diesen Anspruch nicht anlegen kann, und begnügt sich damit, hierfür durch andere Belohnungen kompensiert zu werden (die typischste und einfachste Kompensation im Wirtschaftsleben ist freilich das Geld). 3. Die Qualität des gemeinsamen Weges. Manchmal kann man als Führungskraft weder durch die Aufgabe und die Rahmenbedingungen, noch durch anderweitige Belohnungen oder Kompensationen motivieren. Die einzige Kraft der Motivation, die immer bleibt, betrifft die Qualität des gemeinsamen Weges oder die Qualität der Zusammenarbeit (in unserer obigen Analogie zur Sexualität ist dies der lustvolle Prozess). Etwas idealisiert könnte man die Botschaft dieses Motivationsaspektes wie folgt formulieren: »Lieber Mitarbeiter, ich brauche deinen Einsatz und deine Bereitschaft für eine schwierige Aufgabe. Ich weiß, dass diese Aufgabe selbst nicht besonders verlockend wirkt und es ist auch klar, dass ich in der gegenwärtigen Situation keine weiteren Anreize oder Belohnungen bereitstellen kann. Ich bin aber bereit, zu überlegen, wie wir den Prozess der gemeinsamen Aufgabenbearbeitung so gestalten können, dass er so angenehm, partnerschaftlich und positiv wie nur möglich verläuft.« Dieser letzte Punkt betrifft die persönliche Beziehungsarbeit zu den Geführten. Alle Aktivitäten, mit denen man sich um Team-Spirit, Arbeitsatmosphäre, gute Beziehungen am Arbeitsplatz, gute Beziehungen zu den Mitarbeitern und um ein unterstützendes und kooperatives Miteinander bemüht, sind letztlich dieser Kraft der Motivation geschuldet. Zusammenfassend funktioniert der Prozess von Motivation also folgendermaßen: Zunächst einmal versuchen Sie als Führungskraft herauszufinden, welche Bedürfnisse und Dränge bestimmte Mitarbeiter treiben. Je passgenauer Aufgaben und Rahmenbedingungen bereitzustellen sind, umso ausgeprägter ist derjenige Zustand, den wir gemeinhin als »Motivation« bezeichnen. Bei denjenigen Aufgaben, bei denen diese Passgenauigkeit nicht herzustellen ist, kompensieren Sie durch die Bereitstellung von Belohnungen. Sie machen eine an und für sich nicht motivierende Aufgabe auf diese Weise zu einer Verlockung. Das ist übrigens auch das Prinzip vieler bonifikationsgestützter Zielvereinbarungssysteme. Die Ziele selbst sind für die Mitarbeiter eher Mühsal als Verlockung. Die in Aussicht gestellte Bonifikation entschädigt aber dafür. Da Sie in vielen Situationen nicht garantieren können, eine dieser beiden Mechanismen nutzen zu können, achten Sie als Führungskraft auch auf die Qualität der Beziehung und versuchen, durch die Beziehungsgestaltung diejenigen emotionalen Erlebnisse zu vermitteln, die für den Mitarbeiter motivierend sind. Gerade wenn es gilt, die Motivation in schwierigen Zeiten aufrechtzuerhalten, kommt
87
3
Wer motivieren will, muss positive Beziehungsqualität stiften.
Der Einsatz für ungeliebte Aufgaben muss kompensiert werden, wenn man motivieren will.
Besonders in schwierigen Zeiten ist positive Beziehungsgestaltung für die Motivation zentral.
88
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Kann man als Führungskraft überhaupt motivieren?
3
Nicht selten ist man in Diskussionen zum Thema Führung mit Aussagen konfrontiert, in denen Führungskräften die Möglichkeit zur Motivation von Menschen generell abgesprochen wird. Menschen seien entweder »aus sich heraus motiviert« oder aber man könne als Führungskraft maximal »Demotivation verhindern«. Wer die Realität genau betrachtet, wird schnell feststellen, dass es für beide Aussagen ausreichende Gegenbeispiele gibt. Wer hat nicht schon frustrierte Mitarbeiter erlebt, die bei einem plötzlichen Führungswechsel zu vorher nie beobachteten Höchstleistungen motiviert waren? Wer hat noch nie erlebt, dass es Führungskräfte gab, die sehr viel emotionalen Enthusiasmus auszulösen in der Lage waren? Oder möchte man ernsthaft behaupten, dass Barack Obama in der Phase seines Wahlkampfs nicht mehr getan hat, als Demotivation zu verhindern? Die Frage löst sich im Prinzip auf, wenn man die drei von uns beschriebenen Mechanismen in der Motivation genau betrachtet: Ein relativ stabiles Element in der menschlichen Persönlichkeit dürften die Dränge und Bedürfnisse sein, die für einen Menschen beson-
dere emotionale Bedeutung und damit motivierende Kraft entfalten können. Diese Dränge verändert man als Führungskraft nicht leicht und schon gar nicht durch aktive Intervention. Diese Dränge verändern sich ggf. durch Reifung und veränderte Lebensphasen, aber in der Regel nicht durch Führungsinterventionen. Eine Fähigkeit, in der sich Führungskräfte klar voneinander unterscheiden, ist die Fähigkeit, die unterschiedlichen Bedürfnisse, die Menschen treiben, sensibel zu erkennen und geschickt mit Aufgaben zu verbinden und diese auf diese Weise zu integrieren. Sie geht natürlich durch ihr aktives Element darüber hinaus, »Demotivation zu vermeiden«. Auch die Fähigkeit, durch eine gute Beziehungsgestaltung zu den Geführten emotionale Energie zu erzeugen, ist aus unserer Sicht mehr als die Vermeidung von Demotivation. Wenn gesagt wird, dass Führungskräfte letztlich nicht mehr könnten, als Demotivation zu vermeiden, ist dies meist eine Begründung für ein eher passivresignatives Umgehen mit dem Thema Motivation. Man rechtfertigt sich vorsorglich dafür, dass man keine positive emotionale Energie
zu erzeugen in der Lage ist. Die Tatsache, dass menschliche Dränge und Bedürfnisse eher ein konstitutionelles Element sind, kann nicht die Begründung dafür sein, als Führungskraft nicht aktiv mit den emotionalen Aspekten der Führung umzugehen. Diese Diskussion zeigt trotzdem einen sehr wichtigen Punkt auf, denn das Körnchen Wahrheit in der ganzen Frage besteht darin, dass die Dränge selbst nicht leicht veränderbar sind: Eine hohe Motivation ist streng genommen auch ein Erfolg guter Personalauswahl. Eine ganz wesentliche Anforderung in der Personalauswahl besteht darin, als auswählende Instanz zu erkennen, durch welche Interessen, Dränge und Bedürfnisse jemand angetrieben wird, um damit vorhersagen zu können, ob die angebotenen Arbeitsbedingungen und Aufgaben eine hohe emotionale Bereitschaft fördern werden. Wenn hier ein deutliches Auseinanderklaffen herrscht, ist das Fehlen dieses Motivationsmechanismus oft nur sehr schwer durch andere Arten von Belohnungen oder die Beziehungsgestaltung nachhaltig zu kompensieren.
der Beziehungsgestaltung zu den Geführten die entscheidende Bedeutung zu (s. auch 7 Exkurs »Kann man als Führungskraft überhaupt motivieren?«).
Konkrete Motivationsstrategien Wer motivieren will, braucht ein Verständnis über emotionale Antreiber.
Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass eine erste Voraussetzung für gelungene Motivation darin besteht, als Führungskraft die entsprechenden Dränge und Bedürfnisse eines Mitarbeiters zu erkennen. Man benötigt also in gewissem Sinne ein »Menschenmodell«, ein Raster möglicher Bedürfnisse, die im Berufsleben prinzipiell betrachtenswert und relevant sind und durch gute Rahmenkonstellationen dort auch befriedigt werden können. Grundsätzlich gibt es viele psychologische Modelle, die hierfür geeignet sind. Auf einer sehr fundamentalen Ebene haben wir eines dieser Modelle bereits in 7 Kap. 2 kennen gelernt. Die vier großen grundsätzlichen Orientierungen (Autonomieorientierung, Beziehungsorientierung, Sicherheitsorientierung und Stimulanzorientierung) sind letztendlich auch vier große
3.3 • Die drei Führungsstrategien: Wie Sie die Führungs-Kräfte praktisch nutzen
89
3
. Tab. 3.2 Typische Bedürfnisse, die berufliche Motivation auslösen Mitarbeiter mit einem hohen Bedürfnis nach …
erleben Aufgaben als besonders motivierend, die …
… Sicherheit und Ordnung
… sehr stark vorstrukturiert sind, sich an klaren Regeln und Abläufen orientieren, wenig konzeptionelle Kreativität und Veränderungsbereitschaft voraussetzen und eher begrenzte Freiheitsgrade bei der Bearbeitung benötigen.
… Anerkennung und Status
… bei erfolgreicher Bewältigung Wertschätzung und Lob versprechen, mit denen man herausgehobene Kompetenzen und Fähigkeiten beweisen kann, die Voraussetzung dafür sind, Symbole und Insignien des Erfolgs zu erhalten und den Aufgabenverantwortlichen von weniger leistungsfähigen Personen differenzieren können.
… Beziehung und Teamarbeit
… in einem gemeinschaftlichen und partizipativen Prozess bearbeitet werden, Kontaktaustausch und Zusammengehörigkeit vermitteln, in der Geborgenheit einer Gruppe bewältigt werden können und Gemeinschaftserlebnisse während des Bearbeitungsprozesses ermöglichen.
… Lernen und Veränderung
… neue Erfahrungen beinhalten, Kontakt mit neuen Horizonten ermöglichen, Abkehr von Bestehendem implizieren und neuartige Erlebnisse vermitteln.
… Macht und Freiheit
… viel Raum für eigene Gestaltungsimpulse lassen, Einflussmöglichkeiten beinhalten, ohne enge Kontrolle und Regularien umgesetzt werden und Entscheidungsund Kreativitätsspielräume bieten.
… Werkstolz und Selbstvergewisserung
… es dem Aufgabenverantwortlichen möglich machen, sich persönlich für das Resultat verantwortlich zu fühlen, die eigene Leistung zu testen und sich vor den eigenen Qualitätsansprüchen zu bewähren und die die Chance beinhalten, eine spezielle Tätigkeit wirklich als »sein Baby« zu betrachten.
… Konkurrenz und Sieg
… einen ständigen Abgleich der eigenen Leistungsfähigkeit mit anderen Personen ermöglichen, in einem wettbewerbsorientierten Kontext angesiedelt sind, eine ständige Rückbestätigung der eigenen Leistungsfähigkeit ermöglichen und ein Risiko beinhalten.
emotionale Antreiber, bei denen man relativ gut sehen kann, welche Aufgaben man als Führungskraft bereitstellen müsste, damit diese als besonders motivierend erlebt werden. Autonomieorientierte Menschen werden Aufgaben als verlockend erleben, in denen sie sich bewähren und ihre eigene herausgehobene Leistungsfähigkeit beweisen können. Beziehungsorientierte Menschen werden Aufgaben als motivierend erleben, die ihnen enge Kontakte und Anschlussmöglichkeiten an andere Menschen bieten. Sicherheitsorientierte Personen werden Aufgaben als verlockend empfinden, die klare Strukturen, Regeln und Sicherheit beinhalten. Stimulanzorientierte Personen werden durch Aufgaben ansprechbar und motivierbar sein, die Neuartigkeit, Veränderungen und Erfahrungsmöglichkeiten beinhalten. Neben diesem Modell gibt es noch viele andere Beschreibungsrahmen, mit denen man mögliche berufliche Treiber kategorisieren kann. . Tab. 3.2 zeigt eine Zusammenstellung derjenigen Bedürfnisse, die im Berufsleben in sehr vielen Konstellationen eine Rolle spielen. Sie eignet sich als praktisches Raster für Führungskräfte, die reflektieren möchten, durch welche Bedürf-
90
3
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Führungskräfte, die sensibel für Bedürfnisse anderer sind, haben gute Voraussetzungen für die Erzeugung von Motivation.
Empathie ist die Grundvoraussetzung für soziale Kompetenz.
Wer motivieren will, muss unterschiedliche Rollen spielen können.
nislage sich ihre Mitarbeiter auszeichnen und welche Aufgaben und Kontexte besonders beachtenswert sind, um eine hohe Motivation sicherzustellen. Als Führungskraft werden Sie ein besonders guter Motivator sein, wenn Sie die Bedürfnisse und Interessen Ihrer Mitarbeiter sensibel identifizieren und die Kreativität mitbringen, Aufgaben und Rahmenbedingungen so zu beeinflussen, dass sie besonders gut zu den vorliegenden Bedürfnisstrukturen passen. Je weniger exakt Ihnen dieses »Matching« gelingt, umso mehr müssen Sie durch anders geartete Belohnungen oder durch die Kraft positiver Beziehungsgestaltung kompensieren. Soziale Kompetenz für Führungskräfte im engeren Sinne betrifft nun ziemlich genau das Spielen dieser Klaviatur. Als eine Grundvoraussetzung für soziale Kompetenz wird in vielen Unternehmen richtigerweise das Thema Einfühlungsvermögen und Empathie betrachtet. Ein gutes Einfühlungsvermögen und eine Sensibilität bedeuten, dass Führungskräfte über eine sichere Deutungskompetenz verfügen, auf welche emotionale Ausgangssituation sie bei bestimmten Mitarbeitern treffen und welche ihrer Handlungen welche emotionalen Effekte auslösen werden. Darüber hinaus bedeutet soziale Kompetenz, sich gegenüber unterschiedlichen Mitarbeiterpersönlichkeiten variabel verhalten zu können. Wenn Sie sich die unterschiedlichen Motivationen aus der obigen Tabelle anschauen, wird auch klar, welche Rolle Sie als Führungskraft jeweils spielen müssen, um eine motivierende Zusammenarbeit sicherzustellen. Für den Sicherheit und Ordnung liebenden Mitarbeiter müssen Sie als Führungskraft ein sehr klarer Orientierungsgeber und Rahmensetzer sein. Für denjenigen Mitarbeiter, dem Anerkennung und Status wichtig sind, müssen Sie ein wertschätzender Bewunderer sein können. Demjenigen Mitarbeiter, dem es um Beziehung und Teamkooperation geht, müssen Sie ein freundschaftlicher Weggefährte sein können. Für denjenigen Mitarbeiter, der nach Lernerfahrung und Veränderung strebt, müssen Sie ein inspirierender und kreativer Visionär sein können. Bei demjenigen Mitarbeiter, der Macht und Freiheit möchte, müssen Sie loslassen können und Gestaltungsfreiräume gewähren. Derjenige Mitarbeiter, der Werkstolz und Selbstvergewisserung benötigt, braucht Sie als fachlichen Sparringspartner, der den Spiegel für inhaltliches Kompetenzwachstum bietet. Für denjenigen Mitarbeiter, dem es um Konkurrenz und Sieg geht, müssen Sie vielleicht auch einmal (metaphorisch gesprochen) das konkurrenzorientierte Geschwisterkind sein können, weil dieser seine Motivation zu Höchstleistungen vor allen Dingen aus dem Wettbewerb bezieht. > Soziale Kompetenz bedeutet für Führungskräfte, für unterschiedliche Mitarbeiterpersönlichkeiten unterschiedliche Rollen einnehmen zu können. Bedeutsam ist die Breite der Beziehungsangebote, die man als Führungskraft machen
3.4 • Der grundsätzliche Wirkmechanismus der Führung: eine Metapher
91
3
kann, und die Fähigkeit, unterschiedliche Bedürfnisse in der Zusammenarbeit erfolgreich zu bedienen.
Natürlich kann es nicht richtig und sinnvoll sein, die erkannten Bedürfnisse auch immer zu bedienen. Manchmal werden inhaltliche Erwägungen oder einfach Kompetenzproblematiken dazu führen, dass man dem nach Anerkennung strebenden Mitarbeiter keine Wertschätzung zuteil werden lassen kann und dem nach Lernen und Veränderung strebenden Mitarbeiter keine neuen Horizonte wird aufzeigen können. Es wurde in diesem Absatz lediglich beschrieben, was prinzipiell der Mechanismus wäre, um in der Zusammenarbeit mit diesen Mitarbeitern emotionale Verlockungen zu erzeugen und sie dadurch zu motivieren. Es wird nicht gesagt, dass es sinnvoll ist, dies auch immer zu tun.
3.4
Nicht immer ist Motivation möglich.
Der grundsätzliche Wirkmechanismus der Führung: eine Metapher
Wenn man jetzt die drei verschiedenen Führungsstrategien (Überzeugen, Motivieren, Durchsetzen) betrachtet, so möchten wir das Wirkprinzip der konkreten und praktischen Führungsarbeit zusammenfassend in einem gut nachvollziehbaren Bild darstellen: Menschenführung ist wie Reiten. Eine der wesentlichen Grundwahrheiten erfolgreichen Reitens ist die folgende Erkenntnis: Das Pferd entscheidet, wie es geritten werden muss. Oder anders gesprochen: Das Pferd legt durch seinen Charakter fest, wie man es am erfolgreichsten reitet. Ob ein Pferd eher »ansprechbar« für Zuckerbrot oder für Peitsche ist, wird durch den Charakter des Pferdes determiniert und nicht durch den Reiter. Gute Reiter erkennen Sie an zwei Fähigkeiten: Zum einen sind gute Reiter sehr sensibel dafür, wie unterschiedliche Pferde adressiert werden müssen, um bei ihnen die maximale Leistungslust zu erzeugen. Zum anderen erkennen Sie gute Reiter daran, dass sie in der Lage sind, unterschiedliche Pferde unterschiedlich anzusprechen (bzw. zu reiten). Je besser sich der Reiter an das Pferd anpasst und auf das Pferd einstellt, umso mehr Leistungsfähigkeit wird er in der Lage sein, wachzurufen. Es liegt übrigens auf der Hand, dass das Einstellen auf sein Pferd nicht gleichbedeutend mit »Wunscherfüllung« ist. Wenn sich ein Reiter in einem Reitwettkampf befindet und sein Pferd plötzlich das Bedürfnis hat, zu grasen, so werden Sie den guten Reiter nicht daran erkennen, dass er diesem Wunsch nachgibt. Sie werden den guten Reiter aber daran erkennen, dass er genau weiß, wie er reagieren muss, damit das Pferd weiter motiviert ist, Höchstleistung zu erbringen. Dieses Beispiel lässt sich gut auch auf das Thema Menschenführung übertragen. Woran erkennen Sie gute Führungskräfte? Gute Führungskräfte erkennen Sie zum einen daran, dass sie sehr sensibel dafür sind, durch welche Bedürfnisse, Interessen, Einstellungen, Sichtweisen und
Das Pferd entscheidet, wie es am erfolgreichsten geritten wird.
Erfolgreiche Führungskräfte sind sensibel und variabel in ihren Ansprachestrategien.
92
3
Kapitel 3 • Führung, Psychologie und Menschenkenntnis – Wie Sie durch Motivation
Führungskräfte wachsen, wenn sie lernen, sich auf unterschiedliche Mitarbeiter einzustellen.
Führung ist nicht notwendigerweise manipulativ.
Hoffnungen sich ihre Mitarbeiter auszeichnen (Menschenkenntnis!). Zweitens erkennen Sie gute Führungskräfte daran, dass sie in der Lage sind, unterschiedliche Mitarbeiter unterschiedlich zu adressieren. Je breiter, reifer, reflektierter und glaubwürdiger Führungskräfte in ihren Ansprachestrategien sind, umso unterschiedlicher dürfen die Mitarbeiter sein, die man ihnen anvertrauen kann. Ihr eigenes Führungspotenzial ist im gewissen Sinne definiert durch die Unterschiedlichkeit von Mitarbeitern, die Sie in einer adäquaten Weise zu adressieren in der Lage sind. Die Aussage: »Herr XY könnte bei uns durchaus Teamleiter werden, wenn wir ihm ein Team von loyalen, unkomplizierten, fleißigen und selbstständigen Mitarbeitern zur Seite stellen« weist auf kein besonders großes Führungspotenzial hin. In unserer Metapher würde die Aussage bedeuten, dass Herr Meier nur sehr ausgewählte Pferde zu reiten versteht. Persönlichkeitswachstum für Führungskräfte beinhaltet die Fähigkeit, sich zunehmend besser auf unterschiedliche Mitarbeiter einstellen zu können und die unterschiedlichen Führungs- und Motivationsstrategien so auszuwählen, zu dosieren und einzusetzen, dass eine hohe Leistungsfähigkeit am wahrscheinlichsten ist. Auf den ersten Blick wirkt diese Beschreibung von Führungsstrategien sehr instrumentell (manche Leute würden vielleicht sogar sagen: manipulativ). Aus diesem Grunde möchten wir einen wichtigen Punkt klarstellen: Manipulation bedingt (im typischen Gebrauch des Wortes) eine eher verdeckte Beeinflussungsstrategie. Diese verdeckte Beeinflussungsstrategie wird gerade deswegen nötig, weil man bei einer offenen Beeinflussungsstrategie oder einer Offenlegung seiner Ziele Widerstand befürchten müsste. Dies ist für das Thema Führung in den meisten Situationen mitnichten der Fall. > Man kann als Führungskraft seine Ziele durchaus offen legen und auch sehr offen damit umgehen, dass man bestimmte Führungsaktionen (Überzeugungsversuche, Anreize, Sanktionen etc.) genau deswegen einleitet, weil man sich davon den größtmöglichen Erfolg im Hinblick auf die gemeinsame Zielerreichung verspricht. Führung ist dem Wesen nach instrumentell, aber nicht im negativen Sinne des Wortes zwangsläufig manipulativ.
Führung ist immer instrumentell.
Wenn Sie einer Rolle zugestimmt haben, in der Sie als Führungskraft bestimmen und beeinflussen, dann ist es Ihre Aufgabe, durch Ihre Handlung einen größtmöglichen erfolgsförderlichen Effekt auf die von Ihnen geführten Personen zu erzielen. Sie können sich nicht mehr dafür entscheiden, ob Sie instrumentell sein wollen oder nicht, Sie sind es sowieso. Jede Ihrer Handlungen hat einen Effekt auf die Geführten. Dieser Effekt kann jetzt entweder leistungsförderlich oder leistungshinderlich sein. Wir würden nun bei der Auswahl der konkreten Führungsstrategie dafür werben, immer Ansätze zu nutzen, die einen möglichst förderlichen Einfluss auf Leistungsfähigkeit und Engagement haben. Das ist selbstverständlich instrumentell (im ersten Kapitel haben wir gesagt: absichtsvoll!). Aber wäre es vernünfti-
3.4 • Der grundsätzliche Wirkmechanismus der Führung: eine Metapher
ger, lieber unbedacht Effekte auszulösen, um sich anschließend davon überraschen zu lassen, ob diese leistungsförderlich oder weniger leistungsförderlich sind? Wäre dies in irgendeiner Art ethischer oder verantwortungsbewusster? Wir stehen dazu, dass Führung ein instrumentelles Geschehen ist. Sie haben als Führungskraft ein Ziel vor Augen und möchten bewirken, dass Kräfte für die Erreichung dieses Ziels erfolgreich gebündelt werden. Wenn Sie sich mit dieser Rolle identifiziert haben, ist es nur logisch, konsequent und vernünftig, dass Sie diejenigen Beeinflussungsstrategien auswählen, die den größtmöglichen positiven Effekt versprechen. Sie brauchen sich an dieser Stelle Ihrer Instrumentalität nicht zu schämen, sondern diese Instrumentalität markiert Ihre Rolle und Ihre Verantwortung. Wenn Sie diese Rolle gut ausfüllen, werden Sie sich gerade dadurch auszeichnen, dass Sie die Bedürfnisse und Interessen der Mitarbeiter in Betracht ziehen und dort, wo es unternehmerisch sinnvoll und möglich ist, Motivation und emotionale Verlockung bereitstellen. Sie tun das nicht aus purer Menschenfreundlichkeit (auch wenn das unehrlicherweise manchmal so vorgespielt wird), sondern aus Erfolgsüberlegungen, aber das ist nun einmal (zumindest in Wirtschaftsunternehmen) Ihre Rolle und Ihre Verantwortung und man wird es Ihnen nicht übel nehmen. Die Alternative wäre lediglich, dass Sie sich weniger um Bedürfnisse und Interessen der Geführten scheren. Das wäre bestimmt keine bessere Führung, die dann realisiert und umgesetzt würde. Wenn Sie als Führungskraft Ihre Ziele nicht offen legen und verdeckt zu beeinflussen versuchen, sind Sie ein Manipulator. Wenn Sie als Führungskraft lediglich eigene oder schlechte Ziele verfolgen oder sogar Ziele gegen die Geführten anstreben, sind Sie ein Verführer.
93
3
Die Auswahl der Beeinflussungsstrategien erfolgt nach dem größtmöglichen Effekt.
Wenn man als Führungskraft nicht instrumentell sein will, wird nichts besser.
> Wenn Sie in der Lage sind, unterschiedliche Menschen so zu adressieren, dass Sie auch bei unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessenlagen, bei unterschiedlichen Sinnhoffnungen und unterschiedlichen Ängsten die erfolgversprechendste Strategie auszuwählen und glaubwürdig umzusetzen in der Lage sind, dann sind Sie jemand mit großem Führungspotenzial.
Das ständige Erweitern und Lernen sinnvoller Führungsstrategien hinsichtlich unterschiedlicher Persönlichkeiten ist das entscheidende Persönlichkeitswachstum für Führungskräfte. Wenn Sie in Ihrem Team einen Mitarbeiter haben, den Sie beim besten Willen nicht zu integrieren verstehen, dann haben Sie in diesem Mitarbeiter Ihren Meister gefunden! Dann haben Sie nämlich genau denjenigen Mitarbeiter identifiziert, der die Grenze Ihres Führungspotenzials markiert (unabhängig davon sind natürlich verschiedene Mitarbeiter sehr unterschiedlich schwierig zu führen). Etwas überpointiert kann man in der Diskussion um unterschiedliche Führungsstrategien auch eine deutsche Volksweisheit bemühen: Wer nur einen Hammer hat, macht jedes Problem zum Nagel!
Der für Sie unführbare Mitarbeiter markiert die Grenze Ihres Führungspotenzials.
95
Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen und Krisen Führungs-Kraft erzeugen 4.1
Psychologische Kompetenzen der Führungskraft im Umgang mit Situationen: Situationssensibilität und Deutungskraft – 98
4.1.1 4.1.2
Prozessschritte in der Erzeugung von Führungsbedarf – 100 Elemente der Deutungskraft von Führungspersonen: Wie werden Situationen erklärt? – 103 Erklärung und Deutung von Situationen durch die Nutzung von Metaphern – 105
4.1.3
4.2
Situation und Ziele – 106
4.3
Von der Krise zur Grausamkeit – 109
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
4
96
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
Die bisherigen Betrachtungen hatten die psychologischen Vorgänge der Führungsbeziehung im Fokus.
4
Führung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern in konkreten Situationen.
Wenn sich alles in die richtige Richtung bewegt, ist kein Bedarf an Führung.
Führungsanspruch erzeugt Widerstand, wenn es kein Problem zu lösen gibt.
Im ersten Kapitel dieses Buches haben wir das Bild von der Skulptur geprägt. Wir haben gesagt, dass man den Tatbestand von Führung nicht wie ein Bild aus nur einer Perspektive erfassen kann, sondern wie eine Skulptur, die man aus unterschiedlichen Anlässen und Interessen aus unterschiedlichen Richtungen betrachten kann. Jeder Blickwinkel ist für sich genommen wahr, aber niemals vollständig. In den bisherigen Kapiteln haben wir Führung vor allen Dingen durch die psychologischen Vorgänge in der Führungsbeziehung beschrieben. Wir haben über die Entwicklung und die Etablierung der Führungsbeziehung geschrieben. Wir haben Angst und Vertrauen als die konstitutiven Elemente von Führungsbeziehungen identifiziert und die unterschiedlichen »Beziehungsverträge« betrachtet, die Führende und Geführte eingehen. Wir haben dann das handwerkliche Element der Führung betrachtet und analysiert, welche Rollen eine Führungskraft einnehmen muss, weil für unterschiedliche Mitarbeitertypen und unterschiedliche Bedürfnislagen unterschiedliche Ansprachestrategien (Überzeugung, Motivation und Durchsetzung) notwendig sind. Die bisherigen Betrachtungen könnten so verstanden werden, als wäre Führung ein Sachverhalt, der in einem luftleeren Raum stattfindet, und als entstünde Führung in erster Linie durch einen psychologischen Prozess. Allerdings fehlt in der bisherigen Betrachtung ein ganz wesentliches und konstituierendes Element für Führung, und zwar die Lage. Beziehungsverträge zwischen Führungskräften und Geführten entwickeln sich nicht in einem luftleeren Raum. Führungs-Kraft entsteht in bestimmten Situationen besser als in anderen. Bestimmte Situationen lösen mehr Führungsbedarf aus als andere. Wenn Sie sich an unsere Ausgangsüberlegungen erinnern, so haben wir Führung als bestimmte Bewegung definiert, die absichtsvoll, zielorientiert und potenziell mächtig ist. Wenn wir in der Metapher der bestimmten Bewegung bleiben, wird deutlich, dass es Bewegungen gibt, die keine Bestimmungsversuche eines Führenden erfordern. Dies ist genau dann der Fall, wenn sich alles in die richtige Richtung bewegt. In diesem Fall hat ein Führender schlichtweg nichts zu tun. Vereinfacht gesprochen könnte man sich ein Team in einem Unternehmen vorstellen, das ausgesprochen kompetent, leistungsfähig, hoch motiviert und nachgewiesenermaßen erfolgreich seine Aufgaben bewältigt und die vom Unternehmen vorgegebenen Ziele erreicht. Wenn dieses Team nun einen neuen Leiter erhält, so ist dieser in keiner besonders guten Ausgangssituation, um sich als große Führungskraft zu empfehlen. Wenn dieser neue Leiter nun mit viel Führungsanspruch Einwirkungsversuche auf das Team unternimmt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass beim Team hierdurch zunächst einmal Unverständnis und vermutlich auch Widerstand wachgerufen wird. Es gibt ja kein Problem zu lösen, für das eine Führungsperson gebraucht würde! In dieser Situation ist also die Etablierung einer Führungsbeziehung eindeutig erschwert.
Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
Dies ist der Grund, warum wir uns näher mit Situationen befassen müssen, in denen Führungsbedarf besteht. Bevor wir uns diesen Situationen zuwenden, ist die Erklärung unserer Perspektive wichtig, aus der wir dieses Thema betrachten werden. Wir könnten einfach Situationen beschreiben, kategorisieren und analysieren, in denen viel Führungsbedarf gegeben ist (unsere gesamten Vorüberlegungen verweisen schon klar auf die Schlussfolgerung, dass es sich um krisenhafte Situationen handeln muss). Allerdings heißt dieses Buch »Psychologie der Menschenführung«. Wenn man ein Kapitel über Situationen schreiben möchte, wird recht schnell folgender Sachverhalt deutlich:
97
4
Führungsbedarf wird durch die Interpretation von Situationen erzeugt.
Psychologisch gesehen gibt es keine Situationen. > Die Situation ist das objektiv Gegebene, der tatsächliche und faktische Tatbestand. Das objektive Äußere ist aber kein psychologischer Sachverhalt. Das objektive Äußere wird erst durch Wahrnehmung und Bewertung zu einem psychologischen Tatbestand.
Erst wenn wir die Situation aus der Perspektive der Wahrnehmung und Bewertung betrachten, sehen wir Einflussmöglichkeiten und Mechanismen, die führungspsychologisch von Interesse sind. Dieses Kapitel wird also davon handeln, wie man als Führungskraft die Situation für Führung nutzbar macht oder inwieweit man einen bestimmten Umgang mit der Situation benötigt, um überhaupt führen zu können. Häufig wird das Thema »Situation in der Führung« aus einer anderen Perspektive beleuchtet. Das Konzept der »situativen Führung« gehört zu den prominentesten Führungskonzepten sowohl in der wissenschaftlichen Betrachtung als auch in der populär geschriebenen Managementliteratur. Üblicherweise wird unter diesem Konzept die (grundsätzlich richtige) Idee verstanden, dass unterschiedliche situationale Erfordernisse ein unterschiedliches Führungshandeln erfordern. Meistens werden in den entsprechenden Konzepten jedoch reduzierte Aspekte der Situation als Ausgangspunkt genommen. Typische Aspekte, die in klassischen, situativen Führungsmodellen im Fokus stehen, sind beispielsweise Qualifikationsgrad und Motivation der Mitarbeiter. Die klassische situative Führung betrachtet also die Situation als etwas objektiv Gegebenes und objektiv Analysierbares und beschreibt dann für diese beiden situationalen Faktoren (Qualifikationsgrad und Höhe der Motivation), welcher Führungsstil der richtige ist. Für eine pragmatische erste Idee können die getroffenen Ableitungen selbstverständlich nützlich sein. Wer sich das führungspsychologische Geschehen jedoch tiefer erschließen will, dem wird sehr schnell die Begrenztheit dieses Ansatzes auffallen: Eine Situation ist führungsmäßig nicht als das objektiv Gegebene interessant, sondern als das, was die Führungsperson aus ihr macht! Die Einflussfaktoren, die bei der Wahl einer richtigen Führungshandlung herangezogen werden müssen, sind deutlich komplexer als Motivation und Qualifikation.
Wie muss man als Führungskraft Situationen interpretieren, um führen zu können?
Klassische Konzepte der »situativen Führung« betrachten Einzelaspekte wie Qualifikation und Motivation.
Situationen sind nicht als objektiver Tatbestand interessant, sondern nur in der Interpretation durch die Führungsperson.
98
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
4.1
Psychologische Kompetenzen der Führungskraft im Umgang mit Situationen: Situationssensibilität und Deutungskraft
Wenn wir Situationen betrachten, betrachten wir ihre Struktur und ihre Veränderung über die Zeit.
Wir hatten in der Einleitung argumentiert, dass es keine objektiven Situationen gibt, sondern psychologisch gesprochen Situationen nur als Produkt unserer Wahrnehmung und unserer Bewertungsprozesse existieren. Wenn wir Situationen wahrnehmen und deuten, nutzen wir grundsätzlich zwei große Dimensionen: Die erste Dimension betrifft die Struktur einer Situation und die zweite Dimension betrifft die Veränderung über die Zeit. Wir stellen uns also zwei große Fragen: 5 Was ist im Augenblick genau zu betrachten? 5 Wie hat sich dieser Aspekt verändert bzw. wie wird er sich verändern?
Strukturelemente einer Situation sind diejenigen Merkmale, die eine Situation jetzt im Augenblick beschreiben.
Wenden wir diese beiden Fragen einmal ganz pragmatisch auf typische unternehmerische Ereignisse oder Fragestellungen an. Der erste Aspekt, also die Struktur der Situation, betrifft die Frage, was genau betrachtet werden muss. Wir wollen uns die Situation einer Firma anschauen. Nun müssen wir überlegen: Was müssen wir betrachten, um die Situation einer Firma anzuschauen? Wir könnten beispielsweise wirtschaftliche Kennziffern heranziehen (dies wäre ein relativ typischer Betrachtungswinkel, um Indikatoren für die Lage einer Firma zu sammeln). Wir könnten genauso gut Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung analysieren, die Kundenstruktur, die Produktstruktur oder aber das Feedback der Kunden. All das könnten Strukturelemente sein, die wir auf die Frage anwenden: Was ist die Situation der Firma? Unweigerlich drängt sich ein zweiter Betrachtungswinkel auf. Wir erkennen nämlich, dass alle Informationen, die wir sammeln, nur dann für uns interpretierbar werden, wenn wir sie auch aus einer Prozessperspektive heraus sehen, also im zeitlichen Verlauf verfolgen. Wir können sie unter dem Blickwinkel betrachten, wie die entsprechenden Indikatoren, die wir uns gesucht haben, in der Vergangenheit ausgesehen haben. Wir können aus dem Verlauf der Vergangenheit und Gegenwart auch eine Prognose über die zukünftige Entwicklung erstellen. Eine Prognose ist immer noch Teil der Analyse. Schließlich ist eine Prognose selbst noch keine Handlungsaufforderung, sondern nur ein analytischer Prozess, der die Entwicklung eines Elements aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit möglichst genau vorhersagt. Wenn wir eine Situation betrachten, sehen wir bestimmte Strukturelemente der Situation (z. B. wirtschaftliche Kennziffern), die wir im Vergleich zu gestern und im Vergleich zum potenziellen Morgen anschauen und interpretieren. Wir haben in der Überschrift zu diesem Kapitel formuliert, dass die erste Fähigkeit eines Führenden im Umgang mit Situationen in der Situationssensibilität besteht. Dieser eigentlich eher ungebräuchliche Begriff markiert für uns die Fähigkeit eines Führenden, eine Situation so wahrzunehmen und zu interpre-
4
Strukturelemente von Situationen sind nur im zeitlichen Verlauf interpretierbar.
Prognosen sind Teile von Analysen und noch keine konkrete Handlungsaufforderungen, Situationssensibilität heißt, eine Situation unter der Perspektive von Führungsbedarf interpretieren zu können.
4.1 • Psychologische Kompetenzen der Führungskraft im Umgang mit Situationen
tieren, dass in dieser Situation Führungsbedarf besteht; das heißt, dass Gefahren oder Möglichkeiten gesehen werden. Ohne die Bewertung einer Situation aus Perspektive von Gefahr oder Möglichkeiten hat diese Situation keinen Platz für Führung. Oder anders gesprochen: Ohne dass eine Situation zur Krise wird, gibt es keine Notwendigkeit für Führung. Wir benutzen hier den Begriff der Krise als Sammelbegriff für solche Situationen, die Gefahren oder Möglichkeiten beinhalten. Wir meinen mit dem Begriff der Krise hier nicht nur die große und existenzielle Krise, sondern auch die tagtäglichen kleineren Krisen und Probleme.
99
4
Ohne Krise gibt es keinen Führungsbedarf.
> Wer führen will, muss in der Lage sein, Situationen als Krise wahrzunehmen! Wer führen will, muss in der Lage sein, aus der Entwicklung der relevanten Strukturelemente der Situation eine Vorhersage über drohende Gefahren oder mögliche ungenutzte Chancen (was letztendlich nur die Kehrseite der Gefahr ist) zu machen.
Beleuchten wir noch einmal unsere anfängliche Frage, welche Strukturelemente von einer Führungskraft analysiert werden können, wenn sie sich mit der Lage der Firma beschäftigt. Wir hatten von wirtschaftlichen Kennziffern geschrieben, von Kundenstrukturen, vom Produktmix, von Kundenfeedbacks oder Mitarbeiterqualifikationen. Bevor nun in einem dieser Strukturelemente ein echter Führungsimpuls gesetzt werden kann, muss eine Führungskraft in der Lage sein, diese Strukturelemente als krisenhaft wahrzunehmen. Man kann als Führungskraft beispielsweise argumentieren, dass im Vergleich zu den wirtschaftlichen Kennziffern der Vergangenheit die Ausblicke für die Zukunft düster sind. Man kann aber genauso argumentieren, dass die Zusammensetzung der Produkte aus bestimmten Erwägungen heraus in Zukunft nicht mehr wettbewerbsfähig oder marktfähig sein wird. Man kann erklären, dass die Mitarbeiterqualifikation für vergangene Herausforderungen passend war, für die Zukunft aber nicht mehr ausreichend sein wird. Auch kann man erläutern, dass aufgrund bestimmter Marktveränderungen und Trends die Kundenstruktur in der Vergangenheit tragfähig gewesen ist, aber dass plausibel ist, dass sie in Zukunft nicht mehr für den Erfolg ausreichend sein wird (z. B. weil es Monopolisierungstendenzen gibt). Bevor man also überhaupt einen Führungsimpuls setzen kann, muss man in der Lage sein, eine Situation aus Perspektive einer Krise zu begreifen. > Wenn man als Führender eine Situation als Krise ausruft, macht man damit zwei wesentliche Aussagen: 5 Es existiert Druck. 5 Es muss entschieden werden.
5 Situationssensible Führungskräfte sind dazu in der Lage, diejenigen Strukturelemente einer Situation wahrzunehmen, entlang derer sich Druck und Entscheidungsbedarf darlegen lassen (hier
Führungsimpulse lassen sich setzen, wenn die Strukturelemente einer Situation krisenhaft gedeutet werden können.
Situationssensible Führungskräfte können diejenigen Strukturelemente einer Situation identifizieren, die sich am ehesten krisenhaft deuten lassen.
100
4
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
Objektive Situationsmerkmale werden erst durch Deutungsleistung zur Krise.
Das spektakuläre Scheitern bestimmter Organisationen zeigt, dass es Führenden manchmal nicht gelingt, Situationen frühzeitig und intensiv genug als Krise zu deuten.
sei noch einmal unser vorheriges Beispiel herangezogen: Ob man als Führungskraft die »Krise« in einer Firma entlang von Wirtschaftskennziffern, Qualifikationen, Kundenorientierung, Produktstrategie, Marktzugang oder anderen Strukturelementen ausruft, ist also eine Frage der Sensibilität der Führungskraft für diejenigen Strukturmerkmale einer Situation, die sich am ehesten dafür eignen, eine Krise auszurufen, durch die Druck und Entscheidungsbedarf begründbar werden). 5 Wir leugnen übrigens nicht, dass es objektive Situationsmerkmale gibt, die die Grundlage für diese Sensibilität bilden. Nichtsdestotrotz werden diese objektiven Situationsmerkmale erst durch die entsprechende Sensibilität und Deutungsleistung zu einer Krise. Wenn Sie in die Geschichte schauen, sehen Sie viele (positive wie negative) Beispiele dafür, dass Führungspersonen einfühlsam dafür waren, welche Situationen sich dafür eigneten, als Krise gedeutet zu werden und wie durch das Ausrufen der Krise Druck und Entscheidungsbedarf für die Geführten verstehbar wurden. 5 Sie sehen aber genauso gut Beispiele dafür, wie scheinbar objektiv vorhandene Situationsmerkmale so lange nicht zur Begründung einer krisenhaften Entwicklung herangezogen worden sind (weil die Führenden nicht den Mut hatten, die Dinge so zu betrachten), dass die Krise letztendlich unabwendbar und zerstörerisch wurde. Wenn Sie beispielsweise an einige der spektakulären Insolvenzen von Großunternehmen denken, so wird in der Rückschau oft deutlich, dass trotz objektiv schon lange vorliegender Probleme die Führungsmannschaft es offenbar nicht geschafft hatte, diese Probleme so krisenhaft zu deuten und zu kommunizieren, dass Druck erzeugt und schwierige Entscheidungen getroffen werden konnten. > Die Sensibilität dafür, welche Strukturelemente einer Situation sich dafür eignen, krisenhaft gedeutet zu werden, ist eine wichtige Führungsleistung.
4.1.1
Prozessschritte in der Erzeugung von Führungsbedarf
Betrachten wir nun den Prozess, durch den Führungskräfte Führungsbedarf erzeugen (. Abb. 4.1). Situationssensible Führungspersonen erkennen, welche Elemente einer Situation potenziell angstauslösend sind.
Situationssensibilität: Angst bzw. diffuses Leiden kann mit Strukturelementen der Situation begründet werden. Der Prozess, wie in einer
Situation Platz für Führung entsteht, lässt sich in drei Schritten beschreiben: Der erste Schritt besteht in der Situationssensibilität einer Führungsperson, die potenziell Angst auslösenden Strukturelemente richtig erkennt. Situationssensible Führende verstehen, welche As-
4.1 • Psychologische Kompetenzen der Führungskraft im Umgang mit Situationen
101
4
. Abb. 4.1 Von der Situation zur Krise: Wie Führungsbedarf entsteht
pekte einer Situation sich zum Ausrufen einer Krise eignen. Wenn Sie an das Kapitel über Charisma zurückdenken, so erinnern Sie sich bestimmt, dass Führung letztendlich immer auf Hilfe zur Angstbewältigung beruht. Insofern muss die Angst in einer bestimmten Situation zunächst einmal entstehen. Möglicherweise werden Sie nun argumentieren, dass es doch einen Unterschied macht, ob es in einer Situation bestimmte, objektiv Angst einflößende Merkmale gibt, oder ob es sich eher um die durch eine bestimmte psychologische Struktur getriebenen Ängste handelt, die wir als Basis des charismatischen Beziehungsvertrages beschrieben haben (Balanceorientierung, Stimulanzorientierung, Autonomieorientierung und Beziehungsorientierung). Bei genauerer Betrachtung erschließt sich hingegen, dass es sich letztlich um einen identischen Mechanismus handelt: Sie können immer nur die Angst fühlen, die latent in Ihnen existiert und damit aktivierbar ist. Die Angst um das eigene Überleben ist beispielsweise in fast jedem Menschen aktivierbar. Die Angst vor Einsamkeit und Näheverlust ist am stärksten in beziehungsorientierten Menschen aktivierbar. Wer als Führender eine Situation zur Krise macht, indem er erläutern kann, warum die Situation lebensbedrohlich ist, wird viele Betroffene erreichen können. Wer als Führender deutlich machen kann, dass die Situation so beschaffen ist, dass Einsamkeit und Beziehungsverlust drohen, erreicht am stärksten die beziehungsorientierten Menschen, weil er diejenigen Strukturelemente der Situation für seine Argumentation genutzt hat, die bei diesen Menschen am anknüpfungsfähigsten sind. In beiden Beispielen jedoch hat der Führende die Leistung erbracht, die Situation als Krise zu deuten. Manchmal kann die Angst erst durch die Situationssensibilität und Erklärungen der Führungsperson überhaupt entstehen. Dies ist übrigens der typische Prozess bei vielen vorausschauend eingeleiteten unternehmerischen Veränderungsprozessen. Hier argumentiert das Management üblicherweise nach folgender Figur: »Heute geht es uns noch gut. Wenn wir aber so weitermachen wie bisher, ohne uns auf bestimmte Zukunftsentwicklungen einzustellen, werden wir morgen erhebliche Probleme bekommen.« Hier wird die Angst erst durch die
Wir können nur diejenigen Ängste empfinden, die latent in uns existieren und damit aktivierbar sind.
Situationssensible Führende nutzen diejenigen Strukturelemente der Situation, die bei den Geführten am anknüpfungsfähigsten sind.
Wenn bei den Geführten schon konkrete Angst vorhanden ist, müssen diese erfolgreich auf Strukturelemente der Situation bezogen werden, um Führungsbedarf zu erzeugen.
102
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
Leistung eines Führenden erzeugt und ist in der jetzigen Situation überhaupt noch nicht konkret, sondern nur latent (also potenziell) vorhanden. Es kann aber auch anders sein. Es kann durchaus vorkommen, dass eine Gruppe von Menschen bereits ein Leiden oder eine konkrete Angst teilt. Die Führungsperson, die in der Lage ist, diese Ängste auf Strukturelemente der Situation zu beziehen und damit als Krise zu deuten (»Es ist Druck! Es ist Zeit für eine Entscheidung!«), schafft die Grundlage für Führung.
4
Die Deutungskraft einer Führungsperson zeigt sich in der Erklärung und Bewertung der Krise.
Deutungskraft: Die Erklärung der Krise. Die nächste Führungsleistung besteht darin, die Situation so zu deuten und zu interpretieren, dass eine für die Geführten nachvollziehbare Erklärung gegeben ist. Diese Deutungsleistung benötigt zwei Schritte: Der erste Shritt ist eine plausible Erklärung, wodurch die Krise verursacht wurde. Der zweite Schritt ist eine nachvollziehbare Bewertung. Diese Deutung einer Krise ist die zweite wichtige Kompetenz einer Führungskraft im Umgang mit Situationen. Führende müssen Situationen unter der Möglichkeit betrachten können, aus ihnen eine Krise zu machen (Situationssensibilität!), und sie müssen in der Lage sein, Ursachen und Ausmaß der Krise erklären zu können (Deutungskraft). Gute Führungskräfte müssen die folgenden zwei Fragen beantworten können, wenn sie den Führungsbedarf einer Gruppe von Menschen verdeutlichen wollen: 5 Wodurch entstehen die Schwierigkeiten? 5 Wie sind diese zu bewerten?
Wir sehen schon, dass diese Situationsdeutung durchaus ihre Freiheitsgrade hat. Je dramatischer man als Führungskraft eine Situation bewertet, umso größer ist die Krise, die man ausruft, und umso stärker wird der Führungsbedarf, den man in dieser Situation auslöst. Totalisierung der Gruppe: Führung wird möglich. Der dritte Prozessschritt besteht nun in der Totalisierung der Gruppe. Mit dem Begriff der Totalisierung bezeichnen wir folgendes Phänomen: Wenn die Schritte 1 und 2 erfolgreich verlaufen sind, gibt es in der Gruppe ähnliche Vorstellungen davon, welche Aspekte der Situation krisenhaft sind, wo ihre Ursachen liegen und wie diese zu bewerten sind. Diffuse und vorher miteinander möglicherweise unverbundene Einzelängste werden nun in einer Gruppe geteilt. Plötzlich hat eine Gruppe eine gemeinsame Vorstellung der folgenden drei Aspekte: 5 Ursache: Wir teilen die Wahrnehmung der Problemursachen. 5 Involvierung: Wir sehen, dass die Krise uns gemeinsam betrifft. 5 Bewertung: Wir teilen die Einschätzung, wie schwierig die Lage ist.
Erfolgreiche Totalisierung einer Gruppe führt zur gemeinsamen Interpretation der Krise.
Erst nach dieser Totalisierung einer Gruppe ist der Platz für Führung wirklich geschaffen.
4.1 • Psychologische Kompetenzen der Führungskraft im Umgang mit Situationen
103
4
Beispiele für misslungene und gelungene Versuche, Führungsbedarf zu erzeugen Betrachten wir nun Beispiele dafür, wie Menschen versuchen, eine Gruppe zu totalisieren, so dass anschließend Platz für Führung entsteht. Ein sehr eingängiges Beispiel betrifft ein Phänomen, das Sie tagtäglich am so genannten »Speakers Corner« in London betrachten können. An dieser Stelle der Stadt breiten unterschiedliche Personen ihre Theorien und individuellen Gewissheiten aus und versuchen, dafür Anhängerschaft zu gewinnen. Wenn Sie etwas darüber erfahren möchten, wie aus Sicht dieser Personen der CIA auf dem Weg ist, die ganze Welt zu beherrschen, wie Aliens unseren Verstand kontrollieren oder warum die Weltwirtschaft schon im nächsten Jahr dem Untergang geweiht ist, werden Sie am Speakers Corner jemanden treffen, der bereit ist, Ihnen genau das zu erklären. Wenn man sich den vorab erläuterten Prozess noch einmal anschaut, dann sieht man, dass die Führungsversuche, die dort vorgenommen werden, genau diesem Prozess entsprechen. Die Personen suchen sich Strukturelemente von Situationen, die sich ihrer Meinung nach dazu eignen, eine Krise wachzurufen (»Wir werden in der Presse über die wahren Vorkommnisse in der Welt belogen«). Dann wird als nächstes eine entsprechende Erklärungstheorie nachgeliefert (»Die CIA manipuliert Journalisten in der ganzen Welt, um ihre Interessen durchzusetzen«). Die Bewertung des Ganzen liegt dann natürlich auf der Hand (»Wenn wir nicht aufpassen, steuern wir einer furchtbaren Alleinherrschaft der CIA über die Welt entgegen«). Das Ziel dieser Bemühungen ist zunächst einmal eine Totalisierung der Gruppe, also das Herstellen einer Interpretation
4.1.2
und Deutung, die allgemein anknüpfungsfähig ist. Üblicherweise scheitern die Beeinflussungsversuche, weil die Strukturmerkmale einer Situation, die betrachtet werden, sowie die Deutungen, die angeboten werden, für eine große Gruppe von Menschen nicht anknüpfungsfähig sind. Im obigen Beispiel bedeutet es, dass die meisten Menschen die Situation nicht als so bedrohlich empfinden und die CIA nicht an der Grenze zur Weltherrschaft erleben können. Somit scheitern die selbst ernannten Welterklärer daran, eine Gruppe so zu totalisieren, dass ein von der Gruppe geteilter und akzeptierter Führungsbedarf entsteht. Ein Beispiel für eine erfolgreich verlaufende Totalisierung einer großen Gruppe ist folgendes politisches Ereignis: Unabhängig von individuellen politischen Überzeugungen und historischen Wahrheitsprüfungen kann die Begründung des Irak-Krieges rein führungspsychologisch als eine vergleichsweise erfolgreiche Totalisierung der USA durch die damalige Bush-Regierung verstanden werden. Betrachten wir einmal die typischen Argumentationsfiguren aus der Perspektive unseres oben beschriebenen Prozesses. 4 Situationssensibilität − Wie ist die Struktur der Situation, die wir betrachten müssen? »Wir beobachten die militärischen Rüstungsanstrengungen im Irak.« − Wie haben sich diese über die Zeit verändert? »Der Irak hat immer schon sehr viele Anstrengungen unternommen, eine angriffsfähige Armee zur Verfügung zu haben. Mit
Elemente der Deutungskraft von Führungspersonen: Wie werden Situationen erklärt?
Um den Prozess der eigentlichen Führungsleistung noch etwas genauer zu erfassen, beleuchten wir im nächsten Schritt die Frage, mit
der Zeit sind immer mehr Bemühungen erfolgt, vor der Weltöffentlichkeit verborgene Massenvernichtungswaffen herzustellen. In Zukunft könnte der Irak dazu in der Lage sein, chemische, biologische oder sogar atomare Waffen herzustellen.« 4 Deutungskraft − Erklärung der Ursachen »Der Irak rüstet auf, um einen Angriffskrieg gegen Israel, gegen Amerika oder gegen die freie Welt führen zu können.« − Bewertung »Von der Führung des Irak geht eine große und furchtbare Gefahr für die freie Welt aus.« Es wird unmittelbar deutlich, warum diese beschriebenen Elemente gegeben sein müssen, damit die Totalisierung der Gruppe wirklich erfolgreich ist. Nur mit diesen Erklärungsmustern war der Führungsbedarf (»Es ist Druck! Es ist die Zeit der Entscheidung!«) so groß, dass Amerika bereit für den Krieg war. Rückblickend sieht man aber auch die Freiheit, die in einer entsprechenden Deutung der Situation liegt: Bestimmte Daten, Vorkommnisse und Entwicklungen im Irak hätten nämlich durchaus auch anders (und weniger radikal) gedeutet werden können. Bei einer weniger radikalen Deutung der kriegerischen Absichten des Irak wäre allerdings die Totalisierung der USA möglicherweise nicht erfolgreich gewesen und es wäre George Bush nicht gelungen, seine Nation in einen Krieg gegen den Irak zu führen.
104
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
. Abb. 4.2 Komponenten einer kritischen Situation
4
welchen Komponenten Führungspersonen Situationen so erklären, dass diese zu einer Krise werden. Damit diese Deutungsleistung überhaupt möglich wird, muss es in einer bestimmten Situation zwei Elemente geben: 5 Es gibt einen Ist-Zustand, der ein kritisches Moment enthält (entweder, weil eine Gruppe dieses Element bereits als kritisch wahrnimmt, oder, weil der Führende es durch seine Erklärungen zu einem kritischen Element umdeuten kann). 5 Es muss einen Soll-Zustand geben, im Sinne einer latenten Sehnsucht, die aktivierbar ist. Dieser muss besser sein als der gegenwärtige oder erwartete Ist-Zustand im Falle des Nichtstuns. Der Soll-Zustand kann entweder eine erfolgreich genutzte Möglichkeit oder Chance betreffen, oder aber eine abgewendete Gefahr (wie bereits zum Einstieg dieses Kapitels erläutert, sind dies aber zwei Seiten einer Medaille. Wenn der Soll-Zustand einen positiveren oder besseren Zustand als den Ist-Zustand der Gegenwart markiert, wäre die Gefahr genau das Verpassen der besseren Zukunft und der möglichen Chancen). Für eine erfolgreiche Deutung einer Situation benötigt man den kritischen Ist-Zustand und einen Soll-Zustand, der der Gegenwart überlegen ist.
Zwischen dem Ist-Zustand und dem Soll-Zustand gibt es nun ein Hindernis. Es gibt irgendeinen Sachverhalt, der es nicht selbstverständlich macht, dass man vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand kommt (. Abb. 4.2). Als Führungskraft benötigt man die Situationssensibilität, das kritische Moment des Ist-Zustandes zu erfassen. Man muss sich zudem auf einen latent vorhandenen Soll-Zustand berufen können, der attraktiver ist als der Ist-Zustand, und man muss die Hindernisse und Bedrohungen auf dem Weg dahin erklären können. Wie aber erklärt man nun diese Bedrohungen? Im Wesentlichen gibt es hier drei Problemtypen mit drei unterschiedlichen Führungsstrategien: 5 Entscheidungsprobleme, 5 Innovationsprobleme, 5 Informationsprobleme.
Entscheidungsprobleme rufen nach einem Wechsel des Vorgehens.
Wenn man als Führungskraft das Hindernis zwischen dem Ist und dem Soll als ein Entscheidungsproblem definiert, so wird man in der Deutung der Krise die folgende Argumentationsfigur benutzen: »Wir haben in der Vergangenheit X getan, wir müssen ab morgen Y tun! Wir müssen uns umentscheiden!«
4.1 • Psychologische Kompetenzen der Führungskraft im Umgang mit Situationen
Wenn man als Führungskraft das Hindernis vor allen Dingen als Innovationsproblem betrachtet, wird man neuartige Wege aufzeigen müssen und dabei folgende Argumentationsfigur heranziehen: »Wir haben in der Vergangenheit folgendes Konzept verfolgt. Wir müssen aber für die Zukunft andere Vorgehensweisen und Strategien finden! Wir müssen uns etwas Neues ausdenken!« Wenn man als Führungskraft das Problem vor allen Dingen als Informationsproblem sieht, geht es um folgende Argumentationsfigur: »Vielen scheint nicht klar zu sein, warum dieses oder jenes geschieht. Wir müssen die Probleme noch einmal sehr differenziert analysieren!«
105
4
Innovationsprobleme rufen nach neuartigen Konzepten.
Informationsprobleme rufen nach besseren Analysen.
> Wenn man nun als Führungskraft den Führungsbedarf, den man in einer Situation erzeugt, auf sich zentrieren möchte, muss man sich folgendermaßen empfehlen: 5 Bei Entscheidungsproblemen: Die Führungskraft empfiehlt sich als mutiger Entscheider. 5 Bei Innovationsproblemen: Die Führungskraft empfiehlt sich als kreativer Innovator. 5 Bei Informationsproblemen: Die Führungskraft empfiehlt sich als kompetente Fachautorität.
Wer als Führungskraft in diesem Sinne in der Lage ist, eine Situation zu erfassen, zu deuten, zu erklären und somit eine Gruppe entsprechend zu totalisieren, hat den Weg dafür geebnet, Führungs-Kraft zu entfalten.
4.1.3
Erklärung und Deutung von Situationen durch die Nutzung von Metaphern
Ein letzter Punkt ist wichtig, um verstehen zu können, wie erfolgreiche Führungskräfte Situationen deuten und erklären. Die eigentliche Deutung hat zunächst einmal immer die Gestalt einer Metapher, also eines bildhaften Vergleichs. Erklärungen gibt es überhaupt nur als Metapher. Damit wir etwas verstehen können, müssen wir einen Tatbestand in anknüpfungsfähige Bilder übersetzen, die zu erfassen wir in der Lage sind. Die gesamte naturwissenschaftliche Modellbildung beruht letztendlich darauf, dass unser Weltwissen in Metaphern (Modelle) überführt wird, die naturwissenschaftliche Vorgänge für uns verstehbar machen. Was wir hiermit meinen, wird durch folgendes Beispiel eingängig: Wenn ein vierjähriges Kind Sie fragen würde, was ein Pfau ist, so würden Sie vielleicht Folgendes antworten: »Ein Pfau ist ein großer Vogel, der seine bunten Schwanzfedern besonders schön aufstellen kann.« Sie sehen, dass diese Erklärung metaphorisch war. Sie haben nämlich den Pfau in ein für ein vierjähriges Kind anknüpfungsfähiges Bild (das Bild des Vogels) übersetzt und dann anhand dieses Bildes die
Verständlichkeit entsteht durch die Übersetzung eines Tatbestandes in anknüpfungsfähige Bilder.
106
4
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
Metaphern werden durch Indikatoren ausgeschmückt und spezifiziert.
Die Metaphern sind verzichtbar, wenn nicht mehr erklärt werden muss. Dann werden die Indikatoren auch direkt verstanden.
Unterschiede erklärt. Erst durch das Bild wurde der Tatbestand für das Kind verstehbar. Nur dann, wenn das Kind schon Vögel kennt, ist die Erklärung anknüpfungsfähig. Im zweiten Schritt einer Erklärung werden Metaphern im Allgemeinen durch Indikatoren ausgeschmückt. Die Indikatoren beweisen, dass das entsprechende Bild zutrifft. Nehmen wir z. B. eine Metapher, die Helmut Kohl seinerzeit prägte, um auf die in Deutschland kontinuierlich abnehmende Wochenarbeitszeit aufmerksam zu machen, das Bild vom »kollektiven Freizeitpark«. Diese Metapher war für jeden einigermaßen politisch Interessierten unmittelbar verständlich. Es war sofort eingängig und evident, was Helmut Kohl uns sagen wollte, und die seiner politischen Richtung verpflichteten Personen empfanden es sicherlich als sehr unschöne Perspektive, dass Deutschland zum kollektiven Freizeitpark mutieren könnte. Um die Richtigkeit des Vergleichs beweisen zu können, benötigt es allerdings Indikatoren. Diese könnten beispielsweise Statistiken über die abnehmende Wochenarbeitszeit gewesen sein. Wenn Führungskräfte nun Situationen erfolgreich erklären, benutzen sie Metaphern, um ihre Deutung verständlich zu machen, und ziehen dann Indikatoren heran, die im Kontext dieser Metapher ihren Sinn erhalten. Betriebswirtschaftliches Wissen ist für Führungskräfte nicht zuletzt auch deswegen wichtig, damit sie in Situationen, in denen sie auf metaphorische Weise Veränderungsbedarf klarmachen, auch die richtigen Indikatoren zur Hand haben. Vereinfacht gesprochen wäre dies beispielsweise die folgende Argumentationsfigur: »Vertrieblich befindet sich unser Produktbereich XY auf dem absteigenden Ast. (Metapher!) Wir haben im dritten Jahr in Folge mehr als 10% Umsatz eingebüßt (Indikator)«. Auf die Metapher selbst kann man natürlich verzichten, wenn der Sachverhalt ohnehin schon von allen so umfassend verstanden worden ist, dass er nicht mehr erklärt werden muss. Viele Führungskräfte vergessen aber, dass Indikatoren für sich genommen keinen Erklärungswert haben, wenn sie nicht auf einer übergeordneten Ebene in ein Gesamtbild eingebettet sind (s. hierzu 7 Fallbeispiel »Die erfolgreiche Herstellung von Führungsbedarf: Analyse eines Beispiels im Detail«).
4.2 Ziele sind überhaupt nur aus dem Verständnis der Ist-Situation heraus als verlockend darzustellen.
Situation und Ziele
Der ein oder andere Leser wird sich möglicherweise gefragt haben, warum wir so lange und so intensiv über die Situation gesprochen haben, aber bislang das Thema »Ziele« noch nicht intensiv betrachtet haben. Rein intuitiv scheint das Thema »Ziele« eigentlich viel früher relevant zu sein und eine konstitutive Rolle für die Führung zu spielen (aus diesem Grunde gehen wir in 7 Kap. 5 noch umfassend auf das Thema ein). Aber beim Lesen dieses Kapitels ist vielleicht auch deutlich geworden, dass bestimmte Ziele ihre mögliche verlockende Kraft nur aus dem Verständnis der Ist-Situation heraus entfalten können.
107
4.2 • Situation und Ziele
4
Die erfolgreiche Herstellung von Führungsbedarf : Analyse eines Beispiels im Detail Im nächsten Schritt wollen wir das bisher Diskutierte in einem Beispiel zusammenfassen, das wir gemeinsam betrachten und analysieren. Nicht selten repräsentiert sich der Prozess der Totalisierung einer Gruppe in Form einer Rede oder Ansprache. Aus diesem Grunde haben wir eine typische Rede im Vorfeld eines Veränderungsprozesses (wir könnten auch sagen einer Krise) gewählt, in der wir alle vorher beschriebenen Elemente wiederfinden werden. Nehmen wir an, der Geschäftsführer spricht zu seiner Belegschaft zum Thema: »Die Lage der Firma«:
» Liebe Mitarbeiter, ich wende mich heute an Sie, um mit Ihnen gemeinsam die Lage unserer Firma anzuschauen. Wir haben nun im dritten Jahr hintereinander unsere Ergebniserwartungen übertroffen und unsere Rendite stärker steigern können, als wir das geplant hatten. Dafür möchte ich Ihnen allen ein herzliches Dankeschön aussprechen und uns alle gemeinsam ermutigen, weiter daran mitzuarbeiten, die Zukunft ebenso engagiert und erfolgreich zu gestalten, wie uns das in der Vergangenheit gelungen ist. « (Im Hinblick auf die rein wirtschaftliche Entwicklung scheint es keine Krise und keinen Veränderungsbedarf zu geben. Diese Strukturelemente der Situation eignen sich also nicht zum Ausrufen einer Krise.)
» Unabhängig von unserer Freude über unseren Erfolg müssen wir aber auch in die Zukunft schauen und uns immer wieder kritisch fragen, ob wir mit unseren gewählten Strategien und Herangehensweisen noch auf dem richtigen Weg sind. « (Aha, es scheint also doch einen gewissen Führungsbedarf zu geben, auf den so langsam hingearbeitet wird.)
» Um Ihnen meine Einschätzung zu verdeutlichen, möchte ich Ihren Blick auf einen speziellen Sachverhalt lenken, der nicht sofort auffällt, wenn man nur die wirtschaftliche Ergebnisentwicklung unserer Firma in den letzten Jahren betrachtet. «
(Unser situationssensibler Geschäftsführer hat offenbar ein Strukturelement in der Situation entdeckt, das sich eignet, aus Perspektive von Führungsbedarf gedeutet zu werden.)
» Als wir vor 10 Jahren mit unserem Unternehmen gestartet sind, hatten wir praktisch nur ein einziges Produkt. Im Laufe der Zeit sind viele weitere Produkte hinzugekommen und wir haben unser Angebot kontinuierlich ausgeweitet. Aufgrund der hohen Kundenorientierung unseres Produktmanagements, unseres Vertriebs und auch unserer Entwicklungsabteilung haben wir mittlerweile eine unglaubliche Vielzahl an Produktvarianten und Produkttypen geschaffen. « (Wir verstehen also nun, dass das betrachtete Strukturelement offenbar die Produktvielfalt ist, die sich im Laufe der Zeit stark erhöht hat.)
» Wenn der augenblickliche Trend weiter anhält – und im Augenblick gibt es nichts, was auf etwas anderes hinweisen würde – wird unsere Ausdifferenzierung eher weiter voranschreiten. Wir sind auf dem besten Weg, von einem Unternehmen mit einer sehr spezifischen Kernkompetenz zu einem bunten Gemischtwarenladen zu werden! « (Hier haben wir die erste Metapher: Wir sind auf dem Weg zum Gemischtwarenladen! Die Wortwahl impliziert bereits: Der Geschäftsführer präferiert spezifische Kernkompetenz und nicht Gemischtwaren.)
» Aus reinen Kundenorientierungsgesichtspunkten ist dieser Prozess sicherlich positiv, ich betrachte ihn aus anderen Gründen dennoch mit Sorge. « (Nun sehen wir eine erste Bewertung der Situation: Es ist offenbar Gefahr im Verzug, der Geschäftsführer macht sich Sorgen!)
» Wir haben nämlich in Zusammenarbeit mit unseren Controllingspezialisten in den vergangenen Monaten viele Analysen über die Frage durchgeführt, was uns die bei
uns gelebte Produktvielfalt kostet. Ich möchte Ihnen an den folgenden Charts einmal verdeutlichen, welche Kostenarten sich alleine durch die hohen Anforderungen, die sich aus unserer Produktvielfalt ergeben, überproportional und teilweise sogar exponentiell entwickeln. … « (Nun folgen die Indikatoren, mit denen bewiesen werden soll, dass der »Gemischtwarenladen« wirklich eine gefährliche Tendenz beinhaltet.)
» Wir haben an den Charts nun gesehen, dass im Augenblick unser Kostenproblem durch unsere rasant steigenden Umsätze aufgefangen wird. Sie haben aber auch gesehen, dass wir bereits im nächsten Jahr einen Zustand erreichen werden, in dem das überproportionale Kostenwachstum an unseren Renditen nagen wird. Jetzt könnte man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass dies einfach ein gewisser Preis für unseren Erfolg und unsere zunehmende Größe ist, den wir bezahlen müssen. Dieser Ansicht bin ich nicht. Ich sehe, dass uns unsere Produktvielfalt in Zukunft komplizierter, träger, bürokratischer und unflexibler machen wird, als es für die Sicherung unseres zukünftigen Erfolgs gut wäre. Möchten Sie von einem flexiblen und fokussierten Gewinnerunternehmen zu einem trägen, bürokratischen und ineffektiv arbeitenden Konzern werden? « (Um Himmels Willen, das wollen wir nicht! Hier gibt es also noch einmal eine Bewertung, die Sache ist wirklich nicht zum Spaßen! Es besteht Druck!)
» Wir werden im nächsten Jahr in einem gemeinsamen Kraftakt die Weichen sehr klar in eine andere Richtung stellen müssen. « (Es ist Zeit für eine Entscheidung!)
» Wir sind alle in unserer Kreativität gefragt, um ohne spürbare Einschränkung für unsere Kunden unsere interne Komplexität abzubauen und zu reduzieren. « (»Wir brauchen Innovation!«)
108
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
» Wir benötigen unser gemeinsames Know-how, um genau verstehen zu können, welche Varianten und welche Vielfalt wir für einen wirklichen Marktvorsprung brauchen und wo unsere wachsende Kompliziertheit in Zukunft vom Markt eher abgestraft wird, wenn wir so weiter machen wie bisher. «
4
(Wir brauchen Informationen!)
» Dieser Ausflug in die Zukunft soll den Stolz auf die erreichten Leistungen nicht schmälern. Bis heute haben wir vieles richtig gemacht, aber genauso, wie wir gestern unseren Erfolg von heute durch unsere
gemeinsamen Kraftanstrengungen vorbereitet haben, so müssen wir heute in einer gemeinsamen Kraftanstrengung den Erfolg von morgen vorbereiten. « (Das heißt also, dass sowohl zukünftige Chancen ergriffen als auch potenziell drohende Gefahren abgewendet werden.)
» Für Ihr Engagement und Ihre Bereitschaft, an dieser Veränderung tatkräftig mitzuwirken, danke ich Ihnen schon jetzt sehr herzlich. « Wenn die Metaphern und Indikatoren, der Druck und die Gefahr für die Gruppe glaubhaft waren, so ist
diese Rede vermutlich dazu geeignet, eine Totalisierung der Gruppe zu bewirken. Wir haben noch einmal alle Elemente gesehen, die man als Führungsperson nutzen könnte, um den Führungsbedarf herauszuarbeiten. Unser Geschäftsführer war sensibel genug, diejenigen Strukturelemente der Situation zu erfassen, entlang derer sich krisenhafte Entwicklungen zeigen lassen können. Er hat die Deutungskraft besessen, diese Entwicklung zu erklären, zu bewerten und so deutlich machen können, dass eine Krise vorliegt, die Entscheidungen notwendig macht.
Es ist eine sehr klare Schlussfolgerung, dass in der Führung nicht nur Ziele wichtig sind, sondern das kritische Moment in der gegenwärtigen Situation konstitutiv dafür ist, dass man mit Zielen etwas anfangen kann. Ein Ziel kann nur dann verlockend sein, wenn es einen Gegenentwurf zu einer ansonsten unattraktiven Entwicklung darstellt. Je mehr Kraft und Anstrengung für die Erreichung eines Ziels aufgebracht werden muss, umso größer muss die Krise sein, damit das Ziel diese Anstrengung überhaupt wert ist (auch die ungenutzte Chance ist ja in diesem Sinne eine Krise). > Viele Veränderungsprozesse funktionieren in Unternehmen auch deswegen nicht so gut, weil nicht klar ist, welche Krise durch den Veränderungsprozess eigentlich bewältigt oder abgewendet werden soll. Das Abwenden einer potenziellen zukünftigen Krise durch heutige Veränderungsprozesse ist argumentativ schwieriger zu vermitteln, als wenn die Krise aktuell schon erlebt wird. Im ersten Fall muss die Angst erst erzeugt werden, im zweiten Fall ist der Leidensdruck oft schon aktiviert, was die Deutung der Krise einfacher macht. Veränderungsprozesse funktionieren nur, wenn man die durch sie abgewendete Krise erklären kann.
Für einen erfolgreichen Veränderungsprozess ist darum die Deutungskraft immens entscheidend, um mögliche krisenhafte Entwicklungen aufzeigen und interpretieren zu können, damit der geforderte Veränderungsprozess als eine Medizin begriffen wird, die die drohenden Schmerzen lindern wird. Führungskräfte, die in schwierigen Veränderungsprozessen eher beschwichtigen oder beruhigen, nehmen der Veränderung Impuls und Momentum. Wenn alles doch gar nicht so schlimm ist, warum sollten sich dann außergewöhnliche Anstrengungen lohnen? Man kann als Führungskraft also auch vor dem Problem versagen, Führungsbedarf zu konstituieren und darauf aufbauend die richtigen Impulse zu setzen! Die nächste Abbildung veranschaulicht die drei wesentlichen Elemente, die man im Führungsprozess benötigt (. Abb. 4.3). Wir wer-
4.3 • Von der Krise zur Grausamkeit
109
4
. Abb. 4.3 Unverzichtbare Elemente des Führungsprozesses
den in diesem Zusammenhang kurz kommentieren, welche »Kurzschlussreaktionen« es in der Führung geben kann, wenn einzelne Elemente nicht ausreichend berücksichtigt werden. Führungsprozesse setzen immer drei Elemente voraus. Es muss einen Ist-Zustand geben, der sich krisenhaft definieren lässt. Es muss eine Führungsaktion geben, die als Lösung der Krise aufgefasst werden kann und auf ein Ziel hinweist. Dieses Ziel muss verlockender sein als die Prognose bei Nichtstun und damit als Fortschreibung des Ist-Zustandes. Es gibt nun in der Führung drei typische Kurzschlusshandlungen: 5 Die Führungskraft fokussiert sich nur auf ihre Führungsaktion und auf das Ziel. In diesem Fall ist das Problem, dass keine Sensibilität für die augenblickliche Situation transportiert wird und damit nicht ganz klar ist, welches Problem durch die Handlung eigentlich gelöst werden soll. In diesem Fall wird man kein großes Veränderungsmoment entfalten können. 5 Es werden nur die Ist-Situation und das Ziel betrachtet. In diesem Fall fehlen die Führungskommunikation und der konkrete Weg. Alle sind sich einig, dass etwas getan werden muss, um das Ziel zu erreichen, aber es kann nicht zu einer effektiven Bündelung der Kräfte kommen. 5 Es werden nur Ist-Situation und Führungsaktion betrachtet. In diesem Fall fehlt die Orientierung, die ein gutes Ziel bietet. Die Situation erscheint verwirrend und komplex, das Verhalten ist aktionistisch, aber es gibt keine wirkliche Klarheit.
4.3
Führungsprozesse funktionieren nur, wenn Ist-Zustand, Führungsaktion und Ziel gemeinsam betrachtet werden.
Von der Krise zur Grausamkeit
Möglicherweise wird Ihnen beim Lesen der vorherigen Abschnitte immer wieder folgender Gedanken gekommen sein: Der Prozess, den
Die Deutung von Krisen enthält Spielraum für Manipulation.
110
4
Kapitel 4 • Führung, Gefahr und Veränderung – Wie Sie durch das Verstehen von Problemen
Extreme Deutungen machen moralisch fragwürdige Führungsaktionen legitimierbar.
Sehr extreme Totalisierungen von Gruppen basieren manchmal auf Lügen und Täuschung.
Es gibt aber auch positive Beispiele für extreme Totalisierungen.
wir beschreiben, scheint einen großen Spielraum für Manipulation zu beinhalten! Wenn die Basis von Führungs-Kraft in der Deutungsleistung des Führenden liegt, aus einer Situation eine Krise zu machen, dann scheinen wir zu implizieren, dass man auf jeden Fall krisenhafte Entwicklungen verargumentieren und beweisen muss, wenn man erfolgreich Führungs-Kraft entfalten will. Zu diesem grundsätzlichen Gedanken stehen wir. Ohne große Krisen gibt es keine großen Führungen! Sie können nur dann aus Krisen herausführen, wenn Sie diese zu deuten und zu interpretieren verstehen. Dadurch, dass wir am Anfang schon gesagt haben, dass es im psychologischen Sinne keine objektiven Situationen gibt, sondern immer nur gedeutete und bewertete Situationen, führt nun auch kein Weg daran vorbei, dass man Deutungskraft für Situationen aufbringen muss, wenn man Führungs-Kraft entfalten will. Dieser Prozess an sich ist weder gut noch schlecht, sondern (ob es einem gefällt oder nicht) der psychologische Mechanismus, der den Boden für Führung bereitet. Es soll aber kein Zweifel daran gelassen werden, dass dieser Prozess auch von vielen schlechten Führern in einer zwar erfolgreichen, aber moralisch höchst fragwürdigen Weise ausgenutzt wurde. Die Weltgeschichte hält genug Beispiele dafür bereit, wie es Führungspersonen gelungen ist, durch das Heraufbeschwören extremer Krisen die zu führenden Menschen in eine Totalisierung zu treiben, in der ausgesprochen fragwürdige Handlungsweisen plötzlich akzeptabel geworden sind. Dass es genug Führungspersonen gab, die bei der Auswahl und Umdeutung der Fakten, mit denen die Krise begründet worden ist, nicht gerade rechtschaffen oder zimperlich umgingen, ist unbestritten (die Aussage: »Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen« resultiert aus einer ganz bestimmten Deutung einer Situation, die eindeutig auf falschen Fakten basierte). Wir erinnern uns an Sektenführer, die es geschafft haben, ihre Anhänger in einen kollektiven Selbstmord zu treiben. Wir können uns hier nur ausmalen, welche Deutungen und Erklärungen nötig waren, um eine derart extreme Totalisierung einer Gruppe bewirken zu können, aber es ist unmittelbar evident, dass es extreme Deutungen über die Lage brauchte, um so eine Entscheidung zu begründen. Auch wenn wir hier die eigentlichen Argumentationsfiguren nicht zitieren, so können wir doch recht sicher sein, dass man sich weit von für die Allgemeinheit plausibel beweisbaren Fakten entfernen muss. Extreme Anstrengungen, die man als Führungsperson einer Gruppe abverlangt, benötigen auch extreme Krisen und extreme Totalisierungen, im Guten wie im Schlechten! Als Churchill im englischen Parlament nur »Blut, Schweiß und Tränen« versprach, hatte er eine Krise ausgerufen, in der es um nicht weniger ging als um den Erhalt der freien Welt und die Rettung der Menschlichkeit. Diese Deutung der Situation machte es möglich, der britischen Nation eine riesige Anstrengungsleistung in einem Krieg gegen Adolf Hitler abzuverlangen und das Land in diesem Sinne zu totalisieren. Diese Totalisierung mag uns als positives Beispiel in Erinnerung bleiben,
4.3 • Von der Krise zur Grausamkeit
weil sie vermutlich nötig war, um die Nation auf die Opfer einzuschwören, die für ein Eindämmen des Nationalsozialismus erbracht werden mussten. Direkt auf der anderen Seite sehen wir Beispiele für die schrecklichsten Totalisierungen, die Führer vollbracht haben. Damit das »Auslöschen der jüdischen Rasse« im Nationalsozialismus überhaupt ein anknüpfungsfähiges Ziel für viele Menschen werden konnte, musste die Gegenwart durch das Horrorszenario eines nach unrechtmäßiger und grausamer Weltherrschaft strebenden Judentums beschrieben werden. Hitler musste die Gegenwart als eine Zeit der Entscheidung definieren, in der entweder die »Herrenrasse« die ihr zugedachte Weltherrschaft übernimmt oder aber das Judentum dieses Ziel erreicht. Ohne dass die Situation in dieser Weise als Krise gedeutet worden wäre, wäre das Ziel der Auslöschung des Judentums niemals anknüpfungsfähig gewesen.
111
4
Die Ideologie des Nationalsozialismus benötigte extrem krisenhafte Zukunftsszenarien, um die eigenen Ziele anknüpfungsfähig erklären zu können.
> Die Extremisierung, Intensivierung und Radikalisierung von Situationen ist die Conditio sine qua non für die grausamen und dunklen Führenden. Nur wenn die Krise existenziell und allumfassend ist, werden plötzlich auch grausame Wege anknüpfungsfähig, legitimierbar und für viele Menschen akzeptabel.
Man sieht unmittelbar, dass diese Prozesse nicht nur durch Ziele funktionieren, sondern erst durch eine radikale Deutung der Ist-Situation möglich werden. Führer werden zu Verführern, indem sie Deutungen der Situation anbieten, die sich weit von der Faktenlage entfernt haben, um dadurch Ziele anknüpfungsfähig zu machen, die andernfalls niemals als attraktiv oder erstrebenswert betrachtet worden wären. Leider gilt der Prozess im Guten wie im Schlechten. Insofern kann man ihn aber nicht grundsätzlich kritisieren. Moralisch kann man Führungskräfte für die Ziele kritisieren, die sie anstreben, und für die Mittel, die sie bei der Verfolgung dieser Ziele einsetzen. Die Tatsache, dass am Beginn jeder Führung zunächst einmal eine zur Krise umgedeutete Situation und eine in diesem Sinne totalisierte Gruppe stehen muss, ist ein psychologisches Faktum und kein moralisch zu bewertender Tatbestand.
Die Totalisierung von Gruppen ist für Führung notwendig – im Guten wie im Schlechten.
113
Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende und verlockende Ziele Führungskraft erzeugen 5.1
Über den Charakter von Zielen – 115
5.1.1 5.1.2
Thesen über das wahre Wesen von Zielen in der Führung – 115 Über die Missverständnisse vieler typischer Zielvereinbarungssysteme – 118 Das 3-V-Modell der Zielkriterien: Kriterien von Zielen, die FührungsKraft auslösen können – 120
5.1.3
5.2
Ursprung und Arten von Zielen – 121
5.3
Ziele und Delegation – 124
5.4
Ziele in der Politik – 126
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
5
114
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
Nach der Deutung einer Situation als Krise muss man ein verheißungsvolles Ziel in Aussicht stellen können.
5
Führen mit Zielen gehört zu den fundamentalsten Management-Techniken.
Die typischen SMART-Kriterien guter Zielsysteme vergessen einige relevante Aspekte.
Fassen wir noch einmal zusammen: Wenn Führungskräfte eine Situation als unvollkommen, d. h. krisenhaft wahrnehmen und darstellen können, ist dies der Ausgangspunkt eines jeden Führungsprozesses. Nur Gegebenheiten, die als unvollkommen wahrgenommen werden, bedürfen der Führung. Als nächsten Schritt gilt es, eine Antwort auf die Krise zu geben, eine Verheißung, eine Erlösungshoffnung, eine Verbesserung oder – mit anderen Worten – ein Ziel. Allein die Wahrnehmung und Benennung der Krise reicht nicht aus, Geführte langfristig an sich zu binden. Führungs-Kraft entfaltet sich erst dann, wenn Sie anderen bildhaft aufzeigen können, was die Zukunft potenziell bereithält und was letztlich das Ziel der damit verbundenen Anstrengungen und Bemühungen sein wird. Wir betrachten in diesem Kapitel unsere Skulptur der Führung aus einer weiteren Perspektive: Haben wir zunächst die charismatischen Führungsbeziehungen, die praktischen Führungsstrategien und die Krise als Ausgangssituation von Führung fokussiert, beleuchten wir nun die Frage, wie Führungskräfte durch Ziele Führungs-Kraft entfalten und verstärken können. Da Ziele so offenkundig und unwidersprochen ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil von Führung sind, gehört das Thema »Führen mit Zielen« ohne Zweifel zu denjenigen Führungsthemen, zu denen am meisten publiziert worden ist. Das Thema »Management by Objectives« war schon eine historisch gesehen recht früh detailliert ausgearbeitete Managementtechnik. Diese Technik hat viele weitere Autoren animiert, in einer ähnlichen Manier weitere Führungstechniken als innovativ zu reklamieren und es entstand gerade in den 70er- und 80er-Jahren eine Fülle von Managementliteratur, die mit »Management by …« begann. »Management by Objectives« ist die einzige Technik, die nachhaltig überlebt hat, die in der Sinnhaftigkeit ihrer Grundgedanken niemals wirklich in Frage gestellt worden ist und die bisweilen fast schon wie ein Synonym für Führung verstanden wird. Nichtsdestotrotz ist die in vielen populärwissenschaftlichen Ratgebern proklamierte Anleitung zum Umgang mit Zielen nicht selten recht blutleer geworden und beschränkt sich bisweilen auf recht theoretisch anmutende Diskussionen rund um das Thema Messbarkeit und Ausgestaltung von Zielvereinbarungsformularen. Im ersten Teil dieses Kapitels möchten wir darum einen Gegenentwurf zu den vielen wenig inspirierenden SMART-Darstellungen typischer Führungsratgeber beginnen (SMART kennzeichnet bei vielen Autoren die Kriterien guter Ziele, die – den Buchstaben von SMART entsprechend – spezifisch, messbar, anspornend, realistisch und terminiert sein müssen). Wir werden zeigen, dass die wirklich relevanten Kriterien für Ziele in vielen eher kochrezeptartig verfassten Managementratgebern oft noch nicht einmal berührt werden. Im zweiten Teil dieses Kapitals werden wir genauer auf die Frage eingehen, woher eigentlich Ziele kommen, die eine verlockende Kraft für die Geführten haben können. Im nächsten Schritt werden wir einige konkrete Empfehlungen zur praktischen Führungsarbeit mit
5.1 • Über den Charakter von Zielen
115
5
Zielen geben. Hierbei geht es uns weniger um das Thema der Setzung von Jahreszielen, sondern um den täglichen Prozess der Aufgabenund Zieldiskussion, der meistens unter der Überschrift »Delegation« diskutiert wird. In diesem Teil des Kapitels wird auch deutlich werden, warum viele Zielsysteme, die Unternehmen für sich entwickeln, in ihrer praktischen Umsetzung eher Lästigkeit als Wirksamkeit erzeugen und in ihrer Akzeptanz weit hinter den ursprünglichen Hoffnungen bei der Einführung zurückbleiben. Abschließend werden wir noch einen kurzen Ausflug in die Politik unternehmen und unsere bis dahin formulierten Überlegungen auf die Realität in der politischen Zielbildung anwenden. Unsere politische Diskussion in Deutschland zeichnet sich gerade durch das Fehlen großer gemeinsamer Ziele aus, durch die – wie Bundespräsident Roman Herzog es sich seinerzeit gewünscht hätte – »ein Ruck« durch Deutschland gehen könnte. Bei genauem Hinsehen wird aber deutlich, dass dies nicht nur durch ein Versagen oder mangelnde Inspirationskraft unserer Politiker begründet werden kann, sondern aus einem größeren Kontext heraus verstanden werden muss.
5.1
Über den Charakter von Zielen
Die Tatsache, dass Führung Ziele braucht, ist in allen vorherigen Kapiteln aus einer unterschiedlichen Perspektive heraus betrachtet worden. In 7 Kap. 1 haben wir erklärt, was Führung als »bestimmte Bewegung« von zufälliger Beeinflussung unterscheidet, und dass dieses Unterscheidungsmerkmal das Absichtsvolle und Zielorientierte ist. In 7 Kap. 2 haben wir gesehen, dass der charismatische Beziehungsvertrag bedingt, dass Sie eine Hoffnung oder Verheißung anbieten können, die bei den Geführten über Angstbindungskraft und Anknüpfungsfähigkeit verfügt. In 7 Kap. 3 haben wir herausgearbeitet, dass Ziele ein zentrales Element der Sinnstiftung sind, also desjenigen Mechanismus, durch den Führung auf der rationalen Ebene wirken kann. In 7 Kap. 4 haben wir argumentiert, dass sich Ziele immer aus der Krise oder der Unvollkommenheit einer Situation heraus entwickeln oder ergeben. Wenn klar wird, welche Strukturmerkmale einer Situation von einem Führenden krisenhaft gedeutet werden, so ergeben sich erste Ziele und Lösungsangebote (als Gegenentwurf zur Krise) logisch aus dieser Deutung.
5.1.1
Thesen über das wahre Wesen von Zielen in der Führung
Im folgenden Abschnitt möchten wir einige Thesen darstellen, durch die der Charakter und die Gestalt von Zielen in der Führung näher erläutert werden. Mit diesen Überlegungen möchten wir deutlich ma-
Führung braucht Ziele.
116
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
chen, dass Ziele mehr sein müssen als die einfache Definition eines numerischen Indikators (»Das Ziel ist 7,5% mehr Umsatz«): Ziele werden zunächst als Wunsch oder Sehnsucht erlebt und nicht als Zahl oder Indikator.
Ziele sind zunächst ein inneres Erlebnis oder ein Gefühl. Wenn Sie sich persönlich fragen, wie Sie Ziele zu erleben beginnen, so wird klar, dass ein Ziel zunächst einmal als Sehnsucht und als Wunsch erlebt wird. Damit ist es unter Umständen noch nicht sprachlich präzisiert und benannt. Wir haben schon im dritten Kapitel argumentiert, dass die in vielen unternehmerischen Zielsystemen geforderten Verobjektivierungen, Spezifizierungen und Messbarmachungen oft als Synonym für das eigentliche Ziel verstanden werden und den Rang eines Ziels angenommen haben. Dieser Fetischismus auf der Suche nach präzisen Messmöglichkeiten verdrängt, dass eine Zahl immer nur ein Indikator für das Ziel sein kann und niemals das Ziel selbst. Ein eigentliches Ziel ist bildhaft und erlebnishaft. Eine Zahl, die nicht mit einer Sehnsucht, einem Wunsch oder einem Bild der Zukunft verbunden werden kann, ist in diesem Sinne kein Ziel.
Man kann sich für die Zukunft nur etwas wünschen, was man als inneres Erlebnis schon kennt.
Ziele sind Wiederholungen der Vergangenheit. Auf den ersten Blick wirkt dieser Satz sehr kontraintuitiv. Ziele beziehen sich ja offenbar auf die Zukunft. Man kann sich aber für die Zukunft nur etwas wünschen, was man kennt. Man kennt das, was man sich wünscht, entweder als Mangel der Vergangenheit oder als einen positiven Zustand der Vergangenheit. Ziele wiederholen damit das in der Vergangenheit Erlebte oder das in der Vergangenheit offen Gebliebene. Visionen sind in diesem Sinne immer »alte Bekannte«: Nur die Dinge, die man in der Vergangenheit als Mangel oder als positiv erfahren hat, können dazu führen, dass wir uns nicht damit abfinden, sie vermissen zu müssen!
Zielsetzungen sind bewusste Vereinfachungen und Konzentrationen.
Alles Unvollkommene kann zum Ziel werden, wenn man sich darauf fokussieren kann. Bei der Betrachtung der Situation muss sich eine
5
Unser Minimalziel ist das Weiterleben.
Führungskraft konzentrieren und Prioritäten setzen. Er muss diejenigen Strukturelemente herausfiltern, durch die eine krisenhafte Entwicklung belegt werden kann. Genauso ist es bei Zielen: Alles, was uns an Unvollkommenem umgibt, kann prinzipiell zum Ziel werden. Eine gelungene Zielsetzung ist aber immer eine Prioritätenbildung, eine Konzentration, eine bewusste Vereinfachung auf einzelne Aspekte, die man sich aus einem Meer potenziell unvollkommener Zustände herauspickt. Wer nicht in der Lage ist, viele Unvollkommenheiten auszublenden, um sich erfolgreich auf einige wenige zu konzentrieren, wird nicht handlungsfähig. Wer nicht vereinfachen kann, kommt nicht voran. Es gibt kein zielloses Leben. Wenn wir auf die Welt kommen, haben wir alle zumindest schon einmal das minimale Ziel des Weiterlebens. Alles darüber Hinausgehende sind Ausdifferenzierungen, Konkretisierungen und Vereinfachungen.
5.1 • Über den Charakter von Zielen
Ziele sind Ausdruck unserer Persönlichkeit. An den Wünschen und
Hoffnungen eines Menschen erkennen Sie dessen Persönlichkeit. Wenn Sie wissen, was dieser Mensch als unvollkommen empfindet und was er sich stattdessen wünscht und aus seiner Sicht noch nicht hat, dann können Sie diesen Menschen verstehen. Auf diese Weise können Sie einen Menschen übrigens auch aus seinen Lügen verstehen, denn diese Lügen enthalten in gewissem Sinne Ziele, Wünsche und das, was man vermisst und was in diesem Sinne sehnsuchtsvoll die Lüge motiviert. Niemand lügt »einfach nur so«, sondern die Lüge zeigt auf, was der lügende Mensch lieber hätte als die Wirklichkeit, die er vorfindet. Lügen enthalten in diesem Sinne immer ein Stück Wahrheit: Der Lügner offenbart durch die Lüge seine wahren Ziele. Zur Führungskraft wird man durch den Verwirklichungskampf um seine Ziele. Führungskraft kann man nur werden, wenn man sich nicht
abfindet mit der Unvollkommenheit bestimmter Zustände und sich nicht einrichtet in dem Status quo. Als Führungskraft führt man einen Verwirklichungskampf und ringt um das, was potenziell sein könnte, aber noch nicht ist. Als Führungskraft muss man sich trotz der Gefahr des Scheiterns (die umso größer ist, je größer die Ziele sind) nach vorne orientieren können und Hoffnung spenden. Anknüpfungsfähig sind Führungskräfte genau dann, wenn ihre Ziele auch bei anderen Menschen das »Sich-nicht-abfinden-Wollen« aktivieren können und der Verwirklichungskampf gemeinsam geführt wird.
117
5
Menschen können Sie durch ihre Wünsche und Ziele verstehen.
Nur wer sich nicht einrichtet in dem Status quo, kann Führungskraft sein.
Führungs-Kraft entfaltet sich durch den Glauben an das Gelingen. Je größer die Ziele sind, umso stärker muss der Glaube an das Gelingen ausgeprägt sein, denn umso mehr Kraft und Anstrengungsleistung muss gegen die Widrigkeiten und Unwägbarkeiten des Weges aufgebracht werden. Große Führungspersönlichkeiten müssen in einem noch viel stärkeren Ausmaß der Gegenwart trotzen können und diese Hoffnung repräsentieren können. Motivierende Führungskräfte besitzen die Fähigkeit, an die Realisierbarkeit ihrer Ziele zu glauben, und sie repräsentieren die Hoffnung, dass das Schicksal schon irgendwie mitspielen wird. Unsere eigene Kultur und die gesamten kulturellen Leistungen der Menschheit waren einmal Ziele in der Vorstellungswelt von Führungspersönlichkeiten. Alles, was wir heute haben, waren einmal Ziele, die Führungskräfte hatten. Deren Führungs-Kraft reichte aus, die damalige Gegenwart überschreiten zu können. Ohne in diesem Sinne visionäre Führende wäre auf der Welt bisher noch nichts Bedeutendes geschaffen worden.
Große Führungspersönlichkeiten repräsentieren die Hoffnung, dass die Zukunft formbar ist.
In den Zielen vermittelt sich der Entwicklungsstand einer Führungskraft. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, welche Führungskräfte wel-
Junge und alte Führungskräfte haben unterschiedliche Arten von Zielen.
che Ziele verfolgen, sehen sie, auf welchem Entwicklungsstand sich diese befinden. Junge Führungskräfte haben Ziele, die stark von ihren Vorbildern geprägt werden. Junge Führungskräfte möchten so sein wie XY, so viel schaffen wie YZ oder aber besser sein als ABC. Reife
118
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
Führungskräfte haben differenziertere und präzisere Ziele. Sie können die Unvollkommenheit der Gegenwart spezifischer konkretisieren und erklären. Ältere Führungskräfte haben bescheidene und in diesem Sinn realistische Ziele, die ihr Lebenswerk vervollständigen.
5.1.2
5
SMART-Kriterien sind praktisch nützlich, aber unvollkommen.
Obere Führungskräfte können durch Wirtschaftlichkeitskennziffern oft recht gut beurteilt werden.
Auf unteren Hierarchieebenen gelingt meist keine wirklich erschöpfende Beurteilung durch objektiv messbare Kennziffern.
Über die Missverständnisse vieler typischer Zielvereinbarungssysteme
Wir sehen aus dieser Thesensammlung, dass Ziele, wenn man sie in ihrem Potenzial für die Entstehung von Führungs-Kraft verstehen möchte, deutlich über Aussagen hinausweisen, wie sie in den indikatorgetriebenen Zielsystemen vieler Unternehmen vorkommen: »Im nächsten Jahr sind die Kosten um 3% zu reduzieren.« In vielen typischen Zielvereinbarungssystemen wird verlangt, dass Ziele in diesem Sinne SMART zu sein haben (s. o.). Natürlich sind diese Kriterien in der ganz praktischen Formulierungsarbeit nützlich. Wir glauben aber, dass einer guten Führungsarbeit mit Zielen noch andere Überlegungen vorausgehen müssen, damit Ziele entstehen, die als sinnvoll (interessanterweise ist die Forderung nach sinnvollen Zielen kein SMART-Kriterium) und anknüpfungsfähig für die Geführten wahrgenommen werden können. Man kann natürlich mit SMART-Zielen dieser Art Menschen steuern und bonifizieren, aber auch nerven und entmündigen. Um dies zu verdeutlichen, seien an dieser Stelle die typischen Missverständnisse aufgeführt, die die Arbeit mit Zielsystemen in vielen Unternehmen zu einem ungeliebten Prozess werden lassen. Das SMART-Kriterium der »Messbarkeit« wird zu überzogen interpretiert. In vielen Unternehmen bestehen recht strenge Vorgaben dar-
über, wie Ziele formuliert sein müssen, damit sie in engerem Sinne »messbar« sind. Messbarkeit bedeutet, dass idealerweise eine Controlling-Kennziffer existiert, durch die sich das Ziel abbilden lässt. Allerdings bemerken viele Führungskräfte in der täglichen Praxis, dass es folgende Probleme gibt: Auf den oberen Ebenen lassen sich erschöpfende Beurteilungskennziffern für die Leistungsfähigkeit einer Person noch recht leicht finden. Obere Führungskräfte können in diesem Sinne beispielsweise recht gut durch Wirtschaftlichkeitskennziffern gesteuert werden und diese Wirtschaftlichkeitskennziffern sind dann eine relativ erschöpfende Bewertung ihres unternehmerischen Beitrags. Diese Kennziffern können Kostenkennziffern, Ertragskennziffern oder andere »Key-performance-Indikatoren« sein, die die wesentlichen unternehmerischen Erwartungen an diese Führungskräfte widerspiegeln. Auf den unteren Ebenen, in denen der unternehmerische Beitrag oftmals durch permanente, täglich ablaufende und nicht immer zählund messbare Aktivitäten abläuft, lassen sich viel schwerer Kennziffern finden, die eine Gesamtbeurteilung der Leistungsfähigkeit einer
5.1 • Über den Charakter von Zielen
119
5
Person erlauben. Aus diesem Grunde werden Ziele auf ihrem Weg durch die Hierarchie nach unten hin immer mehr zu »Sonderaufgaben«, die aber dann nicht unbedingt solche Aktivitäten repräsentieren, die für den Gesamterfolg einer Person besonders relevant sind, aber dafür besonders leicht den Messbarkeitsansprüchen genügen (»Umsetzung der Neustruktur unserer Ablage nach folgendem Schema:…«). Konsequenterweise (hier gibt es gewisse Selbstheilungskräfte in Organisationen) geraten diese Ziele zumeist im Verlauf des Jahres aus dem Blickfeld, weil sie Zusatzbelastungen markieren, die im Vergleich zu den echten Prioritäten des Tagesgeschäftes an Bedeutung verlieren. Es wird vergessen, dass bestimmte Ziele eine Beurteilungsleistung erfordern, die sich nicht durch einen unabhängigen Messmechanismus ersetzen lässt. Bestimmte unternehmerische Ziele können nur
beurteilt und nicht gemessen werden. Die Beurteilung durch die relevanten Ansprechpartner ist die gelebte Entscheidungsrealität des Unternehmens und darum für sich genommen der relevante Bewertungsmechanismus. Wer aufgrund theoretischer Messbarkeitserwägungen diesen Prozess der Beurteilung ausschließt, schließt damit oft relevante und wichtige Ziele aus. Innovationsziele, die zunächst in der Ausarbeitung eines Konzeptes bestehen, sind in diesem Sinne nicht ohne weiteres messbar. Natürlich können Sie messen, ob das Konzept zu einem definierten Termin vorliegt. Aber eigentlich relevant ist doch die Frage, ob das Konzept geeignet ist, die intendierten Effekte auszulösen und ob es damit umsetzungswürdig ist. Diese Frage ist nicht im engeren Sinne messbar oder in einer Kennziffer abzubilden, sondern muss beurteilt werden. Es gibt also hoch relevante Ziele (Innovations- und Konzeptziele haben ein großes Potenzial für echte inhaltliche Impulse), für die sich keine sinnvolle Kennziffer finden lässt. Stattdessen wird man nicht umhin können, als Führungskraft in die Verantwortung zu gehen und zu beurteilen, wie gut, hochwertig, innovativ, lösungsorientiert, qualitativ sauber und schlüssig ein Konzept ist. Zielsysteme, die nur Messung per Kennziffern zulassen und den Prozess der Beurteilung aus der falsch verstandenen Sorge vor Subjektivität ausschließen, berauben sich vieler wertvoller Zielideen. Im Zweifel muss das Kriterium der objektiven Messbarkeit vor der (im unternehmerischen Alltag ansonsten selbstverständlichen) Beurteilung durch die relevanten Entscheidungsträger zurückstecken. Ziele werden isoliert heruntergebrochen, es fehlt ein verbindendes und integrierendes Element. In fast allen Unternehmen funktionie-
ren Zielsysteme als kaskadiert geführte Einzelgespräche, in denen idealerweise unternehmerische Ziele immer weiter heruntergebrochen werden. Eventuelle Zielkonflikte, Bedingtheiten und Abhängigkeiten von Zielen sowie Ressourcen- oder Prioritätenkonflikte zwischen Zielen werden auf diese Weise eher zufällig und anlassbezogen diskutiert und bearbeitet, aber nicht systematisch betrachtet. Hier ist
Gute Zielsysteme schließen die durchaus subjektive Beurteilung bestimmter Leistungen nicht kategorisch aus.
In Workshop-orientierten Zielprozessen können Abhängigkeiten und Prioritätenkonflikte direkt mitverhandelt werden.
120
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
ein Workshop-basiertes Vorgehen vorteilhafter, in dem beispielsweise zunächst die Geschäftsleitung in einem gemeinsamen Workshop das Zielgerüst für das nächste Jahr festlegt. Jedes Geschäftsführungsmitglied führt dann mit seinen Bereichsleitern einen Workshop durch, in dem gemeinsam die Ziele des Geschäftsführungsbereichs für jeden Bereichsleiter heruntergebrochen werden. Abhängigkeiten und Zielkonflikte können auf diese Weise direkt geklärt und verhandelt werden. Jeder Bereichsleiter führt im nächsten Schritt einen Workshop mit seinen Abteilungsleitern durch und stellt in diesem zunächst die gesamtunternehmerischen Ziele vor, dann die Ziele für den eigenen Bereich und verhandelt schließlich die Ziele mit jedem einzelnen Abteilungsleiter. Ein solches Workshop-basiertes Vorgehen ist übrigens nicht nur ein Modell für eine abgestimmte Entwicklung von Zielen, sondern erleichtert auch die Kommunikation einer unternehmerischen Zielpyramide insgesamt.
5
Ziele müssen Sinnhaftigkeit vermitteln und darum über reine Indikatorfestlegungen hinausweisen.
Viele Zielsysteme enthalten ausschließlich Indikatoren, aber keine Ziele. Wir haben gezeigt, dass ein Ziel nur dann eine verlockende
und anspornende Kraft entfalten kann, wenn es die Verheißung auf die Beseitigung einer Unvollkommenheit der Gegenwart beinhaltet. Viele unternehmerische Ziele beziehen sich nur auf Unvollkommenheiten der Gegenwart aus Sicht der Shareholder und sind als Ziel darum für viele Mitarbeiter nicht anknüpfungsfähig (das Ziel »5% Kostensenkung« hat – wenn es nicht weiter ausgemalt wird – zunächst einmal für die meisten Ausführenden keine Verheißung und Sinnhaftigkeit). Hier muss durch Bonifikationen kompensiert werden, damit das Ziel über diesen Umweg zumindest noch ein bisschen Verlockung für den Ausführenden bereithält. Gute Ziele können in einen Zukunftsentwurf eingebettet werden, durch den sie verstehbar werden. Dann sind im nächsten Schritt auch Indikatoren wichtig. Das Ziel »Kostensenkung« ergibt dann Sinn, wenn es nicht nur aus dem Profitinteresse der Shareholder heraus verfolgt wird, sondern z. B. aus dem Interesse an einer überlegenen Effizienz und Leistungsfähigkeit oder um Ressourcen für Investitionen in Zukunftsentwicklungen freizumachen.
5.1.3
Gute Ziele sind bildhaft und damit gefühlsmäßig antizipierbar.
Das 3-V-Modell der Zielkriterien: Kriterien von Zielen, die Führungs-Kraft auslösen können
Als Ergänzung zum sehr Indikator-orientierten SMART-Modell mit seinen eher technischen Zielkriterien möchten wir hier ein Modell vorstellen, das diejenigen Kriterien hinzufügt, die nötig sind, um durch Ziele echte Führungs-Kraft zu erzeugen (. Abb. 5.1). Damit Ziele Führungs-Kraft entfalten können, müssen drei Kriterien erfüllt sein: 5 Zum einen ist es wichtig, dass Ziele visionär (im Sinne von bildhaft) sind. Wenn man das Bild eines Ziels verinnerlicht, kann gefühlsmäßig antizipiert werden, wie es sein wird, wenn das
5.2 • Ursprung und Arten von Zielen
121
5
. Abb. 5.1 Das 3-V-Modell der Zielkriterien
Ziel erreicht wird. Nur ein Bild der Zukunft (und nicht z. B. eine nackte Zahl) lässt vorwegnehmen, welche Unvollkommenheit der Gegenwart verschwunden ist, wenn das Ziel erreicht wurde (»Wenn wir unsere Qualifikationsoffensive erfolgreich umgesetzt haben, werden wir bei den Kunden deutlich mehr Wertschätzung erfahren. Wir werden als Ansprechpartner ernster genommen. Wir werden den Status eines wirklich beratenden Sparringspartners erreichen und nicht mehr nur der »typische Verkäufer« – als einer unter vielen – für unsere Kunden sein«). 5 Zweitens muss ein Ziel in dem Sinne vielversprechend sein, dass es eine Antwort auf die gegenwärtige Krise, auf die erlebten Unvollkommenheiten oder die Sehnsüchte darstellt. Nur solche Ziele sind anknüpfungsfähig, die zu der Welt der Wünsche und Träume der Geführten passen. Ziele ohne Verheißungen und ohne Versprechen können für sich genommen keine Führungs-Kraft entfalten (im oben genannten Beispiel müsste die verbesserte Positionierung, die man sich als besser qualifizierter Verkäufer versprechen darf, auch zu den gefühlten Unvollkommenheiten in den augenblicklichen Kundenbeziehungen passen). 5 Zu guter Letzt müssen Ziele verstehbar sein. Wir haben ja schon argumentiert, dass Ziele verstehbar werden, indem sie auf die Vergangenheit verweisen und an einen Zustand anknüpfen, den es in der Vergangenheit schon einmal gab oder der als Mangel nach wie vor existiert. Erlebbar und verstehbar ist nur, was wir kennen. Ziele können positive Hoffnungen neu illustrieren und ausmalen, sie können aber nicht im ganz eigenen Sinn neuartig sein. Wer sich etwas völlig Neuartiges wünscht, hat keinen Anknüpfungspunkt, mit dem er verstanden wird (s. auch 7 Exkurs »Reflektion über eigene Ziele«).
5.2
Gute Ziele zeigen eine Alternative zu den Unvollkommenheiten der Gegenwart auf.
Gute Ziele knüpfen an die Erfahrungswelt der Geführten an.
Ursprung und Arten von Zielen
Wir hatten die Frage, wo genau Ziele herkommen, in den vergangenen Kapiteln immer wieder kurz berührt und diskutiert. Ziele fallen
Ziele werden nicht nur schlicht ausgewählt, sondern sind Ausfluss von Persönlichkeit, Charakter und Biographie.
122
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
Reflektion über eigene Ziele Vielleicht lohnt es sich für Sie, an dieser Stelle einmal innezuhalten und über eigene Ziele nachzudenken. Wenn Sie über Ihre eigenen Ziele reflektieren möchten, so regen wir an, dass Sie sich zuerst mit Ihren Wünschen, Träumen und Sehnsüchten beschäftigen. Dies sind Ihre
wahren Antreiber. Vielleicht haben Sie den einen oder anderen Wunsch bzw. Traum schon relativ präzise in Ziele übersetzt. Wenn Sie sich diese Ziele anschauen, werden Sie sehen, dass sie in dieser praktischen Konkretheit nur unvollkommen zu Ihren Wünschen passen werden.
Ziele müssen vereinfachen, konzentrieren und priorisieren, damit sie handhabbar werden. Auf jeden Fall werden Sie feststellen, dass Sie Ihre konkreten und praktischen Ziele nur vor dem Hintergrund Ihrer größeren und umfassenderen Wünsche und Sehnsüchte verstehen können.
5 nicht vom Himmel und sind auch nicht das Ergebnis eines simplen Entscheidungsprozesses. Sie können sich nicht einfach beliebig für irgendein Ziel entscheiden und plötzlich erlangt das Ziel, für das Sie sich entschieden haben, für Sie den Status einer verlockenden und verheißungsvollen Größe. Ziele »geschehen Ihnen« im gewissen Sinne. Sie geschehen Ihnen abhängig von Ihren grundsätzlichen Ängsten und Sehnsüchten und sie geschehen Ihnen, weil Sie sich mit bestimmten Unvollkommenheiten und Nöten der Gegenwart nicht abfinden wollen. Mit Ihren Zielen offenbaren Sie damit Ihren Charakter und es ist deswegen nachvollziehbar, dass Ziele keine frei wählbare Größe sein können. Man kann Ziele entlang der folgenden Kategorien einteilen: Innovative Ziele machen den Mangel oft erst wirklich bewusst.
Latente Ziele vs. innovative Ziele. Latente Ziele sind Ziele, die direkt
Viele typische Unternehmensziele sind eigentlich Individualziele der Kapitalgeber.
Individualziele vs. Kollektivziele. Eine wichtige Unterscheidung be-
auf beobachteten Missverhältnissen gewachsen sind und wie die Antwort auf die beobachteten Missverhältnisse wirken (»Wir haben nicht genug Kapazität in der Produktion. Wir müssen einige neue Anlagen anschaffen«). Innovative Ziele enthalten darüber hinaus eine Art expansives Material. Man könnte sagen, dass der gegenwärtige Mangel erst vor dem Hintergrund der Chancen, die das Ziel beinhaltet, wirklich erlebbar wird. Die Wirksamkeit eines innovativen Ziels könnte man mit folgender Aussage beschreiben: »Mir war gar nicht bewusst, was in diesem Thema noch möglich ist. Aber jetzt, wo ich mir klargemacht habe, was hier eigentlich noch geht, wird mir bewusst, was mir fehlt.«
steht auch hinsichtlich der Frage, ob es sich bei Zielen um individuelle Ziele oder um Kollektivziele handelt. Kollektivziele sind die gemeinsame Schnittmenge der Individualziele, also diejenigen Ziele, die von einer Gruppe geteilt werden. In der Diskussion über unternehmerische Zielsetzungen wird oft über Unternehmensziele gesprochen. Viele Unternehmensziele (»Wir steigern unsere Eigenkapitalverzinsung auf 20%«) sind eigentlich nur Unternehmerziele, also diejenigen Ziele, die vor dem Hintergrund der Sehnsüchte und Wünsche der Shareholder Sinn ergeben. Unternehmensziele würden sich auf das
5.2 • Ursprung und Arten von Zielen
Unternehmen als Ganzes (also inklusive der Mitarbeiter) beziehen und müssten Zielzustände ausdrücken, die auch die Mitarbeiter erreichen wollen. Eine Eigenkapitalverzinsung von 20% dürfte nur für Mitarbeiter den Status eines Ziels erlangen, die in relevanter Weise am Unternehmen beteiligt und damit Mitunternehmer sind. Für viele Mitarbeiter dürfte diese Eigenkapitalverzinsung kein Ausdruck eigener Sehnsüchte sein. Die typischen Ziele, mit denen im Wirtschaftsleben operiert wird, sind Unternehmer- und nicht Unternehmensziele, auch wenn sie in der Kommunikation oft so genannt werden. Anknüpfungsfähige Unternehmensziele können sich beispielsweise auf den Nutzen beziehen, den man mit bestimmten Produkten stiftet. Die Ziele vieler erfolgreicher Unternehmen gingen dementsprechend oft deutlich über Renditeziele hinaus. Die Vision von IKEA beispielsweise (»Es ist unsere Vision, den vielen Menschen einen besseren Alltag zu schaffen. Unsere Geschäftsidee unterstützt diese Vision, indem wir ein breites Sortiment formschöner und funktionsgerechter Einrichtungsgegenstände zu Preisen anbieten, die so günstig sind, dass möglichst viele Menschen sie sich leisten können«) formuliert eine Idee, mit der sich viele Mitarbeiter von IKEA sehr gut identifizieren können und für die sich Einsatz und Engagement lohnen. Verteidigungsziele vs. Veränderungsziele. Eine wichtige Unterschei-
dung in der Diskussion von Zielen besteht auch in der Frage, ob es sich bei den Zielen um Verteidigungs- oder um Veränderungsziele handelt. Bei Verteidigungszielen soll der Status quo beibehalten werden. Der Status quo wird verteidigt gegen eine Gefahr, die antizipiert wird und die zu einer Verschlechterung der gegenwärtigen Situation führen würde. Antreiber ist also die Angst vor der Verschlechterung und das Ziel wird energetisiert durch die Sehnsucht, den Status quo zu erhalten. Bei Veränderungszielen wird die Not nicht antizipiert, sondern erlebt, und das Ziel wird energetisiert durch den Wunsch, den Status quo zu verändern. Autonomieziele vs. Integrationsziele. Eine letzte wichtige Unterscheidung von Zielen besteht in der Frage, ob es sich eher um Autonomieziele handelt, also Ziele, in denen Freiheit und Selbstständigkeit angestrebt werden und Ausgangspunkt der Hoffnung sind, oder ob es eher darum geht, zu vereinen, zusammenzuführen und in einer großen gemeinsamen Sache aufzugehen. Große politische Entwürfe oder religiöse Ideen sind hierbei eher Integrationsziele, die typischen Unternehmerziele sind eher Autonomieziele. Genauso wie die Deutung der gemeinsamen Not müssen auch Ziele totalisieren können (wir hatten den Begriff der »Totalisierung« im letzten Kapitel eingeführt und damit den Gleichklang einer Gruppe in der Interpretation einer Krise gemeint). Führungs-Kraft geht genau dann von Zielen aus, wenn eine gemeinsam geteilte Zukunftshoffnung repräsentiert ist. Das ist auch der Grund, warum die typi-
123
5
Anknüpfungsfähige Unternehmensziele gehen über die Kapitalgeberziele hinaus.
Verteidigungsziele halten den Status quo, Veränderungsziele verändern den Status quo.
Große politische Ziele wollen viele Menschen vereinen und zusammenführen.
Ziele können nur dann totalisieren, wenn sie eine Verheißung für alle Geführten beinhalten.
124
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
Große Unternehmerpersönlichkeiten konnten mehr Verheißungen aufzeigen als eine hohe Eigenkapitalverzinsung.
5
schen Unternehmerziele nicht so gut totalisieren können, außer wenn es den Unternehmern gelingt, mit ihren individuellen wirtschaftlichen Zielen auch eine Zukunftshoffnung oder ein Versprechen für die Mitarbeiter und die Gesellschaft zu verbinden. Diese Verbindung kennzeichnet auch im Wirtschaftsleben die wirklichen Visionäre. Wir kritisieren nicht den Wunsch von Unternehmern nach ihrem wirtschaftlichen Erfolg. Diese Triebfeder ist in unserem System gewollt und legitim. Wir glauben nur, dass diejenigen Unternehmer die größte Führungs-Kraft entfalten, die ihr individuelles Unternehmerziel um weitere Verheißungen ergänzen können und in der Lage sind, die Mitarbeiterschaft, die Kunden oder aber auch die Gesellschaft zu totalisieren und damit einen echten gemeinsamen Willen zu erzeugen. Wenn Sie sich die großen Unternehmerpersönlichkeiten des letzten und des gegenwärtigen Jahrhunderts anschauen, stoßen Sie fast durchgängig auf Leute, die spürbar von mehr getrieben waren als von dem Wunsch nach einer hohen Eigenkapitalverzinsung. Fast alle wollten der Welt durch ihre Produkte, Innovationen oder Leistungen wirklich etwas geben, das über die Gegenwart hinausreicht. Große Unternehmerpersönlichkeiten haben damit Führungs-Kraft entfaltet, Zukunft geschaffen und Kultur gestiftet.
5.3
Ziele und Delegation
In der täglichen Arbeit offenbart sich der Umgang mit Zielen im Thema Delegation.
In der praktischen Führungsarbeit spiegelt sich der hauptsächliche Umgang mit Zielen nicht so sehr in dem jährlichen Zielvereinbarungsprozess wider, den wir anfangs als einen in vielen Unternehmen etwas künstlich gelebten Prozess kritisiert haben. Die praktische, mühevolle und kontinuierliche Arbeit mit Zielen repräsentiert sich viel stärker in der Art, wie tagtäglich mit den Aufgaben und Herausforderungen des Jobs umgegangen wird. Im Allgemeinen spricht man bei der Weitergabe von Zielen und Aufgaben in der täglichen Führungsarbeit nicht so sehr von Zielsetzungssystemen, sondern eher von Delegation. Man könnte einwenden, dass es bei der Delegation stärker um praktische Maßnahmen und Aufgaben geht als um Ziele. Hierbei darf aber nicht vergessen werden, dass die Frage, ob man im Unternehmen etwas als ein Ziel oder eine Aufgabe (bzw. Maßnahme) betrachtet, letztlich nur von der Frage abhängt, ob man »von oben« oder »von unten« auf diesen Sachverhalt blickt.
Ob ein Vorhaben im Unternehmen ein Ziel oder eine Maßnahme ist, hängt von der Perspektive ab, aus der man es betrachtet.
Aus der Sicht der Shareholder ist ein Umsatzwachstum von 10% ein Ziel. Der Vorstand leitet daraus eine Strategie ab, die eine Expansion nach China vorsieht. Aus Sicht des Vorstandes ist der Aufbau einer wirtschaftlich erfolgreichen Einheit in China damit ein Ziel. Aus Sicht der Shareholder handelt es sich jedoch um eine Maßnahme zur Erreichung der Profitziele. Der Vorstand wird dann unter Umständen dem
125
5.3 • Ziele und Delegation
. Tab. 5.1 Mechanismus zum Umgang mit Zielen Reifegrad des Mitarbeiters (metaphorisch gemeint)
Delegationsmechanismus
Delegationsart
Sprachliches Muster der Delegation
»Säugling«
Stellvertretende Entscheidung
Anordnung
»Mache dies so.«
»Kind«
Partielle Mitbestimmung
Zielsetzung oder Zielvereinbarung
»Sorge dafür, dass …«
»Jugendlicher«
Umgekehrte Autorität (die Führungskraft macht sich bewusst klein, damit der Mitarbeiter große Ziele ohne den Windschatten und Schutz des Vorgesetzten erreichen kann)
Ernennung
»Du bist verantwortlich für …«
»Erwachsener«
Die symmetrische Arbeitsbeziehung
Abstimmung
»Was gibt’s?«
Personalleiter des Unternehmens das Ziel geben, ein Expatriate-Programm für China auszuarbeiten. Aus Sicht des Personalleiters handelt es sich hierbei um ein Ziel, aus Sicht des Vorstandes handelt es sich aber um eine Maßnahme für das Ziel der wirtschaftlichen Expansion nach China. Weiter geht dieser Prozess nun, wenn der Personalleiter seinem Juristen das Ziel gibt, die vertragsrechtlichen Bedingungen für ein Expatriate-Programm nach China auszuarbeiten. Hierbei haben wir aus der Sicht des Juristen dann ein Ziel, aus der Sicht des Personalleiters aber eine Maßnahme im Hinblick auf das eigene Ziel.
Wir sehen also, dass die Unterscheidung zwischen Ziel und Maßnahme nicht wirklich weiterbringt. Faktisch sprechen wir über den täglichen Mechanismus der Delegation, wenn wir über die praktische Führungsarbeit mit Zielen reflektieren. Das jährliche Zielvereinbarungsgespräch ist nur ein Spezialfall von Delegation. > Delegation ist der klassische Mechanismus in der Arbeit mit Zielen.
Aus diesem Grunde möchten wir nun ein Delegationsmodell vorstellen, dem der folgende Grundgedanke zugrunde liegt: > Mit Zielen werden Menschen erzogen und entwickelt.
Je nachdem, welche Ziele definiert und wie diese Ziele weitergegeben werden, erzieht man Menschen im Hinblick auf eine ganz bestimmte Art des Umgangs mit diesen Zielen. Wie dieser Mechanismus funktioniert, veranschaulicht . Tab. 5.1. Im Sinne dieses Modells ist also die Art der Delegation (wir können auch sagen, die Art der Führungsarbeit mit Zielen) vor allem abhängig vom Reifegrad des Mitarbeiters. Allerdings gibt es eine wichtige Schlussfolgerung aus diesem Modell:
5
126
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
> Überfordere deine Mitarbeiter systematisch! Durch die Art und Weise, in der mit Zielen umgegangen wird, entwickelt man Menschen.
5
Man entwickelt Menschen durch systematische Überforderung.
Herausfordernde Ziele sind der stärkste Entwicklungsmechanismus.
Die grundsätzliche Empfehlung für die Arbeit mit Zielen, die sich aus diesem Modell ableiten lässt, besteht darin, grundsätzlich einen höheren Reifegrad anzusetzen als denjenigen, den man gegenwärtig beim Mitarbeiter vermutet. Auf diese Weise »erzieht« man ihn zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Wer durch konsequente, detailorientierte Anordnungen seine Mitarbeiter wie »Säuglinge« behandelt, wird dauerhaft auch »Säuglinge« heranziehen (es sei denn, die Mitarbeiter verlassen rasch diese Konstellation und verweigern sich auf diese Weise). Dieses Phänomen ist beispielsweise in Ländern mit sehr autoritärer Führungskultur zu beobachten (z. B. in einigen asiatischen Ländern), in denen die Mitarbeiter nur auf sehr konkrete Anweisungen zu arbeiten bereit sind und ihre mögliche Kreativität zugunsten buchstabengetreuer Umsetzung unterdrücken. Wer Mitarbeiter hat, die präzise Anordnungen benötigen, entwickelt sie weiter, indem er Zielsetzung und Zielvereinbarung nutzt. Wer Mitarbeiter hat, die sich auf einem Reifegrad befinden, der gemeinsam vereinbarte Zielsetzungen erfordert, sollte sie verantwortlich und haftbar machen, um sie zum Wachsen zu bringen. Wer Mitarbeiter hat, die sich durch Ernennung und Verantwortungsübernahme führen lassen, sollte sie mit symmetrischer Abstimmung in eine Erwachsenenbeziehung hineinführen, in der eigene Zielsetzungskompetenz entsteht. Diese Anwendung von Zielen ist der stärkste Entwicklungsmechanismus im Umgang mit Mitarbeitern, den es gibt. Mitarbeiter mit dem entsprechenden Potenzial werden in diesem Entwicklungsmechanismus schrittweise selbstständiger, andere mögen es vielleicht nicht schaffen. Führung mit Zielen entfaltet genau dann seine persönlichkeitsentwickelnde Kraft, wenn der Delegationsmechanismus auf systematische Überforderung abzielt. > Mitarbeiter kann man dann in die Selbstständigkeit entlassen, wenn ein Zielsystem durch die schrittweise Weitergabe anknüpfungsfähiger Ziele so weit verinnerlicht wurde, dass man anschließend loslassen kann. Die Ziele haben genau dann die ihnen innewohnende Führungs-Kraft entfaltet.
5.4 Warum nehmen wir so wenige Politiker als visionär oder charismatisch wahr?
Ziele in der Politik
Unsere Politiker tragen heutzutage eine schwere Last: Ihr Image in der Gesellschaft ist nicht besonders hoch, ihre Motivation wird meist als unanständiges Machtstreben pathologisiert und nur wenigen wird das Attribut »Charisma« zuerkannt. Große Visionen mit einer Anknüpfungsfähigkeit für viele Menschen scheint es kaum mehr zu geben. Woran liegt das eigentlich? Haben wir es heutzutage schlichtweg
5.4 • Ziele in der Politik
mit unfähigeren Politikern als früher zu tun? Bezahlen wir unsere Politiker zu schlecht, so dass Führungskräfte mit charismatischem Potenzial lieber in die Wirtschaft gehen? Diese Erklärungen greifen zu kurz. Eine Erklärung für diese Entwicklung offenbart sich erst, wenn man das Thema auch historisch und soziologisch betrachtet: Ziele haben nur dann das Potenzial für große gemeinsame Visionen, wenn sie als Kollektivziel in der Lage sind, eine große Anzahl von Menschen zu totalisieren, also eine Verheißung für eine gemeinsam gefühlte Not zu geben. In unserer stark fragmentierten und von Subgruppen und Subkulturen dominierten Gesellschaft gibt es kaum noch gemeinsame Heilsversprechen, die eine solche kollektive Betroffenheit nutzen oder auslösen können. Viele der typischen politischen Probleme sind in diesem Sinne nicht für eine große Gruppe von Menschen anknüpfungsfähig und haben kein Potenzial für Totalisierung. Schauen wir doch auf eines der besonders drängenden und dramatischen Probleme des Staates: die immense Verschuldung unseres Landes. Jetzt fragen Sie sich ehrlich: Haben Sie schon so unter der Staatsverschuldung gelitten, dass bei Ihnen wirklich der Impuls für eine große Anstrengungsleistung (und in diesem Fall heißt das Verzicht) wachgerufen werden konnte? Wenn Sie unter den Staatsschulden leiden sollten, dann leiden Sie vermutlich eher distanziert und abstrakt. Die hohe Staatsverschuldung eignet sich – obwohl eines der wichtigsten Probleme – nicht zur Totalisierung der Gesellschaft. Die Bereitschaft der Gesellschaft, zum Schuldenabbau schwierige Maßnahmen zu akzeptieren, ist nicht besonders ausgeprägt. Die Absenkung der Staatsverschuldung ist kein visualisierbares Ziel. Keiner kann beschreiben, was an einem schuldenfreien Deutschland so verlockend und verheißungsvoll sein soll, damit ein Bild entsteht, das in der Lage wäre, Sehnsüchte zu aktivieren. Eines der drängendsten und wichtigsten politischen Probleme der Gegenwart eignet sich damit nicht für die Formulierung von Visionen. Wirkliche Totalisierungen der Gesellschaft sind zumindest in unserem Land praktisch nur noch bei Katastrophen und großen Umwälzungen möglich. Unser ehemaliger Bundeskanzler Gerhard Schröder hat ein intuitives Gespür dafür besessen, dass die Möglichkeit zur Totalisierung ihm insbesondere bei z. B. Hochwasserkatastrophen oder bei der Rettung sterbender Bauunternehmen das Charisma verleihen kann, das ihm die normale politische Tagesarbeit versagte. Auch in der Phase des Umbruchs in der ehemaligen DDR und in den Anfangstagen der Wiedervereinigungsdiskussion hat der damalige Kanzler Helmut Kohl durchaus einige die Gesellschaft totalisierende Ziele aufzeigen können. Die Erlangung der politischen Einheit in Deutschland war ein Ziel, das totalisieren konnte und das an die Sehnsüchte, Wünsche und auch an die Unvollkommenheit des gegenwärtigen Zustands vieler Menschen anzuknüpfen in der Lage war. Die mühevolle Aufbauleistung einer funktionierenden Wirtschaft und deren Finanzierung sorgten aber dafür, dass zumindest
127
5
In unserer Gesellschaft gibt es kaum noch Ziele, die Potenzial zur Totalisierung großer Teile der Bevölkerung haben.
Die Staatsverschuldung eignet sich nicht zur Totalisierung, obwohl sie ein drängendes politisches Problem ist.
Wirkliche Totalisierungen sind in unserer Gesellschaft nur bei großen Katastrophen oder radikalen Veränderungen möglich.
128
Kapitel 5 • Führung, Herausforderung und Perspektive – Wie Sie durch anspornende
Die grundsätzlichen und existentiellen Lebensprobleme, die in früheren Zeitaltern totalisieren konnten, sind gelöst.
in Westdeutschland das einstige Ziel mit visionärer Kraft sehr schnell verblasste und sich in eine lästige Pflicht transformierte. In unserem Land können die meisten Menschen (im Vergleich zum größten Teil der übrigen Welt) ihre grundsätzlichen und existenziellen Lebensprobleme als gelöst ansehen: Es gibt keinen alltäglichen Kampf um das Dasein, bei den meisten Menschen in Deutschland herrscht – relativ gesehen – Wohlstand, die Gesundheit und das Überleben sind weitestgehend gesichert, man kann frei und individualisiert leben und viele Ziele der charismatischen Führungspersönlichkeiten vergangener Jahrhunderte können als erreicht gelten. > In einer Situation des Wohlstandes ist es nahezu logisch, dass nur Katastrophen noch totalisierbare Ziele hervorbringen. In einer Welt der Satten wären höchstens noch kulturelle Ziele verheißungsvoll und verlockend genug. Allerdings ist unsere Gesellschaft für gemeinsame kulturelle Ziele bei weitem zu individualisiert und zu fragmentiert.
5
Für seriöse Politiker ist es schwer, Visionen zu formulieren, die charismatisches Material für große Bevölkerungsteile aktivieren könnten.
Mit welchen großen Visionen sollte sich ein Politiker unter diesen Umständen profilieren können? Für welche Visionen ließe sich wirklich eine große Bewegung gewinnen? Die großen Parteien verlieren durch dieses Phänomen an Bindungskraft, stattdessen sind es die kleineren Gruppierungen, in denen es noch visionäre Kraft zu geben scheint. Diese visionäre Kraft wird aber nur von einer begrenzten Anhängerschaft geteilt, wodurch radikale Zielentwürfe für genau diese Anhängerschaft anknüpfungsfähig werden. Kleinere, radikalisierte Gruppen haben in diesem Sinne mehr Chance auf die Aktivierung charismatischen Materials.
129
Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen Führungs-Kraft erzeugen 6.1
Die Wirkungsweise von Strukturen – 132
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4
Innere und äußere Strukturen – 132 Über das Wesen von Führungsstrukturen – 134 Schaffung von Führungsstrukturen – 135 Führung und Führungseffizienz – 140
6.2
Führungsprobleme und Führungsstruktur – 140
6.3
Veränderung von Strukturen – 142
6.3.1 6.3.2
Was macht Veränderungen so schwierig? – 143 Hinweise für die erfolgreiche Umsetzung von Veränderungen – 145
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
6
130
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
In den bisherigen Kapiteln wurde Führung als Beziehungsphänomen diskutiert.
6
Führung hat einen Alltag.
Führung sieht man in Führungsaktionen und Führungsergebnissen.
In den bisherigen Kapiteln haben wir Führung im Prinzip als Beziehungsphänomen verstanden und erklärt: Wir haben das Wesen der Führungsbeziehung erläutert. Wir haben die verschiedenen »Beziehungsverträge« beleuchtet, die Führungskräfte mit den Geführten schließen, und wir haben das Thema »Charisma« als Wechselwirkung von Geführten und Führenden verstanden, wobei die charismatische Beziehung ihre Kraft und Energie aus der Angstbindungskraft des Führenden erhält. Aber auch als wir die Führungssituation und die möglichen Führungsziele besprachen, haben wir Führung als Beziehungsphänomen interpretiert. Die Leistung des Führenden im Hinblick auf den Umgang mit der Situation ist, die krisenhaften Elemente der Situation so zu deuten, dass sie für die Geführten anknüpfungsfähig sind. Die aus der Krise entstehenden Ängste sind dann das Material, durch das der charismatische Beziehungsvertrag geschlossen werden kann. So verhält es sich auch mit den Zielen. Im Sinne eines Schlüssel-Schloss-Prinzips müssen Ziele anknüpfungsfähige Zukunftshoffnungen und Verheißungen für die Geführten repräsentieren. Die formulierten Ziele müssen dabei eine konkrete Antwort auf die gegenwärtige Krise darstellen. An dieser Stelle sind es die kommunikativen Leistungen der Führungskraft, die in Sinnstiftung, Motivation und Durchsetzung bestehen und ebenso das Gelingen des Führungsprozesses ausmachen. Wenn man die bisherigen Kapitel des Buches liest, könnte man daher fast meinen, dass Führung ein ständiges Leben im Ausnahmezustand voraussetzt und nur in solchen Ausnahmezuständen stattfindet. Krisenhafte Elemente werden gesehen, verheißungsvolle Ziele formuliert, Ängste von Geführten gebunden, charismatische Beziehungsverträge geschaffen und bei Erfolg werden die Krisen abgewendet und gelöst. Schauen wir uns jedoch den Führungsalltag an, so scheint er von wenig aufregender Regelmäßigkeit durchsetzt. Führung scheint doch nicht immer Krise, Ausnahmezustand, Angstbindung und Intensität zu sein. Wenn es auch Alltag gibt – und nicht nur Herausforderungen, wie vormals beschrieben –, was könnte in diesem Zusammenhang zum Thema Führung betrachtet werden? Was ist das normale, stabile und gleichförmige Element in der Führung? Was geschieht, wenn wir als Führungskraft nicht gerade Krisen bewältigen und mit einer charismatischen Aura große Verheißungen verkünden? In diesem Kapitel wechseln wir wiederum die Perspektive und betrachten eine weitere Seite der Führung. Hier geht es um das Schaffen von Führungs-Strukturen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an 7 Kap. 1, als wir das Thema Führung grundsätzlich eingeführt haben. Wir haben dort in einem Absatz die Frage gestellt, was man eigentlich genau sieht, wenn man Führung beobachten möchte. Wir haben dort drei Dinge beschrieben: Zunächst sieht man einmal Führungsaktionen (Sie sehen beispielsweise den Vorarbeiter, der auf der Baustelle eines Pyramidenbaus den Arbeitern einen Arbeitsauftrag
Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
erteilt). Sie sehen natürlich am Ende, wenn Sie die fertige Pyramide sehen, das Führungsergebnis. Wir haben aber argumentiert, dass es noch etwas Drittes gibt, was Sie in der Führung sehen, nämlich Führungsstrukturen. Im Beispiel unserer Pyramidenbaustelle sind die Führungsstrukturen die Gerüstbahnen, auf denen die Bausteine und Baumaterialien an der wachsenden Pyramide entlang nach oben gezogen werden. Die Führungsaktionen auf der Pyramidenbaustelle finden innerhalb dieser Führungsstrukturen statt, die für sich genommen eine verhaltenslenkende Kraft entwickeln können. Wir haben im ersten Kapitel argumentiert, dass enge Führungsstrukturen nicht viel Platz für große Führungsleistungen lassen, weil die Strukturen bereits den größten Anteil an Führungsarbeit erledigen und den Raum für große Führungsaktionen deutlich begrenzen. Struktur führt! Wir haben aber auch gesagt, dass die gegebenen Strukturen das Ergebnis einer vergangenen Führungsleistung darstellen. Durch die Schaffung von Führungsstrukturen kreieren Führungskräfte den Führungsalltag und machen eine Organisation zunehmend unabhängiger von eigenen Führungsaktionen. Diese Leistung eines Führenden tritt weniger deutlich hervor und steht oft nicht im Fokus der Betrachtung, da die Struktur eher den Hintergrund der Handlungen bildet und wir dazu neigen, eher bewegte Dinge wahrzunehmen als Stabilität und Kontinuität. Erst Veränderungen, Aktionen, plötzliche Bewegungen lassen uns wieder aufmerksamer werden und den Blick darauf richten. Insofern nehmen wir eher die kommunikativen und charismatischen Leistungen einer Führungsperson wahr als die geschaffenen Strukturen, die uns wie selbstverständlich in eine »Bahn« gelenkt haben. Jedoch gibt es natürlich auch – neben den persönlichen Führungsleistungen – eine zweite große Anforderungswelt in der Führung. Sie ist ebenso wichtig für die Leistungsfähigkeit einer Organisation und spielt eine prägende Rolle. Das Schaffen von Strukturen stellt eine wichtige Voraussetzung für die Etablierung von Führungs-Kraft dar. Dieser zweiten wesentlichen Seite der Führung werden wir uns im Folgenden widmen. > Führung ist Strukturieren! Führung findet nicht nur im Ausnahmezustand von Krise und Verheißung statt, sondern Führung hat einen Alltag. Führungsstrukturen sichern die Stabilität von Führungsleistungen und machen die Leistungen einer Organisation unabhängiger von der Persönlichkeit des Führenden.
131
6
Enge Führungsstrukturen erlauben keine außergewöhnlichen Führungsleistungen.
Führungsstrukturen sind das Ergebnis vergangener Führungsleistungen.
Gute Führungsstrukturen sind eine Voraussetzung für leistungsfähige Organisationen.
132
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
Der Begriff Struktur kommt aus der Chemie.
6
Strukturen beschreiben das Beziehungsgitter zwischen Elementen.
Externe Strukturen müssen zu inneren Strukturen werden, um Verhalten zu lenken.
Verhalten wird durch bewusste Wiederholbarkeit zu einer Kompetenz.
Lernen bedeutet, dass innere Strukturen geschaffen werden.
6.1
Die Wirkungsweise von Strukturen
6.1.1
Innere und äußere Strukturen
Um die eigentliche Funktion und die Wirkungsweise von Strukturen in der Führung besser zu verstehen, gilt es zunächst einmal, den Begriff der Struktur näher zu erläutern. In der Chemie beschreibt Struktur den Aufbau von Molekülen. Üblicherweise werden Moleküle als eine Art »Beziehungsgitter« von Atomen beschrieben. Die Art, wie Atome angeordnet sind, welche Beziehung sie zueinander haben (z. B. wie stark Anziehungs- oder Abstoßungskräfte sind), aber auch die Stabilität des Moleküls (unter welchen Bedingungen zerfällt es?) beschreiben die Struktur des Moleküls. Strukturen beschreiben also offenbar ein stabiles Gitter, in dem einzelne Elemente räumlich angeordnet sind, sich zueinander positionieren und verhalten. Diese Definition von Struktur lässt sich auch auf soziale Phänomene übertragen. Auch für eine Gruppe können wir beschreiben, wie die Gruppe »strukturiert« ist, und wir würden in dieser Beschreibung erklären müssen, wie die Gruppenmitglieder zueinander stehen (welche Positionen sie beispielsweise in der Gruppe ausfüllen), wie sie sich hierarchisieren und welche Rollen und Funktionen von ihnen ausgefüllt werden. Um die Wirkungsweise von Strukturen auf einer psychologischen Ebene zu verstehen, muss man sich außerdem noch den Unterschied zwischen äußeren und inneren Strukturen vergegenwärtigen. Externe Strukturen sind die lenkenden Elemente in einer Situation oder in unserem Umfeld. Wir werden beispielsweise gelenkt durch Institutionen, Prozesse, Beziehungen etc. Die Lenkung durch externe Strukturen funktioniert aber nur, wenn diese externen Strukturen eine innere Entsprechung in uns gefunden haben. Externe Strukturen müssen in unser psychisches System »kopiert« werden, damit sie dort ihre verhaltenslenkende Kraft entfalten. Was anfangs externe Struktur war, wird bei einer erfolgreichen »Kopie« in unsere innere Strukturlandschaft zu einer Gewohnheit, einer Neigung, einer Haltung oder einer Kompetenz. Das wesentliche Element, an dem wir merken, dass eine äußere Struktur zu einer inneren geworden ist, ist ihre Stabilität und damit ihre Wiederholbarkeit. Wir nennen ein ganz bestimmtes Verhalten genau dann »Kompetenz«, wenn es in einer wiederholbaren und stabilen Art und Weise so abgerufen werden kann, dass damit bestimmte Probleme oder Aufgaben erfolgreich bewältigt werden. Wenn ein bestimmtes Verhalten nur zufällig und spontan auftritt, würden wir es nicht als Kompetenz beschreiben, selbst wenn es im Einzelfall ein bestimmtes Problem zu lösen vermag. Erst durch Stabilität und Wiederholbarkeit wird Verhalten zur Kompetenz. Lernen kann man in diesem Sinne auch als die Etablierung innerer Strukturen verstehen. Wenn die innere Struktur geschaffen ist, verstehen wir, wie die äußere funktioniert. Wir können uns in ihr zu-
6.1 • Die Wirkungsweise von Strukturen
133
6
rechtfinden, wir sind mit ihr vertraut und wir können plötzlich Probleme lösen, weil wir wissen, »wie etwas funktioniert«. Wir können also unsere innere Struktur auf ein Problem anwenden. Sobald wir mit unseren inneren Strukturen in einer wiederholbaren Weise ein bestimmtes Problem lösen können, haben wir etwas gelernt. Gerade in den ersten Lebensjahren ist es bei kleinen Kindern sehr beeindruckend zu beobachten, wie Strukturen entstehen und wie die Kinder durch die Entstehung innerer Strukturen zunehmend kompetenter mit äußeren Bedingungen umgehen können. In einem biologischen Sinne haben die psychischen Strukturen, von denen wir hier sprechen, natürlich eine Entsprechung in den Hirnstrukturen. Letztlich sind es Hirnstrukturen, die dafür sorgen, dass wir die Welt in einer für uns wiederholbaren Weise wahrnehmen, interpretieren, verstehen und uns ihr zuwenden. ! Manchmal lassen Traumatisierungen oder schwierige Lebensumstände in Menschen sehr stabile Strukturen entstehen, die in der Zeit der Krise eine kompetente Bewältigungsleistung des Problems darstellten. Diese Strukturen sind durch die Intensität und Nachdrücklichkeit des Geschehens aber unter Umständen so nachhaltig und stabil, dass sie auch dann noch gezeigt werden, wenn sich die Umstände bereits verändert haben. Menschen haben ein ganz bestimmtes Verhalten erworben, das aus ihrer Biografie heraus verständlich ist, sie aber in ihrer augenblicklichen Lebenssituation eher behindert und begrenzt. Psychologen sprechen hier von so genanntem »neurotischem« Verhalten. Dies können z. B. Ängste oder Zwangshandlungen sein.
Unsere inneren Strukturen können auch entwicklungsgeschichtlich älter oder jünger sein. Unsere ältesten inneren Strukturen haben oft eine evolutionäre oder biologische Erklärung. So sind beispielsweise auch in unseren Breiten Ängste vor Spinnen oder Schlangen immer noch recht verbreitet, obwohl diese Ängste, zumindest in Deutschland, kaum noch einen Überlebensvorteil bieten. Im Gegensatz dazu sind Phobien vor Steckdosen ausgesprochen selten, wenngleich es sich bei Steckdosen um die wesentlich gefährlicheren Dinge handelt, verglichen mit den bei uns vorkommenden Schlangen und Spinnen. Hier prägen sehr alte Strukturen unser Verhalten. Dadurch wird auch verständlich, warum die in der Kindheit gebildeten Strukturen oft so nachhaltig unser gesamtes Leben prägen. Der Mensch kommt im Vergleich zu Tieren mit relativ wenig fest verdrahteten und fixierten Strukturen auf die Welt (die Psyche der meisten Insekten ist im Gegensatz dazu fast vollständig durch festgelegte Instinkte strukturiert, die nur wenig Raum für Lernerfahrungen lassen). Bei einem neugeborenen Menschen ist im Vergleich dazu die »Festplatte« relativ leer. Insbesondere deswegen wird in den ersten Jahren auch so vieles darauf geschrieben, es werden also viele neue Strukturen geschaffen und etabliert.
Innere Strukturen können auch plötzlich durch Traumatisierungen geschaffen werden.
Es gibt auch entwicklungsgeschichtlich weitergegebene innere Strukturen.
Viele prägende Strukturen werden in der Kindheit geschaffen.
134
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
Überdauernde Strukturen konstituieren unsere Persönlichkeit und unsere Identität.
Diejenigen Strukturen in uns, die sehr dominierend unser Erleben und unser Verhalten prägen, konstituieren unsere Identität und unsere Persönlichkeit. Diese Strukturen zwingen uns, der Welt in einer gewissen wiederholbaren Weise zu begegnen und erweisen sich gerade mit zunehmendem Alter als immer veränderungsresistenter. Warum tappen Menschen sonst immer wieder in vorhersehbarer Art und Weise in die gleichen Fallen, produzieren die gleichen Konflikte, die gleichen Ängste, aber auf der anderen Seite auch die gleichen Leistungen und Erfolge? Die Antwort lautet: Weil eine stabilisierte psychische Struktur die Herangehensweise an die Welt determiniert. > Äußere Strukturen (z. B. Institutionen, Beziehungen, Prozesse, Systeme oder Gesetze) wirken verhaltenslenkend, indem sie als innere Struktur internalisiert werden. Äußere Strukturen müssen in unser psychisches System »kopiert« werden, um ihre lenkende Kraft zu entfalten. Aus Gesetzen werden Gewohnheiten, aus wiederholten Erfahrungen stabilisierte, emotionale Antworten auf Situationen, aus dem Üben von Verhaltensweisen werden Kompetenzen. Die Summe der in uns wirksamen inneren Strukturen ergibt unsere Persönlichkeit und Identität.
6
6.1.2 Erziehung ist die Schaffung stabiler innerer Strukturen.
Eltern sind das Schicksal ihrer Kinder.
Der Straßenverkehr bietet viele Beispiele von »Führung durch Struktur«.
Über das Wesen von Führungsstrukturen
Führung repräsentiert sich in einem erheblichen Ausmaß in der Schaffung stabiler Strukturen. Wir hatten bereits die Kindererziehung als Beispiel herangezogen, die ohne Zweifel eine große Führungsleistung darstellt. Die Führungsleistung im Rahmen der Kindererziehung besteht in der Schaffung der stabilen Strukturen, mit denen die Kinder während ihrer Kindheit, aber auch als Jugendliche und spätere Erwachsene der Welt begegnen. Sie werden dementsprechend immer noch von ihren Eltern geführt, selbst dann, wenn diese mittlerweile verstorben sind. Die von den Eltern in ihnen etablierten Strukturen determinieren nach wie vor die Art, mit der sie den Herausforderungen der Welt begegnen. Sie tun es selbst dann, wenn sie bestimmte Dinge in bewusster und konträrer Abgrenzung zum Regelwerk und den eigentlich von ihren Eltern gewünschten Strukturen angehen. Selbst wenn sie sich in gewissen Punkten als Gegenentwurf ihrer Eltern begreifen, haben ihre Eltern in ihnen die Struktur geschaffen, bestimmte Dinge bewusst anders zu machen als ihre Eltern es vielleicht gewollt haben. Eltern sind damit – als die ersten dominierenden Führungskräfte ihrer Kinder – immer und unentrinnbar das Schicksal ihres Nachwuchses. Wie genau schaffen Führungskräfte nun Strukturen? Um diesen Prozess zu verstehen, schauen wir uns als Metapher für funktionierende Führungsstrukturen einmal den Straßenverkehr an. Wir entdecken im Straßenverkehr eine Reihe von Führungsstrukturen, die dazu
6.1 • Die Wirkungsweise von Strukturen
führen, dass der Verkehr »strukturiert« abläuft. Zunächst gibt es im Straßenverkehr klar sichtbar die Führung durch bereits geschaffene Strukturen, z. B. die Straßen selbst (mit ihren Leitplanken) oder die Verkehrsregeln. Es gibt richtungsregelnde Bahnen (Einbahnstraßen), aber auch Zugangsbedingungen (Führerschein) und definierte Prozesse (rechts vor links). Vieles davon ist in einer symbolhaften, aber universell verständlichen Sprache niedergelegt (Rot, Gelb, Grün). Darüber hinaus gibt es im Straßenverkehr auch direkte Führung im Sinne von Führungsaktion oder kommunikativer Leistung. Diese wird z. B. durch einen Polizisten ausgeübt, der den Verkehr regelt, wenn aufgrund einer technischen Panne die Strukturen – die Ampel an einer Kreuzung – versagen. Führungsaktionen kommen aber auch vor, wenn es gilt, die grundsätzlichen Führungsstrukturen (die Verkehrsregeln) durchzusetzen. In diesem Fall tritt die Polizei beispielsweise als Ordnungsmacht oder Kontrolleur auf. Es gibt neben diesen unmittelbaren Führungsstrukturen des Straßenverkehrs aber auch tradierte Strukturen, die viel früher entstanden sind und uns erst befähigen, am Straßenverkehr teilzunehmen. Wir brauchen eine Reihe von Kulturtechniken (z. B. Lesen oder Schreiben), um überhaupt die Voraussetzungen für die Teilnahme am Straßenverkehr erfüllen zu können. Der sichtbarste Prozess der »Einführung« ist der Unterricht in der Fahrschule, durch den die äußeren Strukturen des Straßenverkehrs erfolgreich als innere Strukturen »kopiert« werden. Erst danach können wir uns erfolgreich im Straßenverkehr bewegen. Verkehrsregeln oder Verkehrsschilder sind nicht als äußere Struktur sofort wirksam, sondern erst dann, wenn wir sie als innere Struktur so weit verinnerlicht haben, dass wir sie kompetent (das heißt stabil und wiederholbar) abrufen können und damit verstanden haben. Dieses Bild lässt sich auf jeden anderen Führungskontext übertragen. Auch in jedem anderen Führungskontext sehen wir die direkten Führungsstrukturen, die Führungsaktionen, aber auch die indirekten Führungsstrukturen, die als vergangene Einführung die Grundlage dafür gelegt haben, dass wir uns in den gegenwärtigen Führungsstrukturen kompetent bewegen können. . Tab. 6.1 veranschaulicht diese drei Elemente noch einmal. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, warum man Führung nicht beschreiben kann, ohne auch die dazugehörigen Führungsstrukturen zu beschreiben. Führung ist eben nicht nur ein Beziehungsphänomen, das sich situativ offenbart, sondern braucht für nachhaltigen Erfolg ein stabiles und stabilisierendes Element. Das stabile Element der Führung ist die Struktur.
6.1.3
135
6
Verkehrspolizisten üben im Straßenverkehr die Führungsaktionen aus.
Es gibt Strukturen, die erst die Voraussetzung dafür schaffen, sich für die Teilnahme am Straßenverkehr zu qualifizieren.
Das stabilisierende Element in der Führung ist die Struktur.
Schaffung von Führungsstrukturen
Wenn man als Führungskraft neu eine Aufgabe übernimmt, ist natürlich die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebene Beziehungs-
Neue Führungskräfte müssen arbeitsfähige Beziehungsverträge schließen und effiziente Strukturen schaffen.
136
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
. Tab. 6.1 Elemente der Führung
6
Direkte Führungsstrukturen
Führungsaktionen
Institutionen
Kommunikation
Erziehung
Prozesse
Feedback
Sozialisation
Regeln
Ausgesprochene Anweisung
Einarbeitung
Werte
Situatives Erzeugen von Motivation und Begeisterung
Ausbildung
Beziehungen
Erklärung und Erläuterung
Rituale
Androhung von Sanktionen oder Strafe
Systeme
Indirekte Führung durch vorausgegangene »Einführung«
Formulare Am Beispiel des Straßenverkehrs Straßen
Verkehrsregelung durch den Polizisten
Fahrschulunterricht
Wege und Bahnen
Straßenkontrollen
Prüfungsvorbereitung
Verkehrsregeln
Geschwindigkeitskontrollen
Übungsfahrten mit dem Fahrlehrer
Verkehrssymbole (Schilder) Gesetze
Führungskräfte inspirieren neue Strukturen und animieren zu ihrer Umsetzung.
leistung (also das Schaffen eines arbeitsfähigen Beziehungsvertrages mit den Geführten) ein ganz wesentliches Element. Aber gleichzeitig muss man sich als neu in einer Funktion befindlicher Führender auch mit der Schaffung von Führungsstrukturen beschäftigen. Hierbei sind es insgesamt vier Arten von Strukturen, die geschaffen werden müssen (. Tab. 6.2). Als Führungskraft wird man diese hier beschriebenen Strukturen zunächst einmal für sich entwerfen, sie dann in die Gruppe »einführen« und dafür sorgen, dass diese als innere Strukturen der Gruppenmitglieder wirksam werden. Die Führungsleistung in der Schaffung von Strukturen besteht darin, bestimmte Strukturen zu inspirieren (z. B. neue Prozesse zu erdenken) und diese dann zu animieren, also die Umsetzung sicherzustellen. Auf diese Weise schaffen Führungspersonen Kultur. Die Rituale der Kultur sind die wiederkehrenden Abläufe. > Führung heißt kultivieren und ritualisieren.
Führungskräfte »rhythmisieren« durch Abläufe und Regeln ihre Organisation.
Wer als Führungskraft Prozesse, Abläufe, Zuständigkeiten und Regeln ersinnt, »rhythmisiert« seine Organisation. Er teilt mit, wie Dinge
137
6.1 • Die Wirkungsweise von Strukturen
6
. Tab. 6.2 Arten von Führungsstrukturen Strukturelement in der Führung
Inhalt des Strukturelementes
Entscheidungsstrukturen
Wer darf entscheiden? Wie wird entschieden?
Informationsstrukturen
Wie holen wir Informationen ein? Wie bewerten wir diese?
Planungsstrukturen
Wie sind die Abläufe? Wie gehen wir vor?
Beziehungsstrukturen
Wie genau ist die Hierarchie in der Gruppe? Wer gehört zur Elite und zur Führungsschicht? Welche Gegner müssen ausgeschaltet werden, damit die Gruppe leistungsfähig bleibt?
»angeordnet« sind, wie Problemlösungen »funktionieren« und wer welche Rolle in diesen Abläufen zu spielen hat. Als Führender sorgt man sich damit um die räumliche Anordnung der Elemente seines Teams (man legt z. B. fest, wie Ressourcen, Menschen und Kompetenzen zugeordnet und verteilt werden). Man bestimmt die funktionalen Abläufe (indem man Prozesse definiert und Regeln oder Abfolgen beschreibt) und definiert die positionelle Anordnung der Elemente seines Teams (indem man Hierarchien, Berichtsverhältnisse und Beziehungen – z. B. »Schnittstellen« – festlegt). Als Führender hat man genau dann Kultur geschaffen, die das Potenzial hat, über den Führenden hinaus zu wirken und funktionsfähig zu bleiben, wenn die anfangs nur mitgeteilten Strukturen (also die Willenserklärungen des Führenden) erfolgreich von den Folgenden internalisiert worden sind. Die Internalisierung dieser Strukturen erfolgt dabei zum Teil bewusst (z. B. durch die bewusste Umsetzung bestimmter Prozessanordnungen), aber auch unbewusst (z. B. durch die Internalisierung bestimmter Werte und Überzeugungen des Führenden). Führung ist Schaffung von Kultur. Führung ist Strukturieren. Struktur und Kultur sind die stabilen und stabilisierenden Elemente der Führung (s. auch 7 Exkurs »Führungskraft und Gruppe strukturieren sich gegenseitig«). Wir sehen an diesen Überlegungen noch einmal nachdrücklich, dass Führung (gerade in komplexen Umfeldern) zu 80% Einführung bedeutet, also die Einführung in eine existente oder von der Führungskraft zunächst erdachte, dann animierte Struktur. Nur 20% der Führungsleistung (wobei die Prozentzahlen hier nicht als wissenschaftliche Ergebnisse, sondern als Ausdruck unserer Gewichtung zu verstehen sind) liegen letztendlich in der Ausführung und Ausführungsbegleitung. Je erfolgreicher die Einführung gewesen ist, umso weniger Führungsleistung muss in der Ausführung noch gebunden werden. Aus dieser Überlegung ergibt sich noch ein anderes Fazit. Wer als Führungskraft in eine Situation kommt, in der schon sehr viele leistungsfähige und stabile Strukturen existieren, kann unter Umständen viel übernehmen und die Strukturen für ihn führen lassen. In diesem
Wenn kommunizierte neue Strukturen erfolgreich von den Geführten internalisiert wurden, ist Kultur geschaffen worden.
Führung ist heutzutage zu 80% Einführung und zu 20% Ausführung.
Wenn viele leistungsfähige Strukturen bestehen, hat man als Führungskraft nicht so viel zu tun.
138
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
Führungskraft und Gruppe strukturieren sich gegenseitig
6
Wenn man die hier beschriebenen Gedanken weiterdenkt, kann man das Phänomen der Führung auch als »strukturierte Gruppe« verstehen. Sobald sich eine Gruppe strukturiert hat, ist in der Gruppe Führung wirksam. Die Gruppenmitglieder verhalten sich in einer wiederholbaren und stabilen Art und Weise. Wenn das passiert, ist Führung zu sehen. Von außen sieht es in einem solchen Geschehen natürlich so aus, dass der Führende die Gruppe strukturiert und es ist ja auch in der Tat so, dass dieser die Aufgabe des Hauptstrukturierers übernehmen muss (man kann es auch umgekehrt beschrei-
Wenig hierarchisierte Gruppen sind konfliktanfällig.
Werte werden durch gelebte Prioritäten geprägt.
Rollen werden institutionalisiert.
ben: Derjenige, der faktisch die Hauptstrukturierung der Gruppe übernommen hat, ist letztlich der Führende gewesen, ganz gleich, ob dessen Kästchen im Organigramm über den anderen gemalt worden ist oder nicht). In Wirklichkeit übernimmt nicht eine Person die Hauptstrukturierungsarbeit, sondern Führender und Gruppenmitglieder stabilisieren sich gemeinsam und gegenseitig. Durch die Antworten und Reaktionen auf die Führungs- und Strukturierungsversuche der Führungskraft wird die Führungskraft ihrerseits mit bestimmten Aktivitäten reagieren. Gemeinsam und
gegenseitig baut sich die Führung in der Gruppe auf. Sobald die Strukturen da sind und die Gruppe »funktioniert«, ist der Führende der Gruppe zwar nach wie vor mit seinem Namen als verantwortlicher Chef zu sehen, aber in Wirklichkeit ist der Name des Chefs jetzt eher der Name des Systems geworden. Die Gruppenleistung hängt nicht mehr nur von seinen Führungsaktionen ab, sondern geht aus den aufgebauten Strukturen hervor. Je stabiler die Strukturen etabliert sind, umso leistungsfähiger und nachhaltiger kann die Gruppe auch ohne ihre Führungskraft vergleichbare Leistungen erbringen.
Fall können Führungskräfte unter Umständen auch ein sehr ruhiges Leben genießen (zumindest bis zur nächsten Krise!). Aus dem vorher Dargestellten ergibt sich, dass Führungskräfte durch die folgenden Aktivitäten Struktur schaffen und eine Gruppe strukturieren: 5 Führungskräfte hierarchisieren. Sie schaffen eine Elite, regeln den Zugang zur Führungselite und schaffen ein Beziehungsgerüst, durch das die Beziehungen in der Gruppe stabilisiert werden. Beziehungen zu stabilisieren heißt, sie zu hierarchisieren. Je weniger hierarchisiert eine Beziehung ist, umso instabiler und konfliktanfälliger ist sie. Je hierarchisierter eine Beziehung ist, umso stabiler und wiederholbarer kann in ihr gearbeitet werden. Ganz praktisch hierarchisieren Führungskräfte ihre Gruppe, indem sie z. B. bestimmte Aufgaben entlang der wahrgenommenen Kompetenzen ihrer Teammitglieder vergeben. 5 Führungskräfte prägen Werte. Führungskräfte prägen Werte, indem sie ihre Prioritäten zum Ausdruck bringen und die Bedeutung ihrer Werte durch Symbole veranschaulichen. Der Bonus für eine bestimmte Leistung ist ein klares Symbol für ihren Wert. Die Entlassung eines intrigierenden Mitarbeiters ist ein klares Symbol dafür, dass dieses Verhalten unerwünscht ist. 5 Führungskräfte verteilen Rollen und institutionalisieren diese. Führungskräfte verteilen Aufgaben und Zuständigkeiten und erklären, welche Funktion eine ganz bestimmte Position oder Person im Gesamtgefüge hat. Durch Formalisierung (z. B. Stellenprofile, Kompetenzbeschreibungen, Aufgabendefinitionen) werden diese Rollen institutionalisiert.
6.1 • Die Wirkungsweise von Strukturen
5 Führungskräfte stellen Regeln auf, nach denen gehandelt wird. Unternehmen sind voller Regeln, die einen großen Teil der Führungsarbeit tragen. Der Arbeitsvertrag ist die Grundlage des Regelwerks, das gemeinsam erarbeitete Teamleitbild seine ideelle Spitze. Dazwischen gibt es eine Unmenge an Regularien und Gesetzmäßigkeiten, die das Handeln innerhalb des Unternehmens steuern. 5 Führungskräfte definieren Prozesse. Führungskräfte entscheiden über die Anordnung bestimmter Tätigkeiten, die Gestaltung von Abläufen und sorgen dafür, dass diese Abläufe geübt werden. Alle diese Aktivitäten, die Struktur schaffende Tätigkeiten einer Führungskraft zusammenfassen, existieren zunächst nur als Willensbildung und gedanklicher Entwurf in der Führungskraft. Der Mechanismus, diese Strukturen dann auch lebendig werden zu lassen, ist im ersten Schritt ein kommunikativer. Sie erinnern sich vielleicht an die drei Führungs-Kräfte, die wir in 7 Kap. 3 beschrieben haben. Wir haben dort Sinnstiftung, Motivation und Durchsetzung als die drei wesentlichen Mechanismen beschrieben, mit denen Führungskräfte auf andere einwirken. Bei der Etablierung von Strukturen sind diese drei Führungs-Kräfte ebenfalls wirksam. Wer als Führungskraft Strukturen etablieren will, muss den Sinn und die Bedeutung dieser Strukturen erklären können. Er wird genau dann besonders erfolgreich sein, wenn es gelingt, die neuen Strukturen positiv zu besetzen und für sie motivieren zu können. Viele Strukturen müssen aber erst durchgesetzt werden, damit sie wirksam werden können, vor allen Dingen, wenn die neuen Strukturen die Zerstörung oder Veränderung bestehender Strukturen voraussetzen! Die Durchsetzung ist hierbei manchmal nötig, um gegen die Trägheit und einst erwünschte Stabilität der bestehenden Strukturen anzukommen. Auch die Struktur des Straßenverkehrs wird nie ein Selbstläufer sein. Viele Regeln und Prozesse funktionieren dauerhaft nur, wenn sie kontinuierlich und konsequent durchgesetzt werden. Ohne Verwarnungsgelder, Bußgelder oder Punktekatalog in Flensburg wären sicherlich viele Strukturen im Straßenverkehr nicht überlebensfähig. > Nachhaltige Führung braucht Struktur! Wer Führungsstrukturen schaffen will, muss Hierarchien, Entscheidungsstrukturen, Informationsstrukturen und Planungsstrukturen schaffen. Die Führungsleistung besteht darin, diese Strukturen zu inspirieren (d. h. zu erdenken) und zu animieren (d. h. einzuführen und umzusetzen). Wem es gelingt, den Sinn von Strukturen zu erklären, sie positiv zu besetzen und für sie zu motivieren oder sie auch gegen Widerstände durchzusetzen, hat Kultur geschaffen.
139
6
Handeln wird auch durch Regeln und Gesetze gesteuert.
Neue Strukturen existieren zunächst nur in der Willensbildung der Führungskraft.
Von neuen Strukturen wird überzeugt, neue Strukturen werden motiviert oder sie werden durchgesetzt.
140
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
6.1.4
Führung und Führungseffizienz
An dieser Stelle lohnt es sich, noch einmal über einen Begriff nachzudenken, der im heutigen Management eine große Rolle spielt und für viele Führungskräfte als eine Art Leitbild des eigenen Handelns begriffen werden darf: Es geht um das Thema Effizienz. Was bedeutet Führungseffizienz eigentlich genau? Man gelangt beispielsweise zu den folgenden Antworten: 5 Es gibt wenig Konflikte in der geführten Organisation. 5 Für die Leistungserbringung und Zielerreichung werden möglichst wenige Ressourcen aufgewandt. 5 Es sind wenige Führungsaktionen nötig, die Zeit und Kapazitäten des Führenden binden. 5 Es sind wenig situative Kommunikations- und Eingriffsnotwendigkeiten gegeben, die Zeit und Kapazitäten des Führenden binden. 5 In der Organisation wird insgesamt mehr geleistet (weil das zur Leistung beitragende Verhalten sehr stabil und eingeübt ist).
6
Effizienz entsteht durch die Schaffung stabiler Strukturen.
Wenn man sich diese Aspekte von Effizienz ansieht, erkennt man unmittelbar, dass die Steigerung von Effizienz gleichbedeutend mit der Schaffung stabiler Strukturen ist. > Wer eine gute Kultur geschaffen hat, hat das Potenzial, in der Leistungserbringung effizient zu sein. Je mehr Kultur da ist, die das Verhalten und die Leistungserbringung in einer geübten, nachhaltigen und stabilisierenden Form lenkt, desto weniger Zeit wird für Konflikte verbraucht und desto weniger Ressourcen werden zur persönlichen Einwirkung und Steuerung benötigt.
6.2
Führungsprobleme und Führungsstruktur
Gruppen können über- oder unterstrukturiert sein.
Bei der Einführung und Stabilisierung von Strukturen ist es eine wichtige Anforderung an Führungskräfte, das richtige Maß an Struktur zu finden. Selbstverständlich kann man Gruppen überstrukturieren und unterstrukturieren, also zu viele, zu enge und zu rigide Strukturen schaffen – oder aber auch zu wenige Strukturen implementieren und damit zu viel Offenheit in der Gruppe belassen. Hierdurch entstehen typische Probleme:
Zu enge Strukturen führen zu Passivität oder Gegenbewegung.
Probleme in Gruppen, in denen zu viele Strukturen geschaffen worden sind. Wenn die Führungskraft einer Gruppe zu viele und zu
enge Strukturen schafft, so erwacht in der Gruppe üblicherweise eine Gegenbewegung, die nach Freiheit strebt. Die Strukturen sind dann nicht mehr effizient, sondern können lähmen und bei bestimmten
6.2 • Führungsprobleme und Führungsstruktur
Personen eine erdrückende Passivität erzeugen, bei anderen den Drang nach Ausbruch und Veränderung. Das hier beschriebene Phänomen trifft nicht nur auf Arbeitsgruppen in Organisationen und Wirtschaftsunternehmen zu, sondern kann auch auf ganze Länder übertragen werden. Wenn man sich den Zusammenbruch des kommunistischen Systems in den letzten 15 Jahren des vergangenen Jahrtausends anschaut, so sieht man, dass viele Länder hinter dem Eisernen Vorgang auch an der Enge und Rigidität ihrer Strukturen zugrunde gegangen sind. Die sehr weitreichende und detaillierte Kontrolle sowie die enge und in einer zunehmend offener gewordenen Welt als provinziell und rückständig empfundene Perspektive der Lebensentwürfe haben in der Bevölkerung in den damaligen kommunistischen Ländern zu unterschiedlichen Reaktionen geführt: Bei einem Teil der Bevölkerung beobachtete man eine sich ergebende Passivität, bei einem anderen Teil Aufbegehren und Freiheitsdrang. Probleme in Gruppen, in denen zu wenige Strukturen geschaffen worden sind. Bei zu wenig Struktur versinkt die Gruppe im Konflikt.
Selbstverständlich ist auch dies im Sinne von Effizienz und Zielerreichung problematisch. Unterstrukturierte Gruppen produzieren ständig Konflikte, weil jedes auftretende Problem singulär geklärt und verhandelt werden muss. Es gibt zu wenig Regeln und Hierarchien, die von der individuellen Problemklärung entlasten, weil dort bereits definiert wäre, wie der Sachverhalt zu verstehen und zu behandeln ist. Gruppen mit zu wenig Struktur sind instabil. Es gibt kein stabilisierendes Element, sonst wäre Struktur da. Unterstrukturierte Gruppen zerbrechen innerlich oder scheitern an der äußeren Aufgabe. Aus diesen beiden Punkten wird deutlich, dass das Finden des richtigen Ausmaßes an Struktur eine ebenfalls sehr wichtige Führungsleistung darstellt. Wir können die Probleme, die mit zu viel oder zu wenig Struktur einhergehen, aber auch aus psychologischer Perspektive betrachten. Was bringt letztendlich Menschen dazu, eine Gruppe überzustrukturieren oder unterzustrukturieren? Warum tappt man als Führungskraft unter Umständen in eine solche Falle? Menschen, die einer Gruppe zu wenig Struktur geben können, besitzen zumeist selbst zu wenig innere Struktur und Stabilität. Diese Menschen haben meist selbst keine nachhaltige, belastbare und stabile Identität, sondern leben von der Intensität des Augenblicks. Solche Menschen überbetonen die charismatische Seite der Führung, sehen sich als Krisenmanager und Veränderer, aber nicht als Stabilisierer. Diese Führungskräfte sind nicht zwangsläufig für alle Kontexte ungeeignet. So gibt es durchaus erfolgreiche Krisenmanager oder Sanierertypen, die mit der Kraft ihres Charismas, ihrem Mut, ihrer Radikalität und ihrer Bereitschaft, bestehende Strukturen zu zerstören, durchaus eine Antwort auf bestimmte Krisen finden und für große Ziele begeistern können. Üblicherweise sind dies dann aber nicht die Personen, die man für den langsamen, mühevollen und detailorien-
141
6
Der Kommunismus ist auch der Enge seiner Führungsstrukturen zugrunde gegangen.
Gruppen mit zu wenigen Strukturen müssen jedes Problem individuell verhandeln.
Führungskräfte, die zu wenige Strukturen schaffen, besitzen selbst meist wenig innere Stabilität.
Führungskräfte, die zu wenige Strukturen schaffen, können in Krisen hilfreich sein, aber nicht in der Phase der mühevollen Aufbauarbeit.
142
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
Überstrukturierenden Führungskräften fehlen Flexibilität und Spontaneität.
6
tierten Neuaufbau einer Organisation braucht, sondern diese Führungskräfte ziehen dann weiter auf dem Weg zur nächsten Krise oder scheitern an der Alltagsarbeit. Es gibt also durchaus charismatische Führungspersönlichkeiten, die den Wert von Strukturen unterschätzen und ihre situativen Fähigkeiten (»Egal was passiert, ich pack das schon«) überschätzen. Diese Manager sind unter Umständen in einer Krise hilfreich, weil die Krise gerade die unstrukturierte Zeit ist; sie sind dann aber nicht diejenigen, die anschließend Vertrauen in Stabilität schaffen. Wenn man sich nun fragt, was solche Führungskräfte bewegt, die ein Zuviel an Strukturen schaffen, so sind dies häufig die kontrollorientierten und eher zwanghaften Persönlichkeiten, die sich nicht auf ihre Flexibilität, ihre Spontaneität (wir können auch sagen, auf ihr Charisma) verlassen, sondern jedes Problem über Struktur lösen wollen. Das Problem, das in diesem Fall entsteht, ist zum einen die provinzielle Enge, die durch diesen Habitus geschaffen wird. Zum anderen geht in einer vollständig durchstrukturierten und detailorientiert organisierten Arbeitswelt häufig der Spaß an der Arbeit verloren, der gerade in der kleinen Freiheit und dem kleinen Tabubruch liegt oder durch die Selbstwirksamkeitsüberzeugung entsteht, Probleme ohne Hilfe (also ohne äußere Struktur) lösen zu können. Wenn Sie sich an die Diskussion unserer grundlegenden Motivationen und Ängste in 7 Kap. 2 erinnern, also in der Diskussion zum Thema Charisma, so sind es zwei Persönlichkeitstypologien, die anfällig für ein Zuviel bzw. ein Zuwenig an Struktur sind (s. auch 7 Exkurs »Charisma und gute Führung«). > Hoch stimulanzorientierte Führungskräfte leben von der Intensität des Augenblicks, aber es fehlen ihnen die Verlässlichkeit und Beständigkeit, die notwendig sind, um überdauernde, funktionierende Strukturen zu schaffen und weiterzuvererben. Die balanceorientierten oder zwanghaften Führungskräfte sind es auf der anderen Seite, die Angst vor Freiheit und Veränderung haben und diese Angst durch die Enge starrer und kleinkarierter Strukturen zu kompensieren versuchen.
6.3 Heutzutage erscheint Veränderungsmanagement als die wesentlichste Führungsleistung.
Veränderung von Strukturen
Heutzutage erscheint es so, als sei es die wesentlichste Führungsaufgabe, Strukturen zu verändern. Die Themen »Change«, Veränderungsbegleitung oder »Umstrukturierung« sind als Managementherausforderung allgegenwärtig und präsent. Viele große Konzerne schlittern von einer Umstrukturierung in die nächste, wobei die neue Strukturierung nicht selten schon beginnt, bevor die Mitarbeiter in der Lage waren, die veränderten äußeren Strukturen der vorhergehenden Um-
143
6.3 • Veränderung von Strukturen
6
Charisma und »gute Führung« Wir haben in den bisherigen Kapiteln dieses Buches die Kraft charismatischer Führung sehr eindringlich beschrieben. Große Ziele, große Aufgaben, große Veränderungen, Höchstleistungen des Augenblicks und Angstbindungskraft in unsicheren Zeiten sind nur von charismatischen Führungspersönlichkeiten zu erreichen. Wir widersprechen uns allerdings nicht, wenn wir an dieser Stelle sagen, dass es auch sehr gute, nicht charismatische Führungskräfte gibt. Dass es gute, nicht charismatische Führungskräfte gibt, kann kaum bestritten werden. Hierzu reicht ein Blick in die Wirklichkeit, in die Politik, in das eigene Unternehmen, aber auch in die eigene Familie, denn überall dort sehen wir Führung erfolgreich und wirksam
geschehen, ohne dass wir uns charismatisch – im Sinne des »außergewöhnlichen Führungserlebnisses« – berührt fühlen. Es gibt also offenbar Führungspersonen, die ihren Erfolg vor allen Dingen durch ihre gute Strukturierungsleistung organisieren und nicht so sehr durch das charismatische Element. Nicht nur Veränderung ist eine Führungsleistung, sondern auch Stabilität. Nicht nur Krisenbewältigung ist eine Führungsleistung, sondern auch Effizienz. Nicht nur Aufbruch ist eine Führungsleistung, sondern auch Berechenbarkeit und Regelmäßigkeit. Sowohl bei der Personalauswahl als auch in der Personalentwicklung wird diese Dimension der Führung allerdings häufig
strukturierung erfolgreich in innere Strukturen umzuwandeln und diese voll zu internalisieren. Selbstverständlich sind Veränderung und Krisenbewältigung wichtige und entscheidende Führungsleistungen. Dies haben wir in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich dargestellt. Es darf aber bei aller Priorität, die das Thema Veränderung genießt, nicht vergessen werden, dass auch Stabilisierung eine Führungsleistung darstellt.
6.3.1
unterschätzt. In erster Linie werden Führungskräfte nach ihren kommunikativen oder im weiteren Sinne charismatischen Fähigkeiten beurteilt. Der ruhige sachliche Strukturierer ist gegenüber dem enthusiastischen Visionär nicht selten im Nachteil. Oder aber (was manchmal noch schlimmer ist): Der enthusiastische Visionär überzeugt so stark durch seine Inspirationskraft und seine kommunikativen Fähigkeiten, dass viel zu wenig geprüft und beachtet wird, ob er in der Lage ist, eine Organisation zu kultivieren und zu stabilisieren. Führung braucht nicht nur Charisma. Führung braucht einen Alltag und dieser Alltag braucht statt Charisma Struktur.
Auch Stabilisierung ist eine wichtige Führungsleistung.
Was macht Veränderungen so schwierig?
Wir hatten am Anfang dieses Kapitels aufgezeigt, dass äußere Strukturen genau dann verhaltenslenkend werden, wenn sie als innere Struktur »kopiert« und internalisiert worden sind. Wenn dieser Internalisierungsprozess erfolgreich verlaufen ist, sind die internen Strukturen stabil und nachhaltig geworden. Denn genau das ist seinerzeit das Ziel bei ihrer Internalisierung gewesen. Wenn also eine bestimmte Struktur geschaffen worden ist, ist sie genau mit dem Ziel geschaffen worden, stabil, nachhaltig und belastbar zu sein. Was bei einer erneuten Veränderung dann als Beharrungsvermögen und Trägheit wirkt, zeigt eigentlich nur, wie erfolgreich der vorangegangene Prozess der Strukturschaffung gewesen ist. Strukturen, die sich leicht und anstrengungslos zertrümmern und neu schaffen lassen, können vorher nicht besonders stabil und effizient gewesen sein.
Strukturen sind meistens mit dem Ziel geschaffen worden, dass sie stabil und überdauernd sind.
144
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
> Die Stabilität und Veränderungsresistenz von Strukturen zeigt damit den Erfolg der vorherigen und vorangegangenen Führungsleistung. Viele Menschen finden in bestehenden Strukturen ihre berufliche Identität, ihr überdauerndes Selbstverständnis.
6
Widerstand gegen Veränderungen tritt vor allem dann auf, wenn identitätsstiftende Merkmale der bestehenden Strukturen verändert werden sollen.
Je identitätsstiftender ein Strukturmerkmal geworden ist, umso größer ist der Widerstand gegen eine Veränderung.
Wenn eine neue Struktur geschaffen wird, gibt es plötzlich neue Prozesse, neue Rollen, neue Verhaltenserwartungen, neue Hierarchien, neue Regeln. Ein typisches und praktisch unvermeidbares Problem ist in diesem Zusammenhang dann das Folgende: Viele der Geführten haben in der alten Struktur eine Reihe identitätsstiftender Merkmale gefunden. Die berufliche Identität setzte sich gerade dadurch zusammen, dass man sich für bestimmte Themen als zuständig betrachtete, dass man bei sich bestimmte Kompetenzen und Fähigkeiten sehen und verbessern konnte und dass man bestimmte Werte, Überzeugungen und Regeln erfolgreich internalisiert hatte. Wenn jetzt neue Rollen, Regeln und Werte Gültigkeit haben sollen, wird es immer passieren, dass plötzlich Widersprüche zu solchen Strukturelementen auftauchen, die für die betroffenen Personen sehr identitätsstiftend gewesen sind. Wer sich z. B. in einem konservativen Finanzdienstleistungsinstitut jahrelang als »Finanzberater« verstanden und definiert hat, wird sich unter Umständen sehr schwer damit tun, auf einmal eine Rollenerwartung als »Verkäufer« zu internalisieren. Je stärker die eigene berufliche Identität durch das jahrelange Strukturelement: »Ich bin ein Berater« konstituiert worden ist, umso größer ist der Widerspruch, den man dieser Person durch einen geforderten Rollenwechsel zumutet und umso größer wird der Widerstand sein. Es kann sein, dass bestimmte Personen sich mit einer eingeleiteten Veränderung sehr leicht tun. Dies zeigt lediglich, dass die von der Veränderung betroffenen Strukturelemente für die jeweiligen Personen nicht so stark identitätsstiftend gewesen sind und damit nicht so stark konstituierend für die grundlegende Persönlichkeitsstruktur. Je größer der Widerstand gegen eine Veränderung ist, umso sicherer kann man sein, dass man von den anderen Personen eine Veränderung hinsichtlich solcher Strukturelemente fordert, die identitätsstiftend und fundamental für das eigene Selbstbild sind. Insofern kann man als Unternehmen nicht argumentieren, man würde ja nur die »äußeren Strukturen« verändern und letztendlich sei dies kein großer Schritt. Wenn man äußere Strukturen verändern möchte, muss man auch innere Strukturen verändern, und wenn man innere Strukturen verändern möchte, die stark identitätsstiftend sind, so ist das keine Bagatellaufgabe. > Je stabiler und gereifter Ihre Identität und Ihre Persönlichkeitsstrukturen sind, umso schwerer werden Sie sich damit tun, einen unternehmerischen »Change-Prozess« einfach mal so umzusetzen. »Change« wird damit schwieriger, wenn Strukturen etablierter, geübter, verwachsener und stabiler geworden sind.
6.3 • Veränderung von Strukturen
6.3.2
145
6
Hinweise für die erfolgreiche Umsetzung von Veränderungen
Aus den vorangegangenen Überlegungen folgen nun einige vielleicht auf den ersten Blick überraschende und kontraintuitive Überlegungen und Empfehlungen für die erfolgreiche Gestaltung von Veränderungsprozessen: Veränderungen dürfen nicht radikal und utopisch daherkommen! Viele »Change«-Manager glauben, dass Veränderungen am
erfolgreichsten sind, wenn man symbolisch das Alte zertrümmert, um Platz für das Neue zu machen. Gerade dieser Gedankengang ist falsch! Veränderungen sind dann am erfolgreichsten, wenn man viel Bewährtes erhalten kann. Je mehr der alten stabilen, effizienten und erfolgreichen Strukturen lebendig bleiben, umso leichter wird sich eine Organisation an die neuen Strukturen anpassen können. Veränderungen muss man als Transformation und nicht als Revolution begreifen. Revolutionen ergeben sich aus Krisen. Veränderungen,
die durch gute Führung ausgelöst werden, sind schlichtweg organisches Wachstum. Wer es schafft, in organischem Wachstum das Alte zu erhalten, kann das Neue damit wesentlich erfolgreicher etablieren. So ist z. B. das junge Christentum extrem erfolgreich darin gewesen, auch andere Strukturen aufzunehmen und einzubinden. Die heidnische Sommersonnenwende wurde zum Weihnachtsfest und ebnete vielen damaligen »Heiden« den Weg in das Christentum. Gerade die katholische Kirche ist bei aller ihr oft vorgeworfenen Konservativität in den vergangenen zweitausend Jahren immer gut darin gewesen, sich andere Strukturen und Symbole so einzuverleiben, dass sie sich nicht in Abgrenzung zu diesen definieren musste, sondern Kontinuität repräsentieren konnte. Die Kirche wäre in ihrer Mission in vielen Teilen der Welt niemals so erfolgreich gewesen, wenn sie immer den radikalen Bruch gefordert hätte, anstatt an bestehende Strukturen anzuknüpfen. Darum waren diejenigen Missionare in Afrika erfolgreich, die Gospels singen ließen und nicht Bachs Weihnachtsoratorium einüben wollten. Radikale Veränderungen funktionieren selten ohne Grausamkeit. Wer sich die Nachhaltigkeit und den Erfolg großer Veränderungen ansieht, muss konstatieren, dass die großen Revolutionen oftmals kulturelle Rückschritte waren. Weil die alten Strukturen noch wirkten, konnten sich die Menschen nicht so schnell an die radikalen neuen Strukturen anpassen. Robespierres Gewaltherrschaft nach der französischen Revolution stand der vorangegangenen Monarchie in fast nichts nach. Khomeini war im Iran einst angetreten, um die Unter-
Veränderungen sind leichter, wenn man erfolgreiche Teile der etablierten Strukturen erhalten kann.
Organisches Wachstum ist oft nachhaltiger als Revolutionen.
Die Katholische Kirche hat es in ihren Missionsbemühungen oft gut geschafft, vorgefundene Strukturen zu integrieren.
Wer radikal verändern will, kommt selten ohne Grausamkeit aus, weil sich viele Menschen nicht so schnell von den etablierten Strukturen lösen können.
146
Kapitel 6 • Führung, Kultur und Gewohnheit – Wie Sie durch die Schaffung von Strukturen
drückungsherrschaft des Schahs einzureißen, erzeugte aber ein ungleich repressiveres System. Mao Tse-Tong hat einen radikalen Bruch mit der alten chinesischen Kultur inszeniert und sah sich gezwungen, Millionen von Menschen zu ermorden, die diese Veränderung nicht mitgehen konnten. Wer zu viel und zu radikal verändert, kommt kaum umhin, die Leute zu erschlagen, die die neuen Strukturen nicht so ohne weiteres und so leicht internalisieren können. Darum können die neuen Strukturen selten menschenfreundlicher oder liberaler sein als die alten. Wer stabile Strukturen schafft, schafft auch veränderungsresistente Strukturen.
6
Veränderungsoffenheit und leichte Formbarkeit können mit starker Identität, Effizienz und Stabilität einhergehen.
Man kann nie etwas völlig Neues schaffen, sondern muss sich immer auf Bestehendes beziehen.
Veränderungsoffene Organisationen brauchen eine Kultur, die sich selbst als nicht so stabil betrachtet. Wer seine Organisation flexibel
und veränderungsfähig halten will, muss den Spagat schaffen, eine stabile und effiziente Kultur zu erzeugen, aber gleichzeitig auch eine Kultur schaffen, die sich selbst als nicht zu stabil inszeniert, weil sonst große Krisen nötig werden, um sie zu verändern. In diesem Spagat und in dieser Optimierungsherausforderung liegt die eigentliche Führungsleistung. Machen Sie sich bewusst, dass die Schaffung einer sehr stabilen, effizienten und nachhaltigen Struktur auch immer bedeutet, dass Sie ein Stück weit eine veränderungsresistente Struktur geschaffen haben. Es kann nicht eine Struktur geschaffen werden, die stabil und effizient arbeitet, für die Angehörigen der Organisation identitätsstiftend ist und sich erfolgreich in die inneren Strukturen der Organisationsmitglieder kopiert hat und gleichzeitig eine völlig veränderungsoffene und leicht formbare Organisation repräsentiert. Veränderung von Strukturen erfordert die Anknüpfung an Bestehendes. Wenn Sie Strukturen verändern wollen, machen Sie sich klar,
dass Sie nie im ureigensten Sinne des Wortes etwas »Neues« schaffen können. Sie können immer nur anknüpfen an Bestehendes. Sie müssen sich auf etwas Bestehendes beziehen, sonst kann man Sie nicht verstehen. Wenn Sie in dem, was Sie wollen, nicht an bereits etablierte Strukturen anknüpfen können, kann man das, was Sie wollen, nicht einordnen und begreifen. Das »Alte« ist das, worauf Sie sich berufen. > Die Veränderungsresistenz von Strukturen spiegelt den Erfolg der vergangenen Führungsleistung in der Schaffung und Stabilisierung dieser Strukturen wider. Je identitätsstiftender bestimmte Strukturelemente für die Organisationsangehörigen sind, umso stärker wird der Widerstand gegen eine Veränderung sein. Wer erfolgreich verändern will, darf nicht alles symbolisch zertrümmern. Er muss an das Alte anknüpfen und möglichst viele alte Strukturen erhalten, damit die neuen sich einfügen und ergänzen lassen.
6.3 • Veränderung von Strukturen
Verändern ist ein kontinuierlicher und schrittweiser Prozess und nur im Ausnahmefall Revolution. Wer die Revolution will, muss sich klarmachen, dass sie viele Opfer erfordert. Als Opfer werden die Leute zurückbleiben, deren innere Struktur zu stabil und beharrend ist, als dass sie die große Veränderung der Revolution so ohne weiteres internalisieren können. Wer ohne viele Opfer verändern will, dem bleibt nur der Weg des kontinuierlichen organischen Wachstums.
147
6
Wer Revolution will, erzeugt Opfer. Wer ohne große Opfer verändern will, muss bestehende Strukturen weiterentwickeln.
149
Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen FührungsKraft erzeugen 7.1
Psychologische Ursachen von Konflikten – 151
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4
Konflikte und Beziehungen – 154 Konflikte und Rollen – 155 Verschärfende Bedingungen in Konflikten – 158 Ziele erfolgreichen Konfliktmanagements – 159
7.2
Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung – 161
7.2.1 7.2.2 7.2.3
Konfliktmanagement als Führungsleistung – 161 Phasen in der Entwicklung von Konflikten – 162 Strategien des Konfliktmanagements – 165
7.3
Führung und Gruppendynamik – 171
7.4
Typische Missverständnisse zum Thema Konfliktmanagement – 174
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
7
150
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Konfliktfreie Gruppen benötigen keine Führung.
Wer eine konfliktäre Gruppe gemeinsam handlungsfähig macht, hat geführt.
7 Je konfliktärer eine Gruppe ist, umso größer ist ihr Führungsbedarf.
Große Führungsleistungen offenbaren sich in großen Konflikten.
Der Charakter eines Menschen offenbart sich im Konflikt.
Das Thema Konflikte ist im Grunde genommen das zentrale Thema unseres Lebens bzw. unseres sozialen Lebens. Konflikte fordern uns heraus. Wir erleben sie als leidvoll, aber oft unvermeidbar, und somit sind sie auch im Führungsalltag gegenwärtig. Wie wir später sehen werden, ist das Ereignis des Konflikts im Grunde sogar der zentrale Auslöser für den Führungsbedarf einer Gruppe. Eine völlig konfliktfreie Gruppe benötigt keine Führung, sondern bewegt sich ja per definitionem harmonisch in eine einheitliche und offenbar von allen angestrebte Richtung. Je größer die Konfliktenergie in einer Gruppe (oder auch in einer Beziehung), umso größer ist der potenzielle Führungs- und Entscheidungsbedarf, durch den in dieser Konstellation eine Befriedung herbeigeführt oder gemeinsame Handlungsfähigkeit erzeugt werden könnte. Wer durch aktives Konfliktmanagement eine Gruppe entweder befriedet oder gemeinsam handlungsfähig macht, hat in diesem Sinne viel Führungs-Kraft entfaltet. In diesem Kapitel werden wir ein weiteres Detail unserer Führungs-Skulptur näher betrachten: die Seite des Konfliktmanagements. Denn Führung ist auch erfolgreiches Konfliktmanagement. Je dynamischer (also heterogener, konfliktärer und instabiler) eine Gruppe ist, umso größer ist der Führungsbedarf. Je eindeutiger eine dynamische Gruppe hingegen auf ein Ziel hin ausgerichtet worden ist, desto erfolgreicher ist offenbar das Konfliktmanagement gewesen und die dadurch erzeugte Führungs-Kraft. Ein offener und kritischer Blick in die Welt zeigt, dass viele latente oder auch offene Konflikte ohne Führung nicht lösbar sind. Große Führungspersonen sieht man darum vor allen Dingen in großen Konflikten. Viele Attribute großer Führungspersönlichkeiten (Mut, Tapferkeit, Siegeswillen, Durchsetzungsstärke, aber auch Verhandlungsgeschick, Integrationskraft und Versöhnlichkeit) sind erst in konfliktären Kontexten sichtbar und relevant. Konflikte haben aber unser Leben noch fundamentaler im Griff. Unsere »inneren und äußeren« Konflikte sind unser Lebensschicksal. Aus unseren erlebten Konflikten formt sich unser Charakter. In 7 Kap. 2 haben wir gezeigt, dass Charisma sich aus inneren Konflikten entwickelt, die durch das Auslösen bestimmter Kompensationsleistungen letztlich zu den charismatischen Stärken führen. Wenn wir unsere eigenen Grenzen nicht überwinden, scheitern wir an unseren inneren Konflikten, und wenn wir an den Widerständen der Welt scheitern, scheitern wir an äußeren Konflikten. Der Konflikt formt aber nicht nur unseren Charakter, sondern im Konflikt offenbart sich auch unser Charakter: Wenn Sie andere Menschen wirklich beurteilen und verstehen wollen, müssen Sie sehen, wie sie sich in Konflikten verhalten. Sie müssen verstehen, welche inneren Konflikte diese Menschen treiben und wie sie mit äußeren Konflikten umgehen. > Wenn Sie verstanden haben, wie ein Mensch mit Konflikten umgeht, dann haben Sie seinen Charakter verstanden!
7.1 • Psychologische Ursachen von Konflikten
151
7
In diesem Kapitel werden wir uns zunächst die psychologischen Ursachen und Bedingungen eines Konfliktes anschauen. Wir werden uns auch mit typischen Missverständnissen und Illusionen zum Thema Konflikte auseinandersetzen. Im nächsten Schritt werden wir den Zusammenhang zwischen Konflikten und Führung herstellen und darlegen, inwiefern der Führungsbedarf einer Gruppe durch das Konfliktgeschehen bedingt ist. Im nächsten Abschnitt geht es um das aktive und praktische Konfliktmanagement als Führungskraft. Hier werden für die unterschiedlichen Phasen, in denen sich ein Konflikt befinden kann, Herangehensweisen und Strategien beschrieben, um mit der Situation erfolgreich umzugehen. Im letzten Schritt legen wir für unterschiedliche Phasen der Gruppendynamik die grundsätzlichen Strategien dar, die Sie als Führungskraft in der Führung von Gruppen anwenden können.
7.1
Psychologische Ursachen von Konflikten
> Konflikte sind Gegensätze zwischen Menschen, die durch emotional aufgeladene Meinungen und Interessen entstehen.
Konflikte ergeben sich potenziell dann, wenn Sie ein Anliegen (eine Meinung oder ein Interesse) verfolgen, das emotional oder motivational bedeutungsvoll für Sie ist. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten sind damit zwei unterschiedliche Dinge: In Meinungsverschiedenheiten vertreten Sie eine rational mehr oder weniger gut begründbare Auffassung zu einem bestimmten Thema. Wenn diese Meinung für Sie jedoch keine besondere emotionale Bedeutung hat, sind Sie bereit, diese Meinung zu verändern, wenn dies durch neue Argumente oder andere Sichtweisen rational begründbar und sinnvoll erscheint. In Meinungsverschiedenheiten geht es also um Recht und Unrecht. Je emotionaler eine bestimmte Meinung oder ein bestimmtes Interesse bei Ihnen besetzt ist, umso schwieriger ist eine Änderung durch bestimmte rationale Argumente zu erreichen. Es geht Ihnen in einem echten Konflikt (anders als bei einer Meinungsverschiedenheit) nicht um Erkenntniszuwachs, sondern vor allen Dingen um die Realisierung der von Ihnen emotional positiv belegten Seite des Konflikts, oder anders gesprochen, während es in einer Meinungsverschiedenheit um Recht und Unrecht geht, geht es in einem Konflikt um Sieg und Niederlage. Konflikte sind deswegen auch nicht so ohne weiteres rational lösbar, weil die den Konflikt auslösenden Gegensätze emotional belegt sind.
In Meinungsverschiedenheiten geht es um rational begründete Auffassungen.
In Konflikten sind die verschiedenen Standpunkte emotional aufgeladen:
152
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Konflikt oder Meinungsverschiedenheit? Machen wir uns den Unterschied zwischen Meinungsverschiedenheit und Konflikt an einem praktischen Beispiel deutlich: Stellen Sie sich ein Ehepaar vor, das gerade gemeinsam am Küchentisch den nächsten Urlaub planen möchte. Die Ehefrau wünscht sich einen möglichst einsamen Strandurlaub in einem warmen Land, ihr Mann hingegen möchte Bergwandern in Tirol. Dies sind die beiden unterschiedlichen Interessen, mit denen das Konfliktgespräch startet. Es wird unmittelbar deutlich, dass es sich hier nicht um belanglose Meinungen handelt, die man bei guten Argumenten schnell ändern könnte, sondern dass beide Standpunkte Ausdruck eines emotionalen Bedürfnisses und in diesem Sinne »motiviert« sind. Das Gespräch am Küchentisch nimmt nun zunächst den Weg über scheinbar sachliche Argumente. Die beiden Gesprächspartner zählen sich gegenseitig bestimmte Vorteile der von ihnen favorisierten Urlaubsalternative auf, müssen jedoch erkennen, dass diese Argumente (selbst wenn sie wiederholt und zunehmend lauter vorgebracht werden) nicht an Überzeugungskraft für den jeweils anderen gewinnen. Der Grund ist, dass keiner der beiden Partner inhaltlich überzeugt werden möchte, weil es sich nicht um eine Meinung handelt, von deren Verfolgung man sich leicht wieder lösen könnte, sondern um eine Meinung mit starker emotionaler Implikation.
7
Diejenigen Interessen, die emotional besonders bedeutsam und daher motiviert sind, formen den Charakter eines Menschen.
Diejenigen Meinungen und Interessen, die bei Ihnen emotional besonders aufgeladen sind, formen Ihren Charakter. Es gibt hierbei bestimmte Punkte, die sicherlich bei allen Menschen eine starke emotionale Reaktion wachrufen, wenn z. B. eine sehr grundlegende Motivation in Gefahr gerät (z. B. die des Weiterlebens). In diesem Falle wären die meisten von uns bereit, zu kämpfen, Argumente hin oder her. Aber der menschliche Charakter erhält seine Tönungen und Färbungen vor allen Dingen in der Frage, welche Dinge jemandem wichtig sind, welche wirklich etwas bedeuten und welche Interessen jemanden im Falle einer Gefahr zu einer konfliktären Reaktion veranlassen. Erinnern Sie sich an die vier grundsätzlichen Orientierungen oder Ängste, die wir in 7 Kap. 2 beschrieben haben: 5 Die autonomieorientierte Person gerät in einen Konflikt, wenn die Wahrnehmung ihrer Besonderheit und Herausgehobenheit in Gefahr gerät. 5 Die beziehungsorientierte Person gerät in einen Konflikt, wenn sie sich abgelehnt und ungeliebt fühlt. 5 Die stimulanzorientierte Person gerät in einen Konflikt, wenn sie sich in ein zu enges Regelkorsett gepresst fühlt. 5 Die struktur- oder balanceorientierte Person gerät in einen Konflikt, wenn die Welt zu haltlos, unvorhersehbar und unsicher erscheint.
7.1 • Psychologische Ursachen von Konflikten
Sie können sich nun bei allen vier Orientierungen Konflikte ausdenken, die durch gute Argumente nicht so ohne Weiteres zu beseitigen sind. Für hoch stimulanzorientierte Personen sind bestimmte Regelungen und Begrenzungen ärgerlich und Angst auslösend, wie gut auch die »sachlichen« Argumente für die entsprechende Regel sein mögen. Einer sehr stark struktur- und balanceorientierten Person können Sie viel darüber erklären, warum in bestimmten Umständen Spontaneität und Unbestimmtheit »objektiv vorteilhaft« sind (die Anführungsstriche implizieren bereits, dass es das Objektive in diesen Situationen nicht gibt), Sie werden in derartigen Diskussionen sicherlich nicht überzeugen. Sie können mit hoch beziehungsorientierten Personen darüber diskutieren, warum es »besser« wäre, eine bestimmte Beziehung aufzugeben und zu beenden, aber eine solche Handlung wäre für hoch beziehungsorientierte Personen unter Umständen immer noch so angstbesetzt (und dementsprechend unmotiviert), dass Ihre scheinbar guten Argumente nicht wirklich weiterhelfen. Auch hoch autonomieorientierte Personen können Sie üblicherweise nicht mit guten Argumenten nachhaltig dazu bringen, sich unterzuordnen, weil die verlangte Unterordnung zu stark mit Autonomieverlust assoziiert und damit angstbesetzt wäre. Sie würden z. B. mit einer sehr autonomieorientierten Person über ein zukünftiges Projekt sprechen und es gäbe zwei Optionen, dieses Projekt anzugehen: A und B. Würden beide Optionen keine Ängste in dieser Person auslösen (die innere Struktur »Autonomieorientierung« wäre nicht betroffen), so könnten sie rational Für und Wider der verschiedenen Wege zur Zielerreichung mit dieser Person diskutieren und die Argumente sachlich gegeneinander abwägen. Anders stellte sich das Problem dar, wenn eine der vorgeschlagenen Optionen z. B. deutlich weniger Profilierungsgewinn für diese Person mit sich bringt. Durch rein vernünftige Abwägungen der Vor- und Nachteile der beiden möglichen Vorgehensweisen könnte es sehr schwer werden, die autonomieorientierte Person für eine rational begründete Alternative zu begeistern. Auch wenn beide Optionen rein sachlich »gleich gut« wären, würde sich die autonomieorientierte Person intuitiv immer fragen, bei welcher Lösung ihre eigenen emotionalen Interessen mehr bedacht werden würden und diese präferieren. Wenn Sie nicht die inneren Strukturen Ihrer Mitarbeiter im Fokus haben und Abstimmungsprozesse nur rational betrachten, so sehen Sie manchmal die inneren Konflikte nicht, die – aller »Rationalität« zum Trotz – durch bestimmte Entscheidungen ausgelöst werden. Am 7 Exkurs »Konflikt und Biologie« lässt sich sehr schön sehen, warum der in vielen Konfliktgesprächen von der einen (zumeist der innerlich weniger stark beteiligt wirkenden Partei) angeführte Appell zur Sachlichkeit im Allgemeinen nicht viel bewirkt, sondern oftmals eher noch wie eine durch Überheblichkeit getriebene Kampftechnik weiteres Öl ins Feuer gießt.
153
7
Verschiedene Erfahrungen erzeugen bei unterschiedlichen Orientierungen einen inneren Konflikt. Wer den Charakter eines anderen Menschen verstanden hat, kann vorhersehen, welche Argumente für diesen angstauslösend sind.
Die rationale Abwägung von Alternativen funktioniert nur, wenn keine bedeutsamen Orientierungen oder Ängste betroffen sind.
Man muss sensibel für die internalisierten Strukturen anderer sein, wenn man deren innere Konflikte verstehen will.
Der Appell zur Sachlichkeit ist in schwierigen Konflikten oft nicht erfolgreich.
154
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Konflikt und Biologie
7
Der Konflikt ist ein evolutionsgeschichtlich gesehen sehr altes Ereignis. Konflikte finden sich auch schon bei deutlich primitiveren Lebensformen als den Menschen. Wenn Sie sich das Verhalten von Tieren in Konflikten anschauen, entdecken Sie schnell die beiden typischen biologischen Konfliktstrategien Flucht und Angriff. Wir identifizieren auch rasch die beiden damit im Zusammenhang stehenden Emotionen, nämlich Angst und Aggression. Bei uns Menschen hat sich durch unsere biologische, evolutionäre und kulturelle Entwicklung ein Kommunikationssystem entwickelt, das uns eine dritte Konfliktstrategie eröffnete, nämlich die Verhandlung. In Zeiten von Kommunikation und Rationalität ist die Verhandlung somit ein potenzieller dritter Weg, der manchmal erfolgreich eingeschlagen werden kann. Um aber zu verstehen, warum das in vielen Fällen nicht gelingt, muss man
Der Verstand kann nicht einfach eine Emotion abschalten.
Konflikte sind potenziell da, so lange wir zu irgendetwas motiviert sind.
sich noch einmal das Verhältnis von Verstand und Gefühl bei uns Menschen vor Augen führen: Unser Gefühls- und Emotionssystem ist entwicklungsgeschichtlich gesehen das ältere System, mit dem wir die Welt bewerten. Unsere urzeitlichen Vorfahren wussten schon lange intuitiv, ob sie Angst hatten, und zwar lange bevor sie in der Lage waren, Situationen rational zu analysieren. Unsere Emotionen sind entwicklungsgeschichtlich älter als der Verstand. Die emotionale Bewertung bestimmter Situationen und Sachverhalte geschieht (aufgrund unserer inneren psychischen Strukturen) immer noch sehr schnell und intuitiv. Unser Gefühl determiniert dadurch unser inneres Erleben. Unser Verstand ist allerdings durchaus in der Lage, bei der Auswahl einer Handlungsalternative unser Gefühl zu dominieren. Wenn Sie z. B. unter Flugangst leiden, kann Ihr Verstand Sie dazu zwingen, trotzdem ein
Sie können sich nicht einfach per Verstand dafür entscheiden, ob eine Meinung für Sie sachlich oder emotional aufgeladen ist! Wenn eine bestimmte Meinung für Sie sehr emotional aufgeladen ist, dann können Sie von dem Tipp »Ärgern Sie sich doch nicht so!« nicht besonders gut profitieren! Wie soll man das machen? Wie soll man durch eine Willensleistung den Ärger oder die Aggression abschalten, wenn man sich im Hinblick auf eine Sache angegriffen fühlt, die emotional für einen bedeutsam ist? Aus diesen Überlegungen folgt aber auch, dass wir als Menschen so lange potenziell Konflikte haben werden, so lange wir zu irgendetwas motiviert sind. So lange wir Meinungen und Interessen haben, die uns unter die Haut gehen, die emotional bedeutsam für uns sind und die wir uns nicht von »objektiven« Argumenten wegdiskutieren lassen wollen, so lange ist der Raum aufgespannt, in dem wir potenziell Konflikte haben werden. Völlig konfliktfrei kann unser Leben erst sein, wenn wir zu nichts mehr motiviert sind. Dann sind wir allerdings tot.
7.1.1 In jedem Konflikt steckt die Ambivalenz zwischen Durchsetzung und Beziehungsqualität.
Flugzeug zu besteigen. Im Sinne unseres Verhaltens kann unser Verstand uns – bei entsprechend stark ausgeprägtem Willen – auch anders steuern als unser inneres Erleben dies bevorzugen würde. Unser Verstand kann allerdings nicht so einfach unser inneres Erleben verändern. Selbst wenn Sie in dem eben genannten Beispiel mit der Flugangst mutig das Flugzeug besteigen, kann Ihr Verstand nicht die Angst »ausknipsen«, egal wie irrational Ihnen die Angst erscheinen mag! Selbst wenn Sie einen sehr freundlich unterstützenden Sitznachbarn haben, der Ihnen ein sehr anschauliches Referat über die Überlegenheit des Fliegens im Hinblick auf Sicherheit und Unfallgefahr gegenüber anderen Verkehrsmitteln hält, so verflüchtigt sich Ihre Angst durch diese (objektiven und rationalen) Argumente nicht so ohne weiteres.
Konflikte und Beziehungen
Wenn man das im ersten Abschnitt Gesagte unter einer anderen Perspektive reflektiert, wird deutlich, warum Konflikte umso wahrscheinlicher werden, je enger eine Beziehung ist. Bestimmte Gegensätze
7.1 • Psychologische Ursachen von Konflikten
werden in besonders engen Beziehungen erst auffällig und relevant und eine Austragung dieser Konflikte wird umso intensiver und nachdrücklicher erforderlich, je weniger man die Beziehung beenden und aufgeben könnte. Hieraus ergibt sich genau diejenige Ambivalenz, die für uns Menschen Beziehungen oft so schwer und leidvoll macht. In jeder Konfliktsituation müssen Sie in einer Beziehung die Entscheidung treffen, ob Sie sich mit Ihrem Anliegen maximal durchsetzen wollen (aber dann vielleicht dafür die Beziehung oder zumindest aber Beziehungsqualität riskieren), oder ob Sie lieber die Kröte schlucken, dass Ihre emotionale Präferenz nicht oder nicht voll realisiert wird, dafür aber die Beziehung unbeschadeter halten können. Diese Ambivalenz ist eine ständige Optimierungsleistung und wir bemerken den Konflikt daran, dass sich beides zugleich nicht optimieren lässt. Beides wird Ihnen aber in einem Konflikt negative Emotionen bescheren. Machen Sie Abstriche in einem Anliegen, das Ihnen emotional viel bedeutet (um Beziehungsqualität zu erhalten), sind Sie natürlich emotional nicht zufrieden. Wenn Sie Ihr Anliegen aber vollständig durchsetzen und dadurch eine Beziehung riskieren, die erhaltenswert und positiv gewesen wäre, kann auch dieser Teil Sie nicht glücklich machen. Der Konflikt schmerzt und wird, egal wie er ausgeht, immer etwas Unschönes für Sie bereithalten (s. auch 7 Exkurs »Konflikte und Win-Win«).
155
7
Konflikte beinhalten unweigerlich negative Emotionen.
> Konflikte sind Gegensätze zwischen Menschen, die durch emotional aufgeladene Meinungen und Interessen entstehen. Je höher die emotionale Beteiligung ist, umso weniger lässt sich ein Konflikt durch die Abwägung und Analyse von Sachargumenten klären. Konflikte sind potenziell unvermeidbar, wenn wir emotional belegte Interessen haben, für die sich das Kämpfen und damit das Belasten der Beziehung lohnt.
7.1.2
Konflikte und Rollen
Um die unterschiedliche Dynamik von Konflikten in verschiedenen Situationen besser zu verstehen, kann es hilfreich sein, sich den Zusammenhang von Konflikten und unseren Rollen zu verdeutlichen. Eine Rolle ist im soziologischen Sinn ein Bündel von Verhaltenserwartungen, denen wir ausgesetzt sind. Die entscheidende Erkenntnis ist nun, dass wir niemals anderen Menschen an und für sich begegnen können, ihnen also quasi in einem leeren Universum gegenüberstehen. Wir treffen andere Menschen immer als Mensch und Rolle, weil wir andere Menschen stets in einem Kontext treffen, in dem bestimmte gegenseitige Verhaltenserwartungen bedeutsam werden. Wir treffen andere Menschen nicht nur als Mensch, sondern als Mensch und Kunde, als Mensch und Bruder, als Mensch und Lebensgefährte, als Mensch und Kollege, als Mensch und Lieferant, als
Wir treffen andere Menschen unweigerlich in einem Kontext, mit dem Rollenerwartungen verbunden sind.
Unterschiedliche Rollenkontexte aktivieren unterschiedliche Konfliktfelder.
156
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Konflikte und »Win-Win«
7
Aus dem Vorgesagten lässt sich allerdings auch direkt ableiten, wie skeptisch man gegenüber dem Versprechen sein muss, dass es in Konflikten immer eine Win-Win-Lösung gibt. Selbstverständlich wäre es schön und erstrebenswert, wenn nach einem Konflikt die Interessen beider Konfliktparteien sinnvoll berücksichtigt wären. In unserem eingangs erwähnten Urlaubsbeispiel könnte eine solche Win-Win-Lösung natürlich in einem Urlaub an einem strandnahen Gebirge bestehen, wo die jeweiligen Freizeitinteressen der streitenden Partner realisierbar wären (fraglich ist aber, ob dies tatsächlich konfliktfrei wäre, denn vermutlich ging es in dem Konflikt nicht nur um den Urlaubsort, sondern auch um den Schwerpunkt der gemeinsamen Freizeitgestaltung). Viele typische Kommunikationstrainer vertreten unreflektiert die Meinung, dass Konflikte durch »bessere Kommunikation« gelöst werden könnten und sich immer ein Win-Win-Weg finden würde. Zu diesen Meinungen möchten wir wie folgt Stellung nehmen: Durch bessere Kommunikation lassen sich nur Konflikte klären, die auf Missverständnissen oder Informationsmangel beruhen. Sobald durch gute Kommunikation der Informationsmangel ausgeräumt oder das Missverständnis beseitigt worden ist, wäre damit auch der Konflikt verschwunden. Unserer Einschätzung nach trifft dies aber für die großen und wirklich relevanten Konflikte in der Welt nicht zu. Ein Tarifstreit beispielsweise ist nicht durch gute Kommunikation beizulegen. Die Kontrahenten haben wirklich unterschiedliche Interessen in der realen Welt (die Gewerkschaften hätten gerne höhere Verdienste für
die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber würden gerne weniger bezahlen). Diese gegensätzlichen Interessen bleiben auch bei guter Kommunikation erhalten. Das Einzige, was gute Kommunikation in einer solchen Situation vermag, ist es, den Konflikt nicht noch schlimmer zu machen. Oder anders gesprochen: Schlechte Kommunikation würde zusätzliches Öl ins Feuer gießen. Gute Kommunikation würde aber zu einer Beseitigung des Konfliktes erst einmal nichts beitragen. Das Thema der Win-Win-Lösung wird in einer ähnlichen Art und Weise oftmals idealisiert und moralisierend verargumentiert. Win-Win-Lösungen kann es in Konflikten aber immer nur dann geben, wenn die Kontrahenten über konvertierbare Währungen verfügen. Win-Win-Lösungen sind also nur dann möglich, wenn ein Partner von seiner ursprünglichen Position abrücken kann, weil er vom anderen etwas bekommt, das sein Interesse ebenfalls befriedigen würde. Gerne wird der Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten von 1979 als Beispiel einer guten WinWin-Lösung dargestellt. Israel hielt seinerzeit den Sinai besetzt, hatte aber eigentlich kein langfristiges Interesse an einer kostspieligen Kultivierung der großen Wüste, sondern Israel ging es in erster Linie um Sicherheit. Ägypten wollte den Sinai zurück aus Gründen der territorialen Integrität. In diesem Fall gab es nun konvertierbare Währungen. Israel konnte »Land gegen Sicherheit« akzeptieren. Israel gab den Sinai zurück, der zur entmilitarisierten Zone geworden ist. Zusammen mit einigen weiteren Abkommen zum Thema Sicherheit konnten auf diese Weise die Interessen beider Seiten berücksichtigt
werden. Dieses Beispiel funktionierte aber genau deswegen so gut, weil es konvertierbare Währungen gegeben hat, weil also »Land gegen Sicherheit« möglich war. Je fundamentaler die Prinzipien sind, die in einem Konflikt betroffen sind, umso weniger kann es Win-Win-Lösungen geben. Um ein drastisches Beispiel zu nennen, das diesen Punkt verdeutlicht: Nehmen wir einmal an, Sie wären angetreten, um mit der katholischen Kirche über eine Aufweichung der Abtreibungsächtung zu verhandeln. Was würden Sie der katholischen Kirche dafür im Gegenzug anbieten? Mehr Mitglieder? Mehr Priesternachwuchs? Mehr Reputation? Mehr Kirchensteuern? Tiefere Gläubigkeit? Es wird unmittelbar klar, wie absurd eine solche Verhandlung wäre. Für ein so in der katholischen Lehrmeinung fundamental verankertes (und innerkirchlich wie außerhalb der Kirche entsprechend emotional aufgeladenes) Prinzip kann es keine »Tauschwährung« geben. Ohne Tauschwährungen gibt es keine Win-Win-Lösung. Wir wehren uns nicht gegen die Ambitionen, in schwierigen Konfliktsituationen nach solchen Tauschwährungen zu suchen. Wenn es sie gibt und wenn dadurch ein Interessensausgleich möglich wird, so ist dies selbstverständlich das bestmögliche Ergebnis. Wir wehren uns nur gegen die leichtgläubige, aber oftmals vertretene Ansicht, dass es Win-Win-Lösungen immer geben könnte. Wenn man sich die großen und relevanten Konflikte der Welt anschaut, muss man sicher oftmals erkennen, dass die Interessensgegensätze so fundamentale Punkte betreffen, dass es keine sinnvolle Tauschwährung gibt.
Mensch und feindlicher Soldat. Die möglichen Konfliktfelder, die nun entstehen können, ergeben sich daraus, wie konträr oder kompatibel die gegenseitigen Rollenerwartungen nun sind. Wenn Sie z. B. als Dienstleister die Erwartungen Ihres Kunden perfekt erfüllen und sich auch Ihre Rollenerwartungen an Ihren Kunden mit Ihren Erlebnissen decken, dann haben Sie in diesem Moment eine konfliktfreie Bezie-
7.1 • Psychologische Ursachen von Konflikten
hung. Bestimmte persönliche Eigenarten können im obigen Beispiel deshalb außer Acht gelassen werden, weil sie für die Rolle, die jeder von Ihnen innehat, von nur geringer Relevanz sind (so sind zum Beispiel extravagante Vorlieben in der Freizeitgestaltung oder besondere sexuelle Präferenzen üblicherweise von den Rollenerwartungen Kunde – Lieferant nicht tangiert und scheiden damit als Konfliktfelder aus). In den gegenseitigen Rollenerwartungen eines Paares können die beiden genannten Aspekte aber sehr wohl eine bedeutsame Rolle spielen und dementsprechend konfliktauslösend sein. Diese Rollenerwartungen können also Konflikte verursachen, die in anderen Rollenkontexten nicht bedeutsam sind. Die Tatsache, dass Konflikte auch rollenbedingt sind, ändert übrigens nichts an ihrem emotionalen Gehalt und ihrer emotionalen Intensität. Sie können aber folgendes Phänomen erklären: Ein Marketingleiter und eine Vertriebsleiterin des gleichen Unternehmens können sich nicht leiden, da keiner die Rollenerwartungen des anderen ausreichend erfüllt. Somit finden sie sich in dieser Konstellation in einem dauerhaften Konflikt wieder. Würden die beiden jedoch in verschiedenen Unternehmen arbeiten und hätten sich z. B. auf einer Cocktailparty kennen gelernt, wären sie sich in ganz anderen Rollen begegnet und hätten den jeweiligen Erwartungen an einen potenziellen Beziehungspartner möglicherweise so sehr entsprochen, dass sie mittlerweile verheiratet wären. Ein Chef, der seine Sekretärin heiratet, hat anschließend andere Konfliktfelder mit ihr als vorher, weil plötzlich andere Rollenerwartungen in die Beziehung einbezogen werden. Nach einer Scheidung sind bestimmte Konfliktfelder wieder verschwunden, weil die Rollenerwartungen an einen geschiedenen Lebensgefährten sich deutlich von denjenigen an einen verheirateten Lebensgefährten unterscheiden. Welche Rollenerwartungen Sie in welcher Weise bereit oder fähig sind auszufüllen oder eben nicht auszufüllen, sagt etwas über Ihre eigene innere Struktur aus. Nichtsdestotrotz wird es immer so sein, dass bestimmte Konfliktfelder nur in ganz bestimmten Kontexten aktiviert werden können, weil sie in anderen Kontexten nicht zum Bündel der Rollenerwartungen gehören. > Konflikte sind nicht verstehbar, wenn man sie nur als Phänomen zwischen Personen betrachtet. Konflikte werden erst verstehbar, wenn man sie in den Kontext gegenseitiger Rollenerwartungen stellt, die in bestimmten Situationen vorherrschen. Dem Konfliktgeschehen sieht man dann an, welche Rollenerwartungen die Konfliktparteien aneinander stellen und welche Erwartungen von einer anderen Seite nicht erfüllt werden. Je nach Kontext und aktivierten Rollenerwartungen sind bestimmte Konfliktfelder dann relevant oder irrelevant.
157
7
Die Rollenbedingtheit von Konflikten sagt nichts über ihre emotionale Intensität aus.
Innere Strukturen legen fest, welche Rollenerwartungen erfüllt werden wollen und können.
158
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
7.1.3
Verschärfende Bedingungen in Konflikten
Die Eskalationsstärke eines Konfliktes hängt von verschiedenen Dingen ab.
An dieser Stelle möchten wir nun aufzeigen, warum sich bestimmte Konflikte besonders gewalttätig entwickeln und andere Konflikte weniger eskalierend gelöst werden können. Aus dem Vorangegangenen wurde schon deutlich, dass eine der Ursachen für diesen unterschiedlichen Verlauf in Konflikten genau in der Stärke liegt, mit der ein bestimmtes Interesse emotional belegt ist. Es gibt darüber hinaus noch drei weitere Faktoren, die Intensität und Eskalationswahrscheinlichkeit eines Konfliktes ausmachen.
Bei höheren Einsätzen werden die Konfliktstrategien unmoralischer.
Die Höhe des Einsatzes. Ein wesentlicher Aspekt, der zur Intensität in einem Konflikt beiträgt, ist die Höhe des Einsatzes, um den es geht. Etwas lapidar gesprochen könnte man sagen, dass die Manieren schlechter werden, wenn viel auf dem Spiel steht. Um zehn Euro streiten Sie sich gelassener als um eine Million. Wenn das Überleben Ihrer Firma in Gefahr ist, so werden Sie vermutlich heftiger reagieren, als wenn Sie nur einen mittelgroßen Auftrag verlieren. Je höher der Einsatz ist, umso leichter rechtfertigen Sie vor sich selbst und auch vor anderen den Einsatz von Gewalt oder unmoralischen Konfliktstrategien (Täuschung, Lüge, Verbrüderung mit einem Feind zur Bekämpfung eines gemeinsamen Feindes etc.).
Psychische Strukturen können konfliktverschärfend sein.
Die psychischen Strukturen der einzelnen Beteiligten. Die Frage, was genau zu einem Konflikt führt, geht auch auf die psychischen Strukturen der Beteiligten zurück (wir meinen hier Struktur in dem Sinne, wie wir es im vorangegangenen Kapitel eingeführt haben). Ihre psychischen Strukturen dienen Ihnen als Raster, durch das Sie die Welt beurteilen, und sie leiten Ihr Handeln wie ein Kompass durch eine ansonsten sehr komplexe Welt. Psychische Strukturen einzelner Personen können so angelegt sein, dass sie konfliktverschärfend oder rigidisierend sind. Die Überzeugungen, Werte, Prinzipien und Ängste einer Person können so emotional aufgeladen sein, dass die Bereitschaft zu Durchsetzung und Gewalt erhöht ist oder dass sich sehr viele Konfliktfelder für diese Person ergeben. Woran erkennen Sie Menschen mit schwierigen psychischen Strukturen? Die Frage ist einfach zu beantworten: Sie erkennen sie an der Konfliktbereitschaft!
7
> Schwierige psychische Strukturen bekommen Sie in jedweder Art von Beziehung als Konflikt serviert. Der innere Konflikt, der einen äußeren Konflikt energetisiert, kann nur interpretiert werden.
Wenn Sie Konflikte beobachten, können Sie zunächst nur den »äußeren« Konflikt sehen, in Form des Konfliktverhaltens der jeweiligen Person. Den dahinter liegenden »inneren« Konflikt können Sie zunächst nur erahnen. Um ihn zu verstehen, müssen sie sensibel und interpretationssicher sein.
7.1 • Psychologische Ursachen von Konflikten
159
7
> Innere Konflikte werden immer zu äußeren Konflikten, wenn die betreffende innere Struktur aktiviert wird.
Wenn Sie Personen beobachten, die aus Ihrer Sicht »sachlich nicht begründbar« ständig Konflikte austragen, so gilt es, die Perspektive weg vom äußeren Konflikt hin auf die innere Verfassung der Kontrahenten zu richten. Wer sich zum Beispiel durch ein sehr hohes Geltungsund Anerkennungsbedürfnis in seiner inneren psychischen Struktur auszeichnet (im psychologischen Sinn narzisstisch ist), wird insbesondere in solchen Situationen einen Konflikt heraufbeschwören, in denen seine Geltung und Reputation in Gefahr zu geraten scheinen oder – aus seiner Perspektive – nicht genügend gewürdigt werden. Sie können jedoch einen Konflikt immer nur als außen stehender Beobachter wahrnehmen (es sei denn, sie sind selbst involviert und »hören« intensiv in sich hinein). Den inneren Konflikt können sie immer nur erahnen. Andersherum gilt das ebenso:
Die inneren Strukturen determinieren, welche äußeren Ereignisse innere Konflikte erzeugen.
> Äußere Konflikte werden zu inneren Konflikten.
Ein äußerer Konflikt aktiviert immer auch Ihre inneren Strukturen. Die Gefahr, die von einem äußeren Konflikt (z. B. einem Angriff ) ausgeht, spricht Ihre inneren Strukturen an und Sie erleben den äußeren Konflikt wiederum als inneren Konflikt, als Ambivalenz, Verzweiflung, Wut und Zerrissenheit. Sicher haben Sie schon Menschen beobachten können (oder kennen diese Dynamik von sich selbst), die auf Konflikte sehr empfindlich und massiv reagierten. Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht unverständlich. Wenn Sie jedoch Ihren Blick für die betroffenen inneren Strukturen und Konfliktfelder schärfen, entwickeln Sie mehr Sensibilität für schwierige psychische Strukturen bei anderen Menschen. Schwierige psychische Strukturen bei anderen Menschen erleben Sie von außen immer als Konflikt bzw. Konfliktbereitschaft!
Äußere Konflikte aktivieren innere Strukturen und Emotionen.
Eine hohe Stress- und Belastungssituation. Der dritte konfliktverschärfende Faktor besteht in einer hohen Stress- und Belastungssituation. Je mehr sich Menschen insgesamt unter Druck (oder in einer Krise) erleben, umso schlechter wird die Fähigkeit, durch Wille und Selbststeuerung konfliktäre Tendenzen zu unterdrücken. Konflikte entladen sich schneller, leichter, hemmungsloser und intensiver, wenn die eigene Reizschwelle stark herabgesetzt ist. Gerade bei kleinen Kindern kann man beobachten, dass deren Reizschwelle in ihnen unbekannten Situationen noch recht gering ist und erlebte Belastungen sofort konfliktär ausagiert werden (z. B. durch Wutausbrüche).
Je größer das Belastungsempfinden, desto schlechter die Selbststeuerung in der Unterdrückung konfliktärer Tendenzen.
7.1.4
Ziele erfolgreichen Konfliktmanagements
Wenn man nun Konfliktmanagement als wichtige Führungsaufgabe betrachtet, ist eine wichtige Frage, welches Ziel durch gelungenes Konfliktmanagement verfolgt wird. Grundsätzlich kann man zwei
Harmonie kann als ein wünschenswerter Gegensatz zum Konflikt betrachtet werden.
160
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Viele Konflikte sind nicht harmonisierbar.
Frieden ist ein weiterer Gegensatz zum Konflikt.
7
Frieden bedeutet, dass Interessensgegensätze gewaltfrei geregelt werden.
Frieden braucht man nur dort, wo Krieg war oder Krieg droht.
Pole sehen, die als wünschenswerte Gegensätze eines Konfliktes charakterisiert werden können. Der erste Pol ist Harmonie. Harmonie meint (auch in der ursprünglichen Wortbedeutung) die Abwesenheit von Gegensätzen. Wo es keine Gegensätze gibt, kann es dementsprechend auch keine Konflikte geben. Wenn wir diesen Standpunkt vertreten würden, so würden wir erfolgreiches Konfliktmanagement als Wiederherstellung von Harmonie betrachten. Allerdings wird (auch auf der Grundlage der vorher diskutierten Aspekte) sehr schnell deutlich, dass viele Konflikte gar nicht harmonisierbar sind, weil die Gegensätze in der realen Welt oder aber in der eigenen psychischen Struktur existieren bzw. so tief verankert sind, dass sie nicht einfach zu eliminieren sind. Es stellt sich also die Frage, welches alternative Ziel für erfolgreiches Konfliktmanagement anstrebenswert wäre. Dieses alternative Ziel heißt Frieden. Frieden entsteht in einem Konflikt genau dann, wenn der Umgang mit den Gegensätzen so geregelt ist, dass eine Fortsetzung des Streites nicht mehr nötig ist, auch wenn die Gegensätze selbst noch fortbestehen. Man kann sich vorstellen, dass der Straßenverkehr noch wesentlich konfliktärer ablaufen würde, wenn es nicht so viele Spielregeln gäbe, die viele potenzielle Konflikte gar nicht erst zum Ausbruch gelangen lassen. Der Flächentarifvertrag ist ein anderes Beispiel für einen geregelten Konfliktmechanismus, der dazu führt, dass nicht in jedem Betrieb einzeln um Gehaltserhöhungen gestritten werden muss und so die Beziehung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in den meisten Betrieben wesentlich weniger belastet wird, als es potenziell möglich wäre. Das Ergebnis eines Tarifstreites ist somit Frieden und nicht Harmonie. Die Arbeitgeber beurteilen den Tarifabschluss als zu teuer und die Arbeitnehmerseite findet, dass ihnen eigentlich mehr zugestanden hätte. Harmonie ist in dieser Frage nicht zu erwarten. Aber ein guter Friede sichert zu, dass der Interessensgegensatz in einer geregelten Form ausgelebt werden kann und somit wesentlich weniger gewaltfrei und beziehungszerrüttend ist, als er es sonst vermutlich wäre. Frieden erscheint auf den ersten Blick wie ein sehr schönes und angenehmes Wort. Hierbei wird aber häufig übersehen, dass Frieden nur da nötig ist, wo vorher Krieg war oder wo Krieg droht. In einer harmonischen Situation braucht man sich über Frieden keine Gedanken zu machen. Die Tatsache, dass man sich über die Regelung von Konflikten (und nichts anderes bedeutet Frieden) Gedanken machen muss, zeigt, dass es Konflikte gab und gibt und dass diese Gegensätze gefährlich und zerstörerisch sein können. Je mehr man sich über Frieden Gedanken machen muss, umso größer ist die Gefahr eines Krieges. > Konfliktmanagement kennt zwei mögliche Ergebnisse oder Ziele: Zum einen kann man Harmonie anstreben, also die Auflösung der den Konflikt verursachenden Gegensätze.
7.2 • Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung
161
7
Für die meisten Konflikte dürfte diese Ambition aber unrealistisch sein. Die Alternative ist, Frieden anzustreben. Frieden bedeutet, dass die Gegensätze weiterhin existieren dürfen, aber durch gute Regeln ein Weg gefunden wurde, nicht mehr über sie streiten zu müssen. Frieden ist damit mitnichten ein harmonischer Zustand, sondern lediglich ein Mechanismus der Konfliktregelung.
7.2
Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung
7.2.1
Konfliktmanagement als Führungsleistung
In diesem Abschnitt wird es um den Umgang mit Konflikten in der Führungsrolle gehen. Aktives Konfliktmanagement ist immer eine Führungsleistung! Wenn wir unsere anfängliche Definition, dass es sich bei Führung um »bestimmte Bewegung« handelt, auf das Thema Konflikte anwenden, so ist klar, dass der erfolgreiche Umgang mit Konflikten in jedem Fall als Führungsleistung zu verstehen ist. Wenn Sie sich als Konfliktpartei erfolgreich gegen einen Gegner durchsetzen, so haben Sie in dieser Situation geführt. Wenn Sie als Moderator und Mediator dazu beigetragen haben, eine in sich zerstrittene Gruppe oder zwei streitende Parteien auf ein gemeinsames Ziel hin auszurichten, so haben Sie auch in dieser Situation geführt. Führung lässt sich insofern immer auch als erfolgreiches Konfliktmanagement verstehen. Je größer die Konflikte sind, umso größer ist der Führungsbedarf. Umgekehrt gilt aber natürlich auch: Je weniger Konflikte in einer Gruppe existent sind, umso weniger Führungsbedarf ist gegeben. Als Führungskraft einer Gruppe hat man es nun aus mehreren Perspektiven mit Konflikten zu tun: Zunächst einmal muss man mit den latenten oder offenen Konflikten innerhalb der eigenen Gruppe umgehen. Die latenten Konflikte in einer Gruppe sind diejenigen Konfliktfelder oder Konfliktthemen, die sich potenziell zu einem Konflikt auswachsen könnten. Nicht alle emotional aufgeladenen Meinungen oder Interessen sind in jeder Situation aktiviert. Die latenten Konflikte betreffen also diejenigen Themen, die in einer bestimmten Gruppe potenziell aktivierbar sind. Sie haben als Führungskraft aber unter Umständen auch bereits mit offenen Konflikten in ihrer Gruppe zu tun, d. h. die latenten Konfliktfelder sind bereits aktiviert worden, und Sie müssen feststellen, dass bereits eine spannungsgeladene Situation oder sogar echte Feindseligkeiten entstanden sind. Sowohl die latenten als auch die offenen Konflikte innerhalb einer Gruppe sind nur durch eine Führungsleistung lösbar. Selbst wenn man argumentieren würde, dass die Gruppe selbst bestimmte Konflikte auch »untereinander klären« kann, würde man rückblickend immer erkennen, wer am Ende mehr oder weniger zu der Regelung des Konflikts beigetragen hat.
Erfolgreiches Konfliktmanagement ist eine Führungsleistung.
Latente Konflikte sind die potenziell aktivierbaren Konflikte in einer Gruppe.
Offene und latente Konflikte in einer Gruppe sind nur durch Führung lösbar.
162
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Stabile Gruppen haben sorgfältig austarierte Konfliktfelder.
Ein Ziel von Führung in Organisationen ist das strategische Ausgleichen der Konfliktfelder.
7 Effizienz entsteht durch die Abwesenheit von Konfliktfeldern.
Man würde dann bei diesen Personen die Führungsleistung sehen. Ein Konflikt regelt sich nicht von allein! Wenn er sich von allein regeln würde, dann wird es sich nicht um emotional bedeutsame Interessen gehandelt haben, die konfliktauslösend gewesen sind. Die Führungsleistung in einer stabil arbeitenden Gruppe besteht also in der sorgfältigen Austarierung der in der Gruppe vorhandenen latenten Konfliktfelder. Je besser diese Austarierung gelingt, umso leistungsfähiger ist die Gruppe letztlich nach außen. Aber dies sind nicht die einzigen Konfliktfelder, die eine Führungskraft herausfordern. Selbstverständlich gibt es auch gemeinsame Konfliktfelder »nach außen«. Als Gruppe in Wirtschaftsunternehmen hat man z. B. auch Konfliktfelder in Richtung von Märkten, Kunden, Lieferanten, Verwaltungsinstitutionen oder anderen Interessengruppen, die für das Unternehmen relevant sind. Ein dritter wichtiger Gegenstandsbereich von Konflikten betrifft die so genannten »Schnittstellenkonflikte«, die eine Gruppe mit anderen Gruppen innerhalb der Organisation oder Institution hat. Das Ziel von Führung muss in diesen Situationen ein langfristiges und strategisches Ausgleichen der Konfliktfelder sein. Wir hatten im letzten Kapitel zum Thema Struktur bereits argumentiert, dass Effizienz zu einem großen Teil durch die Abwesenheit von Konfliktfeldern entsteht. Ein ständig nötig werdendes situatives Aushandeln und Klären von Konflikten raubt Zeit, Ressourcen, Führungsaufmerksamkeit und Regelmäßigkeit. Insofern wird man als Führungskraft, die einen Verantwortungsbereich effizient und funktionsfähig aufstellen möchte, immer zum Ziel haben müssen, Konflikte langfristig und damit strategisch wirksam auszugleichen. Je nachdem, in welcher Phase sich ein Konflikt befindet, ist die nötig werdende Führungshandlung, die zu einem langfristigen Ausgleich des Konflikts führen soll, unterschiedlich. > Führung ist Konfliktmanagement. Latente oder offene Konflikte innerhalb von Gruppen sind ohne Führungsleistung nicht lösbar. Als Führungskraft muss man sich um das Konfliktmanagement der latenten und offenen Konflikte innerhalb der eigenen Gruppe kümmern, man muss die äußeren Konflikte, die diese Gruppe in Richtung anderer Institutionen oder Organisationen hat, mit einbeziehen und ebenso Schnittstellenkonflikte zu anderen Gruppen der eigenen Organisation. Das Ziel des Konfliktmanagements muss ein langfristiges und strategisches Ausgleichen der Konflikte sein.
7.2.2
Phasen in der Entwicklung von Konflikten
Wir werden uns im nächsten Absatz nun den praktischen Strategien des Konfliktmanagements zuwenden. Die Strategien des Konfliktmanagements variieren jedoch, je nachdem in welcher Phase sich ein
7.2 • Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung
163
7
. Abb. 7.1 Phasen der Konfliktentwicklung
Konflikt befindet. Hierbei unterscheiden wir drei typische Phasen, die ein Konflikt durchlaufen kann. . Abb. 7.1 veranschaulicht die drei Phasen der Konfliktentwicklung. Ein Konflikt wird nicht zwangsläufig immer entlang der genannten drei Phasen ausgetragen. Es kann sein, dass ein Konflikt direkt eskaliert und die Phase der Spannung übersprungen wird. Jedoch ist offensichtlich, dass es zunächst eines latenten Konfliktfeldes bedarf, damit es überhaupt zu einer Auseinandersetzung kommen kann. Harmonie ist in Abgrenzung zu latenten Konfliktfeldern definiert durch die Abwesenheit von Differenzen. Einige Konflikte können bereits als latente Konfliktfelder identifiziert und sofort geklärt werden, so dass es erst gar nicht zu einer Auseinandersetzung kommen muss. Wiederum andere Konfliktfelder können in der Phase der Spannung angegangen und befriedet werden, so dass eine Eskalation vermieden werden kann. Die lauteste und gefährlichste Konfliktstufe ist die Eskalation. Diese Stufe ist durch Aggression gekennzeichnet, typischerweise durch Emotionalität und durch eine Abnahme rationaler Strategien. Die Kontrahenten agieren schnell und unüberlegt. Der Stil zeichnet sich zumeist durch eine beziehungsgefährdende bzw. -zerstörende Art und Weise aus. Wir haben am Anfang argumentiert, dass Konflikte letztlich immer durch die innere Ambivalenz gekennzeichnet sind, ob man Abstriche im Hinblick auf die eigenen Interessen zu machen bereit ist, um eine als erhaltenswert erkannte Beziehung nicht zu gefährden, oder ob man lieber die Beziehung riskiert und die eigenen Interessen dafür rücksichtsloser verfolgt. In der Phase der Eskalation ist die Gefahr am größten, dass dieser Abwägungsprozess nicht mehr in einer strategischen, sondern nur noch in einer reaktiven Art und Weise
Latente Konfliktfelder sind die Voraussetzung für Spannung und Eskalation.
In Eskalationen fallen die Hemmungen, beziehungsgefährdende Aggressionen zu unterdrücken.
164
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
vorgenommen wird. Oft können wir das Phänomen beobachten, dass eher cholerische Personen im Nachgang – sozusagen nachdem der Rauch verzogen ist – Abbitte leisten. Jedoch verlieren sie oft das Vertrauen der anderen, da sie sich bei nächster Gelegenheit wieder sehr emotional ins »Gefecht stürzen«. > Eskalierte Konflikte sind schnell und so stark emotionalisiert, dass langfristige und strategische Überlegungen viel weniger eine Rolle spielen. Dadurch hat diese Konfliktphase das größte Potenzial, Beziehungen zu ruinieren. In der Phase des eskalierten Konflikts kommt es am ehesten zu Situationen, in denen man durch die eigene Gewalt- und Kränkungsbereitschaft eine Beziehung belastet, die man aus rückblickender Perspektive vielleicht gerne erhalten hätte.
7
Eskalation ist aus einer strategischen Perspektive nicht immer vermeidbar.
Impulsivität ist im Konflikt gefährlich.
In Konflikten sind Personen mit schlechter Selbststeuerung und schlechter Fähigkeit zum Ertragen negativer Gefühle besonders gefährlich.
Zu dieser Feststellung gibt es allerdings auch Ausnahmen: Eskalationen sind nicht grundsätzlich vermeidbar. Manchmal müssen Konflikte aus einer strategischen Perspektive heraus eskaliert werden, weil diese Eskalation als Verteidigungsleistung für eigene Ziele wichtig wird. Bisweilen muss man einen Konflikt auch eskalieren, um Menschen in die Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung zu zwingen, wenn diese aus ihrer eigenen inneren Struktur heraus den Konflikt – und damit auch die Friedensverhandlung – eher vermieden oder ignoriert hätten. Wenn man allerdings in der Phase der Eskalation quasi zur Reflex-Amöbe degeneriert, bei der nur noch ein ganz bestimmter Knopf gedrückt werden muss, um Aggression und Gewaltbereitschaft hervortreten zu lassen, so ist jeder strategischen und ausgleichenden Konfliktbearbeitung zunächst Tür und Tor versperrt. Viel Gewalt, Kränkungen und Beziehungszerrüttungen, die wir im normalen zwischenmenschlichen Umgang sehen, sind aus dieser Impulsivität heraus entstanden. Die strategisch und langfristig bewusst angelegte Eskalation kommt in der Zusammenarbeit im Unternehmen genauso vor wie das reaktive Aufschaukeln der Gefühle. Aus diesen Überlegungen wird auch deutlich, welche Personen in eskalierten Konflikten besonders gefährlich werden können: Es sind die Personen mit geringer Fähigkeit zur bewussten Selbststeuerung und einer schlechten Abwehr negativer Gefühle. Praktisch bedeutet dies, dass es Personen gibt, bei denen negative Gefühle sofort nach einem konfliktären Ausagieren verlangen und die gleichzeitig wenig Fähigkeiten mitbringen, dieses Ausagieren unter einer planvollen und bewussten Perspektive zu gestalten, sondern sich sehr reaktiv und impulsiv ihren eigenen negativen Gefühlen hingeben. In sich aufschaukelnden oder eskalierenden Konfliktsituationen geht von diesen Persönlichkeitstypen die größte Gefahr aus.
7.2 • Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung
7.2.3
165
7
Strategien des Konfliktmanagements
Für die im letzten Abschnitt beschriebenen Phasen des Konfliktmanagements gibt es nun unterschiedliche Strategien.
Konfliktmanagement in der Phase der latenten Konfliktfelder Welche Führungsherausforderungen sind nun mit dem Konfliktmanagement in der ersten Phase der latenten Konfliktfelder verbunden? Erinnern wir uns an das Ziel dieser Phase: Die verschiedenen latenten Konfliktfelder müssen so ausgeglichen werden, dass sie sich nicht zu einem offenen Konflikt auswachsen. Die erste Herausforderung, vor der man als Führungskraft steht, liegt darin, die eigene Sensibilität für solche latenten Konfliktfelder zu schärfen. Als Führungskraft muss man zunächst einmal in der Lage sein, die inneren Strukturen in der eigenen Mitarbeiterschaft so zu verstehen, dass man potenzielle Konfliktfelder vorhersehen und interpretieren kann. Die vier in unserem Charisma-Kapitel (7 Kap. 2) beschriebenen Grundorientierungen können eine erste Struktur dafür bieten, die latenten Konfliktpotenziale im eigenen Team besser zu beschreiben und zu erfassen. Wichtig ist hierbei, dass Fragen nach der »objektiven Größe« oder Dramatik eines Konfliktfeldes oder eines Konfliktereignisses oft auf den falschen Weg führen. Die nötige Sensibilität liegt gerade darin, zu verstehen, wie symbolhaft bestimmte Ereignisse oder Handlungsweisen von den Konfliktparteien interpretiert werden könnten und wie es auf diese Weise zu der emotionalen Aufladung oder Bewertung kommt. Als Führungskraft hat man in dieser Phase vor allen Dingen einen Auftrag in Richtung von Kulturprägung und präventivem Konfliktmanagement. Man wird also als Führungskraft Strukturen schaffen müssen, die verhindern, dass die verschiedenen inneren Strukturen der Gruppenmitglieder zu offenen Konfliktfeldern führen. Diesen Prozess kann man sich folgendermaßen vorstellen: Wir hatten am Anfang bereits argumentiert, dass es gerade »schwierige« innere Strukturen der Gruppenmitglieder sind, die bei diesen zu inneren Konflikten und damit in notwendiger Folge später auch zu äußeren Konflikten führen. Nehmen wir an, dass Sie in ihrem Team einen Mitarbeiter haben, bei dem die innere Struktur des »Durchhaltens in schwierigen Zeiten, bei Widerständen und hoher Belastung« nicht besonders gut entwickelt ist. Dieser Mitarbeiter wäre situativ durchaus leistungsfähig, erläge aber Stimmungsschwankungen oder demotivierenden Einflüssen sehr schnell. Man kann sich vorstellen, dass dieses Strukturdefizit schnell auch zu äußeren Konflikten – also Konflikten im Team – führen kann. Wenn Sie dies als Führungskraft realisieren, haben Sie hier ein latentes Konfliktfeld wahrgenommen, auch wenn sich vielleicht das Leistungsdefizit noch gar nicht in gravierenden Problematiken entla-
Als Führungskraft muss man die inneren Strukturen der Mitarbeiter verstehen, um latente Konfliktfelder vorherzusehen.
Bei latenten Konfliktfeldern muss man als Führungskraft dem Ausbruch der Konflikte durch die Schaffung guter Strukturen vorbeugen.
Innere Strukturdefizite können zu äußeren Konflikten im Team führen.
166
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
den hat. Ihre Maßnahmen müssen nun folgende grundsätzliche Regel beherzigen: > Wenn innere Strukturen fehlen, müssen sie durch äußere aufgefangen werden. Man führt Menschen dann erfolgreich, wenn man deren Strukturdefizite nicht zu stark aktiviert.
7
Führung mit Berücksichtigung der Strukturdefizite der Geführten ist nicht einfacher, aber erfolgreicher.
Wenn die innere Struktur des »Durchhaltens« nicht gut ausgeprägt ist, gilt es nun, durch Maßnahmen Strukturen zu schaffen, die dieses Defizit ausgleichen. Wenn Sie die hier beschriebene Person nach dem vielleicht für Sie wünschenswerten Führungsprinzip umfassender Delegation führen, so sind die Konflikte vorprogrammiert. Je mehr Anforderungen an Selbstorganisation, Durchhaltewillen und Zielorientierung mit einer umfassend delegierten Aufgabe verbunden sind, umso mehr würden Sie das strukturelle psychische Defizit dieser Person aktivieren, das diese in massive innere Konflikte brächte. Diese bekämen Sie im Nu als äußere Konflikte serviert. Es müsste also eine äußere Struktur geschaffen werden, die das innere Strukturdefizit ausgleichen würde. Es liegt auf der Hand, dass diese äußere Struktur in einer wesentlich »häppchenweiseren« und betreuteren Delegation und Zusammenarbeit liegen müsste, damit der latente Konflikt nicht ausbricht. Möglicherweise werden Sie argumentieren, dass dies für Sie als Führungskraft nun aber wesentlich mühsamer und Ressourcen bindender ist als Ihr eigentlich favorisiertes Prinzip einer auf mittelfristigen Zielen basierenden Delegation. Es ist natürlich verständlich, dass es wünschenswerter wäre! Wir argumentieren lediglich, dass es vermutlich weniger erfolgreich wäre (Sie erinnern sich an unser in 7 Kap. 3 geprägtes Bild vom Zusammenhang zwischen Führung und Reiten: Das Pferd legt durch seinen Charakter fest, wie man es am erfolgreichsten reiten muss). > Die Führungsleistung bei latenten Konflikten besteht darin, diese Konflikte sensibel wahrzunehmen und zu verstehen und dann eine Kultur zu prägen bzw. Strukturen zu schaffen, die dazu führen, dass die Konflikte nicht ausbrechen.
Viele typische Kommunikationstrainings sind eigentlich Konfliktmanagementtrainings.
Präventives Konfliktmanagement schafft Strukturen, die latente Konflikte nicht aktivieren.
Selbstverständlich wird man sich in dieser Phase des Konfliktmanagements aber auch um Stilfragen bemühen müssen, durch die man eine Kultur etabliert, in der potenzielle Konflikte in angemessener Weise besprochen werden können. Implizit ist dies Ziel fast aller Kommunikationstrainings, die man als Führungskraft zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Karriere durchlaufen wird. Die Trainings heißen zwar häufig Kommunikationstraining, handeln in Wirklichkeit aber von einem sensiblen Umgang mit latenten Konfliktfeldern. Die Inhalte vieler Kommunikationstrainings lassen sich so deuten, dass man durch eine sensible und geschickte Kommunikation latente Konfliktfelder des anderen versteht und durch den eigenen Kommunikationsstil dazu beiträgt, diese Konfliktfelder beim anderen nicht zu aktivieren. Dies ist zweifellos sinnvoll, wir glauben allerdings, dass man im Konfliktmanagement auch in dieser Phase bereits einen Schritt wei-
7.2 • Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung
tergehen muss. Da viele Konflikte nicht nur Missverständnisse sind, kann man zwar durch gute Kommunikation verhindern, weiteres Öl ins Feuer zu gießen, die eigentliche Leistung besteht aber in der Schaffung von Strukturen (also auch Regeln und Prozessen), die latente Konflikte nicht aktivieren. Außerdem müssen Sie sich in dieser Phase immer daran erinnern, dass Sie genau dort äußere Strukturen schaffen müssen, wo den Beteiligten innere Strukturen fehlen. Diesen Prozess kann man sich auch anhand der Führungsleistung der Kindererziehung verdeutlichen: Bei kleinen Kindern fehlen naturgemäß noch viele innere Strukturen. Diese müssen durch äußere Rituale und Regelmäßigkeiten erst noch geschaffen werden. Die äußeren Strukturen gleichen demnach innere Strukturdefizite aus, wobei man dies in der Erziehung genau so lange macht, bis die entsprechenden inneren Strukturen entstanden sind. Ab einem gewissen Alter verlassen Sie sich bei Ihren Kindern auf die Eigenverantwortung bei der Hausaufgabenbearbeitung nach der Schule, wohingegen Sie in jüngerem Alter diese fehlende innere Struktur zunächst noch durch die äußere Struktur der Hausaufgabenkontrolle kompensiert haben. Je ritualisierter, etablierter und klarer die äußere Struktur Ihres Hausaufgabenkontrollprozesses gewesen ist, umso konfliktärmer (konfliktfrei wäre für dieses Beispiel zu viel verlangt) wird dieser Prozess funktionierten.
167
7
Auch in der Kindererziehung gleichen äußere Strukturen der Eltern fehlende innere Strukturen aus, bis sich diese etabliert haben.
Konfliktmanagement in der Phase der Spannung In der Phase der Spannung sind die latenten Konfliktfelder bereits zu einem spürbaren Gegensatz geworden, der sich in Diskussionen, Auseinandersetzungen und Streitgesprächen widerspiegelt, aber auch manchmal nur in einer fühlbaren Stimmungsverschlechterung. In dieser Phase sind die Aufgaben der Führungskraft andere geworden. Jetzt geht es für die Führungskraft vor allen Dingen darum, die fühlbare Spannung so zu »erden« (um im physikalischen Bild zu bleiben), dass sich in einem expliziten Verhandlungsmechanismus gute Regeln zum Umgang mit dem Gegensatz finden lassen. Solange der Konflikt durch die in der Spannung repräsentierte Konfliktenergie noch fühlbar emotional aufgeladen ist, wird eine konstruktive Regeldiskussion im Allgemeinen behindert. Auf der anderen Seite haben wir aber gesagt, dass ein Appell zur Sachlichkeit nicht unbedingt der Mechanismus ist, mit dem man die Konfliktenergie sinnvoll abfließen lassen könnte. Eine gute »Erdung« des Konflikts ergibt sich im Allgemeinen aus einem sensiblen Explizieren der unterschiedlichen Interessen und Standpunkte, die den Konflikt nähren. Als Führungskraft wird man also in dieser Phase eine erste Entlastung erreichen, indem man ein gewisses Verständnis für die Konfliktparteien aufbringt und ihre emotionale Beteiligung nicht ignoriert, sondern explizit anerkennt und einbezieht und so zwischen den Streitenden moderiert. Das Ziel einer solchen Konfliktmoderation ist immer die Regelung des Konflikts, niemals seine Lösung. Bei der Lösung des Konflikts wäre der
In der Phase der Spannung muss die Konfliktenergie »geerdet« werden.
Das Ziel guter Konfliktmoderation ist die Regelung des Konflikts.
168
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Gute Spielregeln können Eskalationen verhindern.
7
Führungsentscheidungen sind oft deswegen weniger nachhaltig als die Ergebnisse vermittelnder Moderation, weil Sieger und Verlierer geschaffen werden.
beschriebene Gegensatz ja weg. Als wir über das Thema Harmonie geschrieben haben, argumentierten wir bereits, dass diese in den meisten praktischen Situationen kaum erreichbar sein wird. Eine gute Spielregel kann aber dabei helfen, mit den vorhandenen Gegensätzen in einer nachvollziehbaren und auf langfristigen Nutzen ausgelegten Art und Weise umzugehen, was bedeutet, dass Frieden geschaffen werden konnte. Ein typischer Konflikt in vielen Teams dreht sich um das Thema Urlaubsplanung. Rein situativ sind diese Konflikte kaum sinnvoll lösbar. Gute Spielregeln, die zu einer prinzipiell als fair empfundenen Prioritätenstaffelung bei der Gewährung des Urlaubszeitraums führen, sind in diesem Zusammenhang spannungsreduzierend. Das Thema wird durch die Spielregel nicht harmonisch (denn diejenigen Personen, die durch ihre Platzierung in der Prioritätenstaffel nicht ihren Wunschtermin realisieren können, sind natürlich trotzdem persönlich unzufrieden), aber die etablierte Spielregel sichert, dass der Konflikt üblicherweise nicht über die Phase des latenten Konfliktfeldes oder der ersten gefühlten Spannung hinaus eskaliert. Ihre Aufgabe als Führungskraft lässt sich also in dieser Phase als vermittelnd begreifen. Selbstverständlich könnte argumentiert werden, dass man auch viele Spannungen durch knackige und straff regulierende Entscheidungen reduzieren könnte, weil man sich hierdurch den Zeitaufwand vermittelnder Moderation spart. Nichtsdestotrotz wird bei genauerer Betrachtung vermutlich schnell deutlich, dass sich der Aufwand in dieser Phase eines Konflikts lohnt und die Erzeugung eines gemeinsamen Regelwerks ein latentes Konfliktfeld nachhaltiger befrieden kann als eine Führungsentscheidung, bei der es unter Umständen Sieger und Verlierer gibt und dadurch Kränkungen entstehen, die wieder zu neuen Konfliktfeldern führen. Bestimmte Konflikte sind natürlich nur durch eine klare Entscheidung regelbar (wir werden im nächsten Absatz darauf eingehen), aber solange der Weg zu einer Verhandlungslösung und zu einer Vermittlung offen scheint, lohnt sich der Aufwand in den meisten Fällen aufgrund der Nachhaltigkeit der Ergebnisse und der Vermeidung weiterer Konfliktpotenziale.
Konfliktmanagement in der Phase der Eskalation Die Phase der Eskalation ist die Phase der Führungsautorität.
In Eskalationssituationen darf man als Führungskraft den strategischen Blickwinkel nicht verlieren.
In der Phase der Eskalation ist der Konflikt bereits offenkundig und die Gefahr, dass reaktive und impulsive Verhaltensweisen der Konfliktbeteiligten zu vermeidbaren Zerrüttungen führen, ist groß. Diese Phase ist damit selbstverständlich die Phase der Führungsautorität. Man wird als Führungskraft nicht umhin können, die Krise zu regeln und wirklich zu entscheiden. Es ist direktive Führung gefragt, um die Gefahren, die aus dem Phänomen der Eskalation selbst erwachsen, zu stoppen und zu begrenzen. Wichtig ist aber gerade in dieser Phase, dass man als Führungskraft den strategischen Blickwinkel nicht verliert. Es kann leicht passieren, dass man selbst zum Teil der Eskalation wird und eigene emo-
7.2 • Konflikte und Konfliktmanagement in der Führung
tionale Anliegen und Motivationen auf der Agenda erscheinen. Als Führungskraft muss man die Fähigkeit bewahren, den strategischen Blick nicht zu verlieren. Man muss über eine so starke Selbststeuerung verfügen, dass man eigenen impulsiven Reaktionen (die vielleicht alles noch schlimmer machen könnten) nicht erliegt. Selbstverständlich muss man manchmal harte Entscheidungen treffen und Ziele mit Entschlossenheit verfolgen. Dies muss aber aus der Perspektive von Überblick und Distanz geschehen und nicht aufgrund der emotionalen Verhärtung aus dem Streit des Augenblicks. Als Führungskraft ist man für »Außenziele« verantwortlich (also Ziele, die über das Innenverhältnis der eigenen Mitglieder hinausweisen). Die strategische Verpflichtung muss der Verfolgung der Außenziele gelten und nicht einer bestimmten emotionalen Entlastung im Innenverhältnis.
169
7
Die Verpflichtung der Führungskraft gilt ihren Zielen, nicht ihrer eigenen emotionalen Entlastung.
Strategische Konflikteskalation Nehmen wir an, dass sich Kollegen Ihrer Führungsebene in drastischer Art über einen Mitarbeiter Ihres Verantwortungsbereichs beschweren. Ihnen ist klar, dass die Massivität der vorgebrachten Beschwerde auch als Symbol einer Auseinandersetzung eines Konfliktfeldes mit Ihnen zu verstehen ist, das nicht offen thematisiert wird. Da die Beschwerde eine Reihe ungerechter Punkte enthält, spüren Sie bei sich aufkeimende Wut und den Impuls, hier in einer entsprechenden Weise zu reagieren. Eine schnelle und impulsive Reaktion könnte aber das Konfliktfeld verschärfen und mittelfristig Ihre eigene Position schwächen. Insofern wäre Ihnen zu wünschen, dass Ihre Selbststeuerung in solchen Situationen stark genug ist, sich nicht zu einer impulsiven Reaktion verführen zu lassen, sondern den Sachverhalt mit Überblick und Distanz so zu betrachten, da Sie einen langfristigen Plan (denken Sie an Ihre Außenziele!) verfolgen. Möglicherweise kommen Sie dann nach der sorgfältigen Abwägung aller Vor- und Nachteile zu dem Ergebnis, dass eine wütende und aufgebrachte Gegenreaktion das langfristig Nützlichste ist (z. B. weil Sie ein deutliches Signal setzen wollen, welchen Stil Sie sich in der Auseinandersetzung verbitten, oder weil Ihnen deutlich geworden ist, dass Sie jetzt unbedingt Ihren Mitarbeiter für viele sichtbar schützen müssen). In diesem Fall wäre Ihre Gegenreaktion aber nicht aus der Reaktivität des Augenblicks entstanden, sondern aus einer sorgfältigen Abwägung Ihrer strategischen Ziele und Ihrer strategischen Position.
> Harte Maßnahmen sind strategisch akzeptabel, nicht aber, wenn sie impulsiv-reaktiv sind!
Wer improvisierend oder experimentell mit seinen Maßnahmen in eskalierten Konflikten umgeht, riskiert viel. Die Anforderung an eine gute Selbststeuerung ist in dieser Phase freilich hoch. Menschen mit schlechter Selbststeuerung verklären ihre schlechten Selbststeuerungsfähigkeiten üblicherweise in einer moralisierenden Attitüde als
Schlechte Selbststeuerung wird oft in moralisierender Weise als »Authentizität« verklärt.
170
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
Authentizität ist nicht hilfreich, wenn sie zu impulsiv veranlassten Eskalationen führt.
Gute Selbststeuerung eröffnet mehr Handlungsalternativen.
7
Führungskräfte müssen in der Lage sein, sowohl Versöhnlichkeit als auch strategische Härte zu zeigen.
Man braucht auch die »harte« Seite des Konfliktmanagements, weil man sich seine Konflikte und Gegner nicht immer aussuchen kann.
»Authentizität«. Diese Menschen nehmen für sich in Anspruch, auch ihre situativen Gefühle auszuleben, und beschreiben andere sogar als unehrlich und manipulativ, wenn diese sich bewusster und ausgewogener verhalten. Insbesondere cholerische Menschen, die in Konfliktsituationen schnell einen eskalierenden Pfad einschlagen, nehmen diese Authentizität für sich in Anspruch und sehen sie sogar als ein moralisch schützenswertes Gut an, auf das sie stolz sind. Dass diese Authentizität in vielen Situationen gerade erst das Öl ist, das das Feuer nährt und vergrößert, wird häufig nicht gesehen. Stattdessen wird die einhergehende emotionale Reaktion als legitim und moralisch rechtschaffen erachtet, die damit verbundene Eskalation und Kränkung der Gegenseite aber nicht als damit auszubalancierendes Gut. Als verantwortungsvoll handelnde Führungskraft wird man sich diese Art von Authentizität oft nicht leisten können. Wenn man größere und schwierige Ziele verfolgt, steht man immer wieder vor der Frage, wo man im Zweifel die Priorität setzt – entweder im so genannten »authentischen Loswerden« der eigenen Gefühle oder aber in der bedachten Auswahl derjenigen Handlungsalternativen, die für die langfristige Zielerreichung nutzbringend ist. Wer durch das rücksichtslose Ausleben eigener negativer Empfindungen viele Beziehungen um sich herum belastet, wird normalerweise in seinen Zielund Erfolgsmöglichkeiten begrenzter sein als derjenige, der sich die Freiheit erhalten kann, mit einer ausbalancierten Selbststeuerung zu antworten. Die persönlichen Anforderungen an Führungskräfte im Thema Konfliktmanagement sind damit antagonistisch angelegt. Führungskräfte müssen auf der einen Seite ausgleichen, integrieren und Versöhnlichkeit und Friedfertigkeit stiften können, um ein kulturelles Umfeld zu erzeugen, in dem latente Konflikte möglichst wenig Gefährdungspotenzial beinhalten. Führungskräfte müssen in Spannungssituationen vermitteln und moderieren und faire, langfristige und strategisch tragfähige Regeln erzeugen können. Auf der anderen Seite müssen Führungskräfte sich aber auch durchsetzen können, um eskalierte Konflikte zu stoppen. Sie müssen in der Lage sein, aus einer strategisch angelegten Perspektive heraus auch harte Maßnahmen durchzusetzen. Sie brauchen dabei die Fähigkeit, gerade in den schwierigen Eskalationen nicht der eigenen Impulsivität zu erliegen, sondern einen distanzierten Überblick zu bewahren, der sie die langfristig richtigen Maßnahmen ergreifen lässt. Als Führungskraft muss man auch die »harte« Seite des Konfliktmanagements nutzen können, weil man nicht nur die Konflikte hat, die man haben möchte. Es kann auch sein, dass man manchmal einen Kampf aufgezwungen bekommt, den man nicht unbedingt gesucht hätte. Man sucht sich seine Konflikte und seine Gegner nicht immer aus! Eigene Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit ist bei aggressiven Angreifern nicht unbedingt die langfristig Erfolg versprechende Methode. Manchmal braucht man Macht und Gewalt, um Frieden zu
171
7.3 • Führung und Gruppendynamik
7
Konfliktlösungen mit Macht Diesen Prozess können Sie sich als pragmatisches Beispiel vielleicht so vorstellen: In Ihrer Abteilung gibt es einen massiv eskalierten Streit über die Frage, ob in der Teeküche geraucht werden darf oder nicht. Vermittlungs- und Moderations-
versuche sind bereits gescheitert. Sobald Sie aber Ihre Entscheidung veröffentlichen, dass Sie die Teeküche ganz abschaffen, wenn die Mitarbeiterschaft nicht selbst eine sinnvolle Spielregel findet, ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen
erzwingen (7 Exkurs »Konfliktlösungen mit Macht«). Manchmal kann man als Führungskraft nur dann Frieden schaffen, wenn man für die beteiligten Konfliktparteien das Leiden unter dem Weiterstreiten so viel größer macht, dass plötzlich ein Friedensschluss attraktiv wird. Für Menschen mit einem hohen Ideal von Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit ist es im Allgemeinen eine bittere Erkenntnis, dass man manchmal Macht und Gewalt braucht, um Frieden zu erzeugen oder gute Ziele zu verteidigen. Reifes Konfliktmanagement dient der Verteidigung guter Ziele!
7.3
Regelung plötzlich wieder stark angewachsen. Ohne die Macht, die Teeküche abzuschaffen, wäre es zu diesem Friedensschluss vermutlich nicht gekommen.
Manchmal braucht man Macht und Gewalt, um Frieden schaffen zu können.
Führung und Gruppendynamik
Wir haben das Thema Konfliktmanagement im letzten Abschnitt vor allen Dingen unter der Perspektive des einzelnen Konfliktes oder des Konfliktfeldes gesehen. Wir haben uns also den Konflikt »als Ereignis« angeschaut und analysiert, wie in bestimmten Rahmenbedingungen auf diesen Konflikt reagiert werden könnte. Unter der Führungsperspektive ist das Thema Konfliktmanagement aber auch aus dem Blickwinkel der Gruppendynamik interessant. Gruppendynamik beschreibt hier den Prozess, mit dem sich eine Gruppe findet, strukturiert und schrittweise als Gruppe leistungsfähig wird. Wenn eine Gruppe erfolgreich entsteht, ist die Integration der verschiedenen Gruppenmitglieder geglückt. Die einzelnen Gruppenmitglieder haben in der Gruppe ihre Rolle, ihre Hierarchie, ihre Aufgabe, ihren Status und ihr Beziehungsnetzwerk gefunden. Solange dieser Prozess »in Verhandlung« ist, ist eine Gruppe üblicherweise nicht voll leistungsfähig. Interessanterweise erfolgt nun der Prozess der Gruppenintegration durch die zunehmende Differenzierung der einzelnen Gruppenmitglieder. Indem wir die anderen Gruppenmitglieder zunehmend differenzierter betrachten, können wir klarer sehen, welchen Platz sie in der Gruppe benötigen oder intuitiv einnehmen, um zur Gruppenleistung wirklich beizutragen. > Erfolgreiche Gruppenintegration erfolgt durch die Differenzierung der Gruppenmitglieder. Dieser Prozess der Differen-
In einer erfolgreichen Gruppe ist die Integration der verschiedenen Gruppenmitglieder geglückt.
Gruppenintegration erfolgt durch die zunehmende Differenzierung der einzelnen Gruppenmitglieder.
172
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
. Abb. 7.2 Vier Phasen der Gruppendynamik. (Nach Bruce Wayne Tuckman)
zierung durchläuft verschiedene Phasen, die in der Literatur vielfach auch als die Phasen der Gruppendynamik oder Teamentwicklung dargestellt werden.
7
. Abb. 7.2 verdeutlicht diese vier Phasen der Gruppendynamik.
Die Merkmale dieser vier Phasen der Gruppenentwicklung lassen sich wie folgt beschreiben: 1. Forming. In der ersten Phase der Gruppenentwicklung treffen die Gruppenmitglieder aufeinander, lernen sich kennen und bilden Beziehungen untereinander aus. 2. Storming. Die Storming-Phase ist der konfliktärere Teil der Gruppendynamik. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung der Beziehungen werden plötzlich latente Konfliktfelder sichtbar (und vielleicht auch schon aktiviert) und die unterschiedlichen Rollenverständnisse, die bei den Teammitgliedern vorherrschen, führen zu Konflikten und Regelungsbedarf. 3. Norming. In der so genannten Phase des Normings finden die Gruppenmitglieder ihr Regelwerk und ihre Rollen. Es wird Kultur geschaffen und Strukturen werden etabliert. 4. Performing. Die Phase des Performings entspricht nun dem, was wir im vorherigen Kapitel zum Thema Struktur als Effizienz beschrieben haben. Die Rollen im Team sind geklärt, die Beziehungen etabliert, die Prozesse ausgehandelt und die Gruppe kann sich in einer effizienten Art und Weise gemeinsamen Zielen widmen. In jeder Phase der Gruppenentwicklung gibt es andere Anforderungen an die Führungskraft. Forming braucht Integration und Intensivierung der Beziehungen.
Für diese vier unterschiedlichen Phasen der Gruppenentwicklung gibt es wieder vier unterschiedliche Hinweise für sinnvolles und zielführendes Führungshandeln. 1. Empfehlung für das Führungshandeln in der Phase des Formings. Wenn ein Team sich neu etabliert, wird man als Führungskraft eher einen integrativen und verbindenden Ansatz wählen. In dieser Phase gilt es, Beziehungen zu stiften, Sinn und Zweck der Gruppenaktivitäten zu verdeutlichen und sich selbst
7.3 • Führung und Gruppendynamik
173
7
als Integrationsfigur des Teams zu positionieren. Diese Phase der Gruppendynamik ist die Phase des freundlichen Willkommenheißens im Team, der Aufnahme neuer Gruppenmitglieder und der Intensivierung von Beziehungen. 2. Empfehlung für das Führungshandeln in der Phase des Stormings. In der Phase des Stormings wird man als Führungskraft einen stärkeren Führungsbedarf ausmachen. Man wird eine moderierende und sorgfältig austarierte Autorität benötigen. Man braucht in dieser Phase eine gewisse Autorität, damit z. B. Dominanzfragen in der Gruppe befriedigend geklärt werden können und sich die Gruppenhierarchie im Sinne des Führenden stabilisieren kann. Man wird aber seine Autorität in verschiedenen Tönungen und mit entsprechendem Fingerspitzengefühl einsetzen müssen. Eine unnötig drastische Autorität erzeugt in dieser Phase Sieger und Verlierer und damit Ursachen für die Konfliktfelder der Zukunft. Man wird die beobachteten Konfliktfelder mit entscheidender Autorität behandeln, aber dennoch moderieren müssen. Wenn man sich als Führungskraft in dieser Phase zu früh zum Schiedsrichter macht und einfach entscheidet, verschärft man nicht nur die gegenwärtigen Konfliktfelder, sondern wird auch selbst zur Partei und legt damit die Wurzeln für weitere Konfliktfelder der Zukunft. 3. Empfehlung für das Führungshandeln in der Phase des Normings. In der Phase des Normings muss man als Führungskraft die Regeln und Prozesse der Gruppe festklopfen und in eine langfristig angelegt Struktur überführen. Die Rangeleien und Dominanzfragen der Storming-Phase sind abgeschlossen und man kann sich den Sachfragen der Gruppenarbeit zuwenden. Noch ist aber die Gruppe mit sich selbst beschäftigt, denn in dieser Phase werden diejenigen Strukturen geschaffen, die die Gruppe in der vierten und letzten Phase effizient und leistungsfähig sein lässt. 4. Empfehlung für das Führungshandeln in der Phase des Performings. In dieser letzten Phase der Gruppenentwicklung wird das Team leistungsfähig. Als Führungskraft kümmert man sich in dieser Phase um die Außenkontakte der Gruppe. Welche Arten von Gruppen auch immer man führt, man führt die Gruppe üblicherweise nie für sich allein. Fast jede Gruppe verfolgt Ziele in der äußeren Welt und hat mit dieser äußeren Welt Schnittstellen. Und im Allgemeinen ist es die Führungskraft, die diese Schnittstellen eröffnet, pflegt, weiterentwickelt oder intensiviert. Mit einer strukturierten Gruppe im Hintergrund können Sie diese Rolle in einer leistungsfähigen Art und Weise spielen.
Storming braucht Autorität mit Fingerspitzengefühl.
Norming braucht Regeln, Prozesse und Struktur.
Performing erlaubt es der Führungskraft, sich um Außenkontakte zu kümmern.
174
Kapitel 7 • Führung, Gruppe und Dynamik – Wie Sie in Konfliktsituationen Führungs-Kraft
7.4
Es gibt eine Reihe von Missverständnissen darüber, wie man erfolgreich mit Konflikten umgeht.
7
Konflikte haben für sich genommen erst einmal nichts Gutes.
Konflikte sind unumgänglich, vor allem als Verteidigungsleistung für gute Ziele.
Typische Missverständnisse zum Thema Konfliktmanagement
Das Thema Konfliktmanagement leidet in der Diskussion unter den verschiedensten Missverständnissen und Idealisierungen. Wir hatten bereits angemerkt, dass gerade im Bereich typischer Kommunikationstrainings die konfliktlösende Wirkung der Kommunikation häufig überschätzt wird und der inhaltliche (manchmal auch autoritäre) Regelungsbedarf in Konflikten unterschätzt wird. Dies ist eines der typischen Missverständnisse rund um das Thema Konflikte. Ein zweites Missverständnis, dem wir uns schon gewidmet haben, betrifft das Thema Win-Win, das wir ohne Zweifel als wünschenswert akzeptieren, das aber aufgrund des Nichtvorhandenseins konvertierbarer Tauschwährungen in vielen Konflikten kein sinnvoller Kompass ist (wenn Ihnen jemand ein Messer an den Hals setzt, gibt es meistens kein Win-Win). Auch die Tatsache, dass bedingungslose Authentizität in vielen Konflikten nicht unbedingt ein konstruktives und hilfreiches Element ist, hatten wir schon angesprochen. In der Verklärung von Authentizität liegt ein weiteres typisches Missverständnis zum Thema Konfliktmanagement. Ein letzter Punkt liegt in der Bewertung von Konflikten selbst. Manchmal begegnen einem in bestimmten Kreisen, die sich mit dem Thema Konfliktmanagement befassen, Sichtweisen, dass Konflikte ja eigentlich positive Erscheinungen sind und man ihnen letztlich auch immer etwas Gutes abgewinnen könnte. Das vermögen wir so nicht zu bestätigen. Meinungsverschiedenheiten sind sicherlich gut, weil sie zusätzliche Erkenntnis und inhaltliche Weiterentwicklung fördern. Konflikte und vor allem eskalierte Konflikte haben für sich genommen erst einmal nichts Gutes. Die Welt wäre sicherlich ein angenehmerer Ort, wenn es weniger Gewalt, Krieg und Aggression gäbe. Konflikte sind ihrem Wesen nach unvermeidlich, solange Menschen Ziele haben, die ihnen wirklich etwas bedeuten. Positiv oder sogar wünschenswert sind Konflikte deswegen noch lange nicht. Konflikte können stark machen, in ihnen zeigen sich Mut und Tapferkeit und sie sind unumgänglich, vor allem als Verteidigungsleistung für gute Ziele. Gutes Konfliktmanagement kann dazu führen, dass bestimmte Eskalationen nicht auftreten müssen, dass bestimmte Konfliktfelder frühzeitig so geregelt werden, dass sie sich nicht zu Spannungen und offener Aggression entwickeln und damit Beziehungen stabil bleiben, die sich bei einer eskalierenden Auseinandersetzung zerrüttet hätten. Positiv (im Sinne von wünschenswert) ist ein Konflikt dadurch noch nicht. Gutes Konfliktmanagement ist aber fraglos eine große Führungsleistung.
175
Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige Interaktion Führungs-Kraft erzeugen 8.1
Qualitätskriterien von Führungskommunikation – 176
8.2
Ebenen der Führungskommunikation – 178
8.2.1 8.2.2 8.2.3
Kommunikative Anforderungen auf der kontextuellen Ebene – 179 Kommunikative Anforderungen auf der nonverbalen Ebene – 180 Kommunikative Anforderungen auf der verbalen Ebene – 182
8.3
Typische Probleme in der Führungskommunikation – 186
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
8
176
Kapitel 8 • Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige
Kommunikation ist der typische Schwerpunkt vieler Führungstrainings.
Für ein psychologisches Verständnis von Kommunikation genügt die verbale Ebene nicht.
8
Das letzte Thema, das wir aus der Perspektive der Erzeugung von Führungs-Kraft betrachten wollen, ist das Thema der Kommunikation. Kommunikation ist in vielen Kontexten die eigentliche soziale Aktivität in der Führung und dementsprechend auch in der Führungskräftequalifizierung vermutlich der am häufigsten vorkommende Inhalt. In den meisten Führungstrainings geht es um Kommunikation oder um Konfliktmanagement. Oftmals beziehen sich die Kommunikationstrainings in der Führung auf bestimmte typische Gesprächssituationen oder auf die Anwendung von Führungsinstrumenten. Viele Führungstrainings handeln entsprechend von der Durchführung von Mitarbeitergesprächen, von Feedback- oder Beurteilungsgesprächen. Sie handeln von Konfliktgesprächen, Zielvereinbarungsgesprächen oder Entwicklungs- und Coachinggesprächen. Das Thema Kommunikation ist damit in der Führung allgegenwärtig. Die vielen (und häufig natürlich auch richtigen) handwerklichen Tipps für diese Situationen sind in unzähligen Ratgeberbüchern zusammengefasst. Gesprächstechniken, z. B. aktives Zuhören und offene Fragen stellen, Feedbackregeln und Formulierungshinweise für die Versprachlichung von Zielen, werden in diesen Büchern ausführlich behandelt. Wir werden uns in diesem Kapitel viel stärker mit den psychologischen Grundlagen des Gesprächs- und Kommunikationsgeschehens befassen und untersuchen, welchen Kriterien Kommunikation genügen muss, damit durch sie Führungs-Kraft entfaltet werden kann. Wir werden sehen, dass eine Beschränkung auf die verbale Ebene und auf Formulierungsfragen für ein wirkliches Verständnis von Führungskommunikation zu kurz greift und kontextuelle oder kulturelle Aspekte immer mitgedacht und mitberücksichtigt werden müssen, wenn Kommunikation erfolgreich sein soll. Wir werden auch aufzeigen, dass in dieser Anforderung der Schlüssel für das Verständnis erfolgreicher Kommunikation liegt.
8.1
Gute Führungskräfte können durch Willensakte ihre inneren Schemata durchbrechen und schaffen sich so Handlungsfreiheit.
Qualitätskriterien von Führungskommunikation
Aus den vorangegangenen Kapiteln (vor allem 7 Kap. 7 über Konfliktmanagement) lässt sich eine zusammenfassende Erkenntnis über Anforderungen an Führungskräfte ableiten: Eine der wichtigsten Fähigkeiten von Führungskräften besteht darin, überlegt und willkürlich handeln zu können. Führungskräfte müssen in der Lage sein, durch Willensakte ihre eigenen inneren Schemata zu durchbrechen, um nicht nur reagieren, sondern agieren zu können. Besonders bei der Diskussion zu Konfliktmanagement haben wir gesehen, dass es von großer Bedeutung ist, nicht den eigenen Reaktionen des Augenblicks zu erliegen, sondern in bewusster Selbststeuerung auch gegen die Impulse des eigenen Innenlebens handeln zu können, um weitere Eskalationen zu verhindern.
8.1 • Qualitätskriterien von Führungskommunikation
177
8
. Abb. 8.1 Kriterien guter Führungskommunikation
Aus dieser Erkenntnis ergeben sich auch einige Anforderungen an gute Führungskommunikation (. Abb. 8.1). Das erste Qualitätskriterium guter Führungskommunikation ist, dass sie aktiv und initiativ erfolgt. Eine rein passive oder reaktive Kommunikation kann nicht viel Führungs-Kraft entfalten, weil sie nicht Ergebnis bewusster Selbststeuerung und damit Ausdruck reflektierter Willensakte ist, sondern eine reine Reaktion auf Signale der Umwelt.
Reaktive Kommunikation ist nicht Ausdruck reflektierter Willensakte.
> Gute Führungskommunikation ist aktiv und initiativ, nicht reaktiv oder passiv.
Ein zweites wichtiges Kriterium an gute Führungskommunikation ist, dass sie direktiv sein muss, d. h. zielorientiert. Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, dass Führung ohne Ziele undenkbar ist. Führungskommunikation muss demnach in einer direktiven Form auf diese Ziele verweisen und darf nicht situativ mal dieses oder jenes betreffen. Auch dieser Punkt setzt die bewusste eigene Handlungssteuerung voraus, die wir zuvor als übergeordnete Voraussetzung beschrieben haben.
Situative und beliebige Kommunikation verweist nicht auf klare Ziele.
> Gute Führungskommunikation ist direktiv und zielorientiert, nicht situativ und beliebig.
Ein letztes wichtiges Kriterium guter Führungskommunikation ist, dass sie sensitiv erfolgen muss. Sensitiv bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Führungskräfte die Wirkung und die Effekte bestimmter Formen und Inhalte ihrer Kommunikation abschätzen können müssen, um die richtigen Worte und Strategien zu finden. Wer nicht sensibel dafür ist, welche Symbolkraft und Effekte bestimmte Formulierungen in einem bestimmten Kontext oder der gegebenen Kultur auslösen können, wird möglicherweise andere Effekte erzielen als die, die er intendierte. Schlechte Führungskommunikation ist egozentriert und in dem Sinne nur auf den Führenden bezogen. Der Führende bringt bei unsensibler Kommunikation nur sein Innenleben zum Ausdruck und achtet nicht genug auf Umfeldvariablen.
Unsensible und egozentrierte Kommunikation erzeugt nicht die Effekte, die man möchte.
178
Kapitel 8 • Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige
> Gute Führungskommunikation ist sensitiv und kann die möglichen Effekte bestimmter Vorgehensweisen abschätzen und kalkulieren. Schlechte Führungskommunikation ist egozentriert und nicht sensibel für die Wirkung auf das Umfeld. Bewusste Selbststeuerung ist von großer Bedeutung.
Ähnlich wie beim Thema Konfliktmanagement zeigt sich auch beim Thema Kommunikation, dass die bewusste Selbststeuerung im Hinblick auf das Kommunikationsverhalten eine zentrale Anforderung an Führungskräfte ist.
8.2
8
Die erste Ebene der Kommunikation ist die sprachliche Ebene.
Die zweite Ebene der Kommunikation betrifft die Körpersprache. Die dritte Ebene der Kommunikation betrifft den Kontext.
Ohne die Beachtung der Kontextebene lässt sich das Konfliktpotenzial von Formulierungen nicht abschätzen.
Ebenen der Führungskommunikation
Wir hatten am Anfang dieses Kapitels argumentiert, dass sich Kommunikation nicht nur in Sprache und Formulierung abbildet, sondern drei verschiedene Ebenen der Kommunikation mitbedacht und betrachtet werden müssen. Wenn wir Führungskommunikation untersuchen, müssen wir drei Gegenstandsbereiche betrachten: Der erste Gegenstandsbereich betrifft die Sprache und Formulierungsebene. Viele typische Gesprächsführungstechniken sind diesem Schwerpunkt zuzuordnen und dieser Teil der Kommunikation wird üblicherweise am häufigsten betrachtet. Es folgt die nonverbale Ebene, in der die Effekte von Mimik, Gestik und Körpersprache diskutiert werden müssen. Die dritte Ebene betrifft den Kontext, in dem kommuniziert wird. Dieser Aspekt wird bei der Betrachtung von Kommunikation häufig vergessen. Kommunikation findet nicht in einem leeren Raum statt, sondern hat immer einen Kontext, eine Kulisse, eine Inszenierung. Dieses Phänomen wird an folgendem Beispiel klar: Eine Führungskraft stellt ihrem Mitarbeiter die folgende Frage: »Sagen Sie mal, seit wie vielen Jahren sind Sie eigentlich schon für unser Unternehmen tätig?« Der Mitarbeiter antwortet: »Acht Jahre.« Wenn wir die rein verbale Ebene betrachten, fällt es uns schwer, diese kurze Gesprächssequenz in ihrem Bedeutungsgehalt vollständig zu interpretieren. Jetzt setzen wir dieses kurze Gespräch aber einmal in zwei sehr unterschiedliche Kontexte: Nehmen wir einmal an, es findet wenige Tage vor der betrieblichen Weihnachtsfeier statt, in der üblicherweise bestimmte verdiente Mitarbeiter mit einem kurzen Profil in der Weihnachtsansprache gewürdigt werden. Vermutlich würde der Mitarbeiter in diesem Fall annehmen, dass sein Vorgesetzter einfach noch ein paar Informationen sammelt, um ihn in der besagten Weihnachtsansprache zu erwähnen. Völlig anders wäre diese Gesprächssequenz jedoch dann zu bewerten, wenn sie im Vorfeld einer bereits angekündigten größeren Kündigungswelle erfolgt. In diesem Fall würde der Mitarbeiter vermutlich annehmen, dass sein Vorgesetzter gerade
8.2 • Ebenen der Führungskommunikation
179
8
dabei ist, die Kriterien bezüglich der Sozialauswahl für unterschiedliche Mitarbeiter zu prüfen. Wir können also das eigentliche Gesprächsgeschehen (und natürlich auch den möglichen Konfliktsprengstoff und die emotionale Bedeutung, die in dieser kurzen Sequenz stecken) nicht wirklich abschätzen, wenn wir diese Kontextebene unberücksichtigt lassen.
In den folgenden drei Abschnitten dieses Unterkapitels werden wir uns nun der Frage zuwenden, was man als Führungskraft auf diesen drei Ebenen berücksichtigen muss, wenn man so kommunizieren will, dass sich Führungs-Kraft entfaltet. Wir betrachten hierbei zunächst die kontextuelle Ebene, weil wir der Überzeugung sind, dass man das Kommunikationsgeschehen nur interpretieren kann, wenn man zunächst den Kontext und die Kulisse versteht, in der es stattfindet. Dann beschäftigen wir uns mit den nonverbalen und schließlich mit den verbalen Aspekten der Kommunikation.
8.2.1
Führungskräfte müssen alle drei Ebenen der Kommunikation berücksichtigen.
Kommunikative Anforderungen auf der kontextuellen Ebene
Wenn man Führungskommunikation betrachtet, muss man sich die Frage vorlegen, wo und wann in einem bestimmten kulturellen Umfeld Führungskommunikation stattfindet. Findet Führungskommunikation vor allen Dingen in der Gruppe oder in Einzelgesprächen statt? Gibt es bestimmte Rituale oder Abläufe? Geht in einer bestimmten Kultur Führungskommunikation »auf Zuruf« oder muss man einen formalen Rahmen einhalten, um durchzudringen? Führung bedeutet auch, die Kontrolle über eine bestimmte Situation zu erlangen und zu behalten. Wer als Führungskraft gut kommunizieren will, muss Aufmerksamkeit dafür aufbringen, wie man die Kontrolle über bestimmte Kommunikationssituationen gewinnt und behält. In bestimmten kulturellen Umfeldern wie Sitzungen ist es z. B. bedeutsam, wo die Führungskraft sitzt (am Kopf des Tisches). Viele »offizielle« Führungssituationen haben ein rituelles Moment. Wenn Sie von einer Führungskraft angeleitete Sitzungen betrachten, so ist es in vielen Kontexten üblicherweise so, dass die Führungskraft das Anfangsstatement und den Einstieg in die Sitzung vornimmt, dass er Zwischenfazits zieht und die Sitzung schließt. > Wer als Führungskraft die kommunikative Kontrolle über Situationen erlangen will, muss Sensibilität und Aufmerksamkeit für die kulturellen Codes mitbringen, die in den jeweiligen Kontexten relevant sind.
Der wichtigste Ratschlag, der sich hieraus für Führungskräfte ergibt, die erfolgreich kommunizieren wollen, ist damit der folgende:
Wo, wann und wie findet Führungskommunikation statt?
Wie gewinnt man als Führungskraft die kommunikative Kontrolle über eine Situation?
180
Kapitel 8 • Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige
> Repräsentiere eine Führungskraft, die man an der Kommunikation erkennt! Nutze die kulturellen Codes, sonst verzichtest du freiwillig auf Einfluss! Wer sich als Führungskraft aus ideologischen Gründen den etablierten Ritualen entzieht, provoziert Konflikte in der Gruppe.
Die Nutzung bestehender Führungsrituale ist nicht gleichbedeutend mit förmlichem Verhalten.
8
Erfolgreiche Führungskräfte können die kulturellen Codes und Rituale eines Kontextes sensibel erfassen und bedienen.
Manchmal trifft man Führungskräfte, die aus oft eher ideologischen Erwägungen ganz bewusst eine andere Rolle spielen wollen. Sie wollen unter Umständen die formalen und in einer bestimmten vorgefundenen Kultur existenten Führungsrituale bewusst nicht bedienen. Dies kann dazu führen, dass man freiwillig und ohne Notwendigkeit Einflussmöglichkeiten abgibt, weil man sich in der vorgefundenen Kultur kommunikativ nicht als Führender zu erkennen gibt. Üblicherweise provoziert ein solches Verhalten sofort Ambivalenzen und Konflikte in der Gruppe, der ein kulturell vorher wichtiges Strukturelement genommen worden ist. Der oben formulierte Ratschlag meint nicht, dass man sich als Führender grundsätzlich »formal« oder »förmlich« verhalten muss. Es gibt durchaus Führungskulturen, in denen man die Führenden nicht an den oben beschriebenen formalen Ritualen erkennt. Stattdessen inszenieren sich die Führenden kommunikativ durch persönliche Nähe und positionieren sich mit einer gewissen »Coolness« als Teil der Gruppe, sie wirken nah und partnerschaftlich. In diesem Fall kann aber genau das die in diesem Kontext relevante Inszenierung der Führungskommunikation sein. Man erkennt eine Führungsperson in dieser Kultur nicht an formalen Ritualen (wie z. B. Sitzordnung, Sitzungssteuerung etc.), sondern an ihrem persönlich integrierenden Element und ihrer implizierten Steuerung aus dem Hintergrund. Führende, die sich in diesen Kontexten so verhalten, geben dadurch keinen Einfluss auf, sondern bedienen den in dieser Kultur relevanten kommunikativen Code. Kommunikation kann nicht ohne das kulturelle Umfeld verstanden werden. Führende, die in ein anderes, neuartiges kulturelles Umfeld kommen, benötigen die Fähigkeit, sehr schnell die relevanten kulturellen Codes zu verstehen, die man als Führender nutzen muss, um als solcher wahrgenommen und erkannt zu werden. Wir erinnern uns an das dritte Qualitätskriterium von Führungskommunikation: Führungskommunikation muss sensibel sein. Sie muss sensibel sein für die Kontexte und Situationen, in denen sie stattfindet, und für die Rituale, die man bedienen muss.
8.2.2
Kommunikative Anforderungen auf der nonverbalen Ebene
Der zweite wichtige Aspekt, der im Hinblick auf gelungene Kommunikation betrachtet werden muss, ist die nonverbale Ebene. Die nonverbale Ebene betrifft das mimische Ausdrucksverhalten, das Blickverhalten, die Körpersprache. Sie betrifft Nähe und Distanz, aber auch Anspannung oder Intensität.
8.2 • Ebenen der Führungskommunikation
181
8
> Letztlich drücken sich in der nonverbalen Ebene kommunikativ vor allen Dingen zwei Aspekte aus: Verstärkung und Abschwächung.
Nonverbal können wir eine Situation »verstärken«, indem wir Konzentration, Anspannung und Intensität erhöhen. Wir können eine Situation abschwächen, indem wir uns distanzieren und zurückziehen. Verstärkung könnte sich in einem intensiveren Blickverhalten, einer noch mehr auf den Gesprächspartner bezogenen Körperhaltung oder in der Intensivierung von Nähe und Konzentration zeigen. Abschwächung würde sich aus den gegenteiligen Signalen ergeben, z. B. einer geschlossenen, distanzierten Körperhaltung, der Vermeidung von Blickkontakt oder einem körperlichen Abwenden vom Gesprächspartner. Nonverbal inszenieren wir damit Nähe und Distanz, Interesse und Desinteresse, Bezug auf den Gesprächspartner oder Abwendung. Wir inszenieren aber auch Gleichklang oder Konflikt. In konfliktären Situationen kommt es üblicherweise zu verstärkenden Mechanismen. Konzentration, Intensität (z. B. auch Blickintensität) und Bezug zum Gesprächspartner nehmen zu. Nun ist zu diskutieren, welche Aspekte der Führungskommunikation auf der nonverbalen Ebene zu beachten sind. Betrachten wir zunächst einmal einen Kontext, in dem sich jemand als Führungskraft neu etablieren und Akzeptanz finden muss: In diesen Situationen wird man auf der nonverbalen Ebene zunächst einmal auf positive Verstärkung setzen, um die Beziehung zu schaffen und zu intensivieren. Wer als Führungskraft neu in ein Team kommt, muss auf der nonverbalen Ebene Interesse, Konzentration, Offenheit, Aufmerksamkeit und positive Rückkoppelung signalisieren, um gute Beziehungen zu etablieren. Wenn es gelungen ist, Beziehungen auf diese Weise zu stabilisieren, hat man die Möglichkeit, auf der nonverbalen Ebene durch den »Entzug« der körpersprachlichen Verstärkung Situationen zu kontrollieren. Nehmen wir an, Sie haben durch die Zuhilfenahme der hier beschriebenen Verstärkungsmechanismen eine positive Führungsbeziehung etabliert. Dann wären Ihre Mitarbeiter in einer Situation, in der Sie plötzlich distanziert, abweisend und auf der körpersprachlichen Ebene »streng« agieren würden, alarmiert und könnten sofort verstehen, dass bestimmte Führungserwartungen offenbar nicht erfüllt worden sind. In den meisten Fällen würde auch sofort die Motivation entstehen, den Zustand der vorherigen positiven Verstärkung wiederherzustellen. > Wer sich als Führungskraft etablieren muss, fängt nonverbal üblicherweise auf der positiv verstärkenden Seite an und nutzt die »Entzugsmöglichkeit« als aktives und direktives Element, um Verhaltenserwartungen nachdrücklicher zum Ausdruck zu bringen.
Nonverbal können wir eine Situation verstärken oder abschwächen.
Konflikte führen zu verstärkender nonverbaler Kommunikation.
Wer sich als Führungskraft neu etablieren muss, fördert durch positive nonverbale Kommunikation den Beziehungsaufbau.
Der Entzug der positiven Körpersprache kann zur Situationskontrolle genutzt werden.
182
Kapitel 8 • Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige
In sehr hierarchischen Strukturen kann Führung auch mit einer »strengen Distanz« gestartet werden.
In bestimmten kulturellen Kontexten kann eine positive und verstärkende Kommunikation Führungsautorität sogar beschädigen.
8
In bestimmten Kontexten kann dieser Prozess auch anders herum funktionieren: Wenn man nämlich als Führungskraft in eine Situation kommt, in der allein aufgrund der funktionalen Struktur und Hierarchie eine hohe »traditionelle« und in der Struktur verankerte Autorität gegeben ist, muss man sich unter Umständen nicht so stark auf der nonverbalen Ebene positiv verstärkende Anknüpfungspunkte mit den Geführten suchen. Sie können in diesem Fall auch direkt mit einer »strengen Distanz« auf der körpersprachlichen Ebene starten, die aus dem Kontext der Hierarchie sofort als Führungskommunikation verstanden wird. Eine zu stark auf den Gesprächspartner bezogene und offene Kommunikation mag in bestimmten kulturellen Kontexten (z. B. in Ländern mit sehr hierarchischer Tradition wie einigen asiatischen Kulturen oder in Russland) Ihre Autorität sogar eher beschädigen. Andererseits können Sie, wenn Sie auf der »strengen« und Intensität vermittelnden Seite der Körpersprache starten, durchaus »häppchenweise« positive Rückkoppelung an die Geführten vermitteln und als Führungskraft auf diese Weise einen direktiven und aktiven Einfluss auf die Situation nehmen (s. auch 7 Exkurs »Nonverbale Kommunikation bei Lehrern«).
8.2.3
Bei verbaler Kommunikation geht es um Inhalt und Form.
Verständlichkeit entsteht, wenn man in der Bilder- und Metaphernwelt der anderen formulieren kann.
Wenn man Verständnis erzeugen will, muss man sich auf etwas beziehen, was schon verstanden ist.
Kommunikative Anforderungen auf der verbalen Ebene
Wenden wir uns nun der verbalen Ebene der Kommunikation zu. Bei der verbalen Ebene müssen wir zwei unterschiedliche Facetten unterscheiden. Zum einen müssen wir uns mit der Frage nach der inhaltlichen Substanz der Führungskommunikation beschäftigen, also der Aussage und Botschaft, die wir vermitteln wollen. Zum zweiten müssen wir uns aber auch mit der Form auseinandersetzen, also in welcher Art und Weise die Botschaft zum Ausdruck gebracht wird. Beschäftigen wir uns jetzt erst einmal mit dem Inhalt von Führungskommunikation: Wie wird Sprache eigentlich vom anderen verstanden? Das Spannende und Faszinierende an dieser Frage ist, dass wir andere Menschen immer nur durch Metaphern und Bilder verstehen können. Sprache ist kein »naturgegebener«, sondern ein kultureller Code. Wenn man sich innerhalb einer Kultur versteht, hat man ein gemeinsames Verständnis der Bilder, die hinter den Begrifflichkeiten liegen. Verständlichkeit entsteht, wenn man in der Lage ist, ein bestimmtes Anliegen in die Bilder und in die Verständniswelt des anderen zu übersetzen. Ohne einen Rückgriff auf die Bilder, die anderen bereits bekannt sind, kann man kein Verständnis erzeugen. Verständlichkeit heißt also, dass man in der Lage ist, kommunikative Erwiderungen in der Bilder- und Metaphernwelt des anderen formulieren zu können. Betrachten wir für diesen Prozess ein einfaches Beispiel. Nehmen wir an, Ihr vierjähriger Sohn stellt Ihnen die folgende Frage: »Was ist
183
8.2 • Ebenen der Führungskommunikation
8
Nonverbale Kommunikation bei Lehrern Ein üblicherweise besonders plastisches Beispiel für die beiden unterschiedlichen Strategien ist die Frage, wie sich Lehrer einer neu übernommenen Klasse zuwenden. Hier können Sie sehr deutlich beide Strategien sehen. Sie werden auf der einen Seite Lehrer sehen, die auf der nonverbalen Ebene direkt Nähe, persönlichen Bezug, Interesse und Offenheit für die Schüler vermitteln und im Steuerungsfall
dann durch den Entzug dieser Nähe einen Bestrafungsmechanismus etablieren möchten. Sie sehen auf der anderen Seite aber auch Lehrer, die zunächst einmal sehr distanziert, formal und hierarchisch einer Klasse begegnen, dann aber nach einer gewissen Zeit »auftauen« und positive Verstärkung in die Beziehung einbringen. Die Frage, welche Strategie nun erfolgreicher ist, lässt sich nicht
ein Bundeskanzler?«. Wie würden Sie auf diese Frage antworten? Sie würden vielleicht so etwas sagen, wie: »Ein Bundeskanzler ist wie ein König eines Landes. Es gibt aber den Unterschied, dass er nicht sein ganzes Leben lang regiert, sondern dass sich das Volk alle vier Jahre einen neuen Bundeskanzler aussuchen darf.« Sie sehen also, dass sie sich in Ihrer Erklärung auf ein Bild bezogen haben (auf den König), das in der Bilderwelt Ihres Kindes bereits belegt war. Ohne dass Sie sich auf irgendetwas beziehen könnten, was in der Alltagssprache Ihres Kindes schon eine Bedeutung hat, könnten Sie die Frage überhaupt nicht beantworten. Kultur ist damit auch als ein gemeinsamer Sprachraum zu verstehen, in dem die gleichen Metaphern und Bilder geteilt werden. Vielleicht haben Sie für Ihren Lebensgefährten oder Ihre Lebensgefährtin einen Kosenamen, der nur in der Kultur Ihrer Beziehung Bedeutung hat. Wenn Sie diesen Kosenamen benutzen, weiß der oder die andere, welche Metapher und welches Bild Sie nutzen. Wenn Sie mit diesem Kosenamen die gleichen Bilder verbinden, ist Kultur zwischen Ihnen entstanden. Ein Dritter, dem dieses Bild nicht zugänglich ist, kann die wirkliche Bedeutung des Kosenamens nicht verstehen. Viele Worte in unserer Sprache beinhalten bereits die in unserer Sprachwelt verbreiteten kulturellen Metaphern. Nehmen wir z. B.das Wort »Wohlstand«. Dieses Wort ist in unserem Kulturraum positiv belegt und besteht aus den beiden Ursprungsworten »Wohl« und »Stand«. »Stand« bezeichnet etwas Stabiles, Festes, Überdauerndes. In unserer Kultur ist es also offenbar gefragt und positiv belegt, dass das »Wohl« überdauernde Stabilität hat. Führungskräfte brauchen die Fähigkeit, die Metaphern und Bilder der Kultur zu verstehen, in der sie agieren. Wer nicht in der Lage ist, in der Bildersprache des anderen zu sprechen, kann kommunikativ keine direktive Wirkung entfalten. > Als Führungskraft ist man damit immer ein Übersetzer. Wenn man etwas Neues will, muss man sich auf Bestehendes beziehen können. Jede Definition braucht etwas, das schon da ist.
allgemein beantworten. Sie hängt vom kulturellen Kontext und den in diesen Kontexten etablierten Codes ab. In bestimmten kulturellen Kontexten werden Sie auf jeden Fall nonverbal auf der »strengen« Seite starten müssen, um als Führender wahrgenommen zu werden. In anderen kulturellen Kontexten sollten Sie sich zunächst um eine positive Verstärkung und Beziehungsaufbau kümmern.
Auch in Beziehungen entsteht durch gemeinsamen Sprachgebrauch Kultur.
Viele Worte in unserer Sprache enthalten bereits die Metaphern und Bilder, auf die sie zurückgeführt werden.
184
Kapitel 8 • Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige
Je weniger an bestehende Bilder angeknüpft werden kann, umso mehr muss erklärt werden.
Nur bei der Nutzung solcher Bilder, die in der Verständniswelt der Kommunizierenden Überschneidungen haben, entsteht gegenseitiges Verstehen.
8
Wenn eine Führungskraft das Motto ausgibt: »Wir müssen die Kundenzufriedenheit erhöhen«, funktioniert dieser Satz kommunikativ nur dann, wenn das Bild, das bei den Geführten zu den Themen Kundenzufriedenheit und Erhöhung entsteht, zu dem Bild passt, das die Führungskraft vermitteln möchte. Wenn das nicht der Fall ist, muss weiter erklärt werden. Dann muss unter Umständen das Wort »Kundenzufriedenheit« weiter erläutert werden, damit deutlich wird, was er wirklich möchte. Aber auch diese Erklärung kann wieder nur an Bilder anknüpfen, die bei den Geführten schon da sind (»Für mich ist Kundenzufriedenheit mehr als die Abwesenheit von Beschwerden und Reklamationen. Ich will unsere Kunden auch begeistert über unsere Qualität und unsere Dienstleistungen sehen.«). In der Verständniswelt, in der unsere beispielhafte Führungskraft nun um eine Beschreibung von Kundenzufriedenheit ringt, war der Begriff offenbar früher mit einem anderen Bild belegt. Unsere Führungskraft will offenbar Kunden auch noch begeistert sehen. Aber was ist begeistert? »Begeisterte Kunden erkennt man für mich daran, dass sie uns ohne Aufforderung weiterempfehlen und aktiv Folgeaufträge an uns vergeben.« Möglicherweise ist jetzt eine Übersetzungsleistung gelungen, in der die Geführten verstehen können, was die Führungskraft will. Die Bilder, die bei Führungskraft und Geführten mit dem Thema »Folgeaufträge« und »Weiterempfehlung« entstehen, überschneiden sich offenbar so stark (wenngleich sie vermutlich nicht völlig identisch sind), dass man den anderen verstehen kann. > Als Führungskraft kann man nur dann direktiv kommunizieren, wenn man seine Ziele und Anliegen in die Bilder, Metaphern und Alltagssymbole der Geführten übersetzen kann. Führung ist eine kommunikative Übersetzungsleistung. Man muss das Neue, das man anstrebt, unter Rückgriff auf bestehende Bilder und Metaphern erklären können.
Je vertrauter ein Gegenstandsbereich schon ist, umso mehr versteht man sich auch mit wenigen Bildern.
Wer sich nicht in die Bilderwelt der Geführten eindenkt, kann sie dort nicht abholen.
Aus dieser grundsätzlichen Anforderung an Kommunikation folgt übrigens auch, dass umso mehr kommuniziert werden muss, je unvertrauter ein Ziel oder ein Gegenstandsbereich für die Geführten ist. Je vertrauter Ziele und Anliegen des Führenden bei den Geführten sind, umso weniger Worte sind nötig. In diesem Fall versteht man sich mit wenigen Bildern und intuitiv. Führungskräfte, die viel Neues vorhaben, müssen sehr viel erklären, damit das Verständnis entsteht. Die Voraussetzung für gelungene Führungskommunikation ist damit eine grundsätzliche Verstehensund Verständigungsbereitschaft. Ein Führender, der nicht bereit ist, sich in die Alltagssymbolik und Bilderwelt der Geführten hineinzudenken, wird diese nie dort abholen können, wo sie abgeholt werden müssen.
8.2 • Ebenen der Führungskommunikation
185
8
> Verstehen ist nicht von Natur aus da. Sprachliches Verständnis ist kein biologisches Erbe der Menschen. Sprachliches Verständnis ist ein Prozess, der erst erarbeitet werden muss. Bei der gelungenen Erarbeitung eines Gleichklangs in der Sprach- und Bilderwelt ist schließlich eine Kultur entstanden, in der man sich verstehen kann.
Dieses Verstehen ist letztlich immer ein intuitiver Prozess. Wir wissen auf der rationalen Ebene nie ganz exakt, ob ein Gegenüber mit einem Bild genau das Gleiche assoziiert wie wir. Wir können es auch nie ganz exakt prüfen, weil die Bilder, auf die wir in der Erklärung zurückgreifen müssen, wieder die gleiche Unsicherheit mit sich bringen, ob sie in der Vorstellungswelt des anderen exakt gleich belegt werden. Die Annäherung an die Assoziationswelt des anderen kann dementsprechend immer nur intuitiv sein. Führungskräfte brauchen eine Sensibilität für die Bilder- und Metaphernwelt ihres kulturellen Umfeldes. Sie müssen die Fähigkeit haben, in der gefundenen Sprach- und Bilderwelt zu antworten und ihre neuen Ziele und Ideen so zu übersetzen, dass sie sich auf die bestehenden Bilder und Metaphern beziehen und damit für die Geführten verständlich sind. Wenden wir uns nun dem zweiten Aspekt der Sprache zu, den wir anfänglich »Form« genannt haben.
Verstehen ist ein intuitiver Prozess.
Gute Führungskommunikation ist sensibel für die Bilder- und Metaphernwelt des kulturellen Kontextes.
> In der Führungskommunikation muss die Form der Sprache immer ein Argument sein. Als Führungskraft muss man in der Lage sein, seine Ziele zu begründen und seine Problemlösungsvorschläge zu erklären.
Führende müssen in Bildern argumentieren können. Die Kommunikation des Ziels allein kann nur im Falle von Zwang genügen. Alle anderen Herangehensweisen in der Führung benötigen immer eine Erklärung, Erläuterung und Begründung. Ziele entfalten nur dann Führungs-Kraft, wenn begründet werden kann, welche Verheißung in ihnen steckt. Erwartungen und Anforderungen entfalten nur dann Führungs-Kraft, wenn erklärbar ist, welches Problem sie lösen und was bei erfolgreicher Bewältigung erreicht werden kann. Und auch für diese Begründung gilt, dass sie der relevanten Bilder- und Metaphernwelt der Geführten entnommen sein muss. Nehmen wir an, Sie möchten Ihren 16-jährigen Sohn auf dem Weg zum abendlichen Disco-Ausflug noch nahe legen, die Zähne zu putzen. Welche Begründung würde in diesem Fall vermutlich eine größere Führungs-Kraft entfalten: 5 »Bitte putz dir eben noch die Zähne oder willst du Karies kriegen?« 5 »Bitte putz dir eben noch die Zähne oder willst du, dass sich die Mädchen ekeln?«
Ziele erfordern Begründung und Erläuterung.
186
Kapitel 8 • Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige
Vermutlich wird an diesem Beispiel unmittelbar deutlich, welche Begründung und welches Argument stärker an die relevante Bilder- und Metaphernwelt des hier Geführten anzuknüpfen in der Lage ist. Führende müssen ein klares Bild vermitteln können, was gewollt ist und warum es gewollt ist. > Führende müssen ein klares Bild darüber vermitteln können, was gewollt ist und warum es gewollt ist. Sie müssen sowohl das Ziel als auch die Begründung für das Ziel an die Vorstellungs- und Bilderwelt der Geführten anknüpfen können.
8.3
8 Führungskräfte müssen mobil zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten sein.
Small Talk zu Beginn eines Gespräches leitet die Synchronisation der Gesprächspartner ein.
Führungskräfte dürfen die Symbolkraft ihrer Verhaltensweisen nicht unterschätzen.
Typische Probleme in der Führungskommunikation
Der hier beschriebene Prozess guter Führungskommunikation ist jedoch leider nicht immer erfolgreich und gelungen. Der folgende Abschnitt fasst die typischsten Probleme in der Führungskommunikation zusammen: 5 Der kommunikative Kontext wird nicht ausreichend beachtet. Es gibt Führungskräfte, die in gewisser Hinsicht so tun, als sei Führungskommunikation und Sprache etwas Universelles. Dementsprechend sind sie nicht bereit, sich an die kulturellen Kontexte einer Situation anzupassen. Mit dieser Attitüde gerät man fast immer in Schwierigkeiten. Kulturelle Kontexte ändern sich. Als Führungskraft braucht man die Fähigkeit zur Mobilität, um in unterschiedlichen kulturellen Kontexten erfolgreich zu sein. 5 Die verbale und nonverbale »Synchronisation« im Gespräch gelingt nicht. Ein Gespräch ist zumeist dann gut und gelungen, wenn es sich wie eine Art Tanz entwickelt. Die beiden Gesprächspartner schwingen sich verbal und nonverbal aufeinander ein, synchronisieren sich damit, und die Möglichkeit, sich zu verstehen, wird größer. Führungskräfte müssen auf der nonverbalen Ebene zu Beginn von Gesprächen darauf achten, den Gesprächspartner in einer positiven Weise zu spiegeln, um diesen »Tanz« einzuleiten. Auf der verbalen Ebene wird diese Synchronisation üblicherweise durch einen unverfänglichen »Small Talk« eingeleitet. Durch die Besprechung unverfänglicher Themen schwingt man sich verbal aufeinander ein und bereitet den Boden dafür, in den relevanten Themen Verständigungsbereitschaft zu erreichen. 5 Führungskräfte unterschätzen die symbolische Bedeutung bestimmter Verhaltensweisen. Gerade dann, wenn Führungskräfte sich neu in einer Gruppe etablieren müssen, ist die Gefahr groß, dass Fehler auf der Symbolebene unterlaufen. Da es noch keine gemeinsame Kultur gibt, werden viele Handlungen des Führenden von den Geführten sofort symbolhaft interpretiert
8.3 • Typische Probleme in der Führungskommunikation
187
8
. Abb. 8.2 Sieben Empfehlungen für erfolgreiche Führungskommunikation
und unter Umständen durch »Überschussinterpretation« aufgeladen. Wenn Sie als Führungskraft neu in eine Gruppe kommen, ist alles ein Symbol: Egal, ob sie die Bürotür geöffnet oder geschlossen haben, beides wird symbolhaft interpretiert werden. Wer als Führungskraft beispielsweise in einer Sitzung ein Schriftstück liest, sendet damit ein wesentlich stärkeres Symbol, als wenn einer der anwesenden Mitarbeiter liest. Führungskräfte müssen Fingerspitzengefühl und Sensibilität für die Symbolsprache ihres kulturellen Umfelds mitbringen. 5 Führende knüpfen bei der Begründung ihrer Ziele nicht an die Alltagssymbolik und Sprachwelt der Geführten an. Dieser Punkt führt dazu, dass bei Führenden manchmal einfach nicht verstanden wird, warum sie etwas Bestimmtes wollen. Gerade Politiker müssen z. B. in der Lage sein, ihre Ziele und Anliegen
Erfolgreiche Führungskräfte übersetzen ihre Ziele in anknüpfungsfähige Bilder für die Geführten.
188
Kapitel 8 • Führung, Beeinflussung und Kommunikation – Wie Sie durch sensible und eindeutige
so erfolgreich in die Bildersprache der Bevölkerung zu übersetzen, dass für möglichst viele verständlich wird, was sie wollen. Nehmen wir einmal an, Sie vertreten als Politiker die Meinung, dass die wöchentliche Arbeitszeit in Deutschland zu gering sei. So könnten Sie dies durch folgende Äußerung zum Ausdruck bringen: »Im internationalen Vergleich ist in Deutschland die Arbeitszeit zu gering. Dies führt zu relativ hohen Lohnstückkosten, die unsere Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Umfeld schmälern.« Sie könnten aber auch (um den Kontrast ganz deutlich werden zu lassen), so wie einst Helmut Kohl argumentieren, dass Deutschland sich zum »kollektiven Freizeitpark« entwickelt. Es wird vermutlich unmittelbar deutlich, dass das zweite Bild für eine viel größere Gruppe von Menschen in einer anknüpfungsfähigen Weise vermitteln würde, was der jeweilige Politiker will und nicht will. Zusammenfassend ergeben sich damit für gelungene Führungskommunikation die sieben Empfehlungen in . Abb. 8.2.
8
189
Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll nutzen 9.1
Macht ist Möglichkeit, nicht Handlung – 192
9.2
Quellen der Macht – 193
9.3
Psychologische Stadien in der Entwicklung von Machtbewusstsein – 195
9.4
Strategien zum Erlangen von Macht – 199
9.5
Persönlichkeitsveränderung durch Macht – 200
9.6
Zähmung und Begrenzung von Macht – 202
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
9
190
Kapitel 9 • Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
Wir betrachten Führung unter der Perspektive der Machtausübung.
Der Begriff »Macht« klingt gerade in Deutschland dunkel, mystisch, unmoralisch und geheimnisvoll:
9
Zunächst begegnet uns Macht in einem religiösen und historischen Kontext.
Zwei Weltkriege und der Nationalismus haben uns skeptisch gegenüber Machtanhäufung werden lassen.
Mit Macht kann man den eigenen Willen durchsetzen und eigene Absichten verwirklichen.
Wir haben uns in diesem Buch bislang vor allem der psychologischen Seite der Führung gewidmet, müssen aber zur Vervollständigung auch noch einige andere Perspektiven betrachten. In diesem Kapitel beleuchten wir das Thema Führung mehr unter einer politischen Perspektive, nämlich unter dem Blickwinkel von Macht und Machtausübung. Wir haben bereits gesehen, dass das Thema Führung aus sehr verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden kann. Wir haben gezeigt, dass Führung ein Beziehungsphänomen ist, das durch Angstbindungskraft stabilisiert wird. Wir haben aufgezeigt, dass Führung Strukturierung bedeutet und einer Organisation durch Struktur Stabilität und Effizienz verleiht. Nun betrachten wir Führung unter der Perspektive der Machtausübung. Führung kann man selbstverständlich auch als Machtausübung verstehen. Allerdings wäre eine solche Begriffsbestimmung gerade in Deutschland nicht sehr anknüpfungsfähig und positiv besetzt. Der Begriff »Macht« hat in Deutschland etwas Dunkles, Verklärendes, etwas Mystisches, etwas Unmoralisches und bisweilen auch etwas Pathologisches. »Macht« klingt geheimnisvoll und dunkel und nicht positiv oder rational. »Macht« klingt auch nicht so sehr nach praktischem Führungsalltag, sondern eher religiös, politisch oder historisch. Als Begriff begegnet uns (zumindest im christlichen Abendland) in unserer Sozialisation und Erziehung der Begriff Macht tatsächlich erstmals im religiösen Kontext. Wir lernen dort etwas über »Gott, den Allmächtigen« und wir erleben Gottes Allmacht als Kontrast zur Ohnmacht des Menschen. Wir sehen aber Macht auch in Naturgewalten, denen wir uns nicht widersetzen können. Wenn wir älter werden, begegnet uns Macht als historische Kategorie. Wir lernen in der Schule vieles über Könige und Herrschaftshäuser und assoziieren den Begriff Macht viel stärker mit diesen Kontexten als mit dem unternehmerischen Führungsalltag. Erst später bekommt Macht dann seine politisch-moralische Dimension, verbunden häufig mit dem kritisch-skeptischen Blick auf die Macht, der aus der deutschen Geschichte heraus nur allzu verständlich ist. Die Last von zwei entfesselten Weltkriegen und von einem barbarischen Unterdrückungsregime hat uns misstrauisch gemacht gegenüber Macht und Machtanhäufung. Aus einem nur zu verständlichen Reflex erscheint auf einmal Freiheit als der positive Gegenentwurf zur Macht. Dieser intuitiv eingängige Gegensatz von Macht und Freiheit ist allerdings nicht ganz haltbar, wie wir später aufzeigen werden. Schauen wir uns also zunächst einmal an, wie verschiedene große Denker den Begriff der Macht belegt haben. Der walisische Wissenschaftler Bertrand Russel (1872-1970) bestimmte Macht z. B. wie folgt: »Macht ist die Fähigkeit, bestimmte Absichten zu verwirklichen.« Bis heute prominent und präzise ist allerdings die etwas genauere Begriffsbestimmung von Max Weber, dem berühmten deutschen National-
Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
ökonom (1864-1920): »Macht ist die Möglichkeit, den eigenen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen.« Wenn man diese Begriffsbestimmungen genauer analysiert, dann sieht man, dass Macht und Freiheit eigentlich das Gleiche bedeuten. Freiheit besteht gerade darin, tun und lassen zu können, was man möchte, und damit die Macht zu haben, über sein Leben zu bestimmen. Freiheit zu haben heißt Macht zu haben, wenngleich natürlich Freiheit der wesentlich positiver besetzte Begriff ist. Führungskräfte sagen in Einstellungsgesprächen fast nie, dass sie nach Macht streben und sich Macht wünschen. Sie nutzen dazu Begrifflichkeiten, die sozial akzeptabler daherkommen: Sie wünschen sich Gestaltungsmöglichkeiten, Handlungsspielräume, Selbstständigkeit, Verantwortungsbreite oder sogar unternehmerische Freiheit. All das bedeutet, Macht zu haben. Friedrich Nietzsche hat folgenden Satz geprägt: »Leben ist Wille zur Macht.« Wenn man Macht jetzt mit etwas weniger Pathos und spiritueller Dunkelheit auflädt, so vermag man diesem Gedankengang durchaus zu folgen. Macht bedeutet, seine soziale Freiheit zu vergrößern, unabhängiger über sein Leben zu bestimmen und dieses zu gestalten, seine Ziele zu verwirklichen, auch wenn es Widerstände geben sollte, und seine Vorhaben auch gegen Angriffe behaupten und verteidigen zu können. Falls Sie sich beim Lesen dieses Buches schon einmal gefragt haben, welche Motivation Sie eigentlich antrieb, zu diesem Buch zu greifen, so hätte Ihre Antwort vielleicht gelautet, dass Sie »besser und erfolgreicher führen« möchten. Das heißt letztlich nichts anderes, als dass Sie die Kontexte und Lebensbereiche, in denen Sie erfolgreich bestimmen dürfen, vergrößern möchten, und das ist gleich bedeutend mit dem Wunsch, mehr Macht zu haben. Wir vermögen grundsätzlich in dem »Willen zur Macht« weder etwas moralisch Verwerfliches noch etwas Pathologisches zu erkennen. Vor diesem Hintergrund werden wir in diesem Kapitel zunächst einmal versuchen, das Phänomen der Macht selbst noch etwas genauer zu fassen und zu beschreiben, auf welchen Ressourcen Macht basiert. Wir werden erklären, welche Entwicklungsstufen zur reifen Ausübung von Macht es gibt und welchen Dilemmata sich mächtige Menschen ausgesetzt sehen. Die Tatsache, dass Macht nicht grundsätzlich etwas moralisch Verwerfliches oder Pathologisches ist, bedeutet nämlich nicht, dass Macht nicht auch moralische Dilemmata erzeugt. Mächtige Menschen können durchaus eine pathologische Entwicklung nehmen und das Phänomen Macht zieht auch bestimmte Pathologien an. Diesen Aspekten werden wir uns in den beiden Folgekapiteln widmen, in denen wir die typischsten psychischen Störungen von mächtigen Personen (oder sagen wir Führungskräften) beschreiben. Zum Abschluss dieses Buches werden wir uns dann mit der ethischen Dimension der Macht beschäftigen.
191
9
Wir benutzen statt dem Wort »Macht« oft positiv konnotiertere Begriffe wie »Gestaltungsmöglichkeit«.
Macht zu haben heißt, seine soziale Freiheit zu vergrößern.
Wer erfolgreicher führen möchte, möchte seine Macht vergrößern.
Wir untersuchen zunächst das Phänomen der Macht.
Macht erzeugt moralische Dilemmata.
192
Kapitel 9 • Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
9.1 Macht ist keine Aktivität, sondern ein Zustand.
Es genügt das Wissen um Sanktionen und Lasten, um sich zu unterwerfen.
9
Bei viel Macht wird man seltener gezwungen, sie auch zu benutzen.
Macht ist Möglichkeit, nicht Handlung
Um das Phänomen Macht noch etwas präziser zu begreifen, muss man sich zunächst einmal darüber klar werden, dass Macht keine Aktivität, sondern ein Zustand ist. Macht zeigt sich in der Durchsetzungsmöglichkeit und nicht notwendigerweise in einer damit verbundenen Handlung. Wir haben bei der Diskussion des Themas Durchsetzung in 7 Kap. 3 bereits erläutert, dass Durchsetzungsmacht sich darin zeigt, dass man »anderen Menschen Kosten verursachen kann« (Kosten in einem metaphorischen Sinne). Diese Möglichkeit kann bereits einen führenden Einfluss haben, auch ohne dass von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden muss. Macht ist Potenz oder Potenzialität. Es kommt nicht zwangsläufig darauf an, die Macht wirklich einzusetzen. Gerade besonders herausgehobene oder große Macht zeigt sich darin, dass sie alleine dadurch wirkt, dass alle anderen wissen, was der Mächtige tun könnte. Für die Geführten genügt das Wissen um die möglichen Kosten (Nachteile, Sanktionen, Lasten), mit denen sie zu rechnen haben, wenn sie sich nicht der Macht unterwerfen. Das Wissen alleine genügt, um die Bereitschaft des Folgens auszulösen. Für die Mächtigen ist dies ein äußerst angenehmer Zustand. Es bedeutet nämlich, dass man bei großer Machtfülle nur selten gezwungen wird, seine Macht auch wirklich auszuüben. Oftmals genügt es, wenn man seine Macht symbolisch präsentiert (wozu brauchen die großen Diktatoren sonst so viele Militärparaden?) oder symbolhaft und exemplarisch exekutiert (öffentliche Hinrichtungen sind aus diesem Grunde bei bestimmten Herrschern sehr beliebt). Je präsenter und größer die gefühlte Macht ist, umso seltener muss sie von allen ihren Möglichkeiten Gebrauch machen. > Macht ist Potenz oder Möglichkeit, nicht Aktivität oder Handlung! Je größer die Macht ist, umso häufiger genügt die symbolische Präsentation der Macht. Dies ist für sehr mächtige Menschen ein bequemer Zustand.
Macht erlebt man in der eigenen Entwicklung zunächst als eigene Ohnmacht und Macht der anderen.
Machtstreben ist der Anfang aller bedeutenden Dinge, die auf der Welt geschaffen wurden.
Wenn wir uns fragen, wie wir Macht psychologisch erleben, so ist in unserer eigenen Entwicklung zunächst einmal die Kehrseite der Macht zu spüren, nämlich das Gefühl der Ohnmacht. Wir erleben Macht zunächst als Ohnmacht. Wir erleben die Macht des oder der anderen, und zwar für uns als Freiheitseinschränkung und Begrenzung. Wenn Macht für den einen Freiheit bedeutet, dann ist sie Freiheitseinschränkung für den anderen, und die Gestaltungsmöglichkeiten des einen sind die Gestaltungsbegrenzungen des anderen (7 Exkurs »Die »Psychohygiene« zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen«). Leben ist darum genau dann Wille zur Macht, wenn man den Gestaltungsbegrenzungen durch andere entkommen möchte und sich die Freiheit über sein Leben selbst erarbeiten will. In diesem Sinne ist Machtstreben der Beginn von allem, was auf der Welt erreicht
193
9.2 • Quellen der Macht
9
Die »Psychohygiene« zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen Aus dem Ohnmachtserleben gegenüber den Mächtigen erklärt sich auch die negative Konnotation, die der Begriff Macht hat. Das Erleben von Freiheit und Autonomie ist positiv. Das Erleben von Freiheitseinschränkung und Begrenzung ist negativ. Hierdurch ergibt sich eine Art »psychologischer Vertrag« zwischen den Mächtigen und den weniger mächtigen Personen. Dieser »psychologische Vertrag« sieht folgendermaßen aus: Personen mit viel Macht treffen zwangsläufig Entscheidungen, die tief in die Freiheit anderer Menschen eingreifen. Diese Entscheidungen sind zunächst einmal nicht gut oder schlecht und können durchaus verantwortungsvoll abgewogen werden, aber sie greifen in das Leben anderer Menschen ein. Immer dann, wenn Mächtige mit begrenzten Ressourcen operieren müssen (wie z. B. der typische Politiker), kann es keinen Machtausübenden geben, der der Welt nur »Nutzen« bringt, ohne an
anderer Stelle »Kosten« zu erzeugen. Wofür immer unsere Politiker Geld ausgeben, um damit irgendeinem Teil der Bevölkerung einen Nutzen zu bringen, es muss an anderer Stelle erwirtschaftet oder erspart werden und irgendwer trägt dafür die Last. Aus der Sicht derer, die die »Kosten« tragen müssen, wirkt das Verhalten des Machthabers dadurch sehr schnell »unmoralisch«, weil die Macht des anderen als Bürde für die eigene Lebensgestaltung erlebt wird. Von daher fühlen sich die Machtlosen gegenüber den Mächtigen zwar mit weniger Freiheit und Autonomie ausgestattet, dafür aber im Allgemeinen moralisch überlegen. Die »Psychohygiene« zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen funktioniert aus Sicht der weniger Mächtigen nach folgendem Prinzip: »Du hast mehr Macht als wir, aber dafür können wir die guten Menschen sein.« »Gut« zu sein, ist einfach, wenn man wenig Macht hat. Man gerät dann
selten in Dilemmata, die nur dann entstehen, wenn man mit begrenzten Ressourcen Nutzen schaffen muss und damit zwangsläufig auch Kosten verursacht. Je weniger Macht man hat, umso leichter ist es, »gut« und »schuldfrei« zu sein. Wer Macht hat, erzeugt Menschen Kosten und bleibt nicht schuldfrei. Aus diesem Grunde wirkt Macht (selbst wenn sie verantwortungsvoll und abwägend ausgeübt wird) aus Sicht der weniger Mächtigen fast immer verrucht und unmoralisch (zumindest aus Sicht derjenigen Interessensgruppen, die die Kosten für den Nutzen tragen müssen, den der Machthaber an anderer Stelle stiftet). Die Stammtischempörung und die von bestimmten Medien gern bediente Verärgerung der Volksseele über das unmoralische Verhalten der Mächtigen ist die psychologische Kompensation für eigene Machtlosigkeit: Wenn ich schon keine Macht habe, so bin ich zumindest ein guter Mensch.
worden ist, und die Vorbedingung dafür, etwas Bedeutendes schaffen zu können.
9.2
Quellen der Macht
Als nächstes beleuchten wir, wodurch Macht eigentlich entsteht. Wie passiert und geschieht es, dass einige Menschen mehr Macht und Einfluss entwickeln als andere? Auf welchen Quellen fußt Macht? Wenn man über diese Fragen nachdenkt, wird man sehr schnell erkennen, dass es zwei sehr grundsätzliche und fundamentale Quellen der Macht gibt: Die erste Quelle der Macht liegt in der Funktion oder in der Hierarchie begründet, in der diese Person ihren Platz hat. Die Quelle dieser Macht wird dadurch gespeist, Macht in einem ganz gewissen Sinne »zu haben«. Im Gegensatz dazu gibt es eine zweite Quelle der Macht, die aus der Persönlichkeit bzw. aus der Person selbst kommt oder aus ihrer Autorität. Es geht bei der Autorität nicht darum, etwas »zu haben«, sondern etwas ganz Bestimmtes »zu sein«. . Tab. 9.1 zeigt die unterschiedlichen Quellen, aus denen sich diese beiden grundsätzlichen Machtressourcen speisen.
Die Quellen der Macht einer Führungskraft liegen in ihrer Funktion und in ihrer Persönlichkeit.
194
Kapitel 9 • Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
. Tab. 9.1 Quellen der Macht
Die Möglichkeit zur Verteilung von Ressourcen und Sanktionen kommt nicht aus der Persönlichkeit, sondern aus der Rolle.
9
Die Macht der Funktion
Die Macht der Person
Möglichkeit der Zuteilung von Ressourcen
Erfahrungs- und Wissensvorsprung
Möglichkeit der Verteilung von Lasten
Vertrauenswürdigkeit und Ausstrahlung
Möglichkeit des Zugangs zu noch mächtigeren Personen
Strategieentwicklung und Taktik
Dies verdeutlicht den grundsätzlichen Unterschied der Machtquellen, die durch die Funktion bedingt sind, gegenüber denjenigen Machtquellen, die aus der Person selbst gespeist werden. Die Machtquellen aus der Funktion sind dadurch gekennzeichnet, dass die entsprechende Person in der Hierarchie ein ganz bestimmtes Mandat innehat, das ihr ermöglicht, über bestimmte Ressourcen zu entscheiden (Gelder, Arbeitskraft etc.). Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, Bestrafungen oder Sanktionen anzuweisen und zu exekutieren. Die Möglichkeit, jemanden mit Lasten zu versehen und durch bestimmte Aktionen zu bestrafen, kommt nicht aus der Persönlichkeit heraus, sondern entsteht durch die Funktion und Rolle, die man in einem hierarchischen Gefüge spielt. Natürlich ist auch der Zugang zu noch mächtigeren Personen eine nicht zu unterschätzende Machtquelle. Wer Zugang zu mächtigen Personen hat, kann steuern, welche Informationen diese mit welcher Konnotation und welcher Einfärbung erhalten, auf welche Dinge sie hingewiesen werden und auf welche nicht etc. Macht durch Zugang zu noch Mächtigeren Eine kaum zu unterschätzende Machtfülle vereinen oftmals loyale Sekretariatskräfte gehobener Führungskräfte auf sich. Sie steuern im Allgemeinen, wer Zugang zu ihrem Vorgesetzten bekommt und bei einem guten Vertrauensverhältnis nutzen gehobene Führungskräfte ihre Sekretariatskräfte nicht selten als »Pulsmesser und Fieberthermometer« für bestimmte Vorgänge um sie herum. Die Möglichkeit, auf diese Weise auf den mächtigen Vorgesetzten Einfluss zu nehmen, ist natürlich damit Indikator, dass man selbst bereits eine sehr machtvolle Position innehat. Hier handelt es sich um Machtfülle, die durch die Funktion und die Rolle ausgelöst wird und nicht ursächlich (wenngleich natürlich verstärkend) durch die Persönlichkeit.
Vertrauenswürdigkeit und Stärke können zu erheblichem Einfluss führen.
Wenn wir auf die Machtquellen in der Persönlichkeit schauen, so sind die Kompetenz und der Erfahrungshintergrund erste wichtige Machtquellen, die im modernen Wirtschaftskontext üblicherweise auch die Voraussetzung für das Erlangen von Funktionsmacht sind. Allerdings kann auch der an sich funktionsmäßig machtlose Experte oder Gutachter einen erheblichen Einfluss erlangen, wenn auf seine
9.3 • Psychologische Stadien in der Entwicklung von Machtbewusstsein
Expertise gehört wird. Über Vertrauenswürdigkeit und Ausstrahlung hatten wir in 7 Kap. 2 in unseren Überlegungen zum Thema Charisma bereits geschrieben. Wir haben Vertrauenswürdigkeit (also Integrität und Glaubwürdigkeit) als wichtige Quelle von Autorität benannt. Aber auch die ausgestrahlte Stärke (das Zutrauen) ist eine wichtige Dimension, die die Bereitwilligkeit erhöht, eigene Freiheitsgrade einzuschränken und sich dem Führenden anzuvertrauen, dem man zutraut, bestimmte Ziele zu erreichen und Verheißungen einzulösen. Der Schwache kann deswegen keine Autorität erzeugen, weil er Sie durch mangelndes Zutrauen in ihn nicht dazu motivieren könnte, eigene Freiheitsgrade zu Gunsten der Hoffnung auf seine Zukunftsversprechungen aufzugeben. Die letzte persönliche Ressource besteht in der klugen Strategieentwicklung und Taktik. Hier ist es das politische (also kalkulierte und interessenabwägende) Handeln, durch das bestimmte Personen ihre Einflussbereiche vergrößern. Aber auch Täuschung oder kalkulierter Regelbruch können zu den gewählten Strategien gehören, mit denen sich Menschen ihren Einfluss sichern (insbesondere der italienische Renaissance-Philosoph Machiavelli ist mit seinen Überlegungen im Hinblick auf diese Machtressource berühmt geworden). Interessant ist, dass diese Quellen der Macht sich in einem gewissen Ausmaß gegenseitig kompensieren können. Wer wenig persönliche Kompetenz oder persönlichkeitsbezogene Autorität hat, muss viel Funktionsmacht aufbieten, um sich durchsetzen zu können. Wer als persönliche Autorität unzweifelhaft anerkannt ist, wird auch bei geringerer Funktionsmacht viel Einfluss nehmen können (s. auch 7 Ex-
195
9
Kluges politisches Handeln und Taktieren kann Macht vergrößern.
Die verschiedenen Quellen der Macht können sich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig kompensieren.
kurs »Funktionsmacht und Autorität am Beispiel des politischen Systems in Deutschland«).
In der Politik wird übrigens kühl mit der Kompensationsmöglichkeit dieser Machtquellen kalkuliert. Eine starke Funktionsmacht und kluge Taktik vermögen dabei durchaus mangelnde Kompetenz und Fachwissen zu kompensieren. Wenn das nicht so wäre, würde es ja keinen Sinn ergeben, Politiker zu Chefs von Ministerien zu ernennen, obwohl sie für das entsprechende Fachgebiet bis dato keinerlei Erfahrungen oder überlegenes Wissen mitbringen. Ein fähiger Politiker scheint jedes Ministerium führen können zu müssen! Mit dieser Attitüde ist klar, dass nicht das Fachwissen und die Expertise im engeren Sinne die Basis der Machtausübung sein können. Freilich wird dieser Zustand in der Bevölkerung nicht immer ganz unkritisch gesehen.
9.3
In der Politik kann man sehen, wie Funktionsmacht mangelndes Fachwissen kompensieren kann.
Psychologische Stadien in der Entwicklung von Machtbewusstsein
Der Umgang mit Macht wird, wie viele andere Fähigkeiten auch, geprägt, sozialisiert und damit erlernt. Macht kennt verschiedene Stadien in der Entwicklung, die zu der Integration einer ganz bestimmten Facette von Macht führen (nach McClelland, 1975:
Macht muss verschiedene Reifestadien durchlaufen, wenn die Entwicklung gelingen soll.
196
Kapitel 9 • Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
Funktionsmacht und Autorität am Beispiel des politischen Systems in Deutschland Implizit ist dies die Aufgabenverteilung, die im bundesdeutschen System zwischen Bundespräsident und Bundeskanzler erwartet wird: Der Bundespräsident hat vergleichsweise wenig Funktionsmacht und deswegen ist das Bestreben groß, hier eine Persönlichkeit zu finden, die in ihrer Autorität so stark wirkt, dass trotzdem eine präsente
9
Man muss eigene Ohnmachtserlebnisse integrieren können, um nicht ewiger Skeptiker zu bleiben.
Macht erlangt man durch die Kontrolle seiner selbst.
Man muss lernen, wie man andere kontrollieren kann.
Macht ist rechtfertigbar als Verteidigungsleistung für gute Ziele.
Rolle in der politischen Diskussion gespielt werden kann. Der Bundeskanzler gerät durch die praktische Machtausübung stärker in das eben beschriebene Dilemma zwischen Nutzenschaffung und Kostenverteilung und verliert zwangsläufig einen Teil der Autorität dadurch, dass er aus Sicht eines großen Teils der Bevölkerung stets die falschen
Entscheidungen trifft. Deswegen benötigt er Funktionsmacht. Da der Bundespräsident von solchen Dilemmata freigehalten wird (er braucht nichts Polarisierendes zu entscheiden), muss sich seine Macht durch Autorität legitimieren, damit überhaupt Einfluss genommen werden kann.
Power- The inner experience). Diese Integration muss in der eigenen Entwicklung gelingen und geleistet werden, sonst kann es zu einem »unfertigen« oder unreifen Umgang mit Macht kommen. . Tab. 9.2 veranschaulicht die Stadien der persönlichen Entwicklung im Umgang mit Macht und stellt dar, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn die erfolgreiche Integration dieser Entwicklungsstufe scheitert. Der reife Umgang mit Macht erfordert, dass alle vier hier beschriebenen Phasen in der Entwicklung erfolgreich durchlaufen und dadurch in die eigene Persönlichkeit integriert werden. Um erst einmal ein Verhältnis zur Macht aufzubauen, muss man in der Lage sein, auch die eigene Ohnmacht auszuhalten, weil man im Leben immer Macht und Ohnmacht integrieren können muss. Wer mit eigenen Ohnmachtserlebnissen nicht fertig wird, kann nicht vertrauen und bleibt als ewiger Skeptiker ein Vermeider von Beziehungen, in denen Macht eine Rolle spielt. Im nächsten Schritt muss man lernen, dass man Macht über andere durch die erfolgreiche Kontrolle und Entwicklung von sich selbst erlangt und erhält. Eigene Kompetenz und eigenes Wissen sind eine wichtige Machtbasis der Autorität. Allerdings muss man auch über diese Phase hinauswachsen können, weil es Dinge gibt, die man durch eigene Kompetenz nicht erreichen kann, sondern die die Kontrolle über andere erfordern. Man muss lernen, sich durchzusetzen, sich abzugrenzen, Beziehungsbelastungen in Kauf nehmen zu können und sich gegen Angriffe zu wehren. Man muss lernen, wie Kontrolle über andere geht und erreichbar ist. Wenn man reif mit Macht umgehen möchte, wird man allerdings nicht die Frage vermeiden können, vor welchem Rechtfertigungshorizont man Macht auf andere ausübt. Man wird sich der Legitimationsfrage der Macht stellen müssen und verstehen, dass Macht immer nur dann rechtfertigbar ist, wenn sie zur Verteidigung guter Ziele zum Einsatz kommt. Diese guten Ziele müssen irgendetwas außerhalb der eigenen Person sein. Macht ist rechtfertigbar für einen Sinn, aber nicht rechtfertigbar nur für einen selbst.
Lernaufgabe in diesem Stadium
In dieser Phase verstehen Menschen, dass Macht sich erst dann legitimiert, wenn man sie hier nicht nur für sich selbst, sondern für etwas Sinnvolles ausübt. In den vorherigen Stadien stand der Machtausübende »für sich selbst« im Vordergrund und war sein eigener Kompass. Es ging ihm um die Autonomie, eigene Ziele durchzusetzen. In dieser Phase versteht man, dass Macht nur für einen höheren Sinn verträglich und rechtfertigbar ist.
Menschen lernen in dieser Phase, dass durch Druck, Gewalt, Bestrafung oder Dominanz Macht auf andere ausgeübt werden kann. In dieser Phase lernen Menschen anzugreifen, sich abzugrenzen und zu behaupten.
In dieser Phase erschaffen Menschen ihre Machtbasis auf der Grundlage von Wissen und Können.
Durch den zunehmenden Erwerb von Wissen und Kompetenz macht man die Lernerfahrung, dass sich auf diesem Wege eigene Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit vergrößern lassen.
Es muss das Grundvertrauen entstehen, dass die Hingabe an andere Mächte nicht grundsätzlich schädlich ist.
Es muss sich ein Grundvertrauen zu anderen Menschen ausbilden.
Menschen lernen in dieser Phase, dass Selbstkontrolle und Selbststeuerung möglich sind und Einfluss auf andere möglich machen.
In der vierten Phase der Machtentwicklung akzeptiert man, dass Macht eine Legitimation braucht, die jenseits der ausschließlichen Verfolgung individueller und persönlicher Ziele liegt.
Sinn
In dieser Machtphase geht es um die Kontrolle des anderen und nicht um die Kontrolle seiner selbst (wie in der vorangegangenen Phase).
Durchsetzung
In dieser Phase lernen Menschen, dass der Einfluss auf andere durch erfolgreiche Kontrolle der eigenen Person machbar ist.
Autonomie
Eigene Ohnmachtserlebnisse (z. B. als Kleinkind) müssen integriert und akzeptiert werden.
Ohnmacht
. Tab. 9.2 Stadien der Entwicklung im Umgang mit Macht
9.3 • Psychologische Stadien in der Entwicklung von Machtbewusstsein
197
9
Das Vertrauen, dass andere Mächte es auch gut mit einem meinen können, ist eine zutiefst notwendige Bedingung einer gesunden psychischen Entwicklung.
Bei fehlender Vertrauensfähigkeit können Menschen entstehen, die gebrochen, paranoid oder sogar antisozial werden.
Wer die Hingabe an andere Mächte nicht erfolgreich integrieren kann, kann nicht vertrauen und bleibt ewig skeptisch und misstrauisch.
Ohnmacht Wer diese Phase nicht erfolgreich integriert, setzt sich der Gefahr einer narzisstischen Entwicklung aus. Menschen in diesem Entwicklungsstadium legitimieren ihren Machtwillen durch die eigene Überhöhung, Genialität und kompetenzmäßige Überlegenheit.
Autonomie
9
Entwicklungsstörung, falls die erfolgreiche Integration in die eigene Persönlichkeit misslingt
. Tab. 9.2 Fortsetzung
Bei nicht erfolgreicher Integration dieser Phase beschränken Menschen selbst ihre Einflussmöglichkeiten und werden z. B. kontemplativ beschaulich. Wer keinen Sinn sieht, für den es sich zu kämpfen lohnt, wird Machtausübung natürlich vermeiden und von sich weisen.
Störungen in dieser Phase führen zu Menschen, die für ihre eigenen Ziele sehr viel Beziehungsbelastungen oder sogar Gewalt hinnehmen bzw. aktiv erzeugen.
Sinn
Wer diesen Teil der Entwicklung von Machtverhalten nicht erfolgreich integriert, bleibt in der Phase des aggressiven Angreifers stehen.
Durchsetzung
198 Kapitel 9 • Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
9.4 • Strategien zum Erlangen von Macht
Der reife Umgang mit Macht erfordert es, dass Mächtige alle vier Entwicklungsstadien so durchlaufen haben, dass sie in einer reifen und reflektierten Weise mit allen vier Phänomenen umgehen können. Sie können auch eigene Ohnmacht integrieren und damit auch andere Autoritäten anerkennen. Sie müssen die Selbstdisziplin und Selbstkontrolle aufbringen, Kompetenz und Wissen ständig weiterzuentwickeln, ohne sich dem Irrglauben hingeben zu können, dass die eigene überlegene Genialität jedes Vorgehen rechtfertigt. Sie müssen in der Lage sein, sich Gegnern gegenüber durchzusetzen und Ziele zu verteidigen, wenn Sie angegriffen werden, auch wenn dies Kosten bei einem selbst verursacht. Schließlich müssen Sie auch anerkennen, dass das alles nur rechtfertigbar ist, wenn es für ein Ziel außerhalb Ihrer selbst geschieht. Dieses Entwicklungsmodell der Macht zeigt damit auch die Lernerfahrungen, die Mächtige durchlaufen, wenn sie in einer reifen Form mit Macht umgehen wollen.
9.4
199
9
Reife Mächtige haben alle Lernerfahrungen der vier Stadien durchlaufen.
Strategien zum Erlangen von Macht
Während im letzten Unterkapitel vor allen Dingen die psychologischen Voraussetzungen zu einem reifen Umgang mit Macht beschrieben worden sind, soll es in dieser Passage nun etwas operativer um die praktischen Strategien zur Erlangung von Macht gehen. Wer sich Einfluss und Führungspotenzial wünscht, bedient sich (reflektiert oder intuitiv) üblicherweise der folgenden vier Strategien.
Strategien zur Erlangung von Einfluss
Machtstrategie: Kompetenzerwerb und Entwicklung. Eine erste typische Grundvoraussetzung zur Erlangung von Macht ist die eigene Kompetenzstärkung und -entwicklung. Die Eintrittskarte zur Funktionsmacht ist in unseren demokratischen Institutionen (Politik) oder leistungsgeprägten Organisationen (Wirtschaftsunternehmen) im Allgemeinen das Können. Wer mehr Macht möchte, muss sich bilden und qualifiziert sich dafür für mehr Macht. Ab einer gewissen erreichten Funktionsstufe gilt die Gleichung »mehr Kompetenzen = mehr Macht« allerdings nicht mehr. Die eigene Qualifikation ist dann lediglich eine notwendige Bedingung, um sich für noch mehr Macht zu empfehlen, aber keine hinreichende.
Qualifikation und Kompetenz rechtfertigen mehr Macht.
Machtstrategie: Networking. Wir haben im letzten Aufzählungspunkt unsere Überlegungen damit beendet, dass der eigene Kompetenzerwerb nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ab einer bestimmten erreichten Machtstufe ist. Dann ist es vor allen Dingen das erfolgreiche Netzwerk, das Machthabern zu noch mehr Macht verhilft. Wer mehr Macht möchte, muss formelle und informelle Strukturen in Hierarchien sensibel verstehen und interpretieren und die richtigen Schlussfolgerungen darüber ableiten, welche Kontakte man ausbauen und pflegen muss.
Machtbewusste Führungskräfte verstehen, mit wem man sich vernetzen muss.
200
Kapitel 9 • Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
Wer Kontaktpflege zu mächtigeren Personen für sich ausschließt, begrenzt seine Sichtbarkeit in den relevanten Zirkeln.
Ohne die Pflege guter Kontakte zu noch mächtigeren Personen ist eine Steigerung der persönlichen Kompetenz nicht weiter nützlich. Es gibt immer wieder Manager auf den mittleren Hierarchieebenen, die diesen politischen Aspekt in der eigenen Karriereentwicklung ablehnen. Wer den Anspruch hat, ausschließlich über eigene Kompetenz Karriere machen zu wollen, wird möglicherweise in bestimmten Zirkeln gar nicht wahrgenommen werden können und begrenzt seine Entwicklung aus einer ganz bestimmten Attitüde heraus. Ob man es nun mag oder nicht, der Zugang zu noch mächtigeren Personen bleibt eine der zentralen Machtressourcen, ohne die es in vielen Fällen kein Vorankommen geben kann. Machtstrategie: Wahl und Gestaltung des Umfeldes. Menschen, die
mehr Macht haben möchten, müssen sich mobil und flexibel für dasjenige Umfeld entscheiden können, in dem das eigene Potenzial am besten zur Geltung gebracht werden kann. Menschen, die Macht suchen, suchen sich die richtigen Folgenden in einem entsprechenden Umfeld, möglicherweise im richtigen Land und der für sie passenden Krise oder Herausforderung. Wenn das gegebene Umfeld nicht entsprechend entwickelt werden kann oder eine entsprechende Entwicklung nicht zulässt, kann man seine Einflussmöglichkeiten nur steigern, indem man sich dasjenige Umfeld sucht, in dem man wirken und beeinflussen kann. Wer diese Art der Mobilität ablehnt, beraubt sich einer wesentlichen Machtstrategie. Rein praktisch ist dieser Aspekt im Wirtschaftsleben eine Ursache für freiwillige Fluktuation: Führungskräfte fluktuieren, weil sie sich ein Umfeld suchen, in dem sie mehr Einfluss nehmen können.
9
Machthaber müssen ihren Machtanspruch heutzutage durch Loyalität und Leistung rechtfertigen.
Machtstrategie: Loyalität und Einsatzbereitschaft. Macht wird heute in fast allen Institutionen nur noch auf Zeit vergeben. In Demokratien gilt dies sowieso und auch in Wirtschaftsunternehmen erhält man im Regelfall keine lebenslangen Kontrakte mehr. Viele Machthaber stehen deswegen ständig unter dem Zwang, die ihnen übertragene Machtfülle zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung geschieht über Einsatzbereitschaft und Leistung, aber auch durch Loyalität zu der Hierarchie, von der man ein Teil geworden ist. Wer sich gegen die eigene Hierarchie als solche auflehnt oder wer die versprochenen Ziele nicht erreicht, wird schnell hinterfragt sein. Wer seine Macht und Einflussmöglichkeit indes vergrößern will, beweist durch Loyalität, Einsatzbereitschaft und Leistung, dass dieser Wunsch gerechtfertigt ist.
9.5 Macht erzeugt einen prägenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung.
Persönlichkeitsveränderung durch Macht
In der Politik gibt es die immer wieder gern zitierte Weisheit, dass das Amt die Person im Allgemeinen schneller zu verändern mag als die Person das Amt. Offenbar hat Macht einen Einfluss auf die Persönlichkeit und wirkt in erheblichem Sinne für die psychologische
9.5 • Persönlichkeitsveränderung durch Macht
Entwicklung der mächtigen Person prägend Hiermit wollen wir allerdings Macht nicht pathologisieren. Die Tatsache, dass Macht einen prägenden Einfluss auf Persönlichkeitsentwicklung und psychologische Entwicklung nimmt, ist keineswegs exklusiv. Diesen Einfluss auf Persönlichkeitsentwicklung teilt Macht mit vielen anderen einschneidenden Lebenserfahrungen wie z. B. der Partnerwahl, die ebenfalls die Persönlichkeitsentwicklung stark beeinflussen können. Macht kann reif und verantwortungsvoll wahrgenommen werden und wir werden uns diesem Phänomen im 7 Kap. 11 über Führungsethik widmen. Wir werden aber auch die psychologischen Probleme vieler Führungskräfte im 7 Kap. 10 untersuchen. In diesem Unterkapitel sei lediglich angedeutet, welche grundsätzlichen (aber nicht zwangsläufig pathologischen) Persönlichkeitsveränderungen durch Macht passieren können. Zunächst einmal stellt man fest, dass viele Machthaber (wenn sie denn einmal mit einer bestimmten Funktionsmacht ausgestattet in der Hierarchie angekommen sind) unterschätzen, wie viel der Bereitschaft der anderen, ihnen zu folgen, durch diese Funktionsmacht ausgelöst wird, und überschätzen, wie viel dieser Bereitschaft, zu folgen, durch ihre Persönlichkeit ausgelöst wird. Etwas überpointiert gesprochen machen mächtige Menschen die Erfahrung, dass kleinere Anweisungen, Anmerkungen, Anregungen oder Wünsche sofort hektische Aktivität auslösen. Fälschlicherweise reift in diesen Personen unter Umständen der Eindruck heran, dass diese Bereitwilligkeit Ergebnis eines außergewöhnlichen Charismas, einer besonderen Autorität oder Kompetenz wäre (kleines Indiz für dieses Phänomen: Wenn der Chef in der Runde seiner Mitarbeiter einen mittelmäßigen Witz macht, dann lachen alle; beim Chef reift nun das Selbstbewusstsein, ein guter Unterhalter zu sein). Die nun startende Entwicklung kann durchaus einen positiven Weg nehmen: Das wachsende Selbstbewusstsein des Mächtigen und das wachsende Vertrauen in die eigene Autorität und das eigene Charisma machen Führungskräfte manchmal mutiger, offensiver (im 7 Kap. 2 haben wir »enthemmter« gesagt) und damit vielleicht tatsächlich charismatisch. Die Funktionsmacht wurde also in diesem Fall zum Auslöser einer charismatischen Entwicklung und nicht umgekehrt. Andererseits kann auch eine negative Dynamik in Gang geraten. Der Glaube an die eigene Genialität, die eigene Überlegenheit und die eigene überragende Kompetenz wird so übersteigert, dass die Entwicklung sich in eine narzisstische Richtung vollzieht. Führungskräfte, die glauben, sich durch die eigene Überlegenheit und Genialität legitimieren zu können, verlieren Einfühlungsvermögen für Bedürfnisse anderer, verlieren den Kontakt zur Realität, verlieren die Offenheit für die Beratung durch andere sowie die Selbstreflexion und den Willen, sich kritisch zu hinterfragen und zu lernen. Sie bestrafen andere Meinungen (und nicht etwa Minderleistung) und scheitern am Ende nicht selten an einer gravierenden Fehleinschätzung und
201
9
Mächtige Menschen überschätzen leicht ihr persönliches Charisma.
Die durch die Funktionsmacht ausgelöste »Enthemmung« kann durchaus zu einer charismatischen Entwicklung führen.
Ein zu starker Glaube an die eigene Überlegenheit kann zu gravierenden Fehleinschätzungen führen.
202
Kapitel 9 • Führung, Macht und Dominanz – Wie Sie Macht bekommen und sie reif und sinnvoll
Die Mitarbeiter tragen zur narzisstischen Entwicklung ihres Vorgesetzten bei.
9
Fehlentscheidung, die offenbart, wie weit man sich in seiner Selbsterhöhung und Selbstüberschätzung von den Verhältnissen der Realität entfernt hat. Die psychische Herausforderung im Umgang mit Macht scheint darin zu liegen, der eigenen Selbstüberschätzung und Selbsterhöhung vorzubeugen, die durch die Rückkopplung entsteht, die man erhält, wenn man viel Funktionsmacht auf sich vereint. Es ist übrigens nicht so, dass diese Entwicklung ausschließlich der Führungskraft angelastet werden kann. Oftmals tragen die zugeordneten Mitarbeiter oder die Folgenden eine erhebliche Mitverantwortung für eine narzisstische Entwicklung. Mitarbeiter projizieren eigene Wünsche nach Glanz und Stärke auf ihre Führungskräfte, die sich dann bewundert und stark fühlen können. Mitarbeiter idealisieren in einer Art »Guru-Fan-Beziehung« ihren Chef und ziehen einen Teil ihres eigenen Selbstwertgefühls aus der Nähe zu der überhöhten Außergewöhnlichkeit ihres Vorgesetzten (der Volksmund sagt: »Macht macht sexy«). Je stärker die Beziehung von Chef und Untergegebenen durch diese Dynamik charakterisiert ist, umso anfälliger ist die Beziehung, wenn plötzlich die Bewunderung und Hingabe durch die Geführten verschwindet und die narzisstischen Chefs sich entsprechend gekränkt fühlen. Dann werden einstmals durch Bewunderung gekennzeichnete Beziehungen zu feindseligen Verwerfungen. > Personen mit viel Funktionsmacht unterschätzen oft, wie viel der Bereitschaft, ihnen zu folgen, durch die Funktionsmacht verursacht worden ist, und überschätzen ihr persönliches Charisma. Manchmal kann hierdurch eine positive Dynamik entstehen und das durch diesen Prozess wachsende Selbstbewusstsein lässt echte persönliche Autorität entstehen. Manchmal misslingt dieser Prozess und es entstehen narzisstische Führungskräfte, die sich in einem ständigen Kampf befinden, die eigene Überlegenheit und Genialität zu beweisen.
9.6 Man kann nicht grundsätzlich gegen Macht sein, wenn man große Ziele für anstrebenswert hält.
Zähmung und Begrenzung von Macht
Wir haben schon am Anfang dieses Buches die Auffassung vertreten, dass man nicht gegen Führung oder Macht sein kann. Wer gegen Führung oder Macht ist, verzichtet darauf, Ziele erreichen zu wollen, die über die Kraft eines Einzelnen hinausweisen. > Wer möchte, dass große Krisen in der Welt bewältigbar sind und bedeutende Dinge geschaffen werden können, muss anerkennen, dass hierzu Macht benötigt wird. Er muss anerkennen, dass diese Macht auch die Potenz einschließen muss, Angreifern entgegentreten zu können und sich gegen Widerstand zu behaupten. Wir können in einer Welt voller Herausforderungen, Krisen und Probleme Macht also nicht grundsätzlich ablehnen.
9.6 • Zähmung und Begrenzung von Macht
Wir können aber darüber nachdenken, wie Macht geregelt und reglementiert werden sollte, damit ihre negativen und gefährlichen Erscheinungsformen möglichst wenig zu Tage treten. Unsere abendländische Geschichte ist auch eine Geschichte der Machtregelung. Schon die großen Königs- und Herrschaftshäuser hatten Machtregelungsmechanismen installiert (z. B. die Weitergabe von Macht nach der Geburt eines Nachfolgers), die lange Zeit in der Geschichte Bestand hatten. Nach vielen Umwerfungen und Revolutionen wurden daraus immer differenziertere Möglichkeiten der Machtzähmung: Die Ursprünge der Demokratie, die Gewaltenteilung, die unabhängige Gerichtsbarkeit bis hin zum komplizierten Gesellschaftsrecht für Unternehmen sind letztlich allesamt als Mechanismen der Machtzähmung und Machtregelung zu begreifen. Der Grundgedanke dieser Regelungsmechanismen ist, dass Macht und Machterhalt kein Selbstzweck sein dürfen, sondern einem größeren Ziel untergeordnet werden müssen. Macht ist in demokratischen Systemen nur als Verteidigungsleistung für die Durchsetzung guter Ziele erlaubt. Zwangsmittel dürfen in demokratischen Systemen nur gegen diejenigen eingesetzt werden, die durch ihr Handeln gute und sinnvolle Ziele in Gefahr bringen. Es ist eine große kulturelle Leistung, dass das Kritisieren von Mächtigen (in unserem demokratischen System) nicht mehr sanktionsfähig ist, sondern nur noch das tätliche Angreifen ihrer Ziele. Heute erwarten wir von Mächtigen, dass sie sich für ihre Macht verantworten. Sie müssen die Folgen ihres Handelns bedenken und Rede und Antwort stehen (so z. B. im Prozess der Entlastung des Vorstandes in einer Hauptversammlung). Macht wird heutzutage im Allgemeinen nicht mehr uneingeschränkt, sondern geteilt vergeben, sie wird befristet vergeben und zumeist erst nach einer Kompetenzprüfung erteilt. Macht wird außerdem noch dadurch begrenzt und gezähmt, dass die möglichen Mittel zur Machtausübung stark reglementiert und beschränkt werden. Wir hatten in 7 Kap. 3 bereits diskutiert, dass viele Führungskräfte nicht selten das Gefühl haben, dass ihnen wirkliche Durchsetzungsressourcen und Sanktions- oder Bestrafungsmöglichkeiten fehlen. Wer Führung sagt, sagt Macht. Wer Macht sagt, sagt Durchsetzung. Wer keine Macht will, kann sich nur unterwerfen oder vermeiden. Aber er kann für die Welt keine großen Probleme lösen. Macht wird nicht dadurch ethischer oder einfacher, dass man sie vermeidet. Auch gute und hehre Ziele brauchen Menschen mit Macht, damit die Ziele im Falle von Angriffen verteidigt werden können. Unsere Herausforderung besteht in allen Kontexten, in denen Macht stattfindet, darin, sie so zu reglementieren und zu begrenzen, dass die Machtinhaber zu einer verantwortungsvollen Ausfüllung ihrer Rolle gezwungen sind.
203
9
Unsere Geschichte ist auch eine Geschichte der Regelung von Macht.
Machtregelung erfolgt, damit Macht kein Selbstzweck ist, sondern größeren Zielen dient.
Macht wird heute nach Kompetenzprüfung und befristet vergeben und wir erwarten von Mächtigen, sich zu verantworten.
Die erlaubten Mittel zur Machtausübung sind heutzutage wesentlich eingeschränkter als früher.
Machthaber müssen durch gute Strukturen zu einer verantwortungsvollen Ausfüllung ihrer Rolle gezwungen werden.
205
Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen Fehlentwicklungen Führungskräfte besonders anfällig sind 10.1
Psychopathologie und Macht – 206
10.2
Lebensumstände von Führungskräften – 209
10.3
Typische psychische Fehlentwicklungen von Führungskräften – 212
10.3.1
Führungskräfte mit Fehlentwicklungen aus dem narzisstischen Formenkreis – 212 Hinweise zum Coaching narzisstischer Führungskräfte – 215 Führungskräfte mit Störungen aus dem depressiven Formenkreis – 216 Hinweise zum Coaching depressiver Führungskräfte – 217 Führungskräfte mit Dispositionen aus dem zwanghaften Formenkreis – 217 Hinweise zum Coaching zwanghafter Führungskräfte – 218 Führungskräfte mit Störungen aus dem egozentrischen Formenkreis – 218 Hinweise zum Coaching egozentrischer Führungskräfte – 220
10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7 10.3.8
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
10
206
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
Schlimme Führungspersönlichkeiten waren oft im klinischen Sinn keine kranken Menschen.
Gibt es psychische Auffälligkeiten, die besonders bei Führungskräften vorkommen?
10
Für viele Menschen erscheinen Führung oder mehr Machtstreben von Führungskräften selbst bereits als eine Art psychischer Störung. Sehr leicht werden Politiker und Manager pathologisiert und damit als krankhaft beschrieben. Besonders extrem greift dieses Erklärungsmuster, wenn über große Diktatoren geurteilt wird. Hitler, Stalin oder Mao erscheinen dann schnell als wahnsinnige »Psychopathen«, deren krankhaftes psychisches System die vielen unmenschlichen Taten verursachte, für die wir sie heute verantwortlich machen. In diesem Kapitel untersuchen wir die Frage, ob es wirklich eine »Psychopathologie der Macht« gibt. Lässt sich extremes Führungsverhalten mit psychopathologischen Erklärungsmustern beschreiben? Wir werden zeigen, dass dem im medizinischen oder therapeutischen Sinne nicht so sein muss, sondern dass auch Hitler und Stalin »normal gestörte« Menschen (und keine »krankhaft Wahnsinnigen«) waren. Nichtsdestotrotz wollen wir die Frage untersuchen, ob es bestimmte psychische Auffälligkeiten und Störungen gibt, die bei Führungskräften in einer gehäuften Form vorkommen. Dies könnte entweder dadurch verursacht sein, dass Menschen mit entsprechenden Dispositionen besonders stark nach Führungsaufgaben streben, oder dadurch, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Führungskräften diese Störungen besonders fördern. Wir werden die häufigsten Dispositionen, die zu Schwierigkeiten und Störungen führen, kurz darstellen und Hinweise für das Coaching und die Persönlichkeitsentwicklung betroffener Führungskräfte geben.
10.1 Psychopathologien machen sich oft an schweren eigenen Leiden und an einem Verlust der Arbeits- und Sozialfähigkeit fest.
Schizophrenie oder manisch-depressive Psychosen sind Beispiele für schwere Psychopathologien.
Psychopathologie und Macht
Die Psychopathologie ist derjenige Zweig der Psychologie, der sich mit psychischen Störungen beschäftigt. Wesentliche Kriterien für das Vorliegen einer Psychopathologie (im Sinne einer medizinischen oder therapeutischen Diagnose) sind fast immer Verbindungen mit schweren eigenen Leiden und einem Abnehmen der Funktionsfähigkeit (vor allem der Arbeits- und Sozialfähigkeit). Darüber hinaus muss die Ursache für das subjektive Leiden sowie den Verlust der Funktionsfähigkeit auch in der psychischen Struktur der Betroffenen gesehen werden sowie in Entwicklungen und Erfahrungen, die die Möglichkeiten zur situationsgemäßen Anpassung einschränken. Eine weit verbreitete Psychopathologie ist in diesem Zusammenhang die Schizophrenie, die nicht selten zu so starken Wahrnehmungsverzerrungen der Wirklichkeit führt, dass es phasenweise zu stationären Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern kommt. Aber auch das ebenfalls nicht selten vorkommende manisch-depressive Krankheitsbild führt fast immer zu einer erheblichen Einschränkung der allgemeinen Lebenstüchtigkeit: In den sogenannten manischen Phasen dieses Krankheitsbildes zerstören diese Menschen – wenn sie nicht durch ihr Umfeld oder durch einen stationären Aufenthalt daran gehindert werden – durch ein waghalsiges und zielloses
10.1 • Psychopathologie und Macht
Verhalten oftmals ihre Existenz. In den depressiven Phasen hingegen ist die Antriebsarmut so stark ausgeprägt, dass die Personen kaum die Kraft aufbringen, das Bett zu verlassen. Bei diesen beiden Beispielen handelt es sich um wirkliche Psychopathologien in einem engeren Sinne. Ähnlich wie bei körperlichen Krankheiten verfügt die Psychologie bzw. die Psychiatrie über ein detailliert ausgearbeitetes Diagnosesystem, durch das nach Vorliegen entsprechender Symptombilder auf das Vorliegen der Krankheit geschlossen wird. Die Psychologie verfügt also über eine allgemeine Psychopathologie, mit der sich psychische Krankheiten und Dispositionen für bestimmte Störungen beschreiben lassen. Es gibt aber in diesen Diagnosesystemen keine spezielle Psychopathologie der Führung. Genauso wenig wie für Führungskräfte gibt es spezielle Psychopathologien für andere Berufsgruppen, etwa für Fischer, Lehrer oder Heizungsinstallateure. Damit ist nun aber nicht gesagt, dass ein berufliches Umfeld nicht einen stimulierenden Effekt auf bestimmte psychische Entwicklungen haben kann. Selbstverständlich kann das berufliche Umfeld bestimmte psychische Dispositionen verstärken, genauso wie das andere dominante Lebensumstände oder Ereignisse können: Partnerschaften können ebenfalls bestimmte psychische Dispositionen stimulieren. Lebenskatastrophen oder aber auch körperliche Krankheiten können genauso förderlich für bestimmte psychische Krankheiten sein. Die Tatsache, dass es psychopathische Führungskräfte gibt, ist nicht gleichbedeutend mit der Tatsache, dass es eine Psychopathologie der Führung gibt oder geben müsste, und noch weniger, dass Führung selbst grundsätzlich mit einer besonderen Art von Psychopathologie verwandt ist. Der 7 Exkurs »Diktatoren: Hitler, Stalin und Mao« zeigt noch einmal, dass ein Abstempeln als »Psychopath« vielleicht das eigene Unwohlsein reduziert, das sich einstellen mag, wenn man auch extreme Führer als Teil der »Normalität« akzeptieren muss, dass damit aber kein echter Erklärungswert für psychologische Grundlagen auch auffälliger Führungsentwicklungen gegeben ist. Aus diesem Grunde bauen wir dieses Kapitel nicht nach einem heute gängigen Diagnoseschlüssel psychischer Störungen auf, denn es soll sich ja in diesem Werk um Führung und nicht um Psychopathologie drehen. Unabhängig von diesem Sachverhalt können wir aber diejenigen psychischen Störungen beschreiben, zu denen Manager am häufigsten neigen. Wir wählen hier bewusst den Begriff der psychischen Störungen, um zu zeigen, dass wir auch solche Phänomene erklären wollen, die durchaus Leid und Probleme im Umfeld eines Managers oder einer Führungskraft wachrufen können, ohne dass sie im psychiatrischen oder psychopathologischen Sinne als behandlungsbedürftig diagnostiziert werden würden, weil die Funktionsfähigkeit für eine Krankheitsdiagnose noch nicht herabgesetzt genug ist.
207
10
Es gibt keine spezielle Psychopathologie für Führungskräfte.
Viele Arten von Lebensumständen können auf bestimmte Dispositionen stimulierend wirken.
Es gibt Führungskräfte mit psychischen Störungen, die nicht im psychiatrischen Sinne behandlungsbedürftig sind.
208
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
Diktatoren: Hitler, Stalin und Mao
10
Wir hatten in der Einleitung behauptet, dass im Sinne unseres heutigen Verständnisses psychischer Krankheiten von den meisten Psychiatern oder Psychotherapeuten Hitler, Stalin oder Mao vermutlich nicht als behandlungsbedürftig beschrieben worden wären. Die beiden wesentlichen Kriterien, die wir für das Vorliegen einer Psychopathologie definiert haben (das hohe subjektive persönliche Leiden sowie das Abnehmen der Funktionsfähigkeit in der Gesellschaft), lag bei den dreien nicht in einem Ausmaß vor, das eine Mehrheit von Psychiater bewogen hätte, einen Krankenschein auszustellen. Eine schlichte Pathologisierung hilft also nicht, wenn man auch die Extremvarianten im Führungsverhalten verstehen will. Dieses Verständnis des psychischen Krankheitsbegriffes ist übrigens eine Weiterentwicklung gegenüber früheren Zeiten. Früher genügte die Abweichung von der Norm (also vom »Normalen«), um als psychisch krank zu gelten. Der Begriff der Verrücktheit zeigt diese Idee sogar als sprachliche Metapher: Psychisch krank war derjenige, der gegenüber der Norm »ver-rückt« war. Mit einem solchen Krankheitsbegriff wären Hitler und Stalin selbstverständlich als krank eingestuft worden. Aus der gleichen
Überlegung heraus galten übrigens auch die meisten »Genies« früherer Zeiten als »ver-rückt«, allerdings eben oft mit einer positiv konnotierten Abweichung von der Norm. Es verwundert nicht, dass viele große Verbrecher und Diktatoren sich selbst konsequenterweise auch als »Genie« wahrgenommen haben. Allerdings ist ein solches Verständnis psychischer Krankheiten sehr problematisch, weil kaum noch klar ist, wer eigentlich noch »normal« und damit gesund ist. Da jeder von uns in bestimmten Aspekten der Persönlichkeit von der Norm abweicht (sonst wären wir praktisch charakterlos), hätten wir dieser Definition nach alle etwas »Psychopathologisches« in uns. Dementsprechend ist der Verlust der sozialen und gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit mehr und mehr in den Vordergrund des Krankheitsbegriffes gerutscht. Auch wenn es natürlich immer noch Grauzonen gibt, so lässt sich auf diese Weise etwas eingegrenzter bestimmen, wer wirklich behandlungsbedürftig erscheint. Das Problem ist aber, dass z. B. Hitler, Mao oder Stalin ziemlich lange noch sehr funktionsfähig waren. In der späteren Entwicklungsgeschichte ihres Lebens hatten sie vermutlich einen großen Teil ihrer sozialen Funktionsfähigkeit
eingebüßt, aber ihre gesellschaftliche Rolle und ihren Arbeitsauftrag haben alle drei noch recht lange wahrgenommen. Die drei hier genannten Führer zeigten also gewiss extreme Verhaltensweisen (im Hinblick auf Skrupellosigkeit, Gewaltbereitschaft und fehlende Selbstreflexion), aber sie als krank zu bezeichnen, würde nicht wirklich etwas erklären. Nach heutigen Maßstäben dürfte auch keiner der drei bei einem Gerichtsverfahren auf mildernde Umstände hoffen. Krankhafte Verbrecher entgehen ihrer Strafe, wenn dargelegt werden kann, dass ihre Handlungen so impulsiv oder unkontrollierbar erfolgten, dass keine Selbstkontrollmöglichkeit bestand, sich anders zu verhalten (wie z. B. unter Alkoholrausch). Man darf annehmen, dass Hitler, Stalin und Mao ihre Verbrechen durchaus in vollem Besitz ihrer Selbststeuerungsmöglichkeiten angeordnet haben und keinesfalls unkontrollierbaren Impulsen erlagen. Insofern würde heute kein Gericht eine vorliegende Psychopathologie bei den dreien als Erklärungsmuster für die Ursachen der begangenen Verbrechen akzeptieren und alle drei müssten sich vermutlich für ihre Taten voll verantworten.
> Es gibt keine spezielle Psychopathologie für Führungskräfte. Es gibt Menschen mit psychischen Krankheiten, die in allen Berufsgruppen vorkommen. Die entsprechenden Diagnosen werden zumeist dann ausgesprochen, wenn schweres subjektives Leid und eine starke Abnahme der Funktionsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit gegeben ist. Natürlich kann ein Beruf psychische Fehlentwicklungen stimulieren, wobei dies für alle wichtigen Lebenskontexte und Lebensereignisse gilt: Beziehungen, Krankheiten, Lebenskrisen oder schwierige Lebensumstände können psychische Störungen fördern. Eine von bestimmten Medien gern vorgenommene Pathologisierung von Führung und dem Streben nach Führung erklärt wenig und macht unter Umständen diktatorische Führer zu Opfern ihrer eigenen »Psychopathologie«.
10.2 • Lebensumstände von Führungskräften
10.2
209
10
Lebensumstände von Führungskräften
Wir hatten am Anfang argumentiert, dass bestimmte Berufsfelder attraktiv für Menschen mit bestimmten psychischen Dispositionen sein können und andererseits die Umstände des Berufs bestimmte Störungen besonders stimulieren können. Greifen wir an dieser Stelle noch einmal auf unsere grundlegenden Persönlichkeitsorientierungen zurück, die wir in 7 Kap. 2 bei der Beschreibung von Charisma genutzt haben. Sie erinnern sich vielleicht an die beiden antagonistisch angelegten Pole von Beziehungs- und Autonomieorientierung sowie von Balance- und Stimulanzorientierung. Man könnte sich jetzt fragen, ob bestimmte Berufsfelder bestimmte Orientierungen besonders anziehen. Nehmen wir beispielsweise einmal die Berufsgruppe der Lehrer: Nicht selten fühlen sich eher beziehungsorientierte Personen von einer Tätigkeit als Lehrer angesprochen. Die Möglichkeit, etwas »für andere zu tun«, und ein Arbeitsumfeld, das Hingabe und Idealismus zu erfordern scheint, passt zu Menschen mit dieser Orientierung. Wenn man jetzt analysiert, welche psychischen Störungen in dieser Berufsgruppe besonders häufig vorkommen, so fällt auf, dass nicht selten Depressionen (in der Öffentlichkeit gerade bei Lehrern oft als »Burn-out-Phänomen« gesehen) vorzukommen scheinen. Nehmen wir ein weiteres Berufsfeld, das auf den ersten Blick auch Menschen mit einer idealistischen Helfermotivation anzusprechen scheint, nämlich die Ärzte: Bei Ärzten ist aber typischerweise die Helfermotivation stärker mit Kontrollorientierung verbunden und weniger stark auf persönliche Nähe ausgelegt. Zwänge und Suchtprobleme sind typische Störungen, die in diesem Kontext vorzukommen scheinen (aber sie kommen dort natürlich keineswegs exklusiv vor). Auch in der Berufsgruppe der Piloten ist z. B. das Thema Kontrolle und Beherrschung ein wichtiges Element. Die ständige Entwurzelung aus dem sozialen Umfeld scheint sich in dieser Berufsgruppe nicht selten in Suchtproblemen zu entladen. Bei vielen Künstlern hingegen beobachtet man, dass ein stabiles, ausgeglichenes und in sich ruhendes Selbstbild fehlt. Das »Sich-Inszenieren« ist der Kompensationsmechanismus für den Mangel an stabiler Identität. Nicht selten beobachtet man im Ergebnis narzisstische Tendenzen.
Welche Berufsbilder ziehen Menschen mit bestimmten Orientierungen besonders an?
Burn-out und Suchtprobleme treffen häufig Angehörige von Berufsgruppen der im weitesten Sinne helfenden Berufe.
Bei Künstlern beobachtet man oft das Fehlen eines in sich ruhenden Selbstbildes.
> Selbstverständlich ziehen bestimmte Berufsbilder Personen mit bestimmten Orientierungen und Motivationen an. Dies gilt im »normalen« Spektrum, aber genauso im Hinblick auf die etwas extremeren Varianten dieser Orientierungen.
Schauen wir uns im nächsten Schritt nun die typischen Lebensumstände von Führungskräften an, um die Einflussmechanismen zu verstehen, die psychische Fehlentwicklungen begünstigen können. . Abb. 10.1 zeigt die Kategorien, die in diesem Zusammenhang besonders beachtenswert sind.
Lebensumstände von Führungskräften
210
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
. Abb. 10.1 Lebensumstände von Führungskräften
Führungskräfte erleben oft deutlich mehr Unfreiheit und Unsicherheit, als man es in ihrer Rolle vermuten würde.
10
Führungskräfte können sich durch ihre herausgehobene Rolle viel schwerer anderen anvertrauen.
Viele Führungskräfte wollen die in sie gesetzten Hoffnungen auf keinen Fall enttäuschen.
Führungskräfte werden ungewollt in viele Konflikte verstrickt.
Zu jeder Grunddimension, die für die Identität von Führungskräften bedeutsam ist, gibt es zwei antagonistische Pole. Auf den ersten Blick scheint Autonomie ein wichtiges Element in der beruflichen Identität von Führungskräften zu sein, wobei hier Freiheit und Sicherheit eine Rolle spielen. Anstatt Freiheit erleben Führungskräfte in ihren Lebensumständen aber oftmals Einschränkung und Zwang, da man durch die Einbettung in eine Hierarchie nicht selten zwischen allen Stühlen sitzt und längst nicht so frei ist, wie es von außen scheint. Anstelle von Sicherheit erleben viele Führungskräfte ein hohes Ausmaß an Unsicherheit, weil sie ständig Entscheidungen unter Risiko treffen müssen. Im Hinblick auf ihre Beziehungen erleben Führungskräfte, dass es sehr schwer ist, sich eine persönliche Sphäre mit echter Nähe zu erhalten. Man wird als Führungskraft in gewissem Sinn zu einer »öffentlichen Person« und die Privatsphäre nimmt ab. Gleichzeitig wird aus der Distanz nicht selten Einsamkeit. Die herausragende Rolle, die man als Führungskraft spielt, erschwert einen wirklichen persönlichen Austausch und man kann sich nicht mehr so ohne weiteres anderen anvertrauen und deren Hilfe suchen. Der Selbstwert von Führungskräften fußt nicht selten auf dem Gefühl überlegener eigener Kompetenzen und Größe. Auf der anderen Seite stehen Führungskräfte oftmals unter dem großen Druck, nicht zu versagen. Führungskräfte sollen für ihre Mitarbeiter Vorbilder sein und werden in dieser Rolle idealisiert. Viele Führungskräfte wollen natürlich diejenigen, die in dieser idealisierenden Art und Weise an sie glauben, nicht enttäuschen und setzen sich damit unter einen gewaltigen Druck. Auf der anderen Seite wird man als Führungskraft in viele Konflikte verstrickt, die eher mit den psychischen Strukturen der anderen Beteiligten (z. B. der Mitarbeiter) zu tun haben. Viele Konflikte (z. B. Autoritätskonflikte der Mitarbeiter) werden somit nicht durch die Führungskraft verursacht, müssen aber von ihr ausgetragen werden. Echte Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird erschwert, man bleibt als Führungskraft letztendlich doch außen vor. Neben den unmittelbar dem Rollenkontext einer Führungskraft entspringenden Einflussfaktoren gibt es aber auch noch gesellschaftli-
10.2 • Lebensumstände von Führungskräften
che oder historische Entwicklungen, die die Lebens- und Arbeitswelt heutiger Führungskräfte kennzeichnen. 5 Hohe Mobilität. Das heutige Arbeitsleben erfordert gerade von Managern eine sehr hohe Mobilität, nicht selten auch im internationalen Umfeld. Das Aufrechterhalten eines funktionierenden sozialen Netzwerkes neben dem Beruf wird durch diese Mobilität und durch die hohe zeitliche Belastung deutlich schwieriger als früher. 5 Die Unverbindlichkeit von Regeln und Rollen. Das Rollenmuster von Führungskräften ist längst nicht mehr so klar und einfach wie früher. Führungskräfte sehen sich heute viel häufiger der Notwendigkeit ausgesetzt, sich selbst immer wieder neu zu entwerfen und zu erfinden. Unterschiedliche Unternehmenskulturen und Arbeitsumfelder erfordern eine hohe Flexibilität im eigenen Rollenverhalten: Wer als Führungskraft z. B. nur den »preußischen Patriarchen« beherrscht, wird in vielen Arbeitskontexten nicht erfolgreich sein. Wer aber völlig flexibel in seinem Rollenverhalten ist, verliert seine Identität. 5 Häufige Change-Situationen. Das Thema »Change« ist für viele Führungskräfte ein ständiger Begleiter. Viele Organisationen kommen nicht zur Ruhe. Diese häufigen Veränderungsprozesse sind immer auch mit einem Stück Heimatverlust verbunden, der nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die umsetzenden Führungskräfte betrifft. 5 Der Verlust direkter Macht. Führungskräfte haben heutzutage weniger Macht als früher. Die Zähmung der Macht in unseren Organisationen und der geringe Respekt (z. B. vor der Institution »Chef«) sowie die Einbettung in kollektive Führungsverfassungen und Gremien machen Führung schwieriger. 5 Die Größe der Unternehmen. Gerade in großen Unternehmen wird es für Führungskräfte zunehmend weniger möglich, wirklich planen zu können und die späteren Erfolge auf die Umsetzung eigener Pläne zurückzuführen. Echte Erfolgserlebnisse sind in diesem Sinne seltener. Der moderne Manager ist sich seiner Identität unsicherer als früher. Heutzutage ist es leicht, eine neue Rolle und eine neue Funktion zu wählen. Flexibilität ist viel stärker das Leitbild der Postmoderne als Stabilität. So schnell man sich als Führungskraft auch in einer neuen Rolle und Funktion erfinden und wiederfinden kann, so wenig sicher kann man sich dieser Funktion oder Rolle auf Dauer sein. Bei jüngeren Managern kommt es hierdurch nicht selten zu einem Zweifel an sich selbst und an der eigenen Verständnisfähigkeit für die Organisation. Viele jüngere Manager fühlen sich nicht mehr wirklich zugehörig zu ihrer Organisation, sondern isoliert. Es macht sich der Eindruck breit, keinen Kontakt mehr zum »großen Ganzen« zu haben. Das Selbst kann sich nicht mehr ausreichend in seiner Rolle
211
10
Die hohe Mobilität erschwert die Erhaltung eines stabilen sozialen Umfelds.
Die Erwartung an Führungskräfte, viele Rollenmuster bedienen zu können, erschwert die Ausbildung einer stabilen Identität.
Häufiger »Change« führt zu Heimatverlust.
Führungskräfte haben heutzutage weniger Macht und erfahren weniger Respekt.
In großen und komplexen Umfeldern wird es schwieriger, Erfolge auf sich zurückzuführen.
Die postmoderne Flexibilität führt dazu, dass man sich seiner Identität unsicherer ist als früher.
Viele Manager fühlen sich isoliert.
212
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
»befestigen«, es kommt zu einer instabilen Identität. Überpointiert ausgedrückt stellt man fest: > Viele Führungskräfte werden zunehmend zu einer wandelnden Zitatensammlung mit Patchwork-Identität. Die hohe Flexibilität und der dauernde »Change« machen es immer schwieriger, den eigenen dauerhaften Kern zu finden und diesen gegenüber sich, anderen und dem Unternehmen zu definieren.
Die gewachsene Freiheit, sich immer wieder neu erfinden zu können, führt zu weniger Kohärenz im Lebensentwurf.
In persönlicher Hinsicht mögen Manager vielleicht mehr Freiheit dahingehend erleben, sich selbst neu erfinden zu können. Gleichzeitig wird das Leben dadurch aber auch haltloser und es gibt weniger Kohärenz und Sinn. Die psychischen Probleme in der Lebenswelt heutiger Führungskräfte sind damit vor allen Dingen Identitäts- und Beziehungsprobleme.
10.3
10
Es gibt Fehlentwicklungen, mit denen Führungskräfte auf die Lebensbedingungen der Postmoderne antworten.
Wenn wir in diesem Kapitel nun auf die typischen psychischen Fehlentwicklungen eingehen, mit denen viele Führungskräfte auf die eben beschriebenen, schwieriger gewordenen Lebensbedingungen antworten, so tun wir das nicht in einem medizinisch-psychopathologischen Sinn, sondern wir beschreiben eher überblicksartig die typischen Formenkreise an Störungen, die uns bei Führungskräften gehäuft begegnen. Wir werden diese Fehlentwicklungen aus den vier Orientierungen entwickeln, die wir im Kapitel über Charisma (7 Kap. 2) eingeführt haben.
10.3.1
Nur der Glaube an die überlegene eigene Kompetenz führt dazu, sich große Ziele vorzunehmen.
Typische psychische Fehlentwicklungen von Führungskräften
Führungskräfte mit Fehlentwicklungen aus dem narzisstischen Formenkreis
Eine der häufigsten psychischen Fehlentwicklungen für Führungskräfte ist der Narzissmus. Wenn Sie sich an unser Modell der unterschiedlichen Orientierungen aus 7 Kap. 2 erinnern, so kann der Narzissmus als eine Überzeichnung der Autonomieorientierung gesehen werden. Sie erinnern sich, dass wir mit Autonomieorientierung die Tendenz beschrieben haben, sich durch Individualität und Herausgehobenheit von anderen abzugrenzen. Gerade für gehobene Führungskräfte ist eine solche Tendenz auf der einen Seite praktisch unerlässlich. Ohne den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Kompetenzen und Potenziale wird man kaum mutig genug sein, sich auch große und anspruchsvolle Ziele vorzunehmen. Ein gewisser Narziss-
10.3 • Typische psychische Fehlentwicklungen von Führungskräften
mus ist in diesem Sinne eine Grundbedingung für große Leistungen und insbesondere große Führungsleistungen. Aber selbstverständlich kann es an dieser Stelle auch ein »Zuviel« geben. Psychologisch gesprochen geschieht bei Führungskräften mit narzisstischer Tendenz die folgende Dynamik: Die heute im Management schwieriger zu beantwortende Frage: »Wer bin ich eigentlich?« wird in einem überkompensatorischen Sinn beantwortet durch »etwas sein wollen«, man entwirft sich in der Antwort also groß: »Ich bin ein (außergewöhnlicher) Visionär«. Der Identitätsverlust wird durch ein grandioses Selbstbild überkompensiert, das sich in der Führung verwirklichen soll. Narzisstische Führungskräfte phantasieren sich als groß und überlegen. Das Lebenselixier von Bewunderung und Anerkennung wird damit zur unverzichtbaren Droge. Narzisstische Manager überschätzen ihre eigene Großartigkeit und verlieren dadurch zunehmend den Kontakt zur Umwelt. Der narzisstische Manager hat nicht mehr die Rolle des Managers neben anderen Rollen, sondern ist in diesem Sinne nur Manager. Die eigene Identität wird nur noch durch die Inszenierung der eigenen Größe gestützt. Dies hat zur Folge, dass Störungen dieses Selbstbildes (z. B. durch nicht folgende Mitarbeiter, ausbleibende Erfolge oder sogar Entmachtung) zu narzisstischen Krisen führen, da mit ihnen ja ein immenser Selbstwertverlust einhergeht. Dementsprechend stark ist die Gegenreaktion auf solche Erfahrungen. Im Umgang wirken narzisstische Manager als misstrauische und kontaktarme Personen, denen Empathie und echter Bezug zum Gegenüber fehlen. Die Umwelt wird zunehmend danach bewertet, wie stark sie zum überhöhten Selbstbild beiträgt. Dementsprechend haben zunehmend nur noch loyale Unterwerfer im Beziehungskontext narzisstischer Manager Platz. Widerstand und abweichende Meinungen werden in diesem Sinne als narzisstische Kränkungen erlebt, weil sie, falls an ihnen etwas dran wäre, das eigene übergroße Selbstbild in Gefahr bringen. Wichtig ist beim Verständnis des Narzissmus, dass es den narzisstischen Führungskräften nicht mehr im eigentlichen Sinne um die Ziele selbst geht, sondern darum, bewundernswert und vorbildlich zu wirken. PR in eigener Sache wird wichtiger als Erfolge, glattes und mediengerechtes Verhalten ersetzt echte Leistungen und wird selbst zur Leistung. Es geht um das Bewusstsein eigener Größe und nicht um den dinglichen Erfolg an sich. Hierdurch wird noch einmal deutlich, dass Narzissmus vor allem ein Beziehungsphänomen ist: Narzisstische Führungskräfte definieren sich in Beziehungskontexten in einer ständigen Konkurrenz. Andere Personen sind im Falle von Bewunderung als Verstärker des Narzissmus willkommen. Im Falle des Versagens der Bewunderung sind es aber Angreifer oder Feinde, die nicht selten mit viel Aggressi-
213
10
Die Frage nach der eigenen Identität wird überkompensatorisch durch Größenphantasien beantwortet.
Störungen des narzisstischen Selbstbilds erzeugen starke Krisen mit ausgeprägten Gegenreaktionen.
Narzisstische Manager akzeptieren nur noch loyale Unterwerfer.
Selbstdarstellung wird wichtiger als echte Erfolge.
Narzisstische Führungskräfte leben in Beziehungen in ständiger Konkurrenz.
214
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
Auch das private Umfeld narzisstischer Manager wird oft zerstört und die Isolierung schreitet fort.
Die Abkoppelung von der Realität führt oft zu gravierenden Fehleinschätzungen.
Viele narzisstische Manager funktionieren und sind erfolgreich.
10
Narzissten können gefährlich werden, auch wenn sie als Führungskraft noch lange funktionieren.
vität und Rachsucht bekämpft werden. Narzisstische Führungskräfte haben wenige Probleme damit, Beziehungsqualität zu opfern, um ihr großes Selbstbild zu erhalten. Das private Umfeld dieser Personen wird häufig mit in den Strudel der ständigen Konfliktpotenziale gerissen. Ehepartner, Familie und Freunde bleiben auf der Strecke, wenn sie nicht bereit sind, die Rolle des applaudierenden Unterwerfers zu spielen. Viele narzisstische Manager geraten darum zunehmend in eine Spirale, in der sie, isoliert und abgekapselt von Beratung und realistischer Rückkoppelung, ihre Größenphantasien bedienen. In dieser Dynamik kommt es dann oft zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen, die möglich wurden, weil alle Mahner und Warner bereits an Einfluss verloren haben. Manchmal sieht man dann narzisstische Führungskräfte verbittert und voller Wut von ihrer Bühne abtreten. Sie bleiben unversöhnlich gegenüber einer Welt, die sie nicht verstand und die ihre Größe und Überlegenheit nicht zu schätzen wusste. Wenn man sich an Situationen erinnert, in denen es heutige Medien erlaubt haben, große Führungskräfte in den Augenblicken ihrer Niederlage und ihres Scheiterns zu erleben, so kann man dieses Phänomen gut beobachten. Gerade in der Beschreibung des Narzissmus wird aber auch die Abgrenzung von psychischer Störung zur Psychopathologie deutlich. Viele noch funktionierende und erfolgreiche Manager sind in unserem Sinne narzisstisch. Sie sind konkurrenzorientiert, erwarten Loyalität und Gefolgschaft und haben ein gesteigert positives Selbstbild im Hinblick auf eigene Fähigkeiten und Genialität. Sie können sich gegenüber ihren Feinden massiv durchsetzen, sie achten auf die Wahrnehmung ihrer Kompetenz und lassen sich nicht gerne von anderen kritisieren oder beraten. In dieser etwas milderen Form beschrieben wird deutlich, warum der Narzissmus bis zu einem gewissen Ausmaß sogar die Grundbedingung für charismatische Führung ist, die nur dann entstehen kann, wenn Menschen sich große Ziele zutrauen. Allerdings können narzisstische Führungskräfte auch gefährlich werden. Ihre mangelnde Empathie, ihre geringe Fähigkeit, Kritik anzunehmen, ihre fehlende Selbstreflexionsbereitschaft, ihre extrem ausgeprägte Konfliktbereitschaft, ihre Rachsucht und ihre eigene Isolierung von realen und konkreten Menschen gibt ihnen das Potenzial für katastrophale Entscheidungen und unmenschliches Führungsverhalten. Hitler, Stalin und Mao sind in diesem Sinne natürlich stark ausgeprägte Narzissten gewesen, die mit dem Selbstbild als zunächst »verkannte Genies« auf Menschen und Umfelder trafen, die dann nur zu bereitwillig die Größenphantasien befeuerten und bedienten. In dieser Dynamik nahm das Unheil seinen Lauf.
10.3 • Typische psychische Fehlentwicklungen von Führungskräften
10.3.2
215
10
Hinweise zum Coaching narzisstischer Führungskräfte
Das Wesen des Narzissmus besteht darin, dass eine narzisstische Führungskraft sich ihrer selbst nie ganz sicher ist. Aus diesem Grunde hängt die Selbstsicherheit in besonderem Maße vom Gegenüber ab. Kann man aus dem Gegenüber nicht die Gewissheit schöpfen, dass die eigene Größenphantasie berechtigt ist, kommt es zu der oben beschriebenen narzisstischen Kränkung und den durch sie ausgelösten dysfunktionalen Verhaltensweisen. Narzisstische Manager müssen lernen, ihr Alleinsein zu verstehen und auszuhalten. Der Narzisst ist durch die Sehnsucht getrieben, Beziehungen zu finden, die ihm ein überdauerndes, starkes Selbstvertrauen geben. Eigentlich wünscht sich der Narzisst, im Unternehmen und im Team aufzugehen und in diesem Sinne mit der eigenen Größenphantasie zu verschmelzen. Narzisstische Manager müssen aber verstehen, dass es diese Verschmelzung nicht geben kann. Sie müssen begreifen, dass ihre Rolle und Funktion im Unternehmen nicht identisch mit der eigenen Person ist. Der narzisstische Manager muss in diesem Sinne akzeptieren, getrennt zu sein und auch mit diesem »allein« leben zu können (mit »allein« ist in diesem Sinne nicht unbedingt Einsamkeit gemeint, denn zwischenmenschliche Kontakte sind ja vorhanden). Narzisstische Führungskräfte müssen in der Lage sein, sich selbst von außen zu sehen und sich nicht nur durch die Bewunderung anderer zu definieren. Narzisstische Führungskräfte brauchen manchmal die berufliche Entwurzelung und den Neuanfang, um die eigene Identität entdecken und den vorherigen Abhängigkeiten entfliehen zu können. Eine gereifte und stabile Persönlichkeit kann Kränkungen und Misserfolge aushalten und verarbeiten bzw. in ihr Selbstbild integrieren. Interessanterweise hilft es im Coaching narzisstischer Führungskräfte, über Ziele und Erfolge zu reden. Was zunächst kontraintuitiv erscheint, offenbart auf den zweiten Blick, dass damit die Logik des Narzissten durchbrochen wird: Der Narzisst muss anerkennen, dass Bewunderung und Wertschätzung im Unternehmen nicht dafür vergeben werden, eine herausgehobene Persönlichkeit »zu sein«, sondern herausgehobene Leistungen erbringen zu können. Für den Narzissten muss die Suche nach Beziehungen durch die Suche nach Leistungen abgelöst werden. Der narzisstische Manager muss akzeptieren, dass bestimmte Beziehungshoffnungen für Führungskräfte unerfüllbar bleiben und man als Führungskraft vor allem für Leistungen geliebt wird und nicht um seiner selbst willen. Wer als Manager gesund bleiben möchte, muss den narzisstischen Verlockungen widerstehen können, die darin liegen, dass man die Bewunderung bestimmter Leistungen immer stärker als die Bewunderung seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit versteht. Wer nämlich diesen Schritt macht, ist auf dem Weg zu den zerbrechlichen,
Narzisstische Manager müssen ihr Alleinsein aushalten lernen.
Narzisstische Manager müssen lernen, dass ihre Rolle nicht mit ihrer Person und Persönlichkeit identisch ist, sondern nur ein Teil davon.
Reife Manager können Kränkungen und Misserfolge aushalten und verarbeiten.
Narzisstische Manager müssen lernen, dass sie nur für Leistung geliebt werden, nicht für Persönlichkeit.
Narzisstische Manager müssen lernen, dass ihre Beziehungshoffnungen nicht erfüllt werden können.
216
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
narzisstischen Beziehungsmustern, die sich meist in einer Art »GuruFan-Beziehung« äußern. > Der narzisstische Manager muss lernen, sein Alleinsein zu ertragen, und er muss verstehen, dass er für Leistung und Ergebnisse geliebt wird und nicht in erster Linie für seine Persönlichkeit.
10.3.3
Beziehungsorientierte Manager tun etwas für andere.
Depressive Führungskräfte machen sich zum ausgenutzten Opfer.
10 Depressive Führungskräfte werden unfähig zu harten Entscheidungen.
Auf höheren Hierarchieebenen sind aufopfernd-altruistische Führungskräfte selten.
In Wirtschaftsunternehmen wird Narzissmus stärker stimuliert als Depressivität.
Führungskräfte mit Störungen aus dem depressiven Formenkreis
Eine zweite typische Störungsform entsteht aus einer Überzeichnung der in 7 Kap. 2 beschriebenen Beziehungsorientierung. Beziehungsorientierte Personen suchen persönliche Nähe und erleben Abgrenzung und Distanz als aversiv. Sie stabilisieren ihr Selbstbild, indem sie etwas »für andere« tun. Sie sind hilfsbereit, zugänglich, großzügig, nachgiebig, friedfertig und bescheiden. In der Überzeichnung werden sie jedoch so abhängig von der emotionalen Rückkopplung ihres Umfeldes, dass sie ausnutzbar und entscheidungsunfähig werden. Depressive Führungskräfte inszenieren sich im Unternehmen als moralische Idealisten, die darunter leiden, »zu gut für diese Welt« zu sein. Die Firma und das Umfeld werden pathologisiert und man selbst wird zum ausgenutzten Opfer. Depressive Führungskräfte schätzen die Gruppenharmonie wichtiger ein als das Erreichen von Zielen. Man möchte gemocht sein und Wertschätzung erleben und gibt sich humanistisch und menschenorientiert. Die Probleme entstehen, weil depressive Führungskräfte dann nur noch auf der persönlichen Ebene integrativ sind, aber im Sinne der verantworteten Ziele handlungsunfähig werden. Sie können nur schwer gegen emotionale oder persönliche Widerstände umsetzen oder verteidigen. Man hat Verständnis für Minderleistung und Opposition und wird unfähig, harte Entscheidungen zu treffen, die dem Selbstbild als Idealist widersprechen. Das Pathologisieren des Umfeldes ist dann der Mechanismus, der depressive Führungskräfte vollends in der Handlungsunfähigkeit versinken lässt. Bei der Beschreibung wird schon deutlich, dass diese Art psychischer Störung in höheren Hierarchieebenen ausgesprochen selten ist. Das hier beschriebene Störungsmuster wäre das des typischen »Teamleiters«, der den Abgrenzungsschritt gegenüber den geführten Mitarbeitern nicht vollziehen kann und will und sich aus diesem Grund meist für höhere Führungsaufgaben nicht mehr empfiehlt. Der typische Teamleiter bleibt in diesem Sinne ein Wanderer zwischen den Welten, der sich immer auch als Anwalt der Mitarbeiter mit deren Interessen verbunden fühlt und hier im Zweifel eine höhere Priorität sieht als in dem Beitrag zu unternehmerischen Zielen. Störungen aus diesem Formenkreis kommen im unternehmerischen Führungsumfeld zwar seltener vor, aber durchaus in sozialen
10.3 • Typische psychische Fehlentwicklungen von Führungskräften
217
10
Einrichtungen oder vergleichbaren Institutionen. Für einen Aufstieg in höhere Verantwortungen fehlen üblicherweise die Konflikt- und Durchsetzungsbereitschaft, für die ein gewisser Narzissmus eine günstige Voraussetzung ist. Ein typisches unternehmerisches Führungsumfeld stimuliert narzisstische Dispositionen deutlich stärker als depressive. Hohe Leistungsorientierung, Konkurrenz und ein bewunderndes Umfeld bedienen und fördern einen latenten Narzissmus viel mehr als eine latente Depressivität.
10.3.4
Hinweise zum Coaching depressiver Führungskräfte
Die Herausforderung für depressive Führungskräfte besteht darin, unliebsame Gefühle zuzulassen und anzunehmen. Dies gilt für die eigenen unliebsamen Gefühle, aber auch für die unliebsamen Gefühle des Umfelds. Die depressive Führungskraft muss lernen, dass sie nicht für das Glück ihres Umfeldes verantwortlich sein kann. Wer sich für Glück, Motivation und Positivität seines Umfeldes verantwortlich fühlt, wird mit diesem Anspruch Schwierigkeiten bekommen.
10.3.5
Führungskräfte mit Dispositionen aus dem zwanghaften Formenkreis
Zwanghaftigkeit ist die Übersteigerung der in 7 Kap. 2 beschriebenen Balanceorientierung. Balanceorientierte Führungskräfte sind strukturiert, zuverlässig, regeltreu, gründlich und beständig. In der Überzeichnung kann hieraus eine extreme Kontrollorientierung erwachsen, die sich durch Rigidität und Perfektionismus auszeichnet. Für zwanghafte Führungskräfte spielt sich die Arbeit – überzeichnet formuliert – nur noch prozessural ab, also als Struktur. Das Persönliche, Emotionale und Intuitive hat keinen Platz. Zwanghafte Führungskräfte misstrauen ihren Gefühlen oder den Gefühlen anderer und wollen alles auf einem analytischen Wege lösen. Aus einer strukturierten Arbeitsweise wird dann eine unnachgiebige Prinzipienfestigkeit. Zwanghafte Führungskräfte sind kontrollorientierte Beherrscher, unter deren enger Führung eine Organisation erstarrt. Heiterkeit hat keinen Platz mehr in den nur noch von Effizienz getriebenen Routinen. Regelverstöße werden mit Härte geahndet. Wenn es ums Prinzip geht, akzeptieren diese Führungskräfte auch, dass sie anderen Menschen Leid zufügen und hart sein müssen (dies ist anders als bei der Härte der Narzissten: Narzisstische Härte ist gegen den Feind gerichtet, der den eigenen Größenwahn nicht bedient, es geht dem Narzissten nicht so sehr um ein Prinzip, das zwanghaft verfolgt wird). Eine weitere problematische Entwicklung besteht darin, dass zwanghafte Führungskräfte oft Entscheidungsstärke einbüßen, weil
Zwanghafte Führungskräfte misstrauen Emotionen und Intuition.
Zwanghafte Führungskräfte bestrafen Regelverstöße hart.
Entscheidungen unter Unsicherheit erfordern Intuition.
218
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
Zwanghafte Führungskräfte können nicht flexibel mit Veränderungen umgehen.
Übermäßige Kontrolle und Regelorientierung zerstören Motivation.
10
sie jede Entscheidung analytisch absichern müssen. Das funktioniert natürlich in vielen Führungskontexten nicht mehr, weil nicht alle Informationen zur Verfügung stehen oder weil Intuition für Entscheidungen unverzichtbar ist. Wer nichts mehr fühlt, kann sich nicht entscheiden! Zwanghafte Führungskräfte verändern ihr Umfeld, wenn dadurch Prozesse, Regeln oder Strukturen besser werden, halten aber als Betroffene Veränderungen nur schlecht aus. Zwanghafte Führungskräfte sind nicht mehr anpassungsfähig, sondern von der Idee besessen, ihre rigiden Prinzipien zu implementieren. Gewöhnlicherweise findet man diese Führungskräfte in Unternehmen eher im mittleren Management als im Top-Management. Das mittlere Management hat Platz für die regelorientierten Strukturierer, denen fürs Top-Management das Visionäre, die Größe im Denken und die Entscheidungsfähigkeit fehlen. Wenn Kontrolle zur Sucht wird, gehen Spaß und Motivation an der Arbeit bei den Geführten verloren. Auch bei der Beschreibung dieser psychischen Störung wird die Abgrenzung zur Psychopathologie deutlich. Zwanghafte Führungskräfte »funktionieren« in bestimmten Kontexten oft noch sehr gut, auch wenn das Umfeld an der humorlosen und engen Arbeitsatmosphäre verzweifelt.
10.3.6
Hinweise zum Coaching zwanghafter Führungskräfte
Zwanghafte Manager müssen im Coaching lernen, loszulassen und Unbestimmtheit ertragen zu können. Sie müssen die Fähigkeit ausbilden, anderen zu vertrauen und die damit einhergehende Unsicherheit auszuhalten. Sie müssen auch akzeptieren, dass Emotionen und Intuitionen manchmal wichtige Ratgeber sind, die Entscheidungen erst möglich machen. Darüber hinaus müssen sie lernen, sich in einer Welt wohl zu fühlen, in der die Abwesenheit von Regelungen nicht nur ein Verlust an Sicherheit ist, sondern auch ein Gewinn von Freiheit. Zwanghafte Führungskräfte erreicht man am besten, indem man ihre Grundstrukturen für die beschriebenen Coachingziele nutzt: Mit diesen Führungskräften lassen sich im Coaching leicht Pläne erstellen, Ziele vereinbaren, Maßnahmen-Checklisten und Zwischenschritte definieren, die dann konsequent und verbindlich umgesetzt werden in Richtung von mehr Emotionalität und adäquateren Möglichkeiten der Integration von Aggressivität.
10.3.7
Egozentrische Führungskräfte leben von der Intensität des Augenblicks.
Führungskräfte mit Störungen aus dem egozentrischen Formenkreis
Der letzte Formenkreis psychischer Störungen, den wir hier beschreiben wollen, wird als Egozentrismus verstanden. Egozentrismus ist die
10.3 • Typische psychische Fehlentwicklungen von Führungskräften
Übersteigerung der in 7 Kap. 2 beschriebenen Stimulanzorientierung. Die stimulanzorientierte Führungskraft ist sehr unstet, sie sucht nach Freiheit und Veränderung und definiert sich als flexibel und offen. Auch der Egozentrismus ist damit aus einer Identitätsschwäche geboren. Diese Identitätsschwäche wird aber nicht dadurch kompensiert, dass man sich selbst sehr groß phantasiert (wie beim Narzissmus), sondern dass man seine Identität in der Intensität des Augenblicks erlebt. Egozentrische Führungskräfte können sich in jeder Situation neu erfinden. Anders als die Zwanghaften sind sie nicht überdauernden Prinzipien verpflichtet und haben dadurch die Freiheit zur Spontaneität. Egozentrismus bedeutet in diesem Sinne »Haltlosigkeit«. Es gibt keine überdauernden Prinzipien, Regeln und Strukturen, in denen man sich mit seiner Identität dauerhaft verorten kann. Insofern kreist der Egozentriker um sich selbst und um sein Ego, das in einer haltlosen Welt immer neu inszeniert wird. Was in positivem Sinne das Charisma und der Enthusiasmus, die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität des Augenblicks sein können, wird auf der negativen Seite zu der Oberflächlichkeit und Instabilität, mit der egozentrische Führungskräfte für ihr Umfeld unberechenbar werden. Egozentrische Führungskräfte sind launisch, instabil, sprunghaft und oft theatralisch. Sie lügen, sind oft ungeduldig und rebellisch. Die Mitarbeiter erleben einen atemlosen Vorgesetzten, der ständig alles verändert und dabei wenig Zuverlässigkeit an den Tag legt. Zusagen und Versprechen von gestern sind schnell vergessen. Egozentrische Führungskräfte fühlen sich ständig durch andere herausgefordert und leben in ihrer rebellenhaften Attitüde in kontinuierlicher Auseinandersetzung. Der Narzisst kämpft gegen Leute, die sein Größenselbst kritisieren, der Egozentriker kämpft gegen Menschen, die nicht bereit sind, seinen ständigen großen Visionen zu folgen. Der Egozentriker denkt in den Kategorien »Verbündeter und Feind« und erlebt sich in einem laufenden Verwirklichungskampf um seine Ideen. In Krisensituationen fallen üblicherweise auch die letzten äußeren Maßstäbe und der Egozentriker erlebt für sich nur wenige moralische (oder auch rechtliche) Begrenzungen. Wenn Sie an Führungskräfte denken, die mit Recht, Gesetz und unserer typischen gesellschaftlichen Moral deutlich in Konflikt gekommen sind, erleben Sie diese oftmals darüber »überrascht«, dass ihr Kampf um die »gute Sache« diese Regelübertretung nicht rechtfertigen kann. Egozentrische Führungskräfte sind in ihrer instabilen Beliebigkeit oftmals auch noch recht leicht beeinflussbar. Für die zugeordneten Mitarbeiter ist nicht selten eine wichtige Frage »wer zuletzt beim Chef im Büro war«, weil von diesem dann der aktuellste Einfluss ausgeht.
219
10
Egozentrische Führungskräfte leben in einer Welt ohne Halt.
Egozentrische Führungskräfte fühlen sich ständig herausgefordert und inszenieren sich als Rebellen.
Starker Egozentrismus geht mit geringer Akzeptanz moralischer und rechtlicher Begrenzungen einher.
220
Kapitel 10 • Führung, Störungen und Probleme der Mächtigen – Für welche psychologischen
10.3.8
Egozentrische Führungskräfte müssen sich der Integrität und der Nachhaltigkeit verpflichten.
Egozentriker haben im Coaching die schlechteste Prognose.
10
Hinweise zum Coaching egozentrischer Führungskräfte
Die Lernaufgabe für die egozentrische Führungskraft besteht darin, einen Maßstab zu akzeptieren, der Halt in einer Welt voller Beliebigkeit vermittelt. Sie muss akzeptieren, dass es nicht nur auf den »Sieg des Augenblicks« ankommt, sondern auch auf Integrität und Nachhaltigkeit. Egozentrische Führungskräfte müssen verstehen, dass sie sich dauerhaft an ihren Taten messen lassen müssen und nicht an ihren Ideen. Es ist allerdings so, dass von den vier beschriebenen Störungen der Egozentrismus die ungünstigste Prognose hat. Es gehört zum Formenkreis dieser Störung, dass egozentrische Manager kein Pflichtgefühl erleben, durch das sie sich an nachhaltige Ziele (z. B. die eigene Weiterentwicklung durch Coaching) binden könnten. Egozentrische Führungskräfte leben so stark von der Intensität des Augenblicks, dass sie sich nicht durchkämpfen, wenn in einem Coaching- und Veränderungsprozess auch Durststrecken und Anstrengungsleistungen abverlangt werden. Egozentrische Manager brechen Coachingprozesse oft ab, weil sie nicht mehr genug »Spaß« vermitteln, und die anfängliche Euphorie verfliegt, wenn Beharrlichkeit und echtes Arbeiten gefordert sind.
221
Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige Entscheidung treffen 11.1
Ethik und Moral – Klärung der Grundbegriffe und der Grundprobleme – 222
11.1.1 11.1.2
Gesinnungsethik und Handlungsethik als Begründungsrahmen für ethisches Verhalten – 223 Das grundsätzliche, ethische Dilemma der Führung – 226
11.2
Moral und Ethik – Wie würden Sie entscheiden? – 227
11.3
Regeln als Kompass für ethische Dilemmata – 229
11.4
Verantwortung und Güterabwägung in der Führung – 231
11.5
Die Entwicklung ethischen Führungshandelns und Verantwortungsbewusstseins – 234
11.6
Die Legitimation von Führung und Macht – 237
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
11
222
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
In diesem Kapitel dominiert die philosophische Perspektive auf Führung: Wie sollte Führung sein?
Es gibt psychologische Bedingungen, die ethisches Führungshandeln fördern.
In 7 Kap. 9 haben wir bei der Diskussion zum Thema Macht bereits die Frage aufgeworfen, wie der Umgang mit Macht ethisch oder moralisch akzeptabel erfolgen kann. Diese hoch relevante und jederzeit aktuelle Frage wollen wir in diesem Kapitel näher beleuchten. Dieses Kapitel hebt sich damit in gewissem Sinne von den anderen Kapiteln ab. In den Kapiteln haben wir versucht, die psychologischen Phänomene zu beschreiben und zu diskutieren, die mit den verschiedenen Facetten des Themas Menschenführung verbunden sind. Dieses Kapitel beruft sich weniger auf psychologische Prozesse, sondern diskutiert die Führungsfrage aus philosophischer Perspektive. Die psychologische Perspektive beschreibt, was ist oder wie etwas sein kann. Die philosophische Perspektive beschreibt, wie etwas sein sollte. Wir werden in diesem Kapitel zunächst das Phänomen der Führungsethik aus verschiedenen philosophischen Perspektiven betrachten. Es folgen allerdings psychologische Grundgedanken, denn schließlich gilt es zu fragen, unter welchen psychologischen Bedingungen Menschen sich mehr oder weniger ethisch verhalten und welche Situationen oder Entwicklungen unethisches oder unmoralisches Verhalten begünstigen oder unwahrscheinlicher machen. Diese Betrachtungen werden das Buch beschließen.
11.1
11
Ethik ist das Nachdenken über handlungsleitenden Prinzipien, Moral beschreibt die geteilten Normen in einer Gruppe.
Auch die Naziführer hatten eine Moral – im Sinne von im damaligen Bezugssystem geteilten Normen.
Ethik und Moral – Klärung der Grundbegriffe und der Grundprobleme
Wenn man sich mit Ethik und Moral beschäftigen will, wird man nicht umhin kommen, sich mit ein paar philosophischen Grundbegriffen auseinander zu setzen. Es handelt sich aber keineswegs um eine theoretische Diskussion, sondern es wird schnell deutlich werden, welche praktischen Implikationen diese ethischen Betrachtungen mitbringen werden. Zunächst einmal zur Klärung der Begriffe: Ethik bedeutet im Altgriechischen »das sittliche Verständnis«. Ethik bezeichnet also das Nachdenken über richtiges Handeln oder die Lehre von sittlichem Verhalten. Moral (von lat. moralis: »die Sitte betreffend«) bezeichnet die Summe der Handlungsregelungen, die für eine Gesellschaft, eine soziale Gruppe oder ein Individuum handlungsleitend ist, oder wird verstanden als die Summe der in einer Gemeinschaft etablierten und von den handelnden Personen internalisierten Verhaltensregeln. Wichtig ist, dass diese beiden Begriffsbestimmungen sehr unterschiedliche Auflösungsgrade beinhalten: Ethik bezeichnet das grundsätzliche Nachdenken über handlungsleitende Prinzipien. Die Moral beschreibt zunächst nur, welche Normen in einer Gesellschaft verbindlich geteilt und gelebt werden. Ohne hier falsch verstanden werden zu wollen, könnte man sagen, dass es auch bei den Naziführern im Dritten Reich eine klar gelebte, etablierte und handlungsleitende Moral gegeben hat, weil in bestimmten Prinzipien das geteilte Grundverständnis über erlaub-
11.1 • Ethik und Moral – Klärung der Grundbegriffe und der Grundprobleme
te und unerlaubte Handlungen repräsentiert war. Das Nachdenken über die Überlegenheit der Herrenrasse, die Sichtweise auf »unwertes Leben«, die Verfolgung des Judentums oder andere nationalsozialistische Überzeugungen sind in diesem Sinne moralische Werte und Normen gewesen, die im Rahmen des damaligen Bezugssystems von der Gruppe der mächtigen Personen und ihrer Anhänger geteilt worden und damit handlungsleitend gewesen sind. Moral ist damit weder gut noch schlecht, sondern allenfalls mehr oder weniger gut etabliert und geteilt oder mehr oder weniger von einer Gruppe internalisiert. In einigen Ländern der Welt ist die Todesstrafe mit der geteilten Moral der Gesellschaft problemlos vereinbar, in anderen sozialen Bezugssystemen erscheint sie barbarisch. Moralisch und unmoralisch ist eine Handlung damit vor dem Hintergrund des jeweiligen Bezugssystems. Was in der einen Gesellschaft oder Gruppe moralisch erscheint, kann in der anderen als völlig unmoralisch angesehen werden und umgekehrt. Die Ethik besitzt eine zusätzliche Kategorie. Die Ethik beansprucht für sich, eine grundsätzliche Gesinnung als handlungsleitendes Prinzip zu etablieren, die »über der Moral« steht und unabhängig von sozialen Bezugssystemen »wahr« ist. In der Ethik sehen wir also eine neue Kategorie und dies ist im Allgemeinen die bewusste Selbstbeschränkung. In allen ethischen Bezugssystemen und Diskussionen geht es letztlich immer um eine bewusste Selbstbeschränkung des Menschen, der aus bestimmten Prinzipien heraus nicht alles macht, was er könnte oder wollen könnte, sondern ethisch handelnde Menschen verzichten aus prinzipiellen Erwägungen heraus auf ganz bestimmte Handlungen.
223
11
Was in der einen Gesellschaft moralisch ist, kann in der anderen als unmoralisch angesehen werden.
Ethisches Handeln beinhaltet immer das Prinzip der bewussten Selbstbeschränkung.
> Die Moral bezeichnet die in einer Gruppe geteilten oder internalisierten Verhaltensnormen. Die Ethik sucht darüber hinaus nach allgemein gültigen handlungsleitenden Prinzipien. Die Moral ist damit abhängig von gesellschaftlichen und historischen Gegebenheiten. Die Ethik braucht für ihre Diskussion über grundsätzlich gute Handlungsprinzipien noch die Idee der bewussten Selbstbeschränkung des Menschen, der aus ethischen Gründen nicht alles macht, was er tun könnte.
11.1.1
Gesinnungsethik und Handlungsethik als Begründungsrahmen für ethisches Verhalten
Die ethischen Prinzipien, die als oberster Regulator handlungsleitende Maximen darstellen, haben sich im Verlauf der Geschichte verändert und ausdifferenziert. Die ältere philosophische Richtung in der Ethikdiskussion ist die so genannte Gesinnungsethik oder normative Ethik. In dieser Denkschule ist Handeln genau dann gut, wenn es auf
In der Gesinnungsethik ist Handeln gut, wenn es auf Basis guter Prinzipien erfolgt.
224
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
In der christlichen Gesinnungsethik gibt es Gewissheiten über gutes Handeln.
Kant bewertete eine Handlung als gut, wenn die hinter ihr liegenden Prinzipien gut waren.
11
In der Renaissance wurde individueller Erfolg eine stärker lebensbestimmende Kategorie.
Machiavelli analysierte: Erfolg und »gut sein« gehen nicht grundsätzlich miteinander einher.
der Basis guter Prinzipien erfolgt. In der Weltgeschichte gab es lange Phasen, in der absolute Bezugssysteme mit entsprechend eindeutigen Prinzipien so geteilt worden sind, dass ethisches Handeln umsetzbar und möglich war. Das Christentum mit den Prinzipien von Nächstenliebe und unbedingter Gottesfurcht hat über lange Jahrhunderte hinweg die abendländische Geschichte dominiert. Es war eine Zeit, in der ohne Ambivalenz und Zweifel absolute Gewissheiten möglich waren (hiermit ist nicht gemeint, dass es nicht individuelle Zweifler gegeben hat, sondern nur, dass es ein in sich stimmiges, absolutes Bezugssystem für ethisches Handeln gegeben hat, das menschliches Verhalten regulierte und dominierte). In der christlichen Gesinnungsethik gibt es absolute Wahrheiten über erlaubtes und unerlaubtes Verhalten. Wer gottesfürchtig war und Nächstenliebe praktizierte, war im Sinne dieses ethischen Bezugssystems »gut«. Der bekannteste Vertreter der Gesinnungsethik ist Emanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ gewesen (der im Zeitalter der Aufklärung bereits eine Weiterentwicklung gegenüber den absoluteren Glaubenssystemen gewesen ist). Nach Kant sollte man jede Handlung danach bemessen, ob man wollen würde, dass das Prinzip hinter der Handlung allgemeines Gesetz werden sollte. Im kantschen Sinne ist eine Handlung also genau dann gut, wenn sie sich durch gute Prinzipien rechtfertigen lässt. In der abendländischen Geschichte ist es übrigens die Zeit der Renaissance gewesen, in der diese absoluten gesinnungsethischen Systeme zum ersten Mal brüchig wurden. In der Renaissance erwachte das Selbstbewusstsein der Menschen, durch eigene Talente und individuelle Fähigkeiten besonderen Erfolg zu erreichen (Erfolg als individuelle Kategorie neben Gottesfurcht ist im Mittelalter nicht so verhaltensbestimmend gewesen). Der Begriff des »Genies« wurde in der Renaissance geboren. In diesem Zeitalter trat ein auch heute noch prominenter Moralphilosoph in Erscheinung (Niccolò Machiavelli), der unverstellt und schonungslos folgendes Dilemma offen legte: Machiavelli betrachtete mit unverklärtem Blick das Handeln der Erfolgreichen und Mächtigen. Als er dieses Handeln mit dem offiziell immer noch geteilten und gültigen Prinzipien des Christentums verglich, stellte er Folgendes fest: Erfolg und »gut sein« sind zwei unterschiedliche Dinge! > Die Gesinnungsethik betrachtet Handeln dann als ethisch, wenn es auf Basis guter Prinzipien (z. B. christliche Prinzipien oder kategorischer Imperativ) erfolgt. Niccolò Machiavelli stellte als erster schonungslos fest: Erfolgreich sein und »gut« sein sind in der Praxis zwei unterschiedliche Dinge.
Machiavelli untersuchte als Physiker der Macht, was Mächtige taten, um erfolgreich zu sein.
Wer schonungslos »gut« (im Sinne von schuldfrei) im Sinne des Christentums handelt, ist oft nicht derjenige, der als geschickter und gewiefter Fürst vieles in der Welt bewirkt. Machiavelli wird aufgrund dieser Beobachtung oft zu Unrecht unterstellt, dass er zu unethischem
11.1 • Ethik und Moral – Klärung der Grundbegriffe und der Grundprobleme
Verhalten einladen wollte. Machiavelli ist in seinen Schriften viel deskriptiver gewesen. Er war ein Physiker der Macht und beobachtete, was Mächtige taten und welche Verhaltensweisen offenbar Macht stabilisierend und Macht verbreiternd wirkten. Er konnte nicht anders, als dabei zu konstatieren, dass dies sehr offenkundig mit den offiziell verlauteten ethischen Prinzipien nicht immer übereinstimmte. Ethik und Erfolg schienen zum ersten Mal in der Wahrnehmung der Menschen unterschiedliche Kategoriensysteme zu werden. An dieser Problematik hat sich bis heute nichts geändert. Die Gesinnungsethik würde in einem ethischen Dilemma oftmals Selbstbeschränkung fordern. Selbstbeschränkung ist aber üblicherweise nicht die Kategorie, die Erfolg verspricht und mit der große Ziele erreicht werden. Es handelt sich schlichtweg um unterschiedliche Bezugssysteme. Erfolg bewertet sich nach Zielerreichung. Ethik bewertet sich nach Kongruenz zu Prinzipien. Erfolgsstreben ist dementsprechend eine moralische Kategorie und Erfolg ist dann gut, wenn er von einer sozialen Bezugsgruppe gewollt und als Ziel geteilt wird. Das Kreuz als das Hauptsymbol des Christentums verkörpert und symbolisiert in einer gewissen Weise sehr pointiert den Unterschied zwischen Erfolg und Ethik: Wer konsequent nach christlichen Prinzipien lebt, wird nicht mit irdischem Erfolg belohnt! Je mehr die allgemeinen Prinzipien verloren gingen, je mehr die Welt auseinander driftete in konkurrierende Wertsysteme, umso stärker dominierte ein anderes ethisches Prinzip die Diskussion: Gemeint ist hier der Utilitarismus oder die Handlungsethik. Im Sinne dieser ethischen Denkweise wird Handeln danach bemessen, ob durch eine Handlungsweise der größtmögliche Nutzen für möglichst viele Menschen entsteht.
225
11
Selbstbeschränkung und Erfolg koppeln sich in unterschiedlichen Bezugssystemen zurück.
Das Kreuz beweist: Konsequent christliche Prinzipien führen nicht unbedingt zu irdischem Erfolg. Handlungsethik fordert den größtmöglichen Nutzen für viele.
> Eine Handlung ist in der Denkweise der Utilitaristen genau dann gut oder rechtfertigbar, wenn durch sie insgesamt mehr Glück oder Nutzen entsteht als mit dieser Handlung an »Kosten« verbunden ist.
In der ethischen Denkweise des Utilitarismus wurde akzeptiert, dass es eine absolute Reinheit von Prinzipien als Grundlage von Handlungen nicht gibt und dass grundsätzliche Prinzipien in vielen und praktischen ethischen Fragen des Alltags nicht ausreichend weiterhelfen. Damit befindet sich der Utilitarismus deutlich näher an den Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft, weil die soziale Marktwirtschaft auch nach dem Prinzip funktioniert, automatisch denjenigen zu belohnen, der durch seine Produkte und Problemlösungen den größtmöglichen Nutzen für möglichst viele Menschen schafft. Trotzdem existieren auch innerhalb einer utilitaristischen Denkschule ethische Dilemmata: Die Frage, für welchen »Nutzen« welche »Kosten« zu rechtfertigen sind, kann letztlich der Utilitarismus nicht endgültig beantworten. Er wirft nur das Prinzip auf, vor dessen Hintergrund diese Frage diskutiert werden muss.
Der Utilitarismus akzeptiert, dass es Reinheit von Prinzipien nicht gibt und sie in vielen praktischen Dilemmata nicht durchhaltbar sind.
226
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
11.1.2
Wer mit begrenzten Ressourcen operiert, kann niemals nur Nutzen stiften.
Wenn ein großer Nutzen gestiftet werden soll, muss irgendjemand dafür bezahlen.
11
Wer die Dilemmata der Macht vermeiden will, opfert dafür unter Umständen gute Ziele.
Durch radikale Gesinnungsethik wird vielleicht ein potenzieller Nutzen nicht gestiftet.
Das grundsätzliche, ethische Dilemma der Führung
Das grundsätzliche ethische Dilemma in der Führung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn Sie etwas Großes bewirken wollen, werden Sie niemals nur Nutzen für alle stiften können. In der konkreten Welt sind Sie von Gegnern Ihrer Ziele umgeben und von eingeschränkten Ressourcen, mit denen Sie Ihre Ziele erreichen müssen. Wenn Sie Ihre Ziele durchsetzen, verursachen Sie damit anderen Menschen im metaphorischen Sinne Kosten. Anderen Menschen »Kosten verursachen« heißt, dass Sie gegenüber diesen Menschen schuldig werden. Wenn Sie als Politiker Ihre Armee zur Landesverteidigung in den Krieg schicken, so haben Sie für das höhere Ziel, die Bevölkerung des Landes vor Aggressoren zu schützen, einen Erfolg zu verbuchen. Sie haben aber vielleicht viele tausend Soldaten dafür opfern müssen und sind an diesen und deren Familien schuldig geworden. Diese Soldaten haben die Kosten bezahlt, die bezahlt werden mussten, damit Sie Ihr Ziel erreichen konnten. Wenn Sie sich als Politiker fragen, ob Sie den Spitzensteuersatz erhöhen oder absenken sollen, wird es in beiden Fällen jemanden geben, der von Ihrer Entscheidung profitiert, und jemanden, der dafür bezahlt. Sie können nicht ausschließlich Nutzen bringen! Meistens sind diese Dilemmata aber viel kleiner und praktischer (dazu 7 Exkurs »Macht man sich als Führungskraft unweigerlich die Hände schmutzig?«). Wenn Sie als Führungskraft zwei Mitarbeiter in Ihrer Abteilung haben, die beide als junge Familienväter während der Osterferien in Urlaub fahren wollen, und Sie aber dringend mindestens einen der beiden im Team präsent brauchen, um ein wichtiges Projekt nicht zu gefährden, stehen Sie strukturell vor dem gleichen Dilemma. Auch in diesem Fall können Sie nicht nur Nutzen stiften. Irgendjemand wird dafür »bezahlen«. Entweder es »bezahlt« das Unternehmen, das sich mit verspäteten Projektergebnissen zufrieden geben muss, oder es »bezahlt« einer der jungen Familienväter, dem der Wunsch nach Urlaub mit der Familie nicht gewährt werden kann. Bestimmte Menschen beantworten dieses Dilemma für sich, indem sie bewusst auf Macht verzichten, weil das hier beschriebene Dilemma das Dilemma der Mächtigen, der Führer ist. Wer machtlos ist, braucht diese Güterabwägung nicht zu treffen. Aber auch die Vermeidung von Macht und Einfluss kann keine endgültige ethische Strategie sein. Letztlich werden dadurch unter Umständen Ziele und positive Entwicklungen geopfert, die man der Welt hätte bescheren können, wenn man nicht aus Angst vor der eigenen Unreinheit sofort aufgegeben hätte: Wer rein bleiben will, opfert unter Umständen positive Beiträge und Ziele, die die dafür aufgewandten Kosten durchaus hätten rechtfertigen können. Man könnte es auch radikaler formulieren: Bestimmte, gesinnungsfeste und unbedingt prinzipientreue Märtyrer der Menschheitsgeschichte hätten vielleicht in ihrer Gesamtlebens-
227
11.2 • Moral und Ethik – Wie würden Sie entscheiden?
11
Macht man sich als Führungskraft unweigerlich die Hände schmutzig? Jean-Paul Sartre hat dieses Dilemma in seinem Theaterstück »Schmutzige Hände« sehr pointiert zum Ausdruck gebracht. Das Theaterstück spielt in der französischen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus. In einer Szene gibt es eine Diskussion zwischen einem jungen französischen Wider-
standskämpfer und dem Anführer der Widerstandsgruppe. Dieser Anführer hatte (zur Erreichung bestimmter praktischer Ziele) mit den Nationalsozialisten kollaboriert und wird dafür von dem jungen Widerstandskämpfer heftig angegriffen. Hier ist seine Antwort: »Wie Du auf Deine Lauterkeit hältst,
bilanz mehr Gutes erreicht, wenn sie etwas weniger radikal gewesen wären, aber dafür zwanzig Jahre länger gelebt hätten. Erfolg und Ethik folgen anderen Bezugssystemen. Die Tatsache, dass Erfolg etwas Gutes oder Erstrebenswertes ist, ist eine in unserer Gesellschaft weitgehend geteilte Moral. Ethik bemisst Handlungen aber nicht nach ihrem Erfolg, sondern nach der Kongruenz mit bestimmten Prinzipien (sei es mit den grundsätzlichen und allgemein gültigen Prinzipien der Gesinnungsethik oder der utilitaristischen Nutzenkalkulation für viele in der Verantwortungsethik). Ethik bedeutet aber immer, dass man sich selbst gewählte Beschränkungen auferlegt, wenn es einen Konflikt der eigenen Handlungsmöglichkeiten mit den gewählten Prinzipien gibt. Das ist nicht die typische Denkweise des Erfolgs. Wer Macht haben will und große Ziele verfolgt, wird es kaum schaffen können, ethisch »rein« und schuldfrei zu bleiben, weil er nicht nur Nutzen, sondern auch »Kosten« bringt. Auch weil man diese Kosten manchmal praktisch nicht sieht, sind sie trotzdem da: Wer die eigene Firma auf Erfolgskurs trimmt und viele Arbeitsplätze schafft, vernichtet vielleicht ebenso viele oder sogar mehr Arbeitsplätze beim ineffizienteren Konkurrenten. Wer sich diesem Dilemma entziehen möchte, wird nicht führen können. Er bleibt aber deswegen unter Umständen nicht »moralisch oder ethisch reiner«, weil vielleicht die bequeme Vermeidung dieses Dilemmas dazu geführt hat, dass der Welt ein Nutzen vorenthalten worden ist, für den sich ein Aushalten des Dilemmas gelohnt hätte.
11.2
mein Junge! Was für eine Angst Du hast, Dir die Hände schmutzig zu machen! Also gut, bleibe rein! Aber was kommt denn dabei heraus? Und was willst Du hier bei uns? Reinheit ist eine Idee für Fakire und Mönche. […] Meinst Du, man kann regieren und kinderrein dabei bleiben?«
Erfolg muss manchmal mit ethischen Kosten bezahlt werden.
Wer große Ziele verfolgt, kann im gesinnungsethischen Sinn nicht rein bleiben.
Wer nicht in ethische Dilemmata kommen möchte, kann nicht führen.
Moral und Ethik – Wie würden Sie entscheiden?
In diesem Unterkapitel möchten wir die praktische Relevanz der eben aufgeworfenen Frage noch einmal kurz verdeutlichen. Bitte versetzen Sie sich in die folgende Situation: Sie möchten ein Ferienhaus in einem gefragten südosteuropäischen Urlaubsland errichten. In der von Ihnen bevorzugten Ferienregion gibt es noch ein prachtvolles und günstiges Grundstück direkt am Strand. Der Ansprechpartner der lokalen Baubehörde signalisiert Ihnen, dass dieses Grundstück
Haben Sie sich schon einmal durch großzügige Trinkgelder Vorteile erkauft?
228
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
Gesinnungsethisch lässt sich Bestechung nie legitimieren.
Wenn Ethik und Erfolg miteinander in Konflikt geraten, geht manchmal der Erfolg vor.
11
Wie viel unternehmerischen Erfolg würden Sie opfern, um »rein« zu bleiben?
Was bei uns unmoralisch ist, wird in anderen Kulturen toleriert.
eventuell für Sie verfügbar wäre, es aber selbstverständlich noch viele andere Interessenten gäbe, und blickt Sie dann vielsagend an. Sie ahnen an dieser Stelle, dass ein Briefumschlag mit einer gewissen Motivationshilfe Wunder bewirken könnte. Würden Sie bezahlen? Wenn Sie bezahlen würden, wäre zu fragen, warum Sie das tun. Als konsequenter Gesinnungsethiker könnten Sie dieses Verhalten kaum legitimieren. Kant hätte Sie gefragt, ob Sie wirklich wollen würden, dass die Maxime Ihres Handelns (Bestechung) allgemeines Gesetz werden sollte, und vermutlich müssten Sie hier schamvoll verneinen. Der Utilitarist hätte Sie gefragt, ob Sie durch Ihr Handeln das größtmögliche Glück für möglichst viele optimiert hätten. Vermutlich würden Sie auch das kaum bejahen können. Vermutlich würden Sie umgekehrt utilitaristisch argumentieren und sagen, dass das Grundstück ohnehin an irgendeinen Interessenten verkauft worden wäre und keiner großen Gruppe von Menschen dadurch ein Schaden entsteht, dass nun Sie zum Zug kommen. Aber so richtig überzeugend würde diese Argumentation auch nicht wirken. Konsequenterweise müsste man sich eingestehen, dass in diesem Fall die Handlung mit einem anderen Bezugssystem bewertet werden würde als mit einem ethischen. Sie wären nämlich für Ihren Erfolg bereit, einen gewissen ethischen Preis zu zahlen. Erfolg und Ethik beziehen sich auf zum Teil unterschiedliche Bezugssysteme. Machen wir nun das Dilemma ruhig noch größer. Nehmen wir an, dass Sie für einen großen internationalen Energieversorger arbeiten und die Anfrage aus einem fernen Land erhalten (nennen wir es der Einfachheit halber einmal Absurdistan), dort ein Atomkraftwerk zu errichten. Für Sie wäre das ein durchaus profitables Projekt. Allerdings ist Ihnen bewusst, dass in Absurdistan die entsprechenden Ausschreibungs- und Genehmigungsverfahren nach Prinzipien ablaufen, die nicht mit Ihren Corporate-Governance-Regeln übereinstimmen. Nun gibt es in Absurdistan eine Beratungsgesellschaft, die in entsprechenden Anbahnungsprozessen sehr erfahren ist und Ihnen für ihre recht umfassenden Dienstleistungen (die sehr viele Punkte beinhalten) eine bilanz- und revisionsfeste Rechnung ausstellen würde. Insgeheim wissen Sie natürlich, dass ein Teil dieses Geldes in Kanäle wandert, die erwarten, im Rahmen des Ausschreibungsprozesses bedient zu werden. Wie würden Sie sich verhalten? Würden Sie Ihren unternehmerischen Erfolg opfern, um »rein« zu bleiben? Würden Sie es wirklich aus dieser Gesinnung heraus tun? Oder würden Sie es vielleicht tun, weil Ihnen das Risiko zu groß erscheint, Aufmerksamkeit und schlechte Presse auf sich zu lenken, wenn das Ganze auffliegt. In jenem Fall wäre Ihr Kompass nämlich nicht die Ethik, sondern erneut einfach nur Erfolg (oder Vermeidung von Misserfolg durch schlechte Reputation). Würde sich Ihre Entscheidung verändern, wenn Sie sicher wären, dass im Falle Ihres Rückzugs aus dem Ausschreibungsverfahren eine Firma aus einem anderen Schwellenland den Zuschlag bekäme, die ein
11.3 • Regeln als Kompass für ethische Dilemmata
229
11
Atomkraftwerk mit der Sicherheitstechnologie der frühen 80er-Jahre errichten würde? Würden Sie dann sagen, dass Ihre Verantwortung für die moderne Reaktorsicherheit und damit den Schutz der Bevölkerung höher wiegt als die Anpassung an die in Absurdistan typischen Prozesse in großen Ausschreibungsverfahren? Wenn Sie sich moralisch über die Zustände in Absurdistan empören, wie würden Sie darauf reagieren, zu erfahren, dass viele Einkommen von Mitarbeitern der öffentlichen Behörden so klein sind, dass Bestechungs- und Schmiergelder in Absurdistan wie ein unverzichtbarer Gehaltsbestandteil wirken und in der dort gültigen Moral (im Sinne der dort gültigen Konvention) wesentlich weniger kritisch gesehen werden?
Wir wollen mit dieser Diskussion keineswegs eine bestimmte Entscheidung rechtfertigen, nahe legen oder gar illegales Verhalten rechtfertigen. Wir wollen nur deutlich machen, dass eine konsequent ethische oder sogar gesinnungsethische Prinzipientreue die Dilemmata nicht endgültig auflöst, auch wenn es bei uns eindeutige Gesetze gibt. Wie würden Sie sich zum Beispiel fühlen, wenn Sie sich aus gesinnungsethischen Erwägungen heraus (»Bestechung macht man nicht!«) gegen eine Teilnahme an der Ausschreibung in Absurdistan entschieden hätten, was dazu geführt hatte, dass der Reaktor mit deutlich weniger moderner Sicherheitstechnologie gebaut worden ist? Stellen sie sich vor, es wäre anschließend zu einem Störfall gekommen, der viele Menschen das Leben kostete, der aber mit Ihrer modernen Technologie vermutlich nicht passiert wäre? Uns ist klar, dass diese Fragen sehr unangenehm sind, wenn man sich wirklich auf sie einlässt. Aber in einer Welt, in der absolute Werte abhanden gekommen sind, sind die Dilemmata und die Abwägungsprozesse schwieriger geworden. In einer Welt der absoluten Gewissheiten wäre die Antwort einfach gewesen. Das »Geworfensein« in unsere Freiheit und in eine Welt mit konkurrierenden Bezugssystemen (z. B. Ethik und Erfolg) erzeugt die ethischen Dilemmata erst und nur der unfreie oder machtlose Mensch kann ethische Dilemmata vermeiden.
11.3
Gesetze lenken das Handeln, aber ethische Dilemmata kann es auch innerhalb der Gesetze geben.
Nur unfreie und machtlose Menschen stehen nicht vor ethischen Dilemmata.
Regeln als Kompass für ethische Dilemmata
Eine typische Reflexreaktion auf die eben beschriebene Dilemmasituation besteht in der öffentlichen Diskussion darin, nach mehr Regeln zu rufen. Es gab keine große Krise, in der der Ruf nach »mehr und besseren Regeln« nicht als die entscheidende Antwort zur Vermeidung des Dilemmas in der Zukunft angesehen worden wäre. Dies ist nach dem New-Economy-Crash Anfang des Jahrtausends genauso gewesen wie nach der großen Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009. Können Regeln aber wirklich helfen, ethisches Verhalten abzusichern? Je intensiver man über diese Frage nachdenkt, umso schneller
Kein Regelsystem kann ethische Dilemmata und individuelle Verantwortung überflüssig machen.
230
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
Die Dilemmata sind situativ, die Regeln müssen allgemein gelten.
Gesetze können nicht immer die endgültige ethische Antwort für jede Situation sein.
11
Auch gute Regeln entlasten in ambivalenten Situationen nicht von der Verantwortung für die Güterabwägung.
wird klar, dass es eine Illusion ist, zu glauben, ein perfektes Regelsystem könnte ersonnen werden, in dem ethische Dilemmata und individuelle Verantwortung sich auflösen lassen. Je mehr man die Individualität und die Situationsabhängigkeit ethischer Dilemmata betrachtet (»Darf ich in die Apotheke einbrechen, weil meine Frau ein lebensrettendes Medikament benötigt?« »Darf ich in die Apotheke einbrechen, weil meine Frau ein stark schmerzstillendes Medikament benötigt?«), umso schneller spürt man, dass nicht jede Ambivalenz regelbar ist. Sonst würden die Gesetze, die wir haben, zumindest theoretisch eine immer weitere Annäherung an eine ethisch handelnde Gesellschaft sicherstellen können. Dass das nicht so ist, ist vielfach zu erkennen und nicht dadurch verursacht, dass wir nur die falschen Gesetze haben, sondern dass Gesetze nicht die prinzipielle und endgültige Antwort für jede Situation sein können. Dies ist in unserem Rechtssystem auch klar verankert. Wir haben Gesetze und Gesetzgeber, wir haben die Polizei als Exekutive. Aber wir haben auch Richter, die einen Ermessensspielraum in der Anwendung der Gesetze haben und bei widersprüchlichen Gesetzen, die an einen Sachverhalt angelegt werden können, ihre Prioritäten setzen und die sogar die Erlaubnis haben, sich über ein Gesetz hinwegzusetzen, wenn durch die konsequente Anwendung des Gesetzes größeres Unrecht geschaffen würde. Aber wer nach mehr Regeln ruft, übersieht, dass damit das Dilemmaproblem nur auf diejenigen verlagert wird, die die Regeln machen. Wenn eine Regel ein ethisches Dilemma erfolgreich auflösen soll, muss die Instanz, die diese Regel aufgestellt hat, die Entscheidung getroffen und die Priorität definiert haben. Regeln verschieben also lediglich die Verantwortung für die Auflösung ethischer Dilemmata an andere Instanzen. Sie lösen sie nicht. Um nicht missverstanden zu werden: Wir wenden uns hier in keiner Weise gegen das Aufstellen guter Gesetze und Regeln. Ganz im Gegenteil: Wir haben die Schaffung guter »Strukturen« (und dazu gehören ja Gesetze und Regeln) in 7 Kap. 6 als eine ganz wesentliche Führungsleistung beschrieben. Wir argumentieren hier nur, dass der Ruf nach Regeln nicht von der individuellen Auseinandersetzung mit ethischen Dilemmata entlasten kann. Die Verantwortung für eine Abwägung der unterschiedlichen Ansprüche (man sagt oft Güterabwägung) kann einem in Dilemmasituationen niemand abnehmen. > Regeln können ethische Dilemmata nicht endgültig auflösen und verhindern. Es muss jemand die Regeln machen. Das ethische Dilemma wird dann lediglich auf diese Instanz verschoben. Es kann auch kein Regelsystem erdacht werden, das in sich so widerspruchsfrei ist, dass es keine Ermessensspielräume geben muss – ansonsten bräuchten wir nur Gesetze und keine Richter, die manchmal eine verantwortungsvolle Güterabwägung vornehmen müssen.
11.4 • Verantwortung und Güterabwägung in der Führung
11.4
231
11
Verantwortung und Güterabwägung in der Führung
In den vorherigen Kapiteln haben wir vor allen Dingen argumentiert, dass die Last der Verantwortung und Güterabwägung in ethischen Dilemmasituationen niemandem abgenommen werden kann, der Macht und Einfluss hat oder große Ziele verfolgt. Trotzdem muss die Frage beantwortet werden, wie in ethischen Dilemmasituationen ein sinnvoller innerer Dialog und Abwägungsmechanismus aussehen kann, um zu fragen, welche ethischen Kosten man für bestimme Erfolge bezahlen darf. Grundsätzlich gibt es in der Führung zwei ethische Fragen, die damit verbunden sind: 5 Welche Ziele darf man anstreben? 5 Welche Mittel darf man bei der Verfolgung dieser Ziele nutzen?
Welche Erfolge rechtfertigen welche ethischen Kosten?
Wenn man diese Fragen stellt, hat man sich implizit schon dazu bekannt, dass man das eigene Handeln in den Auswirkungen auf andere Menschen prüfen muss. Wer Ziele nur für sich und unabhängig von den Auswirkungen auf andere Menschen verfolgt, ist schon an dieser Minimalvoraussetzung für verantwortungsvolle Güterabwägung gescheitert. Als verantwortungsvoll handelnde Führungskraft kommt man nicht umhin, die Effekte, die die eigene Zielverfolgung und die eigene Mittelwahl auf andere Menschen haben, zu betrachten. Als typische Führungskraft im Wirtschaftsunternehmen hat man im Allgemeinen vier Instanzen, denen man diese Art von Verantwortung schuldet. . Abb. 11.1 zeigt diese vier Instanzen und die jeweiligen Erwartungen, die sie in einem unternehmerischen Kontext haben. Diese Erwartungen lösen die Dilemmata und Zielkonflikte aus. Wir beschreiben diese vier Instanzen als die so genannten »Betroffenheitshorizonte« von Führungshandlungen. Vom eigenen Handeln der typischen mittleren Führungskraft ist zunächst einmal das Unternehmen (z. B. die Aktionäre oder Inhaber), repräsentiert durch die Erwartungen des eigenen Vorgesetzten, betroffen. Die von dieser Seite formulierten moralischen Erwartungen betreffen im Allgemeinen Aspekte wie Gewinnmaximierung, Wachstum oder Kosteneffizienz. Auf Seiten der eigenen Mitarbeiter wird man sich mit anderen Erwartungen auseinander zu setzen haben. Die Mitarbeiter erwarten beispielsweise, dass ihre Leistung anerkannt wird, dass sie sich beruflich entwickeln können, dass sie sichere Arbeitsplätze haben oder eine ausreichende Arbeitssicherheit an ihrem Arbeitsplatz vorfinden. Die Kollegen auf der gleichen Ebene erwarten üblicherweise Informationen, faire Teamarbeit und gegenseitige Unterstützung. Darüber hinaus gibt es noch viele externe Instanzen, die Erwartungen an das Unternehmen richten, nämlich die Gesellschaft (repräsentiert durch die Politik), die beispielsweise umweltfreundliche Produkte erwartet, aber auch Lieferanten oder Kunden, die jeweils ihre eigenen Erwartungen haben.
Verantwortungsvolle Menschen kalkulieren die Effekte ihrer Handlungen nicht nur für sich, sondern für alle Betroffenen.
Die vier Instanzen, denen gegenüber man als Führungskraft verantwortlich ist Unternehmer erwarten Gewinn.
Mitarbeiter erwarten attraktive Arbeitsbedingungen.
Kollegen erwarten gute Zusammenarbeit. Die externen Instanzen erwarten einen entsprechenden Nutzen.
232
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
. Abb. 11.1 Verantwortungshorizont von Führungskräften in Wirtschaftsunternehmen
11
Jede Erwartung ist für sich gesehen legitim, doch die Erwartungen geraten oft in Konflikt miteinander.
An einer Führungskraft ziehen vier Gummibänder, teilweise in andere Richtungen.
Unternehmensleitbilder sind in konkreten Dilemmasituationen oft nutzlos.
Für sich genommen erscheinen alle diese moralischen Erwartungen absolut legitim und verständlich. Als Führungskraft wird man vermutlich leicht akzeptieren, dass diese Erwartungen eine Richtschnur für das eigene Handeln sein sollen. Das Dilemma entsteht dann, wenn die Erwartungen der unterschiedlichen Instanzen in einen Konflikt miteinander geraten. Umweltschutz und Gewinnmaximierung sind selten vollständig einander überlappende Ziele. Hohe Effizienz und auf Höchstleistung getrimmte Prozesse repräsentieren nicht immer die Mitarbeiterbedürfnisse nach angenehmer Arbeitsatmosphäre und Gestaltungsspielräumen. Die Serviceerwartungen der Kollegen stehen nicht immer mit den zur Verfügung stehenden Mitteln im Einklang. Als mittlere Führungskraft ist man bildlich gesehen an vier Gummibändern im Raum aufgehängt, an denen die vier beschriebenen Instanzen mit ihren Erwartungen ziehen. Je nachdem, wie konträr die Ziele und wie begrenzt die Ressourcen sind oder wie groß die Krise ist, kann die Spannung, die durch die unterschiedlichen Erwartungen ausgelöst wird, sich vergrößern oder verkleinern. Kein Regelwerk oder Führungsleitbild kann einer Führungskraft in den praktischen Dilemmasituationen helfen. Viele Unternehmen geben sich selbst Unternehmenswerte oder Leitbilder, die oftmals als »Kompass« für die Ausrichtung des eigenen Handelns verkauft und positioniert werden. In der Präambel solcher Unternehmensleitbilder finden sich nicht selten Sätze wie: »Wir fühlen uns in unserem Führungshandeln unseren Shareholdern, unseren Mitarbeitern, unseren
11.4 • Verantwortung und Güterabwägung in der Führung
Kunden und der Gesellschaft verpflichtet.« Diese Aussage ist ebenso richtig wie in der konkreten Dilemmasituation nutzlos. Über die grundsätzlichen Werte besteht ja Einigkeit. Das Problem entsteht genau dann, wenn widerstreitende Werte miteinander in Konflikt geraten. Wer wäre nicht für Freiheit und Sicherheit? Das Problem tritt auf, weil plötzlich Freiheit und Sicherheit zu widersprüchlichen Handlungen führen würden. Wer ist nicht für Umweltschutz, Gewinnmaximierung, Mitarbeiterzufriedenheit und glückliche Kunden? Das Problem hat man, wenn man diese Dinge gegeneinander abwägen und priorisieren muss. Ethisches Handeln zeichnet sich also nicht dadurch aus, dass man nur einem abstrakten Leitbild folgen kann, das dieses Dilemma endgültig auflöst – das können die Leitbilder nicht, sie zeigen das Dilemma letztlich nur auf. Wir bleiben bei der Konsequenz, dass niemand die Führungskraft von einer verantwortungsvollen Güterabwägung entlasten kann. Diese Selbstverpflichtung zur verantwortungsvollen Güterabwägung ist damit bereits der erste Schritt ethischen Handelns.
233
11
Oft sind nicht die Werte selbst kontrovers, sondern ihre Priorität.
> Wer akzeptiert, dass es von dem eigenen Führungshandeln betroffene Instanzen gibt, denen man etwas schuldig ist, setzt eine erste Voraussetzung für verantwortungsvolles Führungshandeln um. Wer versteht, dass man durch die Verantwortung gegenüber mehreren Instanzen in Dilemmasituationen geraten kann, die sich nicht durch Regeln oder Leitbilder auflösen lassen, wird erkennen, dass man nicht um eine verantwortungsvolle Güterabwägung herumkommt.
Wer sich in den beschriebenen Dilemmata ausschließlich daran orientiert, welches Verhalten z. B. der eigenen Karriereentwicklung nutzt oder schadet, handelt in diesem Sinne nicht ethisch. Ethisches Führungshandeln bedeutet, anzuerkennen, dass es Instanzen gibt, die berechtigte Erwartungen an die handelnde Führungskraft stellen, und man sich schuldig macht, wenn man diese Erwartung ignoriert oder vor ihnen versagt. Allein die Tatsache, dass man sich zu der Verantwortung bekennt, das eigene Handeln an den Betroffenheitshorizonten auszurichten, ist Grundvoraussetzung für verantwortungsvolle Güterabwägung. Nur diejenigen Führungskräfte fühlen moralische Dilemmasituationen, die sich unternehmerischen Zielen, Mitarbeiterwünschen und gesellschaftlichen Fragen gegenüber überhaupt verantwortlich fühlen! > Führung ist dann gut, wenn man es nicht nur für sich selbst tut. Führung ist dann gut, wenn man anerkennt, dass es Instanzen gibt, die vom eigenen Führungshandeln betroffen sind und denen man die Berücksichtigung und Einbeziehung ihrer Bedürfnisse und Erwartungen schuldig ist. Führung ist dann gut, wenn man anerkennt, dass man durch die Nichterfüllung dieser Erwartungen schuldig wird und
Das Bekenntnis zur Ausrichtung des eigenen Handelns an Folgen für die Betroffenen ist die Grundbedingung für ethisches Handeln.
234
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
deswegen in einem verantwortungsvollen Abwägungsprozess die jeweils situative Rechtfertigung bestimmter Erwartungen überprüft. Führung nur »für sich selbst« kann nicht verantwortungsvoll sein.
Die Priorisierung von Werten im Ambivalenz- und Konfliktfall ist nicht vollständig durch allgemeine Regeln möglich.
11
Wenn Führung nur der Erreichung eigener Karriereziele dient, kann sie nicht verantwortungsvoll sein, weil man sich der Last der Güterabwägung entzieht und nur den individuellen Nutzen maximiert. Macht kann sich nur legitimieren, wenn sie als Verteidigungsleistung für das Sinnvolle und Gute zum Einsatz kommt. Es mag unbefriedigend bleiben, dass wir keine universellen Prinzipien zum Umgang mit dieser Güterabwägung formulieren können. Es ist gerade das situative Element, das durch die universelle Regel nicht so einfach einzufangen ist. Es ist nicht so, dass wir uns nicht auf sinnvolle Werte für die Führung verständigen könnten, sondern wir können nicht allgemein beantworten, wie diese Werte im Ambivalenz- oder Konfliktfalle zu priorisieren sind. Bei manchen unternehmerischen Entscheidungen wird man vielleicht Mitarbeiterbedürfnisse und -erwartungen höher gewichten als unternehmerische Kostenreduktion. Bei anderen unternehmerischen Entscheidungen wird man es umgekehrt tun. Manchmal wird man vielleicht Gewinnmöglichkeiten für den Umweltschutz opfern. Manchmal wird man dies wiederum nicht tun und es trotzdem rechtfertigen können. Sich über eine Liste von Werten zu verständigen, ist im Allgemeinen kein Problem. Eine allgemein gültige Prioritäten- oder Rangliste dieser Werte zu formulieren, ist indes unmöglich. Ethisches Führungshandeln drückt sich damit gerade durch die selbst auferlegte Pflicht der verantwortungsvollen Güterabwägung aus (s. auch 7 Exkurs »Kompetenzen als Vorbedingungen für ethisches Handeln«).
11.5
Absolute und allgemein geteilte Wertmaßstäbe sind uns endgültig abhanden gekommen.
Die Entwicklung ethischen Führungshandelns und Verantwortungsbewusstseins
Aus den vorangegangenen Diskussionen drängt sich nun die Frage auf, wie die Entwicklung zu ethischem und verantwortungsvollem Verhalten gefördert werden kann. Hier gibt es in unserer Gesellschaft unterschiedliche Mechanismen und Zugkräfte, die auch unterschiedliche Ansätze und Überzeugungen vertreten. Es gibt durchaus Kräfte in unserer Gesellschaft, die eine Rückkehr zur Gesinnungsethik (also zu allgemein geteilten absoluten Wertmaßstäben) als Lösung für die Probleme der Gegenwart sehen. Die katholische Kirche tut sich nach wie vor schwer damit, dass sie den Absolutheitsanspruch einbüßen musste und heutzutage ein Wertegerüst anbieten muss, das zu anderen Wertesystemen in Konkurrenz gerät. Eine Zeit der Rückkehr zu großen allgemeinen geteilten Glaubenssystemen erscheint indes wenig wahrscheinlich. Jeder Mensch muss sich heute in einer extrem diversifizierten Welt mühsam sein Wertegerüst erarbeiten und sich mit der Relativität von Lebensentwürfen und Lebensprioritäten arrangieren können.
11.5 • Die Entwicklung ethischen Führungshandelns
235
11
Kompetenzen als Vorbedingung für ethisches Handeln In diesem Zusammenhang wird noch einmal deutlich, warum Empathie für Führungskräfte eine so wichtige Kompetenz darstellt. Die Pflicht zur verantwortungsvollen Güterabwägung setzt voraus, dass man als mächtige Person in der Lage ist, die Bedürfnisse und Erwartungen der von dem eigenen Handeln betroffenen Personen oder Instanzen zu erspüren und nachzuempfinden, um sie dann gewichten und gegeneinander abwägen zu können. Es sind gerade solche Führungskräfte, die ihre Fähigkeit zur Empathie verloren oder nie ausgebildet haben, die am ehesten anfällig für unethisches oder unmoralisches Handeln sind. Wer nicht realisiert, wie viel Schmerzen oder Kränkung er bei anderen auslöst,
kann diese Effekte in seiner Güterabwägung nicht sinnvoll einbeziehen oder kalkulieren. Führungskräfte ohne Empathie exekutieren am skrupellosesten solche Entscheidungen, die bei einer verantwortungsvollen Abwägung der berechtigten Interessen der Betroffenen vielleicht in einer anderen Form umgesetzt worden wären. Empathie sichert nicht grundsätzlich ein verantwortungsvolles Handeln. Sie stellt lediglich die Grundbedingung dafür dar, dass man bei der Güterabwägung alle relevanten Aspekte mit einbeziehen kann. Die zweite Bedingung für ethisches Handeln ist dann die selbst auferlegte Pflicht der verantwortungsvollen Güterabwägung.
Man kann in einer theoretischen Hinsicht für sich leicht Werte definieren. Man lernt sich selbst aber erst dann kennen, wenn man sich in einer Dilemmasituation entscheiden muss. Je rigider man für sich bestimmte Werte in Anspruch nimmt (»Ich lüge nie!«), umso schneller und intensiver kann man in Dilemmasituationen geraten, in denen man erfährt, dass man dieses Prinzip in Konkurrenz zu anderen Werten nicht so radikal durchhalten kann, wie man von sich selbst gedacht hat. Werte konstatieren ist einfach. Sie wissen aber erst über ihre wirklichen Prioritäten Bescheid, nachdem Sie sich entscheiden mussten. Macht offenbart damit den Charakter eines Menschen mehr als vieles andere. Die Mächtigen befinden sich ständig in der Situation, Güterabwägung betreiben zu müssen, und das wahre Wertegerüst, das sich beim wenig mächtigen Menschen nie bewähren muss, ist beim Mächtigen sofort und unverstellt sichtbar. Nur der wenig Mächtige kann gleichzeitig für soziale Sicherheit, extensive Infrastrukturinvestitionen, Leistungsförderung, Bildungsinvestitionen, Rentensicherheit und niedrige Steuern sein, der Mächtige kann dies in Wahlkampfreden, aber nicht in der Zeit der Entscheidung. Die Frage ist nun, was jemanden eigentlich zu einem ethisch denkenden Menschen werden lässt. Die Antwort hierauf ist ebenso überraschend wie simpel: Es sind die Anzahl der auf Langfristigkeit angelegten Beziehungen und Gruppenidentitäten, in die sich eine Person begibt. Langfristige Beziehungen werden auf eine gewisse natürliche Art und Weise von alleine ethischer. In einer auf Langfristigkeit angelegten Beziehung muss man die Bedürfnisse des anderen betrachten
Neben der Empathie gibt es noch eine weitere Kompetenz als Grundbedingung für gute Lösungen: die Kreativität. In vielen Führungssituationen gibt es mehr oder weniger kreative Lösungen, die dazu führen, dass die »Kosten« einer bestimmten Entscheidung minimiert und der »Nutzen« für die Betroffenen maximiert wird. Je kreativer man entsprechende Lösungen suchen und finden kann, umso größer ist das Potenzial für verantwortungsvolles Führungsverhalten. Auf der Gesinnungsseite ist damit Verantwortungsbewusstsein die Voraussetzung für ethisches Führungshandeln, auf der Kompetenzseite sind es Empathie und Kreativität.
Man lernt seine wahren Werteprioritäten erst kennen, wenn man sich entscheiden musste.
Mächtige müssen große Entscheidungen treffen, die ihr wahres Wertegerüst unverstellt offenbaren.
Auf Langfristigkeit angelegte Beziehungen fördern ethisches Verhalten.
236
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
Wer in seinen sozialen Bezügen und Gruppenidentitäten sehr mobil und beliebig ist, hat nichts, wofür sich ethisch motivierte Selbstbegrenzung lohnt.
11
Ethische Werte werden handlungsleitend, wenn sie in einer sozialen Gruppe eine moralische Kategorie darstellen.
Soziopathen sind nicht durch abstrakte Werte zu moralischem Handeln zu erziehen.
und einbeziehen und in einer verantwortungsvollen Güterabwägung mit den eigenen Bedürfnissen in Einklang bringen, sonst ist die Beziehung nicht langfristig zu handhaben. Wer nicht »auf das gemeinsame Beziehungskonto« einzahlt, wird auch keine langfristige Beziehung ernten. Je langfristiger man eine Beziehung erhalten möchte, umso ethischer verhält man sich. Beziehungen durch die Ignoranz der Bedürfnisse des anderen und die bedingungslose Durchsetzung eigener Ziele zu ruinieren, kann man sich nur dann leisten, wenn die Langfristigkeit keine Rolle spielt. Je mehr Gruppenbezüge man hat (sei es mit der Familie, der Pfarrgemeinde, dem Unternehmen oder mit sonstigen Organisationen) und je stärker die Gruppenbezüge auf Langfristigkeit angelegt sind, desto mehr wird man sich die Pflicht zur Güterabwägung der Bedürfnisse der Gruppenmitglieder auferlegen. Die moralische Gefahr geht von Menschen aus, die ihr Leben ohne Halt leben, die vollständig mobil in ihren sozialen Bezügen sind und die sich selbst wenig langfristige Anker schaffen. Wir haben am Anfang argumentiert, dass ethisches Verhalten »Selbstbegrenzung« bedeutet. Dieser Selbstbegrenzung wird man sich genau dann unterwerfen, wenn man sich einer Gruppe zugehörig fühlt oder in einer Beziehung steht, für deren langfristigen Erhalt sich diese Selbstbegrenzung lohnt. In einer haltlosen sozialen Welt braucht es keine Selbstbegrenzung. Eigennutz zerstört in einer haltlosen Welt nichts, was erhaltenswert wäre und wofür sich Selbstbegrenzung lohnen würde. Unsere sehr mobil und flexibel gewordene Gesellschaft zerstört in gewissem Sinne das Fundament, auf dem ethisches Verhalten geboren wurde. In einer Welt ohne langfristige soziale Bezüge, ohne auf Langfristigkeit angelegte Gruppenzugehörigkeiten kann Ethik nicht entstehen. Wir können das so entstandene Loch auch nicht einfach durch »neue Werte« füllen. Werte sind nicht per se handlungsleitend (nur weil irgendeine Instanz das möchte), sondern immer nur, wenn sie in einem sozialen Bezugssystem eine wichtige moralische Kategorie darstellen und damit den langfristigen Zusammenhalt der Gruppe sichern. Für Soziopathen ohne entsprechende langfristige Beziehungen können abstrakte Werte kein Regulativ sein. Warum kann in Internetbeziehungen, in den so genannten sozialen Netzwerken, so viel gelogen, geheuchelt, getäuscht und betrogen werden? Weil es sich hier nicht um ein auf Stabilität angelegtes soziales Bezugssystem handelt, sondern die Mobilität und Austauschbarkeit der Beziehungen schon im Kern mit angelegt sind. Für kurzfristige und austauschbare Beziehungen lohnt die Selbstbegrenzung der Ethik nicht!
11.6 • Die Legitimation von Führung und Macht
237
11
. Abb. 11.2 Verschiedene Legitimationen von Führung
11.6
Die Legitimation von Führung und Macht
Am Ende unserer Überlegungen stellt sich die grundsätzliche Frage, wodurch sich legitimieren lässt, dass man als Führungskraft anderen Menschen »Kosten verursacht«. Welche Rechtfertigungszusammenhänge kann es für die Ausübung von Macht und Führung geben? . Abb. 11.2 veranschaulicht insgesamt vier Rechtfertigungszusammenhänge, die sich durchaus auch in ihrer historischen Entwicklung beschreiben lassen. Die älteste Legitimation von Führung beschreiben wir hier als die so genannte pharaonische Legitimation: »Ich bin Gott.« Wer Gottgleich Macht ausübt, braucht sich praktisch vor niemandem mehr zu rechtfertigen. Diese Legitimation eigener Machtfülle (und natürlich auch eigener Grausamkeiten) benötigt keine weitere Rechtfertigung. Die monarchische Legitimation (»Ich bin der Stellvertreter Gottes auf Erden«) erkennt zumindest an, dass es eine höhere Instanz gibt, vor der man sich wird rechtfertigen müssen, nämlich Gott. Allerdings findet diese Rechtfertigung voraussichtlich erst im Jenseits statt und man kann sich als von Gott gesandter König in der Rolle wähnen, Gottes Willen auf Erden auszuführen. Auch dies ist eine Legitimation, gegen die Sie argumentativ schwer ankommen und die sich gleichzeitig weiteren Rechtfertigungsnotwendigkeiten entzieht. Etwas ambivalenter wird es mit der dritten Legitimation, die der eigenen Machtfülle durch die überlegene eigene Genialität (»Ich bin genialer oder qualifizierter als andere«). In gewissem Sinne wäre dies die narzisstische Legitimation von Führung. Auf den ersten Blick scheint es sinnvoll zu sein, Machtfülle durch Kompetenz zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite öffnet eine solche Rechtfertigung das Tor für wenig aufgeklärtes Führungshandeln. Falls Sie von einem solchen Vorgesetzten geführt werden, erkennen Sie diese Art der inneren Rechtfertigung der eigenen Macht vor allen Dingen an den spöttisch hochgezogenen Augenbrauen, mit denen er Ihnen begegnet, wenn Sie sich mit einer guten Idee an ihn wenden. Sie entnehmen dem Ge-
Rechtfertigungen für Machtausübung
Wer sich als Gott oder als von Gott eingesetzt versteht, kann sein Handeln leicht legitimieren.
Machtlegitimation durch den Glauben an die eigene Genialität erzeugt wenig aufgeklärtes Führungshandeln.
238
Kapitel 11 • Führung, Erfolg und Moral – Wie Sie in ethischen Dilemmasituationen eine richtige
Bei narzisstischen Führungskräften darf der Gast die Suppe nicht kritisieren.
In einem aufgeklärten Führungsverständnis wird Macht aufgrund von Vertrauen vergeben.
11
Aufgeklärt handelnde Führungskräfte wissen, dass sie sich jederzeit rechtfertigen können müssen.
Aufgeklärt handelnde Führungskräfte sanktionieren Minderleistung, nicht Widerspruch.
sichtsausdruck bereits, dass (erstens) eine Idee, die nicht von Ihrem Vorgesetzten selbst ist, nicht gut sein kann, und dass Sie (zweitens) nicht für neue Ideen zuständig sind, sondern anweisungsgemäß Ihre Arbeit ausführen sollen. Da Sie per definitionem weniger genial sind als Ihr Chef, kann es von Ihnen keine geniale Idee geben, denn dann wäre ja die Gegenthese bewiesen. Wer sich als Führungskraft durch die narzisstische Selbstüberhöhung der eigenen überlegenen Genialität legitimiert, produziert (metaphorisch gesprochen) die folgende Problematik: Der Gast darf die Suppe nicht kritisieren. Wenn Ihnen die Suppe nicht schmeckt, liegt das daran, dass sie unfähig sind, in dieser Suppe die Genialität des Kochs zu erkennen. Dieser Legitimationsmechanismus von Macht führt dazu, dass per definitionem andere Meinungen, Auffassungen, Ansätze oder Ideen nicht beachtet werden müssen oder sogar als Feindschaft zu betrachten sind, da sie immer nur aus der Perspektive unterlegener Talentiertheit formuliert worden sind. Führungskräfte, die sich durch ihre eigene Genialität legitimieren, werden beratungsresistent, lernunfähig, rigide und durch die Nichtausschöpfung der Leistungspotenziale um sie herum letztendlich auch ineffizient. Meistens scheitern sie irgendwann an einer gravierenden Fehleinschätzung und Fehlentscheidung. Wir glauben, dass es auch noch eine aufgeklärte und rationale Legitimation von Macht und Führung geben kann. Man muss sich als Führungskraft klar werden, dass einem Macht verliehen wird, weil die Menschen, die einem das Mandat geben, dem Machthaber vertrauen. Sie vertrauen auf seine Integrität und Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die verfolgten Ziele und Prinzipien. Sie trauen ihm aber auch zu, die verheißenen Ziele zu erreichen und die auf dem Weg befindlichen Probleme verantwortungsvoll zu lösen. In diesem Sinne spielt man als Führungskraft eine Rolle, die sich durch das Vertrauen derjenigen Leute legitimiert, die das Mandat zur Machtausübung erteilt haben. Man spielt diese Rolle, weil einem zugetraut wird, mit der Macht und den Entscheidungen verantwortungsvoll umzugehen, und nicht etwa, weil der Eindruck besteht, dass man alles besser weiß. Die aufgeklärte Führungskraft wird in dieser Denkweise Widerspruch, divergente Meinungen und andere Ansätze immer als Chance begreifen, die eigenen Ideen weiterzuentwickeln, auszudifferenzieren und zu verbessern. Die in diesem Sinne aufgeklärt handelnde Führungskraft weiß, dass sie ihre Macht (und damit die Ziele, die sie anstrebt, und die Mittel, die sie dafür einsetzt) jederzeit wird rechtfertigen können müssen, wenn man sie fragen würde (man fragt nicht ständig). Eine verantwortungsvoll handelnde Führungskraft wägt jede kritische Entscheidung so für sich ab und nimmt eine verantwortungsvolle Güterabwägung vor, dass man sie aber fragen könnte. Die aufgeklärte Führungskraft tut das, weil sie weiß, dass sie die Macht verliehen bekam, weil man ihr einst zutraute, diesen Güterabwägungsprozess in einer verantwortungsvollen Weise zu handhaben. Aufgeklärt handelnde Führungskräfte erkennen Sie daran, dass Min-
11.6 • Die Legitimation von Führung und Macht
derleistung sanktioniert wird, nicht Widerspruch. Diese Grundhaltung erkennen Sie aber auch daran, dass man bei einer neuen eigenen Idee die Mitarbeiter auffordert, dagegen zu argumentieren, um auf diese Weise festzustellen, ob man wirklich alle Punkte bedacht hat. Dem vorher beschriebenen, von seiner Genialität überzeugten Narzissten würde eine solche Herangehensweise niemals einfallen. Als aufgeklärt handelnde Führungskraft akzeptiert man, dass die eigene Macht durch ein Regelsystem begrenzt wird und man die eigene Macht immer wieder durch entsprechende Leistungen rechtfertigen muss. Man stiehlt sich nicht aus falsch verstandenem Gutmenschentum aus der Verantwortung für schwierige Entscheidungen, sondern nimmt sich der Dilemmata an, auch wenn es bisweilen unpopulär macht. Man hält Kritik und Widerspruch aus, weil man weiß, dass der Grad der Empörung über eine Entscheidung nicht immer der relevante ethische Gradmesser ist. Man wird sensibel für den eigenen Narzissmus in dem Sinne, dass man so viel Selbstvertrauen hat, die eigenen Ziele für verteidigungswert zu halten und sich selbst für kompetent und stark genug, diese Ziele zu erreichen. Man ist sich aber gleichzeitig auch der Relativität und der Konkurrenz von Zukunftsentwürfen und Zielsystemen bewusst und bewahrt sich damit vor der Radikalität, die Grausamkeit und Tyrannei hervorbringt. Man ist sich der Vergänglichkeit seiner Funktionsmacht bewusst und kann sich als Rolle und Teil eines größeren Bezugssystems verstehen, in dem man austauschbar bleiben muss, wenn es stabile Strukturen geben soll. Man investiert in langfristige Beziehungen und Gruppenidentitäten und schafft sich so ein ethisches Gerüst in einer Welt, die im Hinblick auf absolute Werte keinen Halt mehr vermitteln kann. Führungskräfte, die so denken und handeln, sichern eine Kultur und ein Vermächtnis, das weit über die bloßen Resultate hinausreicht, die einmal ihren Erfolg repräsentiert haben. > Menschen, die so handeln, werden wir als große Führer in Erinnerung behalten, weil sie ihre Führungsstärke und ihre Autorität so genutzt haben, dass etwas Bedeutendes geschaffen werden konnte.
239
11
Aufgeklärt handelnde Führungskräfte wissen, dass Macht auf Zeit vergeben wird und durch Leistungen gerechtfertigt werden muss.
Aufgeklärt handelnde Führungskräfte lassen sich auf Regeln verpflichten, vermeiden Radikalität und wissen um ihre Austauschbarkeit.
241
Kommentierte Literatur
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
242
Kommentierte Literatur
Titel
Bemerkung
Jürg Willi: Die Zweierbeziehung: Spannungsursachen – Störungsmuster – Klärungsprozesse – Lösungsmodelle. Analyse des unbewußten Zusammenspiels in Partnerwahl und Paarkonflikt: das Kollusionskonzept. Rowohlt.
Jürg Willi stellt in seinem Buch vier Dynamiken vor, wie Beziehungen durch unbewusste Prozesse in Probleme geraten. Diese Modelle aus der Beziehungspsychologie waren und sind heute noch Ausgangspunkt eines tiefenpsychologischen Verständnisses der Führungsbeziehung. Auch wir haben daraus viele Impulse bekommen, die uns zum Verständnis von Charisma halfen. Jürg Willi ist selbst Psychoanalytiker und Familienpsychotherapeut: Er ging in seinen Modellen von den vier Persönlichkeitsdispositionen aus – narzisstisch, oral, anal und ödipal. Und er stellte hilfreich dar, wie sich die Konzepte auf die Diagnose von Beziehungen anwenden lassen und wie sich mit Ihnen fassen lässt, was aus der Tiefe von den Beteiligten aktiviert wird und dann in der Entwicklung der Beziehung für Beziehungsprobleme sorgt.
Fritz Riemann: Grundformen der Angst: Eine tiefenpsychologische Studie. Reinhardt.
Fritz Riemann schrieb den Klassiker der populärwissenschaftlichen tiefenpsychologischen Persönlichkeitstheorie und Persönlichkeitsstörungen. Von Freund und der Psychoanalyse kommend, unterscheidet er vier Angstformen, die uns prägen und unsere Persönlichkeit in Vermeidung der jeweiligen Angst formen. Er unterscheidet die schizoide, die depressive, die zwanghafte und die hysterische Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung. Sein Grundkonzept fand Eingang in unsere Kapitel über Charisma und Störungsdispositionen von Mächtigen.
Byung-Chul Han: Was ist Macht? Reclam.
Byung-Chul Han beschäftigt sich in seinem Büchlein über die Macht insbesondere mit der Frage nach dem Wesen der Macht. Auf philosophischem Niveau entwickelt er eine Grundauffassung, der wir in unserem diesem Buch zugrunde liegenden Grundkonzept der Macht ebenfalls gefolgt sind: Macht ist nicht nur die Möglichkeit, Willen zu brechen, Macht zeigt sich insbesondere da, wo sie als positive Autorität daher kommt, der man schnell geneigt ist, freiwillig zu folgen. Die Lektüre dieses Buches ist nicht unterhaltend, aber sehr aufklärend, und sorgt dafür, dass man sein Konzept von Macht schärft und entwickelt.
David C. McClelland (mit einem Vorw. von Heinz Heckhausen und Siegbert Krug): Macht als Motiv: Entwicklungswandel und Ausdrucksformen. Klett-Cotta.
McClelland präsentiert eine Theorie der Motivation, die auf Henry Murrays Theorie der Persönlichkeit von 1938 basierte. In seinem Buch »The achieving society« schreibt McClelland, dass die menschliche Motivation drei dominante Bedürfnisse umfasst: das Bedürfnis nach Erfolg, Macht und Zugehörigkeit. Die subjektive Bedeutung jedes Bedürfnisses variiert von Individuum zu Individuum und hängt auch vom kulturellen Hintergrund des Einzelnen ab. McClelland bezeichnete diesen Motivationskomplex als wichtigen Faktor beim sozialen Wandel und der Evolution von Gesellschaften. McClellands Theorie ist verwandt mit Max Webers »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. Eine der wichtigsten Studien, die die Validität seiner Theorien bestätigt, ist die von Bradburn und Berlew (1961), die Erfolgsmotive in britischen Schullesebüchern analysierten und eine Generation später eine enge Korrelation dieser Themen mit dem industriellen Wachstum Großbritanniens zeigten. Mit diesem Buch nähert man sich der Forschungen über die Macht. Wir haben in unseren Ausführungen über Führung immer auch diese Konzepte im Auge gehabt und sahen in der tiefenpsychologisch orientierten Darstellung lediglich ein anderes Verständnis von Motivationen.
Josef Badaracco: Manager zwischen gut und richtig. So entscheiden Sie in schwierigen Führungssituationen. MVG.
Josef Badaracco führt in diesem Buch in die grundlegenden Konzepte der Ethik ein, wobei er diese anhand von Beispielen aus dem Führungsalltag entwickelt. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten ethischen Ansatz oder einer philosophischen Schule. Beginnend bei den antiken Philosophen Griechenlands zeigt Badaracco auf, wie bestimmte ethische Dilemmata der Mächtigen in dieser philosophischen Richtung interpretiert und bewertet worden wären. Das Buch ist ein lesenswerter Überblick über die Geschichte der Ethikdiskussion, eingeführt durch praktische Beispiele des Führungsalltags. Badaracco kommt in seinem Buch zu der Schlussfolgerung, dass nur eine verantwortungsvolle Güterabwägung, nicht aber ein radikaler Regelprozess der ethische Kompass für Führungskräfte sein kann. Dieses Fazit teilen wir absolut.
243
Kommentierte Literatur
Titel
Bemerkung
Josef Badaracco: Lautlos führen. Richtig entscheiden im Tagesgeschäft. Gabler.
Während das oben genannte Buch von Badaracco auch eine theoretische Grundlage der Ethik für Manager vermitteln möchte, hat dieses Buch den Anspruch, deutlich praxisorientierter auf die typischen Entscheidungsdilemmata im Management einzugehen. Ausgehend von Beispielen, die teilweise so vergnüglich wie literarische Kurzgeschichten erzählt werden, führt der Autor erneut in typische Dilemmata-Situationen von Managern ein, um dann Hinweise für verantwortungsvolle Abwägungsprozesse zu geben. Diese werden eher nach ihrer Komplexität und der Art des Dilemmas strukturiert, als nach der philosophischen Schule, die am besten eine Antwort auf diese spezielle Situation geben könnte. Die Grundthese des Buches ist, dass die verantwortungsvollen Führer eher leise (»lautlos«) daherkommen, während sich die ethischen Radikalisierer selbst zu Märtyrern hochstilisieren. Badaracco stellt die provokative Frage, ob viele Märtyrer nicht in der Gesamtbilanz ihres Lebens mehr bewirkt hätten, wenn sie gesinnungsethisch gesehen weniger radikal gewesen wären, dafür aber vielleicht 20 Jahre länger gelebt hätten. Badaracco hat unsere Ideen insofern inspiriert, als dass er noch einmal sehr pointiert herausgearbeitet hat, dass gesinnungsethische Reinheit im Management in den seltensten Fällen zu besseren Entscheidungen führt.
Niccolò Machiavelli: Der Fürst.
»Der Fürst« kann als eine Anleitung für nach persönlichem Erfolg und Macht strebende Politiker und Manager gelesen werden. Machiavelli macht seinem Leser unweigerlich klar, dass für einen Fürsten alle Mittel recht sind, um sein Land in Ruhe und Frieden zu führen. Er liefert eine Logik der Machtergreifung und Machterhaltung ohne zu moralisieren. Für uns war es eine Lektüre, die klar und nicht normativ beschrieb, welche Dilemmata bei der Führung und Machtausübung entstehen können. Bis heute ist man sich nicht einig, wie Machiavellis Ratschläge an Mächtige zu deuten sind: als Unmoral oder als reine Beschreibung.
Victor H. Vroom, Philip W. Yetton: Leadership and Decision-Making. University of Pittsburgh Press.
Victor Harold Vroom, Professor an der Yale University, entwickelte mit seinen Kollegen Philip W. Yetton und später mit Arthur G. Jago ein Entscheidungsmodell, das iterativ über mehrere Stufen den optimalen Entscheidungsstil ermitteln sollte. Das Modell fügte den bloßen stilistischen Vorgaben von Tannenbaum und Schmidt weitere Kriterien hinzu, die für die Entscheidung wichtig waren: Qualitätsanforderung, Selbstverpflichtung, Information des Führers, Problemstruktur, Wahrscheinlichkeit zur Selbstverpflichtung, Zielkongruenz, Konflikte unter den Untergebenen, Information der Untergebenen. Diese Lektüre motivierte uns zu unserem komplexen Führungsmodell mit multiplen Einflussgrößen, wie wir sie in unserem Buch entwickeln. Wobei wir uns aber nicht sehr an eng an diese Buch hielten.
Annegret HugoBecker und Henning Becker: Psychologisches Konfliktmanagement Menschenkenntnis, Konfliktfähigkeit, Kooperation. Dtv.
Dieses Buch ist keine schnelle Anleitung, wie man Konflikte generell vermeiden kann, im Gegenteil: Es zeigt auf, dass Konflikte nicht von ungefähr kommen, sondern dass sie eine Funktion haben. Wo ein Konflikt auftritt, werden oft die Bedürfnisse eines Menschen im Umgang mit anderen verletzt. Die Autoren schildern, welche Arten von Konflikten es gibt (z. B. »Verteilungskonflikte«, wenn die Ressourcen knapp sind), welche Anzeichen einem Konflikt voraus gehen (z. B. wird der Kontakt verweigert) und wie sich Konflikte durch offene Aussprache auch produktiv für das künftige Miteinander nutzen lassen. Wir verwendeten dieses Buch, um unsere Konzepte von Konfliktursachen zu ergänzen und pragmatisch zu erweitern.
Johannes Steyrer: Charisma in Organisationen. Sozial-kognitive und psychodynamischinteraktive Aspekte von Führung. Campus.
Beginnend bei Max Weber, gibt dieses Buch eine Synopsis der gesammelten Ergebnisse der Charisma-Forschung. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem »Neuen LeadershipApproach«. Steyrers Erklärungsmodell baut auf Theorien der kognitiven Informationsverarbeitung bei der Wahrnehmung von Führung auf und thematisiert Rückkoppelungsprozesse in charismatischen Führungsbeziehungen sowie insbesondere tiefenpsychologische Beziehungsdynamik-Modelle. Das Buch ist ausgesprochen ausführlich und fachlich anspruchsvoll und hat uns für unsere Arbeit hinsichtlich des Themas stark beeindruckt und beeinflusst.
244
Kommentierte Literatur
Titel
Bemerkung
Wilfried Gebhardt, Arnold Zingerle, Michael N. Ebertz (Hrsg.): Charisma. Theorie – Religion – Politik. De Gruyter.
Das Buch geht der Frage nach, welche Bedeutung der Charisma-Begriff, so wie er in die Sozialwissenschaften eingeführt wurde, heute noch besitzen kann und inwieweit er zur Analyse moderner sozialer Phänomene taugt. In diesem Sinne bietet der Band eine Bestandsaufnahme der Charisma-Forschung in den Sozialwissenschaften. Der erste Teil umfasst drei Beiträge, die der Explikation und theoretischen Weiterführung des Weberschen Ansatzes gewidmet sind. Im Mittelpunkt des zweiten und dritten Teils steht die Anwendung des erweiterten Charisma-Begriffs auf historische und gegenwärtige Phänomene des politischen und religiösen Lebens. Hier inspirierte uns insbesondere der erste Aufsatz von Winfried Gebhardt über die Grundlinien der Entwicklung des Charisma-Konzeptes.
Helmut Hofstetter: Die Leiden der Leitenden. Datakontext Fachverlag.
Dieses Werk charakterisiert anhand von Fakten und empirischen Erkenntnissen Stärken, Schwächen und Verhalten der Leitenden, ihre Leiden, Führungsstile und Konflikte. Es untermauert, welche Kämpfe sie durchzustehen haben, mit welchen Zielkonflikten sie sich auseinandersetzen müssen und welche Aufstiegsbarrieren als Hürden zu meistern sind. Dieses Buch zeigt systematisch die Rollen-Konfliktfelder in denen eine Führungskraft strukturell steht. Es war für uns ein guter Anfang und Ausgangspunkt für unsere Überlegungen zu den Persönlichkeitsdispositionen und Störungen, die sich im Verlaufe der persönlichen Entwicklung in der Führungsrolle ereignen können.
Jürgen Hesse, Hans Christian Schrader: Die Neurosen des Chefs. Die seelischen Kosten der Karriere. Eichborn
Die Autoren geben auf Basis traditioneller Theorien der Psychologie eine Darstellung der seelischen Krankheiten, wie sie bei Führungskräften vermehrt beobachtet werden können. Die aufgestellte Theorie besagt, dass nicht das Manager-Sein die Krankheiten bedingt, sondern die Krankheiten das Manager-Sein. Mit anderen Worten, es ist kein Zufall, dass neurotische Persönlichkeiten zu Führungskräften werden. Obwohl wir diese Ausgangsthese nicht ganz teilen in unserer Ausführung zu den Störungen, haben wir doch profitiert von der Auseinandersetzung mit diesem Buch.
Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Rowohlt
Sartres führt in diesem anspruchsvollen und umfangreichen Werk aus, wie sich Gruppen entwickeln und zu einem historischen Faktor werden. Dabei fällt der Begriff der Totalisierung einer Gruppe und meint, dass Menschen, die sich zufällig in einer Situation befinden, durch gewisse Umstände aktiviert werden können, sich zusammenzuschließen, Führung auszubilden und zu handeln. Wir haben insbesondere in unserem Kapitel über Führung und Situation profitiert und diese Überlegung als eine Führungskraft übernommen und sind der Auffassung, dass die Totalisierung nicht nur zufällig erfolgt, sondern insbesondere selbst Führungshandeln sein kann.
Manfred F.R. Kets de Vries, Danny Miller: Narzismus und Führung. In: Handwörterbuch der Führung. Schäffer-Pöschel Verlag
Dieser Aufsatz referiert gut drei verschiedene narzisstische Formen und deren Auswirkungen auf die Organisation. Auch enthält dieser Aufsatz eine gute Symptomliste, die man zur Konkretisierung und Diagnostik nützen kann. Insgesamt gesehen, handelt es sich bei dem Aufsatz um eine gute Übersicht über das für Führungspersönlichkeiten so wichtige Phänomen. Wir haben auch von diesem Aufsatz viel Inspiration erhalten.
Warren Bennies, Burt Nanus: Führungskräfte. Die vier Schlüsselstrategien erfolgreichen Führens. Campus.
Die Autoren theoretisieren nicht herum, sondern versuchen, die Gemeinsamkeiten der von ihnen befragten Führungspersönlichkeiten herauszuarbeiten. Es entsteht ein Konzept für erfolgreiche Führung, das wichtige praktische Schlussfolgerungen zulässt. Es verweist uns auf die elementaren Komponenten der Führung und Inspirierte uns, ebenfalls elementare Modelle zur Kommunikation und zum Wesen von Führung selbst und teilweise in Abgrenzung von den beiden Autoren zu entwickeln. Viele Zitate und Anekdoten machen das Buch zu einer einfach zu lesenden, vergnüglichen Kost, die zum Nachdenken anregt.
Burt Nanus: Visionäre Führung. Campus.
Dieses Buch inspirierte uns insbesondere beim Thema Ziele. In diesem Buch beschrieb Nanus 1994, wie die Qualität von Zielen Menschen mehr oder weniger bewegt und motiviert. Wir teilen diese Grundansicht und sind in unserem Kapitel darüber lediglich skeptischer, was Schwierigkeit betrifft, solche Ziele finden zu können.
245
Kommentierte Literatur
Titel
Bemerkung
Wolfgang H. Stähle: Management. Franz Vahlen.
Es handelt sich um einen Kontrapunkt zu unseren Ausführungen hinsichtlich der Zugangsweise zu Management und Führung, da es die verhaltenswissenschaftliche Perspektive wählt. Diesem Buch ist inhaltlich sowie als Gesamtdarstellung Respekt zu zollen. Es hat uns geholfen, in unseren Vorstellungen über Führung nicht einseitig schulisch zu sein und uns in verschiedenen Zusammenhängen befruchtet, insbesondere hinsichtlich unserer Ausführungen zum Thema Situation und Struktur.
Sigmund Freud: Group Psychology and the Analysis of Ego. The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud.
Hier untersucht Sigmund Freund den Zusammenhang von Narzissmus und starken Persönlichkeiten und wahren Führern. Dieser Aufsatz liegt oft unausgesprochen vielen tiefenpsychologisch inspirierten Gedanken über Mitarbeiter und Führer-Verhältnisse zu Grunde –so auch unseren Gedanken über diese Beziehung und über Charisma.
Otto Kernberg: Narzissmus Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. Schattauer
1996 gab Otto F. Kernberg die deutsche Ausgabe seines Buches »Narzisstische Persönlichkeitsstörungen« in der Übersetzung aus dem Amerikanischen heraus. Das Buch behandelt alle Facetten einer Persönlichkeitsstruktur und Störung, die für Psychiater und Psychotherapeuten eine der größten Herausforderungen darstellt – und die auch gesellschaftlich bzw. forensisch eine zunehmend problematischere Rolle spielt. Die neuen »wissenschaftlichen Variationen« über das Thema Narzissmus und Persönlichkeitsstörungen sind in ihm konsequent auf die gesellschaftlichen, strukturellen, therapeutischen und gesundheitsökonomischen Verhältnisse im deutschsprachigen Raum zugeschnitten und bereichern die einschlägige Literatur um ein neues Standardwerk. Wir benützten dieses Buch als Vertiefung unserer Vorstellungen von narzisstischer Störung und des Narzissmus generell.
Kets de Vries: Führer, Narren und Hochstapler: Die Psychologie der Führung. Klett-Cotta.
Obwohl das Buch mit seinen sieben Essays über die Psychologie der Führung bereits einige Jahre alt ist, hat der Autor – ausgebildeter Psychoanalytiker und langjähriger ManagementBerater am INSEAD – ein heute noch aktuelles Werk geschaffen. Ohne die akademischen Disziplinen zu sehr zu bemühen, hat er auf seiner langjährigen Erfahrung aufbauend ein kurzweiliges Stück Managementliteratur geschrieben. Jenseits vom Mainstream werden auf sympathische Weise psychologisches Knowhow und Management-Praxis miteinander verwoben, so dass ein dichter Teppich entsteht, auf dem man ausruhen kann. Ob er von der »Führung als Spiegel«, dem Thema »Macht und Narzissmus« oder vom »Emotionalen Analphabetentum« spricht, Kets de Vries besticht durch sachlich-kraftvolle Argumentation einerseits, andererseits schildert er Beispiele aus der Praxis seiner Klientel, die sich durch (schwarzen) Humor und Anschaulichkeit auszeichnen. So wirft er in seiner Literatur den Leser stets auf die individuelle (Persönlichkeits-)Entwicklung zurück und macht auf diese Weise angenehm betroffen. Da fast wie nebenher ein Teil der psychodynamischen Entwicklungstheorie vermittelt wird, steht das Buch in der Reihe von Literatur, in die man immer wieder einmal hineinschauen kann. Anregungen gibt es allemal, so z. B. zu den Themen Identität, Selbst, (Ohn-)Macht(-Missbrauch), emotionaler Autismus, Hochstapelei, Narren, unbewusste Motive etc. Dabei verzichtet er auf eine modische Trendsprache (»EQ« etc.), sondern fühlt Entscheidungsträgern auf den Zahn und fragt anschaulich nach, welches ihre treibenden Motive sind. »Das Buch kann getrost als Vademecum im Irrgarten der Leidenschaften, Größenphantasien und Machtspiele in der Psychologie der Führung« (Klappentext) bezeichnet werden.
246
Kommentierte Literatur
Titel
Bemerkung
Peter Drucker: Die Praxis des Managements. Econ.
Wenn man dieses Standartwerk von Peter F. Drucker gelesen hat, kann man kaum glauben wie brandaktuell seine Thesen, die er vor über 50 Jahren formulierte, heute immer noch sind. Denn immer noch und immer wieder aufs Neue gewinnen diese Thesen in der Führungsetage an Bedeutung. Zu Recht wurde der letztes Jahr im Alter von 96 Jahren verstorbene Peter F. Drucker als der ‚immer noch jüngste Kopf‘ und als der ‚beständigste Denker unserer Zeit‘ bezeichnet. Wir profitierten von diesem Buch insbesondere bei der Klärung der Frage, worum es beim Thema Führung im wirtschaftlichen Bereich geht – insbesondere, dass das Thema Führung sich auch um Fragen der Struktur und der Organisation von Führung zu kümmern hat.
Hans-Jürgen Wirth: Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. PsychosozialVerlag
Der Gießener Psychoanalytiker und Privatdozent Hans-Jürgen Wirth interpretiert in seiner Untersuchung zu Macht und Narzissmus diese als »siamesische Zwillinge«. Unserer Auffassung geht diese Sicht der Dinge etwas zu weit: Untrennbar, allenfalls um den Preis einer eingreifenden Operation, sind Macht und Narzissmus trotz ihres engen Zusammenhangs nicht. Der Narzissmus in der Politik geht oft auch andere Wege als die Macht. Die sadistische und die narzisstische Ausübung von Macht können konkurrieren. Demokratisch kontrollierte, auf eine Medienöffentlichkeit zugeschnittenen Verhältnissen können die die Macht zwingen, sich jedenfalls coram publico moderat zu geben, gegebenenfalls zu verbergen, wenn sie erhalten werden will. Jedenfalls gebührt dem Autor das Verdienst, Freuds noch allzu grobschlächtige Narzissmus-Konzepte mit Nachdruck revidiert zu haben. Auch die methodischen Schwierigkeiten werden nicht geleugnet. Durch die Auseinandersetzung mit den Thesen und Konzepten dieses Buches profitierten wir sehr – auch in der Abgrenzung von ihnen.
Hannah Arendt: Macht und Gewalt. Serie Piper.
Hannah Arendt hat dieses Buch, das 1970 erstmals erschien, im Angesicht des Vietnamkrieges und unter den Eindruck weltweiter Studentenunruhen geschrieben. In diesem Essay zeigt sie die Abgrenzungen und Überschneidungen der politischen Schlüsselbegriffe Macht und Gewalt. Sie analysiert die theoretischen Begründungen von Gewalttätigkeit und die gewalttätigen Aktionen in Vietnam, in den Rassenkonflikten der USA und bei den Studentenrevolten in aller Welt. Die alte Theorie von Krieg und Gewalt als Ultima ratio der Macht wurde – wenigstens im zwischenstaatlichen Bereich – durch die Kernwaffen ad absurdum geführt. Hannah Arendt formuliert scharf und provozierend aus unserer Wirklichkeit gewonnene Erkenntnisse über die Funktionen von Macht und Gewalt in der Politik. Wir ließen uns von ihr inspirieren und folgerten von ihr ausgehend auf die Führung.
Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Mohr Siebeck.
Untersucht werden grundlegende Durchsetzungs- und Stabilisierungsformen von Macht. Zusammen sollen die acht Abhandlungen so etwas wie eine Landkarte durch das Dickicht der Machtphänomene ergeben. Wir haben von den Essays in diesem Buch sehr profitiert und ließen uns inspirieren von den Begriffen der Verletzungsmächtigkeit und Verletzungsoffenheit. Daraus ableitend bildeten wir die beiden Grundkategorien: Haben- und SeinsMacht und die letztlich aufeinander bezogene Beziehungsstruktur der Macht.
Gustave LeBon: Die Psychologie der Massen. Kröner.
Gustave Le Bon avancierte mit seinem Buch »Psychologie der Massen« zum Begründer der Massenpsychologie. Sein positiver Einfluss auf Psychologie und Soziologie ist unbestritten und wurde nur dadurch etwas getrübt, dass sich Adolf Hitler seines Werkes bemächtigte, um die Massenseele für seine Zwecke zu studieren. Le Bons Hauptthese konzentriert sich darauf, dass das Individuum in der Masse seine Kritikfähigkeit verliert und Dinge tut, die er als Einzelner ablehnen würde. In der Massensituation kommt es zur »psychischen Ansteckung« und der Einzelne neigt zu affektivem, primitiv-barbarischem Verhalten. Der Einzelne gibt in der Massensituation sein individuelles Bewusstsein zugunsten eines Massenbewusstseins auf und lässt seine Handlungen davon leiten. Gefühle, Moral und geistiges Niveau können im Massenkollektiv höher oder niedriger sein als beim Einzelnen. Dieses Buch ist insofern wertvoll gewesen, als es uns noch einmal auf die Wechselwirkung von Führungskraft und Mitarbeiter erinnerte. Wir waren beeindruckt, dass dieses Buch schon 1895 erschienen ist.
247
Kommentierte Literatur
Titel
Bemerkung
Michel Foucault: Analytik der Macht. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.
Michel Foucault hat sich Zeit seines Lebens mit der Macht beschäftigt. Für ihn war die Macht nichts Positivistisches oder Materialisierbares; in diesem Zusammenhang richtete sich Foucault vor allem gegen den Marxismus, der bis mindestens 1968 in Frankreich die vorherrschende wissenschaftliche Deutung der Dinge war. Foucault spricht höchst selten von Macht an sich, sondern eher von Machtbeziehungen. Damit war er oft unser Ausgangspunkt für unsere Vorstellung, dass nämlich Macht eine Beziehungsstruktur ist und nicht ein objektiver Fakt.
Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Bibliothek Suhrkamp.
In diesem 1979 erschienenen Hauptwerk des Philosophen und Friedenspreisträgers Hans Jonas geht es um eine Grundlegung der im technischen (und nicht mehr notwendig religiös grundgelegten) Zeitalter geforderten Ethik, die der Autor am besten mit dem Begriff der »Verantwortung« umreißt. Wir lernten von ihm, als es um die Fragen der Ethik und Moral in der Führung ging, und nahmen aus diesem Werk Inspiration mit.
Bruce W. Tuckman: Developmental sequence in small groups. Psychological Bulletin, 63, 384–399 (1965).
Er war der Autor, der im Rahmen des immer mehr Interesse findenden Themas 1963 eine leicht zu merkende Struktur des Gruppenprozesses prägte, die als Ausgangspunkt enorm bei teambezogenen Überlegungen hilft – obwohl sie insgesamt weniger ein Gesetz als eine Leitidee darstellt. Forming, Storming, Norming, Performing sind Begriffe im Zusammenhang mit Team- und Organisationsentwicklung, die jeder Manager inzwischen kennt. Wir haben dieses Modell gerne aufgegriffen, um zu beschreiben welche Führung in Abhängigkeit gewisser Gruppenphasen nötig und effektiv ist.
Werner Fletcher: Fletchers zynisches Wörterbuch oder Zaungarstige Gedanken. Wolfgang Hager.
Als wir anfingen, uns mit dem Thema Charisma zu beschäftigen, war uns schnell klar, dass dieser Begriff in Deutschland kaum positiv assoziiert ist. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, unsere Wahrnehmung und Erfahrung diesbezüglich darzustellen, fiel uns Werner Fletchers Aphorismus in die Hände. Nebenbei entdeckten wir in ihm einen Könner in Sachen Ironie und Zynismus, was aber weniger Einfluss auf unsere anderen Gedanken zum Thema Führung in diesem Buch hatte.
David C. McClelland: Power – the innner experience. Irvington.
Das Buch interessierte uns sehr, weil es zeigt dass das politische und soziologische Phänomen Macht auch eine psychologische Erfahrung ist. Der Autor zeigt in diesem Sinne die Macht-, die Erfolgs- und Gestaltungsmotivation sowie die Anschlussmotivation in anthropologischem, soziologischem und psychologischem sowie historischem Zusammenhang. Insbesondere wird die Machtmotivation anhand von Machtphantasien und in ihrer Entwicklung beschrieben. Darüber hinaus wird die Machtmotivation als individuelle und kollektive Erfahrung und in ihrem Ausdruck untersucht.
249
Stichwortverzeichnis
M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
250
Stichwortverzeichnis
A
B
Ablauf 136 absichtsvoll 13 Abwägungsprozess 229 Aggression 154, 163, 164 Aggressivität 214 Alltagsarbeit 142 Alltagssymbolik 187 Ambivalenz 80, 159 Analyse 98 Anerkennungsbedürfnis 159 Angriff 154 Angst 32, 34, 37, 38, 40–42, 48, 49, 100, 101, 154 Angstabwehr 35 Angstbindung 35, 39, 50 Angstbindungskraft 49 Ängstigung 79 Angstreduktion 37, 56 Anhänger 55 Anknüpfungsfähigkeit 126 Anordnung 126 Anschlussfähigkeit 74 Anspannung 180 Ansprachestrategie 92 Anstrengung 14 Anstrengungsleistung 13, 15, 18, 70, 220 Antrieb 53 Arbeitgeber 156, 160 Arbeitsatmosphäre 87 Arbeitsbedingung 88 Arbeitsvertrag 16, 139 Argument 153 Argumentationsfigur 72 Aristokratie 59 Asketen 54 Assoziationswelt 185 Aufklärung 79, 224 Auseinandersetzung 163, 167 Ausführung 137 Ausnahmezustand 130 Ausrichtung 16 Ausstrahlung 194, 195 Austarierung 162 Auswahlgespräch 43 Authentizität 170 Autonomie 41, 193, 197, 210 Autonomieorientierung 41, 47, 58, 152, 212 Autonomieziel 123 autoritär 7 Autorität 39, 78, 173, 182, 196, 201 Axiom 78
Balanceorientierung 42, 47, 58, 152, 217 Bedeutungslosigkeit 49 Bedürfnis 85, 87–89 Beeinflussung 175 Beeinflussungsstrategie 92 Begeisterung 32 Begriffsbestimmung 3, 4 Belastung 165 Belastungssituation 159 Belohnung 7, 85, 86 Beobachten 13 Berechenbarkeit 42 Berufspolitiker 30 Bestimmtheit 42 Bestrafung 194 Betroffenheitshorizont 231 beurteilbar 77 Beurteilung 118 Beurteilungskennziffer 118 Beurteilungsleistung 119 Beziehungen 40, 41, 154, 181, 235 Beziehungsangebot 90 Beziehungsbelastung 82, 196 Beziehungsgestaltung 41, 87 Beziehungsgitter 132 Beziehungsorientierung 41, 47, 58, 152, 216 Beziehungsphänomen 48 Beziehungsqualität 154 Beziehungsvertrag 46, 58, 59 Beziehungsvertrag, charismatischer 46 Beziehungsverträge 48 Bildersprache 183, 188 Biografie 133 Biologie 154 Blickverhalten 180 Bonifikation 120 Botschaft 182 Bundeskanzler 183, 196 Bundespräsident 196 Burn-out-Phänomen 209
C Change 142, 211 Change-Manager 145 Change-Prozess 144 Charakter 122, 150, 152 Charakterprofil 39 Charisma 29, 30, 33, 34, 36, 38, 48, 50, 54, 56, 57, 59, 143, 201, 219 Charisma, Entwicklung von 50
Charismatiker 39, 57 Christentum 145, 224 Coaching 206, 215, 217, 218 Coachingprozess 220 Codes, kulturelle 179
D DDR 127 Delegation 115, 124, 166 Delegationsart 125 Delegationsmechanismus 126 Demokratie 72, 200, 203 Demotivation 88 Depression 209 Determination 5 Deutungskraft 98, 102, 110 Deutungsleistung 102, 104 Diagnosesystem 207 Diktator 49 Diktatoren 68 Dilemma 196, 225, 226 Dilemmata, ethisches 8 Disposition 209 Distanz 180 Disziplinierungswerkzeug 84 Dominanz 34, 39, 189 Dominanzfrage 173 Drang 87 Drang, innerer 85 dritter Weg 154 Druck 99, 159 Durchsetzen 91 Durchsetzung 63, 70, 79–81, 83, 154, 158, 197 Durchsetzungsbereitschaft 217 Durchsetzungsmöglichkeit 192 Durchsetzungsressource 203 Durchsetzungsstrategie 81, 82 Dynamik 149
E Effizienz 140, 143, 162 Egozentrismus 218 Eigenkapitalverzinsung 123 Eigenverantwortlichkeit 126 Einflussmöglichkeit 64, 180 Einfühlungsvermögen 90 Einführung 135, 137 Einsamkeit 101, 210 Einsatz 158 Einsatzbereitschaft 200 Einstellungsgespräch 191
251
Stichwortverzeichnis
Einwirkungsprozess 9 Ekstatiker 54 Emotion 33, 34, 154 Emotionalität 163 Empathie 90, 213, 214, 235 Empirie 18 Energie, emotionale 84 Energie, psychische 51–53 Energiequelle 51 Enthemmtheit 58 Enthusiasmus 51, 88, 219 Entscheider 105 Entscheidung 168, 193 Entscheidungsbedarf 99, 150 Entscheidungsfähigkeit 218 Entscheidungsgeschwindigkeit 23 Entscheidungsproblem 104 Entscheidungsstruktur 139 Enttäuschung 17 Entwicklung 53, 60 Entwicklungsmechanismus 126 Entwicklungsschritt 50 Entwicklungsstadien 199 Entwicklungsstand 117 Eremit 16 Erfahrungswelt 121 Erfolg 58, 224 Ergebnis 11 Erkenntniszuwachs 151 Erklärungswert 106 Erwartung, ethische 3 Erziehung 24, 40 Erziehungsleistung 11 Eskalation 82, 163, 164, 168, 170 Eskalationsstufe 82 Eskalationswahrscheinlichkeit 158 Ethik 8, 222, 236 Euphorie 32 Evolution 21, 85 Exekutive 230 Exhibitionist 54 Extremvariante 208
F Fachautorität 105 Fähigkeit 52 Fehleinschätzung 214, 238 Fehlentscheidung 214, 238 Fehlentwicklung 208, 212 Feindschaft 238 Finanzkrise 229 Fitness 38 Flächentarifvertrag 160 Flexibilität 42, 142, 211 Flucht 154
Formalisierung 138 Forming 172 Formulierungsebene 178 Freiheit 4, 42, 190, 218 Freiheitseinschränkung 192 Freiheitsgrad 6, 9, 50 Freundschaft 8 Frieden 84, 160 Friedensschluss 156 Friedfertigkeit 170 Führen mit Zielen 114 Führung, situative 97 Führungsaktion 9, 12, 15, 64, 92, 109, 130 Führungsaktivität 12 Führungsalltag 130 Führungsarbeit 67 Führungsautorität 5, 168 Führungsbedarf 96, 100, 102, 107, 150 Führungsbeziehung 5, 40, 181 Führungseffizienz 140 Führungserfolg 32 Führungsergebnis 10, 12, 131 Führungserlebnis 30 Führungsethik 222 Führungsfähigkeit 21 Führungshandeln 13 Führungsherausforderungen 20 Führungsinstrument 176 Führungsintervention 88 Führungskommunikation 176 Führungskompetenz 29 Führungskontext 135 Führungskonzept 97 Führungs-Kraft 65, 68 Führungskräfteausbildung 84 Führungskräftequalifizierung 176 Führungskultur 180 Führungsleistung 6, 10, 14, 131, 162 Führungsleitbild 232 Führungsmotivation 43 Führungspersönlichkeit 16, 29, 117 Führungspotenzial 93 Führungsprozess 8, 17, 108 Führungsritual 180 Führungsstärke 10 Führungsstrategie 69, 70, 80 Führungsstruktur 9, 10, 12, 21, 55, 56, 131, 134, 135 Führungstheorie 14 Führungstraining 84, 176 Führungsziele 17 Funktion 31, 193 Funktionsfähigkeit 206 Funktionsmacht 60, 196, 201 Fürst 224
A–H
G Gefahr 20 Gefolgschaft 7 Geführtwerden 16 Gegensatz 151 Gehaltserhöhung 160 Genialität 201, 238 Geschäftsführer 107 Geschichte, abendländische 203 Gesellschaftsrecht 203 Gesetz 10, 229 Gesetzgeber 230 Gesinnung 223 Gesinnungsethik 223, 234 Gesprächsführungstechnik 178 Gesprächssequenz 178 Gestaltungsmöglichkeit 191, 192 Gestik 178 Gewalt 158, 164 Gewaltbereitschaft 164 Gewaltherrschaft 145 Gewerkschaft 156 Gewinnmaximierung 74, 232 Glaubwürdigkeit 238 Glück 217 Gott 190 Gottesfurcht 224 Grausamkeit 109, 145 Great-man-Theory 28, 37 Größenphantasie 38, 214, 215 Großkonzern 74 Grundbegriffe, philosophische 222 Gruppe 138, 149, 161 Gruppenarbeit 173 Gruppendynamik 151, 171 Gruppenidentität 235 Gruppenintegration 171 Gruppenleistung 138, 171 Gruppenmitglieder 165, 171 Güterabwägung 226, 230 Gutmenschentum 83
H Handlungsethik 223 Handlungsfähigkeit 150 Handlungssteuerung 177 Handwerkszeug 64 Harmonie 160, 163 Hauptversammlung 203 Hedonismus 18 Helden 19 Herde 24 Hierarchie 6, 139, 193, 210 hierarchisch 22
252
Stichwortverzeichnis
Hinrichtung 192 Hirnforscher 14 Hirnstrukturen 133 Hitler, Adolf 38, 49, 206 Hoffnung 35, 121 Humanismus 35
I Idealist 216 Identität 40, 42, 134, 141, 144, 209 Identitätsverlust 213 Ideologie 49 Imperativ, kategorischer 224 Impulsivität 164 Indikator 72, 106, 116 Individualität 41 Informationsmangel 156 Informationsproblem 104 Informationsstruktur 139 Initiative 67 Innovationsproblem 104 Innovator 105 Instabilität 219 Instanz, psychische 64 Instinkt 133 Institution 132 Instrumentalität 93 instrumentell 92 Inszenierung 180 Integrationsziel 123 Integrität 35, 38, 61, 220 Intensität 180 Interaktion 67, 175 Interesse 151, 154 Interessen 161 Internalisierung 143 Isolierung 214 Ist-Situation 109 Ist-Zustand 104, 109
J Jesus von Nazareth 68, 69
K Kämpfen 155 Kampftechnik 153 Kant, Emanuel 224 Karriere 52 Karriereentwicklung 233 Katastrophe 127
Kennziffer 118 Kennziffer, wirtschaftliche 99 Kernkompetenz 71 Key-performance-Indikator 118 Kindererziehung 134, 167 Kindheit 133 Kohärenz 212 Kohl, Helmut 127 Kommunikation 21, 67, 69, 71, 156, 176, 184 Kommunikation, nonverbale 183 Kommunikationssituation 179 Kommunikationsstil 166 Kommunikationssystem 154 Kommunikationstraining 166, 174 Kompensation 51, 53, 86 Kompensationsleistung 150 Kompensationsnotwendigkeit 52 Kompensationsstrategie 53, 54 Kompetenz 23, 39, 46, 61, 132, 144 Kompetenz, soziale 69, 90 Kompetenzprüfung 203 Kompetenzstärkung 199 Komplexitätsreduktion 22 Kompromiss 81 Konflikt 5, 20, 41, 141, 150, 157, 159, 181, 210 Konfliktbereitschaft 158 Konfliktenergie 167 Konfliktentwicklung 163 Konfliktfeld 156, 168 Konfliktgespräch 176 Konfliktmanagement 150, 151, 159, 160, 162, 165 Konfliktmoderation 167 Konfliktpartei 167 Konfliktpotenzial 214 Konfliktsituation 149, 155 König 30, 183 Konkurrenz 213 Konsequenz 79 Konservatismus 49 Kontext 179, 180, 186 Kontrahenten 163 Kontrolle 179, 196, 209 Kontrollmöglichkeit 42 Kontrollorientierung 217 Kooperation 8 Koordination 24 Körperhaltung 181 Körpersprache 178, 180, 182 Kraft, suggestive 36 Kraftbündelung 32 Krankheitsbild 206 Kränkung 53, 168, 170, 215 Kreativität 126, 235 Krieg 5, 160, 226
Krise 56, 58, 61, 70, 82, 99, 101, 107, 109 Krisenbewältigung 143 Krisenmanager 141 Krisensituation 38, 219 Krisenzeit 57 Kultur 12, 23, 25, 117, 137, 146, 166, 180, 182, 185, 186 Kulturtechnik 135 Kundenzufriedenheit 184 Kündigungswelle 178
L Lage 96 Länder, kommunistische 141 Landesverteidigung 226 Lebensangst 38 Lebensentwürfe 79 Lebensführung 14 Lebenskatastrophe 207 Lebensproblem 128 Lebensschicksal 150 Lebensumstände 207, 209 Lebenswerk 118 Legitimation 237 Legitimationsfrage 196 Lehrer 183 Leidensdruck 53, 79 Leistungsbereitschaft 80, 84 Leistungserbringung 140 Leistungsfähigkeit 118 Leistungssteigerung 81 Leistungsträger 23 Leistungsziel 76 Leitbild 233 Leitbilder 232 Leitung 9 Lernen 132 Lernerfahrung 85 Loyalität 200 Lüge 117, 158
M 3-V-Modell 120 Machiavelli, Niccolò 195, 224 Macht 7, 21, 66, 68, 69, 79, 190, 226, 235 Machtanhäufung 190 Machtausübung 190 Machtbasis 196 Machtbewusstsein 195 Machtdemonstration 66
253
Stichwortverzeichnis
Machtfülle 192 Machtinhaber 203 Machtlose 193 Machtmöglichkeit 68, 80 Machtquelle 194 Machtregelung 203 Machtressource 195 Machtstrategie 199 Machtstreben 126, 206 Machtzähmung 203 Management by Objectives 114 Managementliteratur 97 Managementtechnik 114 Mangelerleben 18 Manipulation 92, 110 Manipulator 93 Mao Tse-Tong 206 Markt 78 Marktwirtschaft 31 Marktwirtschaft, soziale 225 Märtyrer 226 Mediator 161 Meinung 151 Meinungsverschiedenheit 174 Menschenbild 51 Menschenkenntnis 63 Menschenmodell 88 Menschheitsgeschichte 67 messbar 77 Messbarkeit 73, 77, 114, 118, 119 Metapher 105, 182 Militärparade 192 Mimik 178 Minderleistung 216 Missbrauchserfahrung 50 Misserfolg 215 Missverhältnis 122 Missverständnis 156 Mittelwahl 231 Mobilität 200, 211 Moderator 161 Moral 222 Motivation 63, 67, 70, 74, 84, 152, 217 Motivationsmechanismus 40 Motivationsziel 76 Motivator 90 Motivieren 91 Mut 174
N Nachhaltigkeit 220 Nächstenliebe 224 Nähe 180 Narzissmus 212
Narzisst 215 Nationalsozialismus 111, 227 Nationalsozialisten 49 Naturgewalt 190 Networking 199 Netzwerk 199, 211 Neuartigkeit 42 Neuaufbau 142 Niederlage 151, 214 Norm 4, 19 Normen 222 Norming 172
O Oberflächlichkeit 219 Ohnmacht 190, 192, 197 Operationalisierung 73 Opfer 147 Optimismus 17 Organisation 16 Orientierung 41, 43, 109
P Partei 128 Passivität 141 pathologisch 22 Pathologisierung 208 Pathos 191 Perfektionismus 217 Performing 172 Personalauswahl 88, 143 Personalentwicklung 143 Persönlichkeit 11, 28, 117, 134, 194 Persönlichkeitsattribut 39 Persönlichkeitseigenschaft 48, 50 Persönlichkeitsentwicklung 201, 206 Persönlichkeitsstruktur 144 Persönlichkeitsveränderung 200 Persönlichkeitswachstum 92 Persönlichkeitszug 20 Perspektive, philosophische 222 Perspektive, psychologische 2 Pflichtgefühl 220 Philosophie 1 Pilotprojekt 58 Planungsstruktur 139 Politik 115, 126 Politiker 126, 187, 193, 226 Postmoderne 68, 211 Potenzial 52, 212 Potenzial, charismatisches 48
H–R
Prägung 40 Präsentationsschulung 72 Prinzipien 158, 223 Prinzipienfestigkeit 217 Prinzipientreue 35 Priorität 116, 138 Prioritätenkonflikt 119 Privatsphäre 210 Problemtyp 104 Produktivität 76 Profilierungsgewinn 153 Prognose 98, 109 Projektionsfläche 38, 46 Prozess 132, 136, 139, 173 Psychiatrie 207 Psychobalance 51 Psychodynamik 31 Psychohygiene 193 Psychologie 63 Psychologiegeschichte 28 Psychopath 206 Psychopathologie 206, 214
Q Qualifikationsgrad 97 Qualifikationsziel 76 Qualifizierung 72
R Rachsucht 214 Rangkampf 24 Realisierbarkeit 117 Rebell 16, 30, 50, 54 Rechtfertigung 237 Rechtfertigung, ethische 81 Rechtssystem 230 Regel 19, 136, 139 Regelbruch 195 Regelmäßigkeit 130, 143 Regeln 211, 229 Regelsystem 230 Regelübertretung 219 Regelwerk 134 Reifegrad 126 Reifung 88 Reiten 91 Reiter 91 Reizschwelle 159 Religionsstifter 30 Renaissance 224 Renditeziel 123 Reputation 159
254
Stichwortverzeichnis
Revolution 21, 145, 147, 203 Revolutionär 30 Rhetorik 71 Richter 230 Ritual 59 Ritualisierung 55 Rolle 90, 93, 155, 211 Rollenerwartung 156 Rollenkontext 157 Rollenmuster 211 Rudel 24 Rudelführer 34
S Sanierertyp 141 Sanktion 7, 83, 192 Sartre, Jean-Paul 227 Schicksal 117 Schizophrenie 206 Schnittstellenkonflikt 162 Schröder, Gerhard 127 Sehnsucht 116, 122 Sektenführer 110 Selbstbeschränkung 223 Selbstbewusstsein 201, 224 Selbstbild 144, 213 Selbstdarstellung 213 Selbstdisziplin 199 Selbsterhöhung 202 Selbstführung 14 Selbstkontrolle 199 Selbstreflexionsbereitschaft 214 Selbstständigkeit 126, 191 Selbststeuerung 159, 164, 169, 176, 177 Selbstüberschätzung 202 Selbstüberzeugung 60 Selbstvertrauen 12, 18, 56, 60, 215 Selbstwert 210 Selbstwirksamkeitsüberzeugung 55, 142 Sensibilität 90, 159, 165, 179 Sexualität 85 Shareholder 75 Sieg 151 Sinn 6, 22, 32, 33, 65, 69, 197 Sinnangebot 32, 33, 39, 50, 66, 68 Sinnhaftigkeit 120 Sinnstiftung 7, 66, 70, 72 Situation 96 Situationsmerkmal 100 Situationssensibilität 98, 100 Skeptiker 50, 196 Skeptizismus 79 Skulptur 25
SMART 114, 118 Söldner 74 Soll-Zustand 104 Sozialauswahl 179 Sozialfähigkeit 206 Sozialisation 190 Sozialkompetenz 72 Soziopath 236 Spannung 82, 163, 167, 168 Speakers Corner 103 Spielregeln 160, 168 Spontaneität 142, 219 Sprache 4, 178, 182 Sprachwelt 183 Staatsverschuldung 127 Stabilisierung 143 Stabilität 132, 141, 211 Stalin, Josef 206 Stärke 34, 61 Status 41 Stigma 53 Stimulanzorientierung 42, 47, 58, 152, 219 Storming 172 Straßenverkehr 134 Strategie 195 Strategieentwicklung 194 Streitgespräch 167 Struktur 4, 42, 130, 132, 133, 135, 146 Strukturdefizit 165–167 Strukturelement 98–100 Strukturierungsleistung 143 Strukturmerkmal 100 Strukturschaffung 143 Subjektivität 119 Subkultur 127 Suchtproblem 209 Symbol 59 Symbolebene 186 Symbolkraft 177 Symptombild 207
T Taktik 194 Tapferkeit 174 Tarifabschluss 160 Tarifstreit 156 Täuschung 158, 195 Tauschwährung 156 Team 52, 165 Teamentwicklung 172 Teamleitbild 139 Teamleiter 216 Tiefenpsychologie 51 Tiere 154
Tierreich 24, 34 Todesstrafe 223 Totalisierung 102, 107, 127 Transformation 145 Traumatisierung 133 Triebfeder 35, 51, 52 Tyrann 49, 68
U Überforderung 126 Überwindungsleistung 14 Überzeugen 91 Überzeugung 10, 63, 70, 158 Überzeugungskraft 68, 71 Umstrukturierung 142 Umweltschutz 232 unmotiviert 153 Unsicherheit 218 Unternehmenswerte 232 Unternehmensziel 123 Unternehmer 124 Unternehmerpersönlichkeit 124 Unvollkommenes 116 Utilitarismus 225
V Veränderung 42, 139, 142, 143, 145 Veränderungsbegleitung 142 Veränderungsgeschwindigkeit 61 Veränderungsnotwendigkeit 20 Veränderungsprozess 33, 101, 107, 108, 145 Veränderungsresistenz 146 Veränderungsziel 123 Verantwortung 93, 229, 231 Verantwortungsbewusstsein 235 Verantwortungsübernahme 126 Verblendung 29 Verbrecher 3 Verführer 93 Verführungskunst 29, 49 Verhalten 64 Verhaltensbeeinflussung 64, 65 Verhaltenserwartung 155, 181 Verhaltenslenkung 66 Verhandlungslösung 168 Verhandlungsmechanismus 167 Verhärtung 169 Verheißung 32, 35, 114, 185 Verlockung 87 Versöhnlichkeit 170 Versprechen 121
255
Stichwortverzeichnis
Verstand 154 Verständlichkeit 182 Verständniswelt 182 Verteidigung 196 Verteidigungsleistung 164, 174 Verteidigungsziel 123 Vertrauen 17, 35, 38, 39, 50 Vertrauenskrise 61 Vertrauenswürdigkeit 61, 194, 195 Verwirklichungskampf 219 Verzweiflung 159 Vision 17, 70, 126, 128, 219 Visionär 124, 213 Vorhersehbarkeit 42
W Wachstum, organisches 145 Wahrheit 78 Wahrnehmung 97 Wahrnehmungsverzerrung 206 Weg, dritter 154 Weiterentwicklung 174 Weltgeschichte 8, 110 Wert 19, 138, 158 Werte 233 Wertegerüst 235 Werteschema 75 Wertkonservatismus 48 Wertschätzung 89, 216 Wesensmerkmale 6 Widerstand 17, 80, 96, 144, 146 Widerstände 191 Wille 14, 16, 19 Willen 191 Willensakt 176, 177 Willensbildung 15 Win-Win-Lösung 156 Wirkmechanismus 91 Wirtschaftlichkeit 76 Wirtschaftlichkeitskennziffer 76, 118 Wirtschaftlichkeitsziel 75, 77 Wirtschaftsunternehmen 31 Wirtschaftswunder 49 Wohlstand 128 Wunsch 121 Wut 159
Z Zeremonie 59 Zerrissenheit 159 Ziel 14, 22, 33, 71, 72, 80, 106, 109, 114, 124 Zielbildung 18, 55 Ziele 185 Zielfindung 31 Zielhierarchie 76 Zielkonflikt 119 zielorientiert 7, 13 Zielpyramide 120 Zielsetzung 116 Zielsystem 115, 118 Zielvereinbarungsformular 114 Zielvereinbarungsprozess 124 Zielvereinbarungssystem 77, 87 Zielvereinbarungssysteme 118 Zielverfolgung 80 Zukunft 13, 114, 116 Zukunftsangst 37 Zukunftsbild 73, 74 Zukunftsentwurf 18, 73, 239 Zukunftserwartung 18 Zukunftsverheißung 18 Zukunftsvision 49 Zusammenarbeit 20, 87 Zuständigkeit 136 Zutrauen 36, 38, 56, 58, 60 Zwang 66, 79, 83, 185 Zwanghaftigkeit 217 Zwangsmaßnahme 66, 79 Zwangsmechanismus 66
R–Z
Rücknahme oder Umtausch nur mit ungeöffneter Datenträgerverpackung
Systemvoraussetzungen: Die CD läuft unter allen Windows-Betriebssystemen bei Windows Vista, unter allen Mac OS-Betriebssystemen bis Mac OSX und unter allen Unix-Betriebssystemen.