HEYNE‹
WILLIAM KING
Ragnars Mission
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Ragnars Mission
...
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HEYNE‹
WILLIAM KING
Ragnars Mission
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Ragnars Mission
WILLIAM KING
PROLOG
Die Granate sauste vorbei, und Ragnar warf sich flach hinter einen niedrigen Geröllhaufen, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Das war knapp gewesen, allzu knapp. Der Schuss hätte ihm beinahe einen neuen Scheitel gezogen. Nur seine blitzschnellen Reflexe und die Mikrosekunde der Vorwarnung durch seine übermenschlichen Sinne hatten ihn noch rechtzeitig ausweichen lassen. Hätte er sich auch nur einen halben Herzschlag später geduckt, wäre sein Kopf ein explodierender Springbrunnen aus Blut und Knochen gewesen. Ragnar hatte es zu oft miterlebt, um in diesem Fall an seinem weiteren Schicksal zu zweifeln. Jetzt war jedoch nicht der rechte Zeitpunkt, darüber zu grübeln, was hätte geschehen können. Jetzt war es Zeit zu handeln, Zeit, die Ketzer, welche ihn zu töten versuchten, für den Angriff auf einen der auserwählten Space Marines des Imperators zu bestrafen. Er hob den Kopf ein wenig über den Wall aus Geröll, und seine übermenschlichen Sinne nahmen die gesamte Szenerie auf. Alles prägte sich ihm in einem Sekundenbruchteil ein, dann duckte er sich sofort wieder, bevor seine Feinde schießen konnten. Er ging alle Eindrücke durch, die er aufgeschnappt hatte. Nicht nur die Bilder, sondern auch Geräusche, Gerüche und die weniger konkreten Hinweise der Sinnesmischung in seinem veränderten Gehirn. Er rief sich die in Schutt und Asche liegende Stadt ins Gedächtnis, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Die riesigen geschwärzten Stümpfe von zerstörten Wolkenkratzern, die ausgebrannten Wracks von Fahrzeugen und Panzern in den Straßen. Die infernalische Hitze der Ölpumpstation, die von einer Rakete getroffen worden war und bereits seit Tagen brannte, sodass riesige Flammenzungen in den sich verdunkelnden Himmel loderten. Er erinnerte
sich an die rotvioletten, von Chemikalien aus den riesigen Industrieanlagen verseuchten Wolken, welche dieser Stadt früher Wohlstand gebracht und Bedeutung für das Imperium verliehen hatten. Er erinnerte sich an den markerschütternden Donner weit entfernter Artillerie, als Basiliskenpanzer die Stellungen der Rebellen beschossen hatten, und an das Knattern leichter Waffen nicht ganz so weit entfernt. Er konnte die gutturalen Rufe von Rebellenoffizieren hören, die ihren Truppen neue Abwehrstellungen zuwiesen, und das leise, für normale menschliche Ohren unhörbare Kratzen von Ceramitstiefeln auf Stein, welches ihm verriet, dass seine eigenen Truppen in der Nähe waren. Er hörte sogar heraus, dass es sich um die Schritte des jungen Bruder Reinhardt handelte. Er nahm sich vor, nach Beendigung dieser Kampfhandlungen ein Wort mit der Blutkralle zu wechseln. Der Mann sollte sich möglichst lautlos bewegen. Nicht einmal sein Anführer hätte in der Lage sein dürfen, seine Position anhand des Lärms auszumachen, den er verursachte. Natürlich standen Ragnar andere Wege zur Verfügung, seine Truppen ausfindig zu machen. Der Wind trug ihre unverwechselbare Witterung auch noch über Entfernungen von fünfzig Schritt zu seinen empfindlichen Nüstern. Er konnte ihren sauberen, kalten Geruch auch vor dem chaotischen Hintergrundgestank ausmachen: die industrielle Verschmutzung, die nach faulen Eiern roch, und der subtilere, noch widerlichere Gestank, der die vom Chaos verdorbene Anwesenheit von Ketzern verriet. Bei Russ’ Knochen, wie er diesen üblen Gestank hasste! Er hatte sich nie daran gewöhnt, obwohl er bereits seit über einem Jahrhundert bei unzähligen Gelegenheiten seinen Geruchssinn beleidigte. Der Witterung jener, welche ihre Seelen dem Chaos verschrieben hatten, haftete etwas extrem Widerwärtiges an, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten und sein Herz von einem blutigen Verlangen erfüllt war, zu töten und zu zerreißen. Nicht einmal sein Verdacht, dass dies ein gewollter Nebeneffekt jener Veränderung war, die ihn in einen Space Marine verwandelt hatte, konnte an der grundlegenden,
urtümlichen Natur seines Hasses etwas ändern. Der unstillbare Zorn wirkte sich auf einer so instinktiven Ebene auf ihn aus, die dem Drang eines Wolfs entsprach, sich Beute zu suchen. Eine zutreffende Analogie, dachte Ragnar, denn er war ein menschlicher Wolf, und der Abschaum der Chaos-Anbeter war seine rechtmäßige Beute, ein passender Gegenstand der Vergeltung des Imperators, die von ihm und seinen Kameraden, den übermenschlichen Beschützern der Menschheit, geübt wurde. Die Chaos-Anbeter hatten der Menschheit den Rücken gekehrt und sich im Tausch gegen Macht − oder vielmehr das Versprechen von Macht − den Göttern der Finsternis angeboten. Die einzige Belohnung, welche den meisten dieser irregeleiteten Narren winkte, waren die Stigmata der Mutation und die Degeneration von Verstand und Geist, bis die Seele eine innerliche Entsprechung des äußeren verunstalteten Leibes war. Es würde ein Akt der Gnade sein, sie zu töten, bevor es dazu kam, wenngleich die meisten von ihnen die natürliche Gerechtigkeit eines derartigen Endes niemals zu würdigen wissen würden. Hier, inmitten dieser schwebenden Ruinen, kam ihm der Gestank sogar noch schlimmer vor als üblich, denn mit den Ausdünstungen des Chaos ging der Gestank nach Krankheit einher, nach irgendeiner üblen Seuche, mit der sich die Ketzer und die Bewohner Hesperidas gleichermaßen infiziert hatten. Es war ein saurer, unreiner Geruch, der ihm die Kehle zuschnürte. Er ließ zu viele alte Erinnerungen in ihm aufsteigen, die er längst vergraben wähnte. Er drängte sie in den Hintergrund seines Bewusstseins. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, sich in Tagträumen zu verlieren. Diese Überlegungen hatten nicht länger als vielleicht fünf Herzschläge gedauert. Inmitten der Schlacht arbeitete Ragnars Verstand viel schneller als derjenige eines gewöhnlichen Menschen. Ihm ging auf, dass er sich nur beschäftigt hatte, bis seine Truppen ihre Positionen für den abschließenden Angriff eingenommen hatten. Er durchforstete selektiv seine Erinnerung an die soeben erlebte Szene, indem er seine übermenschlichen Fähigkeiten mit einem Geschick einsetzte,
das langen Dekaden der Übung entsprang. Unter Anwendung uralter Meditationstechniken, die ihm im Festungskloster seines Ordens beigebracht worden waren, konzentrierte er sich auf den Eindruck desjenigen Teils des Schlachtfelds, der augenblicklich wichtig für ihn war: die Stellung der Rebellen direkt voraus. Ganz bewusst selektierte er alle wichtigen Einzelheiten. Die Wälle aus Sandsäcken, die hastig errichtet worden waren, um die Löcher in den Häusermauern zu stopfen. Der schwere Schützentrupp, der sich im Wrack eines Panzers genau vor dem Gebäude versteckte. Der Rand einer Schirmmütze auf dem Kopf eines Rebellenoffiziers, der aus einem der vergitterten Fenster in den Überresten des ersten Stocks spähte. Alles war mehr oder weniger so, wie er es erwartet hatte, nachdem er dieses Bollwerk des Feindes zuvor in Augenschein genommen hatte. Es hatte keine wichtigen Änderungen in der Aufstellung der Ketzer gegeben. Sein grundsätzlicher Plan war nach wie vor fehlerlos. Es ging ganz einfach darum, sie an ihrem schwächsten Punkt zu treffen, die Sandsäcke aus dem Weg zu sprengen und dann das Gebäude von jedem einzelnen erbärmlichen Chaos-Anbeter zu säubern. Nicht allzu schwierig, dachte er − obwohl seine Streitmacht zahlenmäßig mindestens eins zu fünf unterlegen war. Solche Zahlen spielten im Grunde keine Rolle. In einer Schlacht wie dieser war die Qualität der Truppe erheblich wichtiger als die Quantität. Seine Männer waren Space Marines, Adeptus Astartes, erfahrene Krieger, die aus einer Welt grimmiger Kämpfer stammten und die härtesten Prüfungen überstanden hatten, welche je ersonnen worden waren, um anschließend durch einen Prozess der genetischen Neustrukturierung in Supermenschen verwandelt zu werden, die um ein Vielfaches schneller, stärker und zäher als gewöhnliche Sterbliche waren. Sie hatten die besten Waffen und die beste Ausrüstung, die das Imperium zur Verfügung stellen konnte. Sie lebten ein Leben mönchischer Disziplin. Wenn sie nicht in Diensten des Imperators kämpften, trainierten sie den Kampf. Sie waren die schlagkräftigsten Truppen, welche die
Millionen Welten des Imperiums der Menschheit hervorbringen konnten. Und ihre Gegner? Abschaum, schlicht und ergreifend. Sie waren Zwangsverpflichtete, in den Dienst eines schurkischen planetaren Statthalters gepresst, Männer von so schwachem Glauben, dass sie ihren dem Imperator geleisteten Gefolgschaftseid gebrochen und sich mit Leib und Seele den dunklen Mächten des Chaos verschrieben hatten. Natürlich hatten sie eine militärische Ausbildung absolviert, und es fehlte ihnen auch nicht an einer gewissen verzweifelten Tapferkeit, aber es war ausgeschlossen, dass sie einem Angriff der Wolfskrieger standhalten konnten. Ragnar wusste, dass der Rest seiner Truppe in Stellung war. Er spürte, dass die Blutkrallen, wilde junge Sturmtruppen, in der Deckung eines Granattrichters nicht weit entfernt kauerten. In wenigen Augenblicken würden Bruder Hrothgars Langfänge das Feuer eröffnen und damit das Signal für den Angriff geben. Ragnars Lippen kräuselten sich zu einem wölfischen Lächeln und entblößten dabei lange Eckzähne, das genetische Markenzeichen seines Ordens. Die nächsten Minuten waren immer die Zeit, die ihm am besten gefiel, wenn die Kämpfe persönlich wurden und ein Krieger sich mit seinen Feinden im Nahkampf messen konnte. Ein flimmernder Kondensstreifen reichte ihm als Signal, dass Bruder Hrothgar das Feuer eröffnet hatte. Die feindliche schwere Waffe verschwand in einer sonnenhellen Explosion, da der Raketenwerfer sein Werk verrichtete. Das Stakkato-Hämmern von Boltwaffen dröhnte in Ragnars Ohren, als der Rest seiner Männer die feindliche Stellung unter Beschuss nahm. Sie legten einen Geschossvorhang, wie es nur Space Marines vermochten, indem sie mit einer Schnelligkeit und Genauigkeit schossen, die minderwertigere Krieger nicht nachvollziehen konnten. Ragnar riskierte noch einen Blick und sah, wie der unablässige Strom von Boltpatronen gewaltige Steinblöcke in kleine Splitter zerlegte. Er konnte die Schreie verwundeter und sterbender Feinde hören und das Blut und den sauren Gestank aus
Bäuchen quellender Gedärme riechen. Der Feind war voll und ganz festgenagelt von dem unerwarteten Geschosshagel, da er nicht in der Lage oder nicht bereit war, den Kopf aus der Deckung zu heben und das Risiko einzugehen, ihn zu verlieren. Ragnar wusste, dass es nicht lange so bleiben würde, dass ihre Feinde bald ihren Mut zusammennehmen und das Feuer erwidern würden − wenn sie noch Gelegenheit dazu bekamen. Ragnar hatte nicht vor, sie ihnen zu geben. Jetzt war der richtige Moment zum Angriff. Der Wolfskrieger sprang leichtfüßig auf, wobei die Servomotoren seiner jahrhundertealten Rüstung so leise jaulten, dass nur seine eigenen, unendlich scharfen Sinne den Laut wahrnahmen. Er eilte mit langen Sätzen der feindlichen Stellung entgegen, zuversichtlich, dass seine hervorragend ausgebildeten Truppen ihn erkennen und das Feuer einstellen würden. Er wusste, dass das zwanzig Mann starke Rudel der Blutkrallen hinter ihm einen Angriffskeil bildete. Sie zielten auf den Stapel Sandsäcke in der durchbrochenen Mauer, das schwächste Glied in der Kette der feindlichen Linie. Einen Augenblick später hatten die Wölfe ihr Feuer auf diesen Bereich eingestellt und konzentrierten ihren Beschuss auf die daran angrenzenden Abschnitte und auf Stellungen mit Blick darauf. Für einige wenige Augenblicke war der Weg zum Ziel für Ragnar und seine Sturmtruppen frei, ein sicherer Korridor hatte sich durch den Geschosshagel aufgetan. Einer der feindlichen Offiziere, der eine Schirmmütze und den langen Mantel eines Leutnants trug, wagte es, den Kopf über das Bollwerk zu heben, da er sich offensichtlich fragte, warum seine Stellung nun nicht mehr von Boltpatronen eingedeckt wurde. Ein Ausdruck der Überraschung und Furcht huschte über sein Gesicht, als er die heranstürmende Welle der Space Marines sah. Ragnar zollte Ehre, wem Ehre gebührte: Der Anblick lähmte den Ketzer nicht lange. Nach einem Moment des Zögerns wandte er den Kopf und rief seinen Truppen Anweisungen zu.
Das war ein Fehler. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, hob Ragnar seine Boltpistole und jagte dem Mann eine Patrone in den Kopf. Er explodierte wie eine Melone, die von einem Vorschlaghammer getroffen worden war, und die Schirmmütze war mit Gehirnmasse und Blut gefüllt, als sie auf den Boden fiel. Rufe der Verwirrung ertönten hinter dem Wall aus Sandsäcken, dann hoben ein paar Ketzer, die tapferer und vielleicht auch erfahrener als die anderen waren, den Kopf, um auf die Angreifer zu schießen. Doch eine Welle vernichtenden Feuers brandete ihnen entgegen und schleuderte ihre Leichen zurück und mitten zwischen ihre Kameraden. Mit einem einzigen gewaltigen Satz übersprang Ragnar die Sandsäcke und landete in der Stellung der Rebellen. Es war dunkel, aber seine genetisch veränderten Augen passten sich sofort an, und er wurde sich seiner neuen Umgebung mit einem Blick gewahr. Er war von Feinden umringt, Männern in den zerknitterten und schmutzigen Uniformen, die sie früher als Teil der Imperialen Streitkräfte voller Stolz getragen hatten, aber die Insignien waren abgerissen und hastig durch das böse Symbol der Mächte des Verderbens ersetzt worden: acht Pfeile, die aus einem wachsamen Auge nach außen strahlten. Der Krankheitsgeruch war stark, stärker noch als die Ausdünstungen der ungewaschenen Leiber und der Gestank des Todes. Alle Ketzer sahen ausgemergelt und verdreckt aus. Manche ließen Anzeichen von etwas weitaus Schlimmerem erkennen. Die meisten Männer sahen noch weitgehend menschlich aus, und nur kleine Beulen und Blasen deuteten an, wie sie sich veränderten. Einige wenige waren jedoch stärker entstellt und auch äußerlich sichtbar von der bösen Macht verdorben worden, der sie dienten. Ein schuppenhäutiger Mutant in Ragnars Nähe umklammerte sein Lasergewehr mit Fingern, die kleinen Tentakeln ähnelten. Seine Augen saßen auf langen schneckenartigen Stielen. Ein zweiter Ketzer war riesig: eine tonnenförmige Brust, die Arme so dick wie die Oberschenkel eines Menschen, die Finger in langen, mörderischen Krallen endend. Sein Gesicht war mit Kratern übersät, in denen eine grünli-
che, pilzartige Flechte leuchtete und aus denen ein absonderlich schillernder Eiter sickerte, während er den Mund öffnete, um eine Warnung zu rufen. Ragnar drückte mit dem Daumen auf den Einschaltknopf seines Kettenschwerts, und die gewaltige Waffe erwachte in seinen Händen zitternd zum Leben, da der starke Mikromotor im Knauf die rotierenden Klingen auf Geschwindigkeit brachte. Ohne nachzudenken, gab er ein paar Schüsse ab und schickte den krallenbewehrten Riesen mit einem Loch im Bauch, durch das eine Faust gepasst hätte, geradewegs in die Hölle. Die Wucht des zweiten Schusses schleuderte Schneckenauge drei Schritte rückwärts gegen die Mauer. Ragnar knurrte zufrieden und duckte sich dann, als zwei der Rebellen sich immerhin wieder so weit gefangen hatten, dass sie auf ihn schossen. Schillernde Laserstrahlen zuckten über seinen Kopf hinweg. Hinter ihm ertönten Schreie, als sie andere Ketzer trafen, die versucht hatten, sich anzuschleichen. Er warf sich vorwärts, ließ das Kettenschwert in weitem Bogen herumsausen, enthauptete einen Mutanten und hackte einem zweiten den Arm ab, bevor sich die Klingen tief in die Brust eines dritten bohrten. Mit einem raschen Tritt beförderte der Wolf die Leiche von den Klingen und rannte weiter, dem Ausgang aus der Kammer entgegen. Triumphierendes Geheul und verzweifelte Schreie in seinem Rücken verrieten ihm, dass seine Kameraden, die Blutkrallen, eingetroffen waren und bereits damit begonnen hatten, ihre Feinde niederzumetzeln. Ragnar lief in den Korridor. Der Kopf eines Ketzer-Offiziers lugte um eine Tür. »Was ist da los?«, rief er auf imperialem Gothisch mit merkwürdigem Akzent. Das Gesicht des Mannes sah kränklich blass aus. Sein Körper hatte die hagere Gestalt von jemandem, der eine lange Krankheit durchgemacht hatte. Seine Augen brannten in einem fiebrigen Licht. Offensichtlich hatte er in Ragnar nicht das erkannt, was dieser war. Der Wolfskrieger trennte ihm mit einem Seitwärtshieb den Kopf von den
Schultern. Blut sprudelte und bespritzte die Decke. Ragnar hörte Schreie, als die Leiche rückwärts in den Raum hinter der Tür schwankte. Rasch halfterte Ragnar seine Pistole und tippte auf den Knauf des Mikrogranatenspenders an seinem Gürtel. Die kleine ovale Scheibe einer Splittergranate fiel in seine behandschuhten Finger. Er drückte dreimal auf den Zünder und stellte damit eine Zündzeit von drei Sekunden ein, dann warf er die Granate in den Raum. Er bezweifelte, dass die verängstigten Männer darin durchschauten, was vorging, bis sie wenige Herzschläge später von der Gewalt der Explosion in Stücke gerissen wurden. Ragnar spähte in den Raum und begutachtete die verstümmelten Leichen. In all dem Chaos bewegte sich noch ein Mann, der hektisch versuchte, sein Lasergewehr auf den Wolf zu richten, während sein Atem mit gurgelnden Geräuschen aus seiner durchlöcherten Brust rasselte. Bevor der Ketzer ihn aufs Korn nehmen konnte, riss Ragnar seine Boltpistole aus dem Halfter und erlöste ihn mit einem präzisen Schuss von seinem Elend, bevor er auch nur ein Hilfsgebet an seine finsteren Götter richten konnte. Der Space Wolf hielt einen Augenblick inne, um zu lauschen. Überall ringsumher konnte er hören, wie sich der Lärm des Kampfes und des Sterbens in dem Gebäude ausbreiteten wie Wellen in einem Teich, in den ein schwerer Stein gefallen war. Er wusste, dass seine Krieger wie ein reinigendes Feuer durch das ganze Gebäude fegten und den dunklen Makel der Ketzerei ausbrannten. Nichts konnte sich ihrem erbarmungslosen Ansturm widersetzen. Der Gestank nach verbranntem Fleisch und offenen Wunden, nach Blut und leeren Boltpatronen, nach Knochenmark und Hirnmasse drang in seine Nüstern. Die Strömungen in der Luft führten ihm noch andere, subtilere Gerüche zu: die schwachen Pheromon-Spuren von Angst und Wut, die unverkennbare Witterung seiner Schlachtbrüder, den üblen Makel von chaosinfiziertem Fleisch und wiederum den sauren Geruch einer seltsamen Krankheit. Der Sieg war zum Greifen
nahe. Die Witterung von Bruder Olaf erreichte ihn, der sich schnell von hinten näherte. Olaf war der jüngste der Blutkrallen und der labilste. Von allen Blutkrallen war er bei seiner Verwandlung in einen Wolfskrieger der Degeneration zu einem Wulfen am Nächsten gekommen und hatte mit jenen verwünschten Mensch-Bestien eine schreckliche Wut und einen unstillbaren Durst nach Kampf gemeinsam. Ragnar wusste, dass der junge Mann mit der Zeit ruhiger werden und seinen Frieden mit der Bestie in sich schließen würde. Alle Wolfskrieger taten das irgendwann − vorausgesetzt, sie überlebten ihre Initiation. Ragnar riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass die Bestie fast vollständig die Herrschaft über Bruder Olaf übernommen hatte, da der junge Krieger hinter ihm heranstürmte. Seine Augen waren aufgerissen, die Pupillen geweitet. Schaum troff von seinen Lippen, und Speichel sabberte aus seinem Mund. Seine Nackenmuskeln wanden sich wie dicke Kabelstränge, während er vor Wut und Blutdurst brüllte. In diesem Augenblick war er eindeutig außer Kontrolle. Der Geist des Wolfs war in ihm. Ragnar trat beiseite, um ihn vorbeizulassen, und die Blutkralle raste den Korridor entlang auf die nächste Welle von Ketzern zu, die vom Kampflärm angelockt wurden. Ragnar folgte ihm und begnügte sich für den Augenblick damit, zu beobachten und nur dann einzugreifen, wenn der Jüngling mehr Probleme bekam, als er lösen konnte. Obwohl das nicht sehr wahrscheinlich war. Olafs Boltpistole spie Tod auf die vorderen Ketzer, und Augenblicke später sprang er über die Leichen der Getroffenen, um den Überlebenden mit seiner Klinge Tod und Verderben zu bringen. Unablässig hauend und stechend, trieb er die Ketzer vor sich her durch den Korridor. Die Falle schnappte erst zu, als er eine offene Tür passierte. Ein gewaltiger Arm zuckte hindurch, und eine Faust von der Größe eines Schildes schloss sich um Bruder Olafs Kopf. Im gleichen Augenblick witterte Ragnar einen Ogryn, einen der großen Unmen-
schen, die manchmal den regulären Imperialen Armeen beigeordnet waren, Mutanten, denen das Imperium wegen ihrer Zähigkeit, Loyalität und Stärke zu leben gestattete. Unglücklicherweise waren sie auch sehr dumm und folgten ihren Offizieren in die Ketzerei, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden. Jetzt hatte einer von ihnen Bruder Olaf in einem Griff gepackt, der so stark war, dass er sogar den Schädel eines Space Marine zermalmen konnte, indem er einfach nur die Finger krümmte. Ragnar würde ihm dazu keine Möglichkeit geben. Er sprang vor und trennte die riesige, mit Beulen übersäte Hand am Gelenk ab. Sie fiel zu Boden, und für einen Moment krümmten die Finger sich in einer Nervenreaktion, sodass die Hand über den Boden zu huschen schien wie eine riesige Spinne. Hinter der Tür ertönte ein Gebrüll aus Wut und Schmerz. Ragnar trat vor und schaute hindurch. Ein riesiges Gesicht starrte auf ihn herab, der Mund vor Wut verzerrt. Sogar die Gesichtszüge des Ogryn wiesen Krankheitsspuren auf. Riesige eitergefüllte Blasen verunstalteten Wangen und Hals. Der durch die schleimgefüllte Lunge rasselnde Atem klang äußerst ungesund. Dennoch ließ der Ogryn kein Anzeichen von Schwäche erkennen, in seinen Augen stand der unverminderte Drang zu verstümmeln und zu töten. Ragnar hob seine Pistole und jagte eine Kugel in eines der Augen des Ogryn. Dennoch fiel er nicht, sondern griff mit seiner verbliebenen Hand nach ihm. War dieses Geschöpf einfach zu dumm zum Sterben?, fragte sich Ragnar. Oder war hier irgendeine finstere Zauberei am Werk? Nicht, dass es ihn interessiert hätte. Während er Olaf mit einem Stoß außer Reichweite des Ungeheuers beförderte, warf er sich zur Seite. Der Ogryn ließ die Faust herabsausen, als wolle er eine Fliege zermalmen. Obwohl nicht im Gleichgewicht, verfügte Ragnar noch über die Körperbeherrschung, um mit seinem Kettenschwert zuzuschlagen. Es trennte zwei Finger ab und grub sich in die Innenseite der Hand des Ungeheuers. Wie ein Kind, das eine glühende Herdplat-
te berührt hatte, zog der Ogryn die Hand mit einem schneidenden Zischen zurück. Ragnar hielt sich am Knauf seines Kettenschwerts fest und wurde hochgehoben. Er spürte, wie er fiel, als die Klingen keinen Halt mehr fanden. Doch für einen kurzen Moment hatte er freies Schussfeld auf das Ungeheuer, also jagte er ihm eine Kugel ins andere Auge in der Überzeugung, es zu blenden werde ihm jeden Vorteil in dem Kampf geben, den er brauchte. Es war mehr als genug. Diesmal fuhr die Kugel glatt durch den dicken Schädel des Unmenschen und verteilte sein Hirn über die Wand der Kammer. Die riesige Leiche fiel wie eine stürzende Eiche. Ragnar landete auf den Füßen, und als er sich umsah, stellte er fest, dass Bruder Olaf im Korridor einen Pfad des Todes und der Zerstörung hinter sich gelassen hatte. Unter den gegebenen Umständen hielt Ragnar es für ratsam, ihm zu folgen. Olaf war zu einer großen Halle vorgedrungen. Die Decke war halb weggesprengt, und Splitter von Keramikfliesen lagen überall auf dem Boden. Freigelegte Rohre ragten aus dem Boden, und elektrische Leitungen wanden sich wie Schlangen aus den Überresten der Seitenwände. Die Ketzer wogten verwirrt hin und her und schienen sich nicht entscheiden zu können, ob sie angreifen oder aus dem Gebäude fliehen sollten. Die Unentschlossenheit kostete sie das Leben. Olaf stürzte sich auf sie, schlug mit dem Schwert nach links und rechts und tötete mit jedem Hieb. Sein geheulter Schlachtruf erreichte auch die entferntesten Winkel der Halle wie der Schrei eines Rachegeists. Ragnar war nur zwei Schritte hinter ihm und, falls das überhaupt möglich war, noch tödlicher. Er kämpfte mit einer mühelosen Eleganz und Präzision, wo keine Bewegung verschwendet war und kein Hieb fehlging, und schlug um sich wie ein aus uralten Legenden erwachter Kriegergott. Bevor sie überhaupt erkannt hatten, was geschah, war die Hälfte der Ketzer bereits tot. Die übrigen wandten sich zur Flucht, doch Ragnar jagte ihnen Boltpatronen in den Rücken, bevor sie den Ausgang erreichten, da er nicht bereit war, seine Klinge
mit dem Blut solcher Feiglinge zu besudeln. Olaf sah sich mit funkelndem Blick um, ein Wolf im Blutrausch auf der Suche nach mehr Beute. Zu sehen war keine, aber das spielte keine Rolle. Er warf den Kopf in den Nacken und blähte die Nüstern, da er die Witterung weiterer Ketzer aufzunehmen versuchte. Er schien etwas wahrzunehmen, denn er legte den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment − bevor er zu einer Metalltür im hinteren Teil der Halle schritt. Bevor die Blutkralle sie erreichte, wurde die Tür aufgestoßen, und ein Mann trat hindurch. Er war hoch gewachsen und mager mit pergamentblasser Haut und Augen, in denen ein widerlich grünes, in der Düsternis der Halle gut zu erkennendes Licht flackerte. Er trug die Uniform eines Offiziers der planetaren Streitkräfte, war aber offensichtlich mehr als das, mehr und vor allem schlimmer. Eine riesige Wolke von Fliegen umschwirrte ihn. Sie krabbelten auf ihm herum und bedeckten den oberen Teil seines Schädels wie ein Helm. Ihr Wogen entblößte immer wieder Flecken lepröser weißer Haut, deren Anblick noch obszöner war als derjenige der Insekten. Das Gesicht des Mannes war hager und beinahe fleischlos. Die Wangen waren eingefallen und die Lippen gebleckt, sodass Zähne und durch große weißliche Abszesse entstelltes Zahnfleisch zu sehen waren. Der Anblick erinnerte Ragnar an einen Schädel, aber das lebendige Fleisch, das noch daran klebte, machte ihn weitaus entsetzlicher, als es die Knochen der Toten je sein konnten. Der Gestank nach Krankheit war so stark, dass Ragnar sofort wusste, dass hier der Ursprung der Seuche war, mit der sich die Ketzer infiziert hatten. Ragnar unterdrückte einen Schauder, denn er sah die Anwesenheit böser Magie. Dieser Mann war ein mächtiger Zauberer und zweifellos der Chaos-Macht Nurgle verschrieben, dem Fürsten der Pestilenz. Olaf war das egal. Er stürzte sich auf den Neuankömmling, als sei er nur ein gewöhnlicher Soldat. Der Zauberer grinste und entblößte dabei verfaulte Zähne, dann beschrieb er eine ausladende Geste mit
einer Hand. Eine Aura finsterer Energie bildete sich um seine Krallenfinger und verdichtete sich zu einer Kugel aus leuchtend grünem Feuer, als er die Geste beendete. Summend wie der Fliegenschwarm flog die Kugel aus Chaos-Energie Olaf entgegen und traf ihn an der Brust. Ein gelblicher Glanz erschien, der die Umrisse von Olafs Gestalt nachzeichnete und sich rings um seinen Körper ausbreitete, bis er ihn einhüllte. Dann schien ihn ein kaltes Feuer zu verzehren. Es gab keine Hitze, keinen Brandgestank, kein Anzeichen für irgendein Wirken außer demjenigen mächtiger Magie. Seine Rüstung warf Blasen, brodelte und zerlief wie eine Flüssigkeit, wobei sie das Fleisch darunter in Mitleidenschaft zog. Für einen Moment sah Ragnar die verstärkten Muskeln eines Space Marine. Dann wurden auch sie verzehrt, verrotteten zu schwarzem Eiter und liefen wie Wasser zu Boden, um dort zu verdunsten. Noch einen Augenblick später war nur noch Olafs Skelett übrig, das demjenigen eines normalen Menschen so ähnlich und doch so verschieden von ihm war. Ragnar betrachtete die schweren Knochen, die verstärkten Gelenke, den unnatürlich dicken Schädel und die gewaltigen Fänge … dann zersetzten sich auch die Knochen und ließen nur eine rasch verblassende, schwach leuchtende Umrisslinie in der Luft zurück. Olaf war verschwunden, als habe er nie existiert. Das Leuchten, das ihn eingehüllt hatte, verdichtete sich wieder zu einem Feuerball. Das irre Gelächter des Zauberers erfüllte die Halle mit boshafter Häme. Er hustete in einem langen, krampfartigen Anfall, bei dem er sich sogar krümmte, und spie dann auf den Boden. Der große Klumpen grünen Schleims, der ihm aus dem Mund troff, blubberte und verdunstete. Der Zauberer lächelte Ragnar an, als seien sie alte Freunde, und sagte mit einer Stimme, die aus dem Summen Tausender Insekten zu bestehen schien: »Fürst Botchulaz entbietet seinen Gruß.« Bei der Nennung dieses Namens erstarrte Ragnar, da er an längst vergangene Schrecken und kummervolle Ereignisse erinnert wurde, die so weit zurücklagen, dass er sie vergessen zu haben glaubte. Wor-
te trotziger Herausforderung wollten nicht über seine Lippen kommen, als Bilder des Bösen und der Verzweiflung durch seinen Verstand huschten. Der Zauberer beschrieb wieder eine Geste, und jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. So schnell, dass er vor Ragnars Augen verschwamm, segelte der Ball aus verderblichen Flammen durch die Luft und dem Wolfskrieger entgegen. Nachdem er miterlebt hatte, was er anrichten konnte, hatte Ragnar nicht die Absicht, sich von ihm berühren zu lassen. Er tauchte darunter hinweg und spürte die böse Kraft, die über ihn hinwegflog. Mit seiner Boltpistole gab er einen Schuss auf den Chaos-Zauberer ab. Der Mann hob seine andere Hand in einer abwehrenden Geste, und die Patrone wurde zur Seite abgelenkt. Bei Russ, dieser Zauberer war mächtig, dachte Ragnar, von den Mächten des Chaos reich beschenkt. Ragnar spürte das Aufwallen von Energie in seinem Rücken, welches ihm verriet, dass der Feuerball dicht hinter ihm war. Er sprang mit einem Satz zur Seite, der den Servos in seiner Rüstung alles abverlangte, und der Feuerball schoss flackernd an ihm vorbei. Der Zauberer beschrieb eine weitere Geste, und der Feuerball schraubte sich in tödlichem Bogen Ragnar erneut entgegen. Diesmal sprang Ragnar hoch und über ihn hinweg. Wiederum spürte er seine bösen Kräfte, als er unter ihm herflog. Im Sprung gab der Wolfskrieger einen weiteren Schuss ab, aber wiederum wehrte der Ketzer ihn mit einer Geste ab. Bleibt nichts anderes übrig, dachte Ragnar, als dies auf die altmodische Art zu regeln. Er warf sich vorwärts, da er den Feuerball hinter sich spürte, rollte bis vor die Füße des Magiers und hieb mit seinem Kettenschwert nach den Beinen seines Feindes. Der Zauberer versuchte es wieder mit der Abwehrgeste, war aber zu langsam. Im letzten Moment änderte Ragnar die Richtung seines Hiebs und trennte dem Mann den Arm am Ellbogen ab. Blut rann zähflüssig wie Sirup aus dem Stumpf und gerann sofort um die Wunde. Noch ein Ge-
schenk der Dunklen Mächte, vermutete Ragnar. Er lächelte gemein und stach erneut zu. Seine uralte Klinge bohrte sich in den Leib seines Feindes und blieb mit kreischenden Klingen darin stecken, da sie den Zauberer zerfetzten. Ragnar sprang plötzlich nach links, und der Feuerball verfehlte ihn und traf den Magier. Anstatt ihn aufzulösen, wurde der Feuerball von seinem Körper absorbiert, ohne sichtbaren Schaden anzurichten. Möge Russ mich zu sich holen, dachte Ragnar, aber es war den Versuch wert gewesen. Er riss seine Klinge heraus, wobei er besondere Sorgfalt darauf verwendete, sie in der Wunde zu drehen, um größtmöglichen Schaden anzurichten. Mit einem widerlichen Schlürfen löste sich das jaulende Kettenschwert aus der Wunde und zog dabei verwirrte Darmschlingen mit heraus. Der Zauberer ließ keinerlei Anzeichen von Schmerzen erkennen. Ein Ausdruck des Unbehagens huschte über sein Gesicht, als er mit der Geste begann, die erneut den Feuerball beschwören würde. Diesmal trennte Ragnar dem Mann den Kopf von den Schultern. Während der Schädel zu Boden fiel, schlug der Wolfskrieger noch einmal nach ihm und hieb ihn mit dem Kettenschwert entzwei. Der Leib des Zauberers fiel wie vom Blitz getroffen zu Boden. Ragnar betrachtete ihn kurz, als rechne er damit, dass er sich noch einmal erheben könne, doch nichts geschah. Der Kampf war vorbei. Er sah sich mit einiger Befriedigung um, entdeckte aber keine weiteren Gegner mehr. Überall ringsumher erstarb der Kampflärm. Anscheinend hatten seine Männer ihr Ziel erreicht. Während er zu vergessen versuchte, was der Zauberer gesagt hatte, machte Ragnar kehrt und eilte den Weg zurück, den er gekommen war. Es war wie ein Rundgang durch ein Schlachthaus. Überall klebte Blut an den Wänden. Er witterte, nahm alle Gerüche auf und wusste mit Sicherheit, dass in dem Gebäude nur noch Wolfskrieger am Leben waren. Es überraschte ihn nicht im Geringsten, als über das Komm-Netz knisternd das Signal
kam. +Ziel gesichert.+ Die Nacht brach herein. Die alten gelben Monde funkelten durch die kontaminierten Wolken. Ragnar stand auf dem Dach der ramponierten Fabrik und starrte ins Dunkel, während die zu Zöpfen geflochtenen Haare im kalten Wind flatterten. Dort drüben tobte der Krieg immer noch, andere Imperiumstruppen kämpften gegen die Ketzer. Eine Feuerblume erblühte, wo eine Granate explodierte. Einige Augenblicke später ertönte ein Krachen wie Donnerhall. Ragnar spürte, wie das Gebäude unter seinen Füßen vibrierte. Unter ihm feierten die Blutkrallen. Sie hatten sich um ein loderndes Feuer versammelt und grölten Gesänge, die ihren Ursprung in den Sagen ihres Volkes hatten. Sie kündeten von ihren Taten und den Taten ihrer Vorfahren. Manche von ihnen schrien heraus, was sie heute vollbracht hatten, die Anzahl der von ihnen getöteten Ketzer und die Art, wie sie ihrem Leben ein Ende bereitet hatten. Er lächelte über die Unschuld ihrer Prahlerei. Sie waren so stolz auf sich und das Vollbrachte, erfüllt vom einfachen Stolz der Männer, die bei ihrem ersten Feldzug ihre Feuertaufe bestanden hatten und zum ersten Mal den Kitzel des Krieges spürten, der zwischen den Sternen tobte. Ihre Prahlereien dienten ebenso sehr dem Abbau von Spannung wie dem Beeindrucken ihrer Kameraden. Jeder Einzelne von ihnen wusste ganz genau, wie viele von ihnen heute gestorben waren. Und sie hatten alle an den Beerdigungsriten teilgenommen, denen Ragnar vorgestanden hatte. Nun, da ihre Aufgabe erfüllt war, verarbeiteten sie langsam die Tatsache, dass sie noch lebten, dass böse Menschen sie zu töten versucht und dass sie sich mit Erfolg dagegen gewehrt hatten. Ragnar konnte sich noch gut an den mit dieser Erkenntnis verbundenen Schock erinnern. Es gab Zeiten, in denen er das Gefühl hatte, erst gestern an seinem ersten Feldzug auf einer entfernten Welt teilgenommen zu haben. Damals, vor seiner Ernennung zum Befehlshaber, vor der langen
Reihe von Abenteuern und Kriegen, die dazu geführt hatten, dass er schneller und höher befördert worden war als je ein Wolfskrieger zuvor, war ihm alles irgendwie einfacher vorgekommen. Manchmal fragte er sich, ob es das wert war, und beneidete die Blutkrallen um ihre Unschuld. Sie wussten noch nicht, wie es war, wenn die Verantwortung für den Tod eines anderen Wolfskriegers auf den Schultern lastete. Im Verlauf des ganzen langen Abends, während die Meldungen eintrudelten und der Fabrikkomplex gesichert wurde, war Ragnar die Schlacht im Geiste immer wieder durchgegangen und hatte sich gefragt, ob es wohl eine Möglichkeit gegeben hatte, alles anders zu machen, eine Taktik, die Olaf und die anderen hätte überleben lassen. Doch wenn es eine gab, sah er sie nicht. Dies war Krieg, und im Krieg starben Männer, sogar Space Marines. Vielleicht hätten es Russ und der Imperator besser gemacht als er, vielleicht hätte es auch ein anderer Kommandant besser gekonnt, aber jetzt ließ sich daran nichts mehr ändern. Was passiert war, war passiert. Er musste es einfach hinnehmen und hinter sich lassen. Morgen würde der Krieg weitergehen. Morgen würde eine neue Schlacht geschlagen. Trotzdem sehnte er sich in diesem Augenblick nach einer Rückkehr in einfachere Zeiten, als ihm alles noch ganz leicht erschienen war. Selbst in seiner Jugend hatte es Verluste, Schrecken und Intrigen gegeben. Er ließ seine Gedanken zu den Ereignissen zurückkehren, die er seit seiner Begegnung mit dem Zauberer zu unterdrücken versucht hatte. Er starrte in die Nacht und erinnerte sich.
EINS
Gemeinsam mit seinen Schlachtbrüdern stand Ragnar voller Stolz auf die gerade erworbenen und auf seinen Schultern prangenden Blutkrallen-Abzeichen im Eingang zur Landebucht. Sie warteten alle darauf, dass Inquisitor Sternberg sein Schiff verließ. Der Wolfskrieger holte noch einmal tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Er wusste, dass das monströse Gefährt vor ihm nur ein Beiboot war, keines der gewaltigen Schiffe, welche die unvorstellbaren Entfernungen zwischen den Sternen überbrückten, aber die schiere Größe war trotzdem atemberaubend. Es schien so groß zu sein wie das Dorf, in dem er aufgewachsen war, ein riesiger Keil aus altem Ceramit und Durastahl, vernarbt vom Einschlag kleinerer Meteoriten und durch Waffenbeschuss. Auf eine absonderliche Weise war es wunderschön. Gargyle umklammerten die Flossen, und der Imperiums-Adler war mit einem handwerklichen Geschick in die Seite graviert, wie es kein Juwelier aus seinem Volk je vermocht hätte. Er betrachtete die kristallverglasten Bullaugen in den Seiten und versuchte zu erkennen, ob jemand durch sie nach draußen schaute. Sein Mund fühlte sich merkwürdig trocken an. Er würde gleich etwas erleben, das er noch vor wenigen Monaten für unmöglich gehalten hätte. Er würde in Kürze Fremden von einer anderen Welt begegnen. Er nahm sich vor, nicht zu gaffen, aber die Vorstellung war dennoch überaus verblüffend. Vor einem Jahr, als er noch im Dorf der Donnerfäuste lebte, hatte er geglaubt, das Universum sei ein großes Meer mit unendlich vielen Inseln, von einer riesigen Seeschlange umschlungen. Seitdem er auserwählt worden war, sich den Wolfskriegern anzuschließen, hatte er etwas anderes gelernt, etwas ganz anderes. Er wusste jetzt, dass seine Heimatwelt Fenris eine Kugel war, die in der endlosen Unermesslichkeit des Weltraums trieb und
einen Stern umkreiste, den er früher für Russ’ Auge gehalten hatte. Er wusste jetzt, dass es nur ein Stern unter Millionen war, aus denen die Galaxis und das Imperium der Menschheit bestand, und dass zwischen diesen Welten gewaltige Schiffe verkehrten. Außerdem hatte er gelernt, dass jede Welt anders war und all diese Welten viele unterschiedliche Nationen und Völker beherbergten. In dieser Beziehung waren sie wie die Inseln im Weltmeer von Fenris, denn auch dort beherbergten die Inseln Klans mit völlig verschiedenen Bräuchen und Überzeugungen. Mit den anderen Welten verhielt es sich ähnlich, und zwischen den Planeten war Raum für viel größere Unterschiede als zwischen den Inseln auf Fenris. Manche, hatte man ihn gelehrt, waren die Heimat übler Mutanten, während andere fremdartige Rassen beherbergten, die der Menschheit feindselig gegenüberstanden. Manche Welten waren vollständig in Metall gehüllt und von wimmelnden Milliarden bewohnt, die praktisch Wange an Wange lebten. Andere waren leere Wüsten aus Eis und Schnee, auf denen in Felle gehüllte Nomaden hausten. Wieder andere waren brennende Wüsten und noch mehr luftlose Einöden, wo das Leben nur in uralten Kavernenstädten existieren konnte. Sein Verstand konnte nur einen Bruchteil der endlosen Möglichkeiten begreifen, die sie repräsentierten. Wie er es sich schon so oft vorgenommen hatte, schob Ragnar alle derartigen Gedanken beiseite und versuchte sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren − aber das war schwierig. Er fragte sich, wie die Passagiere auf dem Schiff wohl sein mochten. Würden sie grüne Haut haben oder zwei Köpfe? Er würde es erst erfahren, wenn sie herauskamen. Er wollte sich umschauen, um festzustellen, was die anderen Blutkrallen taten oder dachten, aber er beherrschte sich. Sie waren die Ehrengarde für diese Neuankömmlinge, und sie sollten Disziplin und Zurückhaltung demonstrieren. Es ziemte sich einfach nicht, herumzuglotzen wie ein Jüngling. Aber er konnte sich die Mienen seiner Gefährten gut vorstellen. Svens hässliches Gesicht mit der schiefen Nase würde hungrig aussehen, als könnten die Fremden etwas Gutes zu essen dabeihaben,
während er sich die ganze Zeit abmühte, nicht zu grinsen. Ragnars alter Rivale und ehemaliger Todfeind Strybjörn würde sein mürrisches, brutales Gesicht zu einer Miene wütender Verachtung verzogen haben. Der hagere Nils würde darum kämpfen, sich ein Lächeln zu verkneifen, während er mit dem Drang rang, Sven Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Alle anderen würden mit ihren ganz persönlichen Regungen und Eingebungen und damit beschäftigt sein, sie im Zaum halten. Es war nicht leicht für sie. Sie waren alle Blutkrallen, gerade erst initiiert, und Kopf und Herz waren immer noch voll von den wilden, animalischen Trieben, die eine Nebenwirkung ihrer Verwandlung in Wolfskrieger waren. Praktisch alle im Reißzahn untergebrachten Ordensmitglieder waren hier und erwarteten die Neuankömmlinge. Sie waren von überall in dem riesigen befestigten Berg aus ihren Höhlen und Meditationszellen geholt worden, um diesen Inquisitor willkommen zu heißen. Nur der mächtige Logan Grimnar, der große Wolf persönlich, der legendäre Anführer aller Wölfe und seine Garde waren nicht anwesend. Grimnar wartete in seinem Bau darauf, dass der Inquisitor ihn aufsuchte, wie es sich auch gehörte. Nichtsdestoweniger glaubte Ragnar, dass dieser Inquisitor ein mächtiger Mann sein musste, wenn ihm so ein Empfang bereitet wurde. Es mussten über hundert Wolfskrieger hier sein und dazu über tausend Hilfskräfte. Wenige Fremde wurden überhaupt je im Bau der Wölfe empfangen und noch weniger mit solchem Aufwand begrüßt − zumindest hatte Sergeant Hakon ihm das erzählt. Sein ehemaliger Ausbilder war vor einigen Wochen aus den Bergen zurückgekehrt, um die Blutkrallen nach dem Tod Sergeant Hengists zu übernehmen. Wenn er sich konzentrierte, konnte Ragnar die Witterung des Wolf-Veteranen wahrnehmen, und sie ließ sofort die massige Statur und das hagere, ledrige Gesicht des Sergeants vor seinem geistigen Auge entstehen. Ragnar dachte unwillkürlich an die Gerüchte, die er über Sternberg gehört hatte. Einige von den Leibeigenen hatten behauptet, dass er mehrfach an der Seite der Wolfskrieger gekämpft und einmal sogar
dem Großen Wolf persönlich das Leben gerettet hatte. Andere behaupteten, er käme den ganzen weiten Weg von der uralten Heimatwelt Terra, dem geheiligten Heim des geliebten Gott-Imperators persönlich, und habe eine wichtige Mission für den Orden im Gepäck. Wieder andere behaupteten, er sei hier, um die Wolfskrieger für die weit entfernten Herrscher des Imperiums auszuspionieren in der Hoffnung, den Makel der Ketzerei innerhalb des Ordens zu finden und daher die Erlaubnis zu bekommen, seine Auflösung anzuordnen. Letzteres bezweifelte Ragnar. Er wusste, wie nur ein Initiat es wissen konnte, wie absolut treu die Wölfe ihrer Pflicht ergeben waren. Sie alle, Ragnar eingeschlossen, würden eher bis auf den letzten Mann sterben, als die Menschheit an die Finsternis zu verraten. Niemand würde je mit Recht feststellen können, dass sie in dieser Beziehung zu wünschen übrig ließen. Er rang einen kurzen Schauder nieder, als ihn eine düstere Erinnerung überfiel. Ragnar wusste, dass nicht einmal Fenris frei war vom Makel des Chaos. Noch vor wenigen Monaten hatten die Blutkrallen ein Nest der Ketzer in den Bergen nördlich des Reißzahns aufgestöbert. Ein Nest so groß und so voller übler Feinde, dass alle auf dem Planet anwesenden Wölfe aufgeboten worden waren, um damit fertig zu werden. Er schob die grimmigen Gedanken beiseite. Es war nur allzu gut möglich, dass der Inquisitor von jemandem begleitet wurde, der solche Gedanken aufschnappen konnte − und was während jener Begegnung mit den abtrünnigen Marines der Tausend Söhne geschehen war, ging nur den Orden etwas an. Wie als Antwort auf seine unbesonnenen Gedanken zischte die große Tür in der Seite des Beiboots und öffnete sich. Eine Rampe schob sich aus der Seite des Raumschiffs und rasselte auf den Plastibetonboden des Hangars nieder. Ragnar holte tief Luft und verwandelte sein Gesicht in eine starre Maske, als der erste der Fremden in Sicht kam. Enttäuschung rang mit Erleichterung in Ragnars Gedanken. Der Fremde war überraschend normal, aber dennoch beeindruckend. Er war groß, beinahe so groß wie ein Veteran der Wolfskrie-
ger, und auch fast so breit. Sein Körper steckte in einer dunklen Ceramit-Rüstung, sodass nur sein grauhaariger Kopf zu sehen war. An seiner Hüfte waren zwei viel benutzte Waffen gehalftert, eine lange Pistole von ungewöhnlichem Design und ein Kettenschwert. Ein großer Umhang flatterte in der von den Ansaugturbinen verursachten Brise, die Luft in die Kammer pumpten. Die weite Kapuze des Umhangs war zurückgeschlagen, aber Ragnar vermutete, dass dies nicht immer der Fall war. Er sah sich um. Sein Blick schien auch die unwichtigste Kleinigkeit rasch und mühelos aufzunehmen. Der Mann lächelte unbeschwert und zeigte dabei weiße Zähne in einem Gesicht, das so dunkel gebräunt war wie lange gelagertes Hexenholz. Er hielt nur einen Herzschlag inne und schritt dann die Rampe hinunter. Sie senkte sich ein wenig unter seinem Gewicht. Ragnar vermutete, dass die Rüstung weitaus schwerer war, als sie aussah, und wie seine eigene teilweise von Servomotoren gesteuert wurde. Als der Neuankömmling mit seinem Abstieg begann, traten andere hinter ihm aus dem Schiff − und beim Anblick der vordersten Gestalt wich zischend der Atem aus Ragnars Brust. Sie war sehr wahrscheinlich die schönste Frau, die er je gesehen hatte, ganz sicher jedoch die eindrucksvollste. Sie war hoch gewachsen und gertenschlank und hatte dunkelbraune Haut und kurz geschnittene schwarze Haare. Undefinierbare Symbole waren auf ihre Stirn tätowiert oder in sie geritzt. Ihre Rüstung entsprach ebenso derjenigen des Mannes vor ihr wie ihr Umhang, war aber nicht so reich geschmückt und mit weniger Symbolen und Orden versehen. Ragnar vermutete, dass sie einen niedrigeren Rang bekleidete als der Mann, den er für Inquisitor Sternberg hielt. Jedenfalls war es so bei den Wolfskriegern, wo Männer stolz ihre in der Schlacht verdienten Auszeichnungen und Ehrenmedaillen für alle sichtbar trugen. Seine ultrascharfen Augen entzifferten die Buchstaben in imperialer gothischer Schreibschrift auf ihrem Brustharnisch: Karah Isaan. Nach diesen ersten beiden waren die übrigen Fremden eine Enttäuschung. Es gab viele in Kriegeruniform, vermutlich eine Leibwa-
che, höchstwahrscheinlich die ranghöchsten Offiziere der Begleittruppe des Inquisitors, die sich mit dem Großen Wolf beraten wollten. Ragnar wusste, dass die Inquisitoren des Imperiums oft mit einer kleinen persönlichen Armee reisten, die sie in die Lage versetzte, jegliches Anzeichen für Ketzerei umgehend auszumerzen. Dass sie vielleicht hier waren, um den Inquisitor vor den Wölfen zu schützen, war solch eine lächerliche Vorstellung, dass es einige Augenblicke dauerte, bis sie einen Weg in Ragnars Verstand gefunden hatte. Er tat sie als albern ab. Die Wölfe würden ihren Gast nicht angreifen − und für den unvorstellbaren Fall, dass sie sich doch dazu entschlossen, konnten sich Normalsterbliche ohnehin nicht gegen sie behaupten. Nach den Kriegern kamen Männer und Frauen in den dunkelblauen Gewändern von Schreibern. Jeder trug einen ledergebundenen Folianten, der an einen dicken Ledergürtel an ihrer Hüfte gekettet war. Ragnar wusste nicht, ob dies Bücher mit überliefertem Wissen oder solche für neue Aufzeichnungen waren. Er beschloss, einen von ihnen zu fragen, falls er je eine Gelegenheit dazu bekam. Während sie die Rampe entlangschritten, fiel Ragnar zum ersten Mal ihr fremdartiger, nicht von dieser Welt stammender Geruch auf, und plötzlich war er von einem nagenden Gefühl des Unbehagens erfüllt, von einer Vorahnung kommenden Verhängnisses. Die Bestie in ihm rührte sich, und er verspürte den Drang, diese Neuankömmlinge zu zerfetzen und zu zerreißen, sie niederzumetzeln, als seien sie seine verschworenen Feinde. Er hatte so etwas noch nie zuvor empfunden. Als spüre sie es, sah sich die Inquisitorin um und begegnete seinem Blick. Als er in ihre braunen Augen schaute, wurde Ragnar plötzlich ruhig. Sein Gefühl des Unbehagens wurde schwächer, verschwand aber nicht völlig. Er versuchte es zu verdrängen. Schließlich waren dies vertrauenswürdige Verbündete, sagte er sich − und doch blieb ein Bedürfnis nach Wachsamkeit. Als Sternberg den Plastibetonboden des Hangars erreichte, trat Jarek Blauzahn vor, erster Gefolgsmann und rechte Hand des Großen Wolfs, um ihn zu begrüßen. Er streckte die Hand zur traditionellen
fenrisischen Begrüßung aus, bei der der Arm des Gegenübers am Ellbogen umschlossen wurde. Der Inquisitor schien dadurch nicht im Geringsten überrascht zu sein. Er lächelte, und nachdem sie einander losgelassen hatten, verbeugte er sich aus der Hüfte auf vornehm elegante Art. Alle Mitglieder seines Gefolges, die sich mittlerweile hinter ihm aufgereiht hatten, folgten seinem Beispiel wie ein Mann. »Im Namen Logan Grimnars, des Großen Wolfs und Anführers, heiße ich Sie willkommen!«, sagte Jarek stolz. Er sprach ImperiumsGothisch, was seine raue Stimme noch heiserer klingen ließ. »Ich danke dem Großen Wolf für sein Willkommen und ersuche bei nächster Gelegenheit um eine Audienz.« Verglichen mit Jarek klang die Stimme des Inquisitors sehr glatt und angenehm, enthielt aber stählerne Untertöne. Dies war unverkennbar ein Mann, der gewohnt war, seinen Willen zu bekommen. Was nicht weiter überraschend war, wenn man bedachte, dass er befugt war, im Namen des Imperators alle Arten der Ketzerei zu untersuchen. Nur die Orden der Space Marines betrachteten sich als außerhalb der Verfügungsgewalt Seiner Göttlichen Inquisition stehend, denn sie waren durch Gesetze und Traditionen gebunden, die älter waren als das Imperium selbst. Ragnars Lehrer waren in diesem Punkt sehr bestimmt gewesen. Die Space Marines waren eine unabhängige Kraft im großen Verbund der Menschheit und stolz auf diesen Status. Tatsächlich hatten sie bedeutend zu seiner Gründung beigetragen, und aus diesem Grund wurden ihnen viele Privilegien gewährt. Sie waren nur dem Imperator persönlich treu ergeben, nicht seinen Lakaien in der Kirchenhierarchie. Sternbergs Tonfall hatte etwas an sich, das Ragnar eine Warnung zuflüsterte. Es war nicht so, dass er irgendeine Falschheit darin erkannte. Aber irgendetwas daran bewirkte, dass sich seine Nackenhaare sträubten. Er war überrascht, dass keiner der anderen Wölfe sein Unbehagen teilte, denn ihre Witterung hatte sich nicht verändert. Er schien der Einzige zu sein, der so empfand. Vielleicht war es ein Fehler in ihm, ein Überbleibsel nach seiner kürzlichen Verwandlung in einen Wolfskrieger. Er wusste, dass er immer noch zu Visionen und
Halluzinationen sowie zu Wutanfällen neigte. Seine Vorgesetzten hatten ihm erklärt, dass diese Dinge mit der Zeit immer seltener wurden, je mehr er sich an die Verwandlung gewöhnte. Vielleicht war das in diesem Fall das Problem. »Dem Großen Wolf wird es ein Vergnügen sein, seinem alten Kameraden sofort eine Audienz zu gewähren«, erwiderte Jarek förmlich und hielt sich neben dem Inquisitor, als Sternberg und dessen Gefolge durch die Doppelreihe der zu ihrer Begrüßung versammelten Wolfskrieger schritten. Nachdem sie den letzten Mann der Ehrengarde passiert hatten, bildeten die Wolfskrieger hinter ihnen Kolonnen und eskortierten sie im Marschtritt in den Bau Logan Grimnars. Im Saal des Großen Wolfs war ein geräumiger Pavillon errichtet worden. Er bestand aus feinster grauer Seide, und die den Türen zugewandte Seite, durch die Sternberg und seine Eskorte eintraten, war geöffnet. Das Innere wurde durch Leuchtkugeln erhellt, die dicht unter der Decke des Zelts schwebten. In zwei Tag und Nacht brennenden Kohlepfannen zu beiden Seiten des Eingangs flackerten und knisterten Flammen. Von ihnen stieg der Geruch nach Räucherwerk auf, wie es bei den heiligen Ritualen des Imperiums benutzt wurde. Ragnar erkannte diesen speziellen Duft: Silberwurz. Angeblich sollte er ein mächtiger Schutz vor bösen Einflüssen sein. In seiner ganzen Zeit im Reißzahn war dies das erste Mal, dass Ragnar gestattet wurde, den Bau des Großen Wolfs zu betreten. Bisher hatte im Grunde keine Notwendigkeit bestanden, die Ausbildungsbereiche und Wohntrakte der Novizen und die Gemeinschaftsräume, die von allen Großen Kompanien benutzt wurden, zu verlassen. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde Ragnars Rudel von Blutkrallen ihrer eigenen Großen Kompanie unterstellt und Teil der übergeordneten Befehlsstruktur des Ordens werden, aber einstweilen warteten sie ab, welche Kompanie Ersatz brauchte, sei es für Gefallene oder für jene Blutkrallen, die zu Grauen Jägern befördert
worden waren. Der Bau des Großen Wolfs nahm eine ganze Ebene des Reißzahns ein. Der Weg dorthin war jedoch nicht lang. Eine Reihe von Gravitationsröhren hatte die ganze Gruppe rasch durch das Labyrinth der alten Festung befördert, aber wenn die Neuankömmlinge darüber so gestaunt hatten wie Ragnar, als dieser zum ersten Mal das Innere der Bergfestung gesehen hatte, ließen sie es sich nicht anmerken. Er vermutete, dass sie auf ihren Reisen schon viel Erstaunliches gesehen haben mussten. Ein Teil von ihm sehnte sich danach, diese Erfahrung mit ihnen zu teilen, zu anderen Welten zu reisen, neue Dinge zu sehen und unbekannte Orte aufzusuchen. Er wusste, dass er eines Tages genau das tun würde, doch soweit es ihn betraf, konnte dieser Tag gar nicht schnell genug kommen. Andererseits fürchtete sich ein anderer Teil von ihm auch vor diesem Tag. Er wusste nicht genau, warum. Er hatte den Verdacht, dass es einfach zum Leben dazugehörte, Angst vor neuen Erfahrungen zu haben. Der Große Wolf erwartete sie, prachtvoll geschmückt. Er war ein massiger Mann, in Ragnars Augen ein wahrhaft gewaltiger Krieger. Seine Brust war größer als ein Alefass, und seine Arme waren wie Baumstämme. Er hatte einen langen grauen Bart, und eine Mähne grauer Haare fiel bis über die Schultern. Seine Augen, uralt und unergründlich, waren wie Eissplitter. Sein Gesicht war wie aus Granit gemeißelt, und die Narben auf seinen Wangen erweckten den Eindruck von Jahrzehnten der Erosion. Sie erinnerten Ragnar an Gräben, die in hartes Berggestein getrieben worden waren. Um Grimnars Schultern war ein großer Wolfsfellumhang geworfen, von dem manche behaupteten, er stamme noch aus der Zeit von Russ, und dem angeblich Hitze, Kälte und Flammen nichts anhaben konnten. Der Kopf des Wolfs saß wie eine Krone auf Grimnars Haupt. Um den Hals trug er eine Kordel mit dem Amulett von Russ, ein schlichtes Medaillon aus irgendeinem unbekannten Metall, das auf primitive Art einem Wolfskopf nachempfunden war. Angeblich war das Amulett für seinen Träger ein Quell großer Macht, ein Talisman, der vor
schwarzer Magie schützen und seinen Träger vor allen bösen Einflüssen abschirmen sollte. Dutzende von Gefechtsauszeichnungen waren in die Rüstung des Großen Wolfs eingearbeitet, denn Grimnar hatte in den vergangenen siebenhundert imperialen Standardjahren in Hunderten von Feldzügen gedient. Allein bei diesem Gedanken schwindelte Ragnar bereits. Es war das Zehnfache der Lebensspanne des ältesten Sterblichen auf Fenris, doch Logan Grimnar ließ keinerlei Anzeichen von Gebrechlichkeit erkennen. Vielmehr haftete ihm eine Aura grenzenloser Vitalität, Kraft und Energie an. Er war der majestätischste Mann, dem Ragnar je begegnet war. Er schien zum Herrschen geboren zu sein, ein Anführer würdig der größten Krieger, der grenzenlosen Gehorsam von jenen gebot, die für ihn kämpften. Und so sollte es auch sein, dachte Ragnar, denn dies war der Mann, der einen Orden der besten Truppen des Imperators anführte. Logan Grimnar saß streng und gebieterisch auf dem Wolfsthron. Dieser schien aus uraltem Stein gemeißelt zu sein, in den Runen geritzt waren, die beinahe so alt wie die Zeit aussahen, scheinbar von Wind und Regen dort eingeprägt. Der Thron war so gestaltet, dass auch ein noch größerer Mann als Grimnar darauf hätte sitzen können. Er stammte aus der Zeit von Russ, und es war durchaus möglich, dass irgendwann einmal der große Primarch persönlich darauf gesessen hatte. Die Rückenlehne war wie ein großer knurrender Wolfskopf gestaltet, der hinter dem Sitzenden aufragte. Die beiden Lehnen des Throns waren die Vorderpfoten. Das Seltsamste an diesem Thron war die Tatsache, dass er nicht auf dem Boden stand, sondern vielmehr eine Handbreit darüber schwebte und sich drehte, wie der Große Wolf es wollte, anscheinend von dessen Willen gelenkt. Ragnar kam nicht umhin zu bemerken, dass die gerüstete Gestalt des Großen Wolfs ebenfalls nicht den Stein des Throns berührte, sondern stattdessen dicht darüber zu schweben schien. Er wusste jetzt ein wenig über die alte Magie der Suspensorsysteme und nahm an, dass hier eines davon in Gebrauch war. Zumindest würde es das Sitzen auf
dem harten Stein erträglicher machen, obwohl Ragnar argwöhnte, dass es einen anderen Zweck hatte. Auf der Rückseite des Throns flatterten zwei riesige Banner: Eines zeigte zwei sprungbereite Wölfe, Grimnars Insignien, das andere den knurrenden Wolfskopf, der das Symbol des Ordens war. Sie flatterten und kräuselten sich, obwohl nicht die leiseste Brise zu spüren war. Im Schatten des Pavillons und Grimnars gewaltigen Thron flankierend, standen die Leute seines Baus, die Wolfpriester in ihren prunkvollen Wolfsfellumhängen und ihrer Aura hohen Alters und Autorität. Ragnar erkannte Ranek, den ältesten von allen, der vor wenigen Monaten die Aufnahmezeremonie der jungen Blutkrallen in den Orden vollzogen hatte. Bei ihnen waren auch die in Metall gehüllten Eisenpriester, deren Helme wie Wolfsköpfe gestaltet waren. Und es gab sogar mehrere Runenpriester, langbärtig und mit langen Holzstäben in den Händen, in die mystische Runen geschnitzt waren. All diese Männer hatten eine Aura des Alters und der Weisheit an sich, die nahezu greifbar war. Sie alle waren Veteranen von hundert Feldzügen. Ragnar fragte sich, ob Inquisitor Sternberg sich der Ehre bewusst war, die ihm durch diese Versammlung des Ordens erwiesen wurde. Es schien so, denn der Mann hob die Hand, und sein Gefolge blieb stehen, sodass er allein weiter zum Thron des Großen Wolfs ging. Als er vor Grimnar stand, sank er auf ein Knie und neigte den Kopf wie ein Mann, der seinem Jarl Gefolgschaft schwor. Grimnar erhob sich von seinem Thron und legte dem Inquisitor eine massige Hand auf die Schulter. Ragnar beobachtete genau, wie die beiden sich begegneten, und wurde durch etwas überrascht, das er im Augenwinkel mitbekam. Bruder Ranek beobachtete den Inquisitor ebenfalls. Ragnar sah einen Ausdruck rasch verhohlenen Argwohns über das knorrige Gesicht des alten Mannes huschen. Ranek drehte sich unmerklich. Ihm war Ragnars Starren aufgefallen. Ihre Blicke trafen sich, und er war sicher, dass der Wolfpriester seine Gedanken erriet. Nach einem kurzen
Moment schaute Ranek wieder weg. »Wir treffen uns wieder, Iwan Sternberg«, sagte der Große Wolf mit einer Stimme, als rieben zwei große Granitfelsen aneinander. »Es ist lange her.« »Zu lange, Logan Grimnar. Ich freue mich, Sie so gesund und munter zu sehen.« »Ich danke Ihnen, Iwan Sternberg. Sie sehen ebenfalls gut aus. So gut wie an dem Tag, als Sie diese Orks daran gehindert haben, mir in den Rücken zu fallen.« »Es war mir eine Ehre, einem der größten Krieger des Imperiums zu Diensten sein zu können, gepriesen sei Sein Name. Ich danke dem Ewigen Thron, dass ich zur rechten Zeit am rechten Ort war.« »Nichtsdestoweniger haben Sie an meiner Stelle eine Wunde erlitten, und ich stehe in Ihrer Schuld. An jenem Tag sagte ich Ihnen, Sie brauchten nur einen Wunsch zu äußern, und wenn es in meiner Macht stünde, würde ich ihn erfüllen.« Ragnar rang den Drang nieder, tief Luft zu holen. Diese Zusicherung sprach Bände für das Ausmaß des Vertrauens, das der Große Wolf in diesen Mann hatte. Es handelte sich um ein Gelöbnis, welches mit dem Leben oder der Ehre Logan Grimnars und auch seines gesamten Ordens eingelöst werden mochte. Die Tatsache, dass es gemacht worden war, verriet Ragnar, dass der Große Wolf der Ansicht war, Sternberg vertrauen zu können. Sein eigener Argwohn wurde dadurch gewiss entkräftet. Wenn der Große Wolf diesem Mann vertraute, wer war Ragnar, an ihm zu zweifeln? Er nahm sich vor, einen der Runenpriester über den Inquisitor zu befragen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Er war sicher, dass sich hinter den einfachen Worten des Großen Wolfs eine epische Geschichte verbarg. »Ich habe in der Tat eine Bitte an Sie, und ich würde ihre Erfüllung als Begleichung jeglicher Schuld betrachten, in der Sie bei mir zu stehen glauben.« »Nennen Sie sie.«
Die wunderschöne Frau hinter Sternberg räusperte sich. Der Inquisitor drehte sich zu ihr um. »Halten Sie das für klug, Inquisitor Sternberg?«, fragte die Frau ohne Vorrede. Ihre Stimme war klar und gelassen. Ragnar fand sie bezaubernd. Sternberg deutete auf die Frau. »Darf ich Ihnen meine Assistentin Karah Isaan vorstellen?«, sagte er glatt. Irgendwie gelang es ihm, den Eindruck zu vermitteln, sie habe mit seiner Erlaubnis gesprochen, anstatt eine private Unterhaltung zwischen ihm und dem Großen Wolf zu unterbrechen. Grimnar nickte ihr höflich zu. »Wie meinen Sie das, Karah Isaan?« »Ich meine, dass diese Angelegenheit die Sicherheit des Imperiums betrifft.« Grimnars dröhnendes Gelächter hallte durch den Saal. »Wir sind hier im Reißzahn durchaus daran gewöhnt, uns mit solchen Dingen zu befassen!« Falls die junge Frau eingeschüchtert war, ließ sie es sich nicht anmerken. »Davon bin ich überzeugt, Großer Wolf.« Ihr Gesicht verzerrte sich ein wenig, da sie zögerte, den Titel auszusprechen. Ragnar ging auf, dass sie etwas Förmlicheres bei Weitem vorgezogen hätte. Sie war in Gegenwart des legendären Anführers der Wolfskrieger ganz offensichtlich befangen. »Es ist nur so, dass noch viele andere anwesend sind, die unsere Gespräche … mithören … könnten.« »Wenn Sie Ihren Leuten nicht trauen, schicken Sie sie weg!«, donnerte Grimnar. Das Gesicht der Frau lief rot an. Sie legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ragnar kam es so vor, als denke sie, der Große Wolf stelle sich absichtlich begriffsstutzig. »Das habe ich nicht …« »Ich weiß, was Sie gemeint haben«, sagte Grimnar, und diesmal war seine Stimme eisig und voller Autorität, die Stimme eines Führers, der auf das unverschämte Ansinnen eines Abgesandten reagierte. »Was Sie auch zu sagen haben, Sie können es getrost vor jedem
meiner Krieger aussprechen. Sie können ihnen vertrauen, wie Sie mir vertrauen. Es ist Ihre Inquisition, die Geheimnisse hat, sogar in Ihren eigenen Reihen, nicht mein Orden.« Ragnar war entsetzt, dass die Inquisitorin die Möglichkeit anzudeuten schien, jemand im Reißzahn könne ein Verräter sein. Auch anderen war dieser Gedanke gekommen. Hände bewegten sich, als erwägten die Männer, nach der Klinge zu greifen, um die Ehre des Ordens zu verteidigen. Ein schroffer Blick des Großen Wolfs beendete alle derartigen Aktivitäten. Die Frau zuckte ein wenig zusammen, und ein Ausdruck der Überraschung huschte über ihr Gesicht. Es dämmerte Ragnar, dass sie als ein Mitglied der Inquisition wahrscheinlich eher daran gewöhnt war, dass sie Leute in Angst versetzte, als selbst zu verzagen. Sie brauchte nur wenige Augenblicke, um sich wieder zu fangen. »Ich entschuldige mich, falls ich Anstoß erregt habe. Ich kannte mich nicht gut genug mit Ihren Bräuchen aus.« Ragnar dachte über eine andere Aussage des Großen Wolfs nach. War es möglich, dass Diener des Imperiums Informationen voreinander zurückhielten? Das kam Ragnar mehr als dumm vor. Ein Krieger brauchte alle verfügbaren Informationen, um Entscheidungen zu treffen, jedenfalls hatte man ihn das gelehrt. Offensichtlich war die Frau anderer Ansicht. Sie hatte beabsichtigt, Grimnar etwas zu erzählen, ohne dass dessen Leute es hörten − als würde Fürst Grimnar es ihnen nicht sagen, wenn er es für notwendig erachtete, dass sie davon wussten. »Vergeben Sie Karah«, sagte Sternberg. »Sie ist noch jung und erst kürzlich meine Assistentin geworden. Sie weiß noch nicht mit Space Marines umzugehen.« »Tatsächlich wissen das nur wenige Leute, Iwan Sternberg.« Grimnar zuckte gutmütig die Achseln. »Aber Sie müssen immer noch Ihre Bitte nennen.« Sternberg hielt einen Moment inne und überlegte. Trotz seiner gewandten Worte schien er darüber nachzudenken,
was Karah gesagt hatte. Ragnar konnte seine Unentschlossenheit riechen. Er war sicher, dass es jeder anwesende Space Wolf konnte. Er fragte sich, ob der Inquisitor sich dessen bewusst war. Vielleicht war er es, denn er traf rasch seine Entscheidung. »Meine Heimatwelt Aerius wird von einer tödlichen Seuche heimgesucht. Millionen sterben, während ich hier bin.« Ragnar sah nicht, was die Space Wolves dagegen tun konnten. Sie waren Krieger, keine Heiler. Falls Grimnar dasselbe dachte, verbarg er es gut, denn er nickte lediglich aufmerksam bei Sternbergs Worten. »Unsere Heiler waren ratlos. Alle von unseren Apothekern ersonnenen Arzneien versagten. Es schien so, als übersteige ein Heilmittel für diese Seuche unser alchimistisches Wissen. Den Herrschern von Aerius kam der Gedanke, die Seuche könne das Produkt finsterer Zauberei oder irgendeines uralten Fluchs sein, also erbat der Astropath des Gouverneurs meine Hilfe. Ich kehrte zu meiner Heimatwelt zurück, sobald es meine Pflichten zuließen, denn Aerius ist eine mächtige Industriewelt und ein Eckpfeiler der Herrschaft des Imperiums in diesem Sektor. Durch die Gnade des Imperators traf ich ein, bevor zu viel Zeit verstrichen war.« Sternberg hielt inne, als sammle er noch einmal seine Gedanken. Ragnar erkannte, dass der Mann ein sehr guter Redner und der eigentliche Grund für seine Pause der war, seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Bei der Erwähnung von »Zauberei« und eines »uralten Fluchs« hatte der gesamte Saal spürbar aufgemerkt. »Tatsächlich hatte es viele merkwürdige Vorzeichen gegeben. Ein großer Komet war am Himmel über Aerius erschienen, der Unheilsstern aus der Legende, der nur alle zweitausend Jahre erscheint und stets Unheil ankündigt. Im Augenblick seines Erscheinens gingen ganze Schauer von Sternschnuppen auf die Welt nieder. Am merkwürdigsten war aber, dass die große Schwarze Pyramide in ein unheimliches Leuchten gehüllt war.« Ein Ausdruck des Wiedererkennens war jetzt auf Grimnars Gesicht und denjenigen einiger seiner Ratgeber erschienen. »Dort hat
einmal eine Schlacht stattgefunden …«, murmelte der Große Wolf. »So ist es«, sagte Sternberg. »Ihr Orden hat an der Seite der Armeen des Imperiums gegen die Eldar teilgenommen. Vor beinahe zwei Millennien.« »Auch auf dieses Schlachtfeld schien der Unheilsstern«, fügte Grimnar hinzu. »Was hat das zu bedeuten?« »Diese Schlacht hat in der Tat im Licht des Unheilssterns stattgefunden, und zur gleichen Zeit kam es auf Aerius zum Ausbruch einer Seuche, obwohl sie nicht so schlimm war wie die gegenwärtige. Sie verschwand, als die Schlacht gewonnen war, was viele als ein Zeichen für die Gunst des Imperators betrachteten.« »Fahren Sie fort.« »Als ich auf Aerius eintraf, stand bereits ein großer Teil dieser Welt unter Quarantäne. Weder ich selbst noch meine Ratgeber vermochten etwas auszurichten. Über das Komm-Netz konnten wir Bilder der furchtbaren Auswirkungen der Seuche sehen. Ich beschloss, Chaerons Orakel zu Rate zu ziehen. Chaeron residiert in ihrer uralten Zitadelle auf dem dortigen dunklen Mond.« »Ich habe von dieser Seherin gehört«, sagte der Große Wolf. »Eine vom Imperator gesegnete heilige Frau. Was hatte sie zu sagen?« »Ihre Worte waren rätselhaft wie immer. In ihren Tempelkammern sagte sie zu mir: Der Unheilsstern erleuchtet wieder den Himmel und den Weg des Unreinen in die Freiheit. Seine alten Gefängnismauern sind beinahe unterminiert, und seine Pest wird auf die Welt losgelassen.« »Das ist in der Tat rätselhaft.« »Aye, Großer Wolf. Ich fragte sie, ob der Unreine erneut gefesselt werden könne …« »Und was hat sie gesagt?«, fragte Grimnar eifrig. »Ihre Antwort schien ebenso wenig hilfreich zu sein: Der EldarSchlüssel, jetzt dreigeteilt, muss wieder eins werden. Um das Gefängnis wieder zu versiegeln, muss er in die zentrale Kammer der Schwarzen Pyramide gebracht werden.«
»Zumindest ein Teil des Rätsels scheint klar zu sein«, sagte Logan Grimnar. »Es bezieht sich auf die Schwarze Pyramide, in deren Schatten die große Schlacht ausgetragen wurde.« »Aye, und das ist noch weniger hilfreich. Denn die Pyramide wurde niemals geöffnet. Viele haben es versucht und dabei alle dem Imperium bekannten Methoden angewandt, aber in ihre Mauern konnte keine einzige Bresche geschlagen werden. Welche Zauberei ihre Erbauer auch angewandt haben, sie hat bisher allen Bemühungen der Menschheit widerstanden.« »Russ hat einmal gesagt: Ein unerschrockener Geist wird einen Weg finden, auch wenn er durch einen Wald von Klingen führt.« Sternberg lächelte. »Die Inquisition lehrt ihre Mitglieder, dass sich hinter jeder Frage eine Antwort verbirgt und jedes Problem eine verschleierte Lösung ist.« »Haben Sie Ihre Antwort gefunden, Iwan Sternberg?« »Ich denke schon. Ich habe drei Tage gefastet und über die Antwort des Orakels meditiert. Ich habe zum Imperator um Erleuchtung gebetet.« »Wurde Ihr Gebet erhört?« »Ich glaube es, denn mir kam der Gedanke, dass ich die Worte des Orakels möglicherweise falsch verstanden haben könnte, denn Chaeron spricht leise und wegen ihres Alters undeutlich. Ich hatte zunächst Älteren-Schlüssel verstanden, aber ich hielt es für möglich, dass sie stattdessen Eldar-Schlüssel gesagt haben könnte.« Der Große Wolf wechselte einen vielsagenden Blick mit Ranek und den anderen Wolfpriestern. »Das würde zu unserer Saga der Schlacht passen.« Sternbergs Lächeln wurde breiter, und er machte plötzlich einen sehr aufgeregten Eindruck. »Ihr Orden, hat man mir zu verstehen gegeben, hat ein Artefakt in seinem Besitz, das den Namen Talisman von Lykos trägt. Es handelt sich dabei um einen Kristall mit vielen Facetten von rötlicher Farbe.
Er wurde in der Schlacht gegen die Eldar vor zweitausend Jahren erbeutet. Er ist ein Fragment eines größeren Ganzen, eines Talismans von großer Macht, der von den Sehern der Eldar benutzt und in der letzten Auseinandersetzung zerstört wurde.« Grimnar legte den Kopf ein wenig schief und lächelte kalt. Sein Blick ruhte starr auf dem Runenpriester Ranek. Der hielt dem Blick seines Anführers mühelos stand, als er sagte: »Das entspricht den Tatsachen, Großer Wolf. Obwohl ich gerne wüsste, woher dieser Ordensfremde weiß, was in unserer Ruhmeshalle verwahrt wird.« »Das ist kein Geheimnis«, sagte Sternberg. »Außer Ihrem Orden gibt es noch andere, die Geschichte aufzeichnen. Die Inquisition verfügt ebenfalls über ausgedehnte Archive, und es war ein Inquisitor zugegen, als diese Trophäe errungen wurde. Er gab zu Protokoll, dass sie zur Aufbewahrung der Obhut der Wolfskrieger übergeben wurde. Ich wollte mehr wissen, bevor ich Sie mit einer ominösen Prophezeiung belästigte, Logan Grimnar, also flog ich gleich nach Abramsas und beriet mich mit den Archivaren meines Ordens. Ein Teil wurde den Wölfen überlassen. Ein Teil wurde der Obhut des Befehlshabers der Imperialen Garde, Byran Powys, übergeben, und ein Teil bekam Inquisitor Darke. Sie alle hatten in der Schlacht auf Aerius gekämpft.« »Was ist aus den anderen geworden?«, fragte Grimnar. »Powys und seine Männer kehrten nach Galt zurück. Es existieren keine Aufzeichnungen darüber, was mit seinem Teil des Talismans geschehen ist. Inquisitor Darke und sein Sternenschiff, die Epiphanie, wollten einen Warp-Sprung in die Außensysteme ausführen, sind aber niemals an ihrem Bestimmungsort aufgetaucht. Der einzige Teil des Seher-Artefakts, über dessen Verbleib wir genau Bescheid wissen, ist jener in Ihrem Besitz.« »Warum halten Sie ihn für bedeutsam?«, fragte Ranek scharf. Die Eldar sind ein rätselhaftes Volk und neigen nicht zu langen Erklärungen, aber kurz vor seinem Tod hat der Seher den arkanen
Gegenstand in seinem Besitz als ›Schlüssel‹ bezeichnet.« »Und aufgrund dessen sind Sie nach Fenris gekommen?«, wollte Ranek wissen. Falls der Große Wolf Verärgerung über die Art empfand, wie Ranek sich in das Gespräch einmischte, ließ er sie sich nicht anmerken. Andererseits, dachte Ragnar, war es die Pflicht seiner Ratgeber, Fragen zu stellen und dem Großen Wolf mit ihrem Rat beizustehen. »Wir wissen beide, Bruder Ranek, dass das Schicksal ganzer Welten bereits von Dingen entschieden worden ist, die weniger bedeutsam waren. Wer bin ich, an den Worten des Orakels zu zweifeln? Ich kann nur beten, dass meine Deutung zutreffend ist und ich die Bevölkerung von Aerius retten kann.« Sternberg hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu: »Die Worte des Orakels sind von Sehern meines eigenen Ordens und auch durch meine persönlichen Konsultationen des Imperialen Tarot bestätigt worden.« »Das Tarot ist dafür bekannt, vieldeutig zu sein«, verkündete Aldrek, der oberste Runenpriester. Er strich sich mit klauenartiger Hand durch seinen langen weißen Bart. Der metallene Rabe auf seiner Schulter krächzte. »Durchaus, aber bei all meinen Konsultationen wurde dieselbe Kartenkombination aufgedeckt. Horus’ Auge in Verbindung mit der Großen Hostie, die Zerstörte Welt über dem Imperatorthron, verkehrt herum. Die Galaktische Linse, verkehrt herum.« Wiederum herrschte Schweigen unter den Versammelten rings um den Großen Wolf, da sie über die Bedeutung des Gesagten nachdachten. »Das ist eine überaus schlechte Kartenkombination«, sagte Aldrek. »Sie verkündet große Gefahr für das Imperium: die Versammlung der Mächte des Chaos, den Tod von Welten.« »Das weiß ich«, sagte Sternberg schlicht. »Was der Grund für meine Anwesenheit ist.« Die alten Krieger rings um Grimnar wechselten Blicke. Ragnar
wünschte, er hätte gewusst, was sie dachten. Schließlich ergriff Aldrek das Wort. »Das ist eine sehr ernste Angelegenheit, Großer Wolf. Ich bitte um Erlaubnis, mich mit meinen Brüdern zurückziehen zu dürfen, um die Runen zu befragen.« Grimnar gab mit einem kurzen Nicken seine Zustimmung, und die Runenpriester zogen sich ohne Umschweife in ihre Gemächer zurück. Während ihre Schritte durch den großen Saal hallten, fragte sich Ragnar, was eigentlich vorging. Er wusste so gut wie nichts über das Imperiale Tarot, aber es war offensichtlich, dass seine Vorgesetzten die Worte des Inquisitors mit größter Besorgnis aufgenommen hatten. Er erlegte sich selbst die Pflicht auf, ganz genau auf die weiteren Geschehnisse zu achten. Vielleicht war es nicht der Inquisitor, der zuvor die ungute Vorahnung in ihm wachgerufen hatte, sondern das Wissen, das er bei sich trug. »Wir müssen die Beratungen unserer Runenpriester abwarten«, sagte Grimnar. Ein Ausdruck der Enttäuschung musste über Sternbergs Gesicht gehuscht sein, denn der Große Wolf fügte hinzu: »Nur ein Narr ignoriert die Weisheit seiner Ratgeber, Iwan Sternberg, und kein Großer Wolf kann es sich leisten, ein Narr zu sein.« Sternberg nickte. »Natürlich. Ich verstehe. Ich glaube ohnehin, dass die Runen meine Worte bestätigen werden.« »Das bezweifle ich keinen Augenblick, Iwan Sternberg. Aber wenn wir auch warten, müssen wir dennoch essen. Ein Willkommensmahl wurde vorbereitet. Und was für eines: So etwas habe ich schon seit hundert Jahren nicht mehr gesehen.« »Dann muss es in der Tat ein aufwändiges Bankett sein, alter Freund, denn ich weiß noch, dass Sie und Ihre Gefährten die größten Esser sind, die ich je erlebt habe«, sagte der Inquisitor mit breitem Grinsen. »Gehen wir zu Tisch. Beschreibungen sind schön und gut, aber von Worten wird man nicht satt.«
Der Große Saal wurde von einem gewaltigen Feuer erhellt. Riesige Fackeln loderten in Wandhaltern. Bedienstete eilten mit großen Platten umher, die sich unter der Last von Wildbret, Brot und Käse bogen. Serviermädchen brachten große, mit Ale gefüllte Krüge. Grimnar, Sternberg und sein Gefolge saßen gemeinsam an einer großen Tafel und prosteten einander zwischen den Bissen zu. Ragnar und seine Kameraden saßen am Tisch der Blutkrallen und wechselten Blicke. Für Ragnar war es offensichtlich, dass seine Kameraden ebenso verblüfft über die Worte des Inquisitors und des Großen Wolfs waren wie er selbst, aber er sah auch, dass sie alle ebenso neugierig waren. Alles hatte bedeutsam und ominös geklungen und auf bevorstehende gewaltige Anstrengungen hingedeutet − Anstrengungen, bei denen sie selbst eine Rolle spielen mochten. Ragnar richtete ein Stoßgebet an Russ, dass es so sein möge. Der junge Wolf riss ein Bruststück vom Hähnchen auf dem Tisch vor sich und stopfte es sich in den Mund, um es mit einem Schluck Ale herunterzuspülen. Der Schaum blubberte in seinem Mund. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass die Inquisitorin ihn anstarrte, und er hustete überrascht und besprühte Sven mit Ale. »Wie immer hast du Schwierigkeiten, dein verfluchtes Bier bei dir zu behalten, Donnerfaust«, knurrte Sven ihn an. »Vielleicht solltest du bei Milch bleiben. Jeder weiß, dass du sie ohnehin vorziehst.« »Der Tag, an dem ich dich nicht mehr unter den Tisch trinken kann, ist der Tag, an dem ich genau das tue«, sagte Ragnar sofort, indem er den Blick wieder auf die Inquisitorin richtete. Zu seiner Enttäuschung sah er, dass ihre Aufmerksamkeit wieder Sternberg und dem Großen Wolf gehörte. Dafür bemerkte er, dass der Wolfpriester Ranek ihn jetzt nachdenklich ansah, und er schaute eiligst wieder weg. »Das hört sich nach einer Wette an«, sagte Sven. »Schade, dass ich dich nicht bei deinem verfluchten Wort nehmen kann! Ich will dich nicht dazu zwingen, für den Rest deines Lebens auf Ale zu verzichten. Das wäre eine Strafe schlimmer als der Tod.«
»Hast du Angst?«, fragte Ragnar. »Nur um dich. Ich nehme deine Wette an, aber nur, wenn der Einsatz darin besteht, dass der Verlierer die nächste Woche nur Milch trinken darf. Ich will nicht, dass du Torvalds Schicksal teilst.« Ragnar war der Ansicht, dass das anständig klang. Keiner von ihnen musste sich verpflichten, für den Rest seines Lebens kein Ale mehr anzurühren, ein Opfer, das für jeden Wolfskrieger eine Qual wäre. In der ganzen Geschichte des Ordens hatte nur ein Mann jemals diesen Preis bezahlen müssen, Torvald der Milde, und es hieß, er sei wahnsinnig geworden. Ragnar griff nach dem Krug, um mit dem Trinken zu beginnen, doch bevor sie mit dem Austragen ihres Wettstreits anfangen konnten, wurde die Tür zum Großen Saal aufgestoßen. Die Runenpriester kehrten mit grimmigen Mienen zurück. Sie marschierten geradewegs zum Haupttisch, und je mehr Leute ihre Anwesenheit bemerkten, desto stiller wurde es. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf sie. Logan Grimnar legte den Kopf auf die Seite. »Ihr habt die Runen zu Rate gezogen, Brüder.« Es war keine Frage. »Wir haben sie zu Rate gezogen, Großer Wolf, und sie auf die vorgeschriebene Weise geworfen, wie unsere Vorfahren es in den vergangenen zehntausend Jahren getan haben.« »Was haben sie enthüllt?« »Die Zukunft ist düster, Großer Wolf.« Nichts Neues von dieser Seite, dachte Ragnar. Wenige Propheten würden sich mit diesen Worten je den Ruf erwerben, Narren zu sein. »Aber wir glauben, dass wir Inquisitor Sternberg alle Hilfe gewähren müssen, die wir ihm geben können. Allem Anschein nach nimmt die Bedrohung durch den Dunklen Feind zu, und man kann ihrer nur durch die Benutzung dieses Talismans Herr werden, von dem die Rede war. So viel ist uns klar.« Logan Grimnar dachte kurz über diese Worte nach. »Dann ist es mir ein Vergnügen, Ihnen Ihre Bitte zu gewähren, Iwan Sternberg«, sagte der Große Wolf an den Inquisitor gewandt. »Allem Anschein
nach kann ich dadurch auch dem Imperium und meinen Brüdern zu Diensten sein.« Inquisitor Sternberg nickte anerkennend. »Ich danke Ihnen, Großer Wolf.« Ranek beugte sich vor und flüsterte dem Großen Wolf etwas ins Ohr. Logan Grimnar nickte und drehte sich um − und aus irgendeinem Grund fiel sein durchdringender Blick dabei für einen Moment auf Ragnar. Nach drei Herzschlägen wandte Grimnar sich wieder ab und nickte Ranek zu. Ragnar dachte sich nichts dabei, und während ringsumher das Gemurmel an den Tischen wieder einsetzte, richtete er seine Aufmerksamkeit erneut auf das Mahl − doch wenig später tauchte Ranek neben ihm auf. »Bruder Ragnar, ich wünsche mit dir zu reden«, befahl der Wolfpriester. »Komm mit in mein Gemach.« »Sieht so aus, als hättest du dich gerade vor der Wette gedrückt«, sagte Sven. »Es wird andere geben«, murmelte Ragnar, während er sich fragte, was wohl so wichtig war, dass er mit dem Wolfpriester das Festmahl verlassen musste.
ZWEI
»Dies ist eine wichtige Aufgabe, Bruder Ragnar«, sagte Ranek mit Nachdruck. Ragnar stand bequem vor dem Wolfpriester und sah sich in der Kammer um. Es war keiner der größeren Räume, die von den Wolfpriestern für Besprechungen und Zusammenkünfte benutzt wurden. Es war überhaupt kein heiliger Ort, nur ein Zimmer im Bau des Großen Wolfs, der ihnen als Gesprächsraum zugewiesen worden war. Nein, mehr als das, ging Ragnar plötzlich auf − es war ein Gemach, das Ranek zugewiesen war. Er konnte den Geruch des alten Mannes wahrnehmen, der hier so stark war wie der Geruch eines Wolfs in seinem Bau. Alle anderen Duftspuren waren vergleichsweise schwach. Jetzt sah er den Raum mit anderen Augen und suchte nach irgendetwas, das ihm neue Einsichten in die Persönlichkeit des alten Mannes vermitteln mochte. »Ich glaube Ihnen«, sagte Ragnar, »aber warum übertragen Sie sie mir? Es muss doch andere geben, die sie besser erfüllen können. Warum sollte ich derjenige sein, der sich mit diesen Außenstehenden befasst?« Ranek ließ sich auf einem steinernen Sitz nieder und fuhr sich mit knorriger Hand durch seinen langen weißen Bart. Der Blick seiner stechenden blauen Augen bohrte sich in Ragnars. Der junge Wolf zwang sich, dem Blick des Älteren trotz seines Unbehagens zu begegnen. »Du willst das nicht tun, habe ich Recht, Junge?« Ragnar kratzte sich am Kopf. Es war einige Zeit her, als der Priester ihn zuletzt so genannt hatte, und es weckte Erinnerungen an seine erste Begegnung mit dem alten Mann, die ein Leben zurückzuliegen schien und stattgefunden hatte, als er noch ein Barbar war und auf einer Insel irgendwo in Fenris’ weltumspannenden Meeren gehaust
hatte. »Ja, Sie haben Recht. Ich will es nicht tun.« »Warum nicht?« Das war eine gute Frage, aber Ragnar war seiner Antwort nicht sehr sicher. Er wollte die Neuankömmlinge nicht im Reißzahn herumführen, obwohl er ziemlich neugierig und versessen darauf war, mehr über sie zu erfahren. Warum widerstrebte es ihm dann aber so sehr, Zeit mit ihnen zu verbringen? »Ich würde lieber mit meinen Schlachtbrüdern meine Ausbildung fortsetzen«, brachte er heraus. »Das ist verständlich, aber dafür wirst du später immer noch mehr als genug Zeit haben.« Seinem Geruch konnte Ragnar entnehmen, dass Ranek ihm nicht wirklich glaubte. Ragnar zuckte die Achseln und setzte seine Betrachtung von Raneks Zimmer fort. Es war nicht größer als eine Meditationszelle und spartanisch möbliert. Es gab eine große Granitplatte, die als Tisch diente, und den behauenen Steinklotz, den der alte Mann als Stuhl benutzte. Dicke Felle waren über den Stein geworfen, um ihn zu polstern. Zweifellos hatte der Wolfpriester die Tiere selbst erlegt. Auf der Tischplatte ruhte eine Lichtkugel, eine der ewig brennenden Lampen der Alten. Sie war in den Schädel eines verdächtig humanoiden, fremdartigen Ungeheuers eingelassen. Neben dem rätselhaften Artefakt lagen Pergamentrollen und einer der mit einer Federspitze versehenen Griffel, die von den Wolfskriegern zum Schreiben verwendet wurden. Ranek folgte Ragnars Blick und verstand. »Ein Ork«, sagte er mit Blick auf den Schädel. »Die Grünhaut war der erste Außenweltler, den ich je getötet habe. Ich habe seinen Schädel als Trophäe behalten. Ich wollte ihn als Trinkgefäß benutzen.« Ragnar sah den alten Mann fasziniert an. Er hatte diese Geschichte noch nie zuvor gehört. Er fragte sich, wie alt der Schädel wohl war. Berücksichtigte man Raneks Alter, musste ihn der ursprüngliche Besitzer bereits vor Jahrhunderten verloren haben. »Keine gute Idee. Er hat die falsche Form: das Bier läuft durch die Augenhöhlen.« Ragnar brauchte ein paar Augenblicke, um zu begrei-
fen, dass der alte Mann einen Witz gemacht hatte. Der Priester bleckte seine langen Eckzähne in einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. Es verschwand so rasch, wie es gekommen war. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.« Ragnar sah ihn an. »Ich denke schon.« Ranek schüttelte den Kopf. »Du hast bis zu einem gewissen Grad wahr gesprochen, aber du sagst mir nicht alles, was du denkst.« Diesmal lächelte Ragnar den Wolfpriester an. Ranek war schwer zu täuschen. Vielleicht fehlten ihm die Gedankenlese-Fähigkeiten der Wolfpriester, aber seine beunruhigenden kalten Augen konnten mit gleicher Leichtigkeit in das Herz eines Mannes schauen. Ragnar beschloss, seine Zweifel auszusprechen. Das war die Art seines Volks. »Ich habe keine wirkliche Antwort. Diese Fremden haben etwas an sich, das mir Unbehagen verursacht. Ich weiß eigentlich nicht, warum, aber ich spüre eine Falschheit in alledem. Ich bin nicht sicher, ob der Große Wolf ihnen hätte erlauben sollen, hierher zu kommen. Ich glaube nicht, dass er ihnen unsere Trophäen überlassen sollte.« Obwohl er sich überwand und seine Zweifel äußerte, fragte ein Teil von ihm sich, ob es richtig war. Wer war er, das Urteilsvermögen des Großen Wolfs anzuzweifeln? Andererseits war es das heilige Recht jedes fenrisischen Kriegers, seine Meinung zu äußern, und wenn die Wolfskrieger etwas waren, dann fenrisische Krieger. Zu seiner Überraschung hielt Ranek sich jetzt gerader. Sein Geruch verriet ihm, dass der alte Priester ihm jetzt viel mehr Aufmerksamkeit schenkte. »Du hast Zweifel, was die Fremden angeht?«, fragte Ranek. »Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Vielleicht an ihrer Mission. An irgendwas. Da ist etwas, das mir Unbehagen verursacht.« Ranek nickte unmerklich. »Ich stimme dir zu.« Ragnar war nicht überrascht. Der Geruch des alten Mannes verriet etwas von seinen Gefühlen. Witterungen zu lesen war Teil der Zugehörigkeit zum Rudel. Genau das war es, was die Wolfskrieger mit einer Koordination und Präzision handeln ließ, wie sie nur wenige
andere Menschen aufbringen konnten. »Bedauerlicherweise ist der Große Wolf in diesem Punkt nicht einer Meinung mit mir.« Ragnar hob eine Augenbraue und änderte unbehaglich seinen Stand. Solche Meinungsverschiedenheiten gab es innerhalb der Führungsspitze nur selten. Nein, korrigierte er sich: Das konnte er nicht beurteilen. Es sah nur so aus. Vielleicht gab es sie immer, und er hatte bisher nur noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu sehen. Er war eine Blutkralle in der Ausbildung und hatte nur selten Kontakt mit den mächtigen Oberen des Ordens. Dafür gab es nur wenige Gelegenheiten. Sie verbrachten viel Zeit draußen im Feld. Im Vergleich dazu war er noch nicht viel weiter als bis zum Reißzahn gekommen. »Logan Grimnar vertraut Sternberg. Der Inquisitor hat ihm vor langer Zeit das Leben gerettet, und das begründet eine Ehrenschuld.« »Wollen Sie damit sagen, Sie trauen ihm nicht?«, erkühnte sich Ragnar. Es war dreist von einer Blutkralle, einem so viel Höherrangigen wie dem Wolfpriester eine solche Frage zu stellen, aber irgendwie wusste Ragnar, dass er eine ehrliche Antwort bekommen würde. Ranek lächelte, aber im faltigen Gesicht des Mannes lag keine Wärme. »Ich traue ihm durchaus«, sagte er. »Ich bezweifle nicht, dass er dem Imperator treu ergeben ist. Weder an ihm noch an einem Mitglied seines Gefolges ist irgendein Makel festzustellen … aber er ist keiner von uns. Er gehört nicht zum Rudel, und es gibt Geheimnisse im Reißzahn, die nur Angehörige des Rudels kennen sollten.« Ragnar glaubte zu wissen, was der Wolfpriester meinte. Zwischen den Wölfen, zwischen all jenen, die durch Morkais Tor gegangen waren und Russ’ Gensaat in sich trugen, gab es ein Band. Kein Außenstehender konnte daran teilhaben. Und diese Außenweltler waren Außenstehende und mehr. Sie gehörten nicht zum Rudel. Sie hatten nicht das Gefühl von Orts- und Gruppen-Identität wie jedes einzelne Ordensmitglied. Dann stolperte er über etwas anderes, das der Wolfpriester zu ihm gesagt hatte, und er hätte beinahe gelacht.
»Ich bin nur eine Blutkralle«, sagte Ragnar. »Ich weiß nur sehr wenig über irgendwelche Geheimnisse.« Ranek lächelte. »Dann kannst du sie auch nicht verraten, oder?« Diesmal lachte Ragnar tatsächlich, da er die Verschlagenheit des alten Wolfpriesters nun zu würdigen wusste. Es stimmte: Er konnte nicht verraten, was er nicht wusste. Auf der anderen Seite würden ranghöhere Ordensmitglieder natürlich mehr über die alten Geheimnisse wissen als er − aber war es wirklich so wahrscheinlich, dass sie sie Fremden verraten würden? Er richtete diese Frage an Ranek. »Allzu wahrscheinlich«, sagte Ranek. »Inquisitoren sind gut darin, Geheimnisse auszuschnüffeln. Sie können gar nicht anders. Es ist ihre große, aber wenig beneidenswerte Aufgabe im Leben. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es ihr Leben ist. Ein Krieger müsste schon sehr gerissen sein, um regelmäßig mit ihnen zu verkehren und dennoch seine Geheimnisse zu wahren.« Sein Tonfall wurde vollkommen ernst. »Und ich habe meine Zweifel in Bezug darauf, was hier vorgeht. Ich weiß nicht, warum es so ist, aber ich empfinde dasselbe wie du. Meine Instinkte verraten mir, dass etwas Gefährliches bevorsteht, etwas, das unseren Orden bedroht. Ragnar, ich will, dass du diese Fremden herumführst, und ich will, dass du ein sorgsames Auge auf sie hast. Außerdem will ich, dass du mir alles berichtest, was du siehst. Du hast eine rasche Auffassungsgabe und scharfe Sinne. Deshalb habe ich dich für diese Aufgabe ausgesucht.« »Soll ich Ihnen direkt Bericht erstatten?« »Ja.« »Und sonst niemandem? Nicht einmal dem Großen Wolf?« »Nur, wenn er etwas Entsprechendes anordnet.« »Ich werde tun, was Sie befehlen«, sagte Ragnar unbehaglich. Er fragte sich, was tatsächlich vorging. Er spürte Uneinigkeit innerhalb des Oberkommandos, Gegenströmungen im Meer der Ordenspolitik, über die er nur Vermutungen anstellen konnte. Vielleicht handelte der Wolfpriester auf Anweisung des Großen Wolfs. Vielleicht wollte er in Ragnar einfach nur den Eindruck erwecken, er handele aus eigenem
Antrieb. Warum das der Fall sein sollte, konnte Ragnar sich nicht denken. Von derartigen Spekulationen schwirrte ihm nur der Kopf, also unterdrückte er sie. Es war immer das Leichteste, sich an die einfachsten Schlussfolgerungen zu halten, bis sie sich als falsch erwiesen. Außerdem war er in gewisser Hinsicht auch froh, für diese Aufgabe ausgewählt worden zu sein. Er war neugierig in Bezug auf die Fremden … insbesondere auf die Frau. »Gut«, sagte Ranek. »Sei offen zu ihnen. Führ sie herum. Sag ihnen, was du weißt.« »Und ich berichte Ihnen, was sie wissen wollen?« Ranek nickte und antwortete mit einem breiten, zahnbewehrten Grinsen. Ragnar fragte sich, worauf er sich einließ. Die große Holztür schwang zurück, und Ragnar schritt wachsam in die dem Inquisitor und seinem Gefolge zugewiesenen Gemächer. Sie hatten ihre Umgebung bereits verändert. Es roch anders, erstickend nach Räucherwerk und seltsamen, raffinierten Parfümen von anderen Welten. Aus den Tiefen der Gemächer drangen die Geräusche skandierender Stimmen. In imperialem Gothisch, der Standardsprache des Imperiums und all ihrer Liturgien, wurde eine Litanei angestimmt. Irgendwo wurden die Lobgesänge auf den Imperator rezitiert, immer und immer wieder. Die uralten Worte hallten durch den Korridor. Das nackte Gestein der Mauern war hinter roten Brokatbehängen verborgen. Ragnar fragte sich, wie sie so schnell hatten angebracht werden können, bis er sah, dass jede Stoffbahn von einer Suspensorkugel gehalten wurde, die auf ihrem eigenen Antischwerkraftfeld schwebte. Er strich mit den Fingern über den schweren Stoff. Er war dick und weich, bedeutend feiner gewebt als alles, was auf Fenris produziert wurde. Jede große, rechteckige Stoffbahn war von Gold und kostbaren Steinen umsäumt, und auf jeder prangte das Symbol der Inquisition. Vor ihm brannten zwei enorme Kohlepfannen − und zwischen den beiden standen zwei schwarz gewandete Männer. Weite Kapuzen verbargen ihre Gesichter. Boltpistolen lagen in ihren
Händen. Der linke Wachposten streckte die geöffnete Hand in einer Geste aus, die Ragnar verriet, dass er stehen bleiben sollte. »Was ist Ihr Anliegen?«, fragte der rechte Wachposten beinahe so, als befänden sie sich nicht in den Tiefen des Reißzahns. Als hätte Ragnar überhaupt kein Recht, hier zu sein. »Ich bin Ragnar von den Wolfskriegern. Man hat mich geschickt, um Inquisitor Sternberg im Reißzahn als Führer zu dienen.« Der Posten sprach in ein kleines Messinggerät an einem Lederarmband. Die Worte entstammten einer Sprache, die Ragnar nicht kannte, obwohl das nicht weiter überraschend war. Im Imperium gab es Millionen Sprachen, und er sprach nur Fenrisisch und imperiales Gothisch, das ihm von den Lehrmaschinen im Reißzahn eingetrichtert worden war. Der Wolf wartete und musterte dabei die Fremden eingehend. Ihre Überheblichkeit ärgerte ihn, aber er war entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen. Er sog ihren Geruch ein. Er war menschlich, enthielt aber viele fremdartige Spuren. Es war der Geruch von Menschen, die sich ihr Leben lang von anderer Kost ernährt und andere Luft geatmet hatten, die unter einem anderen Himmel geboren waren als er. »Sie können passieren, Ragnar von den Wolfskriegern«, sagte der Posten. Das Paar vollführte eine scharfe Vierteldrehung auf den Fersen, sodass eine Öffnung entstand, durch die er hindurchtreten konnte. Das Manöver wurde mit einer Disziplin und Präzision ausgeführt, die Ragnar belustigend fand. Ein Teil seiner Ausbildung hatte sich auch mit der militärischen Ausbildung anderer imperialer Einheiten befasst. Er wusste, dass sie süchtig nach Marschieren, Formationen und allen möglichen Zurschaustellungen von Disziplin waren, Dinge, mit denen die Wolfskrieger sich nur selten beschäftigten und die sie als sinnloses Gepränge betrachteten. Natürlich hatte man ihm auch beigebracht, dass sie die Wolfskrieger wiederum für barbarisch hielten. Jedem das seine, dachte Ragnar, als er vortrat. Einer der Posten folgte ihm, und Ragnar war nicht sicher, ob dies den Zweck hatte, ihm den Weg zu zeigen, oder ob er eskortiert wurde
wie ein Gefangener. Zwei weitere Posten mit dunklen Kapuzen waren bereits aus dem inneren Gemach getreten, wie von einer Maschine ausgespien. Er erkannte durchaus, wie manche Besucher durch derartiges Verhalten eingeschüchtert werden mochten. Vielleicht hätte das sogar für ihn gegolten, hätten sie sich nicht mitten im Herzen des Reißzahns befunden. Außerdem bezweifelte er ernsthaft, dass diese beiden Krieger, so gut ausgebildet sie auch sein mochten, ihn aufhalten konnten, falls es zu einem Kampf kam. Schließlich war er ein Space Marine. Sie erreichten das innere Gemach, und Ragnar sah, dass es wie das erste mit vielen Behängen unterteilt worden war. Es war, als befände er sich in einem vielfach unterteilten Zelt. Das gab jeder Person des Gefolges ein klein wenig Privatsphäre. Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet, veränderte diese Maßnahme außerdem das Gelände, was einen etwaigen Eindringling für ein paar Augenblicke verwirren mochte. Ragnar hätte bei diesem Gedanken beinahe laut gelacht. Als könnte das die Wölfe mitten in ihrem eigenen Bau aufhalten. Er schüttelte den Kopf, als ihm aufging, dass er naiv war. Diese Unterteilung war schlicht und einfach eine Standardvorgehensweise für diese Leute, keine besondere Maßnahme für den Reißzahn. Vielleicht würde sie an anderen Orten auf anderen Planeten ihren Zweck auf bewunderungswürdige Weise erfüllen. Er beschloss, mit seinem Urteil noch zu warten. Er wurde von den beiden Wachen durch ein gewundenes Labyrinth aus Stoffkorridoren geführt. Das bekümmerte ihn nicht. Es würde ein Leichtes für ihn sein, seiner eigenen Witterung zurück zum Ausgang zu folgen. Er begriff, dass diese Maßnahmen ihm weitere Informationen über diese Außenweltler lieferten. Sie dachten in Kategorien wie Labyrinthe und Puzzles, wie Täuschung und Betrug. Ihre Denkweise war höchstwahrscheinlich gleichermaßen verschlungen. Bei ihrem Gang durch das Gebäude fielen Ragnar die Aktivitäten ringsherum auf. In einigen der abgeteilten Räume meditierten Män-
ner. In anderen kritzelten Schreiber mit ihren Griffeln auf den Pergamentseiten großer Folianten. Voraus konnte er das Klirren von Klinge auf Klinge vernehmen. Es hörte sich an, als seien zwei Personen in einen Übungskampf vertieft. Die drei schritten durch einen Eingang, an dem die Behänge zurückgeschlagen waren, und Ragnar sah, dass er Recht gehabt hatte. Der Salzgeruch nach Schweiß und der harte, stechende Gestank der Aggression trafen seine Nase wie ein Schlag. Seine Nüstern zuckten, und er sah aufmerksam zu. Die Inquisitoren Sternberg und Isaan trugen einen Übungskampf auf einer gepolsterten Kampfmatte aus. Sie wendeten eine Technik an, die er noch nie gesehen hatte, lange Umhänge in einer Hand, ein Messer in der anderen. Die Umhänge wurden einander entgegengeschleudert, um die Sicht zu beeinträchtigen, oder in der Art eines Netzes, um den Gegner zu Fall zu bringen. Ragnar schaute fasziniert zu. Sie waren beide sehr gut. Sternberg war größer und hatte die größere Reichweite, aber die Frau war schneller und schien die Bewegungen des Mannes besser vorhersehen zu können. Sternberg täuschte einen Hieb an und stach gerade zu, aber sie stand nicht mehr vor ihm. Ihr Umhang zuckte wie eine Peitsche vor, um sich um seine Beine zu wickeln. Der Art, wie der Stoff sich bewegte, konnte Ragnar entnehmen, dass er beschwert und als Waffe konzipiert war. Auch das verriet ihm etwas über diese Leute. Sie verbargen ihre Waffen sogar in harmlosen Kleidungsstücken. Er nahm an, dass die in die Säume eingenähten Gewichte, wenn der Umhang wie eine Peitsche benutzt wurde, einen Mann bewusstlos schlagen, ihm vielleicht sogar den Schädel zerschmettern konnten, obwohl er bezweifelte, dass sie der verstärkten Knochenstruktur der Space Marines etwas anhaben konnten. Sternberg sprang hoch und ließ den Umhang unter sich hindurchsausen, aber das war ein Fehler. Im Nahkampf auch nur mit einem Fuß die Bodenhaftung zu verlieren war normalerweise bereits einer. Es brachte einen aus dem Gleichgewicht. In die Luft zu springen war
noch schlimmer. Man hatte überhaupt keinen Halt mehr. Isaan bewies dies auf bewundernswerte Weise. Ihr gestreckter Arm prallte gegen Sternbergs Brust und warf ihn zurück. Seine Finger öffneten sich, und der Umhang fiel zu Boden. Einen Moment lang hielt Ragnar ihn für besiegt, aber dann ging ihm auf, dass er sich geirrt hatte. Als Sternberg auf den Boden schlug, wälzte er sich herum, wobei die Füße über seinen Kopf strichen, aber dabei schlug er mit seinem nun freien Arm auf den Boden und mit ihm als Hebel drehte er sich wie ein Kreisel und trat der Frau die Beine unter dem Leib weg. Sie fiel rückwärts auf die Matte, und der Mann schoss mit einer Geschwindigkeit vorwärts, wie er sie zuvor noch nicht an den Tag gelegt hatte, und hielt ihr das Messer an die Kehle. »Geben Sie auf«, sagte er geschmeidig. »Ich gebe auf«, keuchte sie. »Ein gutes Manöver, am Schluss. Ich hatte gedacht, Sie wären heute ein wenig langsam.« Ragnar betrachtete Inquisitor Sternberg mit neuem Respekt. Offenbar hatte er die ganze Sache so geplant, seine Kollegin in die Falle gelockt und sie dann rasch zuschnappen lassen. Er hatte nicht nur sein Messer als Waffe benutzt, sondern vor allem seinen Verstand, und es war schwer zu sagen, was von beiden schärfer war. Ragnar spendete Applaus nach Kriegerart, indem er sich mit der offenen Hand ans Brustharnisch schlug. Bei dem Geräusch drehte Sternberg sich um und verbeugte sich lächelnd vor ihm. Ragnar nahm sich einen Augenblick Zeit, um den Inquisitor eingehend zu studieren. Aus der Nähe betrachtet, sah der Mann ebenso hart wie ein Wolfpriester aus. Seine Haare waren so grau, dass sie fast weiß wirkten, aber davon abgesehen sah Sternberg jugendlich aus. Seine Haut war gebräunt, und seine Zähne waren weiß und ebenmäßig. Die Augen waren grau, gelassen und wachsam. Sein Lächeln war angenehm, sogar freundlich, aber diese Freundlichkeit schien nicht ganz bis zu den Augen zu reichen. »Seien Sie gegrüßt, mein Freund«, sagte Sternberg trotz der körperlichen Anstrengung ganz ruhig. »Was führt Sie her?«
»Man hat mich beauftragt, Ihr Führer zu sein und Ihnen alle Fragen zu beantworten, die Sie in Bezug auf den Reißzahn haben könnten.« »Und auch solche, die ich in Bezug auf jene Dinge habe, derentwegen ich hergekommen bin?« »Über diese Dinge weiß ich nichts − aber ich kann Sie zu denjenigen führen, die Bescheid wissen.« »Gut«, sagte der Inquisitor. »Ich brenne darauf anzufangen. Das Leben vieler Menschen steht auf dem Spiel, und wir haben keine Zeit zu verschwenden.« »Dann lassen Sie uns die Archivare aufsuchen«, sagte Ragnar. Es lief nicht gut, dachte Ragnar. Vordergründig schienen die Inquisitoren entspannt und charmant zu sein, aber ihre Witterung verriet Ragnar, dass sie tatsächlich verärgert und enttäuscht waren. In diesen Dingen trog ihn seine Nase nie. Kein Space Wolf würde sich von ihrem äußerlichen Gehabe täuschen lassen, und auch der Archivar war ein Space Wolf. Auf die unterdrückte Unduldsamkeit der Besucher schien er seinerseits mit Verärgerung zu reagieren. Um sich von dem Gefühlswirbel abzulenken, sah Ragnar sich in diesem Abschnitt der Halle der Schlachten um. Eine Ecke des riesigen Saals wurde von flackernden Bildschirmen und dem wuchtigen Eisen- und Messinggestell der uralten Denkmaschine ausgefüllt. Es roch nach Ozon und Maschinenöl. Das Zischen von Kolben und das Summen von Kondensatoren drang an seine Ohren. In den Wänden gab es unzählige Nischen mit glatten Steinplatten. Ragnar wusste, dass diese Platten Runensteine waren und auf irgendeine, nur den Eisenpriestern bekannte Art Informationen speicherten, welche die Maschine lesen konnte. Die Steine waren ein so gut wie unzerstörbares Lager für Wissen aus der gesamten Geschichte der Wolfskrieger. »Es wird einige Zeit dauern, um das zu finden, was Sie suchen«, sagte Archivar Tal gereizt. Er war ein ältlicher Wolfpriester, der sogar noch älter aussah als Ranek, doch viel weniger stämmig. Das Alter
schien ihn von jeder Faser überflüssigen Fleisches befreit zu haben. Sein Bart war lang und struppig. Sein eines Auge lag tief in seiner Höhle. Anstelle des anderen funkelte sie die grünliche Kameralinse einer bionischen Vorrichtung an. Ragnar sah das Spiegelbild des Inquisitors auf dem polierten Glas. Als der Archivar eine Hand hob, erwiesen sich seine Fingernägel als so lang, dass sie wie Krallen aussahen. »Wie viel Zeit?«, fragte Sternberg. Seine Stimme klang ruhig und gelassen. Hätte Ragnar nicht die Witterung des Mannes in der Nase gehabt, er hätte keine Spur von Ungehaltenheit darin entdecken können. Der Archivar zuckte die Achseln, und der Rabe hüpfte von seiner Schulter und trippelte über das Pult, bevor er mit den Flügeln schlug und sich in die Luft erhob. Ragnar schaute dem Vogel hinterher. Für einen Moment sah er unter dem riesigen Dach der Kaverne wie ein Schatten aus, dann verschwand er in der Dunkelheit. Dieser Teil der Halle der Schlachten war nicht sonderlich gut beleuchtet und roch muffig. »Wer kann das sagen? Ich werde jung Ragnar davon in Kenntnis setzen, wenn ich die Runensteine gefunden habe, die enthalten, was Sie suchen. In der Zwischenzeit wäre es wohl das Beste, wenn Sie in Ihre Gemächer zurückkehrten. Ihre Anwesenheit hier ist lediglich eine Ablenkung.« »Der Große Wolf hat angeordnet, dem Inquisitor und seinen Mitarbeitern jede verlangte Unterstützung zukommen zu lassen«, sagte Ragnar. Er fühlte sich nicht ganz so gelassen, wie er klang. Der Archivar war für seine bärbeißige Art berüchtigt. »Es steht dir nicht zu, mich daran zu erinnern, was der Große Wolf angeordnet hat, jung Ragnar. Dafür ist mein Gedächtnis durchaus gut genug. Ich bin der Hüter der Aufzeichnungen. Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, was er erst gestern gesagt hat. Ich sage lediglich, dass alles viel schneller gehen würde, wenn niemand hier wäre, der mir alberne Fragen stellt und mich mit törichten Bemerkungen reizt.«
»Das sehe ich«, sagte Ragnar ungehalten. »Und ich kann auch gut auf deine Unverschämtheiten verzichten, Jüngling. Ich bin noch nicht so alt, dass ich einem bartlosen Welpen, der mir frech kommt, keine anständige Tracht Prügel mehr verabreichen könnte.« Ragnar sah den alten Mann verdrossen an. Er schien es ernst zu meinen, aber das war schwer zu sagen. Der Archivar war auch für seinen absonderlichen Sinn für Humor bekannt. Das Alter hatte ihn exzentrisch werden lassen. Senil, behaupteten manche. Ragnar analysierte die Witterung des Mannes. Es lag Groll darin. Haltung und Tonfall ließen darauf schließen, dass er sich nicht gegen Ragnar richtete, sondern gegen die Außenweltler. Allem Anschein nach widerstrebte es auch dem Archivar, die Geheimnisse der Wolfskrieger Leuten zugänglich zu machen, die er nicht kannte. »Können Sie mir nicht wenigstens andeutungsweise sagen, wie lange es dauern wird?«, fragte Ragnar auf Fenrisisch, das auch als geheime Gefechtssprache der Wolfskrieger Verwendung fand. Er sah das gute Auge des Archivars kurz in Sternbergs Richtung zucken. Sein eigener Blick folgte. »So lange wie nötig«, sagte Tal. Ragnar sah ebenfalls, worauf der Archivar achtete. Kein noch so kurzes Aufflackern von Verständnis huschte über Sternbergs Miene. Vermutlich kannte der Inquisitor ihre Sprache nicht. Aus irgendeinem Grund hoffte Ragnar, dass dies der Fall war. »Es gibt Millionen Runensteine, Blutkralle, und die Inhaltsverzeichnisse sind nicht sehr zuverlässig. Solche Recherchen brauchen Zeit. Du solltest lernen, dich in Geduld zu üben. Das gilt auch für deine Außenwelt-Kameraden.« »Ich werde es mir merken«, sagte Ragnar mürrisch. »Ich hoffe, dass die Sterbenden auf Aerius auch lernen, sich in Geduld zu üben. Das Schicksal einer Welt steht auf dem Spiel.« Der Archivar schnaubte. »Wenn du in mein Alter kommst, Jüngling, wird dir längst klar geworden sein, dass immer irgendwo das
Schicksal einer Welt auf dem Spiel steht.« »Wie lange wird es noch dauern?«, fragte Inquisitorin Isaan, während sie sich voller Ungeduld in der Halle der Schlachten umsah. Sie klang nicht sehr erfreut. Offentsichtlich liefen die Dinge nicht so gut, wie sie sich vorgestellt hatte. »So lange es eben dauert«, sagte Ragnar. Er folgte seinem Blick, seltsam froh darüber, dass Sternberg sie nicht begleitet hatte, was es ihm ermöglichte, allein mit der Frau zu sein. Sternberg hatte weit weniger Interesse an den Wundern der Halle gezeigt und wartete beim Archivar. Die große Statue von Oberik Kelman, dem 23. Großen Wolf des Ordens, funkelte zornig auf das Paar herab. Kelman war für sein Temperament berühmt und anfällig für beängstigende Wutausbrüche gewesen. Ragnar gab sich alle Mühe, im Angesicht der Ungeduld der Inquisitorin sein Temperament zu zügeln. Obwohl er ihr die Ungeduld nicht verdenken konnte. Auch ihm wären raschere Fortschritte lieber gewesen, aber er hatte das Gefühl, dass sie ihm irgendwie die Schuld gab, und ihre ständigen Fragen beschleunigten die Vorgänge nicht im Geringsten. »Und wie lange wird das genau sein?« Karah Isaan funkelte ihn mit katzenhaften grünen Augen an. Sie war fast so groß wie er und braunhäutig, und sie hatte eine kecke Nase und breite Lippen. Ihre Haare waren glänzend schwarz. Sie war die exotischste Frau, die er je gesehen hatte, aber in diesem Augenblick hatte sie nichts an sich, was auch nur im Mindesten attraktiv war. »Ich glaube, ich verstehe, warum Sie Inquisitorin sind«, erwiderte Ragnar. »Wenn Sie jemandem eine Frage stellen, lassen Sie nicht mehr locker.« »Und Sie weichen wiederum einer Antwort aus.« »Die Antwort ist ganz einfach, werte Dame: Ich weiß es nicht. Ich bin kein Archivar. Ich bin lediglich Ihr Führer.« »Und unser Wachhund.«
Ragnar sah sie voller Verblüffung darüber an, dass sie so etwas andeuten konnte. In diesem Tonfall kam es einer Beleidigung nahe. »Das sind Worte, für die ich Sie fordern würde, wenn …« »Wenn ich ein Mann wäre?« Ragnar hätte beinahe gelächelt. Genau das hatte er sagen wollen. Die Frauen auf den Inseln kämpften nicht, und er hatte keine Ahnung, wie er eine Frau behandeln sollte, die sich benahm, als sei sie jedem Krieger gewachsen. Anstatt etwas zu sagen, brummte er lediglich zustimmend. »Lassen Sie sich davon nicht aufhalten«, sagte sie. »Ich habe eine Kampfausbildung erhalten wie alle Inquisitoren.« »Davon bin ich überzeugt. Aber das wäre ein furchtbarer Bruch der Gastfreundschaft. Wir töten unsere Gäste nicht.« »Sie sind sehr sicher, dass Sie mich töten könnten.« »Ja.« Die simple Feststellung einer Tatsache. »Ich bin ein Space Marine.« Eine weitere simple Tatsache. Er war einer der fähigsten Krieger, welche die Menschheit hervorbringen konnte, auf hundert verschiedene Arten verstärkt, geübt in jeder erdenklichen Art zu töten und bereits in der Schlacht gegen die üblen Mächte des Chaos erprobt. Ein Normalsterblicher konnte sich im Kampf unmöglich gegen ihn behaupten. Sie lächelte ihn an und zeigte dabei kleine, perfekte Zähne. Es war ein kaltes Lächeln ohne die geringste Freundlichkeit. Sie bewegte die Hand. Ragnar spürte, wie sich Energien bündelten, war aber nicht sicher, was vorging. Dann wollte er sich bewegen, doch seine Gliedmaßen reagierten nicht. Ein Psyker, ging ihm auf. Sie war ein Psyker, eine jener Hexen, die mit außergewöhnlichen mentalen Fähigkeiten gesegnet waren, zu denen ganz offensichtlich auch die Fähigkeit gehörte, jede gewünschte Person zu lähmen. Plötzlich kam Ragnar sich sehr dumm vor, aber er war auch sehr zornig. Er setzte seine Kraft ein und wollte seine
Gliedmaßen zwingen, auf seine Befehle zu reagieren. Ihr arrogantes Lächeln wurde breiter und kälter, da sie ihm bei seinen Bemühungen zusah. Was nur dazu führte, dass er noch wütender wurde. Irgendwo in den trüben Tiefen seines Verstandes fing die Bestie, die Teil seines Wesens war, seit er ein Wolfskrieger war, vor frustrierter Wut an zu knurren. Sie mochte es nicht, eingesperrt zu sein, auch wenn der Käfig der eigene Körper war. Vielleicht war dies die Bedrohung, die er beim ersten Auftauchen der Fremden wahrgenommen hatte. Psyker waren berüchtigt für ihre Anfälligkeit gegen Besitzergreifungen seitens der Dämonen des Chaos. Vielleicht hatte sich sogar gerade jetzt einer ins Herz des Reißzahns geschlichen. »Wolfskrieger, ich könnte Sie jetzt töten, und es gibt nichts, was Sie dagegen tun könnten«, sagte sie gelassen.
DREI
Ragnar konnte die Häme der Inquisitorin beinahe riechen − und er war fuchsteufelswild. Sonst spürte er jedoch keine Veränderung in ihrer Witterung. Sie schien nicht mit dem Makel des Chaos behaftet zu sein. Vielleicht tat sie all das doch nur, um ihren Standpunkt zu unterstreichen. Schweißperlen traten auf seine Stirn, als er seinen gefühllosen Gliedern seinen Willen aufzuzwingen versuchte. Die Zeit schien zu erstarren, da er seinen Körper dazu anhielt, sich ihrem Bann zu widersetzen. Einer seiner Finger zitterte ganz leicht, und auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck ungläubigen Entsetzens, als habe sie noch nie zuvor Widerstand gegen ihren Zugriff erlebt, wie geringfügig auch immer. Er roch einen jähen Verlust von Selbstvertrauen und ein leichtes Nachlassen der Kraft, da dies ihre Beherrschung nachteilig beeinflusste. Und plötzlich konnte er sich bewegen. Es war, als wate er durch zähen Schleim, aber wenigstens gehörten ihm seine Glieder wieder. Er schien sich mit unglaublicher Langsamkeit zu bewegen, aber zumindest bewegte er sich. Sie stieß ein leises Ächzen aus. Seine Hand legte sich um ihre Kehle, fast bevor er den Gedanken daran gefasst hatte. Mit seiner übermenschlichen Kraft brauchte er nur noch die Hand zu schließen, was ihre Luftröhre eindrücken würde. »Und jetzt könnte ich Sie töten«, zischte er. »Und es gibt nichts, was Sie dagegen tun könnten.« Er nahm die Hand von ihrer Kehle und trat zurück. »Aber das wäre weder ehrenhaft noch gastfreundlich.« Sie standen sich einen Moment gegenüber und funkelten einander an. Beide atmeten schwer. Ihm ging auf, dass die Anwendung ihrer Kräfte sie ebenso auslaugen musste, wie es bei ihm Stunden harten
Trainings taten. Ihn selbst hatte der Widerstand gegen ihren Bann so erschöpft, wie es kein zweihundert Meilen langer Gewaltmarsch vermochte. »Sie haben einen sehr starken Willen«, sagte sie schließlich, und er war nicht sicher, ob es Anerkennung, Furcht oder Abneigung war, was er an ihr roch − vielleicht eine Mischung von allem. »Anscheinend«, sagte er. »Und da ist noch etwas anderes in Ihnen. Ich habe es gespürt, als ich das Netz gewoben habe.« »So nennen Sie das?« »Ich habe etwas wie einen Wolf gesehen: groß, düster, grimmig.« »Das wurde geweckt, als ich mich dem Orden angeschlossen habe«, sagte er, obwohl er nicht sicher war, ob er mit jemandem darüber reden sollte, der kein Wolfskrieger war. »Ein Wolfsgeist.« »Nein. Es gehört zu Ihrem eigenen Geist. Etwas, das Sie von normalen Menschen unterscheidet.« »Er wurde an mich gebunden.« »Wahrscheinlich kann man es auf diese Art sehen. Obwohl es eine primitive Art ist.« »Jetzt werden Sie schon wieder beleidigend.« Sie lächelte, und diesmal lag Wärme darin. »Das war nicht meine Absicht. Es ist nur so, dass man sich mancherlei bewusst wird, wenn man ein Psyker ist. Eines dieser Dinge ist, dass die Art, wie Leute die Welt sehen, die Art ist, wie die Welt auch ist − für sie. Das heißt nicht, dass die Welt in einem absoluten Sinn auch tatsächlich so ist.« Das war eine sehr intellektuelle, hochgestochene Vorstellung, aber Ragnar glaubte zu verstehen, was sie meinte. Er wusste, dass sich seine eigene Weltsicht radikal verändert hatte, seit er zu den Wolfskriegern gehörte. Früher hatte er die Welt ganz anders gesehen, mit den Augen eines fenrisischen Barbaren. Jetzt betrachtete er sie mit den veränderten Augen eines Space Marine. Vielleicht war es möglich, dass er eines Tages etwas lernte, das seine gegenwärtige Weltsicht ebenso grundlegend verändern würde. Es war schon einmal ge-
schehen, und er musste zumindest die Möglichkeit einräumen, dass es abermals geschehen konnte. Andererseits wollte er diesen Gedankengang nicht allzu ausgiebig verfolgen. Auf solchen Wegen lauerte die Ketzerei, kein Schicksal, worüber ein Space Marine nachdenken wollte. »Vielleicht haben Sie Recht. Aber wissen Sie, wie die Welt ist, in einem absoluten Sinn?« »Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet«, sagte sie. Diesmal klang sie ein klein wenig freundlicher, und in ihrem Lächeln lag mehr Wärme. »Wenn eine Methode der Befragung versagt, versuchen Sie es mit einer anderen«, sagte Ragnar. »Und Sie finden eine andere Möglichkeit auszuweichen.« »Das will ich wahrhaftig nicht. Ich bin kein Archivar. Ich weiß, dass in diesen Hallen viele Millionen Runensteine aufbewahrt werden. Nicht alle davon sind von den Denkmaschinen katalogisiert. Manche Aufzeichnungen existieren nur in Runenschrift auf den eigentlichen Steintafeln, andere nur in den Sagen, welche die Wolfpriester auswendig lernen.« »Es gibt Lücken in den Aufzeichnungen Ihrer Autofolianten.« Ragnar kannte diesen Ausdruck nicht, aber er ging davon aus, dass sie sich auf die Denkmaschinen bezog. Er nickte nachdenklich. »So ist es auch bei uns«, fuhr sie fort. »Die Maschinen sind alt. Sie stammen noch aus dem Finsteren Zeitalter der Technologie, und ihre Systeme sind schon viele Male von den Tech-Priestern des Adeptus Mechanikus neu gesegnet worden. Jedes Mal, wenn das geschieht, gehen Informationen verloren. Es gibt Fehler im Kopiervorgang. Und natürlich werden viele Informationen unter dem persönlichen Siegel eines bestimmten Inquisitors aufgezeichnet − und manchmal geht so ein Siegel verloren, wenn ein Inquisitor stirbt, und dann hat niemand mehr Zugriff auf seine Aufzeichnungen.« Ragnar sah sie an. So mitteilsam hatte er bisher noch niemanden aus Sternbergs Gefolge erlebt. Etwas in ihrer Witterung mahnte ihn zur Vorsicht. Vielleicht war dies ein Trick, den Inquisitoren benutz-
ten: Sie gaben eine kleine Information preis, um ihr Gegenüber zu veranlassen, dasselbe zu tun. Obwohl es in diesem Fall vollkommen egal war, dachte er. Hier gab es nichts zu verbergen − soviel er wusste. »Und natürlich werden manche Aufzeichnungen auch vernichtet.« Ragnar sah sie verblüfft an. »Absichtlich?« »Ja.« »Warum?« »Weil das in ihnen enthaltene Wissen als zu gefährlich erachtet wird − weil es zu ketzerischen Gedanken oder Taten führen oder sich auf gewisse Dinge beziehen kann, die nicht bekannt werden sollen.« »Wer entscheidet darüber?« »Die Meister unseres Ordens. Manchmal einzelne Inquisitoren. Im Laufe der Jahrtausende hat sich die Definition dessen verändert, was Ketzerei ist. Die Blasphemie von gestern kann die Orthodoxie von heute sein. Bei Ihnen ist es doch gewiss ganz genauso?« Ragnar sah sie nur mit vor Ungläubigkeit offenem Mund an. Er glaubte ganz und gar nicht, dass die Wolfskrieger die Dinge auf diese Art betrachteten! Die Art, wie sie den Kopf neigte, und die Veränderung in ihrer Witterung verrieten ihm, dass für sie in diesem Fall keine Antwort auch eine Antwort war. Er hatte ihr etwas verraten, und sie merkte es sich zwecks späterer Verwendung. Um die Stille auszufüllen, sagte er: »Wir glauben nicht, dass das der Fall ist. Wir halten es mit den alten Sitten aus der Zeit von Russ. Die Wahrheiten verändern sich nicht.« Er hielt inne, da ihm bei seinen Worten aufging, dass auch die Stille ein Trick der Inquisitorin gewesen war, um ihn zum Reden zu veranlassen. So simpel und doch so wirkungsvoll. »Das glauben Sie vielleicht, aber ich bin sicher, wenn Sie sich die Geschichte Ihres Ordens genauer ansehen, werden Sie feststellen, dass das nicht stimmt.« Ein Anflug von Herausforderung lag in ihrer Stimme. Er wollte ihr augenblicklich widersprechen, sah aber, dass sie genau das wollte, ein weiterer Trick. Er begriff das Spiel allmäh-
lich. Nun, er konnte es auch spielen. »Verhören Sie die Leute immer?« Sie lächelte und senkte den Blick, dann schüttelte sie den Kopf. »Sie sind sehr gut darin«, sagte sie. »Ich verstehe langsam, warum Sie uns zugeteilt worden sind.« Clevere Leute sahen oft Raffinesse, wo es keine gab, dachte Ragnar bei sich − und fragte sich dann, ob es sich tatsächlich so verhielt. War Ranek raffinierter, als er es sich vorgestellt hatte? War er aus diesem Grund für diese Aufgabe ausgewählt worden? Sollte Ragnars Anwesenheit die Inquisitoren dazu bringen, eine Sache zu glauben, während eine ganz andere im Gange war? Oder war er es jetzt, der übermäßig raffiniert zu sein versuchte? Von diesen Überlegungen schwirrte ihm bereits der Kopf. »Ja«, sagte Inquisitorin Isaan. »Ich verhöre Leute immer. Dafür wurde ich ausgebildet. Mein ganzes Leben, und zwar so, wie Sie zum Kämpfen und Töten ausgebildet worden sind. Und auf eine Weise, dass das Verhören von Leuten Teil meiner Denkmuster und Gewohnheiten ist. Auf eine Weise, dass es wie von selbst und unaufhaltsam passiert.« »Sie klingen ein wenig verbittert.« »Vielleicht bin ich das ein wenig.« Und vielleicht auch nicht, dachte Ragnar. Vielleicht ist auch das nur eine Pose, um das Vertrauen der Leute zu gewinnen, mit denen du dich unterhältst. Er sah, dass der ausgiebige Kontakt mit der Inquisitorin bereits seine eigenen Gedanken infizierte. Seine Gedanken bewegten sich in Bahnen der Raffinesse und Verschlagenheit, die nicht normal für ihn waren. »Ich weiß nicht, ob ich gerne in Ihrer Welt leben würde«, sagte er schließlich. »Jemand muss es tun. Jemand muss die Feinde des Imperators ausfindig machen, ebenso wie jemand die Feinde des Imperators töten muss.« »In Ihren Worten liegt Wahrheit.«
»Immer, wenn Sie danach suchen. Auch das gehört dazu, Inquisitor zu sein.« »Darüber wissen Sie mehr als ich«, sagte er mit Entschiedenheit. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Sie sind ein Psyker. Warum holen Sie sich das Wissen, das Sie brauchen, nicht aus den Gedanken anderer Leute?« Sie lächelte wieder, diesmal kalt, als sei sie nicht sonderlich erpicht darauf, über dieses Thema zu reden. »Manche Psyker besitzen diese Gabe, aber ich nicht. Meine Talente … erstrecken sich in andere Richtungen. Selbst für die entsprechend Begabten ist es nicht so einfach. Eine Person mit starkem Willen kann sich ihnen widersetzen. Raffiniertere Personen können ihre Gedanken verschleiern oder sogar falsche Gedanken senden. Und es gibt noch andere Risiken …« »Risiken?« »Ja. Jene, die in die Gedanken von Ketzern eindringen, werden oft selbst zu Ketzern. Manchmal sind schon ihre bloßen Gedanken verderblich.« »Es gibt mehr Möglichkeiten, in den Verstand von Ketzern einzudringen, als einfach ihre Gedanken zu lesen. Ich hätte gedacht, dass bereits der Versuch, sie verstehen zu wollen, diese Konsequenzen haben kann. Jedenfalls lehrt man uns das.« »Darin liegt Weisheit«, sagte die Inquisitorin. Für einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. Sie kehrten in den Teil des Saals zurück, wo Sternberg darauf wartete, dass der Archivar seine Arbeit tat. Die Pose des Mannes verriet Ragnar, dass er noch nicht bekommen hatte, weswegen er hierher gekommen war. Vielleicht wurde es Zeit für eine Ablenkung, dachte er. Und er glaubte, genau die richtige zu kennen. »Und wohin gehen wir?«, fragte Inquisitor Sternberg. Ragnar konnte das Herz des Mannes schlagen hören, stark und regelmäßig. Er schüttelte den Kopf, und das Geräusch schien im Hintergrund zu verschwinden und sich mit dem Summen der Gravkapsel
zu verbinden, die durch den Aufzugsschacht nach oben und zu ihrem Bestimmungsort raste. Fragen, immer Fragen, dachte Ragnar. An etwas anderes schienen diese Leute nie zu denken. »Das werden Sie gleich sehen.« »Es ist nicht leicht, von diesem Mann eine Antwort zu bekommen«, sagte Karah Isaan. Ihre Hand beschrieb eine komplexe Geste. Offensichtlich eine geheime Zeichensprache wie diejenige, welche die Wolfskrieger selbst unter gewissen Umständen benutzten. Sternberg schüttelte den grauhaarigen Kopf, und sein Lächeln wurde noch breiter. »Von einem Inquisitor ist das durchaus ein Kompliment«, sagte er. Ragnar spürte die Veränderung in seiner Witterung und studierte den Mann eingehend. Es war ein Versuch, humorvoll, sogar freundlich zu sein. Er blieb wachsam. Er hatte das Gefühl, diese Leute langsam richtig einschätzen zu können. Für sie war sogar Freundlichkeit nur eine Waffe in ihrem Arsenal, eine von vielen Techniken, die sie benutzten, um Leuten Informationen zu entlocken. Ragnar wusste nicht, warum ihn das wachsam machte. Er hatte nichts zu verbergen. Sie standen auf derselben Seite. Sie waren alle Soldaten im Dienst des Imperators der Menschheit. Doch sie hatten etwas an sich, das ihn drängte, auf der Hut zu sein, ein Gefühl von Doppelzüngigkeit, von verborgenen Motiven, das seiner Erfahrungswelt völlig fremd war. Vielleicht war das auch Teil ihrer Exotik, aber es gefiel ihm nicht besonders. Und vielleicht war es dieses tiefere Gefühl der Bedrohung, das in seinem Hinterkopf nagte. Er wusste nicht, warum er es empfand, aber es war da. Er versuchte den Gedanken beiseite zu schieben. Vielleicht war es das Wesen ihrer Arbeit. Inquisitoren waren die Untersuchungsbeamten des Imperiums und darauf trainiert, Bedrohungen für die Sicherheit der menschlichen Gefilde ausfindig zu machen. Sie lebten in einer Welt des Versteckens und der Geheimhaltung, der Falschheit und Finsternis. Das Leben in dieser Welt musste sie zu dem gemacht ha-
ben, was sie waren. »Warum wollen Sie nicht antworten?«, fragte Sternberg. Er lächelte, als er es sagte. Das alles gehörte für ihn zum Spiel. »Ich glaube, Sie werden verstehen, warum, wenn wir dort sind.« »Dann ist es also eine Überraschung«, mutmaßte Karah. »Es ist schwierig, zwei so klugen Inquisitoren wie Ihnen irgendetwas zu verheimlichen«, sagte Ragnar mit einem Anflug von Ironie. »Humor? Von einem Space Marine? Wer hätte das gedacht?«, sagte Sternberg. Auch in seiner Stimme lag eine Spur von Ironie, nahm Ragnar zur Kenntnis. In diesem Augenblick hielt die Gravkapsel an. das Licht wechselte von Rot auf Grün. Ein leises Läuten ertönte, und die Tür öffnete sich zischend. Sie traten in eine gewaltige Kammer, die Teil einer natürlichen Kaverne in der Flanke des Reißzahns war. Eine Wand der Kaverne bestand aus durchsichtigem Kristall. Die einzige Beleuchtung war das Licht in der Gravkapsel und das kalte Licht der Sterne, das durch das Panzerglas des Fensters schien. Der Himmel war schwarz. Der Mond war zu sehen. »Ist das eine Projektion?«, fragte Karah. »Es ist Tag, aber der Himmel ist so schwarz wie die Nacht.« »Ich glaube, ich verstehe«, sagte Sternberg leise, »und ich glaube auch zu wissen, warum unser junger Freund uns nicht verraten wollte, wohin wir gehen.« Er trat in die Kammer, und die Inquisitorin folgte ihm. Als sie sich dem Ende der Kaverne näherten, wurde Ragnar durch ihre Ausrufe des Staunens und einer Veränderung in ihrer Witterung belohnt, die ihm verriet, dass sie wirklich und wahrhaftig überwältigt waren. In gewisser Hinsicht war es sehr befriedigend, sich vorzustellen, dass er zwei so weit gereisten und zynischen Seelen etwas zeigen konnte, das noch Staunen in ihnen weckte. Es bedeutete auch, dass er so etwas wie Verwandtschaft zu ihnen empfand, denn dieser Ort hatte etwas Besonderes an sich, das ihn ebenfalls immer erstaunte, wie oft er auch hierher kam − und er war schon oft hier gewesen, seit er Blut-
kralle und somit befugt war, einige der Sperrgebiete im Reißzahn zu betreten. Er gesellte sich zu ihnen ans Fenster und schaute auf die Welt herab. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn der gesamte Horizont wurde von Fenris’ gekrümmter Masse ausgefüllt und schimmerte vor der kalten Dunkelheit des Weltraums. Dieser Teil des Berges, hoch oben dicht unterhalb des Gipfels gelegen, reichte über die Atmosphäre hinaus und lieferte einen Ausblick auf einen großen Teil des Polarkontinents Asaheim. Unter sich konnte er wirbelnde Wolken, kleinere Berge und die Gletscher und Seen sehen wie auf einer gewölbten Landkarte. Die Hänge des Berges fielen steil ab und verschwanden in einem Wolkenmeer tief unter ihnen. »Ich habe oft sagen hören, der Reißzahn sei eines der wahren Wunder im Imperium«, sagte Sternberg mit leiser und ehrfürchtiger Stimme. »Und jetzt verstehe ich, warum.« »Es ist wirklich wunderschön«, sagte seine Begleiterin. Ihrer Witterung konnte Ragnar entnehmen, dass sie es beide ehrlich meinten. »Danke, dass Sie uns diesen Ort gezeigt haben, Ragnar«, sagte Sternberg. »So lange ich lebe, werde ich mich an diesen Augenblick erinnern.« Ragnar spürte, wie sein Lächeln erlosch. Er bezweifelte nicht, dass es stimmte, was der Inquisitor sagte. Er hatte außerdem das Gefühl, dass nichts, was der Inquisitor sah, je in Vergessenheit geraten würde. Ragnar hatte den Verdacht, dass sie darauf trainiert waren, sich an alles zu erinnern, wie er darauf trainiert war, zu kämpfen. Auch das Gedächtnis war eines ihrer Werkzeuge, dachte er. Nein − eine ihrer Waffen. Es würde ihm schwer fallen, diesen Leuten jemals zu vertrauen. Das klare, glockenartige Geräusch hallte in Ragnars Ohren. Er war augenblicklich wach und kehrte übergangslos aus den seltsamen Träumen über außerweltliche Konflikte ins schummrige Licht seiner Zelle zurück. Die Lichtkugeln reagierten auf seine Bewegungen und
wurden heller. Er griff nach dem Ohrstecker des Komm-Netzes, der auf der behauenen Steinplatte neben seiner Schlafmatte lag. Er stöpselte ihn in sein Ohr, dann klemmte er das Kehlkopfmikrofon an seinem Hals an Ort und Stelle. »Ragnar. Was gibt es?« »Ich habe gefunden, was deine Außenweltler-Freunde suchen.« Die Stimme des Archivars klang hoch und brüchig, selbst über das Knistern des Komm-Netzes hinweg. »Ich werde sie sofort verständigen«, sagte Ragnar. »Tu das.« Es stank nach Ozon und Maschinenöl. Das Dröhnen großer Kolben ließ die Luft beben. Riesige Bögen aus Universellem Feuer sprangen von einer gewaltigen Übertragungsspule zur nächsten. Die große Denkmaschine war in einen Lichtschein gehüllt. Eisenpriester intonierten Gesänge, um die in der Maschine gefangenen alten Geister günstig zu stimmen und ihre Kräfte für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Einer von ihnen tippte etwas auf einer so alten Tastatur, dass die meisten Ceramittasten durch solche aus schwarzem Basalt und Walzahnelfenbein ersetzt worden waren. Ein rangniedriger Eisenpriester strich Kühlsalben aus einer Zeremonienurne auf die Maschine. Ragnar nahm an, wenn die Maschine zu warm wurde, würden die Geister darin wütend werden und zu entkommen versuchen − aber das war nur eine Annahme, und eigentlich wusste er nur sehr wenig über die Geheimnisse der Maschinengeister. Er war froh und glücklich, das ganze Ritual den fähigen Händen der Eisenpriester überlasen zu können, mochte der Imperator über sie wachen. Einer von ihnen schob einen glatten schwarzen Runenstein in eine Messingöffnung in der Maschine. Die Lichter wurden heller, die Gerüche intensiver. Plötzlich ertönte ein Geräusch, als fange eine kleine Boltpistole an zu schießen, und aus einem Schlitz in der Mitte der Maschine quoll eine lange Pergamentrolle. Ragnar konnte erkennen, dass die Seite
mit Runenzeichen übersät war. Er hoffte, dass der Archivar sich nicht getäuscht hatte. Er riskierte einen Blick auf die kleine schwarze Marmorplatte im Halteschlitz in der Seite der Maschine. Die Runen auf der Oberseite, die bisher unsichtbar gewesen waren, leuchteten auf und strahlten dabei ein Licht ab, das Ragnar an geschmolzenen Stahl erinnerte. Für Ragnar waren die Zeichen jedoch lediglich ein rätselhaftes Durcheinander aus Zahlen und Buchstaben. Der Vorgang dauerte eine Ewigkeit, und das Pergament wurde immer länger. Ragnar schaute auf Sternberg und Isaan und roch ihre Ungeduld. Der Mann schien dem Ende entgegenzufiebern. In seinen Augen lag ein Funkeln, das Ragnar an jemanden erinnerte, der seinem Schicksal begegnet war. Oder vielleicht an jemanden, der sich der Verwirklichung eines lange gehegten Wunschtraums näherte. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Die Frau verbarg ihre Ungeduld besser, aber Ragnar erkannte, dass sie sehr angespannt war. Sie presste die Handflächen zusammen und schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich unmerklich, da sie die Worte eines Gebets oder einer Meditationsübung murmelte. Ragnar verstand zwar die Worte nicht, aber der Tonfall war unverkennbar. Schließlich hörte das Pergament auf, sich abzurollen, und der Eisenpriester trat feierlich vor. Mit einer an die Maschine der Alten gerichteten Segensgeste riss er das Papier ab, rollte es behutsam auf und reichte es dem Archivar. Der entrollte es wiederum auf seinem metallbeschlagenen Pult, studierte es eingehend und stempelte es dann mit dem Siegel, das er am Gürtel trug. Der alte Archivar nickte, lachte laut auf, rollte das Papier wieder zusammen und reichte es Ragnar. »Darauf hast du gewartet«, sagte er. Bevor Ragnar antworten konnte, drehte er sich um und ging weg. Ragnar gab die Rolle an Inquisitor Sternberg weiter. Der Mann entrollte sie, warf einen Blick darauf, lächelte matt und gab sie Ragnar zurück. Der Wolfskrieger war sich plötzlich der Tatsache bewusst, dass ihn alle Metallmasken der Eisenpriester beobachteten. Er war sich ihrer Blicke unbehaglich bewusst. Nun war er es, der das Papier
entrollte und studierte. Die Worte waren auf eine absonderliche Art auf das Papier gebrannt, aber ihre Bedeutung war ihm vollkommen klar − und dann kam ihm die Erkenntnis. Es handelte sich um die fenrisische Runenschrift, welche die Inquisitoren nicht lesen konnten. »Soll ich das für Sie übersetzen?«, fragte Ragnar. Sternberg nickte. »Es könnte einige Zeit dauern. Die Sprache ist archaisch und poetisch. Manche Begriffe sind etwas obskur.« »Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie für notwendig erachten«, sagte der Inquisitor kalt. »Schließlich haben wir reichlich davon.« Ragnar konnte den Sarkasmus in seiner Stimme hören und Zorn und Ungeduld an ihm riechen. Ihm war klar, dass er sich besser rasch an die Arbeit machte. Jede Sekunde Verzögerung mochte gleichbedeutend mit dem Tod Tausender Menschen sein. Ragnar saß mit untergeschlagenen Beinen in seiner Zelle und übersetzte den Text. Die Geschichte hatte jetzt seine volle Aufmerksamkeit. Es handelte sich um die Aufzeichnung eines Feldzugs gegen die nichtmenschlichen Eldar vor gut zweitausend Jahren, die von einem Space Wolf namens Jorgmund stammte. Ragnar war längst zu der Erkenntnis gelangt, dass von allen großen Erfindungen, mit denen der Imperator die Menschheit beschenkt hatte, die Schrift vielleicht die wichtigste und die am meisten unterschätzte war. Durch sie tauchte er in die Welt eines Mannes ein, der seit fast zwei Millennien tot war, hörte seine Worte, begriff seine Gedanken. Es war ein kleines Wunder, an das er bisher noch nie einen Gedanken verschwendet hatte. Er war überrascht, wie leicht ihm das Übersetzen fiel. Die Lehrmaschinen hatten ihre Aufgabe, ihm imperiales Gothisch einzutrichtern, hervorragend erfüllt. Nur selten hatte er Mühe, passende Wörter und Redewendungen zu finden, da er die Aufzeichnung aus dem fenrisischen in die Sprache des Imperiums übertrug. Die Geschichte des Feldzugs war lang und verwickelt. Aus nur
ihnen selbst bekannten Gründen hatten die Eldar die Imperiumswelt Aerius angegriffen. Bruder Jorgmund hielt es für typisch für diese heimtückischen, nichtmenschlichen Humanoiden, dass sie ohne Warnung zuschlugen, indem sie mit ihren seltsam konstruierten Raumschiffen landeten, die Imperiumssoldaten massakrierten und sich dann mit ihren Streitkräften um die große Schwarze Pyramide scharten, während ihr Anführer und Zauberer, der Seher Kaorelle, seine finstere Magie wirkte. All das war in einer Zeit geschehen, die unter einem ungünstigen Stern stand. Der Unheilsstern funkelte am Himmel, und Seuchen verheerten die Welt. Die Wolfskrieger waren dem Aufruf zum Kreuzzug gefolgt, um die Eldar von einer Welt zu vertreiben, die von Rechts wegen der Menschheit gehörte. Sie waren mit Kettenschwert und Boltpistole gelandet, um ihrer Anwesenheit auf Aerius ein Ende zu bereiten. Die Kämpfe wurden insbesondere in der Umgebung der Pyramide erbittert geführt, wo der Zauberer der Eldar seine mächtigste Magie zur Anwendung gebracht hatte. Jorgmund zufolge behaupteten die Runenpriester, die Schwarze Pyramide sei eine Art Nexus absonderlicher mystischer Kräfte. Er erwähnte außerdem eine lokale Legende, dass sie vor undenklichen Zeiten von den Eldar erbaut worden sei. Nach mehreren Schlachten, in denen die Verteidiger der Menschheit obsiegten, weigerten sich die finsteren Außerirdischen immer noch, ihre Absichten zu enthüllen. Vielmehr setzten sie ihre arkanen Rituale fort. Was möglicherweise geschehen wäre, hätte man ihnen gestattet, sie zu vollenden, hätte vermutlich nur der Imperator auf dem Goldthron vorhersehen können. Tatsächlich gelang es den Wolfskriegern mit Unterstützung von Einheiten der Inquisition und der Imperialen Garde auf dem Höhepunkt des magischen Rituals, die Verteidigungslinien zu durchbrechen, die Leibwache des Sehers zu überwältigen und die Instrumente zu erobern, mit deren Hilfe die Außerirdischen gewaltige Ströme psychischer Kräfte manipulierten. Dabei hatte der schändliche außerirdische Abschaum gekreischt, die Wolfskrieger machten einen furchtbaren Fehler, und ihre Narretei
werde das Verderben aller Rassen der Galaxis sein. Die Wolfskrieger hatten die schurkischen Lügen des Eldar-Magiers ignoriert und sich in den Besitz des Talismans gebracht, der eine zentrale Rolle bei dem magischen Ritual spielte. Glücklicherweise war er im Zuge der Auseinandersetzung in drei Teile zerbrochen, und die ihm innewohnenden Kräfte, wie immer sie auch ausgesehen haben mochten, waren erloschen. Die Wolfskrieger hatten eines der Bruchstücke an sich genommen. Die beiden anderen waren von einem Inquisitor und vom auf Galt stationierten Regiment der Imperialen Garde als Trophäen eines weiteren großen Sieges des Imperiums mitgenommen worden. Eine Untersuchung des Fragments jenes alten Talismans der Eldar durch die Runenpriester des Ordens hatte enthüllt, dass das Artefakt Zauberkräfte einer bedeutenden und unbekannten Art besaß. Die Untersuchung sollte zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden. In der Zwischenzeit hatte der Orden andere Pflichten zu erfüllen, und so wurde der Talisman in den Siegesgewölben verstaut, um dort einer weitergehenden Untersuchung zu harren. Das war der letzte Verweis auf das Artefakt, den Ragnar finden konnte. Er ging hastig den Rest der Schriftrolle durch, doch der handelte von einem anderen Feldzug gegen die Orks im Segmentum Obscura. Es gab keine weiteren Verweise auf den Talisman von Lykos. Er beendete die Übersetzung und zeichnete das Pergament mit seiner persönlichen Rune ab. Es wurde Zeit, die Informationen an Sternberg weiterzugeben. Bisher war jedes Wort des Inquisitors von den Aufzeichnungen bestätigt worden. Ragnar sah nicht, wie das Auffinden des Talismans den Bewohnern von Aerius helfen konnte, aber ihm war klar, dass die Beantwortung dieser Frage mehr ins Fachgebiet des Inquisitors fiel als in seines. Er war ein Krieger, kein Adept im Umgang mit Zauberei. Ragnar fand sich in den Gemächern des Großen Wolfs ein. Neben ihm standen Henrik Sternberg und Karah Isaan. Die beiden Inquisitoren sahen ruhig und entspannt aus, aber Ragnar roch ihre Nervosität.
Er konnte sie ihnen nicht verdenken. Der Große Wolf hatte eine Ausstrahlung, die auch den Tapfersten verzagen ließ. »Wir haben die Informationen gefunden, die wir gesucht haben, Logan Grimnar«, sagte Inquisitor Sternberg. »Ich bin froh, dass wir Ihnen behilflich sein konnten«, erwiderte der Große Wolf. »Ich muss um einen zweiten Gefallen bitten.« »Und der wäre?« »Ich würde gern diesen alten Talisman sehen, um mich zu vergewissern, dass es sich in der Tat um den gesuchten Gegenstand handelt.« Der Große Wolf hob eine Augenbraue. Er beugte sich auf seinem Sitz vor. »Das habe ich mir gedacht. Ich habe die Runenpriester bereits angewiesen, das Gewölbe zu öffnen. Ich sehe keinen Grund, warum wir Sie bei Ihrem Unternehmen noch länger aufhalten sollten.« »Ich danke Ihnen, Großer Wolf«, sagte Sternberg mit einer leichten Neigung des Kopfes. Ragnar beobachtete die kleine Gruppe vom Rand der Kammer. Niemand hatte ihm befohlen, der Zeremonie beizuwohnen, aber andererseits hatte es ihm auch niemand verboten. Er hatte den Befehl, die Inquisitoren immer dann zu begleiten, wenn sie innerhalb des Reißzahns unterwegs waren, und was ihn betraf, war das seine Pflicht, bis der Befehl aufgehoben wurde. Also hatte er allen Grund, dort zu sein. Außerdem war er neugierig. Sie befanden sich tief unterhalb des Reißzahns an einem Ort, der seit Hunderten von Jahren nicht mehr aufgesucht worden war. Die Kammer maß vielleicht hundert Schritte im Quadrat und die Decke war so hoch wie fünf Männer. Die Wände waren derart grob aus dem Stein gehauen, dass Ragnar den Verdacht hatte, bei dieser Kammer könne es sich ursprünglich um eine Höhle gehandelt haben. Es roch muffig. Der einzige Geruch neben demjenigen der Besucher stammte
von den automatischen Drohnen, die in diesem Gebiet Wartungsaufgaben erfüllten. Ragnar ließ noch einmal den Weg hierher vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Meilen um Meilen von Gängen, und etwa alle zehn Schritte zweigten große gepanzerte Sicherheitstüren ab, die mit den Siegeln alter Krieger gekennzeichnet waren. Die Runenpriester hatten sie unbeirrt zu diesem Ort geführt und mit einem Winken ihrer Hände und einer gemurmelten Beschwörung das Siegel gebrochen und die Tür geöffnet. Dahinter hatten sie eine Kammer mit einer noch massiveren Sicherheitstür vorgefunden. Es war offensichtlich, dass alles, was immer die Kammer auch enthielt, gut geschützt − oder gut versiegelt − sein sollte. Jetzt skandierten die Runenpriester wieder, während zwei von ihnen die große Winde betätigten, welche die zweite Tür öffnete. Die Inquisitoren und der Große Wolf beobachteten sie schweigend. Ihre Witterung und Körpersprache kündeten von Ehrfurcht. Nicht weit entfernt stand die Ehrengarde des Großen Wolfs bereit. Ihrer Witterung konnte Ragnar entnehmen, dass die Männer fast so neugierig waren wie er, obwohl ihre Haltung nichts weiter verriet als dieselbe Ehrerbietung ihres Anführers sowie die Bereitschaft, jederzeit, sogar hier im tiefsten und sichersten Teil des Reißzahns, zu den Waffen zu greifen. Darüber war Ragnar froh. Denn als das massive Schott sich kreischend öffnete, leckte ein unheimliches Leuchten durch den sich verbreiternden Spalt und fiel auf die Leute in der Kammer. Schatten tanzten davon, als suchten sie Schutz in den dunkelsten Winkeln des Raums. Als das Licht auf ihn fiel, glaubte Ragnar, ein Kribbeln auf der Haut zu spüren. Seine Nackenhaare sträubten sich. Eine greifbare Aura kaum gebändigter Macht lag in der Luft. Als er durch die Öffnung schaute, gewahrte Ragnar eine kleinere Kammer mit ebenso unregelmäßigen Wänden wie in der ersten. Darin befand sich ein Podest mit einem Sockel, auf dem ein kristallenes Behältnis lag, aus dem das unheimliche Leuchten drang. Im nächsten
Augenblick verblasste das Leuchten. Entweder passten seine Augen sich an das Licht an, oder die dafür verantwortliche Kraft wurde schwächer. Dadurch wurde die Quelle des Lichtscheins sichtbar. Es handelte sich um ein Juwel von der Größe eines Hühnereis, doch mit vielen Facetten, das von einem unglaublich kunstfertigen Juwelier geschliffen worden sein musste. Die anderen betraten die Kammer. Vom Anblick des Juwels angezogen, folgte ihnen Ragnar. Niemand erhob Einwände. Sie traten näher an das Kristallbehältnis, Ragnar so dicht hinter ihnen, wie er es wagte. Der Anblick des Talismans schien alle so zu beschäftigen, dass sie seine Anwesenheit vergessen hatten. Aus der Nähe konnten seine scharfen Augen erkennen, dass das Juwel in einer kunstvollen Fassung aus Gold saß. In die Fassung waren seltsame Runen der Eldar graviert, die Ragnar nicht entziffern konnte. Sie hing an einer Kette aus einem silbrigen Material, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Offensichtlich sollte das Artefakt an einer Kette um den Hals getragen werden. Wahrscheinlich um den Hals eines der Zauberpriester der Eldar, von denen er gehört hatte. Die Fassung war beschädigt, und jetzt sah er auch, dass das Juwel grobkantige Ränder an zwei Seiten aufwies. Die Stellen, wo der Talisman auseinander gebrochen war, ging Ragnar auf. Das Auffallendste war jedoch nicht die äußere Erscheinung des Talismans, sondern die Aura der Macht, die ihn umgab. Niemand, der den Talisman betrachtete oder auch nur in der Kammer stand, konnte daran zweifeln, dass es sich dabei um einen Gegenstand von großer Bedeutung handelte. Ragnar war kein Psyker, aber er konnte dennoch die Energien spüren, die in dem Ding pulsierten und brodelten. Ungebeten erschien eine Vision von einem nichtmenschlichen Magier, seltsam hoch gewachsen und mit merkwürdig in die Länge gezogener Statur, in einem prunkvollen Ritualgewand vor Ragnars geistigem Auge. Der Talisman funkelte an seiner Kehle. Ragnar hörte Inquisitorin Isaan keuchen. Sie sah blass aus und wirkte ein wenig verängstigt. Als Psyker war sie viel empfänglicher
für die Emanationen des Juwels als er. Er fragte sich, was es ihr antun musste, wenn es schon auf ihn so eine starke Wirkung hatte. Unaufgefordert streckte Inquisitor Sternberg die Hand aus und öffnete den Kristallbehälter. Er griff hinein und hob den Talisman an der Kette hoch. Der Ausdruck auf seinem Gesicht kündete von Ehrerbietung. Widerstehend reichte er ihn Karah. Sie nahm ihn an der Kette, und als er in ihren Besitz überwechselte, kehrte das Leuchten zurück. Sie erstarrte für einen kurzen Moment und schüttelte dann den Kopf. Sie schien ein wenig benommen zu sein, aber sie hielt die Hand dicht über den Kristall und nickte schließlich. »Ist es das Amulett, das wir suchen?«, fragte Sternberg sie leise. »Ja. Daran besteht kein Zweifel. Es ist ein Gegenstand von beträchtlicher Macht. Seine Aura ist sehr stark, und viele Eindrücke sind verwirrend. Aber eines kann ich Ihnen sagen.« »Und das wäre?« »Um ihn zu benutzen, müssen wir alle Bruchstücke in unseren Besitz bringen. Zwischen diesem Gegenstand und seinen Gegenstücken existieren starke psychische Bande. Ich glaube, dass ich damit die anderen ausfindig machen könnte, wenn ich die erforderliche Zeit bekomme. Und diesen Talisman hier.« Sie und ihr Kollege drehten sich gleichzeitig zum Großen Wolf um. Ragnar wusste genau, worum sie ihn bitten würden. Ranek der Wolfpriester marschierte in der Kammer auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. »Das gefällt mir überhaupt nicht«, sagte er gerade. »Das ist nicht zu übersehen«, entgegnete Ragnar. »Aber der Große Wolf hat bereits seine Zustimmung gegeben.« »Und damit hat es sich? Die Außenweltler kommen hierher, bitten um einen unserer alten Schätze, ein Artefakt von gewaltiger Macht, das in uralten Zeiten im tiefsten Gewölbe verborgen wurde, und Logan Grimnar sagt einfach ›ja‹.«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte Ragnar. Er widersprach dem Wolfpriester nicht gern, fühlte sich aber verpflichtet, die Entscheidung des Großen Wolfs zu verteidigen. Und nicht nur deshalb, weil ihn eine ihrer Konsequenzen in Hochstimmung versetzt hatte. »Sie sind unsere Verbündeten im Dienst des Imperators. Sie sind erwiesenermaßen würdige Krieger und tödliche Widersacher der Feinde des Imperiums.« Raneks Lippen verzogen sich zu einer leicht zynischen Grimasse, fand Ragnar. »Und außerdem wirst du sie als einer der Hüter des Talismans begleiten, jung Ragnar, nicht wahr?« »Ich bin ein Mitglied der Ehrengarde«, räumte Ragnar ein. Nun, wenigstens hat Grimnar Sergeant Hakon das Kommando übertragen«, sagte Ranek mürrisch. Ragnar war nicht so sicher, ob ihm das gefiel. Seine Erinnerungen an Sergeant Hakon, den ehemaligen Ausbilder in Russvik, waren nicht die angenehmsten. Hakon war ein harter, manchmal grausamer Mann. Immerhin, dachte Ragnar, war er ein fähiger Krieger und ein guter Kommandant. Ragnar musste ihn nicht mögen, um ihn zu respektieren. Er würde sich durch nichts und niemanden diesen Tag verderben lassen. Die Aussicht, in Kürze Fenris zu verlassen, sich auf einem der großen Schiffe, welche in den endlosen Weiten zwischen den Sternen reisten, in den Weltraum jenseits seines Heimatsystems vorzuwagen, erfüllte ihn mit freudiger Erwartung.
VIER
Ragnar hätte beinahe laut gelacht, als er zusah, wie die große Weltenscheibe unter den Horizont fiel und er sich daran erinnerte, wie er vor scheinbar einer Ewigkeit im Reißzahn angekommen war. Wieder war er auf die Liege eines Thunderhawk geschnallt. Wieder verließ er die Atmosphäre seiner Heimatwelt. Wieder sah er, wie der Planet unter ihm zurückblieb. Nur war es jetzt ganz anders. Diesmal war er nicht auf dem Sprung zu einem anderen Ort irgendwo auf der Oberfläche des Planeten. Diesmal war er unterwegs in die Tiefen des Weltraums, dorthin, wo das Schiff der Inquisitoren im Orbit wartete. Heute würde er seine Heimatwelt hinter sich lassen und an einen unvorstellbar weit entfernten Ort fliegen. Außerdem war es möglich, wie er zugeben musste, dass er niemals zurückkehren würde. Dieses Wissen machte die Abreise zu einem noch ergreifenderen Erlebnis. Er schaute mit einem Gefühl auf die Oberfläche seiner Heimatwelt, wie er es noch nie zuvor empfunden hatte, einem Gefühl irgendwo zwischen Liebe und Sehnsucht. Er beobachtete, wie Wolken über die Weite des Ozeans huschten, und machte Inseln durch die Lücken zwischen ihnen aus. Er erinnerte sich an die Karten und Globen, die er im Reißzahn studiert hatte, und erkannte einige von ihnen an ihren Umrissen wieder. Er wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, seine Heimatinsel ausfindig zu machen, den Ort, wo er aufgewachsen war, sich verliebt hatte und schließlich in der Schlacht gefallen war, nur um für die Reihen der Wolfskrieger wiederauferweckt zu werden. Sie war ganz einfach zu klein. Ihm kam der Gedanke, dass es ihm mit Fenris bald genauso ergehen würde. Es war nur eine Welt, aber es gab Millionen solcher Welten im Imperium, die durch Tausende Lichtjahre Entfernung vonei-
nander getrennt waren. Ein geflügeltes Wort besagte, wenn ein Mann an jedem Tag seines Lebens eine neue Welt in der Galaxis besuchen könne, werde er zum Zeitpunkt seines Todes nicht einmal ein Tausendstel aller bewohnten Welten gesehen haben. Für einen Moment war Ragnar vom Gefühl seiner eigenen Kleinheit im großen Plan erfüllt. Er schloss die Augen und richtete ein stummes Gebet an den Imperator und an Russ, auf dass sie über ihn und seine Kameraden wachten, und lächelte dann. Der Trost von dort war kalt. Beide waren frostige, entfernte Götter, weit weg von den Menschen, und erfüllten ihre Pflichten in einem Maßstab, der ihnen wenig Zeit einräumte, über winzige Staubkörnchen wie ihn zu wachen. Sie gaben Männern bei ihrer Geburt Mut und Kraft und Schläue und erwarteten von ihnen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Der Augenblick der Schwäche und Einsamkeit verstrich und wich einem Gefühl der Erregung über die bevorstehende Reise. Er konnte riechen, dass seine Brüder aus dem Rudel der Blutkrallen sowohl seine Erregung als auch sein Unbehagen teilten. Er schmeckte beides in der leicht metallischen Luft. Die Anwesenheit so vieler bekannter Witterungen beruhigte ihn. Er war stolz, einer der fünf zu sein, die auserwählt worden waren, Sergeant Hakon zu begleiten und den alten Talisman zu behüten. Und er musste zugeben, dass seine Wahl auf dieselben Brüder gefallen wäre, hätte er den Trupp zusammengestellt. Es war beruhigend, seine Rudel-Brüder um sich zu haben, sich als Teil von etwas Größerem fühlen zu können. Er war sogar froh über die Anwesenheit jener Brüder, die er als Menschen nicht mochte − und in diesem Augenblick war er sicher, dass sie ihm gegenüber ebenso empfanden. Er öffnete die Augen und sah sich im abgedunkelten Inneren des Thunderhawk um. Auch im gedämpften Schein der matten Lichtkugeln konnte er seine Kameraden auseinander halten. Neben ihm saß Sven, fluchte vor sich hin und maulte beständig über seinen Hunger. Seine groben Züge waren zu einer finsteren Grimasse verzerrt, die
Stummelfinger wie zum Gebet verschränkt. Er grunzte und rülpste, dann warf er einen Blick auf Ragnar und zwinkerte. »Lautlos, aber verflucht tödlich«, murmelte er, dann bemerkte Ragnar, dass er gefurzt hatte. Für einen Moment war der Gestank in dem geschlossenen Raum entsetzlich. Ragnars Sinne waren so scharf, dass er ihm sogar entnehmen konnte, was Sven an diesem Morgen gefrühstückt hatte. »Fischgrütze und Schwarzbrot«, sagte Ragnar, ohne es zu wollen. »Immer eine gute Grundlage für einen Gasangriff«, murmelte Sven fröhlich. Ein strahlendes Funkeln trat in seine Augen. Alle Blutkrallen hatten Schwierigkeiten, sich an das Erwachen des Wolfsgeists in ihnen zu gewöhnen. Bei Sven hatte dies zur Folge, dass er beständig Selbstgespräche führte und vor sich hin murmelte. »Ich glaube nicht, dass die Triebwerke noch mehr Schub brauchen«, murmelte Nils auf dem Sitz dahinter. »Wir fliegen eigentlich schnell genug. Aber ich schwöre, dass Sven sich zwei Fingerbreit aus seinem Sitz erhoben hat.« »Du bist doch nur neidisch«, murmelte Sven. »Du hast meinen sagenhaften Kräften einfach nichts entgegenzusetzen.« »Das ist Svens Geheimwaffe, wenn wir gegen Nichtmenschen kämpfen müssen«, sagte Ragnar in dem Wissen, dass dies alles sehr kindisch war, doch unfähig, sich aus ihrem Geplänkel herauszuhalten. »Er vergast sie einfach.« »Wir sorgen besser dafür, dass er uns nicht zuerst vergast«, sagte Nils. »Unsere Implantate sollten es uns ermöglichen, uns an Gifte anzupassen, aber das war kein Spaß mehr. Mir schwirrt immer noch der Kopf.« »In Russ’ Namen, seid still«, murmelte der dunkelhaarige Lars auf der anderen Seite. »Könnt ihr Kinder denn nie ernst sein? Bei eurem Geplapper kann ich kaum meditieren.« »Jawohl, Eure Heiligkeit«, sagte Sven und furzte erneut, um Lars wissen zu lassen, was er von seiner Beschwerde hielt. In Wahrheit waren alle jungen Blutkrallen Lars und seiner ständigen Nörgeleien überdrüssig. In ihm schien der Wolfsgeist eine exzessive und humorlose Hingabe an die religiösen Aspekte ihrer Berufung gefördert zu
haben. Falls irgendein Wolfskrieger asketisch genannt werden konnte, dann Lars. Ein Gerücht besagte, dass die Runenpriester ihn noch einmal auf entstehende psychische Kräfte testen wollten. Seit einiger Zeit hatte er Träume und Visionen, von denen manche glaubten, sie könnten prophetisch sein − die Sven und Nils jedoch auf zu viel Meditation und Fasten zurückführten. »Es stimmt. Er hat abgehoben. Ich hab’s gesehen«, beharrte Nils grinsend. »Und ich schwöre, ich habe gespürt, wie das Schiff beschleunigte.« »Das war schon beim ersten Mal nicht komisch«, knurrte Strybjörn, der Letzte in der Reihe. Ragnar zuckte beim Klang der tiefen, kraftvollen Stimme seines alten Rivalen und Todfeindes ein wenig zusammen. Er mochte Strybjörn immer noch nicht, obwohl sie sich bei ihrem letzten Unternehmen einander das Leben gerettet hatten, und seine Instinkte rebellierten bei der Vorstellung, einen tödlichen Rivalen neben sich zu haben. Dennoch waren seine Gefährten von allen Männern im Rudel der Blutkrallen diejenigen, welche er am besten kannte. Er hatte mit ihnen trainiert, gekämpft und gestritten, und jetzt standen sie ihm so nahe wie früher seine Blutsverwandten. Ragnar betrachtete die Reihe kahl rasierter Köpfe, die nur eine einzige lange Haarsträhne aufwiesen, das Zeichen der Blutkralle. Er konnte nicht sagen, dass diese Leute seine Verwandten waren. Ganz vorn, nahe am Kommandodeck, waren die Inquisitoren Sternberg und Isaan auf alte Schwertkraftsessel aus Leder geschnallt. Zwischen ihnen befand sich die mit Blei gefütterte Schatulle mit dem Talisman von Lykos darin. Sie hatten beschlossen, mit dem Artefakt im Thunderhawk zu fliegen, anstatt mit ihren eigenen Leuten zu ihrem Schiff zurückzukehren. Neben ihnen saß der Anführer der Ehrengarde, Sergeant Hakon. Sein vernarbtes Gesicht war eine gleichmütige Maske. Sein Rücken war starr. Er sah aus, als sei er beständig kampfbereit. Als spüre er Ragnars Blick, schaute er dorthin zurück, wo der junge Wolfskrieger und dessen Kameraden saßen. Ein Blick aus jenen harschen grauen
Augen reichte, um sie so einzuschüchtern, dass sie schwiegen. Sie alle erinnerten sich noch sehr gut an ihn und Russvik, und nur sehr wenige, auch nicht der unverbesserliche Sven, waren bereit, das Risiko einzugehen, sich sein Missfallen zuzuziehen. Ragnar schloss die Augen und begann mit der ersten von vielen Meditationsübungen, um seinen Geist von allen störenden Gedanken zu reinigen. Ringsumher spürte er, wie die anderen dasselbe taten. Der erste Blick auf das Raumschiff der Inquisitoren war eine Enttäuschung. Ragnar öffnete die Augen, als er spürte, dass der Thunderhawk abbremste, und ein gelindes Unbehagen im Ohr verriet ihm, dass das Gefährt mit irgendeinem Manöver begonnen hatte. Er starrte durch das dicke, verkratzte Plexiglas des Bullauges und sah einen winzigen Metallsplitter in der Ferne glitzern, der in der Schwärze des Raums sogar für seine harten Augen kaum auszumachen war. Das Schiff schwoll in seinem Gesichtsfeld an, da sie sich ihm zügig näherten. Ragnar wurde plötzlich klar, dass Entfernungen im Weltraum trügerisch waren. Es gab keine Landmarken, die einem ermöglichten, das Gesehene größenmäßig einzuordnen. Als das Schiff der Inquisitoren in seinem Blickfeld immer größer und größer wurde, ging ihm auf, wie groß es tatsächlich war. Seufzer ringsumher verrieten ihm, dass dies auch für die anderen galt. Es war ein fliegender Berg, ein gewaltiger Keil aus Stahl und Ceramit, neben dem der Thunderhawk so klein erschien wie eine Elritze neben einem Wal. Aus größerer Nähe erkannte der Wolfskrieger, dass es vor gewaltigen Waffen nur so starrte. Riesige Türme und Aufbauten wölbten sich auf den Seiten. Der auf die von Meteoreinschlägen übersäten Flanken gemalte Imperiumsadler maß an die tausend Schritte. Darunter waren in imperialem Gothisch die Worte Licht der Wahrheit gemalt. Ragnar nahm an, dass es sich um den Namen des Schiffs handelte. Er hatte noch nie ein Werk der Menschen gesehen, das ihm einen Eindruck von so gewaltiger Macht vermittelte, wie dieses Sternenschiff. Die Vorstellung, dass es das Werk von Men-
schen war, ließ sein Herz schneller schlagen, und er murmelte einen kurzen, dem Imperator der Menschheit geltenden Segenswunsch. Kleinere Raumschiffe umschwirrten das Ungetüm, kamen und gingen wie die Schwärme kleiner Fische, die einen Orca umgaben. Ragnar sah staunend zu, wie ihre Positionslichter in der Schwärze vorbeihuschten wie Sternschnuppen. Er sah, dass sich auch die anderen staunend vorbeugten und gafften − abgesehen von den beiden Inquisitoren und Sergeant Hakon, die so gelangweilt aussahen wie Leute, welche solche Wunder bereits unzählige Male erlebt hatten. Ihre Witterung verriet Ragnar, dass dies stimmte: Genau das hatten sie auch. Langsam drehte sich der Thunderhawk um seine Achse, und das riesige Sternenschiff glitt außer Sicht und wich wieder der endlosen Weite der Sterne. Eine Warnglocke läutete und verkündete die unmittelbar bevorstehende Ankunft an ihrem Bestimmungsort. Die Schwerkraft kehrte zurück. Ragnar hatte ein Gefühl, als werde er von einer großen, starken Hand in den Sitz gedrückt, da sie weiter abbremsten. Unter ihnen wurden die Seiten des Sternenschiffs wieder sichtbar, eine Ebene aus Metall und Ceramit, aus der sich Türme, Rohre und Gitter erhoben. Warnlichter blinkten, während sie sich so drehten, dass sie auf der Oberfläche des Raumschiffs landen konnten. Gasstrahlen schossen aus Düsen und gefroren in der Kälte des Alls zu dahintreibenden Eiskristallen. In der Grundausbildung hatte Ragnar gelernt, dass es im Weltraum so kalt war, dass ein ungeschützter Mann binnen Sekunden erfror. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich das nie richtig klar gemacht, und plötzlich war er froh über die alte Rüstung, die seinen Körper umgab. Der Thunderhawk befand sich jetzt in der letzten Phase des Landeanflugs, und es wurde vorübergehend dunkel, als sie abwärts durch eine weite Metallhöhlung in der Seite des Schiffs rasten. Ragnar wurde nach vorn geschleudert und nur durch die Gurte an Ort und Stelle gehalten, als das Schiff zur Ruhe kam. Die Vibrationen inner-
halb des Thunderhawk verrieten ihm, dass das kleine Boot an eine große Luftschleuse andockte. Er schaute durch das Bullauge und sah ringsumher Dampf aufsteigen, während sich überall auf der Außenhaut des Thunderhawk Reif bildete. Luft wurde in die Landebucht gepumpt und gefror beim ersten Kontakt mit den Schiffsflanken, die im Augenblick weitaus kälter waren als die Treibeisschollen auf Fenris. Eine weitere Glocke ertönte, die ihnen verriet, dass die Landung abgeschlossen und es sicher war, ohne Schutzanzug auszusteigen. Die Luftschleuse öffnete sich ziehend, und Ragnar nahm zum ersten Mal den seltsam sterilen Geruch im Innern eines Sternenschiffs wahr. Er roch tausend fremde Duftnoten, Dinge, die er nicht unterbringen konnte, Maschinenöl, technische Substanzen und Reinigungsmittel. Er hörte Stimmengewirr, das Surren unsichtbarer Maschinen und das beständige Dröhnen von Umwälzanlagen, die Luft durch das Schiff pumpten und sie gleichzeitig reinigten und auffrischten. Ihm ging auf, dass er jetzt in einer vollständig separaten, in sich geschlossenen, unabhängigen Welt lebte, die frei im Weltraum schwebte und darauf wartete, dorthin zu fliegen, wohin die Inquisitoren wollten. Plötzlich fühlte er sich sehr weit weg von zu Hause. Soldaten empfingen sie, als sie das Schiff verließen. Sie trugen schwarze Uniformen ähnlich derjenigen der imperialen Garde, aber mit der Sigille der Inquisition versehen. Ragnar wusste, dass sie für die Dauer dieser Mission den Inquisitoren unterstellt waren. Obwohl sie sich diszipliniert in Reih und Glied aufgebaut hatten, beeindruckten sie ihn nicht. Er empfand die natürliche Verachtung eines jungen Space Marine für minderwertigere Krieger, die noch nicht durch die Erfahrung gemildert wurde, an ihrer Seite gekämpft zu haben. Nicht die Männer oder ihre Anführer waren es, die Ragnars Aufmerksamkeit erregten, sondern die hoch gewachsene Gestalt an ihrer Spitze, die darauf wartete, Sternberg und Isaan zu begrüßen. Der Mann war massig, noch breiter als Sergeant Hakon, der selbst
nach den Maßstäben der Space Marines eine wuchtige Erscheinung war. Er trug eine schwarze Uniform, die wie eine zweite Haut saß. Schwarze Lederhandschuhe glänzten an seinen Händen. Hohe Lederstiefel umschlossen seine kräftigen Waden. Sein Kopf war unbedeckt und kahl geschoren. Die Nase war hakenförmig, fast raubvogelartig. Die Lippen waren dünn und grausam. Dunkle Augen beherrschten das hagere, fanatische Gesicht. Er musterte die Space Marines mit Respekt, aber ohne Furcht. »Inquisitor Sternberg. Schön, Sie wieder an Bord zu haben. Sie auch, Inquisitorin Isaan.« Seine Stimme war dröhnend und kraftvoll, und in ihr lag eine Kälte, die Ragnar hätte frösteln lassen, wäre er kein Space Marine gewesen. Es war die Stimme eines Mannes, der Befehlen gewöhnt war, und Ragnar konnte ihrer Autorität entnehmen, dass sie schon über tausend Schlachtfelder gehallt war. Die linke Hand des Mannes fehlte, zweifellos auf irgendeinem weit entfernten Schlachtfeld geblieben und durch eine mechanische Metallklaue ersetzt. Eine Boltpistole und ein Kettenschwert hingen an einem breiten Ledergürtel um seine Hüfte. Drei Ehrenknöpfe ähnlich wie jene, die von Elitekriegern der Space Marines getragen wurden, steckten in seinem kahl geschorenen Kopf neben dem Zeichen der Inquisition, das dort eintätowiert war. Offensichtlich, dachte Ragnar, war dies ein Mann, der seine Pflichten und Zugehörigkeiten ernst nahm. »Es ist schön, wieder an Bord zu sein, Commander Gul«, sagte Sternberg, während er und Isaan seinen zackigen Gruß erwiderten, indem sie sich mit der geballten rechten Faust unterhalb des Herzens an die Brust schlugen. »Darf ich Ihnen Sergeant Hakon und sein Rudel Blutkrallen vorstellen? Sie sind unsere Gäste an Bord der Licht der Wahrheit und die Ehrengarde für eine ganz besondere Fracht.« »Dann war Ihr Unternehmen also erfolgreich, Inquisitor?«, fragte Gul. Weiße Zähne blitzten, und die sonnengebräunte Haut des Mannes ließ sie noch weißer aussehen. Ragnar bekam die Witterung des Mannes in die Nase. Er konnte Leidenschaft und Erregung darin
ausmachen − und noch etwas anderes, eine störende Unterströmung, die er nicht richtig zu fassen bekam. Das an sich war schon bestürzend genug, denn als Wolfskrieger hatte er gelernt, seinen Sinnen grenzenlos zu vertrauen. Unwillkürlich kehrten seine unheilvollen Vorahnungen mit doppelter Kraft zurück. Er fragte sich, ob er sie den anderen mitteilen sollte. Vielleicht, wenn sie allein waren. »Wir haben, weswegen wir gekommen sind, und sind den anderen Dingen auf der Spur, die wir immer noch suchen.« »Ich bete zum Imperator, dass dies bald geschehen wird«, sagte Gul. »Wir müssen die Antwort finden, bevor die Seuche unsere Heimatwelt verschlingt.« »Ich teile Ihre Gebete, Commander«, sagte Sternberg. Gul schien ein ebenso großes persönliches Interesse an dieser Mission zu haben wie die beiden Inquisitoren. Das war nicht weiter überraschend, wenn er Befehlshaber der Leibwache der Inquisitoren war, denn Aerius war ihre Heimatwelt. Dennoch hatte die Witterung des Mannes etwas von dem positiven Eindruck ausgelöscht, den er zuvor auf Ragnar gemacht hatte. Ragnar kam zu dem Schluss, dass er Commander Gul nicht völlig vertraute. Auch die Blicke, die seine Männer den Blutkrallen zuwarfen, waren nicht gerade beruhigend. Ragnar spürte ihre Feindseligkeit − nicht, dass ihm das große Sorgen bereitet hätte. Es mochte schlicht die Eifersucht auf eine Eliteeinheit sein, oder vielleicht verübelten sie den Blutkrallen, dass diese eine Pflicht erfüllten, die von Rechts wegen ihnen hätte übertragen werden müssen. Ragnar wusste, dass sich erst mit der Zeit zeigen würde, was zutraf. »Ich werde Ihren Männern die Quartiere zeigen lassen, Sergeant Hakon.« In Guls Tonfall, den er dem Wolfskrieger gegenüber anschlug, lagen Höflichkeit und Respekt. Hakon nickte und bückte sich, um die schwere Schatulle mit dem Talisman einhändig aufzuheben. »Ich habe Befehl, diesen Gegenstand nicht aus den Augen zu lassen«, sagte er, indem er Inquisitor Sternberg ansah.
»Gewiss, mein Freund«, sagte der Inquisitor beschwichtigend. Ragnar schauderte. Sie waren jetzt auf dem Schiff der Inquisition und von ihren Truppen umgeben. Sie zählten nur sechs Männer, während Sternbergs Gefolgschaft Tausende stark war. Space Marines hin oder her, Ragnar bezweifelte, dass sie sich gegen diese Übermacht würden behaupten können. Unabhängig davon, ob Hakon den Talisman in seiner Obhut hatte oder nicht, in diesem Augenblick befand er sich in sicherem Besitz der Inquisitoren, wann immer sie es wollten. »Die sorgen ganz gut für sich, diese verfluchten Inquisitoren, oder nicht?«, murmelte Sven respektlos, während er den Kopf durch die Tür von Ragnars Unterkunft schob. Ragnar spürte, dass Sven nicht so verstimmt war, wie er klang. Er selbst war überwältigt, wie er nach einem neuerlichen Blick auf seine Unterkunft feststellte. Verglichen mit ihren Zellen im Fang waren diese Kammern luxuriös. Nicht, dass er schon viel Vergleichbares gesehen hatte, aber Ragnar hatte den Verdacht, dass sie nach allen Maßstäben luxuriös waren. Dieser Raum war groß, vierzig mal zwanzig Schritte mit hoher Decke, und jeder Wolfskrieger hatte seine eigene Kammer bekommen. Der Boden bestand aus glänzendem, mit Intarsien verziertem Marmor und war mit dicken Teppichen aus exotischen Fasern bedeckt. Die Vorhänge an den vertäfelten Wänden waren ebenso üppig wie die Teppiche. Die Sessel waren aus weichem, gepolstertem Leder, die Möbel aus erlesenem Holz und Elfenbein. In einen Spiegel auf einem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Ständer war ein Fernsehbildschirm eingearbeitet. Gemälde von fremdartigen Landschaften waren an die Wände montiert. Der einzige Hinweis darauf, dass sie sich auf einem Raumschiff befanden, war ein Bullauge in der Mitte einer Wand, durch das vor der unendlichen Schwärze des Weltraums Sterne zu sehen waren. »Es ist wie in einem Palast«, stimmte Ragnar zu, während er sich wachsam umschaute. »Eine der schönsten Gefängniszellen, die je gebaut wurden, würde ich sagen.«
Sven wechselte einen Blick mit ihm. Ragnar sah, dass die andere Blutkralle seine Empfindungen hinsichtlich dieses Ortes teilte. Er hatte gesehen, wie Sven die Anlage der Räumlichkeiten bei ihrer Ankunft studiert hatte. Der einzige Eingang zu jeder Kammer führte direkt zur zentralen Gemeinschaftsmesse. Dort gab es nur zwei Ausgänge, einen am Nordende, einen am Südende. Beide waren leicht zu verteidigen, aber es würde ebenso leicht sein, sie einzusperren. Tatsächlich sahen die massigen Druckschleusen, durch die man in die Messe gelangte, so aus, als könnten sie zugeschweißt werden. Nicht, dass das nötig sein würde, dachte Ragnar. Er glaubte, dass die Blutkrallen sie mit ihrer Bewaffnung auch dann nicht würden öffnen können, wenn sie lediglich verriegelt waren. Diese Panzertüren mussten mindestens eine Handspanne dick sein. »Ist vielleicht nicht das Klügste, so etwas laut auszusprechen«, sagte Nils leise, als er eintrat. Er sah sich um und pfiff durch die Zähne. »Wie ich sehe, hast du ein Fenster. Wände haben Ohren. Vergesst nicht, dies ist ein Schiff der Inquisition.« »Was willst du damit sagen?«, fragte Ragnar, obwohl er es sich bereits denken konnte. »Sergeant Hakon sagte, dass diese Quartiere von wichtigen Gästen belegt werden …« »Stimmt genau, das sind wir, verflucht«, sagte Sven. »Und von wichtigen Gefangenen«, endete Nils. Ragnar verstand sofort. Er sah, wie nützlich es für die Inquisition war, auf dem Laufenden darüber zu sein, was in diesen Gemächern vorging. Die meisten Leute würden natürlich viel zu argwöhnisch sein, um darin offen zu reden, aber man konnte nie wissen … »Natürlich sind wir ehrenwerte Gäste«, sagte er. »Und wir haben nichts zu verbergen.« »Verflucht richtig«, sagte Sven. Er schlug sich auf die Brust und rülpste. »Natürlich müssten sie Fenrisisch sprechen, um uns verstehen zu können.«
»Hakon sagt, dass einige der alten Maschinen jede Sprache übersetzen können.« »Ich frage mich, warum der alte Hakon dir all das erzählt hat«, sagte Sven. Ragnar wusste es bereits. Hakon traute dem Braten auch nicht recht und wollte, dass sie auf der Hut waren. »Das ist kein Schiff, es ist eine verdammte Stadt«, maulte Sven, während er sich übellaunig umsah. Ragnar grinste verdrossen. Sven hatte nichts anderes getan, als sich zu beklagen, seit Sergeant Hakon sie losgeschickt hatte, um ein Gefühl für das Sternenschiff zu bekommen. Beiden war klar, dass der Sergeant in Wirklichkeit sagte: Macht euch mit dem Gelände vertraut. Ragnar wusste auch, was Sven eigentlich meinte. Sie waren stundenlang durch scheinbar endlose Metallkorridore und Kammern gewandert, und er hatte längst aufgehört, die Leute zu zählen, denen er begegnet war. Die Besatzung dieses Schiffs musste in die Tausende gehen, dachte er. Der große Platz, auf dem sie jetzt standen, war voller Männer, die sich mit großen, rätselhaften Maschinen abplagten. Es roch nach Maschinenöl und wiederaufbereiteter Luft sowie abgestandenem Schweiß. Ragnar fühlte sich an die Stadt der Eisenmeister auf Fenris erinnert, aber das hier hatte eine ganz andere Dimension. Als er einige der Männer genauer betrachtete, sah er, dass sie an ihre Maschinen gekettet waren. Er blickte sich um, machte einen Mann in der schmucken Uniform eines Schiffsoffiziers aus und ging zu ihm, um nach dem Grund zu fragen. Der Offizier war ein hoch gewachsener Mann mit dunklen Haaren unter seiner spitzen Mütze, aber sein Gesicht war unnatürlich blass. Er sah aus, als habe er sein ganzes Leben in der düsteren, von künstlichem Licht erfüllten Enge des großen Sternenschiffs verbracht. Sein Gesicht war grimmig, als er antwortete. »Es sind Zwangsverpflichtete, zum Dienst gepresst. Die meisten von ihnen sind Abschaum. Kriminelle, die zur Zwangsarbeit auf einem Raumschiff verurteilt wur-
den. Unbedeutendere Verräter, die auf diese Weise ihre Schuld dem Imperium gegenüber begleichen. Die meisten von ihnen werden fünfundzwanzig Standardjahre dienen − falls sie so lange leben. Es ist ein hartes Leben. Es gibt Unfälle.« Ragnar ließ sich die Worte des Mannes durch den Kopf gehen, während er die dünnen, halb verhungerten Wichte betrachtete, deren Beine an die Maschinen gekettet waren, welche sie bedienten, und die ihr ganzes Leben lang nicht in der Lage waren, sich mehr als zwei Schritte weit von ein und demselben Ort zu entfernen. Er in ihrer Situation würde höchstwahrscheinlich wahnsinnig werden, dachte er. Oder zu fliehen versuchen. Der Offizier schien seine Gedanken zu lesen. »Jede Meuterei wird im Keim erstickt. Es ist schwer, sich mit anderen Leuten zu verständigen als denen, die an derselben Maschine arbeiten. Und wenn sie aufsässig werden, bekommen sie nichts zu essen, bis sie sich wieder beruhigt haben. Verschwenden Sie keine Sympathien an sie. Sie sind Kriminelle und verdienen, was sie bekommen.« Ragnar war nicht sicher, ob irgendein Mann so etwas verdienen konnte, aber er behielt seine Meinung für sich. »Und wenn sie ihre Strafe abgedient haben, steht es ihnen frei, das Schiff zu verlassen?« »Keineswegs. Es steht ihnen frei, sich darin nach Belieben zu bewegen«, erwiderte der Mann mit einem Grinsen. »Vorausgesetzt sie halten sich an die Regeln und tun, was man ihnen sagt. Die meisten dieser Männer sind lebenslänglich hier. Dies ist nicht nur ein Sternenschiff, sondern auch ein Gefängnis.« »Dann muss es eine Menge Verzweifelte an Bord geben.« »Sie lernen schnell, dem Imperator mit Hingabe zu dienen. Sie wissen, was passiert, wenn sie es nicht tun.« Ragnar wartete ab, zuversichtlich, dass der Mann es ihm sagen würde. Er wurde nicht enttäuscht. »Sie können ausgepeitscht, in Ketten gelegt oder als Versuchsperson für die Verhörmaschinen dienen, an deren Verbesserung die Inquisitoren gerade arbeiten. Wenn sie unverbesserlich sind, können sie
einen Spaziergang machen.« »Einen Spaziergang?«, fragte Ragnar verwirrt. »Durch die Luftschleuse. Ohne Raumanzug.« Ragnar wusste nicht, ob ihm das Behagen gefiel, mit dem der Offizier über diese Dinge redete, oder auch die Art, wie er ihn musterte, als halte er nach einer bestimmten Reaktion auf seine harten Worte Ausschau. Ohne ein weiteres Wort wandte Ragnar sich ab und ging. Sven folgte ihm. Aber die Worte des Offiziers gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Das Schiff war ein Gefängnis. Es war so angelegt, dass eine Flucht unmöglich war. Sogar für Space Marines. Ragnar und Sven setzten ihre Wanderung durch das große Schiff fort. Es schien so ausgedehnt zu sein wie der Reißzahn, ein endloser Irrgarten aus Metallkorridoren, gewundenen Rohren, Ventilatoren, Arbeitsmaschinen und Männern. Ragnars frühere Befürchtungen, sie könnten Gefangene sein, hatten sich als grundlos erwiesen. Niemand machte ihnen Vorschriften hinsichtlich ihrer Bewegungsfreiheit. Niemand hatte ihnen verboten, bestimmte Sektoren zu betreten. Soweit er sagen konnte, und er hatte seine extrem scharfen Sinne aufs Äußerste angestrengt, um es herauszufinden, wurden sie nicht einmal verfolgt. Sie wurden nicht beobachtet und konnten gehen, wohin sie wollten. Natürlich war es wahrscheinlich, dass die Inquisitoren über andere Mittel verfügten, sie ausfindig zu machen, wenn sie es wollten, und jetzt, da der Thunderhawk wieder abgeflogen war, gab es keinen Weg mehr vom Schiff herunter − es sei denn, sie ergriffen die drastische Maßnahme, eines der Beiboote in ihre Gewalt zu bringen. Konnte andererseits überhaupt jemand von ihnen eines fliegen? Sternberg hatte behauptet, es gebe einen Teleporter auf seinem Schiff. Wenn das stimmte, war das ein deutlicher Hinweis auf die Wertschätzung, die der Inquisitor genoss. Derartige Vorrichtungen waren ebenso selten und kostbar wie unzuverlässig. Nur die Terminator-Kompanien der Space-Marine-Orden benutzten sie und das auch nur bei Einsätzen von allergrößter Dringlichkeit. Die uralten Vorrichtungen gestatteten kleinen Gruppen und Frachten, von einem Ort
zum anderen zu gelangen, ohne den dazwischenliegenden Raum zu durchqueren, jedenfalls verriet das in Ragnars Kopf verankerte Wissen ihm dies. Vielleicht konnte diese Vorrichtung ein Weg sein, dieses Schiff zu verlassen, falls es irgendwann einmal erforderlich werden sollte, das zu tun. Wenn man die zur Mobilisierung ihrer Kräfte erforderlichen Rituale kannte. Wenn sie die Kammer finden konnten, in der sie sich befand. Wenn … Ragnar fragte sich, warum er so viel Zeit mit Fluchtplänen verbrachte. Fühlte er sich wirklich so unbehaglich? Er konnte die Frage nicht beantworten, aber seine Instinkte sagten ihm, dass er jedes Recht hatte, besorgt zu sein. Ragnar schob den Gedanken beiseite. Warum dachte er überhaupt in diesen Bahnen? Die Inquisition war nicht sein Feind. Ihre Mitglieder dienten dem Imperator ebenso wie er. Sie hatten das Vertrauen des Großen Wolfs. Sie waren ehrenhafte Leute. Vielleicht war er nur nervös angesichts der Aussicht, auf diese gewaltige Reise zu gehen und weit weg vom Reißzahn und seiner Heimatwelt zu sein. In vielerlei Hinsicht erinnerte das Schiff ihn an den Reißzahn. Aber der Reißzahn war im guten, soliden Fels von Fenris verankert. Das Schiff war in nichts verankert. Es trieb in der luftlosen Leere des Raums. Wenn gewisse lebenswichtige Systeme ausfielen, würden sie alle sterben. Seine Rüstung konnte Sauerstoff und Körperausscheidungen für ihn wiederaufbereiten und ihn so wochenlang am Leben erhalten, wenn es sein musste, aber sie konnte es nicht beliebig lange, und vom Schauplatz solch eines Unglücks konnte er nicht einfach nach Hause schwimmen. Sie waren sehr weit draußen auf einem gefährlichen Meer, und nirgendwo war Land in Sicht. Der Sektor, in dem Sven und er sich jetzt befanden, war buchstäblich leer. Es gab nur wenige Lampen, und die Abstände zwischen ihnen waren groß. Sie befanden sich in einem höhlenartigen Gewölbe, einer Art Lagerraum. Große Kisten mit dem doppelköpfigen Adler-Siegel des Imperiums waren bis unter die Decke gestapelt. Große Schaben huschten an ihren Seiten empor und in die Dunkelheit der tiefen Schatten. Ratten beobachteten sie aus dunklen Ecken. Ragnar
konnte ihre Exkremente und ihre üble, moderige Ausdünstung riechen. Er mochte Ratten nicht besonders. Er hörte, wie sich in der Ferne Männer bewegten. Es handelte sich nicht um Gefangene. Sie konnten kommen und gehen, wie es ihnen gefiel. Entweder waren sie Freigelassene oder Offiziere, oder vielleicht gehörten sie auch zur eigentlichen Besatzung und waren ausgebildete Raumfahrer anstatt zwangsverpflichtete Gefangene der Inquisition. Ragnar und Sven schritten durch die Gänge. Er hörte die Männer näher kommen. Eine Begegnung schien unausweichlich. Das störte Ragnar nicht sonderlich. Er hatte durchaus ein Interesse daran, mehr Raumfahrer kennen zu lernen und mit ihnen zu reden. Er wollte alles auf diesem Schiff verstehen: wie es funktionierte, wie die Besatzung organisiert war, alles. Wenn sich Zeit und Gelegenheit fanden, würde er vielleicht sogar mit den Inquisitoren darüber reden. Wenn sie jetzt überhaupt noch mit ihm reden würden. Schließlich war dies ihr Schiff. Sie hatten hier Pflichten zu erfüllen, die zu wichtig waren, um sie vernachlässigen zu können. Die Wolfskrieger betraten einen Bereich, der heller erleuchtet war als der Rest des Lagers. Männer arbeiteten hier auf riesigen Gerüsten und transportierten die Kisten wie Ameisen Steine. In ihnen musste sich Proviant befinden, dachte Ragnar, oder vielleicht Maschinenteile oder etwas anderes, fügte er hinzu. Plötzlich ging ihm auf, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was sich darin befand. Die Vorgänge auf diesem Schiff waren für ihn in der Tat ein Rätsel. Nicht weit entfernt waren mehrere Männer damit beschäftigt, eine Winde zu bedienen, die mit einer kleinen Plattform neben dem Gerüst verbunden war, auf der Kisten zu Boden gelassen wurden. Eine andere Gruppe grimmig aussehender Männer überwachte die Arbeit. Als die beiden Wolfskrieger in Sicht kamen, schaute einer der Männer auf. Ragnar spürte die Anspannung in ihm. Der Mann war bereit, gewalttätig zu werden. Eine fast unmerkliche Veränderung in Svens Haltung verriet ihm, dass es die andere Blutkralle ebenfalls bemerkt hatte. Trotz seines Wissens zwang Ragnar sich dazu, sich entspannt
zu geben, obwohl er bereit war, beim geringsten Anlass ohne jede Verzögerung zu explodieren. »Was haben wir denn da?«, fragte der Mann. Er trug eine Uniform, die ihn als Teil der Hauptbesatzung des Schiffs auswies. Er hatte keine Dienstpistole oder sonst eine Waffe bei sich, aber das schwere Brecheisen in seiner Hand würde ein durchaus adäquater Ersatz sein, dachte Ragnar. »Zwei von den Auserwählten des Imperators. Unantastbare Space Marines, was?« Der Ton war spöttisch, aber Ragnar spürte auch Furcht in dem Mann. Sie verstärkte sich, als er die Worte »Space Marines« aussprach. Allem Anschein nach eilte ihnen ihr Ruf als Elitekrieger des Imperators voraus. »Wir sind stolz darauf, zu den Wolfskriegern zu gehören«, sagte Ragnar glatt auf Gothisch. Er spürte, dass sich andere Mitglieder der Gruppe kampfbereit machten. Er wusste nicht, warum sie es taten, aber ihre Feindseligkeit war offensichtlich. Und all diese Männer hatten Brecheisen in der Hand. »Und vergesst das bloß nicht, verflucht«, fügte Sven gehässig hinzu. Innerlich zuckte Ragnar zusammen. Takt und Diplomatie gehörten nicht zu Svens Stärken. Sein Tonfall ließ die Männer ringsumher noch feindseliger werden. Was, bei Russ, ging hier vor? »Für kleine Küken habt ihr ein ziemlich großes Maul«, sagte der Anführer der Männer. »Vielleicht sollten wir euch die Großmäuligkeit austreiben.« »Ihr seid verflucht herzlich eingeladen, es zu versuchen«, sagte Sven, denn die Tatsache, dass sie fast zehn zu eins unterlegen waren, nicht im Geringsten störte. Ragnar wusste, dass er guten Grund für seine Zuversicht hatte. Dies waren normale Menschen, die mit Brecheisen bewaffnet waren. Er und Sven waren Space Marines mit Boltpistolen. »Große Worte für Männer mit Pistolen«, höhnte der Anführer. »Die brauche ich nicht, um mit einer Schabe wie dir fertig zu
werden«, sagte Sven. »Und mit deinem Dutzend Freundinnen. Ragnar, tritt kurz zur Seite, ich werde diesen Hörigen eine Lektion erteilen.« Auch das Rechnen schien nicht zu Svens Stärken zu gehören, nahm Ragnar zur Kenntnis. Dennoch musste er Sven bewundern. Die Anzahl ihrer Feinde schüchterte ihn überhaupt nicht ein. »Arroganter Welpe!«, höhnte ein anderer Raumfahrer. Dieser war ein stämmiger, grobschlächtiger Mann. Eine weiße Narbe zog sich über sein gebräuntes Gesicht. Ragnar hatte genug Erfahrung mit Wunden, um eine Messernarbe zu erkennen, wenn er eine sah. Ragnar spürte eine jähe Welle der Verärgerung in sich aufsteigen, während die Bestie in ihm um ihre Freiheit rang. Warum gaben diese Männer sich so große Mühe, sie zu provozieren? Sie mussten doch wissen, dass sie in einem Kampf chancenlos waren. Vielleicht, weil er sich so stark auf die spottenden Raumfahrer konzentrierte, bemerkte Ragnar die eigentliche Gefahr erst, als es beinahe zu spät war. Nur das Sausen verdrängter Luft und ein auf dem Boden neben ihm rasch wachsender Schatten warnten ihn. Das reichte. Noch während er sich zur Seite warf und dabei Sven mitriss, schaute er nach oben und sah die fallende Kiste. Zwei Raumfahrer hatten sie vom Stapel über ihnen auf der Plattform auf sie fallen lassen. Die Verärgerung in Ragnar verwandelte sich in Wut. Diese Männer mussten bestraft werden. Die Kiste krachte auf den Boden. Holzsplitter flogen in alle Richtungen, und silbern glänzende Proviantdosen voller Büchsenfleisch schepperten über den Boden. Als sie sahen, dass ihr Hinterhalt fehlgeschlagen war, rückten die übrigen Männer mit ihren Brecheisen vor. Sie waren dazu gedacht, Kisten aufzustemmen, aber ihre Spitzen sahen aus, als könnten sie sogar Ceramit durchbohren. Idioten!, dachte Ragnar. Nun, sie würden ihre Lektion früh genug bekommen. Er machte sich nicht die Mühe, seine Pistole zu ziehen, sondern glitt einfach vorwärts. Es gab keinen Grund, kostbare Boltpatronen
an diesen Abschaum zu verschwenden. Mit der rechten Faust schlug er nach Narbengesicht. Von Ragnars verstärkten Muskeln und den Servomotoren in seiner Rüstung angetrieben, plättete der Hieb dem Mann die Nase; er flog rückwärts, wie von einem Rammbock getroffen. Sein fallender Körper prallte gegen die Männer hinter ihm und riss sie zu Boden. Ragnar sprang vor und hob einen der Männer auf und mühelos hoch über den Kopf. Die schwachen Bemühungen des Mannes, sich zu wehren, nützten ihm angesichts der gewaltigen Körperkräfte des Wolfskriegers gar nichts. Ragnar warf ihn kopfüber auf zwei seiner Kameraden, die zu Boden geschleudert wurden. Sven sprang an Ragnar vorbei ins Getümmel und schlug dabei mit seinen gepanzerten Fäusten nach rechts und links. Jeder Schlag schickte einen Gegner zu Boden. Es war, als sehe man einem Wirbelsturm auf seinem Weg durch ein Weizenfeld zu. Die Raumfahrer hatten überhaupt keine Chance. Sven bewegte sich so schnell, dass vermutlich niemand außer Ragnar seinen Bewegungen überhaupt folgen konnte. Nur Ragnars scharfe Sinne gestatteten ihm, etwas anderes zu sehen als ein verschwommenes Durcheinander. Knochen knackten. Blut floss. Männer fielen. Ragnar schaute sich um und sah, dass noch mehr Raumfahrer die Ketten des Aufzugs gepackt hatten und sich mit mehr Mut als Verstand in das Getümmel abseilten. Ragnar knurrte zähnefletschend und stieß ein lang gezogenes Kampfgeheul aus. Der Laut brachte einen der sich abseilenden Männer so aus der Fassung, dass er die Kette losließ und zu Boden stürzte. Nach dem Aufprall zappelte er herum wie ein Fisch auf dem Trockenen, was Ragnar verriet, dass er sich das Rückgrat gebrochen hatte. Seine Schreie kündeten von furchtbaren Schmerzen. Zu Ragnars Überraschung veranlassten diese Schmerzensschreie seine Kameraden aber nicht, ihr Tun zu überdenken und zu fliehen, sondern schienen sie vielmehr anzuspornen, ihre Angriffe mit doppelter Wut fortzusetzen. Ragnar duckte sich unter dem Schwung eines Brecheisens hinweg und riss es dem Raumfahrer aus der Hand wie ein Mann, der einem Kind einen Stock wegnimmt. Er überlegte
kurz, es als Waffe gegen den Angreifer einzusetzen, warf es dann aber verächtlich weg. Es bohrte sich in die dicke Wandung einer Holzkiste und blieb dort zitternd stecken. Der Mann trat nach Ragnar. Sein Fuß traf seine gepanzerte Seite mit dem Knirschen brechender Knochen. Dem Mann fiel die Kinnlade herunter, und er schrie vor Schmerzen auf. Ragnars Hieb brachte ihn zum Schweigen. Der Raumfahrer ging zu Boden, während ihm Blut und abgebrochene Zähne aus dem verunstalteten Mund rieselten. Ragnar sah sich um und stellte mit einiger Befriedigung fest, dass Sven mittlerweile die übrigen Angreifer erledigt hatte. Er hatte den uniformierten Anführer bei der Kehle gepackt und hielt ihn mühelos mit einer Hand auf Armeslänge vor sich. Die Füße des Mannes hingen einen halben Schritt über dem Boden. Ragnar hörte die letzten Männer von oben hinter sich auf dem Boden landen und wandte sich dieser neuen Bedrohung zu. Er sah, dass es nur fünf waren, und warf sich mit seinem Schlachtruf auf den Lippen auf sie. Seine ausgestreckten Hände schlossen. sich um die Arme zweier Angreifer. Er schloss die Finger und spürte brüchige menschliche Knochen nachgeben. Ein Tritt mit dem rechten Fuß ließ einen anderen Mann zehn Schritte weit durch die Luft fliegen und gegen eine Kiste prallen. Der Mann kam unglücklich auf und blieb schlaff liegen. Die übrigen zwei wandten sich zur Flucht. Das würde Ragnar nicht zulassen. Er sprang vorwärts, packte sie im Genick und stieß dann ihre Köpfe zusammen. Die beiden Männer sanken bewusstlos zu Boden. Ragnar drehte sich zu Sven um. Der hatte mittlerweile den ohnmächtigen Anführer losgelassen, der nun ebenfalls bewusstlos auf dem Boden lag. Der Wolfskrieger warf Ragnar einen mürrischen Blick zu. »Dieser verfluchte armselige Haufen hat uns keinen guten Kampf geliefert, was?« »Meine Rüstung hat keinen Kratzer abbekommen.« »Tja, meine haben sie jedenfalls geschafft!«
»Wie das?« »Indem sie sie mir, verflucht noch mal, mit Blut besudelt haben, möge Russ sie strafen! Jetzt muss ich sie wieder auf Hochglanz bringen.« »Zwei Männer tot! Vierzehn krankenhausreif. Fünf davon mit kritischen Verletzungen und vier weitere aufgrund ihrer Beschwerden vorübergehend arbeitsunfähig. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«, wollte Commander Gul in einem Tonfall wissen, der keine Ausflüchte duldete. »Ich dachte, wir hätten mehr getötet. Wir werden langsam weich«, sagte Sven geringschätzig, während er sich im spartanischen Ruheraum des Commanders umsah, als bewundere er die Einrichtung. Guls Tonfall gefiel ihm jedenfalls nicht, so viel war offensichtlich. »Wenn sie uns das nächste Mal auflauern, werden es mehr.« »Sie wollen damit sagen, die Besatzung hat Sie angegriffen?« »Wollen Sie damit andeuten, wir seien irgendwie im Irrtum?«, konterte Ragnar. »Einige Männer haben uns beleidigt, und dann haben einige ihrer Kameraden versucht, uns eine Kiste mit Büchsenfleisch auf den Kopf zu werfen.« Gul hatte den Schauplatz des Kampfes selbst in Augenschein genommen. Er schien sich ein wenig zu beruhigen und öffnete seine geballten Fäuste. »Einige Besatzungsmitglieder sind ein wenig gereizt, das stimmt wohl. Die verschiedenen Arbeitsgruppen mögen einander nicht besonders, von Fremden auf dem Schiff ganz zu schweigen. Es könnte noch mehr solcher Übergriffe geben. Vielleicht ist es in Zukunft besser, wenn Sie in Ihrem Quartier bleiben, bis man Sie ruft.« War das, dachte Ragnar, vielleicht der ganze Sinn dieser kleinen Übung gewesen? Sein Misstrauen in Bezug auf dieses Schiff und dessen Besatzung kehrte mit unverminderter Intensität zurück.
FÜNF
Ragnar schaute mit einigem Unbehagen zu. Als Mitglied der Ehrengarde für den Talisman war er dienstlich verpflichtet, in diesem Augenblick anwesend zu sein, aber er wünschte, es wäre anders gewesen. Bei Zauberei, auch im Dienst des Imperiums, wurde ihm mehr als unbehaglich. Er brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass seine Schlachtbrüder genauso empfanden. Ihre Witterungen verrieten ihm alles, was er über ihre Bedenken wissen musste. Der Raum befand sich tief im verborgenen Herzen der Licht der Wahrheit. Sie waren von dicken Stahlschleusen umgeben. Die Schleusen hatte man versiegelt, das Licht war abgedunkelt. Der Geruch narkotischen Räucherwerks lag in der Luft und ließ Ragnars Kopf schwirren, bis sein Körper sich auf die Droge eingestellt hatte. Der Boden bestand aus nacktem Metall. In seiner Mitte war mit geweihten Farben und Salzen ein Doppelkreis gezeichnet worden. Zwischen dem äußeren und dem inneren Ring befanden sich verschiedene Symbole, die dem Imperator und der Inquisition heilig waren. Von der exakten Mitte des Kreises strahlte eine Reihe von Linien nach außen. Ragnar wusste nicht, woher, aber er wusste, dass die Richtung, in die sie zeigten, von Bedeutung war. Am Ende jeder Linie stand eine brennende Kohlenpfanne aus Kupfer, in denen das Räucherwerk brannte. Genau am Schnittpunkt der Linien saß Inquisitorin Isaan mit untergeschlagenen Beinen auf dem kalten Stahlboden. Sie war nackt bis auf den Talisman, der an ihrem Hals baumelte. Ragnar konnte die weißlichen Narben auf ihrer dunkelbraunen Haut sehen. Ehrenmale aus alten Kämpfen, nahm er an. Die Frau atmete tief und rhythmisch. Sie sammelte ihre Kräfte für einen Versuch, das nächste Fragment des gesuchten Amuletts auf psychometrische Art ausfindig zu ma-
chen. Ragnar hatte gehört, wie Sternberg und Hakon zuvor darüber diskutiert hatten. Anscheinend gab es irgendeine übersinnliche Verbindung zwischen den Einzelteilen des zerbrochenen Talismans, mit deren Hilfe es möglich war, ihre genaue Position in Relation zueinander festzustellen. Ragnar wusste nicht genau, wie das vor sich gehen sollte, aber schließlich waren ihm Psyker und ihre Kunst auch ein völliges Rätsel. Rings um den Kreis standen die fünf Blutkrallen sowie Sergeant Hakon und Inquisitor Sternberg. Sie alle sahen mit grimmiger Miene zu, wie Isaan ihr Ritual fortsetzte. Ragnar spürte Sternbergs Erregung. Die Jagd hatte wieder begonnen. Sie standen kurz davor, einen weiteren Schritt in Richtung ihres Ziels zu machen, seine Welt vor der Seuche zu retten. Inquisitorin Isaan stimmte einen Singsang in imperialem Gothisch an. Die erhabenen Worte uralter Psyker-Litaneien perlten von ihrer Zunge. Der Rhythmus der Worte verlieh ihnen Macht und ließ ihre Stimme tiefer und volltönender klingen, als spreche ein anderer mit ihrer Zunge. Unglücklicherweise war genau das nur allzu gut möglich, wie Ragnar wusste. Psyker waren berüchtigt für ihre Anfälligkeit, was Besitzergreifungen durch Dämonen betraf, was der Grund war, warum die meisten von ihnen ihre Seele mit dem Imperator verbunden hatten oder an ihn auf seinem Goldthron verfüttert wurden. Ragnar ging davon aus, dass die Inquisition genau wie die Orden der Space Marines ihre Methoden hatte, ihre Psyker abzuschirmen und zu beschützen. Er hoffte nur, dass sie auch so wirkungsvoll waren wie jene, welche die Runenpriester im Reißzahn anwendeten. Er nahm an, dass der Kreis und die heiligen Symbole den Psyker während des Rituals vor verderblichen äußeren Einflüssen schützen sollten. Ragnar richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine eigenen Gebete. Die Inquisitorin hatte sie alle angewiesen, während des Rituals im Stillen zu beten, sodass durch ihre Gedanken keine negativen Einflüsse angezogen werden konnten. Ragnar war nicht ganz sicher, was sie damit meinte, aber fest entschlossen, es nicht darauf
ankommen zu lassen. Er betete inbrünstig zu Russ und dem Imperator, auf dass sie über sie wachen und den Psyker bei ihrem Unterfangen lenken mochten. Plötzlich sträubten sich Ragnar die Nackenhaare, und es fühlte sich an, als sei die Temperatur um ein, zwei Grad gesunken. Sein Mund öffnete sich zu einem unwillkürlichen Knurren. Er spürte die Anwesenheit von etwas. Fremde Energien knisterten ringsumher in der Luft, unsichtbar und doch unbestreitbar anwesend. Es roch wie nach glühendem Metall. Er öffnete die Augen wieder und sah Karah Isaan an. Zuerst traute er seinen Augen nicht: War ihr Kopf tatsächlich von einem schwachen Lichtschein umgeben? Vielleicht. Nein, ganz bestimmt. Er vergaß seine Gebete, als der Schein heller wurde, bis er einen schimmernden Kreis aus bernsteinfarbenem Licht bildete, um weiter in seiner Helligkeit zuzunehmen, bis er das matte Licht im Raum überstrahlte und die Inquisitorin zum Brennpunkt aller Blicke machte. Ihre kurzen Haare kräuselten sich langsam wie in einer Brise, obwohl innerhalb des versiegelten Raums nicht der geringste Lufthauch wehte. Als sie die Augen öffnete, konnte Ragnar das unnatürliche Licht darin sehen. Pupille und Iris strahlten wie winzige Sonnen, als seien sie Teil eines Binärsystems, welches die Leuchtkraft für den Lichtkranz um ihren Kopf speiste. Langsam hob sie ihre schlanken braunen Hände, bis der Talisman von ihnen umschlossen war. Er fing ebenfalls an zu leuchten, da das Licht ihres Halos von den Tausenden Facetten des Juwels aufgenommen und zu Millionen von Punkten gebrochen wurde, die durch den ganzen Raum zuckten. Ragnar sah Lichtstrahlen auf den Gesichtern seiner Kameraden spielen. Manche von ihnen landeten auf seiner eigenen Brust wie die unheimlichen roten Punkte eines Ziellasers. Der Gedanke jagte ihm einen leichten Schauder über den Rücken und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gebete. Der Singsang ging weiter. Ragnar sah fasziniert zu. Aus dem Mund der Frau trat jetzt eine Art Nebel aus, ein sich windender
Dunst, der schimmerte und funkelte und sie umwirbelte − um dann konkrete Formen anzunehmen wie Bilder, die auf einen Holoschirm projiziert werden. Ragnar sah eine Welt vor den kalten Tiefen des Universums leuchten. Er sah das Blau von Meeren, das Weiß von Wolken und das Grün von Dschungeln. Dann veränderte sich die bizarre Szene in der Luft. Es war, als fielen sie aus dem Weltraum auf die Oberfläche des Planeten. Ein Kontinent sprang in ihr Blickfeld. Sie sanken einem endlosen grünen Meer entgegen. Das Schwindel erregende Tempo des Absinkens verlangsamte sich. Ragnar sah riesige, hoch aufragende Bäume und grellbunte, fast ebenso große Blumen. Große Insekten … Fremdartige Tiere … Einen monströsen Steintempel, uralt, geformt wie eine Stufenpyramide und mit seltsamen ausgewaschenen Fratzen bedeckt, die in den Stein gemeißelt waren. Kriechgewächse und Flechten nahmen Gestalt an. Ragnar schauderte, da er eine feindselige Ausstrahlung in der Luft spürte. Er musste an Dämonen denken und betete inbrünstiger. Die Temperatur im Raum sank jetzt sehr schnell, und der Geruch nach Verbranntem, der sich mit dem des Räucherwerks vermischte, war widerlich. Der Blickwinkel veränderte sich, sank tiefer, fuhr wie ein Geist durch die Mauern der Pyramide und in eine verborgene Kammer in ihrem Kern. Auf einem von Priestern in smaragdfarbenen Gewändern umringten Altar lag ein genaues Abbild des Amuletts, das an Karah Isaans Hals funkelte − abgesehen davon, dass das Juwel grün war und etwas kleiner zu sein schien. Dies war das gesuchte Artefakt, war Ragnar klar. Die Kälte in der Kammer nahm zu. Ragnars Atem bildete Nebelwolken vor seinem Mund. Feuchtigkeit schlug sich auf seiner Rüstung nieder, um dann zu gefrieren. Er war ein Space Marine, und seine Rüstung war so konzipiert, dass er weitaus extremere Temperaturen überleben konnte, aber dennoch spürte er den Unterschied. Das Gefühl der Anwesenheit von etwas Bösem wurde stärker, und das Bild änderte sich wieder, wirbelte umher und verdichtete sich, bis es
einen einzelnen, großen, grünhäutigen Kopf bildete. Boshafte gelbe Augen funkelten alle Anwesenden an. Große Hauer ragten aus den ledrigen Lippen des Wesens hervor. Eine dicke Narbe zog sich von der Stirn über das linke Auge bis zum Mund und endete auf der rechten Seite des Kinns. Sie sah aus, als sei die entsprechende Wunde mit grobem Zwirn provisorisch zusammengenäht und der Zwirn dann an Ort und Stelle gelassen worden. Das Ding öffnete den Mund und brüllte vor Wut. Das Echo dieses entfernten Brüllens schien in Ragnars Kopf nachzuhallen. Die gebrüllten Worte gehörten nicht Ragnars Sprache an, aber er verstand ihre Bedeutung dennoch. Kommt hierher, und ihr werdet alle sterben! Jeder Einzelne von euch! Die Vision verschwand. Ein Schmerzensschrei ertönte. Eine Windbö aus dem Nichts blies die Kohlefeuer aus, und die Lichter flackerten. Für einen Moment war der Raum in eine Schwärze so tief wie der Tod getaucht. Inquisitorin Isaan zitterte. Sie war jetzt in Sternbergs Umhang gehüllt, aber in der Kammer war es noch immer kalt. Ein Rest der Ausstrahlung des grässlichen Fremdwesens war immer noch zu spüren und ließ Ragnars Finger nach dem Kolben seiner Pistole tasten. »Das war ein Ork«, murmelte Sven. Ragnar nickte zögernd. Er erinnerte sich an die Beschreibungen dieser Wesen und an die Bilder, welche seinem Hirn von den Lehrmaschinen im Reißzahn eingetrichtert worden waren. Orks waren eine Rasse von Kriegern, grausam, brutal, niederträchtig und ohne jeden versöhnlichen Zug. Sie kämpften ohne Einhalt, um jede Welt zu erobern und zu versklaven, auf die sie je einen Fuß setzten. Sternberg sah Karah Isaan vielsagend und mit einem fanatischen Funkeln in den Augen an. »Ihre Suche nach dem Artefakt war erfolgreich?« Ein Schauder überlief die Frau und sie nickte. »Ja.« »Namen! Orte!«
Sternberg klang wie ein Besessener, fand Ragnar. »Galt«, sagte sie nur. »Dann war das der Tempel von Xikar?« »Ja.« »Also befindet sich der Talisman jetzt dort.« Die Frau sah sehr schwach und blass aus. Die Anwendung ihrer merkwürdigen Kräfte hatte sie offenbar vollkommen erschöpft. Sie sah aus, als brauche sie dringend Ruhe, aber ihr Kollege zeigte keinerlei Mitgefühl. Er berührte das Kommunikationsamulett an seiner Kehle. »Navigator! Berechnen Sie den Kurs zum Galt-System. Wir fliegen dieses Ziel mit Höchstgeschwindigkeit an.« Als Reaktion auf seinen Befehl ertönte ein paar Augenblicke später eine tiefe Sirene, und die Lichter flackerten in Intervallen auf. In der Ferne hörte Ragnar Füße die Korridore entlangeilen, da die Besatzung sich anschickte, das Schiff für den Warpsprung vorzubereiten. »Am besten kehren Sie in Ihre Quartiere zurück«, sagte Sternberg zu den Wölfen. »Ein Sprung ins Immaterium ist keine angenehme Erfahrung.« Ragnar lag auf dem alten Leder der Beschleunigungsliege in seinem Quartier. Ein Besatzungsmitglied hatte ihm gezeigt, wie er sich anschnallen musste. Zu seiner Überraschung hatte sich herausgestellt, dass die Sessel auch als Beschleunigungsliegen dienten. Ein Druck auf einen verborgenen Knopf, und sie entfalteten sich nach allen Seiten. Gurte kamen zum Vorschein, die dick genug aussahen, um einen Mastodonbullen zu halten. Das ganze Geschirr konnte ähnlich wie die Gurte in einem Thunderhawk durch Druck auf einen einzigen Knopf gelöst werden. Die Blutkralle fragte sich, warum die Gurte überhaupt nötig waren. Das riesige Sternenschiff hatte seit seiner Ankunft keinen anderen Eindruck auf ihn gemacht als den vollkommener Stabilität. Das Besatzungsmitglied hatte jedoch darauf bestanden. Der Mann hatte behauptet, jeder, der keine lebenswichtigen Ar-
beiten ausführe, für die er völlige Bewegungsfreiheit brauche, schnalle sich an. Die Anspannung des Mannes sowie die Unterströmungen von Furcht und Erwartung in seiner Witterung hatten Ragnar überzeugt. Der Mann behauptete, ein Veteran von tausend Warpsprüngen zu sein, fürchtete sich aber dennoch. »Es wird niemals leichter«, hatte er gesagt, bevor er den Raum verlassen hatte. Jetzt läuteten überall im Schiff Glocken, Warnsirenen jaulten. Die Lichter sprangen flackernd von normal auf Rot und wieder zurück. Es gab keinen Zweifel, was als Nächstes geschehen würde. Ein abschließendes langes Sirenengeheul ertönte. Über Interkom donnerte eine tiefe Stimme. »Dreißig Sekunden bis zum Sprung. Mögen wir von Ihm gesegnet sein.« Ragnars Magen krampfte sich unangenehm zusammen, und für einen Moment wünschte er sich, alle Mitglieder des Rudels hätten sich in einem Quartier versammelt. Er wusste, dass ihre bloße Anwesenheit bereits etwas Beruhigendes an sich gehabt hätte. Da könnte ich mir auch genauso gut wünschen, wieder auf Fenris zu sein, dachte er sarkastisch. So ist es eben nicht. Sein doppelter Herzschlag beschleunigte sich. Er fing an zu schwitzen. Mit einer Willensanstrengung und den Worten einer Beruhigungslitanei machte er Gebrauch von der Kontrolle über sein Nervensystem, die er als Space Marine hatte: Er verlangsamte seinen Herzschlag auf normale Frequenz und stellte das Schwitzen ab. Sofort spürte er, wie die Panik nachließ und bloßem Unbehagen wich. »Zwanzig Sekunden bis zum Sprung. Gib auf uns Acht und zeige uns den Weg.« Dennoch empfand er auch so etwas wie Vorfreude. Er hatte noch nie zuvor einen Warpsprung gemacht, obwohl er durch seine Ausbildung wusste, dass es eine sehr merkwürdige Erfahrung sein würde. Das Schiff würde dieses Raum-Zeit-Kontinuum verlassen und in ein anderes eindringen, wo Materie nicht existierte und Zeit merkwürdig floss. In mancherlei Hinsicht war es so, als gehe ein Unterseeboot auf
Tauchstation. Es wurde für alle Ortungsgeräte unsichtbar, die im normalen Universum funktionierten, bis es wieder darin auftauchte. Natürlich konnte es auch für immer untergetaucht bleiben. Alles hing vom Geschick des Navigators ab, der seinen Kurs mit Hilfe des mächtigen Leuchtfeuers des Astronomikaners auf dem weit entfernten Terra festlegte und versuchen würde, für das Sternenschiff einen Weg durch die trügerischen Strömungen des Warpraums zu finden. Der Warpraum war ein turbulentes Medium, instabil und mit Gezeiten wie ein gewaltiger Ozean. Angeblich spukten darin Dämonen und Geister sowie die Hüllen Tausender Schiffe zum Teil auch menschlicher Herkunft herum, die seit undenklichen Zeiten darin verschollen waren. Es war ein unbeständiges, wechselhaftes, kaum verstandenes Gefilde, das sogar jene, welche es durchstreiften, mit abergläubischer Furcht erfüllte. Alle möglichen Geschichten kursierten über den Warpraum. Über Raumfahrer, die in der Überzeugung in ihn eingedrungen waren, dass nur wenige Tage vergangen seien, um dann später beim Wiederauftauchen zu erfahren, dass in Wirklichkeit Jahrhunderte verstrichen und alle Verwandten und Freunde lange tot waren. Das war sogar schon Wolfskriegern zugestoßen. Schiffe waren seit Hunderten von Jahren verschollen gewesen, und plötzlich waren ihre Besatzungen im Reißzahn aufgetaucht, unangekündigt und unerwartet, und hatten sich ihren Kameraden wieder angeschlossen. Reisenden waren noch seltsamere Dinge widerfahren. Manchmal flog ein Schiff los und kehrte scheinbar Tage später wieder zurück. Aber wenn die Raumfahrer ausstiegen, zeigte sich, dass sie alt und grau geworden und manche an Altersschwäche gestorben waren. Die Besatzungen waren ganze Dekaden im Warpraum umhergeirrt, und wiesen auch alle entsprechenden Anzeichen auf. Manchmal wurden komplette Schiffsbesatzungen im Augenblick des Übertritts ins Immaterium wahnsinnig. Niemand wusste, warum. Und manchmal, was am ominösesten war, verschwanden ganze Flotten, von denen man nie wieder etwas hörte oder sah. Alles hing vom Glück, der Gunst des Imperators und dem Können des Navigtors ab.
»Zehn Sekunden bis zum Sprung. Möge Er uns sicher zurückführen.« Ragnar fragte sich, ob diesmal wohl etwas schief gehen würde. Er hoffte nicht, aber die Möglichkeit bestand immer. Er konnte sich nur bemühen, die Ruhe zu bewahren sowie im Gebet den Imperator und Leman Russ um Beistand zu bitten, so schwach dieser Trost auch sein mochte. Das Schlimmste, dachte er, war die Hilflosigkeit. Er war ein Wolfskrieger, für den Kampf ausgebildet und darauf vorbereitet, bei der Erfüllung seiner Pflicht tausend Gefahren zu trotzen. Doch im Augenblick hatte er keinen Einfluss auf die Vorgänge und konnte nichts am Resultat ändern. Er konnte nicht einfach seine Boltpistole ziehen und einen sichtbaren Feind erschießen. Er konnte nicht in Deckung gehen und sich der Gefahr entziehen. Er konnte nur warten und versuchen, das Wissen zu ertragen, dass sein Schicksal in der Hand anderer Menschen lag. Er versuchte sich einzureden, dass die Navigatoren in ihrem Fachgebiet einer ebenso harten Ausbildung unterzogen worden waren wie er in seinem, aber das beschwichtigte ihn nicht. Letzten Endes war er ein Space Marine, ein Mann der Tat, und diese Art des Wartens fiel ihm schwer. Dennoch erinnerte er sich an eine der vielen Predigten, die Ranek der Wolfpriester im Zuge ihrer Ausbildung zu Wolfskriegern gehalten hatte: Wenn es nichts zu tun gibt außer zu warten, kann man eben nichts anderes tun, als zu warten. Ihm war klar, dass er seine Sorgen einfach Sorgen sein lassen musste. Sie waren kontraproduktiv und konnten den Ausgang des Unternehmens weder so noch so beeinflussen. Darum bemühte er sich jetzt. »Fünf Sekunden bis zum Sprung.« Was auch geschehen würde, es musste bald geschehen, dachte Ragnar. In der Ferne konnte er das Heulen des Antriebs hören, als seine Energieentwicklung sich dem Höhepunkt näherte. »Vier.« War das ein schwacher Lichtschein, der sich um alle Möbelstücke bildete? Das Heulen wurde jetzt abwechselnd schriller und voller, bis es einem Tosen wie Donner und einem Heulen wie bei ei-
nem Thunderhawk im Sturzflug glich. »Drei.« Ja. Der Lichtschein war da und wurde heller. Ferner Donner ließ die Metallwände klirren. Das Schiff vibrierte. Es bebte wie in Erwartung oder gar Vorfreude. Es erinnerte den Wolfskrieger an einen Jagdhund, kurz bevor er von der Leine gelassen wurde. »Zwei.« Das ganze Schiff bebte jetzt heftiger. Würde es im Warpraum auseinander brechen? »Eins.« Das riesige Sternenschiff schien vorwärts zu springen, als sei es in der Tat ein Jagdhund, der gerade von der Leine gelassen worden war. Ein lauter Donnerschlag ertönte, und das ganze Schiff hallte, als sei es von einem gigantischen Hammer getroffen worden. Ragnar fragte sich, wie es überhaupt der Belastung standhalten konnte, und musste dann an die riesigen Schotte und Zusatzverstrebungen denken, die er bei seinen Erkundungsgängen gesehen hatte. Hatten sie nicht nur den Zweck, das Schiff in der Schlacht zu schützen, sondern auch den, die Belastung der Warpsprünge verkraften zu helfen? Das ganze Schiff schien sich zu schütteln. Ragnar konnte das Metall ächzen und kreischen hören wie Schiffsmasten im Sturm. Es fühlte sich an, als würden gewaltige Kräfte auf das Schiff einwirken, das jetzt winzig war im Vergleich zu dem Taifun, der es gepackt zu haben schien. Mit seinen verstärkten Sinnen registrierte Ragnar die Spannung in den Vibrationen auf der Liege unter sich. Stand die Licht der Wahrheit kurz davor, zu zerbrechen wie ein Drachenschiff, das auf ein Riff lief? Der Wolfskrieger spürte eine Woge nervöser Furcht in der Magengrube und rang um seine Beherrschung. Was war das für ein Kreischen? Es klang wie das Geheul verlorener Seelen. Und das ominöse Kratzen? Waren es die Krallen von Dämonen, die sich den Schiffsrumpf entlangzogen? Ihm fielen die Geschichten wieder ein, die er gehört hatte. Er hatte das halb entsetzte, halb faszinierte Bedürfnis, durch das Bullauge zu schauen, aber es war im Vorfeld des Sprungs mit einer massiven Metalljalousie versiegelt worden. Es hieß, ein Blick in den Warpraum führe in den Wahnsinn. Dennoch verspürte er
den Reiz einer morbiden Neugier. Konnten es wirklich die Seelen verschollener Raumfahrer sein, die er hörte? Oder der Lockruf von Dämonen an die Neugierigen und Arglosen? Durchdrangen diese Dinge tatsächlich die Schirme und Schilde, die das Schiff schützten, oder waren sie nur Produkte seiner morbiden Phantasie? Ein Teil von ihm war neugierig, und ein Teil von ihm hoffte, dass er es nie herausfinden würde. Das Schiff schien sich jetzt beruhigt zu haben. Es zitterte und bebte noch gelegentlich, aber es war weniger unruhig als auf einem Schiff auf See, und daran war Ragnar gewöhnt. Nach einem Augenblick des Zögerns drückte er auf den Knopf, der seine Haltegurte löste, und erhob sich. Seine scharfen Ohren schnappten ein scharfes metallisches Klirren auf, da die anderen Wolfskrieger dasselbe taten. Ragnar verließ sein Quartier und ging in die Messe. Sven betrat den Raum beinahe gleichzeitig. Er sah Ragnar an und grinste. »Tja, verflucht, jetzt sind wir wahrhaftig unterwegs«, sagte er und lachte laut. »Aye! Das sind wir.« Ein seltsam gelassenes Gefühl hatte Ragnar erfasst. Sie hatten den Sprung gemacht. Sie waren im Warpraum und rasten ihrem Bestimmungsort entgegen. Jetzt brauchten sie den Warpraum nur noch wieder zu verlassen. Galt. Ragnar rief Einzelheiten über das System aus den Memobanken des Schiffs auf. Die Informationen huschten in einer Mischung aus Bildern und imperialen Runen über den alten Televisor. Keine riesige Menge von Details, aber das war auch nicht anders zu erwarten. Sie griffen lediglich auf den Index des Compendio Mundae zurück, das nur die grundlegendsten Daten enthielt. Mehr konnte auf Anfrage bereitgestellt werden, vorausgesetzt, die Information stand nicht unter einem Bann oder Interdikt.
Ragnar überflog den Bildschirm. Sonne: gelb und vom terrestrischen Typus. Sechs Planeten. Einer bewohnt, bekannt als Galt Drei. Zwei Monde. Eine warme Welt. Näher an der Sonne als Fenris und auf einer regelmäßigen, kreisförmigen Umlaufbahn, nicht auf einer eliptischen wie seine Heimatwelt. Drei große Kontinente. Drei Viertel Ozean. Einige große Inselketten. Der größte Teil der menschlichen Bevölkerung bewohnte den größten Kontinent, der fast vollständig von tropischem Regenwald bedeckt war. Mehrere große Städte. Viel Forst- und Landwirtschaft. Der wichtigste Exportartikel für das Imperium waren die Knospen des Roten Lotus, der die Basis für viele alchimistische Erzeugnisse des Imperiums bildete. Außerdem viele präimperiale Ruinen − Tempel, Städte, Straßen. Diese ließen auf die Anwesenheit einer primitiven menschlichen Kultur schließen, die den Kollaps am Ende des Finsteren Zeitalters der Technologie überlebt hatte. Natürlich waren alle Kulte ausgemerzt worden, als man die Bewohner von Galt wieder in die Gemeinschaft des Imperiums aufgenommen hatte. Aus vielen dieser ehemals heiligen Orte waren Klöster und Abteien geworden, die von der Ekklesiarchie benutzt wurden. Der Tempel von Xikar war so ein Ort, ein riesiger Komplex im Dschungel, in dem die mönchische Sekte der Brüder der Immerwährenden Glückseligkeit ihr Heim gefunden hatte. Die Sekte war mehrfach auf ketzerische Tendenzen untersucht worden, aber die mit dieser Aufgabe betrauten Inquisitoren waren der Ansicht, ihre Abweichung vom breiten Weg der Imperialen Schrift habe ein akzeptables und erträgliches Ausmaß. Die Ausdrucksweise der Inquisition ließ Ragnars Kopf schwirren, aber ihre eigentliche Bedeutung war wohl die, dass die Inquisition beschlossen hatte, die Bruderschaft nicht mit Feuer und Schwert auszumerzen. Und jetzt stellte sich heraus, dass einer dieser Tempel ein Bruchstück des Talismans von Lykos enthielt. Ragnar fragte sich, wie es dorthin gelangt war.
»Ich bin froh, dass Sie alle hier sind. Bedauerlicherweise ist ein Problem aufgetaucht«, sagte Inquisitor Sternberg. Er sah sich in der ausgedehnten Kommandozentrale um. Sein durchdringender Blick schien nacheinander auf jeden einzelnen Wolfskrieger zu fallen, ihn zu begutachten und dann weiterzuwandern. Als sich die stählernen Augen von ihm abgewendet hatten, riskierte Ragnar seinerseits einen raschen Rundumblick. Alle Wolfskrieger waren anwesend, dazu die führenden Offiziere der Licht der Wahrheit, die beiden Inquisitoren und die Befehlshaber ihrer Leibwache. »Und das wäre?«, fragte Sergeant Hakon mit einer gewissen Schärfe. Der Rest des Rudels spitzte die Ohren. Sie spürten alle etwas Besonderes in der Witterung des Inquisitors. Ragnar glaubte, dass es sich um eine Mischung aus Verärgerung und Frustration handelte. Sternberg drehte sich um und gab seinem militärischen Oberbefehlshaber ein Handzeichen. Sein Umhang begleitete die Geste mit fließendem Wallen. »Gul?«, sagte er. Commander Gul trat in die Mitte des Raums. Über ihm leuchteten die Sterne durch das Kristalldach der Zentrale. Ragnar war erleichtert, sie zu sehen, obwohl ihn die merkwürdigen neuen Konstellationen ein wenig aus der Fassung brachten. Er war froh, dass das Schiff unbeschadet aus dem Warpraum wieder aufgetaucht war. »Wir sind vor sechs Stunden wieder in den Normalraum eingetaucht. Seitdem haben unsere Astropathen verschiedene Botschaften von der Oberfläche Galt Dreis empfangen.« »Botschaften?«, fragte Hakon. »Hilfeersuchen. Militärische Funksprüche. Ein allgemeines Alarmsignal, das um Hilfe gegen die Invasion bittet.« Invasion?, dachte Ragnar. Wer konnte so dumm sein, ein Imperiumssystem anzugreifen? Dann lächelte er über seine Naivität. Es gab viel zu viele, die so etwas tun würden. Nichtmenschliche Rassen, sogar abtrünnige Gouverneure des Imperiums. Derartiges hatte sich auch früher schon ereignet.
»Ich habe unseren Astropathen Anweisung gegeben, Verbindung mit ihren Kollegen auf Galt Drei aufzunehmen, und daraus haben wir folgende Erkenntnisse gewonnen. Vor etwa sechs Monaten imperialer Standardzeit ist ein Koloss aus dem Warpraum aufgetaucht. Er hat sich Galt Drei bis auf drei Standardeinheiten genähert und dabei Tausende kleinerer Schiffe ausgespien.« »Dann muss es ein ziemlich großer Koloss gewesen sein«, warf Sven mit einem Grinsen ein. »Offensichtlich«, sagte Gul, als sei Sven ein Idiot. Und genau so, entschied Ragnar, klang er in diesem Augenblick auch. Kolosse konnten praktisch jede Größe haben. Es handelte sich um gewaltige Zusammenballungen toter Schiffe, die sich aus irgendwelchen Gründen zu gewaltigen, raumtüchtigen Gebilden zusammentaten und oft größer waren als viele Städte. Sie tauchten scheinbar ohne Grund in den Warpraum ein und daraus wieder auf. Die meisten waren unbewohnt, aber manche beherbergten verschiedene Lebensformen. Diese konnten harmlos sein wie Schatzsucher, die in den Schiffswracks nach alten Geheimnissen forschten, oder so bedrohlich wie Horden der gefürchteten Gendiebe. Sie konnten jederzeit in jedem System auftauchen, da sie ziellos mit den Strömungen im Warpraum trieben. »Diese Schiffe waren die Vorhut einer orkischen Invasion.« »Orks!«, murmelten verschiedene Leute gleichzeitig. Ragnar dachte an das Gesicht, das sie bei Karahs Ritual gesehen hatten. Es hatte ganz eindeutig einem Ork gehört. Die Wolfskrieger schauten erfreut drein. Hier waren Feinde, welche diese Bezeichnung auch verdienten. Die Orks mochten brutal und barbarisch sein, aber sie waren mächtige Krieger und furchtlos. Gul wandte sich an den Leitenden Astropath Mozak. »Ja, unzweifelhaft Orks.« Mozak war ein alter Mann mit einer zittrigen Stimme und milchigweißen, blind aussehenden Augen. Er war gebrechlich und stützte sich auf einen Stab, der fast so groß war wie er selbst. Ragnar war ihm hin und wieder in den Korridoren des Schiffs begegnet. Er hatte Ragnar immer zugenickt und war sich sei-
ner Anwesenheit ebenso bewusst wie ein Sehender. Seine psychischen Fähigkeiten waren in gewisser Hinsicht ein Ersatz für sein Augenlicht. »Auf Galt Drei hat es schon immer ein paar Orks gegeben, die sich in den Tiefen des Dschungels versteckt hielten. Sie waren nie eine nennenswerte Gefahr für die imperiale Bevölkerung. Gelegentliche Überfälle, Plünderungen und Brandschatzungen, mehr nicht.« »Könnte ihre Anwesenheit die Orks aus dem Koloss angezogen haben?«, fragte Hakon. »Vielleicht − aber vielleicht gibt es auch keinen Zusammenhang. Das werden wir nie erfahren. Wir wissen aber, dass die Orks mitunter gewaltige Mengen ihrer Truppen massieren und auf Raubzug gehen. In mancherlei Hinsicht kann man sie mit den Imperialen Kreuzzügen vergleichen. Die Ork-Horden sammeln unterwegs Truppen, bis entweder der Anführer stirbt, seine grausamen Ambitionen erfüllt sind oder sie von anderen Kräften wie militärischen Interventionen oder Naturkatastrophen aufgehalten werden. Während eines derartigen Kreuzzugs ist die Moral der Orks sehr hoch, und nichts vermag ihrem Schwung sowie der schieren Masse standzuhalten.« »Was hat das mit unserer Mission zu tun?«, fragte Hakon. »Galt Drei scheint gerade so einen orkischen Raubzug zu erleben«, warf Sternberg ein. »Die Orks sind gelandet und haben begonnen, die örtliche orkische Bevölkerung zu bewaffnen, die, wie sich herausgestellt hat, viel zahlreicher ist, als alle gedacht haben. Diese Orks ziehen jetzt über den Planeten und zerschlagen dabei jeglichen Widerstand. Kurz gesagt, Galt Drei ist derzeit Kriegsgebiet.« »Schlimmer als das«, fügte der Leitende Astropath hinzu. »Wie es scheint, ist Xikar eines der Hauptzentren der orkischen militärischen Bemühungen.« »Wo sich der Tempel befindet«, fügte Gul unnötigerweise hinzu. »Das wird es uns ein wenig erschweren, den Talisman an uns zu bringen, nicht wahr?«, bemerkte Hakon. »Das könnte man sagen«, erwiderte Sternberg mit einem seltsamen Kräuseln der Lippen, das, wie Ragnar erkannte, ein Lächeln sein
sollte. »Ist es möglich, über dem Tempel abzuspringen und den Talisman rasch zu bergen?«, wagte Ragnar zu fragen. Alle Augen richteten sich auf ihn, aber zu seiner Erleichterung sah er, dass niemand zu glauben schien, seine Bemerkung sei unpassend oder stehe ihm nicht zu. »In einem Blitzangriff?« »Alles ist möglich«, sagte Gul. »Die Frage ist, ob so ein Unternehmen gelingen kann.« »Das werden wir nur erfahren, wenn wir es versuchen«, fügte Sternberg hinzu. »Den imperialen Behörden auf Galt zufolge gibt es dort unten Zehntausende von Orks, vielleicht sogar Hunderttausende. Unsere Informationen sind vage. Verglichen mit diesen Zahlen sind unsere Truppen nur ein Tropfen im Ozean.« »Niemand schlägt vor, dass wir versuchen sollten, die gesamte Ork-Armee zu zerschlagen«, sagte Gul. »Wir müssen lediglich den Talisman an uns bringen.« Guls Abgebrühtheit schockierte Ragnar ein wenig. Schließlich war Galt eine Imperiumswelt, und sie waren Imperiumskrieger. Sollten sie nicht dabei helfen, die Menschenwelten gegen solche Bedrohungen zu verteidigen? Er sprach seine Überlegung laut aus. Inquisitor Sternberg betrachtete ihn einen Moment kalt, bevor er antwortete: »Unsere gegenwärtige Mission hat Vorrang vor jeder militärischen Intervention, die in unserer Macht steht. Wir sind ohnehin viel zu wenige, um etwas an der Situation zu ändern. Galt Drei ist eine dünn bevölkerte Welt und insgesamt betrachtet unwichtig. Aerius ist ein bedeutender Eckpfeiler der Imperialen Macht. Sein Verlust wäre eine Katastrophe.« »Haben die Bewohner Galts nicht ebenso Anspruch auf den Schutz des Imperiums wie die Bewohner von Aerius?«, warf Ragnar ein. »Ihre Hingabe an die Menschheit ehrt Sie, jung Ragnar«, beschwichtigte Sternberg. »Aber Sie müssen es schon Ihren Vorgesetz-
ten überlassen, das Gesamtbild zu betrachten und zu beurteilen. Ich leite diese Mission, und ich muss hier die Entscheidungen treffen.« Ragnar sah Sergeant Hakon an, da er Unterstützung von ihm erwartete, spürte jedoch zu seiner Überraschung, dass der ältere Wolfskrieger in dieser Frage hinter dem Inquisitor stand. Sternberg sah dies ebenfalls. »Gut. Wie ich es sehe, würde ein Unternehmen in größerem Maßstab lediglich auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen. Was wir brauchen, ist eine kleine Eliteeinheit, die auf die Oberfläche teleportiert, in den Xikar-Tempel eindringt und, so der Imperator es will, den Talisman an sich bringt.« Ragnar brauchte nicht lange, um zu erkennen, wer auf dem Schiff am besten für dieses Unternehmen geeignet war. Ragnar sah sich im prunkvollen Allerheiligsten der Teleporterkammer um. Sie war auch für einen Space Marine ein einschüchternder Ort. Jeder, der sich dem Ritual unterziehen würde, stand in einem silbernen Kreis im Boden. Jeder Kreis war durch Metalllinien mit den anderen verbunden. Alle waren mit uralten Runen beschriftet. Ein riesiger Doppelkreis umschloss den gesamten Bereich, und er nahm an, dass die Symbole darin Schutzzeichen waren, um die Energien, die bald entfesselt würden, einzudämmen und die zu Transportierenden vor den Dämonen des Warpraums zu schützen. Tech-Priester eilten zwischen Pulten auf einem großen Balkon an einer Wand auf halber Höhe hin und her. Monströse Maschinen, vom Schein des Hexenfeuers umgeben, das von der Anwesenheit des Universellen Feuers kündete, ragten rings um sie empor. Ragnar hörte, wie der oberste Tech-Priester mit seinem Kirchengesang begann. Er und seine Akoluthen bewegten die Hände in rituellen Gesten über ihre Altäre und legten die großen Kippschalter in der geheiligten Ordnung um, die ihre geweihten, altbewährten Rituale vorschrieben. Ein Geruch nach Ozon entstand und vermischte sich mit demjenigen nach Maschinenöl und technischem Räucherwerk.
Hexenfeuer flackerte die Linien entlang, welche die Kreise miteinander verbanden, und erleuchtete die Kreise und die Runen. Die Lichter in der Kammer trübten sich, bis nur noch das Leuchten des Teleporters und der Energieerzeuger für Licht sorgten. Die Luft flimmerte im Raum zwischen den Linien des großen Eindämmungskreises. Ragnars Mund fühlte sich trocken an, und seine Nackenhaare kribbelten. Teleporter waren nicht hundertprozentig zuverlässig, und ihre Benutzer verschwanden manchmal einfach und tauchten nie wieder auf. Niemand wusste, was ihnen widerfuhr. Er betete zum Imperator, dass er und seine Gefährten wohlbehalten am Ziel eintreffen würden, konnte sich aber nicht richtig darauf konzentrieren. Das Schiff schaukelte. Der Boden vibrierte unter seinen Füßen. Das bevorstehende Manöver war nicht ungefährlich. Die Licht der Wahrheit so nahe zum Planeten zu bringen, dass sie auf seine Oberfläche teleportiert werden konnten, bedeutete auch, dass die feindliche Flotte sie unter Beschuss nehmen konnte. Ragnar wusste nicht, wie lange sich das Schiff der Inquisition, so mächtig es auch war, gegen eine ganze Flotte der Orks halten konnte − hoffentlich lange genug. Er war erregt ob der Aussicht unmittelbar bevorstehender Kampfhandlungen − aber auch von Groll über die arrogante Art erfüllt, wie seine Bitte abgelehnt worden war, der Bevölkerung von Galt zu helfen. Ragnar spürte, dass die anderen Blutkrallen nur die Erregung empfanden, und das nahm er ihnen nicht übel. Schließlich war dies ihr erster Teleporter-Einsatz und ihr erster Schritt auf die Oberfläche einer anderen Welt. Es war ihr erster interplanetarer Einsatz, und sie würden es mit ihren ersten nichtmenschlichen Gegnern zu tun bekommen. In gewissem Sinn war es alles, wofür sie je ausgebildet worden waren. Es war, worum sich ihr ganzes Leben drehte. Er konnte die anderen als schattenhafte Umrisse sehen. Da war Hakon. Da waren die kantigen Gestalten von Sven und Strybjörn und von Nils und Lars. Inquisitor Sternberg war anwesend. Karah Isaan ebenfalls, den Talisman um den Hals, wie es seit dem Ritual der Fall
war. Wenn die Wolfskrieger in die Schlacht zogen, dann auch der Talisman. Ragnar bedachte sie mit einem schüchternen Lächeln, das zu seiner Überraschung erwidert wurde. Er nahm ein wenig geschmeichelt zur Kenntnis, dass keine Inquisitionstruppen mitkamen. Nur die beiden Inquisitoren selbst wurden als ausreichend ausgebildet und kompetent erachtet, um mit den Wolfskriegern mithalten zu können, und die Space Marines schienen als Leibgarde zu genügen. Ragnar hatte das Gefühl, dass dies vermutlich stimmte. Wenn er und seine Kameraden Sternberg und Isaan nicht am Leben erhalten konnten, würde seiner Ansicht nach daran auch die Anwesenheit von zwanzig normalsterblichen Kriegern nichts ändern. Er prüfte ein letztes Mal Waffen und Rüstung, wobei er die Worte der Litanei gegen Korrosion murmelte und Russ’ Segen für jede einzelne Boltpatrone erbat. Solche Dinge waren wichtig. Ein helles Licht flammte auf. Er hatte den Eindruck einer Verlagerung, dann war er von dem Gefühl erfüllt, sein Innerstes werde nach außen gekrempelt und er werde heftig umhergewirbelt, in die Länge gezogen und zerquetscht und das alles zugleich. Seine Haut kribbelte, als werde er von Millionen winzigster Nadeln gestochen. Sein Verstand schien in Flammen zu stehen. Er nahm einen gleißenden Blitz wahr und dann eine Dunkelheit tiefer als alles, was er je erlebt hatte. Jetzt war es viel zu spät, noch etwas anderes zu tun, als zu beten.
SECHS
Der Druck wurde immer stärker. Der Wolfsgeist reagierte auf die seinem Körper auferlegten unbekannten Belastungen und rührte sich in ihm. Er bleckte die Zähne und rang den Drang nieder, ein lang gezogenes Heulen auszustoßen. Sie wollten leise ankommen. Plötzlich war der Druck weg. Es gab einen harten Ruck, und er fiel vorwärts und beinahe auf die Knie. Der Wind wehte heiß und feucht über sein Gesicht und brachte eine Unzahl unbekannter Gerüche mit sich. Ragnar roch modrige Pflanzen, narkotisierende Blumen und seltsame Tiere. Es war eine schwere Mischung, die zu Kopf stieg, und er spürte, wie ein merkwürdiges Hochgefühl durch seine Adern strömte. Sie waren wohlbehalten gelandet und standen auf der Oberfläche einer neuen Welt. Ragnar öffnete die Augen und sah sich um. Sie befanden sich auf einer Lichtung ganz in der Nähe des Tempels. Alles war grün und üppig, eine Orgie von Grün- und Gelbtönen. Hohe, ausladende Bäume umgaben sie. Eine Kakophonie aus Vogelgekreisch und Insektengezirpe hallte in seinen Ohren. Ein rascher Blick verriet ihm, dass alle anderen kampfbereit waren. Besonders erfreut war er darüber, Inquisitor Sternberg zu sehen, denn er trug die Peilboje bei sich, einen kleinen Würfel aus Messing und Drahtspulen, die es der Licht der Wahrheit ermöglichen würden, sie auszumachen und zurück an Bord zu teleportieren. In diesem Augenblick stellte das ihre einzige Möglichkeit dar, diese Welt wieder zu verlassen. Hakon beschrieb eine kurze Hackbewegung an der Kehle, um ihnen zu bedeuten, sich still zu verhalten, und gab dann das Handzeichen für Verteilen. Die Blutkrallen bewegten sich über die Erde dieser neuen Welt. Ragnar hielt sich hinter Sven. Er hatte ein seltsames Gefühl der Leichtigkeit und erkannte, dass die Schwerkraft auf Galt
Drei niedriger war als auf Fenris − nicht viel, aber doch genug, um desorientierend zu sein, bis sein Körper die Anpassung vorgenommen hatte. Mit ebenso langen Schritten wie Sven trabte er vom Landepunkt zum Unterholz, um eine Verteidigungslinie am Rand des Dschungels aufzubauen. Seine Kameraden gingen in Stellung, wie man es sie gelehrt hatte. Augenblicke später folgten Sergeant Hakon, Sternberg und Isaan. Ragnar machte sich nicht die Mühe, sich nach ihnen umzudrehen. Er konnte den Geräuschen und Gerüchen entnehmen, dass es so war. Seine gegenwärtige Aufgabe bestand darin, den Dschungel im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass sie nicht überrascht wurden. Ragnar war froh, dass er sich nicht auf sein Sehvermögen verlassen musste. Bereits wenige Schritte vom Rand der Lichtung entfernt wurde der Dschungel extrem dicht. Riesige Bäume ragten hoch in den Himmel, und ausladende Pflanzen, Blumen und Büsche erstickten förmlich den Raum zwischen ihnen. Kletterpflanzen und Ranken hingen von Ästen und Zweigen herab. Stäubchen tanzten in den Lichtstrahlen, die das dichte Blätterdach durchdrangen. Ein blutsaugendes Insekt landete auf Ragnars Gesicht. Seine empfindliche Haut registrierte den Stich. Er widerstand dem Drang, danach zu schlagen. Sein Körper konnte die allergische Reaktion kompensieren. Er wusste, dass seine Drüsen bereits damit begannen, Chemikalien in seinen Schweiß abzusondern, die andere Insekten dieser Art in Zukunft abschrecken würden. Er konzentrierte sich, wie man es ihn gelehrt hatte, lauschte auf die Geräusche feindlicher Truppen und schnupperte nach der Witterung unbekannter Humanoiden. Er konnte keine Gefahr ausmachen. Er hörte lediglich die Geräusche kleinerer Tiere, die sich durch das Unterholz bewegten, und das Summen von Insektenflügeln. Anscheinend war ihre Ankunft unbemerkt geblieben. So weit, so gut, dachte der Wolfskrieger. Sergeant Hakon tauchte neben ihm auf. Er hielt inne, um die matte grüne Anzeige des Massedetektors an seinem Handgelenk zu studie-
ren, dann bedeutete er Ragnar und seinem Team, die Richtung zum Tempel einzuschlagen. Unaufgefordert übernahm Sven die Führung. Ragnar und die anderen folgten ihm dichtauf in enger Formation. Vorsichtig, aber zielstrebig marschierten die Wölfe durch den Dschungel. Ragnar teilte vorsichtig das Blattwerk vor sich, die Boltpistole schussbereit in der Hand, um jeder Bedrohung begegnen zu können. Plötzlich fühlte er sich lebendiger als je zuvor seit dem Tag, als er und die anderen Blutkrallen die grässliche Chaos-Höhle unter den Bergen betreten hatten. So fühlte es sich an, wahrhaftig zu leben, dachte er. Er warf einen Blick auf den Detektor an seinem Handgelenk, der jetzt mit Sergeant Hakons eigenem Gerät gekoppelt war. Die Lichtung befand sich etwa zweitausend Schritte westlich des Tempels. Nicht weit in offenem Gelände, aber schwer zu kalkulieren, wie lange es in diesem Dschungel wohl dauern mochte. Er und die anderen Blutkrallen hatten viele Trainingsstunden in den Dschungelkavernen unter dem Reißzahn verbracht. Solche simulierten Umgebungen konnten einen zwar nicht hundertprozentig auf die Wirklichkeit vorbereiten, aber sie halfen doch ein wenig. Einer der gravierendsten Unterschiede war der Lärm. Im Reißzahn hatten sie eine aufgezeichnete Geräuschkulisse gehabt, die aber verglichen mit der Kakophonie, von der sie jetzt umgeben waren, monoton und unnatürlich geklungen hatte. Über ihnen sangen und krakeelten bunte Vögel. Große Insekten in schrillen Farben summten. Palmwedel raschelten. Von links kam das Geräusch von etwas Großem, das von oben herabfiel. Er schaute hoch und erblickte eine große Nuss, die vom Ast eines Baumes fiel. Gleich nachdem sie auf den Boden schlug, waren Kampfgeräusche zu hören: kleine Tiere, die darüber stritten. Muss essbar sein, wenigstens für sie, fuhr es Ragnar durch den Sinn. Wahrscheinlich auch für ihn. Er war ein Space Marine. Sein Magen war verändert worden, um ihm zu ermöglichen, fast alles zu verdauen, was für irgendeine Kreatur in dieser Galaxis essbar war.
Er atmete tief und verließ sich ganz auf Nase und Ohren. Die einzigen Menschen, die er roch, waren die Inquisitoren und seine Schlachtbrüder. Im Reißzahn hatten die Lehrmaschinen die moschusartige Witterung von Orks in seinem Gehirn verankert. In diesem Augenblick konnte er nichts dergleichen riechen. Ringsumher waren Tiere, sogar warmblütige. Er nahm Fell und Ausscheidungen wahr. Irgendwo weiter rechts war fließendes Wasser zu hören. Etwas gurgelte an seinen Füßen. Der Boden wurde ein wenig weich. Sie standen am Rand eines Sumpfs, der zweifellos von dem Fluss gespeist wurde, den er gehört hatte. Er schaute voraus. Sven stand bereits bis zu den Oberschenkeln im Morast. Er schloss sich gurgelnd um seine Beine, als er weiter vorrückte. Der Matsch schien ihn nicht sonderlich aufzuhalten, aber Ragnar war nicht sicher, ob es nicht vielleicht ein Fehler war, unter diesen Umständen einfach weiterzugehen. Falls sie angegriffen wurden, würde der Matsch sie langsamer machen und rasche Bewegungen erschweren. Andererseits war es auch sehr wahrscheinlich, dass niemand damit rechnen würde, dass sie geradewegs durch einen Sumpf kamen. Zweifellos hatte Sven darüber nachgedacht, bevor er sich zum Weitergehen entschlossen hatte. Ragnar beschloss, ihm in diesem Augenblick nicht den Befehl zu geben, anzuhalten und den Sumpf zu umgehen. Es war seine erste richtige Kompetenzentscheidung seit Langem, und er war nicht sicher, ob es die richtige war. Aber es hatte auch keinen Sinn, an seinen Entscheidungen zu zweifeln, nachdem man sie einmal getroffen hatte. Er konnte nur auf der Hut bleiben und versuchen, jede Veränderung mitzubekommen, die ihn zu einer Änderung seiner Entscheidung veranlassen mochte. Je weiter sie vorrückten, desto tiefer wurde der Sumpf. Der Boden rings um Sven nahm die Beschaffenheit von Suppe an. Ragnar spürte kleine Spritzer auf seinem Gesicht, die seine eigenen Bewegungen verursacht hatten. Er schaute kurz nach unten und sah, dass Schlamm an seiner Rüstung klebte. Er grinste schief − noch ein Säuberungs-
kommando später. Vorausgesetzt, er war dann noch am Leben. Plötzlich war er angespannt. Er wusste nicht, warum. Einen Herzschlag später teilte sich sein Unbehagen dem Rest des Rudels mit. Sven blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und schnüffelte. Alle anderen Wolfskrieger waren ebenfalls stehen geblieben. Ragnar atmete tief. Ja! Ein ganz leichter Makel lag in der Luft, ein Moschusgeruch so ähnlich, aber nicht genau wie der Gestank jenes Orks, dem man sie in der Ausbildung ausgesetzt hatte, aber das war nicht ungewöhnlich. Die Orks rochen ebenso wenig alle gleich wie die Menschen. Aber er war ähnlich genug. Einen Moment später sah er Sven unwillkürlich nicken. Obwohl seine Nase nicht ganz so empfindlich war wie Ragnars, hatte er die Witterung ebenfalls aufgenommen. Ragnar versuchte die Entfernung zu schätzen. Es ging eine leichte Brise, und der Wind wehte ihnen direkt ins Gesicht. Das erschwerte eine genauere Schätzung. Mit Sicherheit konnte er nur sagen, dass Orks in der Nähe waren oder erst kürzlich gewesen waren. Ihnen blieb einstweilen nichts anderes übrig, als ihren Weg fortzusetzen, wenn auch erheblich vorsichtiger als zuvor. Sven hatte die andere Seite des sumpfigen Geländes erreicht. Der Schlamm reichte ihm nur noch bis zu den Knien, hatte aber bräunliche Überreste auf den Oberschenkelschützern seiner Rüstung zurückgelassen. Ein Insekt stach Ragnar ins Gesicht. Wiederum widerstand er dem Drang, danach zu schlagen. Sven erreichte festen Boden. Auf sicherem Untergrund angelangt, kauerte er sich erst nieder und warf sich dann flach auf den Boden, um sich dann wie eine Schlange vorwärts zu winden. Ragnar war nicht weit hinter ihm und folgte seinem Beispiel. Der Geruch nach Orks wurde stärker. Er warf einen Blick auf den Detektor an seinem Handgelenk: zweihundert Schritte noch bis zum Tempel. Ein Blatt strich über sein Gesicht und kitzelte es. Er unterdrückte den Drang zu niesen, schnüffelte, streckte die Zunge heraus und schmeckte die pollenartige Substanz, die sich darauf niederließ. Pilzsporen, nahm er an. Aus ir-
gendeiner Ecke in seinem Hinterkopf kam das von den Maschinen im Reißzahn dort hinterlegte Wissen, dass Orks gewisse Pilzarten als Nahrung und Grundlage für vergorene Getränke anbauten. War dies ein weiteres Zeichen für ihre Anwesenheit? Er würde es noch früh genug erfahren. Ein weiterer Geruch stach ihm in die Nase. Brandgeruch. Nein, kein Brandgeruch. Geruch nach Verbranntem. Holz. Vegetation. Fleisch. Durch eine Lücke im Blattwerk konnte er den Tempel sehen. Eine riesige Schneise war in das Blätterdach geschlagen worden. Der Geruch nach verbranntem Holz war stark. Ragnar erkannte, dass hier eine Schlacht stattgefunden hatte, und zwar mit Waffen, die den Dschungel in Brand gesetzt hatten. Angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit eine ziemliche Leistung. Der Tempel selbst war riesig, eine gewaltige Stufenpyramide aus Stein, grau verwittert durch die Einwirkungen von Wind und Regen sowie Pflanzenwurzeln, die sich in den Fugen eingenistet hatten. Vorhänge von Kletterpflanzen krochen die jahrhundertealten Seiten herunter. Der Tempel machte einen wahrhaft uralten Eindruck und schien aus einer Zeit und einem Raum jenseits aller Erinnerung zu stammen, als die Menschen primitivere Götter verehrt hatten. Es war ein heidnisches Monument, die Imitation eines Berges, gebaut von Männern, welche die Aufmerksamkeit irgendeiner urtümlichen Gottheit hatten erregen wollen. Auf seine primitive und urwüchsige Art war es beeindruckend. Mehr als vorsichtig bedeutete Ragnar seinen Kameraden, unten zu bleiben, dann schlich er allein vorwärts. Der Ork-Gestank war hier noch stärker. Er hatte etwas Ledriges, Schweißiges an sich und war durchdringend und raubtierhaft, moschusartig und stark. Weit voraus hörte Ragnar ein ungewöhnliches Geräusch, das sich vom beständigen Hintergrundlärm des Dschungels abhob. Zuerst klang es wie ein Grunzen, aber dann konnte Ragnar hören, dass es ein Muster hatte. Es war eine Art Sprache. Die Stimme war tiefer als die jedes Menschen. Ragnar stellte sich vor, dass sie aus der Brust eines Wesens stammte, das größer als jeder Mensch war.
Bis jetzt hatte er Funkstille gewahrt, obwohl das Rudel auf einer geschützten und zerhackten Frequenz sendete. Er wollte auf keinen Fall ihre Stellung durch einen Signalimpuls verraten. Obwohl ihre Funkgeräte auf die geringstmögliche Abstrahlleistung eingestellt waren und eine Reichweite von nicht mehr als hundert Schritt hatten, war es durchaus möglich, dass jemand in der Nähe mit der entsprechenden Ausrüstung das Signal orten konnte. Jetzt schien es hingegen dringlicher zu sein zu verhindern, dass die beiden Inquisitoren in den Feind stolperten. Er zweifelte nicht daran, dass alle anwesenden Wolfskrieger die Orks entdecken würden, bevor sie sie sahen, aber was die beiden normalen Menschen betraf, war er da nicht so sicher. +Ragnar+, hauchte er in sein Kehlkopfmikrofon. +Habe Kontakt zum Feind. Alle verhalten sich bis auf Weiteres still.+ Er brauchte keine Bestätigung. Er wusste, dass man ihm gehorchen würde. Das Rudel war ausgebildet, sich in Gefechtssituationen so zu verhalten. Im Augenblick waren er und sein Team an der Spitze. Seine Schlachtbrüder trauten ihm zu, angemessen zu reagieren. Er würde sie nicht enttäuschen. Ragnar schlängelte sich weiter vorwärts und bemühte sich dabei, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Plötzlich befand er sich am Rand des Dschungels und schaute über die Lichtung auf den Tempel. Er sah jetzt, dass sein ursprünglicher Eindruck falsch war. Die früher von ihm erspähte Zikkurat war nur eine von vielen und bei Weitem nicht die größte. Xikar war ein gewaltiger Komplex von Monumenten. Alle von ihnen waren ebenso alt und beeindruckend wie das erste. Der Komplex fesselte seine Aufmerksamkeit nur einen Moment, bis sein Blick wieder zum Ursprung der grunzenden Stimme huschte. Er wusste sofort, dass ihn sein Gehör nicht getrogen hatte. Der Sprecher war in der Tat ein Ork, und er war viel größer als ein normaler Mensch, sogar größer als ein Wolfskrieger. Seine Brust war rund wie ein Fass, die Arme waren dicker als die Beine der meisten
Menschen. Die Haut hatte eine ölige grüne Farbe. Gewaltige Hauer ragten aus einem massiven Unterkiefer in die Höhe. Der Schädel war affenartig, die bestialischen gelben Augen saßen in tiefen Höhlen. Er war humanoid, aber verglichen mit einem Menschen waren die Beine seltsam kurz und die Arme unglaublich lang. Das Wesen vermittelte den Eindruck gorillaartiger Kraft und Wildheit, ein Eindruck, der nur teilweise durch seine Ausrüstungsgegenstände gemildert wurde. Eine lange Jacke aus dicker Panzerung umschloss den Oberkörper und ließ die ledrigen grünen Arme frei. Eine knorrige Hand hielt eine riesige Boltpistole, und eine Axt mit Kettensägenklinge, die zu stemmen ein normaler Mensch bereits Mühe gehabt hätte, hing vernachlässigt in der anderen. Ein barbarischer Helm, der bei einem primitiven Stammeskrieger passender ausgesehen hätte, saß auf seinem Kopf. Hohe Stiefel aus abgenutztem Leder schützten die Beine vor dem dornigen Gestrüpp. Das Wesen war nicht allein. Es redete mit jemandem, aber Ragnar konnte nicht sehen, mit wem. Es richtete seine gegrunzten Bemerkungen durch einen geräumigen Eingang in der Seite einer Zikkurat. Eine schrille Stimme antwortete von drinnen. Ragnar schnüffelte und wurde sich zum ersten Mal einer anderen Witterung bewusst, die stechender und durchdringender war als die des Orks und viel schwächer. Es war die Witterung von etwas Orkartigem, was aber kein Ork war. In völliger Reglosigkeit erstarrt wartete er ab, was aus dem Eingang treten würde. Er musste nicht lange warten. Ein kleiner Kopf wurde zur Tür herausgestreckt, vorsichtig und wachsam. Er gehörte einer anderen grünhäutigen Kreatur, nicht einmal halb so groß wie der Ork, aber ganz offensichtlich auf irgendeine Weise mit ihm verwandt. Sie hatte dieselbe grünliche Haut und dieselben gelblichen Augen, aber wo sich in den Zügen des Orks brutale Kraft und Selbstvertrauen spiegelten, waren diejenigen dieses Wesens scharf, verschlagen und listig. Die Bewegungen waren kriecherisch, und Ragnar bemerkte, dass der Neuankömmling sich alle Mühe gab, außerhalb der Reichweite
des Orks zu bleiben. Ein Gretchin, dachte er, als er die Kreatur aufgrund seines Unterrichts im Reißzahn erkannte. Der Gretchin hatte ebenfalls sehr lange Arme im Verhältnis zu seiner Größe, aber während die Finger des Orks wurstig und kräftig waren, hatten die des Gretchins eine schlanke, längliche Form. Eine Kapuze ragte aus der Lederjacke, die seinen Rumpf einhüllte, und verdeckte teilweise den Kopf. Auf dem Rücken hing ein automatisches Gewehr. Verglichen mit dem Gretchin war die Waffe riesig, und Ragnar war überrascht, dass das kleine Fremdwesen überhaupt die Kraft hatte, es zu heben. Der Gretchin hielt einen Kasten aus Stein in der Hand. Er hatte offenbar Mühe, ihn überhaupt zu tragen, und schien darauf bedacht zu sein, ihn festzuhalten. Der Ork sah aufmerksam zu, während mehr Gretchins aus der Öffnung quollen. Die Neuankömmlinge hielten automatische Gewehre in den Händen, während sie triumphierend schnatterten. Sie traten ins Licht, und dann sah Ragnar, dass ihnen ein ramponiert aussehender Mensch in grünen Gewändern folgte. Der Kopf des Mannes war kahl rasiert. Auf seiner Stirn war eine Tätowierung, die den Imperiumsadler auf einer stilisierten Zikkurat zeigte. Es handelte sich also um einen der Mönche aus dem Tempel, erkannte Ragnar. Und er war ganz offensichtlich ein Gefangener der ungeschlachten Nichtmenschen. Ragnar fragte sich, was dies zu bedeuten hatte. Befanden die Orks sich bereits im Besitz des Tempels? Wenn ja, warum waren dann nicht mehr von ihnen zugegen? Wäre eine Armee der Orks in der Nähe gewesen, hätte die ganze Gegend nach ihnen gestunken. Er konnte aber nur die Witterung dieser Plünderer ausmachen. Aus der Ferne war plötzlich der Lärm vereinzelter Schüsse zu hören. Ragnar fragte sich kurz, ob seine Kameraden entdeckt worden waren, aber der Lärm kam von zu weit weg und von der anderen Seite der Ruinen. Die sporadischen Schüsse wurden mit Feuerstößen und dem Gebrüll von Orks aus anderen Bereichen beantwortet.
Was ging da vor? Die Antwort kam rasch. Der Ork reckte seine Waffen in die Luft und stieß ein lautes, wildes Freudengeheul aus. Es handelte sich um eine Zurschaustellung gedankenloser Begeisterung, der Freude am Lärm um des Lärms willen, des Schießens um des Schießens willen. Sinnlose Munitionsverschwendung, dachte Ragnar, aber dann beruhigte sich der Ork wieder. Ein bedrohlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. Auf die kleine Gruppe am Rand des Tempels legte sich jäh die finstere Atmosphäre von Gewalttätigkeit. Die Gretchins fingen plötzlich an, um ihren Gefangenen herumzutollen, bis der Ork einen Befehl bellte und dem nächsten Gretchin einen Knuff an den Kopf verpasste. Sofort beruhigten die Gretchins sich und wirkten vor Angst vor ihrem massigen Herrn und Meister wie versteinert. Der Ork ging zu dem gefangenen Menschen. Eine rasche Ohrfeige ließ den armen Teufel zu Boden gehen. Blut lief aus seinen Nasenlöchern, und er hustete ein paar Zähne aus. Ragnars Hochachtung vor den Gretchin wuchs. Sie waren zäher, als sie aussahen, wenn sie den Knuff eines Orks einfach wegstecken konnten. »Sklave!«, bellte der Ork in schlechtem Gothisch. »Du Sklave!« Der Mönch wälzte sich auf die Knie und begann mit einem Stoßgebet an den Imperator. Ein Tritt des Orks schickte ihn wieder in den Matsch, der die zerfetzten Gewänder verschmierte. Ragnar konnte den Schweiß und die Angst des Mannes riechen, der sich aber dennoch erhob und sein Gebet fortsetzte, in dem er den Imperator bat, ihn zu erlösen. Ragnar fragte sich, ob dies ein Zeichen war, dass der Imperator ihn aus einem bestimmten Grund zum gegenwärtigen Zeitpunkt an ebendiesen Ort geführt hatte. Es war eine gefährliche Überlegung. Was, wenn sie den Mönch zu befreien versuchten und stattdessen nur den Streitkräften der Orks ihre Anwesenheit verrieten? Dieser Vorstoß sollte ein rasches, verwegenes Unternehmen sein, und womöglich würden sie es durch einen Rettungsversuch ernsthaft gefährden. Andererseits waren sie wegen des Bruchstücks des heiligen Talismans
hier, und vielleicht konnte der Mönch sie rasch hinführen. Es war durchaus anzunehmen, dass er wusste, wo er in diesem riesigen Komplex aufbewahrt wurde. Das würde das Risiko seiner Rettung aufwiegen − immer vorausgesetzt, sie schafften es. Ragnar traf eine rasche Entscheidung: Sie würden es tun. Er warf einen Blick hinüber zu Sven. Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Ork und fuhr sich dann in der universellen Geste mit dem Finger über die Kehle. Sven lächelte dünn und nickte bestätigend. Das Wissen, in den nächsten Augenblicken loszuschlagen, klärte Ragnars Gedanken. Er und Sven richteten sich gleichzeitig zu einem Kauern auf. Lediglich zwanzig Schritte trennten sie von dem Ork. Die Grünhaut drehte ihnen den Rücken zu und bemühte sich wieder, den Gefangenen einzuschüchtern. Die Aufmerksamkeit der Gretchins richtete sich vollständig auf die Qualen des Menschen, wenn man von dem einen absah, der den Steinkasten geöffnet hatte und dabei war, den Inhalt mit schmerzlicher Miene auf den Boden zu kippen, wobei sich die grünliche Zunge durch die Zähne geschoben hatte. Der Schlüssel zum Erfolg lag bei dieser Aktion in einem raschen, entschlossenen Handeln, bevor jemand von dem nichtmenschlichen Abschaum reagieren konnte. Ragnar stürmte vorwärts, entschlossen, bis zum letzten Moment zu warten, bevor er das Kettenschwert aktivierte, um nicht freiwillig auf das Element der Überraschung zu verzichten. Er war außerdem entschlossen, nicht zu schießen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Warum sollten sie ihre Anwesenheit verraten, wenn es sich vermeiden ließ? Noch zehn Schritte. Mit seinem behänden Trab überwand Ragnar die Entfernung rasch. Bis jetzt hatte sie noch kein einziger Feind bemerkt. Ragnar bleckte die Zähne zu einem wölfischen Knurren. Er spürte Sven wenige Schritte hinter sich laufen. Sein Instinkt verriet ihm, dass Sven sich um die Gretchins kümmern würde, während er den Ork erledigte. Das war Ragnar gerade recht.
Noch fünf Schritte. Der Gretchin mit dem offenen Kasten sah von dem Haufen zeremonieller Utensilien auf, die er auf dem Boden verstreut hatte. Er musste sie aus dem Augenwinkel bemerkt haben. Seine Augen weiteten sich. Ragnar hoffte, sein Zustand erstarrter Tatenlosigkeit werde noch ein paar Augenblicke anhalten. Vier Schritte. Drei. Der Gretchin öffnete den Mund, um seinen Kameraden eine Warnung zuzubrüllen. Während er dies tat, drückte Ragnar mit dem Daumen auf die Aktivierungsrune des Kettenschwerts, während er ein Stoßgebet an Russ richtete. Die Klingen erwachten röhrend zum Leben. Als Ragnar seinen vorletzten Schritt machte, hatte er bereits zum Schwung mit dem Schwert angesetzt. Für eine derart große Kreatur reagierte der Ork überraschend flink. Sein Kopf drehte sich in Richtung des Geräuschs, dann wirbelte der ganze Körper zu dieser Gefahr herum, und die Kettenaxt hob sich zu einer Parade. Aber es war bereits zu spät. Ragnar ließ sein Kettenschwert niedersausen wie einen Blitzstrahl vom Himmel. Es schnitt durch den Hals des Orks genau über dem Halsschützer seiner Rüstung und trennte den Kopf vom Körper. Als wisse er noch nichts von seinem Tod, bewegte der Rumpf des Orks sich weiter. Die Axt hob sich weiter, bevor sie dem Ork aus der gefühllosen Hand fiel. Die Finger krampften sich in einer abschließenden sinnlosen Geste um den Abzug der Boltpistole, und die klobige Waffe sandte einen Hagel von Patronen in den Boden. Jede Einzelne ließ eine kleine Erdfontäne rings um seine Füße aufspritzen. Blut sprudelte aus dem Hals. Der behelmte Kopf fiel zu Boden und funkelte Ragnar mit unvermindertem Hass an. Die Augen bewegten sich immer noch und folgten Ragnars raschen Bewegungen. Sven hatte den Gretchin mit der Schatztruhe ignoriert und sich auf diejenigen gestürzt, welche den Gefangenen umgaben. Sie waren viel langsamer als der Ork und ebenso zum Tode verurteilt. Sven hieb dem ersten mit einem raschen Schwung den Kopf ab, bohrte dem zweiten das Kettenschwert bis zum Heft in die Brust und schickte den dritten mit einem brutalen Kolbenhieb seiner Boltpistole zu Bo-
den. Der rappelte sich auf und versuchte sein automatisches Gewehr auf Sven anzulegen. Der Gretchin mit der Truhe stieß ein panisches Kreischen aus und wandte sich zur Flucht. Ragnar verschwendete keinen Gedanken an Gnade, sondern spießte ihn von hinten mit seinem Kettenschwert auf. Die Gewalt des Stoßes hob den kleinen Körper für ein paar Augenblicke vom Boden, bis der gespaltene Leichnam zu Boden fiel und das widerlich grünlichgelbe Blut in die Erde sickerte. Während Ragnar sich hektisch umsah, erledigte Sven gerade den letzten Gretchin. Er hob sein Gewehr in einem sinnlosen Versuch, das Kettenschwert zu parieren, das gerade auf dem Weg zu ihm war. Funken flogen, als die Klingen das primitive Metall des Gewehrlaufs durchsägten, dann brach das Gewehr auseinander und Svens Kettenschwert fuhr knirschend in den Gretchin. Ein rascher Rundumblick und ein konzentriertes Wittern verrieten Ragnar, dass aus der unmittelbaren Umgebung keine Gefahr mehr drohte. Er ging zu dem betenden Mönch, der schließlich aufschaute, als er den Schatten des Wolfskriegers auf sich fallen sah. Ein Ausdruck der Überraschung huschte über das Gesicht des Mannes, als er völlig unerwartet die blutbespritzte Erscheinung eines Space Marine vor sich aufragen sah. »Auf die Beine, Bruder!«, befahl ihm Ragnar. »Der Imperator hat deine Gebete erhört und dich erlöst.« Der Mönch fiel in Ohnmacht. Ragnar vergewisserte sich noch einmal, dass alle Gegner tot waren. Das Licht des Lebens war mittlerweile aus den Augen des toten Orks gewichen. Der kurze brutale Kampf war vorbei. »Steh auf, Mann«, beharrte Ragnar ungehalten. Er tippte dem Mönch so zart ins Gesicht, wie er konnte. Das Klatschen seiner CeramitFäustlinge auf dem Fleisch klang dennoch harsch, aber im Augenblick hatten sie keine Zeit für Sanftheit. Ragnar sah sich aufgebracht um, als der Mönch bewusstlos blieb. Sie standen in der Kammer, aus der die Gretchins mit dem Gefangenen aufgetaucht waren. Sergeant
Hakon, die beiden Inquisitoren und Sven waren ebenfalls anwesend. Die anderen Blutkrallen hatten zur Absicherung rings um den Bereich Stellung bezogen. Die Leichen der Grünhäute waren bereits außer Sicht in den Wald geschleift worden. »Treten Sie zur Seite«, sagte Inquisitor Isaan. Sie schob sich an Ragnar vorbei, beugte sich über den reglosen Mönch und ließ langsam ihre Hand über das Gesicht des Bewusstlosen wandern. Ragnar verspürte ein Kribbeln im Nacken, was ihm verriet, dass sie ihre verborgenen Kräfte zur Anwendung brachte. Die Augenlider des Mönchs flatterten. Er stöhnte und schoss dann kerzengerade in die Höhe. »Wer sind Sie?«, fragte er mit überschnappender Stimme. Tonfall und Geruch verrieten Ragnar, dass der Mann sehr verängstigt war. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Isaan so beruhigend wie möglich. »Sie sind in Sicherheit. Ich bin Inquisitorin Isaan in Diensten des Imperators. Das ist Inquisitor Sternberg. Diese Männer sind Wolfskrieger und gehören zu den Space Marines. Wir befinden uns auf einer Mission von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit des Imperiums. Wer sind Sie?« »Ich … bin Bruder Tethys, ein Schreiber … vom Orden der Immerwährenden Glückseligkeit. Ich danke Ihnen, dass Sie mich vor diesen Ungeheuern gerettet haben. Wären Sie nicht gewesen, hätten sie mich getötet oder versklavt.« »Ist das mit Ihren Brüdern geschehen?«, fragte Isaan mitfühlend. Der Mönch nickte. Sein asketisches Gesicht sah aus, als werde er gleich in Tränen ausbrechen. Er hob eine knochige Hand vor das Gesicht, und Ragnar sah, dass sie zitterte. »Wurden Ihre Brüder gefangen genommen?« »Die meisten wurden gefangen oder getötet, als der Tempel fiel. Wir haben versucht, uns zu wehren, aber es waren einfach zu viele. Als die Orks durch die Schutzmauern brachen, sind einige von uns in die Geheimgänge geflohen in der Hoffnung, unsere Schriften und Schätze retten und den Kampf aus dem Verborgenen fortsetzen zu
können.« »Wie viele insgesamt?« »Das weiß ich nicht. Nicht viele. Ich habe gesehen, wie mehrere Hundert zusammengetrieben und von diesem orkischen Abschaum weggeführt wurden. Ich habe es durch eines der Gucklöcher im Großen Tempel gesehen. Sie sind in ein riesiges Raupenfahrzeug verladen und nach Süden gebracht worden. Wahrscheinlich zur Hauptstadt, deren Belagerung noch andauert.« »Wie viele Orks sind noch in den Ruinen?« »Nicht viele. Diejenigen hier scheinen gegen ihren Willen zurückgelassen worden zu sein. Vielleicht waren sie betrunken oder unauffindbar, als ihre Kameraden aufbrachen. Wer weiß das schon bei diesen primitiven Scheusalen.« »Wie kommt es, dass man Sie erwischt hat?« Der Mönch zuckte die Achseln. »Ich habe mein Versteck verlassen, um mir etwas zu essen zu holen. Ein völlig hoffnungsloses Unterfangen: Die Orks hatten die Vorratskammern längst geplündert. Sie müssen mich bei meiner Rückkehr gesehen haben und sind mir gefolgt. Warum ist das für Sie wichtig?« »Ich versuche mir ein Bild von den Vorgängen zu machen − und, um die Wahrheit zu sagen, davon, was für eine Art Zeuge Sie sind.« »Ich bin dem Imperator treu ergeben. Ich habe meine Pflicht gegenüber meinen Brüdern erfüllt«, behauptete Tethys wütend. Ragnar war nicht ganz sicher, ob das stimmte. Etwas in der Witterung des Mannes ließ einerseits auf Scham und andererseits darauf schließen, dass er nicht die ganze Wahrheit sagte. Isaans Stimme war freundlich und beruhigend. »Davon bin ich überzeugt. Wer könnte es Ihnen verdenken, dass Sie geflohen sind, als die Orks die Mauern gestürmt haben? Es waren so viele, und sie waren wild und grausam. Es waren doch viele, oder?« »Tausende und Abertausende. Eine endlose Horde. Ein Meer heulender grüner Gesichter. Wir haben viele von ihnen getötet, aber es kamen immer mehr. Und sie hatten gewaltige Kriegsmaschinen mit
mächtigen Waffen. Woher sind sie nur so plötzlich gekommen? Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele Orks auf dieser Welt gibt. Und auch nicht, dass sie so gut bewaffnet sind.« »Sie sind aus dem All gekommen. Aber keine Sorge. Der Imperator wird sie für ihre Missetaten bestrafen. Am Ende ist das Imperium immer siegreich. Und jetzt sagen Sie mir, Bruder Tethys, warum haben die Orks ausgerechnet hier angegriffen?« »Wer weiß schon, warum solche Bestien irgendetwas tun? Sie waren trunken vom Blutdurst und dem Verlangen zu töten.« »Und dennoch haben sie Gefangene gemacht − Sklaven, sagten Sie.« »Erst, als die Schlacht lange vorbei war und sie sich beruhigt hatten. Als sie ins Tempelgelände eindrangen, stießen sie in Windeseile überallhin vor, töteten jeden und plünderten, was sie nur konnten. Dann sorgten ihre Anführer für Ordnung, und sie drangen ins Allerheiligste ein und plünderten die uralten Schätze. Vielleicht haben sie das gesucht − unsere heiligen Reliquien.« »Ihre heiligen Reliquien?« »Hier gibt es viele: die Knochen von Heiligen, Dinge von großer Heiligkeit aus uralten Zeiten − ein Amulett, von dem es heißt, der Imperator persönlich hätte es getragen, das in irgendeiner lange zurückliegenden Schlacht zerbrochen ist. Eines Tages wird es repariert und dazu benutzt werden, den Imperator auferstehen zu lassen.« Ragnar sah die Inquisitoren steif werden wie Bluthunde, die eine Witterung aufgenommen hatten. »Wie sah dieses Amulett aus? Wie dieses hier?« Sie deutete auf das Bruchstück des Talismans an ihrem Hals. »Haben Sie es gesehen?« »Es ist heilig«, sagte Tethys, der plötzlich sehr vorsichtig wurde. »Ich darf darüber nicht mit Fremden reden.« »Wir sind vertrauenswürdige Diener des Imperators. Es ist unsere Pflicht, derartige Reliquien vor den Klauen derer zu bewahren, welche sie nur verunreinigen würden. Es ist Ihre heilige Pflicht, uns da-
bei zu helfen.« Sie gestikulierte wieder mit der Hand, und Ragnar spürte neuerlich psychische Kräfte fließen. Tethys versteifte sich ein wenig und schien sich zu entspannen. »Ja, das ist mir jetzt klar«, sagte er mit monotoner Stimme. »Ich muss meine Pflicht gegenüber dem erhabenen Imperator erfüllen.« »Erzählen Sie uns von dem Amulett.« »Es ist ein Gegenstand aus versilbertem Metall an einer Kette aus echtem Silber. In der Fassung steckt ein grünes Juwel mit tausend Facetten. Auf einer Seite sieht es so aus, als wäre es von einem größeren Juwel abgebrochen. Diese Seite ist gezackt und unregelmäßig, nicht glatt und poliert. Der Abt trägt es in der Nacht des Blutmonds, wenn er das Ritual des endgültigen …« »Das hört sich verflucht nach dem an, was wir suchen«, sagte Sven ungeduldig. Inquisitor Isaans Kopf ruckte herum, und ein giftiges Funkeln ihrer dunkelbraunen Augen ließ ihn sofort verstummen. Die Bedeutung war klar: Nicht einmischen! Sie widmete sich wieder dem Mönch, der fortfuhr. »Wenn Sie das Amulett suchen, kommen Sie zu spät. Die Orks haben es genommen. Ich habe es am Hals ihres Anführers gesehen − was mich nicht überrascht. Unsere Seher behaupten, dass es sich um einen Gegenstand von großer Macht handelt.« Isaan sah Sternberg an, dann die übrigen Anwesenden. Ihre Miene sagte alles, was es zu sagen gab.
SIEBEN
»Wir können nicht umkehren«, sagte Inquisitor Sternberg grimmig. »Wir müssen diesen Ork-Scheusalen den Talisman von Lykos abjagen.« Ragnar und die anderen Blutkrallen starrten ihn an. Ragnar spürte, dass seine Schlachtbrüder sein Gefühl der Ungläubigkeit teilten. »Das Ding ist weg, Mann!«, schrie Sergeant Hakon. »Eine Armee der Orks hat es.« »Dann holen wir es zurück!«, sagte Sternberg in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Und wie sollen wir ihn finden?«, wollte Hakon wissen. »In diesen Dschungeln wimmelt es von Orks. Wie sollen wir da einen einzelnen Ork finden?« »Wie haben wir den Talisman denn überhaupt ausfindig gemacht?«, konterte Sternberg. »Ich kann meine … Begabungen einsetzen«, schlug Isaan vor. »Die Verbindung zwischen den beiden Fragmenten existiert immer noch − je näher sie einander sind, desto stärker wird die Verbindung. Jetzt kann ich die generelle Richtung spüren. Je näher wir kommen, desto genauer kann ich den Aufenthaltsort bestimmen.« »Könnten wir nicht ins Schiff teleportieren, das Ritual noch einmal ausführen und dann zurückkehren?«, schlug Ragnar vor. »Die Licht der Wahrheit ist von den Kriegsschiffen der Orks längst aus der Teleporterreichweite vertrieben worden«, sagte Sternberg. »Sie fliegt der imperialen Entsatzflotte entgegen, die auf dem Weg hierher ist, und wird in einer Standardwoche mit der Flotte zurückkehren.« »Das hoffen Sie«, sagte Hakon. »Mit dem Segen des Imperators wird es geschehen.«
»Wenn wir ohnehin für eine verfluchte Woche hier unten festsitzen …«, begann Sven. Ein strenger Blick des Sergeants ließ ihn verstummen. »Und was tun wir, wenn wir den Träger des Talismans gefunden haben? Das ist kein gewöhnlicher Ork, sondern einer ihrer Anführer. Er wird sich mitten in seiner Horde aufhalten und gut geschützt sein.« »Sind Sie nicht Space Marines? Ist das nicht die Art Mission, für die Sie ausgebildet wurden?«, sagte Sternberg. Stille senkte sich über die kleine Gruppe. Sie wurde von den entfernten Geräuschen der verbliebenen Orks durchbrochen, die ihre Waffen abfeuerten. Die Anwesenden sahen einander wachsam an. Ragnar ließ sich die Worte des Inquisitors durch den Kopf gehen. Er war sicher, wenn es einen Weg gab, konnten sie ihn finden. Schließlich waren sie Space Marines, die Elitekrieger des Imperiums. Er war nur nicht sicher, ob es einen Weg in der zur Verfügung stehenden Zeit gab, um das zu tun, was der Inquisitor wollte. »Sie schlagen also vor, dass wir diesen Ork ausfindig machen, uns in sein Lager stehlen, uns das Artefakt schnappen und dann fliehen?«, fasste Hakon zusammen. Seine Stimme troff vor Sarkasmus, aber an der Art, wie er den Kopf neigte, erkannte Ragnar, dass er ernsthaft über die Angelegenheit nachdachte. Ragnar konnte das verstehen. Wenn sie es schafften, würden sie damit eine Heldentat vollbringen, die eines Heldenepos würdig war. Tatsächlich glaubte Ragnar sogar, dass dies vielleicht eine Gelegenheit für sie alle war, in ein Heldenepos einzugehen. Ihre Namen würden die Jahrtausende in den Annalen des Ordens überdauern − wenn sie überlebten. Und wenn sie Erfolg hatten. Er musste zugeben, dass die Bedenken ziemlich gewichtig klangen. »Ganz genau«, sagte Sternberg. »Das heißt, wenn Sie glauben, dass Sie und Ihre Krieger das Unternehmen durchführen können. Wenn nicht, können Sie im Dschungel warten, dann machen Inquisitorin Isaan und ich allein weiter.«
Hakon lachte leise. Das würde er auf keinen Fall zulassen. Es würde dem Orden nicht zur Ehre gereichen, wenn seine Krieger sich zurückzogen und zwei Diener des Imperators bei einer derart wichtigen Mission im Stich ließen. Andererseits mochte sich ebendiese Mission durchaus als selbstmörderisch erweisen. Ragnar verstand das Dilemma des Sergeants. »Das würde ich nicht gestatten«, sagte Hakon schließlich. »Sie werden mich nicht daran hindern. Ich gehöre nicht Ihrem Orden an. Sie können mir keine Befehle erteilen«, sagte Inquisitor Sternberg, dessen Miene Entschlossenheit ausdrückte. Der Sergeant schüttelte langsam den Kopf. Die Wolfskrieger waren nicht berühmt für ihren Respekt vor Autoritäten, von ihren eigenen Anführern abgesehen, und den zollten sie auch nur widerstrebend solchen, die ihn sich verdient hatten. Ein Anführer, der alberne Entscheidungen traf, blieb nicht lange einer und wurde in der Regel auch erst gar keiner. Ragnar fragte sich, ob Hakon all das den Inquisitoren deutlich machen oder einen diplomatischeren Weg finden würde. Der Sergeant zeigte auf das Amulett an Isaans Hals. »Ich bin für die Sicherheit dieses Talismans verantwortlich«, sagte er unverblümt. »Ich werde Ihnen nicht gestatten, diesen Weg zu gehen, wenn Sie ihn damit in Gefahr bringen.« Die beiden Männer funkelten einander an, und für einen kurzen Moment hatte Ragnar das Gefühl, sie @ »Runter«, brüllte er und warf sich flach auf den Boden. Karah folgte seinem Beispiel. Die Kampfflugzeuge der Orks flogen niedrig über den Tempelkomplex, als suchten sie etwas. »Ich denke, wir sollten uns so weit wie möglich von hier entfernen, bevor die Orks nach uns suchen«, sagte Karah. Ragnar sah, dass sie verängstigt war. Er konnte es ihr nicht verdenken. Er fragte sich ebenfalls, ob es Zufall war, dass die orkischen Flugzeuge so bald auftauchten, nachdem sie die psychische Verbindung zu dem Ork-Häuptling hergestellt hatte. Wenn sie ihn spüren
konnte, konnte er sie vielleicht auch spüren. Die Vorstellung war nicht gerade beruhigend. Mit einem widerstrebenden Bruder Tethys im Schlepptau wagten sie sich in das Tunnelgewirr innerhalb der Mauern der riesigen Steinpyramiden. Es war still und kühl, und die Mauern hielten alle Geräusche von draußen ab. Ragnar fragte sich, wie sicher dies war, bis ihm aufging, dass es ziemlich egal war. Wenn die Orks nach ihnen suchten, war es wahrscheinlich sicherer als im Dschungel. Dort draußen würden jetzt Truppen der Orks versuchen, ihre Spur aufzunehmen. Bruder Tethys hielt eine der immerbrennenden Lichtkugeln der Alten in der Hand. Das Licht ließ die rosa Haut seiner Finger durchsichtig erscheinen. Es war eine Illusion, mit der Ragnar vertraut war, aber dennoch eine überzeugende. Er war sich des Geruchs nach Tod überall ringsumher bewusst. In jeder der zahlreichen Nischen lag eine vertrocknete Leiche. Offensichtlich war dies eine Beerdigungsstätte. Neben jeder Nische war der Name eines Mönchs in Imperialen Runen eingemeißelt, um ihn heilig zu machen, aber dieser Stätte haftete nichts Heiliges an, keine Aura der Weihe. Es war schlicht und einfach ein Friedhof, und sie wanderten immer tiefer hinein. »Die Tempel sind riesig«, sagte Tethys. »Sie versinken schon seit Jahren immer tiefer in den Boden. Die Pyramiden an der Oberfläche sind nur Teil von viel größeren Bauwerken unter der Erde. Sie reichen sehr tief nach unten. Wir könnten uns hier monatelang verstecken, und niemand würde uns je finden.« »Gibt nicht viel zu essen hier …«, murmelte Sven nur halb im Ernst. »Es gibt jedenfalls reichlich von diesem gesalzenen Fleisch«, sagte Nils mit einer Geste in Richtung der Leichen. Als er das scharfe Luftholen der Inquisitoren und des kleinen Mönchs hörte, fügte er hastig hinzu: »Das war nur ein Scherz.« »Auf deinen Humor können wir in Zukunft verzichten, Bruder Nils«, sagte Sergeant Hakon.
»Wie wollen wir zu diesem Talisman kommen?«, fragte Ragnar, um die Spannung abzubauen. »Diese Gänge führen zum Fluss, an dessen Unterlauf Galt Stadt liegt. Dort können wir mit einem Boot zu den Orks übersetzen.« »Und was dann?«, fragte Ragnar. Er wusste, dass diese Frage allen Blutkrallen im Kopf herumspukte. »Dann werden wir sehen«, sagte Sergeant Hakon. »Und wie gelangen wir über den Fluss zur Stadt?«, fragte Sven. »Ich bin nicht erpicht darauf zu schwimmen.« »Wenn wir den Tempelkomplex hinter uns haben, werden wir ein Floß bauen und flussabwärts fahren. Bruder Tethys zufolge ist die Strömung stark, also sollte es nicht zu viel Arbeit sein.« »Und was ist, wenn die Kampfflugzeuge wiederkommen?«, fragte Nils. »Den Orca spießen wir auf, wenn wir ihn sehen«, sagte Hakon und hüllte sich dann in Schweigen. Der Fluss war breit und braun. Er stank nach verfaulter Vegetation, nach Algen und nach Abwässern, die aus dem Tempelkomplex hineingepumpt wurden. Ragnar fragte sich, wie lange das noch so sein würde. Er bezweifelte, dass die Orks die entsprechenden Maschinen warten würden. Nach allem, was er gesehen hatte, waren sie bereits dabei, alles auseinander zu nehmen und in ihre primitiven Zerstörungsmaschinen einzubauen. Als Rasse schienen sie eingefleischte Bastler und Resteverwerter zu sein. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass ihre primitiven Geräte funktionierten. Die Kampfflugzeuge waren jedenfalls ziemlich wirkungsvoll gewesen. Zäher Schlamm zerrte an seinen Stiefeln, während sie sich einen überwachsenen Pfad zwischen den Bäumen jenseits des Tunnels entlang kämpften, der zum Ufer geführt hatte. Wenn sie sich erst einmal so weit von Xikar entfernt hatten, dass sie sich sicher fühlten, würden sie mit dem Bau des Floßes beginnen und sich auf die gefährliche Fahrt flussabwärts begeben. Ragnar spürte einen Blick auf sich ru-
hen, und als er sich umdrehte, sah er, dass Inquisitorin Isaan ihn nachdenklich beobachtete. »Keine Sorge«, sagte er zu ihr. »Wir schaffen es schon.« »Daran zweifle ich nicht«, erwiderte sie. »Der Imperator wacht über uns.« Sie klang und roch nicht so sicher, wie ihre Worte es hätten vermuten lassen, fand Ragnar. Aber ihr gelang ein Lächeln, und dann ging sie leise weiter in die hereinbrechende Dunkelheit. Die beiden Flöße waren schwer genug, um stabil zu sein. Sie bestanden aus mit dem Kettenschwert gefällten Baumstämmen und waren mit Schlingpflanzen zusammengebunden. Die Staken aus Bambusrohr erwiesen sich als überflüssig, da die Strömung so stark war, dass sie schneller vorankamen, als sogar ein Space Marine durch den dichten Dschungel hätte marschieren können. Die Expedition hatte sich in zwei Gruppen aufgeteilt, eine für jedes Floß. Auf dem vorderen Floß befanden sich Inquisitor Sternberg, Sergeant Hakon, Strybjörn und Lars, auf dem zweiten Floß waren Ragnar, Karah Isaan, Sven, Nils und Bruder Tethys. Nils stand im Heck und steuerte es mit der langen Bambusstake. Auf dem anderen Floß hatte Lars diese Aufgabe übernommen. Sogar die Gefahr, die ihnen von orkischen Aufklärungsflugzeugen drohte, war geringer geworden. An manchen Stellen war der Dschungel ein derart überwuchertes Gestrüpp, dass die riesigen, vielstämmigen Banyanbäume über den Fluss wuchsen und nur ein paar verirrte Sonnenstrahlen durchließen. Es war, als segelten sie durch einen Tunnel unter den Bäumen. Und es war so, wie Bruder Tethys gesagt hatte: In und um den Tempelkomplex hielten sich nur noch wenige Grünhäute auf, und die schienen wild und ziellos zu sein, Treibgut, das zurückgeblieben war, als die Flut der orkischen Horde weitergezogen war. Im Dschungel gab es unendlich viel Leben. Große zottelige Geschöpfe brachen durch das Blätterdach. Schwere, panthergroße Bestien, gesprenkelt und sechsbeinig, lauerten auf Ästen und betrachte-
ten sie mit riesigen starren Augen. Einmal erspähte Ragnar eine riesige Schlange in den Bäumen. Sie musste mindestens dreißig Schritt lang und so dick wie ein Alefass sein. Er war nicht allzu besorgt. In diesem Dschungel gab es kein Tier, mit dem er nicht fertig werden konnte. Seiner Erfahrung nach waren nur wenige natürliche Lebewesen gegen Kettenschwertklingen und Boltpatronen gefeit. Er schüttelte den Kopf und sagte sich, dass derart übertriebenes Selbstvertrauen gefährlich war. Was, wenn er überraschend angegriffen wurde? Oder im Schlaf? Was, wenn irgendein Wesen stark genug war, seine Rüstung zu knacken? Er wusste, dass das unwahrscheinlich war. Seine Wolfskriegersinne waren dergestalt, dass sie ihn auch im Schlaf vor jeder Gefahr warnen würden. Und Ceramit würde sich für jeden natürlichen Zahn und jede Kralle als undurchdringlich erweisen. Sei nicht so sicher, sagte eine innere Stimme. Das kannst du nicht wissen. Durch so eine Denkweise sind schon Männer an weitaus ungefährlicheren Orten gestorben. Schließlich war er hier ein Fremder. Was wusste er schon über diese Welt? Einige Pflanzen und Tiere hatten Ähnlichkeit mit solchen auf Fenris, das war alles. In gewisser Hinsicht war dies kaum überraschend. Die meisten ihrer Vorfahren waren vermutlich vom weit entfernten Terra im Zuge der ersten großen Diaspora vor Zehntausenden von Jahren hierher gekommen, als der Mensch sich aufgemacht hatte, die Galaxis zu kolonisieren und nach seinem Bilde umzugestalten. Sie waren die Nachkommen dieser alten Geschöpfe und Pflanzen, die umgestaltet worden waren, um in ihre neue Heimatwelt zu passen. Hinter der nächsten Biegung aalten sich große, staubbraune Reptilien am Ufer, vermutlich irgendeine Drachenart. Ihre gewaltigen Kiefer sahen aus, als könnten sie einen Menschen mit einem Biss verschlingen − auch einen mit Ceramit-Rüstung. Ragnars Hand wanderte in die Nähe des Halfters seiner Boltpistole, als eines dieser Wesen das schlammige Ufer hinunter und ins Wasser glitt. Für ein derart großes Wesen bewegte es sich überraschend verstohlen, und das
Klatschen, als es ins Wasser eintauchte, wäre für einen normalen Menschen kaum hörbar gewesen. Die Kreatur hatte große Ähnlichkeit mit einem Baumstamm, wie es im Fluss dahintrieb und ihnen folgte. Die Farben ihrer Lederhaut sahen so aus, als seien sie mit Absicht so gestaltet worden, dass sie vermodertem Holz ähnelten. Ragnar fragte sich, wie viele unschuldige Flussfischer dadurch schon getäuscht worden waren, wie viele Dschungeltiere, die an den Fluss gekommen waren, um zu trinken oder ihn zu durchqueren. Nun, er ließ sich jedenfalls nicht täuschen, und die Witterung seiner Kameraden verriet ihm, dass sie ebenfalls nicht darauf hereinfielen. Sven und die Inquisitorin hatten bereits ihre Waffen gezückt. Nils hielt die Stake mit einer Hand und wartete ab, was das Echsenwesen im Schilde führte. Seiner Anspannung konnte Ragnar entnehmen, dass er bereit war, jeden Moment seine Pistole zu ziehen und das Feuer zu eröffnen. Ein rascher Blick verriet ihm, dass die Besatzung auf dem anderen Floß die Gefahr ebenfalls erkannt hatte. Es schien klar zu sein, dass die Bestie zuerst Ragnars Floß erreichen würde − und sie kam rasch näher. Bruder Tethys hatte mittlerweile ebenfalls bemerkt, was vorging, und machte sein automatisches Gewehr feuerbereit. »Ein Flussdrache!«, kreischte er, als seien die anderen sich der Gefahr nicht bewusst. Ragnar legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, wir haben ihn gesehen«, sagte er. »Benutzen Sie die Boltpistole. Sie verschießt Explosivgeschosse. Die sind gegen eine Bestie dieser Größe wirkungsvoller.« Wenn Tethys auch nur ein Wort von dem hörte, was Ragnar sagte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er stank nach Panik. Nein, nach Entsetzen. »Diese Ungeheuer sind furchtbar, eine wahre Pest. Sie ziehen einen unter Wasser und halten einen so lange fest, bis man ertrunken ist.« Ragnar fragte sich, ob das wirklich ein weniger angenehmer Tod war, als von den gewaltigen Zähnen zerrissen und dann aufgefressen
zu werden. Er schüttelte den Kopf. Er bezweifelte, dass es überhaupt angenehme Tode gab. Der Flussdrache kam näher. Seine winzigen Beine, die im Vergleich zu dem massigen Leib unproportioniert wirkten, arbeiteten im Wasser, und gelegentlich peitschte das Tier sich auch mit einem Schlag seines großen Schwanzes vorwärts. Ragnar bekam langsam ein Gefühl dafür, wie groß die Bestie tatsächlich war, wahrscheinlich doppelt so lang wie ihr Floß. Er sah die winzigen, intelligenten Augen beiderseits der Schnauze, die ihn anglotzten. Es war ein Anblick, der ihn frösteln und kalte Schauer der Furcht über sein Rückgrat wandern ließ. »Bei Russ, das Biest ist verflucht groß!«, sagte Sven. »Ich frage mich, wie es wohl schmeckt. Allmählich habe ich die Schnauze voll von Baumrinde und Schaben.« »Ich habe schon größere Orcas harpuniert«, sagte Ragnar, indem er mit seiner Boltpistole auf ein Auge des Flussdrachen zielte. »Orcas haben nicht solche Zähne«, sagte Sven. Der Flussdrache hatte das Maul aufgerissen, und mehrere Reihen gelblicher, hauerartiger Zähne von Dolchlänge waren zu sehen. Die Züge verzerrten sich, und die Augen wurden schmaler, sodass es schwierig wurde, sie aufs Korn zu nehmen. »Das Vieh ist wie du, Sven«, sagte Nils, der gerade seine Boltpistole schussbereit machte. Er ließ die Bestie nicht für einen Sekundenbruchteil aus den Augen. »Wie meinst du das, verdammt?« »Es reißt das Maul auf, und sein Kopf verschwindet.« »Ha, ha und noch mal ha, verflucht! Noch so ein Brüller, und du kannst ihm im Wasser Gesellschaft leisten.« Ragnar hörte weiteres Platschen vom Flussufer und wusste, dass sich noch mehr von den riesigen Reptilien ins Wasser gleiten ließen. Plötzlich war ihre Lage in der Tat sehr bedrohlich geworden, und er musste sich eingestehen, dass seine frühere Zuversicht ein wenig fehl am Platz gewesen war. Die Bestie brauchte sich nur im Wasser aufzubäumen, dann konnte sie ihr Floß in Stücke schlagen. Er fühlte
sich an den Kampf mit dem Meerdrachen auf Fenris erinnert, den er, wie es schien, vor einem halben Leben und eine halbe Galaxis entfernt ausgetragen hatte. »Haltet die Klappe und schießt!«, sagte er und eröffnete das Feuer. Das Krachen von Boltpistolen dröhnte in seinen Ohren, als die anderen Blutkrallen seinem Beispiel folgten. Kondensstreifen von Raketen schossen der Bestie entgegen. Wo die Projektile die Lederhaut trafen, explodierte Fleisch. Die Bestie stieß ein zischendes Kreischen aus, schwamm aber weiter. Ragnar fragte sich, ob sie überhaupt Schmerzen empfand oder ihre Schüsse sie einfach nur gereizt hatten. Im Angesicht der Kiefer und der gewaltigen Muskelstränge war er nicht mehr so sicher, dass seine Rüstung einen Biss von ihnen überstehen würde. Er hatte jedenfalls kein großes Verlangen, es herauszufinden. Die Bestie schwamm weiter durch den Geschosshagel. Die Wolfskrieger auf dem anderen Floß beteiligten sich mittlerweile an der Schießerei. Große Fleischfetzen wurden aus dem Leib der Bestie gerissen, und Ragnar war sicher, das Weiß von Knochen zwischen dem rosa Fleisch sehen zu können. Dennoch machte der Flussdrache keine Anstalten zu sterben. Ragnar drückte immer wieder ab in der vergeblichen Hoffnung, der Bestie ins Auge zu schießen und ihr das Hirn aus dem Schädel zu sprengen. Aber der Kopf peitschte hin und her, und es war schwierig, genau zu zielen. Der Wolfskrieger sandte dem Ungeheuer eine Boltpatrone nach der anderen entgegen. Die Lederhaut war durchlöchert und zerfetzt, aber zu Ragnars grenzenlosem Staunen hielt der massive Schädel dem Beschuss stand. Woraus war diese Bestie gemacht? Er schoss weiter, riskierte aber einen Blick zum Ufer. Drei weitere der riesigen Bestien näherten sich ihnen ohne die geringste Verstohlenheit. Ihre Schwänze wühlten das Wasser auf, da sie sich dem Tumult mit hoher Geschwindigkeit näherten. Ragnar fragte sich, ob sie durch den Aufruhr oder den Blutgeruch angelockt wurden. Er fluchte in sich hinein. Wenn sich schon eines dieser Wesen als derart zähle-
big erwies, war die Aussicht auf einen Kampf mit vier von ihnen nicht gerade ein Grund zur Freude. »Das Vieh ist zu dämlich zum Sterben!«, überschrie Nils das Donnern der Schüsse. »Also genau wie du!«, schnauzte Sven zurück. Die Bestie war weniger als zwanzig Schritt entfernt und holte rasch auf. Ragnars Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war ein Wechsel der Taktik angeraten. »Inquisitorin! Können Sie Ihre Kräfte gegen die Bestie einsetzen?« »Ich weiß nicht, ob sie einen Verstand hat, den ich beeinflussen kann«, rief Isaan zurück. »Sag’s nicht, Nils«, röhrte Sven. Dann war die Bestie plötzlich verschwunden. Eine gewaltige Welle schwappte auf sie zu, als sie tauchte. Für einen Moment war nur noch der riesige Schwanz zu sehen, dann war auch der verschwunden. »Haben wir das Vieh erwischt?«, rief Ragnar. »Ich glaube nicht!«, bellte Sven, wobei er hektisch in alle Richtungen schaute. »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Nils. Ragnar riskierte einen Blick auf die anderen Bestien. Sie waren kaum noch hundert Schritt entfernt. Zu nah, um daraus Trost zu ziehen, dachte Ragnar. »Aufpassen!«, brüllte Hakon. Wie meint er das?, dachte Ragnar − und spürte dann, wie sich das Floß aus dem Wasser hob. Er versuchte krampfhaft das Gleichgewicht zu halten, während er in Richtung Wasser taumelte. In diesem Augenblick wurde ihm klar, was passiert war. Die schlaue Bestie war genau unter ihnen aufgetaucht und hatte das Floß hochgehoben. Ragnar sah, wie der Dschungel sich um ihn drehte, und schloss dann den Mund, als das schlammige Wasser über ihm zusammenschlug. Verzweifelt kämpfte er darum, seine Boltpistole festzuhalten. Es war eine furchtbare Schande für einen Space Marine, seine Waffe zu verlieren. Ihm ging die Absonderlichkeit dieses Gedankens unter den
gegebenen Umständen auf. Das Wasser war ein Strudel aus schäumenden Wellen und Luftblasen. Es war trüb, aber nicht weit entfernt konnte er die riesenhafte Gestalt des Flussdrachen sehen, die zu ihnen herumpeitschte. Wenn man die Bestie mit festem Boden unter den Füßen betrachtete, wirkte sie plump und unbeholfen, aber sobald man mit ihr im Wasser war, kam sie einem unglaublich schlangengleich, gewandt und behände vor. Er schaute sich um und sah, dass die anderen ebenfalls im Wasser waren und krampfhaft die Glieder bewegten, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Er halfterte seine Pistole und strebte ebenfalls aufwärts. Bleib ruhig, sagte er sich und betete darum, dass seine Gefährten ebenfalls ruhig blieben. Auf Fenris waren viele tapfere Seeleute in vergleichbaren Situationen gestorben, weil sie einfach dumme Fehler gemacht hatten. Manchmal schwammen sie in ihrer Panik abwärts anstatt nach oben und gerieten immer tiefer in das Wasser, dem sie doch entkommen wollten. Ragnar fragte sich, wie tief der Fluss an dieser Stelle wohl war, und kam dann zu dem Schluss, dass jetzt nicht der rechte Zeitpunkt war, es herauszufinden. Sein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. Er sah einige von den anderen nicht weit entfernt ebenfalls auftauchen. Er spürte die Nähe des Flussdrachen, und für einen Moment überfiel ihn Furcht, als er sich vorstellte, wie sich die riesigen Kiefer unter ihm öffneten und ihn mit einem Bissen verschlangen. »Aufpassen!«, hörte er Sergeant Hakon rufen. Er schaute sich um und sah, dass die verwundete Bestie ebenfalls aufgetaucht war und auf ihn zuschwamm. Ihr Maul war weit aufgerissen. Es war so, als schaue er in einen langen, rosa, zahnbewehrten Tunnel. Ragnar konnte sich nicht erinnern, jemals etwas derart Beängstigendes gesehen zu haben. Der ölige Reptiliengeruch der Bestie drang ihm zusammen mit dem Gestank nach Blut, verwestem Fleisch zwischen ihren Zähnen und den sich in ihren Eingeweiden zersetzenden Mahlzeiten in die Nase. Er hatte den Eindruck, als könne er jeden Augenblick zu einem weiteren Bissen im Magen der Bestie wer-
den. Einen Moment fragte er sich, ob sein Leben wirklich vorbei war. Dann erwachte tief in seinem Verstand seine eigene Bestie, die ein Teil von ihm war, und reagierte auf die Gefahr mit instinktiver Schläue. Was das Ungeheuer konnte, konnte er auch. Er wartete bis zum letzten Augenblick, bis die Kiefer sich fast um ihn schlossen, dann holte er tief Luft und tauchte mit starkem Beinschlag unter. Der Flussdrache schoss über ihn hinweg und kam ihm dabei so groß vor wie der Rumpf eines Drachenschiffs. Unpassenderweise wurde Ragnar in diesem Augenblick an einen Vorfall in seiner Kindheit erinnert, als er vom Schiff seines Vaters gesprungen und darunter hindurchgetaucht war, aus reiner Verwegenheit und um seinen Freunden zu beweisen, dass er es konnte. Er sah die plumpen, krallenbewehrten Pfoten durch das Wasser pflügen und die geschmeidige Biegung des Rückgrats, als die riesige Bestie herumfuhr und versuchte, ihn zu erwischen. War es nur seine Einbildung, oder wurde die Bestie tatsächlich langsamer? Jedenfalls zog sie Schlieren aus öligem schwarzem Blut hinter sich her. Ragnar konnte es im Wasser schmecken. Vielleicht zeigten die vielen Boltpatronen allmählich Wirkung. Beim Anblick des herumpeitschenden Ungeheuers kamen ihm jedoch Zweifel, ob ihn das retten würde. Die riesigen Kiefer klafften auseinander, da die Bestie ihn erneut aufs Korn nahm. Mit kräftigen Beinschlägen versuchte er auszuweichen, aber der Fluss war der natürliche Lebensbereich der Bestie, nicht seiner, und in seinen trüben Fluten war sie weitaus behänder als er in seiner klobigen Rüstung. Er spürte, wie sich die Kiefer um ihn schlossen. Er spürte den Druck auf seinem Brustharnisch, als die Zähne zubissen. Der Flussdrache schüttelte einmal rasch den Kopf wie ein Hund mit einer Ratte im Maul. Wäre Ragnar ein gewöhnlicher Mensch gewesen, hätte die Bestie ihm in diesem Moment das Genick gebrochen. Aber er war kein normaler Mensch, er war ein Space Marine, und er konnte einer weitaus stärkeren Belastung standhalten als jedes normale menschliche Wesen. Die peitschende Bewegung drohte ihm die Luft aus der
Lunge zu pressen. Funken stoben vor seinen Augen. Er spürte Knorpel knirschen, als seine Nackenmuskeln die Belastung auffingen. Ragnar betete zu Russ und weigerte sich, ohnmächtig zu werden. Er kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Der Druck schien sich noch zu verstärken. Ihm ging auf, dass die Bestie ihn in die Tiefe zog, um ihn wie ihre Beute zu ertränken. Nein, vielleicht auch nicht. Sie entfernte sich von den Flößen. Ragnar konnte sie an der Oberfläche erkennen, da sie sich gerade in einem Flecken Sonnenlicht befanden. Vielleicht brachte sie ihn auch in ihren Bau, um ihre Jungen zu füttern. Vielleicht hatte sie auch etwas ganz anderes vor. Er hatte keine Ahnung und keine Zeit zu spekulieren. Seine Rüstung hatte auf Sauerstoffaufbereitungsmodus umgeschaltet. Zunächst einmal bestand für ihn keine unmittelbare Gefahr zu ertrinken. Systeme, die darauf ausgelegt waren, ihn in den Tiefen des Raums am Leben zu erhalten, würden unter Wasser keine Mühe haben, ebendiese Aufgabe zu erfüllen. Das größte Problem waren die Kiefer der Bestie, die sich immer noch um ihn geschlossen hatten. Er konnte das Ceramit ächzen und Panzerplatten knirschen hören. Schmerzhafte Nadelstiche seiner sensorischen Systeme verrieten ihm, dass an gewissen Druckpunkten die Gefahr eines Nachgebens der Rüstung bestand. Wenn das geschah, mochten auch andere Systeme ausfallen, und dann bestand tatsächlich die Möglichkeit des Ertrinkens. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass eine neue Gefahr drohte. Die anderen Flussdrachen waren untergetaucht und wollten ihm ans Leder − oder vielleicht auch ihrem verwundeten Artgenossen. Konnte es sein, dass der Blutgeruch sie rasend machte und zu ihrer Beute lockte, wie es bei den Haien im Weltmeer von Fenris der Fall war? Ragnar sah, dass seine Vermutung richtig war. Der größte Flussdrache ging auf Ragnars Häscher los. Die anderen beiden umkreisten sie und suchten eine Blöße. Plötzlich war Ragnar von Luftblasen und Blutschwaden umgeben, als die beiden Giganten aufeinander losgingen. Aus dem Augenwinkel sah Ragnar eine riesige Klaue heranna-
hen. Die Wucht des Hiebs war immens. Vor Schmerzen schwirrte ihm der Kopf, und ihm wurde schwarz vor Augen. Ebenso unvermutet ließ der Druck nach, der auf seiner Brust lastete. Der Flussdrache hatte ihn losgelassen, um den Angreifer besser bekämpfen zu können. Nicht, dass Ragnar davon notwendigerweise profitieren musste. Eine der anderen Bestien mochte ihn als wohlschmeckenden Leckerbissen aufschnappen. Er fummelte an seinem Vielzweckgürtel herum und spürte, wie seine Finger sich um die gesuchte Granate schlossen. Keinen Augenblick zu spät, denn er sah eine der anderen Bestien auf sich zukommen, einen Albtraum aus riesigen Zähnen, gewaltigen Kiefern und winzigen Augen, in denen uralte Böswilligkeit und Hunger funkelten. Mit im Wasser wie in Zeitlupe funktionierenden Gliedmaßen schob er der Bestie die Granate ins Maul und beförderte sich mit kräftigen Beinschlägen in Richtung Oberfläche, während er sich fragte, was wohl als Nächstes geschehen würde. Zunächst passierte gar nichts. Er warf einen Blick zurück auf den Flussdrachen und sah dessen durchgebogenen Rücken, da er sich an die Verfolgung machte. Dann schien sich der Leib der Bestie aufzublähen. Der Bauch dehnte sich, als habe sie etwas verschlungen, das viel zu groß für sie war. Die Kiefer weiteten sich, und sogar unter Wasser bekam Ragnar ihr Schmerzgebrüll mit. Dann riss der Bauch der Bestie auf, und das Wasser färbte sich rot. Die Bestie hatte die Granate geschluckt, und die Explosion hatte die ungeschützten Weichteile zerrissen. Einen Augenblick später waren die anderen Flussdrachen bereits dorthin unterwegs, entschlossen, sich einen Anteil an dieser Mahlzeit zu sichern. Ragnars Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. Er sah, dass es den anderen gelungen war, sich wieder auf das Floß zu ziehen, und sie angespannt das Wasser beobachteten. Sie grinsten erleichtert, als sie ihn zum Floß schwimmen sahen. Das Wasser lief von Ragnars verbeulter Rüstung, als er sich auf das Floß fallen ließ. Er drehte den Kopf und schaute zurück. Das Wasser schäumte und hatte sich vom Blut verdunkelt. Das waren die einzigen Hinweise auf
das gigantische Ringen, das in den düsteren Tiefen stattfand, und sie blieben hinter ihnen zurück und verschwanden schließlich, als das Floß um eine weitere Flussbiegung trieb. »Sag, dass ich hirnlos bin wie diese verfluchte Bestie!«, hörte er Sven sagen, bevor er sich zurücksinken ließ und die Augen schloss.
ACHT
Der Dschungel wurde allmählich lichter, der Fluss breiter und dunkler. Ragnar handhabte die Stake mühelos und hielt das Floß dicht am linken Ufer unter den überhängenden Ästen. Vor ihnen lagen alle Anzeichen für einen Krieg. Große Rauchsäulen stiegen düster in den Himmel wie die sich streckenden Finger von Riesen. Gewaltige Maschinen hatten beachtliche Schneisen durch den Dschungel gepflügt. Kampfflugzeuge der Orks dröhnten am Himmel und warfen Bombenladungen ab. In der Ferne konnte er ihr Ziel ausmachen: die mächtige ummauerte Stadt Galt. Eine Stadt dieser Größe gab es auf Fenris nicht. Wolkenkratzertürme überragten die mächtigen Mauern aus Plastibeton, jeder so massig wie eine der Inseln, die immer wieder aus dem Weltmeer auftauchten. Und es gab monströse Kriegsmaschinen so groß wie Häuser, die unterwegs zur Stadt der Menschen waren. Ragnar wusste, dass es sich bei diesen um Garganten handelte, mächtige Todesmaschinen aus Metall, welche die Orks wie primitive Abbilder ihrer furchtbaren Gottheiten gestaltet hatten. Sie starrten vor gewaltigen Waffen. Ragnar konnte das beängstigende Dröhnen hören, wenn sie den bröckelnden Stadtmauern riesige Granaten entgegenschleuderten. Er wusste, dass die Illusion des Krieges falsch war. Die Stadt hatte bereits aufgegeben. Die Orks frönten lediglich ihrer Zerstörungslust. »Möge Russ uns holen! Sieht ganz so aus, als wären wir gerade noch rechtzeitig gekommen, um die verfluchte Stadt zu retten«, sagte Sven, wobei seine Lippen sich zu einem bitteren Lächeln verzogen. Ragnar warf ihm einen Blick zu. »Willst du es allein machen, oder soll ich dir dabei helfen?« »Mir ist so großzügig zumute, also lasse ich dich an meinem
Ruhm teilhaben. Du kannst ruhig auch ein paar Verse in Svens Saga haben.« »Wie immer hast du ein viel zu großes Herz.« Ragnar war plötzlich froh, dass Sven da war. Trotz seiner kindischen Scherze und Anwandlungen von Gemeinheil fiel ihm niemand ein, den er lieber hinter sich wissen würde, wenn sie sich an diese Ork-Armee heranschlichen. »Das Beste an der Sache ist, dass wir die Überraschung auf unserer Seite haben«, sagte er lächelnd. »Sie würden nie damit rechnen, dass wir aus diesem Dschungel brechen und sie überwältigen. Inquisitor Sternberg ist ein meisterhafter Stratege.« »Diese Orks tun mir beinahe Leid«, fügte Sven hinzu. Ragnar ahnte, dass der Humor eine sehr reale Anspannung übertünchte. In den vergangenen Tagen waren sie auf ihrem Weg flussabwärts auf immer neue Beweise für die Grausamkeit der Orks gestoßen. Sie hatten Flussdörfer passiert, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren, und ausgedehnte Abschnitte des Regenwalds brennen sehen. Soweit er wusste, gab es dafür keinen anderen Grund als schiere Zerstörungswut. Es war Brandstiftung in einem gewaltigen Maßstab, das Produkt einer hirnlosen Raserei, die Ragnar nicht nachvollziehen konnte. Was kaum überraschend war: Orks dachten nicht wie Menschen. Schließlich waren sie eine sehr fremdartige Rasse. Im Zuge der mit den Orks ausgefochtenen Scharmützel und der von ihnen gestellten Hinterhalte hatte er ihre primitive Wildheit und Kampfeslust respektieren gelernt. Sie waren furchtlose Feinde und äußerst abgehärtet und robust. Zuerst hatte Ragnar die kleinen Gruppen, auf die sie gestoßen waren, für Streifen gehalten, doch dann war ihm aufgegangen, dass keine derartige Strategie am Werk war. Es handelte sich lediglich um Nachzügler, die von der Hauptstreitmacht getrennt worden waren, entweder durch reine Nachlässigkeit oder aus einem verschlagenen Verlangen heraus, noch unversehrte Orte zu plündern. Entweder hat-
ten die Orks keinen Begriff von wirkungsvoller Strategie, oder sie waren ihrer Sache so sicher, dass sie der Ansicht waren, keine zu brauchen. Falls Letzteres der Fall war, konnte Ragnar ihre Einstellung verstehen. Nach allem, was er sah, hatten die menschlichen Verteidiger auf Galt den Orks bisher kaum nennenswerten Widerstand geleistet. Und auch das war kaum überraschend. Die meisten von ihnen waren keine Krieger. Sie waren Bauern, Förster und Händler, die schon zu lange unter dem großen Schild des Imperiums lebten. Mit so einer wilden Invasion hatten sie nicht gerechnet. Und Inquisitor Sternberg zufolge musste es auch Korruption in großem Maßstab gegeben haben. Der Gouverneur des Imperiums unterhielt ein beachtliches stehendes Heer, aber bisher hatten sie noch keine Spur davon entdecken können. Bei ihren spätabendlichen Diskussionen am Lagerfeuer hatte Sternberg behauptet, das Geld sei höchstwahrscheinlich dazu benutzt worden, die Privatschatulle des Gouverneurs zu füllen. Außerdem behauptete er, falls er noch lebte, werde das Imperium ihn dergestalt bestrafen, dass er sich wünschen würde, die Orks hätten ihn getötet. Der Gedanke an die Dummheit und Misswirtschaft des Gouverneurs entfachte eine stille Wut in dem Inquisitor, wie Ragnar sie noch nie erlebt hatte. Sie hatten das Komm-Netz abgehört und voller Entsetzen den Funksprüchen der Städte und Festungen der Menschen gelauscht, die sich eine nach der anderen den überlegenen Angreifern beugen mussten. Es schien, als versinke die gesamte Zivilisation der Menschen in Finsternis. Die einzig erfreuliche Neuigkeit war die, dass die imperialen Entsatzkräfte einen Gegenangriff starten würden, sobald die Flotte der Menschen den Raum rings um Galt unter Kontrolle bekamen. Allem Anschein nach war solch ein entscheidender Sieg nur noch Tage entfernt, aber das stürzte sie auch in ein Dilemma: Sollten sie auf die Ankunft der imperialen Kampftruppe warten und sich im Dschungel verstecken oder ihren ursprünglichen Plan beibehalten und versuchen, sich den Talisman zurückzuholen? Ragnar hatte die
Argumente für beide Fälle gehört und für sich noch keine Entscheidung getroffen. Wenn sie im Dschungel blieben, bestand immer die Möglichkeit, dass sie von Orks entdeckt und getötet wurden. Außerdem konnte es ihnen passieren, dass der Träger des Talismans im Zuge der Kämpfe entkam oder das Artefakt zerstört wurde. Die Inquisitoren waren nicht sicher, ob das überhaupt möglich war, aber sie wollten das Risiko nicht eingehen. Welche Chancen hatten sie andererseits, ins Herz dieser gewaltigen Eroberungsarmee vorzustoßen, ohne entdeckt zu werden? Manchmal kam ihm dieses Vorhaben nicht nur verwegen, sondern fast schon närrisch vor. Ragnar konnte sich zwar nicht entscheiden, aber der fenrisische Teil von ihm neigte eher zur zweiten Möglichkeit. Wenn ihr Vorhaben gelang, hatten sie eine Heldentat vollbracht, die in den Heldenepen lange Bestand haben würde. Aber es war ein großes »Wenn«, und die Jagd nach Ruhm verkam zur bloßen Narretei, wenn man dabei sinnlos sein Leben wegwarf. Dies gehörte zu den Dingen, die ihm seine Ausbilder immer wieder eingehämmert hatten. So hatte er im Laufe ihrer Flussfahrt hin und her überlegt. Dabei war es ihm auf dem Weg durch den Dschungel wie eine unwirkliche Übung vorgekommen. Doch nun war die Reise vorbei und eine Entscheidung musste getroffen werden, die konkrete Handlungen nach sich zog und für das sie ihr Leben riskieren würden. Ragnar beneidete Sergeant Hakon und die beiden Inquisitoren in diesem Augenblick nicht. Er war froh, dass es nicht seine Entscheidung war. Er versuchte sich einzureden, dass es ihm nichts ausmachte, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, er aber nicht das Leben seiner Kameraden von seiner Entscheidung abhängig machen wolle. Und meistens gelang es ihm auch, das zu glauben, obwohl er sich manchmal fragte, ob er wirklich sein Leben dabei riskieren wollte, dieses kostbare Artefakt für Sternberg zu suchen. War das wirklich sein Leben wert? War es ihrer aller Leben wert? Die Antwort war ziemlich einfach: wenn sie dadurch die Bewohner von Aerius retten konnten, ja. Aber auch das war ein großes »Wenn«.
Jetzt war ihre Reise zu Ende. Vor ihnen lagen Galt Stadt und die gewaltige Streitmacht der Orks. Es war langsam an der Zeit, ihren Plan umzusetzen. Ragnar fragte sich, ob auch nur einer von ihnen überleben würde. Es war gut und schön, am Lagerfeuer zu sitzen und darüber zu reden, in das Lager der Orks einzudringen und den Talisman zu erbeuten. Es war etwas vollkommen anderes, es tatsächlich zu tun. Nun, da er mit eigenen Augen Hinweise auf die ungeheure Größe der orkischen Streitmacht gesehen hatte, fragte Ragnar sich, ob es überhaupt zu machen war. Inquisitorin Isaan war zuversichtlich, aus dieser Nähe den genauen Aufenthaltsort des orkischen Anführers ausfindig machen zu können, aber Ragnar war nicht sonderlich überzeugt davon, dass ihnen das etwas nützen würde. Er war mit Sicherheit von Tausenden grimmigen Kriegern umgeben, ganz gewiss aber von so vielen, dass selbst Sven sie in seinen wildesten Phantasien nicht besiegen konnte. Sie steuerten die Flöße an Land und kletterten mit bereitgehaltenen Waffen ans Ufer. Ragnar warf sich flach auf den Boden und starrte in den Dschungel. Es wurde Zeit, die Flöße aufzugeben und die Reise zu Fuß fortzusetzen. An diesem Abend schlugen sie ihr Lager in einem ausgebrannten Gebäude auf, einem ehemaligen Lagerhaus in einem Vorort, vielleicht eine Meile außerhalb der Stadtmauer. Das Gebäude war eingestürzt und wies Kampfspuren auf. Die Mauern waren von Kugellöchern übersät. Das Dach war zur Hälfte weggesprengt, und die Stützpfeiler hatten sich zur Seite geneigt, sodass man, wenn man wollte, auf das unsichere Dach laufen konnte. Es roch nach Pulverdampf, Blut und Angst. Alte Knochen, manche von ihnen geknackt und leer gesogen, lagen überall auf dem Boden. Ragnar fragte sich, ob dies das Werk menschlicher Verteidiger, von Orks oder von den wilden Tieren war, die aus dem Dschungel vorgedrungen waren, um sich an den Leichen gütlich zu tun. Eigentlich wollte er darüber nicht einge-
hender nachdenken, aber der Gedanke schlich sich dennoch immer wieder ungebeten in seinen Verstand. Riesige Schaben huschten auf der Flucht vor ihren abgedunkelten Lichtkugeln davon. Dschungelratten so groß wie kleine Hunde beobachteten sie mit funkelnden Augen aus der Düsternis. Ragnar nahm an, dass für einen Angriff ihrerseits wohl nicht viel Provokation erforderlich war. Sie machten einen wilden, bösartigen Eindruck, aber das war nicht weiter überraschend: Es traf auf die meisten Tiere dieser Welt zu. Er ließ den Blick über seine Kameraden wandern, da sein verbessertes Sehvermögen trotz des matten Lichts jede Einzelheit auf ihren Gesichtern erkennen konnte. Inquisitor Sternberg sah hager und bekümmert aus. In seinen Augen brannte ein merkwürdiges fanatisches Licht. Er hatte im Dschungel Gewicht verloren. Anders als die Wolfskrieger hatte er nicht überleben können, indem er Baumrinde, Maden und Blätter aß. Er hatte sich von pulverisiertem Feldproviant ernährt, der zwar alles enthielt, was man zum Leben brauchte, aber kaum eine gehaltvolle Kost darstellte. Er sah jetzt aus wie ein asketischer Märtyrer von der Art, wie Ragnar sie auf Buntglasfenstern an Bord der Licht der Wahrheit gesehen hatte. Es war, als beraube ihn eine auszehrende Krankheit allen überflüssigen Fleisches. Ragnar fragte sich, ob nicht genau das der Fall sein mochte. Im Dschungel konnten einen alle möglichen absonderlichen Krankheiten befallen. Er selbst hatte mehrere Stunden unter einem Fieber gelitten, während sein Körper sich anpasste. Für einen normalen Menschen war es um vieles schwerer. Karah Isaan hatte ebenfalls Gewicht verloren, aber das schien nur ihren Liebreiz zu verstärken, da es ihre riesigen Augen und hohen Wangenknochen betonte. Ragnar nahm an, dass ihre Heimatwelt Galt ähnlicher war als Sternbergs, denn sie schien sich viel besser an die Hitze und Luftfeuchtigkeit angepasst zu haben als ihr Kollege. Der Talisman funkelte an Isaans Kehle. Normalerweise verbarg sie ihn unter ihrem gepanzerten Brustharnisch, doch im Augenblick starrte
sie in die Tiefen des Juwels, als betrachte sie irgendein heiliges Mysterium. Ragnar glaubte den Wirbel ihrer merkwürdigen Kräfte ringsumher in der Luft zu spüren. Bruder Tethys sah müde und abgezehrt aus. Die langen Tage des Verbergens und der Marsch durch den Dschungel hatten ihm alles abverlangt. Weder die Kämpfe im Dschungel noch der Anblick dessen, was die Orks aus seiner Heimatwelt machten, hatte seinen Nerven gut getan. Ragnar glaubte ihn ein wenig zu verstehen. Er konnte sich vorstellen, wie er sich fühlen würde, wenn die Orks Fenris verwüsteten. Sergeant Hakon schien jünger geworden zu sein. Mit jedem Reisetag und jedem Scharmützel waren Jahre von ihm abgefallen. Für Ragnar war offensichtlich, dass der alte Wolf froh war, wieder im Feld zu sein und nicht in den Ausbildungslagern auf Fenris festzusitzen. Ragnar konnte dies nachvollziehen. Wie alle Fenrisier und Wolfskrieger war er der Ansicht, dass der einzig gute Tod für einen Mann der auf dem Schlachtfeld und umringt von den Leichen seiner Feinde war. Doch es war noch mehr als das. Sergeant Hakon hatte seinen Spaß. Es gefiel ihm hier auf dieser fremden Welt inmitten von Ruinen und Tod und mit der Aussicht eines Kampfes auf Leben und Tod. Er strahlte die Zufriedenheit eines Mannes bei einer Arbeit aus, für deren Verrichtung er sein Leben lang ausgebildet worden war. Seine Miene drückte zwar Grimmigkeit und seine Haltung gelassene Wachsamkeit aus, aber seinen Bewegungen haftete eine ungewohnte Eleganz an, und seine Stimme hatte einen neuen Unterton. Auch seine Witterung bestätigte das. Ragnar war froh. In Zeiten wie diesen war die Tatsache, dass das Rudel einen entspannten und kompetenten Anführer hatte, extrem beruhigend. Es war klar, dass seine Gefährten ebenso empfanden. Für sie war das eine neue Erfahrung, und dies war ihre große Bewährungsprobe. Sie alle hatten ihre Feuertaufe in den Bergen Asaheims im Kampf gegen die Mächte des Chaos erlebt, aber dies war ihr erster Einsatz auf einer fremden Welt. Jeder von ihnen wusste, es würde nicht ihr
letzter sein − falls sie überlebten. Das Leben eines Wolfskriegers bestand aus der Wanderschaft von Planet zu Planet und von Feldzug zu Feldzug, wie das Imperium und der Große Wolf es für nötig erachteten. Sie alle waren nervös und aufgeregt. Svens grobe Züge und die gebrochene Nase ließen ihn verdrossen aussehen, wie einen zurechtgewiesenen Jugendlichen, aber die gekräuselten Lippen und das Funkeln in den Augen kündeten von seinem unterschwelligen Humor. Er öffnete den Mund und rülpste laut, was die beiden Inquisitoren veranlasste, ihn anzustarren. Nils’ blasse Züge und aschblonde Haare ließen ihn sehr jung aussehen. Seine nervösen Bewegungen waren rasch und vogelartig, und sein Kopf drehte sich beständig hierhin und dorthin, da er die Umgebung beobachtete und witterte. Keine Chance, ihn zu überrumpeln, dachte Ragnar. Ragnar fand Strybjörns Züge so unergründlich wie eh und je. Er war ein Mann weniger Worte und hielt nichts von müßigem Geplauder. Sein Gesicht sah aus wie aus Granit gehauen. Sven sah im Vergleich dazu wie ein Chorknabe aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Strybjörn bemerkte, dass Ragnar ihn ansah, und erwiderte den Blick aus harten, dunklen Augen. Ragnar fragte sich, ob er wohl noch etwas von ihrer alten Feindschaft empfand. Manchmal, das wusste Ragnar, war es bei ihm selbst so. Sie war nicht völlig verschwunden, obwohl sie sich gegenseitig das Leben gerettet hatten. Sie würden sich weiterhin so gut wie möglich aus dem Weg gehen, wie sie es bereits während des ganzen Unternehmens taten. Lars hatte die Hände zum Gebet gefaltet. Sein Blick war starr in die Ferne gerichtet, und Ragnar fragte sich, was genau er dort eigentlich sah. Wieder eine seiner Visionen? Oder grübelte er lediglich über die Bilder des Tages nach? Von allen Kameraden verstand Ragnar Lars am Wenigsten. Der junge Mann war schon mehrfach von den Runenpriestern getestet worden. Ragnar wusste nicht, worauf. War es möglich, dass sie ihn auffordern würden, sich ihnen anzuschließen, oder hatten die Tests einen ganz anderen Hintergrund?
Sergeant Hakon sah sie alle der Reihe nach an. Ragnar spürte, dass der Veteran sich ein Bild von ihnen machte, sich ein Urteil über ihr Engagement und ihre Zähigkeit zu bilden versuchte. Ragnar fragte sich, ob er sich deswegen beleidigt fühlen sollte. Schließlich hatte er alle Prüfungen bestanden, die abgelegt werden mussten, um sich den Wolfskriegern anzuschließen, und er hatte seine Feuertaufe im Kampf gegen die Kräfte der Finsternis erlebt. Er hatte dem Orden seinen Wert bewiesen. Rasch schob er derartige Gedanken beiseite. Sein ganzes Leben war eine Prüfung und noch dazu eine, bei der er jederzeit durchfallen konnte. Auch der tapferste Krieger konnte allen Mut verlieren und zerbrechen, und bereits ein einziges Mal konnte sich für den Mann wie für seine Kameraden als tödlich erweisen. Hakon schien die Gedanken zu erraten, die Ragnar durch den Kopf gingen, denn er bedachte ihn mit einem kalten Lächeln, um dann den Blick auf die Inquisitoren zu richten. Er sagte kein Wort. Sternberg schien den Blick des Sergeants zu spüren, denn er sah auf. Einen Moment glaubte Ragnar, er werde ebenfalls stumm bleiben, aber dann sagte der Inquisitor: »Wir haben die Ausläufer von Galt Stadt erreicht. Wir nähern uns dem Kern der Ork-Armee.« »Der Talisman ist nicht weit entfernt«, fügte Karah Isaan hinzu. Ihre Stimme klang seltsam hohl wie bei jemandem, der eine Prophezeiung ausspricht oder in Trance ist. »Je näher wir ihm kommen, desto stärker wird die Verbindung. Ich kann den Talisman jetzt sehen und auch seinen Träger. Er ist ein Ork von beängstigender Macht, und er ist das Werkzeug von etwas Größerem. In gewisser Weise ist er der Brennpunkt der Ork-Armee. Er hält sie zusammen. Er spricht für ihre Götter, jedenfalls glaubt er das, und in gewisser Beziehung ist dieser Glaube sogar richtig.« »Wird sich die Horde dann auflösen, wenn wir ihn töten?«, fragte Ragnar. Seine Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. Auf ihre ganz eigene Weise schien auch die Inquisitorin der Brennpunkt von Mächten zu sein, die größer waren als sie selbst. Der Gedanke war nicht ausschließlich beruhigend.
»Ich weiß nicht. Es wäre möglich. Aber zuerst müssten wir ihn töten. Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist.« »Jeder kann getötet werden«, sagte Hakon. »Wenn die Waffe stark genug ist.« »Dieser Ork-Häuptling zapft sowohl die Kräfte des Talismans an als auch die seiner Götter. Er wird nicht leicht sterben. Ich kann von hier aus seine Seele spüren. Sie ist stark und wird nicht ohne einen gewaltigen Kampf in die Leere eingehen.« »Eins nach dem anderen«, sagte Sternberg. »Zuerst müssen wir diesen Ork ausfindig machen, und das bedeutet, dass wir uns durch seine Armee schleichen müssen. Auch das könnte sich als unmöglich erweisen.« »Wir sind eine kleine Truppe«, sagte Hakon. »Wenn wir uns vorsehen und nur bei Nacht marschieren, können wir es schaffen. Die Stadt liegt in Trümmern. Es gibt reichlich Deckung. Wenn wir vorsichtig sind …« »Wäre es nicht besser zu warten, bis die imperialen Streitkräfte mit ihrem Gegenangriff beginnen?«, wagte sich Bruder Tethys vor. Ragnar roch die Angst des Mönchs. Er konnte sie ihm nicht verdenken. Dies war nicht sein Unternehmen. Er hatte sie zum Fluss begleitet und sich als Führer nützlich gemacht, wo er konnte. Wenn das Vordringen zum Kern einer Ork-Armee nicht nach seinem Geschmack war, wer wollte ihm daraus einen Vorwurf machen? »Wir wissen nicht, was passieren wird«, sagte Sternberg. »Natürlich wird das Imperium letzten Endes siegen, aber dieser Sieg könnte für unsere Zwecke zu spät kommen. Wir müssen unabhängig davon handeln.« »Angenommen es gelingt Ihnen, sich einzuschleichen und diesen Ork zu töten. Wie wollen Sie entkommen?«, fragte Bruder Tethys. Keine unvernünftige Frage, fand Ragnar. Er hatte sich schon dasselbe gefragt. »Das hängt von den Umständen ab«, sagte Sternberg. »Im Idealfall können wir die Peilboje für den Teleporter benutzen, um damit
ins Licht der Wahrheit zurückzukehren.« »Im Idealfall?«, fragte Ragnar. »Das Signal könnte durch Kraftfelder oder den Einsatz gewisser Energiegeneratoren gestört werden. In diesem Fall müssten wir für eine Ablenkung sorgen und uns in der daraus entstehenden Verwirrung davonstehlen, bis wir einen Ort finden, wo wir den Teleporter benutzen können.« »Es muss schon eine ziemlich massive Ablenkung sein«, sagte Bruder Tethys. Ragnar hörte den Sarkasmus in seiner Stimme. »Niemand zwingt Sie, uns zu begleiten«, sagte Sternberg kalt. »Sie können jederzeit gehen.« Bruder Tethys starrte den Inquisitor an. »Nein. Ich werde nicht in den Dschungel fliehen. Sie sagen, dass dieser Ork der Brennpunkt der Horde ist, also ist er für den Angriff auf meine Heimatwelt verantwortlich. Wenn Sie ihn töten, will ich dabei sein. Ich will Ihnen helfen. Er hat sich für eine Menge zu verantworten.« Ragnar hörte den unverkennbaren Unterton von Hass in seiner Stimme und nahm dessen stechenden Geruch wahr. Alle Augen des Rudels waren auf den Mönch gerichtet. Ein jeder hatte Hochachtung vor seiner Courage, aber Ragnar war nicht davon überzeugt, dass es eine gute Idee war, ihn mitzunehmen. Er kam zu dem Schluss, seine Vorbehalte besser auszusprechen. »Ich weiß nicht, ob Sie dem gewachsen sind, was wir vorhaben, Bruder Tethys«, sagte er. »Wir sind alle für solche Unternehmen ausgebildet worden. Wir können uns lautlos und unbemerkt einschleichen. Sie nicht.« Auch das war ein berechtigter Einwand. Ragnar hatte Tethys im Dschungel beobachtet. Der Mann war tapfer und konnte kämpfen, aber er war kein Meister des lautlosen Anschleichens. Seine Unbeholfenheit hätte beinahe Streifen der Orks auf sie aufmerksam gemacht, als sie im Hinterhalt gelegen hatten. Zu Ragnars Überraschung lächelte der Mönch nur. »Vielleicht haben Sie Recht«, sagte er. »Aber Galt Stadt ist meine Heimatstadt. Ich kenne mich in den Straßen aus. Ich kenne die Leute
dort. Ich spreche die Sprache, wie es nur ein Eingeborener kann. Ich bin arm geboren und aufgewachsen und habe ein hartes Leben geführt, und ich kenne Orte, wo man sich verstecken kann, ich kenne die Hintergassen und Schleichwege. Sie auch?« Ragnar zuckte die Achseln. »Ich habe lediglich eine Feststellung gemacht«, sagte er. »Und eine zutreffende«, sagte Sternberg. »Aber Bruder Tethys hat Recht. Er hat ein Wissen über diese Stadt, das sich als unschätzbar für uns erweisen könnte. Wir ziehen morgen Abend weiter, und er wird uns begleiten.« Ragnar erklomm den hohen Baum und betrachtete die Stadt durch sein Nachtfernglas. Die Ehrfurcht gebietenden Garganten sprangen ihn förmlich an, als er die Schärfe reguliert hatte. Von seinem Aussichtspunkt, hoch in den Baumwipfeln auf der höchsten Erhebung weit und breit, hatte er einen ungehinderten Ausblick auf die gewaltige Streitmacht der Orks. Er war beeindruckt von ihrer Größe, aber ihre offenkundige Unordnung erfüllte ihn mit Verachtung. Die Orks waren nur ein brodelndes Meer schwer bewaffneter grünhäutiger Krieger mit keiner Vorstellung von Taktik oder Strategie. Er betete zu Russ und zum Imperator, ihm solche Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Es zahlte sich nie aus, den Gegner zu unterschätzen. Die Orks waren eine Rasse von beeindruckenden Kriegern mit einem instinktiven Verständnis für alles, was mit Krieg zu tun hatte. Sie sahen zwar aus wie ein Pöbelhaufen, waren aber zu einem derart schlauen, schnellen und angepassten Vorgehen in der Lage, wie es so manchem General des Imperiums zur Ehre gereicht hätte. Es war so, als hätten sie ein unausgesprochenes Verständnis untereinander, wie es auch bei einem Rudel Wolfskrieger der Fall war. Ragnar fragte sich, wie das wohl funktionieren mochte, und kam dann zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte. Die Lehrmaschinen hatten ihm viele Beispiele orkischer Kriegstüchtigkeit eingetrichtert, und für den Fall, dass das nicht reichte, lag eines direkt vor ihm. Die Orks
hatten eine Welt der Menschen verwüstet und eine befestigte Stadt eingenommen, die von einer imperialen Armee gehalten wurde. Es spielte keine Rolle, dass sie mangelhaft ausgerüstet und schlecht geführt waren. Wären die Orks ein hirnloser Banditenhaufen, hätten sie es niemals geschafft. Nein, er würde sich zwingen, die Orks zu respektieren, wie primitiv und dumm sie ihm auch vorkommen mochten. Er ließ den Blick über die Streitkräfte wandern. Die Orks hatten an vielen Stellen die Mauer durchbrochen und waren offenbar zuversichtlich, die Stadt halten zu können. Nur eine kleine Nachhut war zurückgelassen worden. Eine Unzahl von Gräben und Befestigungen, Geschützstellungen und Treibstoffdepots kündete von der Belagerung. Sie hatten die Stadt mit Schanzen, Minenfeldern und Stacheldraht umgeben, bevor sie sie mit Bomben und Granaten zur Aufgabe gezwungen hatten. Er konnte die gewaltigen Löcher in den Mauern sehen, wo die Artillerie der Orks die Bastionen in Schutt und Asche gelegt hatte, und auch die Lager, wo die Gefangenen untergebracht waren, bis sie zu anderen Welten verschifft wurden, wo sie für ihre neuen Herren Sklavenarbeit verrichten würden. Auf den ersten Blick machte alles einen planlosen Eindruck, aber irgendwie war es effizient. Genau wie die Orks. Ihre Methoden mochten primitiv sein, aber sie funktionierten. Darin lag eine Lehre, dachte Ragnar, wenn er sie denn daraus ziehen wollte. Er betrachtete weiterhin die Mauern und prägte sich Verlauf und Zustand genau ein, sodass er Sergeant Hakon und den Inquisitoren eine Karte ihrer Route in die Stadt zeichnen konnte. Man hatte ihn für diese Aufgabe ausgewählt, weil er die schärfsten Augen hatte, und er würde sie nicht enttäuschen. Mehr als nur sein eigenes Leben hing davon ab. Er machte die Bereiche ausfindig, die kaum bewacht waren. Ihm fielen die leeren Korridore zur Stadt auf. Gab es dort Minenfelder? Er hörte das entfernte Dröhnen von Motoren und fragte sich, ob man ihn gesehen hatte. Er schaute in die Richtung des Lärms und sah ein
paar Staubwolken aufsteigen. Kurz darauf tauchten ein paar OrkBuggys auf, die einen der Korridore entlangrumpelten. Eine Reihe von Schüssen war zu hören, als Fahrer und Passagiere mit ihren Waffen in die Luft schossen. Wollten sie sich gegenseitig angreifen? Hatten sie irgendwelche menschlichen Angreifer entdeckt? Was war da los? Ohne Vorwarnung machte einer der Buggys einen Schlenker und prallte gegen die Seite eines anderen. Der getroffene Buggy wurde zur Seite geschleudert, überschlug sich und krachte dann in die Baracken, in denen die Truppen der Gretchins untergebracht waren. Der Buggy nahm noch ein paar Lagerfeuer mit und ging in Flammen auf. Zwei Orks warfen sich gerade noch rechtzeitig aus ihrem Vehikel, bevor es Augenblicke später explodierte. Sie blieben auf dem Rücken liegen und hielten sich die Seite, und Ragnar fragte sich, ob sie wohl verwundet waren − dann dämmerte ihm, dass sie lachten. Für sie war der Unfall nur ein Spaß. Als ihm das aufging, wurde ihm auch der Zweck der ganzen Übung klar. Die Orks trugen ein Rennen mit diesen Fahrzeugen aus, wie die Wolfskrieger auf Fenris Wettläufe gegeneinander veranstalteten. Ragnar kam es wie Wahnsinn vor, aber andererseits konnte er ohnehin nicht behaupten, die Denkweise dieser grünhäutigen nichtmenschlichen Invasoren zu verstehen. Kopfschüttelnd kletterte er den Baum hinunter und machte Sergeant Hakon Meldung. Mit einem Zweig ritzte er eine Karte in die weiche Erde, welche die wichtigsten Einzelheiten zeigte. Hakon und die Inquisitoren lauschten aufmerksam und machten sich daran, die beste Route in die Stadt auszuarbeiten. Sie waren fest entschlossen, es zu versuchen. Ragnar schaute nach oben, als er einen hellen Lichtblitz am Himmel sah. Es sah aus, als sei ein Stern explodiert. Eine unheimliche Leuchterscheinung breitete sich über den Nachthimmel aus und verschwand dann. »Ein Schiff ist explodiert«, murmelte Sergeant Hakon, und Ragnar
ging plötzlich auf, dass dieses Licht den Tod Tausender Menschen oder Orks verkündet hatte. Dort oben am Himmel und in aller Stille wurde eine Schlacht von unvorstellbarer Wut ausgetragen, und das Licht war der einzige Hinweis darauf. Die Monde schienen klar und hell. Ragnar fluchte innerlich. Die Wolfskrieger mit ihren verstärkten Sinnen kamen sehr gut mit einem Minimum von Licht zurecht. Die verräterischen Trabanten würden es den Wachposten der Orks nur erleichtern, sie auszumachen. Nicht, dass die Orks einen sonderlich wachsamen Eindruck machten, dachte Ragnar, als er in die Deckung des nächsten Baums huschte. Nicht, dass sie Grund dazu gehabt hätten. Wie gefährlich konnten ein paar einsame Menschen, die in die Stadt zu gelangen versuchten, dieser großen Armee schon werden? Ragnar nahm an, dass alle kleinen Gruppen von Menschen, denen die Orks begegneten, sehr wahrscheinlich versuchten, die Stadt zu verlassen und nicht in sie hineinzugelangen. Bei Nacht war das Lager der Orks ein Tollhaus. Er hörte sie etwas grölen, das nach Trinkliedern klang. Er hörte auch das beständige Knattern von Handfeuerwaffen, was lediglich ein Zeichen orkischen Überschwangs war, es sei denn, es handelte sich um das Vorspiel für ein trunkenes Duell zwischen gereizten Kriegern. Die Luft vibrierte vom Dröhnen der Maschinen. Der stechende Geruch von Treibstoff für Verbrennungsmotoren drang ihm in die Nase. Ständig klirrte Metall auf Metall, da die Mechaniker der Orks an Fahrzeugen und Waffen arbeiteten. Sie schienen einen Hang zum beständigen Basteln zu haben und konnten nichts so lassen, wie es war. Er schaute zurück und signalisierte mit hochgerecktem Daumen, dass die Luft rein war. Lars und Strybjörn rannten vorwärts und bezogen hinter ihm Stellung, sodass sie ihm für die nächste Etappe Rückendeckung geben konnten. Nach ihnen kamen die Inquisitoren und Bruder Tethys. Die übrigen Wolfskrieger bildeten die Nachhut. Sie hatten jetzt den Rand des Dschungels erreicht. Ragnars letzter Vorstoß brachte ihn ans Ende der Baumlinie. Vor
ihm lag das riesige Lager der Orks, ein Meer aus Lagerfeuern und schattenhaften Gestalten. Mündungsfeuer erleuchtete die Nacht, da Waffen im Überfluss von ihren achtlosen Besitzern abgefeuert wurden. Er sah mächtige Flammenstrahlen aus dem Auspuff von Fahrzeugen schießen. Einer dieser Buggys parkte ganz in der Nähe. Zwei der massigen Nichtmenschen räkelten sich darauf herum. Einer von ihnen trank etwas aus einer Flasche, das nach reinem Alkohol roch, und reichte sie dann dem anderen Ork. Der grunzte und lachte und leerte sie dann mit einem gewaltigen Zug, bevor er sie verächtlich über die Schulter in den Dschungel warf. Ragnar hatte Glück, dass er nicht getroffen wurde, denn sie fiel nicht weit von ihm zu Boden. Es hatte keinen Sinn. Sie mussten diese beiden Säufer umgehen und einen anderen Weg finden. Das Gebiet hinter ihnen war auf einige Hundert Schritt frei, dann schlossen sich Ruinen an, die ihnen Deckung geben würden. Einer der Orks ließ ein gewaltiges Rülpsen hören und glitt von der Haube des Buggys. Er erhob sich schwankend und torkelte zügig zum Dschungelrand, wobei er seinem Kamerad etwas zugrunzte. Ragnar erstarrte förmlich und fragte sich, ob sie ihn bemerkt hatten. Er glaubte es nicht. Er konnte keine Veränderung in ihrer Witterung wahrnehmen, die auf erhöhte Wachsamkeit hätte schließen lassen. Andererseits kannte er sich mit Orks nicht sonderlich aus, wie sollte er es also mit Sicherheit wissen? Er blieb reglos an Ort und Stelle und fragte sich, was er tun sollte, als der Ork zielsicher sein Versteck ansteuerte. In seinem Verhalten deutete immer noch nichts darauf hin, dass er ihn entdeckt hatte, aber vielleicht war das nur eine List, um ihn einzulullen. Was sollte er tun? Wenn er nach einer Waffe griff, wurde der Ork vielleicht auf die Bewegung aufmerksam, wenn er ihn nicht bereits entdeckt hatte. Wenn er nichts tat, würde er sich gleich einem Gegner gegenübersehen, der um die Hälfte größer und massiger war als er. Der Ork blieb genau vor ihm stehen. Es kam Ragnar unmöglich vor, dass er ihn nicht bemerken würde. Er hörte Knöpfe aufspringen und dann das Plätschern von Wasser, das seine Rüstung bespritzte.
Der Ork stieß ein zufriedenes Grunzen aus und furzte dann laut. Der Gestank war so abscheulich, dass Ragnar unwillkürlich zusammenzuckte. Diese winzige Bewegung musste die Aufmerksamkeit des Orks erregt haben, denn er sah nach unten und dorthin, wo Ragnar kauerte. Seine Augen weiteten sich, und er öffnete den Mund zu einem Warnruf. Ragnar wusste, dass ihm nur ein Herzschlag blieb, um zu handeln. Er sprang den Ork an wie ein Wolf seine Beute. Seine Handkante zuckte vorwärts und zerschmetterte dem Ork die Luftröhre. Die Grünhaut fiel röchelnd zu Boden, da er keine Luft bekam. Ragnar rammte ihm seinen Stiefelabsatz ins Gesicht und spurtete zu dem betrunkenen Kameraden des Orks. Das Wesen glotzte ihn benebelt an und schien nicht zu begreifen, was eigentlich los war. Ragnar warf sich auf den Ork, legte ihm einen Arm um den Hals und drehte. Ein widerliches Knacken ertönte, als Knochen und Knorpel brachen. Ragnars verstärkte Muskeln versetzten ihn in die Lage, dem Ork mit einem gewaltigen Ruck das Genick zu brechen. Die ganze Aktion hatte kaum länger als einen Herzschlag gedauert. Mit einem raschen Rundumblick vergewisserte Ragnar sich, dass keiner der anderen Orks bemerkt hatte, was geschehen war. In der Dunkelheit und bei dem allgemeinen Lärm war das ziemlich unwahrscheinlich, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen. Er sah keinerlei Anzeichen dafür, dass man ihn entdeckt hatte, und atmete tief ein und langsam wieder aus. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass die anderen immer noch am Dschungelrand warteten. Er signalisierte Sven und Strybjörn mit hochgerecktem Daumen und sah sich eingehender um. Nicht weit entfernt stand das Vehikel, an dem die Orks gearbeitet hatten. Rasch nahm ein Plan in seinem Verstand Gestalt an. In der Dunkelheit war es unwahrscheinlich, dass ein Ork sie erkennen würde. Vielleicht konnten sie mit diesem Buggy und als Orks verkleidet durch die Stadt fahren. Auch das war ziemlich gewagt, aber vielleicht
funktionierte es. »Verflucht großartiger Plan«, stichelte Sven. Er hatte einen massiven gehörnten Helm auf dem Kopf und eine grob gefertigte Ork-Weste über seiner Rüstung. Bei hellem Tageslicht wäre es unmöglich gewesen, ihn mit einem Ork zu verwechseln, aber bei Nacht hielten die dummen Rohlinge seine untersetzte, breitschultrige Silhouette vielleicht für einen von ihresgleichen. Ragnar war ähnlich gekleidet. Karah kauerte vorn zwischen ihnen auf dem Boden des Vehikels. Die anderen Space Marines, Inquisitor Sternberg und Bruder Tethys saßen hinten im Buggy. Es war ein Glück, dachte Ragnar, dass in dem großen Wagen so viel Platz war. Er schien dafür gebaut worden zu sein, mindestens zwanzig Passagiere zu befördern. Die Steuerung war rasch gemeistert. Es gab ein großes Lenkrad, ein Pedal zur Beschleunigung, ein anderes zum Bremsen und einen riesigen Hebel, dessen Bewegung Ragnars ganze Kraft erforderte, mit dem man verschiedene Gänge einlegen konnte. Das Armaturenbrett wies lediglich eine Reihe Lampen auf, keine Uhren, Messinstrumente oder gar komplizierte Anzeigen. Das ganze Vehikel hätte auch ein Kind fahren können, dachte Ragnar, wenn auch nur ein riesenhafter, missgestalteter Oger von einem Kind. Ein roter Knopf am Armaturenbrett setzte den Motor in Gang, der brüllte wie ein verwundeter Drache. Der stechende Gestank nach primitivem Brennstoff drang Ragnar in die Nase. Dennoch hatte das Fahren des Vehikels etwas, dachte er, als der Buggy vorwärts ruckte. Er musste beständig gegen den Drang ankämpfen, das Pedal durchzutreten und durch die Straßen zu rasen. Plötzlich verstand er, warum die Orks Rennen damit veranstalteten. In diesem Ungetüm aus gehärtetem Stahl ließ sich der Drang kaum bezähmen. Natürlich nicht, dachte er. Die Orks hatten ihre Fahrzeuge so konzipiert. War der Drang, schnell zu fahren, eine Folge des Fahrens im Buggy oder war der Buggy schlichter Ausdruck der orkischen Vorliebe für Geschwindigkeit? Was war zuerst da, das
Ei oder die Henne? Jedenfalls fühlte sich etwas tief in ihm davon angesprochen, und dabei war er nicht einmal ein Ork. Sie fuhren nahezu unbemerkt durch das riesige Lager ringsherum dem Stadtrand entgegen. Das Vehikel holperte und bebte bei jeder kleinen Unebenheit in der Straße, und doch hatte Ragnar den Eindruck überraschender Bequemlichkeit. Die Federung war gut, offenbar so ausgelegt, dass das Gefährt auch das schwierigste Gelände bewältigen konnte, und sein Sitz war dick mit Leder gepolstert. An einem am Überrollbügel befestigten Riemen baumelten zwei rote Würfel. Ragnar steuerte den Buggy durch eine Bresche im dicken Plastibeton der Stadtmauer. Die ausgebrannten Ruinen uralter Wolkenkratzer ragten vor ihnen auf wie betrunkene Riesen. Es schien kälter zu sein, und doch nahm Ragnar Brandgeruch in der Ferne wahr. Vielleicht kochten die Orks ihr Abendessen, dachte er. Wahrscheinlicher war, dass sie sich gerade irgendwo mit Brandstiftung vergnügten. Geschrei und Gekreisch hallte durch die Nacht. Am Himmel explodierten Raumgranaten, und rote Kondensstreifen kündeten vom Vorbeiflug orkischer Düsenflugzeuge. »Wohin?«, fragte er Karah Isaan. »Fahren Sie einfach weiter geradeaus«, sagte sie zu ihm. »Ich sage Ihnen rechtzeitig, wenn Sie abbiegen müssen.« Sie fuhren weiter durch eine Nacht, die ihnen mehr wie Krieg vorkam. »Mit diesem Helm siehst du aus wie ein verfluchter Trottel, Ragnar«, sagte Sven. »Verglichen mit dir sehe ich wie ein Sagenheld aus«, erwiderte Ragnar. »Aber schließlich siehst du immer wie ein Idiot aus.« »Könnt ihr zwei nicht mal einen Moment mit dem Gezänk aufhören?«, sagte die tiefe Stimme Sergeant Hakons von hinten. Ragnar zuckte zusammen. Es sah dem Sergeant nicht ähnlich, ihnen so über
den Mund zu fahren. Das war ein Zeichen für die Anspannung, unter der sie alle standen. Ausgerechnet in diesem Augenblick tauchte ein orkischer Kriegsbuggy neben ihnen auf. Einer der massigen Grünhäute bellte etwas in seiner unverständlichen Sprache. Er begleitete sein bestialisches Gebrüll mit drohenden Gesten. Panik drohte Ragnar zu überwältigen. Was ging da vor? Waren sie aufgeflogen? Waren diese Orks eine Streife? Er spürte, wie Sven sich versteifte und nach seiner Waffe griff. Ragnars linke Hand schoss vorwärts, umklammerte Svens Handgelenk und hielt seinen Arm fest. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, eine Schießerei anzufangen. Er duckte sich tief hinter das Steuer in der Hoffnung, dass die Orks ihn nicht erkennen würden. Die Orks grunzten und bellten weiter und machten obszöne Gesten. Sie ließen den Motor ihres Buggys aufheulen und richteten ihre Waffen in die Luft. Schüsse hallten, und Kugeln flogen himmelwärts. Ragnar schüttelte verwirrt den Kopf. Er begriff nicht, was los war. Der große Ork hinter dem Lenkrad bombardierte sie mit einem Schwall von unverständlichem Kauderwelsch. Der Blick aus seinen roten Augen bohrte sich herausfordernd in Ragnars. Sogar aus dieser Entfernung und trotz des durchdringenden Gestanks nach Abgasen konnte er den Alkohol in seinem Atem riechen. War das eine Warnung oder eine Herausforderung? Er wünschte, er hätte ihre Sprache verstanden. Aber das war ein sinnloser Wunsch. Es war offensichtlich, dass die Orks immer wütender wurden. Ihr Gebrüll wurde lauter, ihr Gestikulieren hektischer. Sie ballerten weiterhin mit ihren Gewehren herum. Einer von ihnen machte eine obszöne Geste, und ihr Buggy schoss vorwärts und überholte Ragnar, als wolle er sich unbedingt vor ihn setzen, und wurde dann wieder langsamer. Plötzlich verstand er: Sie wollten ein Rennen! Sie hatten ihn herausgefordert. Er musste eine rasche Entscheidung treffen. Was sollte er tun? Sollte er ein Rennen gegen sie fahren oder die Herausforderung ablehnen? Womit würden sie mehr auffallen? Diese Rennen
schienen ein weit verbreiteter Sport unter den Orks zu sein. War es möglich, dass sie sich beleidigt fühlten, wenn er ablehnte, und einen Kampf anfingen? Er wusste es nicht. Es war möglich, und er wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf sich und seine Kameraden lenken. Instinktiv trat er das Gaspedal durch. Die Orks in dem anderen Buggy reagierten darauf mit höhnischem Gebrüll und weiteren obszönen Gesten. Jetzt fühlte er sich beleidigt. Er wollte diesen Rohlingen zeigen, wer der Beste war. Kein Wolfskrieger würde zulassen, dass ein Haufen grünhäutiger Schwachsinniger auf ihn herabsah! Einem Teil von ihm war völlig klar, wie albern er sich benahm. Aber irgendetwas zwang ihn, das Rennen fortzusetzen. Die Gebäude flogen vorbei. Geschrei und Gebrüll hallte durch die Nacht. Er konnte orkische Gesichter in der Düsternis vorbeihuschen sehen. Auf dem Buggy vor ihnen hatte sich einer der Orks hinten aufgerichtet. Er zog sich die Hose herunter und wackelte mit seinem nackten Hinterteil. Es war kein ansprechender Anblick. »Ich würde ihm gern eine Boltpatrone in den Arsch jagen!«, brummte Sven. Ragnar verstand. Der grobschlächtige Humor des Orks war eine Beleidigung. Er rammte den Ganghebel nach vorn, und der Motor heulte auf. Der Buggy holperte über die unebene Straße. Der Wind peitschte sein Gesicht. Durchsichtige Membranen legten sich über seine Augäpfel, um sie vor dem Fahrtwind zu schützen. Ihre Geschwindigkeit wurde größer, je weiter er den Hebel nach vorn schob. Sein Herz schlug vor Aufregung schneller. Sie holten auf. Plötzlich ertönte hinter ihnen noch mehr Gebrüll. Ragnar riskierte einen Blick über die Schulter. Noch mehr Buggys beteiligten sich an dem Rennen. Was hatte er nur angefangen? Jetzt waren mehrere der primitiven Flitzer hinter ihnen. Es waren massige Fahrzeuge, barbarisch bemalt, mit Stacheln verziert und mit klobiger Ork-Schrift bedeckt. Verzerrte Ork-Gesichter grinsten ihn höhnisch hinter ihren Armaturen an. Ihm war völlig klar, dass es jetzt
kein Zurück mehr für sie gab. »Pass auf!«, hörte er Sven rufen. Ragnar fuhr herum. Nicht weit vor ihnen versperrte das Wrack eines riesigen orkischen Transporters die Straße. Schnell riss er das Lenkrad nach rechts. Die Reifen quietschten, als das Vehikel reagierte. Die jähe Bewegung schleuderte Ragnar auf seinem Sitz herum. Er spürte einen weiteren Schlag, als der Buggy über ein Hindernis fuhr. »Das wird ihn lehren, uns seinen nackten Arsch zu zeigen!«, brüllte Sven. Ragnar schloss daraus, dass der Ork von seinem Buggy gefallen und unter ihre Räder geraten war. Als er sich umdrehte, sah er, wie der Ork sich langsam aufrappelte. Vom Scheinwerferlicht der Verfolger erfasst, stand er mit einem albernen Grinsen im Gesicht einen Moment reglos da. Dann rammte ihn der erste Verfolger mit einem grässlichen Knirschen. »Und das ist das Ende der Geschichte«, sagte Sven mit einem bösen Grinsen. Ragnar fragte sich, ob er Recht hatte. Es war durchaus möglich, dass er auch den Zusammenstoß mit einem weiteren Buggy aushielt. Andererseits kam es ihm unwahrscheinlich vor, dass irgendein Lebewesen es überstehen konnte, von der Prozession der Buggys überfahren zu werden, die sie verfolgten. Dann war es zu spät, sich über derartige Dinge Gedanken zu machen. Der überfahrene Ork war bereits weit hinter ihnen. Die Straße mündete in eine Kreuzung. Von links und rechts kreuzten ständig Fahrzeuge der Orks ohne erkennbare Ordnung. Der Führende ihres Rennens schlängelte sich hindurch, was mehrere notgedrungen zu waghalsigen Brems- und Ausweichmanövern veranlasste. Funken flogen, Metall knirschte, als Fahrzeuge zusammenstießen. Orks schüttelten die Fäuste, und mehrere griffen zu ihren Waffen. »Wessen schlaue Idee war das?«, fragte Sven. »Ihre«, sagte Ragnar, indem er auf die Orks vor ihnen zeigte. Er riss das Lenkrad herum und konnte gerade noch einen Zusammenstoß mit dem Vehikel vermeiden. »Halt die Augen nach einem
Ausweg offen«, sagte er zu Sven. »Such eine Seitenstraße ohne Verkehr.« »Da kann ich lange suchen«, sagte Sven. »In der Stadt wimmelt es von grünhäutigem Abschaum.« »Tu einfach dein Bestes!« »Das tue ich, verflucht noch mal, immer!«, sagte Sven. Hinter ihnen ertönte das Krachen und Bersten einer furchtbaren Massenkarambolage. Ragnar ging davon aus, dass für die meisten Orks das Rennen vorbei war. Mehrere der Orks voraus schnitten ihnen Fratzen. Die Entfernung zwischen den beiden Fahrzeugen verringerte sich. Ragnar holte langsam auf − und die Straße vor ihnen war frei. Da er die Gelegenheit nutzen wollte, schob Ragnar den Ganghebel nach vorn in die letzte Arretierung. Der Buggy flog förmlich vorwärts. Ein Hochgefühl erfüllte Ragnar. Er würde sie sich schnappen. Zehn Schritte trennten sie jetzt noch. Ragnar konnte jede Einzelheit des Vehikels voraus erkennen, jede Niete und jeden Bolzen auf den Metallplatten ausmachen. Er konnte sogar die Orks riechen. Der Nachtwind blies ihm ihre Witterung in die Nase. Er würde sich nie überwinden können, diesen Gestank zu ertragen. »Wir holen auf«, sagte Sven. »Dir entgeht wirklich nichts«, sagte Ragnar. Er lehnte sich gegen den Ganghebel, obwohl er ihn nicht weiter vorschieben konnte, und feuerte den Buggy unwillkürlich in Gedanken an. Jetzt waren es nur noch fünf Schritt Rückstand. Die Orks streckten ihren Verfolgern lange schwarze Zungen heraus. Sie steckten sich die Finger in die Ohren und verzerrten ihre Gesichter zu obszönen Grimassen. Ein oder zwei von ihnen schwangen Waffen. Ragnar fragte sich, ob sie tatsächlich schießen würden, oder ob sie nur posierten. Mit der freien Hand griff er nach seiner Boltpistole. »Verfluchte Hölle!«, tobte Sven. »Sind sie auf einen Kampf aus? Wenn ja, werden wir ihnen, verdammt noch mal, einen liefern.«
»Du bist immer bereit zu einem Kampf, Sven«, sagte Ragnar. Trotzdem war er froh, dass Sven da war. Wenn es zu einem Kampf kam, konnte er sich keinen Besseren vorstellen, den er neben sich haben wollte. Sie waren jetzt fast neben den Orks. Er fragte sich, ob sie wohl bemerken würden, dass sie Menschen waren. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er hatte den Verdacht, dass sie sich in dieser Situation ihren Artgenossen gegenüber ebenso feindselig verhalten würden. Als sie sich neben den Buggy der Orks setzten, riss der Fahrer am Lenkrad. Der Buggy prallte gegen Ragnars Vehikel. Metall kreischte und Funken flogen, als die beiden Fahrzeuge zusammenstießen. Wieder wurde Ragnar auf seinem Sitz herumgeschleudert. Er hatte alle Mühe, ihren Buggy auf Kurs zu halten. Auf dem Boden zwischen ihnen stieß Karah Isaan einen spitzen Schreckensschrei aus. »Tu irgendwas!«, kreischte Sven. »Du sitzt am Steuer!« Das Spiel konnten auch zwei spielen. Ragnar riss sein Lenkrad herum und rammte den Buggy des Orks. Beim Zusammenprall der beiden Fahrzeuge dröhnte es, als habe eine riesige Glocke geschlagen. Ragnar hatte das Gefühl, die Hand ausstrecken und den Ork neben dem Fahrer in dem anderen Buggy anfassen zu können. Nicht, dass er es gewollt hätte. Plötzlich ging ihm auf, dass ihn zwei rote Augen anfunkelten. Ein Ausdruck der Überraschung huschte über das Gesicht des Orks. Er wusste, dass der Ork in diesem Augenblick ihre Maskerade durchschaut hatte. Sven hatte dies offenbar ebenfalls bemerkt. Er hob seine Pistole und jagte dem Ork eine Boltpatrone ins Auge. Sein Kopf explodierte. Die Patrone durchschlug den Schädel und bohrte sich in den Hals des Fahrers, der nach vorn auf das Lenkrad fiel. Der Buggy schlingerte zur Seite, prallte gegen eine niedrige Mauer und überschlug sich. Er rutschte weiter, während vom gepeinigten Metall des Überrollbügels Funken sprühten. Aus dem Vehikel war das Gebrüll und Gekreisch der darin eingesperrten Orks zu hören. Der Buggy prallte gegen eine Mauer. Ein Feuerball dehnte sich aus, als das Vehikel in Flammen
aufging. Die Explosion sandte Splitter und Scherben in alle Richtungen. Ragnar schaute sich um in der Hoffnung, dass es keine Überlebenden gab. Er sah nichts und niemanden aus dem Wrack kriechen. Hinter ihnen schlingerten andere Ork-Buggys wild hin und her, um dem brennenden Wrack auszuweichen. »Das war knapp«, sagte Sven. »Ich glaube, sie haben uns erkannt.« »Was du nicht sagst. Und ich dachte schon, sie hätten uns nur nicht leiden können.« Sven lächelte gemein und schaute sich um. »In dieser Gegend hier gibt es keinen Mangel an Orks«, sagte er. Ragnar war gezwungen zuzustimmen. Er holte tief Luft, murmelte ein Dankgebet an den Imperator und atmete aus. Unter Berücksichtigung aller Umstände war er überraschend gelassen. Und es gab eine Menge Umstände zu berücksichtigen. Er fuhr in einem unvertrauten Vehikel durch eine Stadt, die er nicht kannte, und war von tödlichen Feinden umringt. Den meisten hätte das zu denken gegeben. Aber er gehörte zu den Space Marines, für die derart seltsame Erfahrungen fast etwas Alltägliches waren. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, die mit Gebäudetrümmern und den Wracks ausgebrannter Fahrzeuge verstopft war. Plötzlich war er froh darüber, dass die Steuerung des orkischen Fahrzeugs so simpel war. Er schauderte, als er sich vorstellte, was wohl passiert wäre, wenn er es mit einem Fahrzeug vom Kaliber eines imperialen Rhino zu tun gehabt hätte. Hinter ihnen waren zwei weitere Ork-Buggys in das Wrack des ersten gerast. Treibstoff hatte sich entzündet, und eine Flammenwand sperrte die Straße. Einer nach dem anderen rasten jetzt weitere OrkBuggys durch die Flammen. Ragnar sah, dass einer einen Feuerschweif hinter sich herzog, der ihn an einen Kometen erinnerte. Er grinste Sven an. Die Jagd ging weiter. »Ich hoffe, ihr haltet da hinten eure Waffen bereit«, sagte er.
»Möglicherweise habt ihr bald Gelegenheit, sie zu benutzen.« »Das hoffe ich doch«, hörte er Nils ruhig, aber entschlossen sagen. Ragnar trat ordentlich aufs Gas, und sie rasten weiter durch die Nacht. In der Ferne konnte Ragnar das Dröhnen von Motoren und das Knattern leichter Handfeuerwaffen hören, doch hier schienen sie die Orks vorerst abgehängt zu haben. Er war froh über die Atempause. Die für das Fahren mit derart hoher Geschwindigkeit erforderliche Konzentration hatte ihn ermüdet, obwohl er zugeben musste, dass es aufregend war. Zumindest hatte das Rennen sie in die richtige Richtung geführt, ihrem Ziel entgegen. Sie hatten das Vehikel in den Ruinen einer ausgebrannten Garage verborgen. Jetzt hatten sie sich darin ausgestreckt. Den geröteten Gesichtern seiner Kameraden entnahm Ragnar, dass sie seine Hochstimmung teilten. Sie waren ebenso erregt gewesen wie er. Oder jedenfalls fast. »Was machen wir jetzt?«, fragte er Inquisitorin Isaan. »Wir warten hier«, sagte sie. »Wir sollten alle etwas schlafen.« »Das ist nicht sonderlich aufregend«, sagte Sven. »Ich würde meinen, Sie hatten genug Aufregung für eine Nacht«, entgegnete Karah. »Sven kann nie genug Aufregung bekommen«, sagte Nils. »Jedenfalls nicht, wenn ihr Brüder dabei seid«, bemerkte Sven. »Kommen wir diesem Ork-Häuptling eigentlich näher?«, fragte Ragnar. »Ja«, sagte Karah. »Ich kann seine Ausstrahlung jetzt spüren. Sie ist wie ein Leuchtfeuer in meinem Bewusstsein.« Ragnar sah sich um. Er war nicht müde. Er glaubte auch nicht, dass die anderen Space Marines müde waren. Aber Sternberg, Isaan und Bruder Tethys waren nur Menschen und brauchten ihren Schlaf. Ragnar saß für sich und starrte in die Dunkelheit. Überall rings-
umher konnte er die Ausstrahlung seiner Schlachtbrüder spüren. Ihre bloße Anwesenheit beruhigte ihn bereits. Das war Teil des Rudelinstinkts, den er mit allen Wolfskriegern gemeinsam hatte. Alle Wolfskrieger waren eigene Wege gegangen, um nachzudenken und zu meditieren. Ragnar genoss das Alleinsein ebenso sehr wie die Anwesenheit seiner Freunde, aber es war gut zu wissen, dass sie in der Nähe waren. Am Himmel funkelten unbekannte Sterne. Ragnar schaute voller Staunen zu ihnen empor. Wie weit war er von zu Hause entfernt? Welche riesige Entfernung hatte er zurückgelegt? Würde er Fenris je wiedersehen? Er wusste es nicht. Und in diesem Augenblick war es ihm auch egal. Er war glücklich und zufrieden damit, einfach hier und am Leben zu sein und diese Aussicht zu genießen. Er lächelte, als er die Ruinen der Wolkenkratzer betrachtete. Auf Fenris gab es nichts dergleichen. Ihre Wuchtigkeit erinnerte ihn an Berge, aber diese Berge waren von Menschen errichtet worden. Und dann von den Orks zerstört, mahnte er sich. Er atmete tief und sog all die unvertrauten Witterungen ein. Sogar die Luft roch hier anders. Natürlich war da der Gestank nach Maschinen und nach den Orks selbst. Er war überall. Aber unter alledem lag ein anderer, fremdartiger Geruch, nach Fabriken, industrieller Verschmutzung, großen Hochöfen und all den Dingen, die sie einst produziert hatten. Es war erstaunlich, sich vorzustellen, dass all diese Dinge von Menschenhand erschaffen worden waren. Er starrte in die Dunkelheit auf der Suche nach einer Bewegung, nach einer Silhouette, die ihm verraten würde, dass sich ein verborgener Feind anschlich. Einen Feind würde er viel eher hören oder riechen anstatt sehen, aber nichtsdestoweniger zwang ihn die Macht der Gewohnheit, sich auf seine Augen zu verlassen. Er hatte sich in den letzten paar Monaten sehr verändert. Er betrachtete seine verstärkten Sinne schon beinahe als Selbstverständlichkeit. Ragnar schloss die Augen. Er lauschte sorgfältig mit der Konzen-
tration, die nur ein Wolfskrieger aufzubringen vermochte. Er konnte das Atmen der Menschen in der Garage hören, die leisen, verstohlenen Bewegungen seiner Kameraden. Er konnte das entfernte Krachen abgefeuerter Waffen und das Herumhuschen kleiner Nager in den Ruinen hören. Aber er konnte absolut nichts hören, das auch nur im Entferntesten bedrohlich war. Er atmete tief und witterte. In der Nähe nahm er nur den vertrauten, beruhigenden Geruch seiner Schlachtbrüder und denjenigen der Menschen in ihrer Begleitung wahr. Weiter weg roch er Tiere und Vögel und den Gestank der Abwässer aus der zerstörten Kanalisation. Auch hier nichts Bedrohliches. Er richtete seine Konzentration nach innen und kommunizierte mit sich selbst, wie man es ihn im Reißzahn gelehrt hatte. Es war wie ein Blick in eine riesige, unbekannte Höhle. Die Lehrmaschinen hatten ihm so viel Wissen eingetrichtert, dass er noch keine Zeit gehabt hatte, es zu verdauen. Es war, als habe er eine ganze Bibliothek in sich, die er noch nicht gelesen hatte. Er wusste, dass dort irgendwo auch die gesamte Geschichte seines Ordens und alle technischen Details seiner Waffen und Ausrüstung sowie endlose Wissensschätze warteten, die er vielleicht niemals brauchen würde, seine Lehrer aber für wichtig hielten. Er wurde sich seiner selbst als kleiner Lichtfunke in diesem großen, dunklen Gefilde gewahr. Und irgendwo dort draußen spürte er auch noch etwas anderes lauern, die Bestie, sein Seelenschatten, das Ungeheuer, das in ihm wartete. Es ängstigte ihn nicht mehr so, wie es das früher einmal getan hatte. Und doch konnte er sich nicht damit abfinden. Er wusste, dass es da war. Er spürte es, wie er die Anwesenheit seiner Kameraden ganz in der Nähe spürte. Es war wirklich und wahrhaftig, so wirklich wie der Staub unter seinen Füßen oder die Rüstung, die seinen Körper umschloss. Doch es wäre ein Fehler gewesen, es sich als ein unabhängiges Wesen vorzustellen. Es war Teil von ihm, so wie er selbst auch Teil des Ungeheuers war. Jetzt, in diesem Augenblick, hatte er die Herr-
schaft. Er war der Gebieter. Und es war schwer zu glauben, dass es je anders sein konnte. Aber er wusste, dass es nicht so war. Die Bestie kam in Augenblicken großer Anspannung zum Vorschein und übernahm die Herrschaft über seinen Körper. Es hatte eine Zeit gegeben, als er es erschreckend fand, dass er nicht der alleinige Herrscher über seinen eigenen Körper war. Jetzt war es ein Gedanke, an den er sich gewöhnt hatte, wie er sich auch an so viele andere Dinge im Zusammenhang mit seiner Verwandlung in einen Space Marine gewöhnt hatte. Er wusste von den älteren Kriegern, dass er mit der Zeit ebenso seinen Frieden mit der Bestie in sich schließen würde, wie sie es getan hatten. Im Augenblick wollte er schlicht ihre Gegenwart spüren, wollte wissen, dass sie da war, wenn er sie brauchte. Es war so, als habe er noch einen Verbündeten, unsichtbar, aber doch vorhanden. Er fragte sich, ob seine Schlachtbrüder ebenso empfanden oder jeder von ihnen anders über die Bestie dachte. Das war jedenfalls etwas, worüber sie nicht redeten. Er registrierte eine Bewegung innerhalb der Garage. Die Veränderung in ihrem Geruch verriet ihm, dass Karah Isaan erwachte. Seine Nackenhaare richteten sich auf, als er noch etwas anderes spürte: Sie benutzte ihre Kräfte. Ihm kam der Gedanke, dass sie sich auf ihre Art ebenso von normalen Menschen abhob wie er. Wie es wohl war, über solche Kräfte zu gebieten? Es musste eine Person verändern, überlegte Ragnar. Und es musste die Art verändern, wie andere Leute einen betrachteten. Er dachte an seine eigene Reaktion an dem Tag, als er sie kennen gelernt hatte. Hatte er so ablehnend reagiert, weil sie eine Inquisitorin war − oder weil sie ein Psyker war? Er wusste es nicht, aber ihre Kräfte ängstigten ihn. Sie erinnerten ihn an Zauberei, an die Hexenkünste, über die man sich in seinem Heimatdorf nur im Flüsterton unterhielt. Und was tat sie jetzt? Wirkte sie irgendeinen Zauber? War es möglich, dass irgendein Dämon kam und Besitz von ihr
ergriff? Das tief in seinem Verstand vergrabene Wissen verriet ihm, dass dies eine Möglichkeit war. In diesem Augenblick gab es nichts, was er diesbezüglich unternehmen konnte. Sie war ein Kamerad und gehörte diesem Unternehmen an. Wenn sie sich gegen sie wandte, würde er sie töten. Er hoffte, dass dies nicht erforderlich sein würde. Seine nachdenkliche Stimmung war vergangen. Jetzt wollte er handeln oder schlafen, aber nicht allein sein mit seinen Gedanken. Was hatte diese Frau an sich, das seine Seele so durcheinander brachte? Hing es damit zusammen, dass sie ein Psyker war? Oder war es etwas anderes, etwas Ursprünglicheres? Er starrte zu den entfernten Sternen empor. Der Morgen schien noch weit weg zu sein. Die Sonne brannte auf die Ruinen Galts nieder. Ragnar musterte den Horizont auf der Suche nach einem Anzeichen für Gefahr. Am Tag war die Rauchglocke über der Stadt deutlich zu sehen. Aus weiter Ferne hallte der Donner schwerer Geschütze, da die Orks ihre wahnsinnige Zerstörung fortsetzten. Anscheinend konnte nichts ihren Appetit stillen, alles in Schutt und Asche zu legen. Sie würden erst zufrieden sein, wenn zunächst die ganze Stadt und dann die ganze Welt ein einziger Trümmerhaufen war. Über so einen Feind nachzudenken war selbst für einen Space Marine wie Ragnar beängstigend. »Bald wird es Nacht«, sagte Sven neben ihm. »Dann können wir aufbrechen.« »Ich freue mich schon darauf«, sagte Nils von der anderen Seite. »Dieses Herumschleichen in Ruinen deprimiert mich.« »Und ich habe immer noch nichts Anständiges zu essen gefunden, verflucht«, sagte Sven. »Heute Morgen habe ich eine Ratte gefangen und das kleine Miststück kaum heruntergebracht.« »Sieht dir ähnlich, sie nicht mit uns zu teilen«, sagte Nils. »Ich hätte auch ein schönes Stück gebratenes Fleisch vertragen können.« »Sie war nicht gebraten. Sie war noch am Leben.«
Die übrigen Blutkrallen sahen Sven angewidert an. »Mag das sein, wie es will«, sagte Sergeant Hakon. Sie drehten sich um; er schritt mit Inquisitorin Isaan und Bruder Tethys im Schlepptau vorsichtig über die Trümmer zu ihnen. »Vergewissert euch, dass eure Waffen bereit sind. Es sieht so aus, als könnte es heute Nacht heiß hergehen.« »Ich weiß, wo der Häuptling ist«, sagte Karah Isaan. »Er ist gar nicht weit von hier entfernt. Er hat ein großes Gebäude mit Blick über den großen Platz in der Stadtmitte bezogen. Ich kann es vor meinem geistigen Auge deutlich sehen.« »Höchstwahrscheinlich der Amtssitz des Gouverneurs«, sagte Bruder Tethys. »Es ist das größte Gebäude in der Stadtmitte und würde die Ork-Mentalität ansprechen. Das Haus ist praktisch eine Festung. Wie wollen wir reinkommen?« »Wir fahren einfach vor und bitten sie, uns durchzulassen, richtig?«, sagte Sven sarkastisch. »Genau das werden wir tun«, sagte Karah. Die Monde schienen am nächtlichen Himmel. Das Todesflackern explodierender Raumschiffe erleuchtete das dunkle Firmament. Überall ringsumher war die Ork-Horde mit Krakeelen, Schlägereien und Trinken beschäftigt. Waffen wurden abgefeuert. Abgebrochene Flaschenhälse wurden in Ork-Gesichter gestoßen, während Zuschauer lachten. Ragnar sah sich wachsam um. Seine Maskerade kam ihm ziemlich dürftig vor. Sie hatten das Verdeck des Buggys etwas heruntergezogen, sodass es ihre Gesichter verbarg. Wiederum trugen Sven und er OrkRüstungen. Die anderen verbargen sich hinten im Buggy. »Das ist der dämlichste Plan, den ich je gehört habe«, murmelte Sven. »Wie konnte ich mich bloß von dir dazu überreden lassen?« »Ich dachte, er würde dir gefallen, weil er so dämlich ist«, erwiderte Ragnar. Aber insgeheim gab er Sven Recht. Er sah nicht, wie sie ihr Vorhaben verwirklichen konnten. Es schien nur eine Frage der
Zeit zu sein, bis sie ein Wachposten anhalten oder irgendwelche betrunkene Orks zu einem neuen Rennen auffordern würden. Trotzdem konnte er jetzt nichts anderes mehr tun, als weiterfahren und zum Imperator beten, dass sich die Dinge gut für sie entwickelten. Sie näherten sich der Stadtmitte und dem großen Platz. Vor ihnen konnte er eine große Statue, vermutlich des Gouverneurs, sehen. Sie war umgestürzt wie ein gefallener Riese und lag jetzt inmitten der Trümmer. Der gewaltige Kopf hatte sich vom Rumpf gelöst und starrte mit steinernen Augen blicklos in den Himmel. Das Regierungsgebäude war das einzige, das am großen Platz noch stand. Bis vor Kurzem war es noch ein beeindruckendes imperiales Bauwerk gewesen. Riesige Gargyle klammerten sich an die vier Ecktürme. Ein monströser Imperiumsadler, mittlerweile verunstaltet, breitete seine zerschmetterten Schwingen über dem Eingang aus. Die Scheinwerfer, die ihn früher angestrahlt hatten, lagen zerborsten unweit des Tors. Lichter brannten in vielen Fenstern, und riesige, mit primitiven Schriftzeichen übersäte Banner hingen aus einigen herab. Hier und da sah Ragnar Ork-Gesichter nach draußen gaffen. Er sah außerdem die Mündungen schwerer Waffen. Das Gebäude war in der Tat eine Festung. »Wie kommen wir hinein?«, fragte er. »Fahren Sie weiter. Biegen Sie am Ende des Platzes ab und fahren Sie zur Rückseite, wo früher die Dienstboteneingänge waren«, sagte Bruder Tethys. Ragnar tat, wie ihm geheißen. Er hielt den Buggy auf einem weiträumigen Platz voller Fahrzeugwracks an. Die Fahrzeuge waren dem Beschuss durch großkalibrige Waffen zum Opfer gefallen. Zwischen einigen von ihnen, wo die Aufräumtrupps sie übersehen hatten, lagen noch Skelette. Ragnar spürte sein Herz rasen. Der Augenblick der Wahrheit war da. Wie würden sie in das Gebäude gelangen? Er stellte den Motor ab, dessen Tuckern verstummte. Der Gestank nach verbranntem Treibstoff ließ nach. Er sah sich um. Auch hier wa-
ren viele Orks. Sie kampierten in provisorischen Unterständen aus Wrackteilen oder in den Wracks selbst. Manche kauerten um Lagerfeuer, wärmten sich die Hände und brieten Essen. Sie sahen barbarisch aus, wie monströse Gestalten vom Anbeginn der Zeit, so wild und grimmig wie der wildeste und grimmigste Wolfskrieger, und sie waren viel zahlreicher. »Was nun?«, fragte Ragnar. »Passen Sie auf!«, sagte Karah. Sie machte eine Geste in Richtung der nächsten Orks, und Ragnar spürte eine Energiewelle von ihr ausgehen. Er registrierte die jähe Wachsamkeit seiner Schlachtbrüder, als sie dasselbe spürten. Das Rudel fühlte sich unbehaglich, das war unverkennbar. Die Orks drehten sich um und schauten in ihre Richtung. Instinktiv tastete Ragnars Hand nach seiner Boltpistole, doch ein Wort von Karah ließ ihn innehalten. Langsam, als täten sie es gegen ihren Willen, kamen die Orks zu ihnen geschlendert. Sie sahen ein wenig verwirrt aus. Karah sagte etwas zu ihnen in der gutturalen Sprache der Orks, und sie nickten. »Verbergen Sie Ihre Waffen«, sagte sie, »und strecken Sie die Hände in die Luft.« »Den Teufel werde ich tun«, sagte Sven. »Bei Russ, tu’s einfach!«, zischte Hakon. »Langsam wird mir ihr Plan klar.« Das galt auch für Ragnar. Offensichtlich hatte sie die Orks unter ihrer geistigen Kontrolle. Sie würden so tun, als seien sie Gefangene, und in das Gebäude marschieren. Wenn es so einfach war, warum hatte sie nicht schon früher davon Gebrauch gemacht? Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Und beeilen Sie sich!«, sagte sie. »Diese Rohlinge haben einen ziemlich starken Willen. Ich kann sie nicht länger als ein paar Minuten kontrollieren.« »Mehr brauchen wir auch nicht, um hineinzukommen«, pflichtete Sternberg bei. Die Spannung wurde nahezu unerträglich in Ragnar, als sie sich
dem Eingang näherten: Würde den orkischen Wachposten nichts Außergewöhnliches auffallen? Ein einziger Fehler genügte, und eine ganze Stadt voller Grünhäute würde über sie herfallen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als sie den Eingang erreichten. Er hauchte ein Gebet und brachte ihn wieder unter Kontrolle. Durch eine Willensanstrengung verringerte er die Schweißabsonderung im Gesicht. Ringsumher taten seine Brüder dasselbe. Die Spannung war derartig greifbar, dass er sich fragte, ob es überhaupt möglich war, dass die Orks sie nicht spürten. Die wachhabenden Orks waren noch massiger als üblich. Riesige Hauer ragten aus der Unterlippe. In ihren Augen funkelte raubtierhafte Wildheit. In ihren gewaltigen Pranken hielten sie die größten und primitivsten Boltwaffen, die Ragnar je gesehen hatte. Trotzdem, dachte er, primitiv hin oder her, ein Schuss daraus würde sein Leben beenden. Sie starrten die Orks in Begleitung von Ragnars Gruppe verächtlich an und bellten etwas. Alles geschah so plötzlich und war so schockierend, dass Ragnar alle Mühe hatte, sich davon abzuhalten, seine Pistole zu ziehen und um sich zu schießen. Ihre »Häscher« bellten etwas zurück. Die Lautstärke war ohrenbetäubend. Allem Anschein nach war Orkisch eine Sprache, die immer und zu allen Zeiten herausgebrüllt werden musste. Er warf einen Blick auf Karah. Sie war blass und schwitzte, und er fragte sich, ob einem der Orks die Anstrengung auffallen würde, die ihr im Gesicht geschrieben stand. Ragnar hoffte, sie würden annehmen, dass die Inquisitorin nur ein verängstigter Mensch war. Was ihre Eskorte auch sagte, es erfüllte seinen Zweck. Die beiden massigen Orks traten beiseite und ließen sie passieren. Sie waren in der Halle und auf dem Weg tiefer ins Innere der Ork-Zitadelle.
NEUN
Das Innere des Gebäudes war von den Orks verwüstet worden. Wohin er auch schaute, erblickte Ragnar zertrümmerte Möbel, verunstaltete Wände, entstellte Gemälde und Schusslöcher. Auch hier waren wieder genügend Beispiele für die Zerstörungswut der Orks zu sehen. Sie schienen Spaß daran zu haben. Es schien ihnen einfach zu gefallen, Dinge kaputtzumachen. Sie drangen tiefer in das Gebäude ein − und je weiter sie kamen, desto blasser und müder sah Inquisitorin Isaan aus. Die Orks wurden immer unruhiger. Ragnar konnte ihre Verwirrung und ihren Zorn riechen. Er spürte, dass sie aus der hypnotischen Trance erwachten, in die Isaan sie versetzt hatte. Seine Hand schloss sich um den Kolben seiner Boltpistole. Wenn es Schwierigkeiten gab, wollte er vorbereitet sein. Karah atmete immer schwerer. Schweißerlen traten auf ihre tätowierte Stirn. Sie stolperte beim Gehen, und ihre Brust hob und senkte sich, als sei sie schnell gelaufen. Sternberg und Hakon schienen ebenfalls zu erkennen, was vorging. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie die Kontrolle verlor. Wortlos nahm jeder von ihnen einen ihrer Arme und half ihr beim Gehen. Die Gruppe erreichte eine Treppe. Sie erklommen sie und drangen noch weiter in das Gebäude vor. Hier gab es weniger Orks und mehr Freiraum. Ragnar spürte, dass die Krise nicht mehr weit war. Die Orks wurden zunehmend wütender. Sie schauten sich verwirrt um. Sie sahen wie Schläfer aus, die aus einem Traum erwachten, was in gewisser Hinsicht eine zutreffende Beschreibung ihres Zustands war. Ragnar stieß eine Tür auf, die in ein verwüstetes Büro führte. Ein rascher Blick verriet ihm, dass es leer war. Er trat ein und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Die benommenen Orks taten es,
wenn auch zögernd und widerwillig. Als alle eingetreten waren, schloss er die Tür. Der Art, wie sich ringsumher seine Schlachtbrüder versteiften, konnte er entnehmen, dass sie spürten, was kam − und dass sie bereit waren. Ragnar versetzte einem Ork einen Handkantenschlag an den Hals. Die ungeschlachte Kreatur stieß ein gurgelndes Röcheln aus und brach zusammen. Einen Wimpernschlag später fielen Ragnars Kameraden über die anderen Orks her. Sekunden später war es vorbei. »Was machen wir jetzt?«, fragte Sven. »Das weiß ich nicht«, gestand Ragnar. Er nahm zur Kenntnis, dass Sergeant Hakon ihn anfunkelte. »Vielleicht lässt du uns in Zukunft rechtzeitig wissen, was du vorhast, Ragnar«, sagte der Sergeant. Die Nackenhaare des Veteranen waren gesträubt. Er benahm sich wie ein alter Wolf, der von einem Jüngeren zum Kampf um die Führung des Rudels herausgefordert worden war. Instinktiv fletschte Ragnar die Zähne. Die beiden starrten einander an, in eine jähe Konfrontation vertieft und blind und taub für alles andere. Ragnar spürte, wie unwillkürlich die Bestie in ihm erwachte. In diesem Augenblick war er bereit, auf den Sergeant loszugehen und zu zerreißen und zu zerfetzen. Und er wusste, dass der Sergeant ihm gegenüber ebenso empfand. Aber Sergeant Hakon war älter und weiser und hatte viel mehr Erfahrung im Umgang mit der Bestie in seinem Innern. Er holte tief Luft und breitete die Hände in einer Geste des Friedens aus, und Ragnar sah, dass er sich sichtlich entspannte. Etwas in der Art des Sergeants entspannte wiederum Ragnar. Er spürte die Wut in sich versickern, als laufe Wasser durch einen Abfluss. »Das werde ich tun«, sagte Ragnar schließlich. »Schreib dir das hinter die Ohren«, sagte Hakon. »Jetzt sind wir also drinnen«, mischte Sternberg sich ein, als interessiere ihn das alles nicht, was sich gerade abgespielt hatte. »Der Talisman kann nicht weit sein.« Er warf einen erwartungsvollen Blick auf Isaan. Die Frau schaute
zu Boden und bekam überhaupt nicht mit, dass alle Anwesenden sie anstarrten. Langsam, wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf erwacht, hob sie den Kopf. Sie sah sich mit matten, scheinbar blinden Augen um. Ragnar spürte, dass ihr Bewusstsein nur langsam zurückkehrte. Es war, als sei es ganz woanders und sehr weit entfernt gewesen. Sie seufzte und sagte dann: »Er ist hier ganz in der Nähe. Der Ork, der ihn trägt, macht Gebrauch von seinen Kräften. Und er ist schrecklich.« Ragnar hörte die Furcht in ihrer Stimme und roch das Entsetzen in ihrer Witterung. Zum ersten Mal fragte er sich, womit sie es eigentlich zu tun bekommen würden. Schweigen senkte sich über sie, als sie über ihre Möglichkeiten nachdachten. Ragnar ging auf, dass keiner von ihnen wirklich geglaubt hatte, sie könnten tatsächlich so weit kommen. Sie improvisierten einen Plan im Angesicht neuer und unvorhersehbarer Umstände. In Gedanken ging er die Hindernisse durch, die noch vor ihnen lagen. Sie befanden sich in einem riesigen, unbekannten Gebäude voller Orks. Sie waren hoffnungslos in der Unterzahl. Sie hatten es mit einem Gegner zu tun, dessen geistige Kräfte eine mächtige Inquisitorin ängstigten und der wahrscheinlich von schwer bewaffneten Leibwachen umgeben war. Ihr einziger Vorteil lag in der Überraschung, in der Tatsache, dass niemand von ihrer Anwesenheit wusste. Sie konnten schnell und unerwartet zuschlagen. Aber wie sollten sie entkommen? Immer vorausgesetzt natürlich, dass sie sich den Talisman überhaupt aneignen konnten. Die Verwirrung in der Witterung seiner Kameraden deutete darauf hin, dass sie alle in denselben Bahnen dachten. »Wir können uns über den Teleporter absetzen«, sagte Sternberg plötzlich. »Aber jemand muss auf das Dach und die Peilboje platzieren.« »Und wenn kein Schiff in Reichweite ist?«, fragte Hakon. »Dann müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen, nicht wahr?«, sagte der Inquisitor. In seiner Stimme lag ein Unterton stäh-
lerner Entschlossenheit. »Nein, dann werden wir, verflucht noch mal, sterben«, sagte Sven. »Jeder muss sterben«, sagte der Inquisitor. »Ja, früher oder später«, schnauzte Sven zurück. »Aber mir persönlich wäre später lieber.« »Das gilt für uns alle«, murmelte Karah aus der Ecke, in der sie zusammengesunken kauerte. »Sven, Strybjörn und Nils: Ihr geht mit der Peilboje aufs Dach«, sagte Sergeant Hakon mit Entschiedenheit. »Ragnar und Lars, ihr begleitet mich und … unsere Gäste.« »Ich protestiere«, knurrte Strybjörn. Ragnar schoss einen mörderischen Blick auf ihn ab. »Warum sollen Lars und … Ragnar den ganzen Ruhm für sich haben?« »Weil es eben so ist«, sagte Sergeant Hakon. »Bruder Tethys, Sie gehen mit ihnen!« »Ja, Sergeant«, sagte der kleine Mönch, wobei er beinahe Haltung annahm. »Wir sollten noch etwas warten«, sagte Inquisitorin Isaan. »Wenn die Orks erst einmal betrunken und schläfrig sind, wird es leichter sein, uns unbemerkt durch dieses Gebäude zu bewegen.« »Ein vernünftiger Vorschlag«, sagte Sergeant Hakon. »Strybjörn, du übernimmst die erste Wache. Ihr anderen ruht euch noch etwas aus, bevor es ernst wird.« Es war mitten in der Nacht. Sie schlichen leise durch die langen, dunklen Flure. Überall ringsumher spürte Ragnar schlafende Orks. Er hörte ihr Schnarchen und roch den Alkohol in ihrem Atem. Die ganze Gruppe bewegte sich mit einer fast unmenschlichen Verstohlenheit. Trotz ihrer klobigen Rüstung bewegten sich die Wolfskrieger selbst für Ragnars scharfe Ohren lautlos, und er bezweifelte, dass ein anderer außer einem Wolfskrieger die Schritte der Inquisitoren hören konnte. Es war dunkel, aber hier und da sah er matten Lichtschein. Diese
Bereiche mussten sie meiden, und sie gaben sich alle erdenkliche Mühe, sie zu umgehen. Ragnar war sich überdeutlich der Tatsache bewusst, dass Karah Isaan genau vor ihm ging. Er schien unnatürlich sensibel für ihre Bewegungen zu sein, aber andererseits hatte er den Verdacht, dass sie das alle waren. Sie war die Einzige von ihnen, die wirklich wusste, wohin sie unterwegs waren. Er konnte die tiefe, düstere Angst spüren, die in ihr wuchs, je weiter sie sich vorwagten und je näher sie ihrem Ziel kamen. Einen Moment später spürte der Wolfskrieger mehr, als dass er sie hörte, OrkStimmen. Fast wie eine Person huschte die ganze Gruppe durch eine Tür in die Deckung eines stillen Raums. Ragnar hielt den Atem an, als ein Trupp von Wachen vorbeimarschierte. Einige beklommene Sekunden verstrichen, bevor auch nur einer von ihnen wieder zu atmen wagte. Sie waren nicht entdeckt worden. Nach zehn weiteren Herzschlägen gingen sie in den Flur zurück und setzten ihren Weg fort, der sie in einen luxuriöseren Teil des Gebäudes führte. Hier waren die Wände noch mit Teppichen behangen, und Statuen standen, obwohl teilweise zerschmettert oder mit Einschusslöchern übersät, immer noch Wache in den Nischen längs der Flure. Nach der Üppigkeit der Einrichtung zu schließen, handelte es sich offenbar um die ehemaligen Gemächer des Gouverneurs. Von weiter vorn war das Gebrüll gutturaler Ork-Stimmen zu hören. Sie näherten sich offenbar der Höhle des Löwen. Ragnar spürte, wie sein Herz wieder schneller zu schlagen anfing. Ein an den Imperator gerichtetes Gebet stellte die Kontrolle wieder her und reduzierte den Schlag seiner beiden Herzen auf Normaltempo. Karah murmelte leise vor sich hin. Ihre Augen waren halb geschlossen, und ihr Kopf war von einem unstet flackernden mattgelben Lichtschein umgeben. Er fragte sich, was sie tat. Wollte sie die Aufmerksamkeit des großen Ork-Zauberers auf sich lenken? War dies ihr lang erwarteter Verrat? Beim Großen Wolf, was ging hier vor? Seine Hand fuhr zum Kolben seiner Pistole, dann fuhr er jäh he-
rum. Vier Orks, vermutlich Wachen, standen in einem überschatteten Durchgang. Die Orks sahen sie geradewegs an, schenkten ihnen aber überhaupt keine Beachtung. Die ungeschlachten Kreaturen betrachteten sie so, als sei es ein alltägliches Vorkommnis, dass eine Gruppe bewaffneter Menschen diskret zwischen ihnen umherschlich. Langsam dämmerte dem Wolfskrieger die Erkenntnis. Die Inquisitorin setzte ihre Kräfte ein, um die Sinne der Orks zu verwirren. Er hatte keine Ahnung, was sie sahen. Vielleicht sahen sie andere Orks, oder vielleicht sahen sie auch gar nichts. Es spielte keine Rolle. Was es auch war, es schützte sie äußerst wirkungsvoll vor ihren Blicken. Wiederum fielen ihm die Schweißperlen auf Karahs Stirn auf und wie erschöpft und blass sie aussah. Ihm ging auf, dass der ständige Einsatz ihrer beträchtlichen psychischen Kräfte ihren mageren Reserven einen furchtbaren Tribut abverlangte. Er fragte sich, wie sie sich wohl halten würde, wenn sie erst dem Häuptling der Orks gegenüberstanden. Sie waren jetzt nur noch zehn Schritte von dem riesigen Eingang entfernt, der unverkennbar ihr Ziel war. Zwei riesige Ork-Krieger flankierten ihn. Sie waren höchstwahrscheinlich die massigsten intelligenten Lebewesen, die Ragnar je gesehen hatte: Mindestens einen Kopf größer als er, waren ihre Arme so dick wie Baumstämme. Ihre ledrigen Fäuste hatten die Größe eines Männerkopfs. Die Waffen in ihren Händen waren primitive Konstruktionen aus Stahl und Holz, hatten aber das Kaliber kleiner Kanonen. Ragnar war aufs Äußerste angespannt, als sie sich ihnen näherten, aber die Wachen schienen weder ihn noch die anderen wahrzunehmen. Der Blick ihrer roten Augen war weiterhin auf eine unbestimmte Stelle jenseits des Eingangs gerichtet. Direkt vor ihm schwankte Karah beim Gehen, als sei sie betrunken. Ragnar stützte sie mit seiner freien Hand. Er spürte, wie sie unter seiner Berührung zitterte. Ihre im matten Licht mitternachtschwarze Haut fühlte sich klamm und kalt an, und er konnte die bis ins Mark reichende Erschöpfung in ihr förmlich mit Händen greifen.
Während er sie stützte, empfand er ein unangenehmes Kribbeln in den Fingern. Er war sich des Kräfteflusses in ihr bewusst und spürte auch die gewaltigen Energiemengen, die sie verließen. Wie wollten sie durch diese Tür gelangen, fragte er sich, ohne dass die Orks es bemerkten? Er spürte, wie die Inquisitorin zitterte, wie sie ein gewaltiger Schauder überlief, und in diesem Augenblick drehte sich einer der Orks um. Der Lichtschein um Isaans Kopf war plötzlich so hell, dass er die Augen blendete. Der Ork drehte sich um und schritt durch die Tür, und sie folgten ihm einfach. Sie fanden sich in einem Raum wieder, der in seiner barbarischen Pracht überwältigend war. Es war, als sei alle in der Stadt gemachte Beute an diesen Ort gebracht worden. Haufen mit juwelenbesetztem Zierrat und Silbermünzen lagen überall zwischen anderen Haufen mit Waffen und Munition. Es handelte sich offensichtlich um eine Anhäufung von Wertgegenständen, die wegen ihres funkelnden Glanzes und ihrer Auffälligkeit ausgewählt worden waren. In der Mitte des Raums räkelte sich ein massiger Ork, der noch größer war als seine Leibwächter, auf dem Thron des Gouverneurs. Im Dämmerlicht hatte seine Haut eine merkwürdig kränkliche gelblich grüne Farbe. In seinen Augen brannte ein ganz eigenes Feuer und ein Schein, bei dem es sich nur um Wahnsinn handeln konnte. Gewaltige Hauer ragten weit über die sabbernde Unterlippe. Das riesige Geschöpf war von einer fast greifbaren Aura der Macht umgeben, die es wie einen Umhang trug. Und auf seinen Knien lag ein funkelndes Juwel, in dem Ragnar sofort den zweiten Teil des Talismans erkannte. Er spürte Sternbergs und Isaans unmittelbare Reaktion und konnte den Gerüchen seiner Schlachtbrüder entnehmen, dass auch sie das Juwel erkannt hatten. Sein bleiches, kränkliches Feuer entsprach demjenigen in den Augen des Orks. Er konnte spüren, dass das Geschöpf auf irgendeine primitive Art Kräfte daraus bezog. Als die Menschen den Raum betraten, geschah etwas Bizarres. Unvermittelt schossen beide Teile des Talismans gleichzeitig einen
Strahl aus reiner psychischer Energie ab. Jedes Juwel leuchtete plötzlich hundertmal heller, und ein komplexes Energienetz bildete sich zwischen ihnen. Von den Facetten der beiden Talismane gebrochen, verteilte sich das Licht über den ganzen Raum. Karah Isaan stöhnte laut und sank auf die Knie. Ragnar spürte eine beherrschende Aura, gegen die sie ankämpfte, bevor diese Aura ihr Bewusstsein unterwerfen konnte. Der Ork sah sie an, fast beiläufig und ganz entschieden ohne Furcht, auf eine bestürzende Weise wie jemand, der gerade unerwarteten, aber nicht unwillkommenen Besuch erhalten hatte. Mit seiner ganzen Art strahlte er ein Selbstvertrauen aus, das einschüchternde Wirkung hatte. Der Ork betrachtete sie und sprach sie in stark akzentbehaftetem, aber verständlichem Gothisch an. »Arummm … Seid gegrüßt, Sterbliche. Ich bin Gurg, Sprecher für Zwei Götter. Ist gut, dass ihr mir Auge von Gork bringt. Passt gut zu Auge von Mork.« Ragnar starrte den massigen Ork verblüfft an. War es möglich, dass dieser Häuptling die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie da waren, und ihnen gestattet hatte, so weit zu kommen? Oder handelte es sich nur um einen überaus geschickten Bluff? Vielleicht war dieses Geschöpf aber auch einfach nur wahnsinnig. Sein Äußeres ließ jedenfalls darauf schließen, dass alle oder auch jede dieser wilden Mutmaßungen zutreffend sei konnten − aber da war diese greifbare Aura einschüchternder Macht, welche den Ork umgab. Verrückt oder nicht, dieses Wesen musste man fürchten, daran hatte Ragnar nicht den geringsten Zweifel. »Gebt her, dann ich verschone euer Leben. Ihr mir großen Dienst erwiesen und mir bringen. Spart mir weite Reise. Har! Har!« Es dauerte einen Augenblick, bis Ragnar erkannte, dass es sich bei dem merkwürdigen Bellen, das durch den Raum hallte, um das Gelächter des Orks handelte. Er glaubte nicht, jemals etwas so Grausames gehört zu haben. Es weckte die Bestie in ihm und bewirkte, dass sich seine Haare sträubten. Eine wilde Wut stieg in ihm auf. Der Ge-
stank nach Ork weckte plötzlich das Verlangen in ihm, zu zerreißen und zu zerfetzen. Es war dasselbe Gefühl wie bei seiner Konfrontation mit Sergeant Hakon, nur hundertfach verstärkt. Überall ringsumher konnte er dieselbe bestialische Wut spüren, die seine Schlachtbrüder überkam. Er spürte ihren Zorn und ihren Drang zuzuschlagen. Nur der grauhaarige alte Sergeant wahrte seine Selbstbeherrschung, aber wie die Zurückhaltung beim Anführer eines Wolfsrudels reichte sie aus, die anderen zu bezähmen, zumindest bis sie sahen, was er tun würde. »Gib uns das Juwel«, sagte Hakon, »dann lassen wir dich am Leben. Widersetz dich uns, dann wirst du mit Sicherheit sterben.« »Hunderttausend Ork-Krieger überall? Ihr sterben.« »Ich sehe keine Krieger!«, konterte Hakon. »Nur diese beiden, und die sehen nutzlos aus.« Gurg hob eine Hand. Grünes Feuer loderte plötzlich in den Tiefen seiner Augen auf. Grüne und gelbe Energien wirbelten aus seinem Teil des Talismans. Die beiden Orks, die den Eingang bewacht hatten, standen plötzlich strammer, und ihr Blick bekam eine neue Klarheit. Sie musterten die Eindringlinge und knurrten vor unterdrückter Wut. Wäre Ragnar etwas anderes gewesen als ein Space Marine, hätte er in diesem Augenblick vielleicht die Bedeutung des Wortes Furcht verstanden. So aber sträubten sich seine Haare, und er fletschte die Zähne in grimmiger Aggressivität, die derjenigen der Orks gleichkam. Neben ihm stolperte Karah Isaan jedoch nach vorn und fiel mit dem Gesicht voran zu Boden. Das Spiel der Energien schien zu viel für sie zu sein. Gurg grunzte seinen Lakaien etwas auf Orkisch zu, und sie traten rasch beiderseits neben seinen Thron, die Waffen bereit. Plötzlich fragte sich Ragnar, was er und seine Brüder eigentlich taten. Waren sie alle plötzlich so verzaubert vom Anblick des Talismans, dass sie jeden Funken gesunden Menschenverstands verloren hatten? Sie hätten die Orks töten müssen, als sie noch Gelegenheit dazu hatten, dann hätte ihnen dieser Häuptling allein gegenübergestanden.
Aber kaum wehrlos, sagte sich Ragnar. Ein Wesen wie Gurg war das niemals, auch ohne die mystischen Kräfte des Artefakts, das er gestohlen hatte. Er hielt seine Boltpistole fest umklammert und war entschlossen zu schießen, wenn die Orks auch nur die geringste Drohgebärde machten, und zwar trotz aller Zurückhaltung, die Sergeant Hakon an den Tag legen mochte. Eine feine Unterströmung in der Witterung des Rudelführers verriet ihm, dass Hakon dies spürte und nicht missbilligte. Nicht zum ersten Mal war Ragnar froh über die fast telepathische Verbindung zwischen den Wolfskriegern. Diese wortlose Kommunikation war in Situationen wie dieser ein gewaltiger Vorteil. Wie auch die verstärkten Sinne, die ihm verrieten, dass sich in diesem Augenblick bereits andere Orks der Kammer näherten und sich die Stahlklammern der Falle langsam schlossen. Hakon schien das ebenfalls zu spüren. »Gib mir den Talisman«, sagte er. »Das ist die letzte Warnung.« »Komm dir holen, Wolfsjunge«, höhnte der Ork-Häuptling. »Mit Vergnügen«, konterte Hakon mit einem leisen Knurren tief aus der Brust. Der Sergeant handelte rasch, aber so schnell er auch war, der Ork war noch schneller. Während Hakons Pistole sich zum Schuss hob, verließ Gurg seinen Thron. Für jemanden mit einer derartigen Körperfülle bewegte er sich mit unglaublicher Behändigkeit, als er sich bückte, um eine der herumliegenden Kettenäxte aufzuheben, um sich dann wieder zu voller Größe aufzurichten, während ihn ein kontinuierlicher Strom Leuchtspurpatronen aus der Boltpistole des Sergeants umtanzte. Plötzlich blieb Gurg einfach stehen und hob die Hände. Er heulte etwas, offenbar eine Anrufung seiner finsteren Götter. Unversehens war er in eine grüne Aura gehüllt, und dann hielten die Boltpatronen des Sergeants im Flug inne und erstarrten wenige Fingerbreit vor der ledrigen grünen Haut des Häuptlings. Das Leuchten des Talismans wurde immer heller. Ragnar spürte die gewaltigen Kräfte, die der Ork anzapfte. Solche Energien für diese Zwecke zu benutzen, dachte er bei sich, war so, als benutze man ein Kettenschwert, um ein paar Äs-
te von einem Baum zu hacken. Die Kräfte des Talismans sollten offenbar einem größeren Zweck dienen, obwohl Ragnar keine Ahnung hatte, was dies für ein Zweck sein mochte. Ein boshaftes Lächeln kräuselte die Lippen des Orks und enthüllte seine gelblichen Hauer. Er gestikulierte, und die Patronen machten kehrt und flogen zurück zu den Wolfskriegern. Hätten sie sich nicht flach auf den Boden geworfen, wären sie getroffen worden. Doch sie alle hatten übermenschlich scharfe Sinne und die dazu passenden Reflexe. Wie ein Mann tauchten sie ab, und die Patronen flogen über sie hinweg. Als er sich kurz umdrehte, sah Ragnar, dass eine Patrone von Sternbergs Rüstung abprallte und sich mehrere andere in die Wand hinter ihnen bohrten. Dann war plötzlich die Hölle los, als Gurgs Leibwächter das Feuer eröffneten und die imperialen Krieger es erwiderten. Ragnar wusste, dass der Kampf kurz sein würde. Bei so viel Feuerkraft und so wenig Deckung würde er es zwangsläufig sein. Mehr als das, für die Space Marines und deren Verbündete musste er es auch sein, denn er spürte das Nahen einer beträchtlichen Anzahl von Orks. Er wälzte sich herum und gab einen Schuss auf einen der Leibwächter ab. Die Boltpatrone durchschlug die schwere Rüstung und bohrte sich in das Fleisch des Orks, bevor sie explodierte. Der Ork wurde zu Boden geschleudert, machte aber Anstalten, sich wieder zu erheben. Ragnar war verblüfft − er konnte ein gewaltiges Loch in der Rüstung und innere Organe aus der offenen Brust baumeln sehen, aber der Ork bewegte sich immer noch. Nicht nur das, er schien auch noch kämpfen zu wollen, denn er schwang seine Waffe zu Ragnar herum. Der warf sich zur Seite, um dem Kugelhagel aus der flammenden Mündung der orkischen Waffe auszuweichen. Ragnar verzagte nicht, obwohl er damit rechnete, jeden Augenblick seine Vorfahren in der Hölle zu begrüßen. Vielmehr blieb er in Bewegung, obwohl er wusste, dass er nicht schnell genug war, um dem Bleihagel auszuweichen, wenn der Ork immer weiterschoss, da er entschlossen war, es wenigstens zu versuchen. Das Schießen hörte
auf. Ein Blick verriet Ragnar, dass ein wohlgezielter Schuss den Kopf des Orks in einen Haufen Brei verwandelt hatte. Er hatte keine Ahnung, welcher von seinen Kameraden ihn gerettet hatte, war aber entschlossen, ihm später dafür zu danken … falls es ein Später gab. Im Moment sah es dafür nicht sonderlich gut aus. Gurg trat ihm entgegen, und seine Haut schien die Patronen abzuweisen, wie Ragnars Rüstung vielleicht Regentropfen abweisen mochte. Er sah unendlich grimmig und entschlossen aus, und die gewaltige Kettenaxt toste wie Donner in seinen Händen. Er führte einen mächtigen Hieb gegen Ragnar, und der Wolfskrieger konnte gerade noch beiseite springen. Bei Russ, war dieses Geschöpf schnell! Ragnar fragte sich, ob seine Schnelligkeit durch die unglaublichen Kräfte des Talismans bewirkt wurde. Dieser Ork war bei Weitem der gefährlichste Gegner, dem Ragnar je im Nahkampf gegenübergestanden war. Der Kampf hatte kaum begonnen, als er sich auch schon eingestand, dass er hoffnungslos unterlegen war und um das nackte Leben kämpfte − aber er war entschlossen, sich nicht kampflos in sein Schicksal zu ergeben. Mit einem raschen Sprung zurück vergrößerte er den Abstand zwischen sich und dem Ork, hob sein Kettenschwert auf und schaltete es mit einem raschen Druck auf die entsprechende Rune ein. Die heilige, jahrhundertealte Waffe erwachte in seiner Hand zu tosendem Leben, und er hob sie, um den nächsten Hieb des Orks zu parieren. Kaum hatte er die Abwehrbewegung begonnen, als er auch schon wusste, dass sie ein Fehler war. So stark er als Wolfskrieger auch war, der Ork war weitaus stärker. Seine Kraft war unnatürlich, auch für einen so offenkundig großen und starken Ork, und Ragnar war sofort klar, dass hier irgendeine übernatürliche Kraft am Werk war. Funken flogen, als ihre beiden Waffen sich berührten, Metall auf Metall knirschte und gezähnte Klingen auf gezähnte Klingen trafen. Ein Geruch nach Ozon und heißem Metall drang Ragnar in die Nase. Der Ork ließ einen weiteren Dampfhammerschlag folgen, und seine Klinge wurde ihm aus den Händen gerissen und flog durch den Raum.
Einen kurzen Augenblick stand Ragnar wehrlos vor dem Anführer der Orks. Gurg grinste gemein und setzte zu einem weiteren Hieb an. In diesem Augenblick sah Ragnar ein Flackern im Augenwinkel. Lars raste an ihm vorbei und warf sich auf Gurg. Ragnar hatte diese Taktik oft bei den Prügeleien fenrisischer Jugendlicher erlebt. Sie war primitiv, aber in diesem Fall erwies sie sich als durchaus wirkungsvoll. Der riesige Ork verlor vorübergehend das Gleichgewicht und taumelte rückwärts. Ragnar stürzte sich sofort ins Getümmel, sprang vorwärts und packte Gurgs dickes Handgelenk mit beiden Händen, bevor er seine Axt auf den armen Lars niedersausen lassen konnte. Der mächtige, mit der Kraft des Talismans aufgeladene Anführer der Orks fegte ihn beiseite wie eine Fliege. Die Wucht des Schlags ließ den Panzer von Ragnars Rüstung knacken und schleuderte ihn durch den Raum, bis er mit entsetzlicher Wucht gegen eine Wand prallte. Er blieb nicht weit von seinem immer noch surrenden Kettenschwert liegen. Wäre die Knochenstruktur seines Kopfes nicht verstärkt, hätte der Aufprall ihm den Schädel zerschmettert. So tanzten Sterne vor seinen Augen, und ihm wurde abwechselnd schwarz und grau vor Augen. Er versuchte, sich aufzurichten, aber er war zu benommen und schwach. Mochte sein Körper im Zuge seiner Verwandlung in einen Wolfskrieger auch noch so viele Veränderungen durchgemacht haben, keine hatte ihn auf einen Kampf mit einem solchen Gegner vorbereiten können. Gurg lachte und hob den Talisman in die Luft. Lars lag vor seinen Füßen und mühte sich, aufzustehen und seine Waffe zu benutzen. Gurg ließ einen seiner mächtigen Stiefel niedersausen und stampfte den Wolfskrieger flach auf den Boden. Ein weiteres Stampfen, und ein widerliches Knacken ertönte, als Lars’ Genick brach. Der Geruch des Todes von einem Angehörigen seines Rudels ließ Ragnar vor Schmerz und Wut aufheulen. Er hatte gerade noch Zeit, sein Kettenschwert aufzuheben, bevor die Bestie vollständig die Herrschaft übernahm. Eine rote Woge berserkerhafter Wut schoss durch sein Be-
wusstsein und ertränkte alle Schmerzen und alle Furcht. In inbrünstigem Verlangen, seinen gefallenen Kamerad zu rächen, ging Ragnar wieder zum Angriff über und schwang sein Kettenschwert mit übermenschlicher Geschwindigkeit und Kraft. Gurg hob seine Axt und wehrte den Hieb ab, aber diesmal war Ragnar auf das Manöver vorbereitet und riss seine Klinge sofort wieder frei. Er ließ einen weiteren Hieb folgen und gleich darauf noch einen. Der Häuptling parierte beide, aber die Wut von Ragnars Angriff schien ihn doch überrumpelt zu haben. Der Wolf drängte den Ork zurück, erst einen Schritt, dann noch einen und noch einen. Hinter sich hörte Ragnar Schüsse, da seine Gefährten versuchten, die sich nähernden Orks mit Boltpatronen zurückzuhalten. Der klare Teil von Ragnars Verstand, jetzt tief in der Bestie vergraben, wusste, dass es bestenfalls eine fragwürdige Hoffnung war. Es konnte ihnen unmöglich gelingen, so viele Orks in Schach zu halten. Es waren einfach zu viele. Er setzte seinen Angriff fort, schlug immer wieder zu und konzentrierte sich nur noch auf sein Verlangen, den grünhäutigen Riesen vor sich zu töten. Aber es war sinnlos. Es hatte jetzt den Anschein, als habe der Ork sich gefangen und auf seinen Gegner eingestellt. Seine Paraden wurden sicherer und flinker, und seine Gegenangriffe zuckten Ragnar wie Blitzstrahlen entgegen. Trotz seiner Geschwindigkeit und Kraft hatte Ragnar immer größere Mühe, sich den Ork vom Leib zu halten. Langsam, Schritt für Schritt, drängte er ihn zuerst die gewonnenen Schritte zurück und dann noch weiter. Ragnar war klar, dass er diesen Kampf nicht überleben würde. Es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis er einen der Angriffe des Orks falsch berechnen oder unter der schieren Wucht seiner Schläge straucheln würde. Jede Hoffnung, er könne es schaffen, sich gegen einen derart mächtigen Gegner zu behaupten, war vollkommen unsinnig. Seine Arme schmerzten bereits. Seine Finger fühlten sich bei jeder Parade an, als würden sie aus den Gelenken gerissen. Schweiß stand auf seiner Stirn, und trotz der unglaublichen Reserven an Zähigkeit
und Ausdauer, die man in seinen umgestalteten Körper eingebaut hatte, atmete er keuchend und stoßweise. Die Luft rasselte durch seine Lunge. Dies war ein unsinniges Unternehmen, entschied er, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Immerhin würde er im Kampf sterben, wie es sich für jeden wahren fenrisischen Krieger gehörte, obwohl es ihn ärgerte, dass er fallen würde, ohne seinen Auftrag erfüllt zu haben. Plötzlich tauchte Sergeant Hakon neben ihm auf und hieb mit seiner Klinge auf Gurg ein. Der Ork lachte, als sei er entzückt, noch einen Feind zum Abschlachten zu haben, und richtete seine Bemühungen auf Hakon. Ragnar wusste, dass der Veteran weitaus erfahrener war als er, dennoch hatte er wenig Mühe zu sehen, dass der Sergeant im Moment kaum mehr tun konnte, als sich der Angriffe des Orks zu erwehren, und in Kürze selbst dazu nicht mehr in der Lage sein würde. Aber wenigstens hatte er Ragnar eine kurze Atempause verschafft, um sich neu konzentrieren und noch einmal alle Kräfte zusammennehmen zu können, bevor er sich wieder ins Getümmel stürzte. Er atmete tief und richtete ein inbrünstiges Stoßgebet an den Imperator und an Leman Russ um Anleitung und Hilfe. Dabei wurde er sich der Veränderung in Karahs Witterung irgendwo hinter sich bewusst, die wieder zu Kräften gekommen zu sein schien. Als er sie den Singsang eines Zauberspruchs in irgendeiner ihm unbekannten Sprache anstimmen hörte, riskierte Ragnar einen raschen Blick. Sie stand da, die Beine weit gespreizt, um einen besseren Stand zu haben, die dunklen Augen glasig und halb geschlossen wie bei den Orks, die sie in Trance versetzt hatte. Ihr Bruchstück des Talismans leuchtete hell in ihrer Hand. Er sah Lichter darin herumwirbeln wie Wasser in einem Strudel. Energie schien dorthin aus dem anderen Talisman in den Händen des Orks abzufließen. Ein erschrockener Ausdruck der Verblüffung huschte über Gurgs unmenschliches Gesicht. Sein Angriff verlor etwas von seiner Wucht. Er sah aus, als trage er plötzlich zwei Kämpfe gleichzeitig aus. Einen auf der psychi-
schen Ebene mit Karah, den anderen auf der physischen mit Ragnar und Hakon. »Was Sie auch tun, Karah, machen Sie weiter!«, rief er, um sich dann zu wünschen, er hätte es nicht getan. Ihm war lediglich gelungen, die Aufmerksamkeit des Orks auf die Inquisitorin zu lenken. Gurg wusste jetzt, dass er sie töten musste, wenn er überleben wollte. Entschlossen, seinen Fehler wiedergutzumachen, ging Ragnar zum Angriff über, um den Ork von ihr fern zu halten. Hakon spürte seine Absicht und verdoppelte seine Bemühungen ebenfalls. Zu zweit ließen sie Hieb um Hieb auf den Ork niedersausen. Wiederum war der Häuptling gezwungen, einen Schritt zurückzuweichen. Ragnar spürte das Anwachsen psychischer Kraft rimgsumher. Lichtwirbel flackerten aus der Richtung der Inquisitorin an ihm vorbei. Sie prallten auf den Talisman in Gurgs Hand. In dem Maße, wie die Ranken aus Licht immer heller wurden, trübte sich das Leuchten des Talismans und auch das Leuchten, das den Häuptling umgab. Anscheinend entzog Karah dem Ork die Kräfte. Gurg wurde schwächer und langsamer. Neue Hoffnung erfüllte Ragnar, und er hieb weiter auf die Grünhaut ein und betete, dessen psychischer Schild möge zusammenbrechen, bevor es dem Rest seiner Leibwache gelang, Sternbergs Sperrfeuer zu durchdringen und ihrem Herrn und Meister zu Hilfe zu eilen. Der Ork knurrte leise und schlug zurück. Die schiere Wildheit des jähen Angriffs überraschte Ragnar, und die Klinge seiner Kettenaxt durchschlug die geborstene Panzerung seines Brustharnischs und ließ eine Welle purer Qual über Ragnar zusammenschlagen. Er rang um sein Bewusstsein, und sein verändertes Nervensystem versuchte die Schmerzüberladung zu lindern. Endorphine und Opiate schossen aus veränderten Drüsen, um ihm dabei zu helfen, die Schmerzen zu ignorieren. Er biss sich auf die Lippen, bis Blut floss, um nicht wie ein verwundetes Tier zu brüllen. Vielmehr hieb er mit seinem Kettenschwert zu und war mehr als verblüfft, als es durch den grünen Lichtschein
drang und tief in das Fleisch des Orks schnitt. Muskeln waren durch den Riss in der Rüstung zu sehen, aber das Blut des Häuptlings schien seltsam widerstrebend zu fließen. Vor Ragnars Augen schloss die Wunde sich mit einem widerlichen Schlürfen. »Bei Russ! Bist du ein Troll?«, rief er auf Fenrisisch. Der Ork würdigte ihn keiner Antwort, sondern führte einen weiteren Hieb gegen ihn, der Ragnar, hätte er getroffen, den Kopf von den Schultern getrennt hätte. Stattdessen schlug die Axt tief in den Boden vor Ragnars Füßen und ließ Plastibetonsplitter in alle Richtungen fliegen. Sergeant Hakon nutzte die Gelegenheit, dem Ork seine Klinge in den Nacken zu schlagen und Sehnen und Adern zu durchtrennen. Doch wiederum wuchsen Haut und Sehnen sofort wieder zusammen, nachdem ihm die Wunde zugefügt worden war. »Ich in Gunst von Gork!«, schrie Gurg. »Und jetzt ihr sterben.« »Es ist die Kraft des Talismans!«, hörte er Karah rufen. »Er hat sich darauf eingestimmt, und jetzt heilt er ihn.« Ragnar duckte sich unter einem weiteren Hieb der gewaltigen Axt hinweg. Die Worte der Inquisitorin hallten durch seine Gedanken. Wenn der Talisman das war, was den Ork unüberwindlich machte, dann sollte er vielleicht versuchen, ihm das Juwel zu entreißen. Im gleichen Augenblick sah er eine Blöße. Er schlug nach der Hand des Orks und traf die Finger, die den Talisman hielten. Anscheinend durchschaute Gurg, was Ragnar vorhatte, und er schloss die Hand um das Juwel im entschlossenen Bemühen, es nicht fallen zu lassen, aber es war zu spät. Seine Finger waren bereits abgetrennt. Das zweite Bruchstück des Talismans von Lykos fiel zu Boden, und die grüne Aura rings um den massigen Ork verblasste. Der Häuptling bückte sich augenblicklich nach dem Juwel, doch Ragnar stieß ihn mit der Ferse in Karahs Richtung und hieb wieder nach Gurg. Diesmal sprang der Ork zurück und entging dadurch der Klinge. Der Häuptling machte sich mit einem raschen Blick ein Bild von der Lage und erkannte, dass er ohne den Talisman keine Chance gegen die zwei Space Marines hatte. Er fuhr herum und lief hinter den
Thron. Ragnar hörte, wie sich eine Tür öffnete und dann zugeschlagen wurde. Obwohl er sich beeilte, den Ork noch abzufangen, wusste er doch, dass er zu spät kam. Er hieb mit seinem Kettenschwert auf die Tür aus Plastibeton ein. Die Klinge jaulte, als sie von der diamantharten Substanz abprallte. Hinter sich hörte er Karah Isaans triumphierenden Schrei: »Ich habe den Talisman. Wir können gehen.« »Ragnar, sammeln! Dafür haben wir keine Zeit. Wir müssen aufs Dach!«, schrie Hakon. Innerlich vor Wut und Enttäuschung bebend, machte Ragnar kehrt. Er sah, dass die anderen sich bereits zum Abrücken vorbereiteten. Karah schwang das Amulett in ihrer Hand. Hakon hievte sich Lars’ Leichnam auf die Schulter. Als er Ragnars besorgten Blick sah, sagte er: »Wir lassen keine Leichen für die Orks zurück, Junge. Wir brauchen seine Gensaat für den Orden.« Er hielt den Leichnam als Schild vor sich und rannte auf den Flur. Boltpatronen schlugen in den Leichnam des armen Lars, als der Sergeant zügig durch den Flur schritt und seine Feinde mit gut gezielten Schüssen tötete. »Ich hoffe nur, die anderen haben die Peilboje justiert«, rief er. Ich auch, dachte Ragnar, während er die Treppe emporeilte. Andernfalls war alles umsonst. Hinter ihnen hörte er die Ork-Horde, die ihnen auf den Fersen war. Ragnar duckte sich unwillkürlich, als eine Boltpatrone seinen Kopf knapp verfehlte. Er drehte sich um und hielt Karah fest, als sie nach vorn stürzte. Er fragte sich kurz, ob sie getroffen war, doch dann sah er, dass sie lediglich erschöpft war. Sie hielt ihm beide Teile des Talismans hin. »Nehmen Sie«, sagte sie. »Ich kann nicht mehr weiter, und sie müssen von hier weggebracht werden.« »Seien Sie nicht albern«, erwiderte er, indem er sich bückte und sie aufhob wie ein Kind. Er legte sie sich über die Schultern und lief weiter. Für ihn schien sie fast nichts zu wiegen. Sie war keine große
Last. »Lassen Sie bloß diese Dinger nicht fallen«, sagte er. »Es wäre die Hölle, wenn wir deswegen noch mal umkehren müssten.« »Ich versuche es mir zu merken«, stichelte sie. Ragnar hörte orkische Kriegsrufe hinter sich. Sie verliehen seinen Füßen auf dem Weg zum Dach Flügel. Sven und die anderen erwarteten sie bereits. Sie hatten Stellung in der Nähe eines großen Luftschachts in der Mitte des Dachs bezogen, der ihnen gute Deckung gab. Ragnar dankte Russ für ihre Voraussicht. Er hatte den Verdacht, dass sie in den nächsten Minuten sämtliche Deckung brauchen würden, die sie bekommen konnten. Sie hatten die Peilboje bereits justiert und eingeschaltet. Die Messingspulen summten, und eine Reihe von Runen huschte über die Anzeige. Ragnar hoffte, dass sie richtig konfiguriert worden war, denn sie stellte ihre einzige Fluchtmöglichkeit dar. Wolfskrieger hin oder her, er glaubte nicht, dass sie eine Auseinandersetzung mit mehreren Tausend Grünhäuten lange überstehen konnten. Ragnar und seine Kameraden gesellten sich rasch zu den Übrigen. Svens mürrischer Miene konnten sie entnehmen, dass etwas nicht stimmte. »Probleme?«, hörte er Sergeant Hakon fragen. »Aye«, erwiderte Sven. »Die Boje sucht nach einem Trägersignal, kann aber keines finden. Wir wissen nicht einmal, ob überhaupt eines unserer Schiffe in Reichweite ist.« »Es ist möglich, dass die Orks das Gebäude mit einem Niedrigenergie-Kraftfeld umgeben haben. Das könnte das Signal stören«, mutmaßte Inquisitor Sternberg, indem er sich mit den Händen durch die grauen Haare fuhr. »Wenn wir freie Frequenzen finden, besteht die Chance, dass wir ein Signal durchbringen. Lassen Sie mich die Kontrollen sehen, mein Junge.« Die Blutkrallen rings um die Boje rührten sich nicht. Sie hatten sich alle erhoben und sahen schweigend Sergeant Hakon an. Sie hatten die Bedeutung der Last auf seiner Schulter erkannt und Lars’ Ge-
ruch entnommen, dass er nicht verwundet, sondern tot war. Ihre eigene Witterung trug ihren Kummer und ihre Besorgnis in Ragnars Nase. Sergeant Hakon schnitt eine Grimasse, bei der er die Zähne zeigte. »Er ist gestorben wie ein wahrer Wolfskrieger. Ich schlage vor, ihr bereitet euch auf ein ähnliches Schicksal vor. Wenn Inquisitor Sternberg diese Boje nicht justieren kann, wird eure Seele noch in der nächsten Stunde den Imperator begrüßen. Jetzt tretet beiseite, und lasst den Mann seine Arbeit tun.« Die Blutkrallen gehorchten, und Sternberg beugte sich rasch über die Boje und machte sich an den Kontrollen zu schaffen. »Entfernen Sie sich nicht weiter als zehn Schritte von mir«, sagte er, während er die Einstellungen veränderte. »Wenn das Schiff uns anpeilen kann, wird es sofort auf unser Notsignal reagieren. Wer sich dann außerhalb der Bojenreichweite befindet, bleibt zurück, und niemand wird daran noch irgendetwas ändern können.« Ragnar trat näher und setzte Karah Isaan sanft auf dem Boden neben ihrem Kollegen ab. Er ging kein Risiko ein, was ihre Sicherheit und vor allem die Sicherheit des Talismans betraf, sagte er sich hastig. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und zog ihre Pistole, ganz offenbar bereit, sich zu verteidigen. Ragnar wandte sich ab und gesellte sich zu seinen Kameraden. Die Wölfe schwärmten aus und verteilten sich so gleichmäßig wie möglich innerhalb der erlaubten Entfernung von der Boje. Ragnar wusste, dass sie alle dasselbe dachten wie er. So dicht beisammen wie jetzt waren sie leichte Beute für eine einzige gut gezielte Granate. Wildes Geheul näherte sich ihnen. Einen Moment später stürzte der erste der orkischen Verfolger aus dem Treppenhaus − um von einer vernichtenden Salve der Wolfskrieger niedergestreckt zu werden. Glücklicherweise konnten immer nur ein paar Orks gleichzeitig aufs Dach. Solange die Munition reichte, konnten sie sie in Schach halten. »Passt auf!«, hörte er Sven in dem Augenblick rufen, als ihm der stechende Gestank nach Ork in die Nase drang. »Sie kommen auch
an der Außenseite des Gebäudes hoch.« »Sie kommen über die Feuerleiter!«, hörte er Tethys rufen. Ragnar hatte keine Ahnung, was er damit meinte. In dem Dorf, wo er aufgewachsen war, hatte kein Haus mehr als ein Stockwerk gehabt, und der Reißzahn war in das Gestein der Berge gehauen. Während er herumfuhr und einen Schuss abgab, dämmerte ihm, dass es sich wahrscheinlich um eine Möglichkeit handelte, das Haus bei einem Brand zu verlassen, falls die Treppenhäuser unbenutzbar waren. Im Augenblick war das vollkommen unwichtig. Wichtig war, dass sich den Orks noch eine Möglichkeit eröffnete, zu ihnen zu gelangen. Schüsse hinter ihm verrieten ihm, dass es einigen Grünhäuten gelungen war, aus dem Treppenhaus auszubrechen. Er drehte sich um und schoss aus der Hüfte, was einem der Orks den Kopf abriss. Sein Hirn bespritzte die anderen Orks, aber sie brüllten nur noch lauter und liefen noch schneller. Das Knattern von Schüssen rechts von ihm verriet ihm, dass einige der Orks am Rande des Dachs neben der Feuerleiter Stellung bezogen hatten und die Wolfskrieger aus der Flanke mit heißem Blei eindeckten. Es sah nicht gut aus und wurde beständig schlimmer. Von unten hörte er Glas splittern und das Tosen von gewaltigen Raketentriebwerken. Plötzlich schossen Dutzende von Orks mit klobigen Raketentornistern auf dem Rücken und ebenso klobigen Boltgewehren in der Hand über die Dachkante. Ragnar nahm einen von ihnen aufs Korn. Seine Patrone bohrte sich in einen Raketentornister. Funken flogen, und der Ork verlor die Herrschaft über die Steuerung, sodass er zuerst in einen seiner Kameraden raste und dann in einen anderen. Das vermittelte Ragnar ein leises Gefühl der Zufriedenheit, aber er wusste, dass er damit das Unvermeidliche nur hinausgezögert hatte. Sie waren zu wenige, um die Massen der Grünhäute in Schach halten zu können. Immer mehr Orks sprangen jetzt über die Leichen ihrer Kameraden im Eingang zum Treppenhaus hinweg. Über ihnen bereiteten sich ein paar von den Orks mit Raketentomistern darauf vor, Granaten auf sie abzuwerfen. Ob es ihnen gefiel oder nicht, al-
lem Anschein nach würden sie weiter ausschwärmen und sich damit aus der Reichweite der Boje entfernen müssen, wenn sie nicht von Granaten zerfetzt werden wollten. Sie wurden von einem Boltpatronenhagel eingedeckt, der einen Teil der Luftschachtverkleidung wegriss. Splitter prallten jaulend von seiner Rüstung ab. Wenn sie hier blieben, würde der Beschuss durch den Feind sie alle umbringen. Ragnar holte tief Luft, richtete ein Stoßgebet an den heiligen Russ und bereitete sich auf eine letzte verzweifelte Abwehranstrengung vor. Er betete auch, dass er ebenso würdig sterben würde, wie Lars es ihnen vorgemacht hatte. Plötzlich hörten die Orks auf zu schießen, als hätten sie Befehl erhalten, das Feuer einzustellen. Er fragte sich, warum, bis er die massige Gestalt Gurgs aus dem Treppenhaus und aufs Dach schreiten sah. Die Orks hatten das Feuer auf eine Geste ihres Anführers eingestellt. Die barbarische Erhabenheit des Häuptlings ließ die Blutkrallen ebenfalls das Feuer einstellen. Nur Inquisitor Sternberg setzte seine Arbeit fort und machte sich hektisch an den Kontrollen der Boje zu schaffen. »Guter Kampf«, dröhnte der Ork-Häuptling. »Jetzt vorbei. Gebt auf, gebt mir Juwel zurück. Vielleicht euch leben lasse.« »Wolfskrieger ergeben sich keinem grünhäutigen Abschaum wie dir«, sagte Sergeant Hakon und machte Anstalten, seine Pistole zu heben. »Dann nicht«, sagte Gurg achselzuckend. »Euer Leben vorbei.« »Nein! Warte!«, rief Ragnar plötzlich. »Wie lauten deine Bedingungen?« Alle seine Kameraden starrten ihn an. Er glaubte, Verachtung auf ihren Gesichtern zu erkennen. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Eigentlich fürchtete er nicht um sein Leben. Jedenfalls redete er sich das ein. Er wollte nur nicht, dass ihre Mission scheiterte und Lars umsonst gefallen war. Im Moment hatte es absoluten Vorrang, Sternberg Zeit zu erkaufen, um die Boje zu justieren, koste es, was es wolle. Die Boje war ihre einzige Hoffnung, mit dem Talisman zu ent-
kommen. Er musste das Gespräch mit dem Ork um jeden Preis fortsetzen. Er sah, wie sich Hakons Nüstern blähten, als nehme er seine Witterung auf, dann huschte Begreifen über die Miene des Sergeants. »Wolfsjunge fürchtet um sein Leben«, grollte Gurg. In seiner Stimme lag ein Unterton hämischen Vergnügens. Gut, dachte Ragnar, jede Kleinigkeit hilft. »Ich werde ihm eigenhändig den Hals umdrehen«, sagte Hakon düster. Ragnar war nicht sicher, ob er es ernst meinte oder selbst nur eine Rolle in diesem kleinen Drama spielte. »Übergeben Sie ihn uns, Sergeant«, hörte er Sven grimmig sagen. »Wir lassen ihn leiden.« »Wie lauten deine Bedingungen?«, wiederholte Ragnar. »Legt Waffen nieder. Gebt mir Juwel. Mehr nicht.« »Garantierst du unsere Sicherheit?« »Mit Sicherheit ihr sterben, wenn nicht!« »Dann sterben wir wenigstens im Kampf und werden nicht von euch Ork-Kannibalen gefoltert und verspeist.« »Wenn ihr wollt!« Der Häuptling bedeutete seinen Kriegern anzugreifen. Ragnars Mund wurde trocken. Ein rascher Blick verriet ihm, dass Sternberg die Boje immer noch nicht justiert hatte, also schien ihr Spiel aus zu sein. »Nein! Warte noch!«, schrie Ragnar. »Hast du wirklich solche Angst vor uns?« »Was du meinen?« »Fürchtest du dich vor einem Zweikampf gegen mich?« »Zuerst du bieten Aufgabe an. Jetzt du bieten Kampf gegen mich an! Entscheide dich, Junge. Was du wollen?« »Trittst du allein gegen mich an, oder bist du ein Feigling?« »Kein Feigling. Auch kein Dummkopf. Warum gegen dich kämpfen? Kann dich einfach so töten lassen!« Der Ork schnippte mit den Fingern. »Dann bist du ein Feigling!« Gurg wandte sich ab, schüttelte angewidert den Kopf und bellte
seinen Männern einen Befehl zu. Ragnar musste kein Orkisch verstehen, um zu wissen, was er sagte: »Tötet sie.« Er wollte einen Schuss auf Gurg abgeben, da er entschlossen war, wenigstens zu versuchen, den Häuptling zu töten, aber ein brodelndes Meer von grünen Gesichtern wogte zwischen ihnen. Boltpatronen umschwirrten ihn. Ein Getöse wie Donnerschläge hallte in seinen Ohren. Etwas traf ihn. Schmerzen durchzuckten ihn. Ein blendender Blitz füllte sein Gesichtsfeld aus. Er hatte einen Eindruck von Kälte, ein Gefühl, als werde er zerrissen. Dann war es endlich vorbei. Langsam kehrte Ragnars Sehvermögen zurück. Er sah sich um. Die Orks waren verschwunden. Die Luft roch anders, aber er erkannte sofort, in welcher Beziehung: Sie roch wie im Innern der Licht der Wahrheit. Dann ging ihm auf, dass das nur eines bedeuten konnte − dass die Boje funktioniert und der Teleporter zu ihnen ausgegriffen hatte wie die Hand des Imperators, um sie in Sicherheit zu bringen. Ein Blick auf seine Kameraden zeigte ihm, dass sie alle denselben Ausdruck schockierter Überraschung aufgesetzt hatten. Sie waren ebenso erstaunt wie er darüber, dass sie noch am Leben waren. Ragnar spürte, wie seine Lippen sich zu einem wölfischen Lächeln verzogen. Überschwängliche Freude erfüllte ihn. Sie hatten es geschafft. Sie waren in die Höhle des Löwen marschiert, ins Herz der OrkFestung, und hatten den Talisman mitgenommen. Sie hatten den ersten Teil des Unternehmens erfolgreich abgeschlossen. Die anderen starrten ihn alle an. Er fragte sich, ob sie immer noch dachten, er sei ein Feigling, der sie verraten wolle, oder ob ihnen mittlerweile aufgegangen war, dass es sich um eine List gehandelt hatte, um ihnen die erforderliche Zeit zu erkaufen. Sie sahen beunruhigt und blass aus, und er fragte sich, was los war. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Er fühlte sich merkwürdig schwach, schwindlig und unsicher auf den Beinen. In seinen Ohren war ein merkwürdiges Rauschen. Dann bemerkte er das Blut, das ihm aus der Seite und vom Ge-
sicht lief, und nahm den sengenden Schmerz zur Kenntnis, der in ihm tobte. Er war getroffen worden, fuhr es ihm durch den Sinn, von einer orkischen Boltpatrone oder etwas anderem. Er berührte sein Gesicht und ertastete eine große offene Wunde. Er spürte Eingeweide aus seiner Seite gleiten, und als er herabsah, erblickte er etwas Langes, Schlingenförmiges, das aus seinem Bauch ragte. Er griff danach, und dann spürte er, wie seine Eingeweide langsam aus der Wunde glitten. Vielleicht hatte er doch kein so großes Glück gehabt, dachte er, und kippte nach vorn in tiefe Schwärze.
ZEHN
Ragnar schlug die Augen auf. Er hatte ein Gefühl der Taubheit. Ein Teil seines Körpers fühlte sich gefroren an. Einen Moment war er desorientiert. Er hatte keine Ahnung, wo und vor allem wer er war. Anscheinend war er in der kalten Hölle seines Volks. Vielleicht war er beim Angriff der Grimmschädel auf ihr Dorf mit den übrigen Donnerfäusten gestorben, und bei seinen Erinnerungen, wie er zum Reißzahn gekommen und ein Wolfskrieger geworden war, handelte es sich lediglich um eine Halluzination seines sterbenden Verstands, um einen Streich, den ihm böse Geister spielten. Er starrte an die Metalldecke und versuchte sich einzureden, dass das nicht stimmen konnte. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, und er spürte sein Herz rasen. Er war am Leben, sagte er sich. Er war nicht tot. Er war nicht … Wie eine von Russ gesandte Bestätigung seines Mantras schob sich Karah Isaans bezauberndes Gesicht in sein Blickfeld. Bei ihrem Anblick empfand er mehr als nur Erleichterung. Er fühlte noch etwas anderes, das er nicht ganz fassen konnte, das er seit Anas Verlust nicht mehr empfunden hatte und das er als Space Marine gar nicht mehr hätte empfinden dürfen. Er schob die verwirrenden Gedanken beiseite. Er war am Leben. Er war nicht in einem absonderlichen Todestraum gefangen. Wenigstens hoffte er das. Diesen Albtraum hatte er schon oft erlebt, seitdem er ein Wolfskrieger war, und manchmal bekam sein Leben dadurch etwas absolut Unwirkliches. »Wo … bin ich?«, zwang er sich zu fragen. »Im Allerheiligsten der Licht der Wahrheit«, erwiderte sie, wobei sie ihm ihre kühlen Finger auf die Stirn legte. »Sie waren für eine sehr lange Zeit dem Tod sehr nah.« »Wie lange?«
»Wochen. Wir haben einen weiteren Warpsprung in ein neues System gemacht, während Sie im Heilsarkophag lagen.« »Was ist passiert?« »Erinnern Sie sich nicht mehr?« »Nur an sehr wenig.« »Sie haben uns gerettet. Sie haben Gurg so lange hingehalten, dass Inquisitor Sternberg die Boje richtig justieren konnte. Das war schlau überlegt und kaltblütig gehandelt. Dafür wird er Ihnen noch persönlich danken.« »Ich meinte, wie kommt es, dass ich hier bin? Wurde ich verwundet?« »An mehreren Stellen. Wir mussten Ihnen Boltpatronen aus Brust und Kopf holen.« »War es ernst? Wird es Langzeitschäden geben? Werde ich wieder kämpfen können?« »Immer eine Frage nach der anderen, ja? Schließlich bin ich hier der Inquisitor.« »War das ein Witz?«, fragte er verwirrt. »Selbstverständlich. Und was Ihre Fragen angeht, ja, Sie werden wieder völlig gesund. Ihr Marines seid unglaublich zäh, und Ihr Körper erholt sich von allem, was ihn nicht umbringt, das hat mir jedenfalls unser Chirurg versichert. Er sagt, so etwas hätte er noch nicht gesehen − und dass die Alten Wunder vollbracht haben müssen, um so etwas überhaupt zu ermöglichen.« »Ich habe keine Ahnung, was er damit meint.« »Ich eigentlich auch nicht. Die Chirurgen haben ihre eigenen Geheimnisse.« Er konnte ihrer Witterung entnehmen, dass sie nicht die Wahrheit sagte, entschied aber, dass ihn ihr verbotenes Wissen im Moment nichts anging. Schließlich hatten auch die Wolfskrieger ihre Geheimnisse, die er ihr nicht enthüllen konnte. »Sind alle anderen wohlauf?« »Ja. Ein paar oberflächliche Wunden, nichts Ernstes. Außer … außer natürlich bei Lars. Sie haben bereits das Beerdigungsritual für
ihn abgehalten.« »Und ich habe es verpasst.« »Ja.« Ragnar verspürte einen Stich des Kummers und des Verlusts. Es war merkwürdig, so etwas für jemanden zu empfinden, den er kaum gekannt hatte. Lars war einer der Ruhigen gewesen und für sich geblieben, und jetzt war er tot. Ragnar würde keine Gelegenheit mehr haben, ihn näher kennen zu lernen. Es kam ihm vor wie eine Verschwendung. Er sagte sich, dass aus ihm Krankheit und Schwäche sprachen. Lars war im Kampf gestorben wie ein wahrer Wolf, und kein Space Marine konnte mehr verlangen. »Er hat mir das Leben gerettet, müssen Sie wissen.« »Ich war dabei. Ich habe es gesehen. Er war sehr tapfer. Aber das waren Sie alle.« »Er hat mir das Leben gerettet, aber ich konnte ihm seines nicht retten.« »Manchmal passieren diese Dinge eben. Dafür haben Sie meines gerettet. Und ich bin Ihnen sehr dankbar.« »Ich habe den Talisman gerettet«, sagte er, selbst überrascht davon, wie kalt seine Stimme klang. Er schämte sich, als er das winzige Aufflackern von Kränkung in ihren Augen sah. Er fragte sich, warum er das gesagt hatte, noch dazu auf so eine Weise. Warum fühlte er sich durch die Nähe bedroht, die sich zwischen ihnen zu entwickeln schien? »Nein. Sie haben mir das Leben gerettet, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Sie hätten den Talisman nehmen und weiterlaufen können, aber das haben Sie nicht getan. Sie sind meinetwegen zurückgekommen.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht.« »Sie sollten sich ausruhen. Sergeant Hakon sagt, dass er Sie bald wieder in Harnisch sehen will. Die anderen haben Ihre Rüstung repariert.« »Das müsste ihnen gefallen haben«, sagte er ironisch.
»Das glaube ich weniger. Sven hat mir aufgetragen, Ihnen auszurichten, er sei ein Space Marine, kein verfluchter Rüstmeister, und beim nächsten Mal sollen Sie sich ihr Zeug selbst reparieren, da könne der verfluchte Sergeant Hakon sagen, was er wolle.« Ragnar musste unwillkürlich lachen. Karahs Imitation von Svens Stimme und Ausdrucksweise war erstaunlich gut. Offenbar hatte sie ein Talent dafür. »Ich glaube nicht, dass er es so gemeint hat. Unter seiner rauen Schale steckt ein gutes Herz.« »Das weiß ich. Wie verläuft der Krieg auf Galt?« »Imperiale Streitkräfte dringen in den Sektor ein. Es sieht ganz so aus, als würde demnächst ein großes Truppenkontingent gelandet. Vor unserem Warpsprung haben wir noch einige merkwürdige Komm-Netz-Meldungen von der Planetenoberfläche aufgefangen. Allem Anschein nach sind die Streitkräfte der Orks in Auflösung begriffen und kämpfen gegeneinander. Es könnte sein, dass Gurg seine Macht verliert.« »Glauben Sie, das hängt mit dem Gesichtsverlust infolge unserer Flucht zusammen?« Ein merkwürdiger Gesichtsausdruck huschte über ihr Gesicht. »Vielleicht. Aber ich glaube, es hat noch andere Gründe. Ich habe etwas gespürt, als wir dort unten waren. Gurg war mehr als nur ein starker Häuptling. Er war ein psychischer Brennpunkt für alle Orks. Er war auch so etwas wie ihr geistiger Führer, und zwar in einem sehr realen Sinn.« »Und?« »Ich glaube, er hat diese Macht verloren, als wir ihm das Amulett abgenommen haben. Irgendwie haben wir ihn zusammengestutzt.« Ragnar verstand sie im Grunde nicht. Dies war Psyker-Gerede, und er hatte in diesen Dingen keine Erfahrung, auf die er hätte zurückgreifen können. Er fand es ziemlich verwirrend, aber er sah eine Lücke in ihrer Argumentation, so sehr er ihr auch glauben wollte und so heldenhaft ihr Unternehmen auch gewesen zu sein schien. »Aber wenn das, was Sie sagen, stimmt, war er auch schon ihr Anführer,
bevor er das Amulett in die Finger bekommen hat.« »Ja, das stimmt wohl«, gab sie mit einem Nicken zu, »aber ein Psyker zu sein hat ebenso viel mit dem Glauben an sich selbst wie mit dem Vorhandensein der eigentlichen Kraft zu tun. Wenn wir sein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten erschüttert haben, kann es gut sein, dass wir damit auch seine Kräfte beeinträchtigt haben.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Es ist nur eine Theorie.« »Aber das bedeutet, dass wir nicht nur unsere Mission erfüllt, sondern auch noch etwas für die Bewohner Galts und für das Imperium getan haben.« »Ja, so ist es.« »Dann ist es eine gute Sache«, sagte er nur und lächelte. Sie erwiderte das Lächeln und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch sofort wieder. Sie strich ihm über die Stirn, und plötzlich erhob sie sich und ging. Ragnar lauschte ihren Schritten zur Tür und hörte dann den Luftzug, als sie sie hinter sich schloss. Er versuchte, sich aufzurichten, aber es war zu anstrengend. Ihm ging auf, dass er dem Tod sehr nahe gewesen sein musste, denn sein veränderter Körper war überaus zäh. Alles, was ihn so erschöpfte und dessen Heilung all seine Reserven aufzehrte, musste so gut wie tödlich gewesen sein. Trotzdem, er lebte noch, und das war die Hauptsache. Und er hatte seinen Kameraden bei der Erfüllung ihrer Mission geholfen. Auch das war schon etwas. Es rief ein stilles Gefühl der Zufriedenheit und des Stolzes in ihm wach. Seine Gedanken kehrten zu dem Mädchen zurück. Was ging dort wirklich vor? Das fragte er sich immer noch, als er wieder eindöste. Er erwachte, als er jemanden bei sich im Zimmer spürte. Für einen Wolfskrieger erwachte er sehr langsam, und das zeigte ihm, dass er immer noch nicht ganz gesund war. Er entspannte sich ein wenig, als er den vertrauten Geruch witterte, und als er die Augen aufschlug, sah er ein bekanntes Gesicht. »Bruder Tethys«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«
»Entschuldigen Sie die Störung, Ragnar. Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Aber es ist gut, dass Sie wach sind. Jetzt kann ich Ihnen dafür danken, dass Sie uns gerettet haben. Auf diesem Dach habe ich wirklich geglaubt, mein Leben wäre zu Ende.« »Heute scheint mir jeder danken zu wollen«, sagte Ragnar. »Inquisitorin Isaan war gerade da und hat dasselbe zu mir gesagt.« »Das kann nicht sein, Ragnar. Sie hat sich gestern in ihren Gemächern eingeschlossen, um für das Ritual der Divination zu fasten und sich zu reinigen. Ich glaube, sie war vor zwei Tagen bei Ihnen.« »Ich habe zwei Tage geschlafen?« »Ja. Die Chirurgen sagen, das sei gut für Sie. Es gäbe ihrem Körper die zur Heilung nötige Zeit.« Darüber dachte Ragnar nach. Es war kein beruhigender Gedanke, über zwei Tage lang nicht bei Bewusstsein gewesen zu sein. Es musste ihn wirklich schwer erwischt haben. Wie ein von einem unüberlegten Gedanken heraufbeschworener Dämon kehrten seine Schmerzen zurück. Plötzlich war er sich der bis auf die Knochen reichenden Qualen bewusst, die seinen ganzen Körper durchdrangen. Bruder Tethys musste gesehen haben, wie er zusammenzuckte. »Haben Sie Schmerzen?«, fragte er besorgt. »Soll ich Hilfe rufen?« »Es ist nichts, danke. Es geht schon.« »Für mich haben Ihre Wunden ziemlich heftig ausgesehen. Ich war überrascht, dass ein Mensch sie überhaupt überleben kann. Aber es heißt, die Space Marines seien Übermenschen, also hätte ich vielleicht nicht überrascht sein dürfen.« Ragnar wünschte, die Leute würden nicht ständig darüber nachdenken, wie schlimm er verwundet gewesen war. Es war kein tröstlicher Gedanke. Er ließ ihn an Lars denken, der eine tödliche Wunde erlitten hatte. Oder war sie vielleicht doch heilbar gewesen? Hätten sie ihn zum Reißzahn zurückbringen können? Die Wolfpriester hatten ihn schon einmal wiederbelebt, also konnten sie es doch gewiss wieder tun. Das von den Lehrmaschinen in seinem Kopf verankerte Wissen
glitt in sein Bewusstsein. Er wusste, dass es nicht so war. Wenn die Wiederbelebung nicht sofort auf dem Schlachtfeld vorgenommen wurde, verursachte der Sauerstoffmangel einen Hirnschaden. Der widerbelebte Krieger war nicht mehr als ein Gemüse, falls ihm nicht binnen weniger Minuten geholfen wurde. Er versuchte, diese finsteren Gedanken beiseite zu schieben, schaffte es aber nicht ganz. Er spürte, dass sie sich tief in seine Seele eingruben, und zwar mit noch etwas anderem, etwas, von dem er wusste, dass er nicht darüber nachdenken wollte. Um sich abzulenken, wandte er sich an Bruder Tethys. »Begleiten Sie uns? Wollen Sie nicht wieder nach Galt zurück?« »Ich würde sehr gern zurückkehren, aber ich habe keine große Wahl. Der Inquisitor wird nicht umkehren, nur um einen unwichtigen Mönch zu seiner Heimatwelt zu bringen. Was soll’s, ich wollte schon immer andere Welten sehen. Das ist jetzt wohl meine Chance. Aber es ist nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe.« Ragnar lächelte über die fröhliche Schicksalsergebenheit des Mannes. »Irgendwann werden Sie mit Sicherheit zurückkehren. Der Imperator kümmert sich um die Seinen.« »Das hoffe ich. Jedenfalls lässt mich die Art und Weise Ihres Eintreffens, um mich vor den Orks zu retten, daran glauben, dass es in der Tat so ist.« Ragnar stellte fest, dass er sich wünschte, er hätte diese Überzeugung teilen können − doch er konnte es nicht. »Ich bin jetzt müde«, sagte er. »Ich muss schlafen.« »Ich verstehe«, sagte Tethys. Er verbeugte sich und überließ ihn seinen Gedanken. »Der Schläfer ist, verflucht noch mal, aufgewacht«, sagte Sven, als Ragnar vorsichtig den Kabinentrakt betrat. Er fühlte sich immer noch schwach, aber es ging ihm viel besser als noch vor zwei Tagen. Er war in ein Heilkoma gefallen, da sein Körper sich regenerierte. Nun, da er wieder ein wenig Energie hatte, war er es leid, im Krankenre-
vier zu liegen, und er hatte beschlossen, seine Kameraden zu besuchen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich ohne seine Rüstung zu bewegen. Er hatte sich längst daran gewöhnt, und jetzt kam er sich beinahe nackt vor. Sven sah ihn an und grinste. »Schön, dich wieder im Land der Lebenden zu sehen. Die anderen dachten bereits, du würdest es nicht schaffen − aber ich habe ihnen gesagt, du würdest schon allein deshalb durchkommen, um mich zu ärgern. Wer hat nun Recht gehabt?« Svens Tonfall war neckisch, aber Ragnar konnte die Besorgnis dahinter wittern und war dankbar dafür. »Die Hexe hat auch geholfen, wenn sie nicht gerade ihre Zauber gewirkt hat, um zu sehen, wohin uns diese verrückte Reise als Nächstes führen soll.« »Sie hat geholfen?« Ragnar war völlig perplex. »Sie hat ihre Kräfte eingesetzt, um deine Heilung zu unterstützen. Muss ziemlich anstrengend gewesen sein. Hinterher sah sie immer ziemlich blass und erschöpft aus, obwohl ich eigentlich den Verdacht habe, das kam mehr von der Anstrengung, die ganze Zeit dein hässliches Gesicht anstarren zu müssen. Tja, wir können wohl nicht alle so gut aussehen wie ich.« Sven war einer der hässlichsten Männer, die Ragnar je gesehen hatte. »Dem Imperator sei Dank dafür«, sagte er. »Kein Grund für verfluchte Blasphemien!«, sagte Sven. »Was gibt es sonst noch Neues?« »Eigentlich gar nichts. Nicht, dass man uns Blutkrallen irgendwas sagen würde. Hakon hat sich mit den Inquisitoren und Gul beraten und zweifellos versucht, sich neue Möglichkeiten einfallen zu lassen, unser Leben in Gefahr zu bringen. Die Besatzung behandelt uns immer noch so, als wären wir Leichenschänder. Ich wünschte, ich wüsste, was da eigentlich los ist. Warum hassen sie uns? Schließlich sind wir die Elite des Imperators.« »Vielleicht ist das der Grund.« »Du meinst, Sie beneiden mich nicht nur wegen meines verblüf-
fend guten Aussehens, sondern auch wegen meines Rufs und meines Rangs?« »Nein, ich meine, dass viele von diesen Männern in die Dienste des Imperators gepresst wurden. Du kannst nicht von ihnen erwarten, dass sie seinen Stellvertretern mit Wohlwollen begegnen.« »Nein. Aber ich kann dafür sorgen, dass sie uns mit Respekt begegnen, und genau das habe ich getan. Ich habe ein paar Köpfe zusammengestoßen.« »Das wird unsere Beliebtheit ganz sicher vergrößern«, sagte Ragnar. Sven grinste sein fröhliches, hässliches Grinsen. »Weißt du, ich glaube, die viele Zeit, die du mit diesen Psykern verbracht hast, macht sich langsam bemerkbar, Ragnar. Ich glaube, du wirst weich. Ich meine, weich im Kopf warst du ja schon immer, aber jetzt …« »Hättest du Lust, diese Theorie in der Praxis zu testen?« »Ich schlage keine kranken Dummköpfe zusammen.« Ragnar spürte jetzt trotz des jovialen Tonfalls eine echte Drohung in Svens Worten. Es war eine Rudel-Sache. Sie waren wie junge Wölfe, die einander auf die Probe stellten. Verspielt zwar, aber dennoch. Als Ragnar einfiel, wie tüchtig sich Sven bei ihrer Ausbildung im waffenlosen Kampf erwiesen hatte, war er nicht mehr so sicher, ob ihm wirklich schon nach einem Kampf zumute war. Jedenfalls nicht, wenn er nichts Heimtückisches tat. »Lass mir ein paar Tage Zeit, dann sorge ich dafür, dass du der Kranke bist. Ein Dummkopf bist du ja schon.« »Ich muss wohl einer sein, wenn ich meine Zeit in Gesellschaft von Leuten wie dir verbringe.« »Gibt es hier irgendwo Ale?« »Reichlich. Und haufenweise anderes Zeug. Nils sagt, der Inquisitor hat den Schnaps von hundert Welten hier auf seinem Schiff. Und das Essen ist auch ziemlich gut nach dem, was wir im Dschungel hatten.« »Dann lass uns was holen.«
»Gute Idee«, stimmte Sven zu. »Ich bin am Verhungern.« Gerade hatten sie sich mit dem Essen in Svens Kabine eingefunden, als Nils und Strybjörn eintraten. Sie warfen einen Blick auf den überladenen Tisch, setzten sich und bedienten sich, ohne zu fragen. Nils bedachte Ragnar beim Kauen mit einem aufmunternden Lächeln. Strybjörn sah jedoch so bärbeißig und mürrisch aus wie eh und je. Ragnar machte das nichts aus. Es war gut, sie alle wohlauf zu sehen. Doch dann fiel ihm auf, dass irgendetwas fehlte − um dann mit einem kalten Schauder zu erkennen, dass es Lars war. Dieser Wolf war immer sehr ruhig gewesen, aber doch wenigstens anwesend. Jetzt war er nicht mehr da, und seine Abwesenheit war etwas Greifbares. Die anderen spürten seinen Stimmungsumschwung und reagierten darauf. Ihm war klar, dass sie bereits ausgiebig getrauert hatten, doch er hatte es versäumt, da er in dieser Zeit bewusstlos gewesen war. »Auf Lars«, sagte Sven plötzlich, indem er seinen Becher ins Licht hob. »Wo immer er, verflucht noch mal, jetzt auch ist.« »Auf Lars«, wiederholten alle, um dann wieder zu verstummen. »Wo seid ihr zwei gewesen?«, fragte Sven mit einem Blick auf Nils und Strybjörn. »Wir waren auf der Brücke und haben mit der Besatzung geredet«, sagte Nils zwischen zwei Bissen. »Allem Anschein nach sind wir zumindest dort willkommen, seitdem wir ihnen ihre kostbaren Inquisitoren heil zurückgebracht haben. Gul war nicht so glücklich, aber das ist er ja nie.« »Warum war er nicht glücklich?«, fragte Ragnar. »Ich glaube nicht, dass er uns mag«, sagte Nils. »Niemand mag dich«, sagte Sven. »Ich dachte eigentlich, du hättest das, verflucht noch mal, mittlerweile bemerkt.« »Merkwürdig. Mir sagen sie andauernd, was für ein prima Kerl ich bin. Aber meinen idiotischen Freund Sven mit dem Bulldoggengesicht, den können sie alle nicht leiden.« »Hört auf, euch zu streiten«, sagte Ragnar. »Was ist denn nun
wirklich los?« »Na ja, wir haben herausgefunden, wohin wir unterwegs sind«, sagte Strybjörn. Seine Stimme war tief und düster, und er redete immer langsam und wohlüberlegt. Ragnar roch seine derzeitige Verwirrung. »Und?« »Es ist ziemlich seltsam. Mehr kann ich nicht sagen.« »Warum?« »Weil wir geradewegs ins Nichts zu fliegen scheinen.« »Wir sind im Weltraum. Denk an deine Ausbildung. Hier draußen gibt es verdammt viel Nichts.« »Aber wir fliegen besonders weit raus. Irgendwohin, wo es keine bewohnten Welten gibt. Zu einer toten Sonne namens Korealis.« »Was wollen wir da? Ich dachte, wir suchen den dritten Teil des Talismans.« »Das tun wir auch. Dieses Ziel hat die Hexe den Navigatoren genannt, als sie aus ihrer Trance erwachte. Sie gehorchen ihr.« »Tja, ich nehme an, wir werden noch früh genug herausfinden, was vorgeht«, sagte Ragnar. »Ich habe noch eine andere Sache gehört, als wir die Brücke verlassen haben«, meldete Nils sich zu Wort. Strybjörn bedachte ihn mit einem mürrischen Blick. Offenbar war ihm etwas entgangen. »Und was?«, fragte Ragnar. »Zwei Worte.« »Ich gebe dir gleich zwei verfluchte Worte, wenn du es uns nicht gleich sagst«, sagte Sven gespannt. »Ein Raum-Koloss«, sagte Nils mit einem gemeinen Lächeln. Stille senkte sich über die Kabine. Ragnar nahm sich mehr Fleisch und stopfte es sich in den Mund, während er über die Worte seines Schlachtbruders nachdachte. Sie reichten, um ihm einen Schauder über den Rücken zu jagen. In der Ausbildung hatten sie auch das Entern von Raum-Kolossen simuliert. Man konnte sich darauf verlassen, dass sich für einen Space Marine im Laufe seiner langen Karriere im Dienst des Imperators
mit Sicherheit die Notwendigkeit dazu ergab. Immer vorausgesetzt natürlich, er überlebte die Erfahrung. Raum-Kolosse gehörten zu den tödlichsten Umgebungen, die der Menschheit bekannt waren. Ragnar rief sich in Erinnerung, was seine Lehrmaschinen darüber zu sagen wussten. Es war nicht beruhigend. Raum-Kolosse waren gewaltige Zusammenballungen von Schiffswracks, Trümmern und Schrott, die sich im Warpraum vereinigten. Niemand wusste so recht, wie oder warum das geschah, und die Kolosse hatten etwas an sich, das niemand wirklich verstand. Sie wechselten ohne erkennbares Schema zwischen dem Warpraum und dem Normalraum hin und her. Manchmal verschwand ein Koloss für Jahrhunderte, um dann irgendwo weit entfernt vom Ort seiner letzten Sichtung wieder aufzutauchen. Die meisten waren eher harmlos, tatsächlich reiner Müll. Manchmal eine Gefahr für die Navigation, manchmal Geheimnisse beherbergend, die in den dunklen Tiefen der Zeit verschollen waren. Aber manchmal waren dort auch andere Dinge beheimatet: Orks und Genräuber und noch viel schlimmere Kreaturen. Tatsächlich wurden sie sogar manchmal von derartigen Kreaturen übernommen, um eine Welt nach der anderen anzufliegen. War nicht auch Gurgs Horde im Galt-System an Bord eines Kolosses eingetroffen? Gab es hier ein finsteres Schema, das er nur nicht sehen konnte? Kolosse waren in dieser traurigen Saga bisher der gemeinsame Nenner. Er erwähnte das den anderen gegenüber, doch sie schienen davon nicht beeindruckt zu sein. »Orks benutzen alles, was sie in ihre schmutzigen Klauen kriegen. Auf Galt haben wir alle gesehen, wie sie sind«, sagte Nils. »Sie plündern Kolosse genauso aus wie alles andere. Daran ist nichts Finsteres.« »Das sagst du«, entgegnete Ragnar. »Aber ich bin geneigt, an der geistigen Gesundheit jedes Mannes zu zweifeln, der mir sagt, dass nichts Finsteres an einem Geisterschiff ist, das Jahrhunderte zwischen den Sternen treibt.«
»Sie sind nicht alle so«, sagte Sven. »Aber es gibt genug, die so sind.« »Vielleicht ist da wirklich etwas dran«, meinte Sven. »Aber ich will verdammt sein, wenn ich sehe, was.« »Dasselbe gilt für mich«, sagte Nils. »Hört mal, ich weiß es auch nicht. Es könnte Zufall sein. Es könnte aber auch etwas anderes sein.« »Wie wollen wir herausfinden, was es ist?«, fragte Strybjörn missmutig. »Ihr werdet es noch früh genug erfahren, weil ihr alle an Bord geht«, sagte Sergeant Hakon aus der Tür. Ragnar war verblüfft, denn trotz ihrer messerscharfen Sinne gelang es dem Sergeant immer wieder, sich ihnen unbemerkt zu nähern und sie zu überrumpeln. Andererseits konnte er auch auf einige Jahrhunderte der Übung zurückgreifen, dachte Ragnar. Wenn jemand dazu in der Lage sein sollte, dann er. »Wann, Sergeant?«, fragte Ragnar. »Innerhalb der nächsten sechs Stunden. Ich will, dass ihr eure Ausrüstung überprüft und euch abmarschbereit macht.« »Gilt das auch für mich, Sergeant?«, fragte Ragnar, der nicht sicher war, welche Antwort er hören wollte. »Nun, du bist auf den Beinen, oder nicht? Und du kannst eine Waffe halten, richtig?«, schnauzte der Sergeant. Ragnar nickte, wobei er spürte, dass ihn wieder der Drang überkam, den Veteran herauszufordern. »Dann sehe ich nicht, was dagegen spricht«, sagte Hakon, indem er zur Tür ging. »Du etwa?« »Nein, Sergeant«, sagte Ragnar verlegen. »Und da deine Kameraden so nett waren, deine Rüstung für dich zu reparieren, während du geschlafen hast, sehe ich keinen Grund, warum du hier ohne sie herumstolzierst, Blutkralle. Oder siehst du einen?« »Nein, Sergeant.«
Hakon drehte sich in der Tür noch einmal um. »Ragnar …« »Ja, Sergeant?« »Du hast dich gut geschlagen auf Galt. Willkommen daheim.« »Danke, Sergeant.« Ragnar fühlte sich schon ein wenig besser nach Hakons letzten Worten. Von dem wortkargen alten Wolf war ein Lob etwas Besonderes, auch wenn es noch so geringfügig ausfiel. Seine Dankesworte hallten ins Leere. Hakon hatte die Kabine bereits verlassen. »Ragnar ist jetzt nicht nur der Liebling der Inquisitorin, sondern auch des Sergeants«, spottete Nils. »So ein Speichellecker.« »Na ja, irgendjemand muss doch ein Held sein«, sagte Ragnar. »Aber keine Sorge, wenn die Skalden die Epen vortragen, werden sie bestimmt auch die Tatsache erwähnen, dass ich drei treue Kameraden hatte, die für mich poliert und geflickt haben.« »Ich kann das Epos förmlich hören«, sagte Nils. »Ragnars Epos! Die anrührende Geschichte eines Kriegers, der starb, als ihm unter der Belastung, seinen riesigen Kopf zu tragen, das Genick brach.« »Dessen ständige Prahlereien seine treuen Kameraden so verärgerten, dass sie ihn im Schlaf ermordeten, trifft es wohl eher«, sagte Strybjörn grimmig. »Der so viel von seiner Zeit damit verbrachte, herumzuliegen und zu schnarchen, während seine Kameraden die ganze Arbeit machten, dass sie ihn schließlich von ihrem Schiff warfen«, fügte Sven hinzu. »Es ist schön zu wissen, dass man mich zu schätzen weiß«, sagte Ragnar. »Und jetzt, Sven, wenn es dir nichts ausmacht, reich mir doch noch etwas von dem Ale.« »Jawohl, mein Gebieter.« Sven grinste und gab es ihm so, dass der größte Teil an Ragnar herunterlief. »Und wie wär’s mit noch mehr zu essen«, fügte Nils hinzu, indem er ein Stück Käse nach ihm warf. Sekunden später flogen Essen und Ale unter rauem Gelächter in alle Richtungen. Ragnar stand auf der Brücke des Sternenschiffs und sah sich ehr-
fürchtig um. Sie war gewaltig, von der Größe einer Kammer im Reißzahn. Die Decke war gewölbt wie in einer imperialen Kirche, und eine große Buntglaskuppel stellte Szenen von Inquisitoren dar, die Ungeheuer und Ketzer bekämpften, die Unrechtschaffenen ausmerzten und den Willen der Ungläubigen auf der Auto-Streckbank brachen. Überall gingen berobte und Kapuzen tragende Gefolgsleute des Inquisitors ihren Aufgaben nach. Auf langen Bänken fütterten Numeriker des Maschinengottes ihre Konsolen mit endlosen Datenströmen. An hohen Mittelpulten überprüften Astrogatoren ihre Berechnungen und nahmen winzige Veränderungen am Schiffskurs vor. Gestalten, mehr Maschine als Mensch, kommunizierten mit dem zentralen Datenkern des Schiffs. Es roch nach dem Reinigungs-Weihrauch, der in Räucherfässchen schwelte. Solche Dinge wurden auf den Schiffen der Wolfskrieger und von den Offizieren der Imperialen Flotte anders gehandhabt, aber dies war ein Schiff der Inquisition und wurde daher auch nach Art der Inquisition geführt. Zum ersten Mal ging ihm auf, wie riesig und mannigfaltig das Imperium war. Jede große Abteilung der Ekklesiarchie war eine Welt für sich mit eigenen Regeln, Kodizes und Funktionen. Sie unterschieden sich untereinander und auch von der Masse der Menschheit, die sie im Namen des Imperators regierten. Es war lediglich der Kern des gemeinschaftlichen Glaubens, der sie verband, und die Millionen Welten der Gläubigen. Auf einem riesigen zentralen Holoschirm erschien eine dreidimensionale Nachbildung des Systems, in das sie soeben geflogen waren. Infolge des Singsangs der Initiaten und ihrer technischen Gebete flackerte das Bild auf und schien dann über den Köpfen der Anwesenden in der Luft zu schweben. Ragnar konnte ein halbes Dutzend Welten sehen, jede von der Größe einer Faust, die einen kleinen dunklen Stern umkreisten. Sie bewegten sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf ihren Umlaufbahnen. Ein winziger blauer Lichtpunkt in Gestalt eines Im-
periumsadlers kennzeichnete die Position der Licht der Wahrheit. Ein roter Schädel markierte ihren Bestimmungsort. »Das ist Korealis«, verkündete Inquisitor Sternberg, und seine volltönende Stimme erfüllte die Brücke und verlor sich widerhallend in der Düsternis unter den Gewölben. »Eine tote Sonne, ausgebrannt, aber noch nicht in sich zusammengefallen. Ihre Oberfläche ist eine kalte Staubschale. Irgendwo in ihren Tiefen brennen noch Feuer, aber nicht mehr genug, um Licht und Wärme abzustrahlen. Korealis wurde im Zuge der Großen Vermessungen des Dreißigsten Millenniums kartografisch erfasst und geriet rasch in Vergessenheit. Unsere Aufzeichnungen enthalten Hinweise auf eine ketzerische präimperiale Zivilisation auf der Oberfläche des vierten Planeten, aber dieses System war zu abgelegen und nicht wirklich gefährlich, um eine Säuberungsaktion zu rechtfertigen. Hin und wieder gab es Berichte von Prospektoren, die in dieser Gegend unterwegs waren, und irgendwann hat es hier auch eine Piratenkolonie gegeben. Der Piratenstützpunkt wurde in einem gemeinschaftlichen Unternehmen der Inquisition und der Blutengel im Neununddreißigsten Millennium zerstört. Mehr von Interesse gibt es über dieses System nicht zu berichten.« »Was genau suchen wir eigentlich, Inquisitor?«, fragte Sven. »Ich nehme an, wir sind nicht hergekommen, damit Sie uns Geschichtsunterricht erteilen.« Sternberg lachte. »Nein. In der Tat nicht, Meister Blutkralle. Vielleicht wäre Inquisitorin Isaan so nett, Ihre Frage zu beantworten.« Karah trat neben ihren Kollegen. »Ich habe das Divinationsritual noch einmal unter Benutzung der beiden Teile des Talismans durchgeführt, die wir mittlerweile in unserem Besitz haben. Das Ritual hat mir verraten, dass dies der richtige Ort ist, aber wenig mehr. In meiner Vision sah ich einen Raum-Koloss, ein riesiges, uraltes Gebilde, das viele Jahrhunderte durch den Warpraum getrieben ist − aber das ist auch schon alles. Der Stern, oder vielleicht auch der Koloss, hat irgendetwas an sich, das die Divination erschwert. Jedenfalls weiß
ich, dass das Gesuchte sich im Koloss befindet und uns nichts weiter übrig bleibt, als hinzugehen und es zu holen.« »Wird es Kämpfe geben?«, fragte Strybjörn kategorisch. »Wer weiß?«, erwiderte sie mit einem Achselzucken. »Kolosse sind dafür berüchtigt, dass sich gefährliche Bewohner darin aufhalten. Sobald wir in Reichweite sind, werden wir alle üblichen SensorAbtastungen nach Lebensformen vornehmen, was uns eine klarere Vorstellung von etwaigen Gefahren vermitteln wird, die im Koloss lauern mögen.« »Wer geht?«, fragte Ragnar. »Als wüsstest du darauf nicht längst die Antwort«, murmelte Sven neben ihm. »Die Wolfskrieger werden die Speerspitze dieses Unternehmens bilden und dabei von den Inquisitoren Sternberg und Isaan sowie deren Leibwache begleitet, die von mir selbst angeführt wird«, sagte Gul. »In Sichtkontaktentfernung«, unterbrach einer der Initiaten laut. »Holen Bild heran.« Der Choral der technischen Akoluthen änderte sich im Tonfall, und ein neues Bild flackerte auf. Ragnar schauderte bei seinem bloßen Anblick. Falls es überhaupt einem Raumschiff möglich war, verwünscht und heimgesucht auszusehen, dann diesem. Auf den ersten Blick sah es nicht einmal wie ein Schiff aus, mehr wie ein Schiffsfriedhof. Es war eine weiträumige Zusammenballung von Trümmern um einen zentralen Kern, die von einer seltsamen Kraft festgehalten zu werden schienen. Das Ganze sah aus wie ein Schiff, das ein irrsinniger Baumeister aus Trümmern von Wracks zusammengebaut hatte. Ragnar konnte jetzt verstehen, warum Orks sich von Kolossen so angezogen fühlten. Die improvisierte Natur dieser Gebilde hatte etwas an sich, auf das ihre verrückten Technologien ansprechen mussten. Aber, in Russ’ Namen, das Ding war riesig. Während er zusah, wie das Gebilde langsam anschwoll, konnte er erkennen, dass jedes
Einzelschiff, das einen kleinen Bestandteil des Ganzen ausmachte, so groß wie die Licht der Wahrheit war. Der Koloss war größer als die meisten Inseln im Weltenmeer auf Fenris. Darin musste es mehr Gangmeilen geben als im Reißzahn. Das dritte Bruchstück des Talismans zu finden würde kein leichtes Unterfangen werden. »Wir stoßen in den Bereich einer möglichen Sensor-Abtastung vor, Inquisitor«, sagte der Leitende Initiat. »Beginnen Sie mit den rituellen Beschwörungen«, erwiderte Sternberg gelassen. Ragnar konnte die Anspannung des Mannes trotz der leicht halluzinogenen Wirkung des Räucherwerks wahrnehmen. Der Singsang änderte sich wieder im Tonfall, und auf der Brücke wurde es dunkler. Unter dem Bild des Raum-Kolosses tauchten seltsame technische Runen auf. Sie schimmerten und tanzten, und Ragnar war sich der Tatsache bewusst, dass sie einen Schatz von Informationen für jene darstellen mussten, die sie lesen konnten. Bedauerlicherweise konnte er das nicht. »Interessant«, hörte er Sternberg murmeln. »Setzen Sie die Abtastung fort.« Ein leuchtender Schein legte sich auf das Bild des Kolosses. Kleine rote und grüne Punkte trieben über die Oberfläche. Dann verzerrte sich das ganze Bild plötzlich, flimmerte und verschwand. Stille senkte sich über die Brücke der Licht der Wahrheit. Ragnar wusste zwar nicht, was passiert war, konnte aber der Witterung der Anwesenden ringsumher entnehmen, dass es nichts Gutes war. »Was ist geschehen?«, fragte er. »Diese Lichter, die wir vor dem Erlöschen des Bildes gesehen haben, verraten uns, dass sich lebendige Wesen an Bord des Kolosses befinden«, sagte Karah leise. »Und die Tatsache, dass unsere Sensor-Abtastung gestört wurde, verrät uns, dass sie keine neugierigen Blicke mögen«, fuhr Sternberg fort. »Leitender Initiat Vosper, was genau ist passiert?« Der Leitende Initiat studierte den Monitor auf der Bank vor sich.
»Allem Anschein nach hat unsere Abtastung eine automatische Abschirmvorrichtung aktiviert, Inquisitor. Es wird einige Stunden dauern, herauszufinden, von welcher Art sie ist. Angesichts der Auguren habe ich den Verdacht, dass es sich nicht um das Produkt eines menschlichen technologischen Rituals handelt, sondern um etwas völlig Fremdes.« »Könnte es sein, dass wir ein automatisches System im Koloss aktiviert haben, das gar nichts mit diesen Lebensformen an Bord zu tun hat?«, fragte Karah. Der Initiat neigte sein kahl geschorenes Haupt und legte die Fingerspitzen zusammen. »Ja, Inquisitorin Isaan. Das liegt im Bereich des Möglichen. Obwohl es wahrscheinlich das Klügste ist, einstweilen von einer feindseligen Absicht auszugehen.« »Genau meine Überlegungen«, sagte Sternberg. Insgeheim gab Ragnar ihm Recht. Alles Wissen, das die Lehrmaschinen in seiner Erinnerung verankert hatten, ließ nur den einen Schluss zu, dass ein nichtmenschliches Wesen immer auch unzweifelhaft feindselig war. Bisher hatte er noch nichts erlebt, was ihn an der Weisheit dieser Lehren hätte zweifeln lassen. »Machen Sie Ihre Waffen bereit«, sagte Inquisitor Sternberg grimmig, indem er sich zu ihnen umwandte. »Es sieht ganz so aus, als könnten wir sie brauchen.« Er erlebte ein seltsames Gefühl der Beschleunigung, als das Beiboot sich von der Licht der Wahrheit löste. Ragnar betrachtete seine Begleiter. Diesmal waren es nicht nur die Wolfskrieger. Sie wurden von über dreißig Mann aus der Leibwache der Inquisitoren begleitet. Diese Männer waren gekleidet wie die Imperiale Garde, trugen aber Vollvisierhelme und Sauerstofftanks, um sich vor Druckverlust, Luftmangel und Giftgas im Koloss zu schützen. Im Beiboot war es kalt, und es roch nach seltsamen Chemikalien. Die Enge im kleinen Passagierbereich sorgte für leichte klaustrophobische Beklemmungen bei ihm. Ragnar warf einen Blick auf seine
Kameraden. Sie sahen entspannter aus, als er sich fühlte, aber er konnte die Anspannung in der Luft riechen. Sie überprüften ihre Waffen mit der Konzentration von Männern, die wussten, dass bald ihr Leben von ihnen abhängen würde. Er selbst hatte ein seltsames Gefühl des Widerstrebens. Er fragte sich nach dem Grund. Seine Herzen schlugen schneller, und er konnte den Drang zu schwitzen nur mit einer beträchtlichen Willensanstrengung unterdrücken. Etwas in seinem Magen fühlte sich nicht richtig an. Ihm ging auf, dass er sich tatsächlich fürchtete, und zwar auf eine Weise wie noch nie zuvor. Er fürchtete tatsächlich um sein Leben. Was ging da vor?, fragte er sich, während er einen Blick über Svens Schulter und aus dem Bullauge warf. Die Sterne erwiderten ihn mit kaltem Funkeln. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er war schon nervös vor einer Schlacht gewesen, aber er hatte noch nie so ein Gefühl der Lähmung erlebt. Er versuchte zu ergründen, woher es kam, und die Antwort war mehr als offensichtlich. Es kam daher, so ernsthaft verwundet worden zu sein und Lars’ Tod miterlebt zu haben. Seit seiner Auferweckung durch die Zauber-Wissenschaftler im Reißzahn hatte er ein Gefühl der eigenen Unsterblichkeit entwickelt, das rasch zu einem Gefühl der Unüberwindlichkeit geführt hatte. Er war schon früher verwundet worden, aber noch nie so schwer. Ihm ging auf, dass er nicht geglaubt hatte, er könne tatsächlich sterben. Rein verstandesmäßig hatte er es natürlich gewusst. Das war ihm bei seiner Ausbildung auf Fenris oft genug eingehämmert worden, aber er hatte es nicht wirklich geglaubt. Schließlich gehörte er zu den Auserwählten. Die Wolfpriester hatten seinen gefallenen Leichnam den Krallen des Todes entrissen und ihn wieder zum Leben erweckt. Er war ein vom Glück Begünstigter, ein Liebling der Götter, und dasselbe galt für seine Kameraden. Ja, er hatte schon zuvor Leute sterben sehen, sogar Wolfskrieger, und zwar in der Schlacht gegen die Chaos Marines im Tempel der Tausend Söhne. Aber die hatte er nicht so gut gekannt. Mit Lars hatte
er eine gemeinsame Vergangenheit gehabt. Sie hatten die Zeit des Wählens gemeinsam überstanden und nebeneinander trainiert und gekämpft. Sie waren sogar fast gleichaltrig gewesen. Innerlich hatte er die Verbindung hergestellt zwischen dem sterbenden Lars und seinen Wunden, ging ihm auf. Damals hatte er starke Schmerzen gehabt, was ihm die Lektion der eigenen Sterblichkeit auf eine Weise eingetrichtert hatte, wie es sonst nichts vermochte. Er wusste jetzt, dass er zwar ein Space Marine und einer der erwählten Krieger des Imperators war, dass es für ihn aber keine Ausnahmeregelung gab: Eine Kugel konnte ihn immer noch töten. Ein Kettenschwert konnte ihn immer noch niedermähen. Sein Leben konnte ein Ende finden wie das jedes anderen Menschen. Für einen Krieger hätte das kein beängstigender Gedanke sein dürfen, und doch musste er zugeben, dass dem so war. Und jetzt bildete sich in seinem Kopf eine neue Angst, dass sein Mut auf den Prüfstand stehen und als mangelhaft beurteilt und dass er sich selbst entehren würde. War es möglich, dass er im Falle eines Angriffs vor Angst gelähmt sein oder sogar umkehren und fliehen mochte? Er hoffte es nicht, aber die Möglichkeit bestand. Er betete zu Russ und versuchte die Überlegung abzutun, aber sie blieb da und nistete sich in seinem Hinterkopf ein. War sein Kapitulationsangebot auf Galt unterschwellig ernst gemeint gewesen? Hatte er nur laut formuliert, was seine Seele tatsächlich gedacht hatte, anstatt zu versuchen, den orkischen Häuptling zu überlisten? Er war sich der Tatsache bewusst, dass Sergeant Hakon ihn nachdenklich ansah − und auch irgendwie missbilligend, wollte ihm scheinen − , und er fragte sich, ob der alte Wolf seine Gedanken erriet. Äußerten sich seine Zweifel in seiner Witterung? Waren alle seine Kameraden sich seiner Schwäche nur allzu bewusst? Er hoffte nicht, aber wie konnte er dessen sicher sein? Das war der Fluch und auch der Segen des Rudelbewusstseins der Wolfskrieger. Er spürte ein weiteres Augenpaar auf sich ruhen und warf seinerseits einen Blick auf Karah Isaan, die von ihren gerüsteten und be-
helmten Leibwächtern umringt war. Sie schien ebenfalls einige seiner widerstreitenden Gefühle aufzufangen. Doch sie lächelte ihm nur beruhigend zu, und er spürte, wie so etwas wie Wärme in seinen Verstand flutete. Unbewusst wehrte er sich dagegen. Er wollte nicht, dass andere in seine geheimsten Gedanken eingeweiht waren. Er wollte nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein, ob von ihr oder sonstwem. Das wäre eine echte Schwäche und kein von seinen eigenen düsteren Gedanken heraufbeschworenes Phantom. Irgendwo in ihm regte sich die Bestie. Er spürte ein zorniges Grollen tief in seiner Kehle. Die Bestie hatte keine Angst. Sie war wütend und darauf bedacht, einem Feind gegenüberzutreten. Er wusste, dass sie einen blutigen Kampf mit jeder sich bietenden Gefahr genießen würde. Es war gut zu wissen, dass sie da war und er sich darauf verlassen konnte, dass sie ihm helfen würde. Das war eine Hilfe, die anzunehmen er bereit war, denn sie kam aus ihm selbst, war Teil von ihm und an seine Seele gebunden. Langsam ließen seine Ängste so weit nach, dass sie beherrschbar wurden, aber sie waren noch da und konnten in einem Augenblick großer Belastung wiederkehren. Er stieß einen langen, tiefen, lautlosen Seufzer aus und richtete ein inbrünstiges Gebet an Russ.
ELF
Ein tiefes metallisches Klirren ertönte wie das klagende Läuten einer riesigen unsichtbaren Glocke, dann folgte ein jähes, markerschütterndes Rütteln, als das Beiboot an der Wandung des Raum-Kolosses zur Ruhe kam. Ragnar spürte einen Stimmungswandel, als die Blutkrallen sich erhoben und Sergeant Hakon in den Bug des Schiffs folgten. Der Auto-Bohrer in der Schiffsnase war bereits am Werk und wühlte sich durch das Ceramit der Koloss-Wandung, um einen Eingang zu schaffen. Bald würde er die Wandung durchdringen und sich ausdehnen wie eine Blume, um das Einführen eines Enter-Tunnels zu gestatten. Ragnar umfasste sein Kettenschwert und die Boltpistole fester. Er bezweifelte, dass es sofort Ärger geben würde, aber man konnte nie wissen, und Space Marines gingen ein Unternehmen ohnehin immer so an, als sei die Schlacht nur noch Augenblicke entfernt. Ein Zischen von Luft ertönte, als der Druckausgleich zwischen dem EnterTunnel und dem Innern des Kolosses erfolgte. Ragnar prüfte sofort den Geruch. Was er witterte, gefiel ihm nicht. Die Luft war schal und kalt und muffig und enthielt Hinweise auf viele subtile Gifte. Welche Systeme die Luft hier auch rein erhielten, sie arbeiteten mangelhaft, das konnte er bereits sagen. Und es gab andere Dinge, Witterungsrückstände von verschiedenartigen Lebewesen. Manche von ihnen waren so alt, dass sie kaum noch wahrzunehmen waren. Er bezweifelte, dass sie sich an irgendeinem anderen Ort außer an diesem mit einer beständigen, aber mangelhaften Wiederaufbereitung so lange gehalten hätten, wer konnte also ernsthaft ihr Alter schätzen? Die Schwerkraft im Koloss war geringer als auf dem Schiff der Inquisition. Er fühlte sich leicht und musste ständig darum kämpfen, seine Bewegungen zu kontrollieren und das Gleichgewicht zu halten,
um nicht zur Decke zu schweben. Sven und Nils gingen voraus, der eine links vom Tunneleingang, der andere rechts. Ihre Aufgabe bestand darin, den Gang zu kontrollieren und sich zu vergewissern, dass dort keine unangenehmen Überraschungen auf sie warteten. Ragnar wartete auf das Zeichen und gesellte sich dann unbeholfen zu Sven, während Strybjörn zu seinem Partner Nils schritt. Ragnar hatte keine genaue Vorstellung, was ihn erwartete, aber was er sah, erhöhte nicht gerade die Anspannung. Er schaute in einen langen Metallkorridor. Der Boden war mit einem verrosteten Geflecht aus gesprenkeltem Stahl bedeckt. Uralte Lichtkugeln flackerten schwach in der Decke. Es gab Luken entlang der Tunnelwandung, und nicht allzu weit entfernt konnte er eine Leiter ausmachen, die von oben herunterkam und in einem Loch im Boden verschwand. Zerfledderte Überreste uralter Plakate klebten an den Wänden, mit Zeichen einer alten menschlichen Schrift bedeckt, die er kaum verstand. Kabelbündel verliefen durch den Korridor, als habe irgendein Ingenieur vor unendlich langer Zeit eine Stromverbindung durch ihn improvisiert. Als er Bewegung hinter sich spürte, wusste Ragnar, dass die Leibwächter der Inquisitoren nun ebenfalls im Tunnel unterwegs waren. Er überprüfte rasch, ob Sven vielleicht etwas übersehen hatte, fand nichts und ging weiter den Korridor entlang, um Platz zu machen. »Interessanter Ort«, flüsterte Sven. »Ich wette, hier gibt es noch weniger gutes Zeug zu essen als in dem verfluchten Dschungel.« »Wenn du dir Mühe gibst, findest du bestimmt eine schöne, fette, mutierte Schabe«, zischte Ragnar zurück. »Auf Schiffen wie diesem findet man immer welche. Die Alten hatten sie immer dabei, damit sie die abgestorbenen Hautfetzen auffressen, die ihre Leiber ständig abgestoßen haben.« »Danke, o Weiser«, sagte Sven. »Das weiß ich. Die Lehrmaschinen haben mir dasselbe Wissen eingetrichtert wie dir.«
»Ja, aber man braucht ein Hirn, um das Wissen zu nutzen. Bei dir hallt es nur beständig durch die Leere in deinem Schädel.« »Ha ha. Du hast deine wahre Berufung verfehlt, Ragnar. Du hättest ein verfluchter Hofnarr werden sollen.« Während sie vorsichtig weitergingen, untersuchten sie alle Schatten auf Gefahren. Ragnar wusste, dass Sven trotz ihres Geplänkels ebenso aufmerksam war wie er. Sie hatten beide ihre Sinne aufs Äußerste angespannt. Kein Feind konnte sie überrumpeln. Ragnar blähte die Nüstern und öffnete den Mund, um zu wittern. Nichts Bedrohliches. Er ging weiter zu der Kreuzung, wo die Leiter den Korridor durchstieß. »Oben oder unten?«, fragte er Sven. »Oben!« Ragnar nickte. Sven würde nach oben schauen und an der Leiter zur Decke hin sichern. Es war nun Ragnars Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie nichts von unten überraschte. Während er sich der Doppelöffnung näherte, schnüffelte er weiter und verstummte. Er war sich des Geplappers der Leibwächter hinter sich und der Witterung ihrer Rüstungen und Waffen nur allzu bewusst. Er konnte immer noch keine Bedrohung ausmachen. Vor der metallenen Leiter angelangt, schaute er nach unten und sah, dass sie sich weit nach unten fortsetzte und tief unter ihnen im Dunkeln verschwand. In seinem Bauch wand sich die Bestie und knurrte. Der Anblick dieses tiefen Lochs gefiel ihr überhaupt nicht. »Wohin?«, sprach er ruhig ins Komm-Netz. »Nach unten«, ließ sich Karahs klare, präzise Stimme vernehmen. Sven machte sich bereits an den Abstieg. Ragnar halfterte sein Kettenschwert, um eine Hand für die Leiter frei zu haben. Die Boltpistole hielt er immer noch fest in der Rechten. Er schwang sich auf die Leiter und fing an zu klettern. »Wie weit?«, fragte er. »Bis ich Ihnen sage, Sie können anhalten«, erwiderte die Inquisitorin. »Verstanden.«
Sie kletterten die Leiter weit nach unten. Ragnar hatte das Gefühl, schon seit Wochen unterwegs zu sein. Seine Muskeln schmerzten, obwohl sie verstärkt waren, und ihm taten die normalen Menschen Leid, die sie begleiteten. Sie mussten wirklich leiden. Der Abstieg war jedoch durchaus interessant gewesen. Seine Lehrer hatten ihm beigebracht, dass geologische und archäologische Überreste in Schichten gefunden wurden, und dieser Abstieg erinnerte ihn daran. Je tiefer sie kamen, desto älter wurde die Umgebung, als sei der Koloss von einem uralten Kern nach außen gebaut worden. Sie passierten Ebenen, die ihm von vielen verschiedenen Kulturen und Zivilisationen erzählt hatten. Ihm ging auf, dass sie tatsächlich herabstiegen, nicht durch ein riesiges Raumschiff, sondern durch eine Ansammlung kleinerer Schiffe, die an vielen verschiedenen Orten und zu vielen verschiedenen Zeiten gebaut worden und im Lauf der Jahrhunderte von Angehörigen vieler verschiedener Rassen besetzt gewesen waren. Überall sah er Spuren handwerklich primitiver Arbeiten, wie sie für Orks charakteristisch waren. Hier und da gab es dahingeschmierte Graffiti mit den schauderhaften Malen des Chaos. Wie viele Rassen hatten hier schon gelebt und waren auch hier gestorben?, fragte er sich. Vor wie langer Zeit war dieser Ort zum ersten Mal in Besitz genommen worden? Waren diese Spuren Hinterlassenschaften der einzelnen Schiffe aus der Zeit, bevor sie Teil des Kolosses geworden waren, oder waren sie Zeugnisse der Koloss-Bewohner? Nur der finstere Geist, der über den Koloss herrschte, konnte es ihm sagen, und mit ihm konnte er nicht kommunizieren und hätte es auch auf keinen Fall getan, selbst wenn er es vermocht hätte. Hinter sich hörte er das nervöse Geplapper der Leibwächter, die über das Komm-Netz ständig Funkverbindung hielten. Er roch ihr beständig stärker werdendes Unbehagen, da sich die Entfernung zu ihrem Mutterschiff vergrößerte und ihre Erschöpfung zunahm. Ragnar konnte es ihnen nicht verdenken. Er machte sich selbst Gedanken
über die Klugheit dieses Vordringens in den Raum-Koloss. Die Rückkehr mit konventionellen Mitteln war gleichbedeutend mit einem langen Aufstieg durch gefährliches Gelände, und die TeleporterBoje war sehr unzuverlässig, wie er bereits festgestellt hatte. Ihre Rückzugslinie war weit davon entfernt, sicher zu sein. Doch welche anderen Möglichkeiten hatten sie? Wenn sie den Talisman von Lykos wieder zusammenfügen und die Welt Aerius vor der finsteren Seuche retten wollten, mussten sie einfach weitermachen und für den Erfolg beten. Manchmal war der einzig mögliche Weg eben auch der längste. Als Space Marine durfte er sich davon nicht abschrecken lassen. Nagendes Unbehagen hatte sich wie ein Umhang um ihn gelegt. Ihm gefiel dieser Ort nicht. Mit seinen endlosen Korridoren kam er ihm wie eine groteske Parodie des Reißzahns vor, aber ihm fehlte der tröstliche Geruch der Wolfskrieger und ihrer Vasallen und der Eindruck langen, kontinuierlichen Bewohntseins. Wenn der Reißzahn vor Tausenden von Jahren von den Wölfen aufgegeben und dann von zufälligen Entdeckern als vorübergehender Unterschlupf benutzt worden wäre, hätte er jetzt vielleicht genauso ausgesehen. Er murmelte ein Gebet und versuchte diese grimmigen Gedanken zu verdrängen. Die bedrückende Atmosphäre dieses Ortes setzte ihm zu. Oder vielleicht war es auch etwas anderes. Vielleicht war auch die böswillige Präsenz, die er sich einbildete, wirklich vorhanden und flößte ihm diese schattenhaften Ängste ein. Vielleicht … Reiß dich zusammen, sagte er sich. Konzentrier dich auf die Feinde, die tatsächlich da sind. Bevölkere diesen Ort nicht mit eingebildeten Feinden, während die wirklichen Feinde sich an dich anschleichen. Also stieg er weiter in die Dunkelheit hinab in dem Bewusstsein, dass irgendwo dort unten etwas Furchtbares lauerte. Dem Unbehagen seiner Kameraden konnte er entnehmen, dass sie ebenso empfanden. Nach zehn Stunden machten sie Rast. Die Wolfskrieger hätten den
Abstieg ohne Schwierigkeiten fortsetzen können, aber die Inquisitoren und ihre Leibwächter mussten sich ausruhen. Sie schlugen ihr Lager in einer riesigen Halle auf, die einst ein Pavillon gewesen war. In der Decke befand sich eine Kristallkuppel, durch die früher einmal Sterne gefunkelt hatten. Jetzt konnten sie nur noch die große schattenhafte Masse eines anderen Teils des Kolosses sehen. Manchmal flackerten seltsame Lichter durch Bullaugen, was nur zur gruseligen Atmosphäre des Kolosses beitrug. Es war kein beruhigender Gedanke, dass jenseits des Kristalls nur das eisige Vakuum und eine hungrige Leere warteten, um alles zu verschlingen, was ungeschützt hineinfiel. Der Boden war ein riesiges Mosaik, aber das Bild war längst zu einem verschwommenen Gewirr aus Farben und Formen verblasst. Ohne Wind und Regen konnte Ragnar sich nur vorstellen, dass dies das Werk ungezählter Füße oder Fahrzeuge war. Über die ganze Halle verteilt gab es große leere Gruben, die einmal Fischteiche oder Schwimmbecken gewesen sein mussten. In der Mitte einiger dieser Gruben gab es Inseln mit Springbrunnen. Hier und da standen auf Sockeln Statuen von Angehörigen einer nichtmenschlichen Rasse, die er als Eldar identifizierte. Der Gesamteindruck war seltsam friedlich und schön, und zum ersten Mal, seitdem sie sich innerhalb des Kolosses aufhielten, hatte er ein Gefühl der Sicherheit. Vielleicht hatten sie sich diesen Ort auch deswegen als Lagerplatz ausgesucht. Die Krieger sanken zu Boden, wo sie gerade standen, hielten aber ihre Lasergewehre griffbereit. Inquisitor Sternberg und Gul teilten die Wachen ein. Auf eine Geste von Sergeant Hakon bezogen die vier Blutkrallen jeweils in einer Ecke der großen Halle Stellung. Sie würden sich als weitaus effektivere Posten erweisen als jeder normale Mensch. Hakon ging zu den Inquisitoren, um sich mit ihnen zu beraten. Ragnar bezog Stellung in der Nähe einer der Statuen, und zwar mit der Überlegung, nicht nur einen eingehenderen Blick auf die nichtmenschliche Kunstfertigkeit zu werfen, sondern die Statue im
Falle eines Angriffs auch als Deckung zu nutzen. Die Halle eignete sich recht gut zur Verteidigung. Die leeren Zierteiche und Springbrunnen konnten als Gräben und Schutzwälle zweckentfremdet werden, wenn Gefahr drohte. Sie hätten es schlimmer treffen können. Er holte tief Luft und murmelte ein Gebet an den Imperator, während er sich zur Entspannung zwang. Seine Muskeln schmerzten stärker, als dies eigentlich hätte der Fall sein dürfen, und er war auf eine Weise müde und erschöpft, wie er es seit seiner Erwählung noch nie erlebt hatte. Allem Anschein nach hatten ihm seine Wunden doch mehr zugesetzt, als er sich das vorgestellt hatte. Vielleicht war seine Phantasie aus diesem Grund so rege. Vielleicht war er einfach müde und krank. Doch irgendwie bezweifelte er das. Die Düsternis und Stille des Kolosses hatte etwas an sich, das schlicht und einfach böse war. Er wusste, dass es so war. Gerade jetzt hatte er ein Gefühl, als seien sie unbewaffnet in die Höhle eines Trolls marschiert. Er betrachtete die Statue eingehender. Sie stellte eine hoch gewachsene, schlanke humanoide Gestalt in einer seltsam länglich-runden Rüstung dar. Sie trug eine Waffe von fremdartiger Eleganz in der einen und ein Banner in der anderen Hand. Das Gesicht war unter einer Maske verborgen, die ebenso funktionell wie schön war. Die Statue selbst bestand aus einer Substanz, die Ragnar nicht kannte. Sie sah wie polierter Stein aus, aber irgendetwas daran erinnerte an Knochen. Als er sie berührte, spürte er ein leichtes Kribbeln, nicht unangenehm, aber auch so seltsam, dass er seine Hand wegriss. Wer bist du gewesen?, fragte sich Ragnar. Ein Held der Eldar, vor Urzeiten in einer Schlacht gefallen? Ein Gott, den sie anbeten? Oder ein eitler Führer, der veranlasst hat, hier sein Bildnis für die Ewigkeit aufzustellen? Es war ein weiteres Rätsel, dessen Lösung er niemals erfahren würde. Das Universum war voller Geheimnisse und Schrecken, und kein Mensch würde es je wirklich begreifen können. Er machte sich Gedanken über die Wesen, die diese Statue angefertigt hatten. Wo waren sie jetzt? Wie war ihr Schiff Teil dieses Kolosses geworden? Waren sie im Warpraum verschollen und einfach
hineingezogen worden? Hatten sie hier noch als Teil des Kolosses gelebt, oder waren sie schon lange vorher ausgestorben oder abgewandert? Diese Überlegungen konnten die Phantasie eines Menschen beschäftigen und ihn angesichts unendlicher Spekulationsmöglichkeiten in den Wahnsinn treiben. Er hatte gehört, dass die Eldar auf riesigen Raumschiffen lebten, Kunstwelten genannt, und schon seit unvordenklichen Zeiten nicht mehr an der Oberfläche wohnten. Sie waren eine dekadente, finstere Rasse, die aus ganz eigenen Beweggründen arkane Rituale vollzogen und sich ohne erkennbares Motiv in die Kriege der Menschheit einmischten. Und jetzt suchten sie Teile eines Artefakts, das früher dieser rätselhaften Rasse gehört hatte. War die Entdeckung dieser Halle irgendwie bedeutsam, vielleicht gar ein Omen? Oder war es nur ein Zufall und das einzige den Ereignissen zugrunde liegende Schema dasjenige, welches ihnen von seinem Verstand aufgedrückt wurde? Nein, es musste eine Verbindung geben. Hatten die Eldar nicht die Schwarze Pyramide auf Aerius gebaut? Waren sie nicht zugegen gewesen, als die Welt von einer Seuche heimgesucht worden war? Er witterte einen vertrauten Geruch hinter sich. »Inquisitorin«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Trainieren Sie Ihre psychischen Kräfte?«, fragte Karah Isaan mit einem dünnen Lächeln. »Nein. Ich kenne Ihre Witterung.« »Wie ist sie?« Sie klang neugierig. »Anders als alle anderen.« »Ich bin die einzige Frau hier.« »Nein, damit hat es nichts zu tun. Sie riechen wie jemand, der auf einer anderen Welt aufgewachsen ist als alle anderen hier. Inmitten eines blühenden Dschungels und unter einer heißen Sonne. Ich war nie dort, aber ich würde vermuten, dass Aerius im Winter ebenso kalt und düster ist wie Fenris und dass es dort nach Industrie und Metallarbeiten riecht.« »Sie wären ein sehr guter Seher, Ragnar, denn sie haben in jeder
Beziehung Recht. Und das können Sie alles dem Geruch entnehmen? Ihre Nase muss ausgesprochen fein sein.« »Feiner als die eines richtigen Wolfs, hat man mir gesagt.« »Für einen Inquisitor wäre das eine unschätzbare Gabe.« »Diese Gabe haben nur die Wolfskrieger, sie ist ein Erbe der Gensaat von Russ.« Ihm fielen Raneks Worte über Geheimnisse ein, und er fragte sich, ob er ihr zu viel erzählte. Sie trat vor ihn. Wieder nahm er ihre Schönheit zur Kenntnis. Sie war eine bezaubernde Frau, auch wenn sie ein wenig streng aussah. Auf ihre eigene Weise, mit ihrer dunklen Haut, den braunen Augen und dem fremdartigen Geruch war sie ebenso exotisch und unergründlich wie die Eldar. Er nahm an, dass sie in Bezug auf ihn in gewisser Hinsicht ebenso empfand. »Ich wollte mit jemandem reden«, fuhr sie fort. »Dies ist ein schlimmer Ort, und ich habe kein Verlangen, unsere Truppen mit diesem Gedanken zu behelligen.« »Es ist ein böser Ort«, stimmte er zu. »Das verrät Ihnen Ihre Nase?« »Meine Nase und meine Seele … und mein gesunder Menschenverstand. Wäre es nicht unsere Pflicht, hätten wir nicht herkommen sollen.« »Aber es war unsere Pflicht. Und unsere Pflicht führt uns oft an Orte, wo wir lieber nicht wären, und zwingt uns, Dinge zu tun, die wir lieber nicht täten.« »Ich bin ein Wolfskrieger«, sagte er. »Ich lebe für den Kampf. Es gibt nichts, was ich lieber täte.« »Dann führen Sie ein sehr einfaches Leben, Ragnar von den Wolfskriegern.« »Nein. Sie führen ein sehr kompliziertes Leben.« »Vielleicht … aber ich spüre, dass Sie auch noch eine verborgene Seite haben, Ragnar, und Sie nicht ganz so furchtlos sind, wie Sie mich glauben machen möchten.« Ihre Worte ließen die düsteren Gedanken zurückkehren, und er schaute verlegen weg. Sie waren seine geheime Schande, die er ganz
für sich behalten wollte. Auf keinen Fall wollte er, dass diese Frau mit ihrer bestürzenden Schönheit von ihnen wusste. Er sagte nichts und starrte lediglich in die Ferne. »Es ist keine Schande, sich an einem Ort der Finsternis zu fürchten, Ragnar. Eine Schande wäre es nur, wenn die Furcht die Herrschaft über Sie erringen würde. Und ich bin Seher genug, um zu wissen, dass es bei Ihnen niemals so weit kommen wird.« Ihre Worte hatten den Zweck, ihn zu beruhigen, das war ihm klar, aber er fühlte sich nicht beruhigt. Er fragte sich, ob das Gefühl der Unverwundbarkeit, der Unsterblichkeit, dessen er sich früher erfreut hatte, je wieder zurückkehren würde. Sie schien seine düstere Stimmung zu spüren und wandte sich ab und ging. Ragnar sah ihr nach und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Dienst als Wachposten. Wenn es dort draußen Ungeheuer gibt, dachte er, sollen sie nur kommen. Sie werden feststellen, dass ich bereit bin. Nach einer sechsstündigen Ruhephase frühstückten sie Provianttabletten, die sie mit destilliertem Wasser herunterspülten, dann drangen sie tiefer in den Koloss vor. Wieder veränderte sich ihre Umgebung. Die Lichtkugeln wurden seltener, und an vielen Stellen waren sie vollkommen ausgebrannt. Die Schatten wurden tiefer. Die Leibwächter schalteten die Scheinwerfer auf ihren Schulterpolstern ein, um mehr Licht zu haben. Ragnars veränderte Augen konnten die Düsternis immer noch mühelos durchdringen, aber die zunehmende Dunkelheit legte sich bedrückend auf sein Gemüt. Manchmal glaubte er vor ihnen bedrohliche huschende Bewegungen zu hören, so schwach, dass sie selbst für seine übermenschlich scharfen Ohren kaum wahrnehmbar waren. Er versuchte sich einzureden, dass es Ratten oder riesige mutierte Schaben waren, von denen es auf Schiffen wie diesem mehr als genug gab, aber es gelang ihm nicht. Ein rascher Blick auf Sven verriet ihm, dass sein Kamerad dasselbe dachte. Er hob die Hand und gab das Zeichen für äußerste Vor-
sicht. Dem Wechsel in ihrem Bewegungsrhythmus konnte er ohne sich umzudrehen entnehmen, dass die Leibwächter die Warnung beherzigten. »Ich frage mich, ob sie essbar sind«, sagte Sven. »Ich hasse diese verfluchten Nahrungstabletten.« »Das werden wir sehr bald wissen«, sagte Ragnar, dem die Spannung in der Stimme seines Freundes nicht entging. »Weißt du, was ich an dir so mag, Ragnar? Du hast immer eine dämliche Antwort auf alles, was ich zu sagen habe.« »Weißt du, was ich an dir so mag, Sven?« »Was?« »Überhaupt nichts.« »Wie ich schon sagte«, schnaubte Sven, »du hast deine Berufung verfehlt. Du hättest Hofnarr werden sollen, kein Wolfskrieger.« Ragnar lächelte und umklammerte seine Waffen fester. Wenn sie voraus Ärger erwartete, war er froh, dass Sven da war. Jeder Mann, mit dem man solche idiotischen Beleidigungen wechseln konnte, wenn Gefahr drohte, war es wert, dass man ihn bei sich hatte. Sie marschierten weiter durch die Tiefen des riesigen Kolosses. Ragnar hatte ein Gefühl, als werde es ringsherum lebendig, als erwachten uralte böse Dinge aus langer Untätigkeit. Sogar mit seinen hyperaktiven Sinnen konnte er sich diesen Eindruck nicht erklären. Es waren subtile Veränderungen der Geruchsmuster in der Luft. Das unterschwellige Summen der Lebenserhaltungssysteme hatte sich verändert. Gelegentlich spürte er Vibrationen in der Wandung unter seinen Füßen, als bewege sich ein Riese oder als laufe irgendeine gigantische Maschine an. Der Anspannung in Svens Körper und den subtilen Veränderungen in Haltung und Witterung konnte er entnehmen, dass sein Kamerad es ebenfalls spürte. Sven hielt seine Waffen bereit und sah sich beständig um, als erwarte er jeden Moment, sie benutzen zu müssen. Karah Isaans Worte hinsichtlich einer neuen Gefahr von Seiten
des Schiffs, das ihnen folgte, hallten durch seinen Verstand. Hatte sein Gefühl, dass sich etwas regte, mit ihrer eigenen Anwesenheit und dem Eindringen in ein fremdes Schiff zu tun, oder gab es da keinen Zusammenhang? »An der nächsten Abzweigung nehmen Sie den abwärts führenden Gang«, ertönte Karahs Stimme laut und deutlich über Komm-Netz in seinem Ohrhörer. Die Anspannung fing an, ihn auszulaugen. Er sprach in sein Kehlkopfmikro: »Sind wir dem Gesuchten näher gekommen oder haben wir uns im Kreis bewegt?« »Haben Sie Geduld, Ragnar, wir kommen ihm näher«, beruhigte Karah ihn. »Russ sei Dank dafür«, murmelte Sven. Auf ihrem Weg nach unten wurde offensichtlich, dass sich die Maschinerie eingeschaltet hatte. Gewaltige Kompressoren waren bei der Arbeit, deren große, flexible Akkordeonröhren sich ausdehnten und wieder zusammenzogen. Riesige Kolben stampften auf und nieder. Wolken aus Dampf und Qualm drangen aus gesprungenen und lecken Rohren. »Was, bei allen verfluchten kalten Höllen Frostheims, geht hier vor?«, fragte Sven. »Sieht ganz so aus, als hätte jemand all diese Maschinen eingeschaltet«, erwiderte Ragnar. »Was du nicht sagst, verflucht«, sagte Sven. »Ich meine − warum?« »Sie könnten sich bei unserem Eintreten automatisch eingeschaltet haben. Manche uralten Vorrichtungen tun das.« »Oder, Ragnar? Ich höre einen Zweifel in deinem Tonfall.« »Vielleicht hat jemand sie eingeschaltet, um sich Deckung zu verschaffen. Lärm, Rauch, verwirrende Gerüche. All das wird es uns erschweren, einen Hinterhalt rechtzeitig zu erkennen.« »Lärm und Rauch, ja, ich verstehe. Aber Gerüche − warum das?
Sie können doch unmöglich wissen, dass Wolfskrieger an Bord sind.« »Warum nicht? Was führt dich zu dieser Annahme? Du setzt voraus, dass sie wie Menschen denken und empfinden. Das muss nicht so sein. In Kolossen sind viele nichtmenschliche Rassen zu Hause.« »Als Gesprächspartner hast du in Situationen wie dieser keine sonderlich beruhigende Wirkung, Ragnar.« »Die Situation selbst ist auch nicht sonderlich beruhigend.« »Aye, da hast du Recht.« Plötzlich ließ der Gestank, der ihm in die Nase schoss, auf etwas schließen, das nicht einmal entfernt menschenähnlich war. Die Gestalt, welche aus dem Dampf trat, unterstrich diesen Eindruck. Sie war größer als ein Mensch und bewegte sich viel schneller. Vier massige, in monströsen Klauen auslaufende Arme ragten aus den Schultern. Im Maul des Wesens glänzten mehrere Reihen beängstigender Reißzähne. Der Körper war durch einen Hornpanzer geschützt. Das Wesen lief auf krallenbewehrten Füßen. In seiner Art erinnerte es an ein dahinhuschendes Insekt. Das von den Lehrmaschinen eingetrichterte Wissen verriet ihm augenblicklich, worum es sich handelte. »Ein Genräuber!«, rief Ragnar, indem er seine Boltpistole darauf anlegte und abdrückte. So schnell er auch war, das Wesen war noch schneller. Es knickte zur Seite, und die Patronen flogen über seinen Kopf hinweg. Ragnar hatte noch nie etwas gesehen, das sich so schnell bewegte. Neben den Reflexen dieses Wesens wirkten seine eigenen vergleichsweise langsam. Die Furcht, die er zuvor empfunden hatte, kehrte wie eine Flut Eiswasser zurück, und einen schrecklichen, lebenswichtigen Augenblick erstarrte er. Das Ding ging ohne Umschweife auf ihn los und hatte ihn erreicht, bevor er reagieren konnte. Es prallte gegen ihn und stieß ihn mit unwiderstehlicher Kraft um. Einen Augenblick später sah er das grässliche, knurrende Gesicht des Genräubers direkt vor sich und nach ihm schnappen. Er roch sei-
nen stinkenden Atem und sah zähflüssigen, schleimigen Geifer aus seinem Maul tropfen. Er spürte, wie er von den unglaublich starken Klauen gepackt wurde, und hörte, wie seine Rüstung unter dem Druck zu knacken anfing. Er wusste, dass ihn sein Sekundenbruchteil des Zögerns das Leben kosten würde. Blut und Fleisch spritzten ihm ins Gesicht. Die Klinge eines Kettenschwerts sägte einen Fingerbreit vor seinen Augen durch Chitin, und die Bestie hörte auf, sich zu bewegen. »Steh auf!«, hörte er Sven bellen. »Wir werden angegriffen.« Ragnar schüttelte den Kopf und sprang auf, wobei der Kadaver des Genräubers von der Wucht seiner Bewegung zur Seite geworfen wurde. Er war entsetzt. Im entscheidenden Augenblick war er erstarrt, wie er befürchtet hatte. Nur Svens rasches Handeln hatte ihn gerettet. Der Umstand, dass ihn die Schnelligkeit und Kraft des Wesens überrascht hatten, war keine Entschuldigung. Er war ein Wolfskrieger. Eigentlich hätte ihn nichts so unvorbereitet treffen dürfen. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt noch deswegen Gedanken zu machen, ging ihm auf, als er das Patschen Dutzender sich nähernder Füße hörte und die monströsen Gestalten eines halben Dutzends Genräuber aus dem Dampf auftauchten. In seinem Zustand erhöhter Aufmerksamkeit fiel ihm auf, dass ihre Panzer fleckig und gesprungen waren. Sie hatten ein seltsames, krankes Aussehen, das sich von den in seinem Verstand verankerten Bildern unterschied. Die Bestie in ihm knurrte wütend. Er wusste, dass ihr die tödliche Gefahr ebenfalls einen Schock versetzt hatte, und ihre Wut war deswegen nur umso größer. Dankbar gab Ragnar sich ihr hin. Laserstrahlen zuckten über seine Schulter, als die Leibwächter der Inquisitoren das Feuer eröffneten. Er hörte das Tosen von Boltpistolen, als Sergeant Hakon und Inquisitor Sternberg ebenfalls schossen, und er konnte noch mehr Boltschüsse von weiter hinten hören. Das waren Strybjörn und Nils, ging ihm auf. Diese Dinger griffen auch von hinten an. Also waren sie keine tierische Lebensform. Eine unmenschliche Intelligenz war hier am Werk und steuerte den Angriff.
Ragnar hob seine Pistole und schoss. Diesmal zielte er richtig. Das Projektil bohrte sich in den Kopf eines Räubers. Er heulte vor befriedigtem Blutdurst und schoss erneut. Die Räuber waren zu dicht beisammen, um sie zu verfehlen, aber diesmal lenkte der Panzer des Getroffenen das Geschoss teilweise ab, sodass es den Genräuber nicht sauber tötete, sondern ihm nur einen seiner massigen Klauenarme abriss. Falls das Wesen irgendeinen Schmerz verspürte, ließ es sich nichts davon anmerken, sondern lief weiter. Der Gestank nach verbranntem Fleisch breitete sich aus, als die Laserstrahlen ihr Ziel trafen. Ragnar sah Chitinpanzer unter der Hitze dampfen, sich verflüssigen und zerlaufen. Trotzdem stürmten die Bestien immer weiter. Hinter ihnen ertönten Kampfrufe und die Schreie sterbender Männer. Der Gestank nach menschlichem Blut drang Ragnar in die Nase. Hinter ihnen hatten die Genräuber den Nahkampf erzwungen. Der schreckliche Verdacht überkam ihn, jeden Augenblick werde einer der Genräuber durchbrechen und ihn von hinten anfallen. Er wagte jedoch nicht, sich umzudrehen, weil er dann den Blick von den sich rasch nähernden unmenschlichen Feinden hätte abwenden müssen. Sie waren so schnell, dass sich jede Ablenkung als tödlich erweisen mochte, und so einen Fehler würde er nicht noch einmal begehen. Die Hälfte der Räuber war mittlerweile gefallen, aber die übrigen waren beinahe in Schlagdistanz. Hinter sich hörte er die Flüche der Leibwächter und spürte ihre Angst. Ihm war klar, dass sie keine große Hilfe im Nahkampf waren. Sie waren nur gewöhnliche Menschen, wie gut sie auch ausgebildet sein mochten, und konnten der Wucht des Ansturms der Räuber unmöglich standhalten. Ragnar wartete nicht, bis sie bei ihm waren. Von der Wut der Bestie in sich erfüllt, sprang er vor und schwang sein Kettenschwert in einem weiten Bogen, der im Insektenschädel eines Räubers endete. In einem Reflex wie der Todesstich eines Skorpions schlug er mit den Krallen zu. Ragnar sprang zurück, doch nicht schnell genug. Ei-
ne der Klauen des sterbenden Räubers streifte ihn, und die Wucht des Stoßes schleuderte ihn zurück und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Er landete neben Karah auf dem Boden. Ragnar wälzte sich herum, rappelte sich auf und fand sein Gleichgewicht wieder. Sergeant Hakon hatte sich ebenfalls ins Getümmel gestürzt, und Inquisitor Sternberg und Gul waren bei ihm. Gemeinsam mit Sven kämpften sie mit unglaublicher Wildheit gegen die verbliebenen Räuber. Es ließ sich unmöglich sagen, wer mit größerer Wut kämpfte, die Menschen oder die Insekten, so brutal war der Kampf. Gerade schlug Hakon mit dem Kolben seiner Pistole auf einen der Genräuber ein. Knochen und Chitinpanzer knackten unter der Wucht des Hiebs, und als die Insektenbestie nach hinten kippte, enthauptete sie der Sergeant mit einem raschen Schwertschwung. Sternberg schoss einem anderen Räuber direkt ins Gesicht, sodass Blut, Hirnmasse und Knochensplitter in alle Richtungen flogen. Aus dem Augenwinkel sah Ragnar, dass einer der Räuber Sven umgangen hatte und Anstalten machte, ihn von hinten anzuspringen. Sven war mit zwei anderen Genräubern beschäftigt und konnte nichts dagegen tun. Ragnar knurrte. Es wurde Zeit, seine Schulden zu begleichen. Er sprang vor und landete auf dem Rücken des Genräubers, wie dieser es bei Ragnars Schlachtbruder beabsichtigt hatte. Die Bestie fiel nach vorn. Ragnar ließ die Pistole auf ihren Hinterkopf krachen und schlug ihr den Schädel ein. Als die Bestie vor ihm auf dem Boden lag, ließ er seinen Absatz auf ihren Hals sausen, wie Gurg es bei Lars getan hatte. Wirbel knackten, als das Genick brach. Er gab einen Schuss über Svens Schulter ab, wobei er das Risiko einging, dass sein Schlachtbruder sich im falschen Augenblick in seine Richtung bewegte, um eines der beiden anderen Ungeheuer zu erledigen, die seinen Freund bedrängten, dann enthauptete er als letzte Vorsichtsmaßnahme den Räuber zu seinen Füßen mit seinem Kettenschwert. Er schaute wieder auf und sah gerade noch, wie Sven seinen letz-
ten Gegner erledigte, dann eilten sie Hakon und den anderen zu Hilfe. In einem Gewitter aus Kettensägenklingen und Boltpatronen fuhren sie zwischen die Genräuber, und Augenblicke später war der Kampf vorbei. Hinter ihnen war der Kampflärm ebenfalls verstummt. Ragnar blickte sich um. Strybjörn und Nils standen noch. Ihre Rüstungen waren derart mit dampfendem Unrat besudelt, dass ihre Blutkrallen-Abzeichen nicht mehr zu erkennen waren. Sie waren von den Leichen toter Genräuber umringt − und einem halben Dutzend toter Menschen aus den Reihen der Leibwächter. »Wie es scheint, haben wir den Angriff abgewehrt«, sagte Sternberg laut keuchend. »Ja, aber wie viele von diesen elenden Biestern stehen noch zwischen uns und unserem Ziel?«, fragte Sergeant Hakon.
ZWÖLF
Ragnar betrachtete den Schauplatz des Gemetzels. Der Angriff in ihrem Rücken war der stärkere der beiden gewesen und hatte ihnen größere Verluste zugefügt. Das ließ darauf schließen, dass eine durchaus nicht zu unterschätzende Intelligenz am Werk war. Sie hatte zugeschlagen, wo sie am schwächsten waren, und sie hatte genug über sie gewusst, um genau an der richtigen Stelle anzugreifen. Wie war das möglich? Er tat den Gedanken als irrelevant ab. Jetzt spielte es keine Rolle mehr. Wichtig war nur, dass es so war. In der Rückschau war jedoch für ihn weitaus beunruhigender, dass er im Augenblick des Angriffs erstarrt war. Das hätte ihn das Leben kosten können. Schlimmer noch, es hätte andere das Leben kosten können. Wenn er das schwache Glied in der Kette war, konnte das alle möglichen Konsequenzen haben. Wäre er sofort gestorben, wäre Sven vielleicht gefallen, und womöglich wären die Genräuber dann zu Karah durchgedrungen. Wer konnte wissen, wie der Kampf dann verlaufen wäre? Hier und jetzt hatte jeder das Leben der anderen in der Hand. Er wusste, dass sie sich alle aufeinander verließen und dass das Versagen eines Einzigen allen anderen leicht zum Verhängnis werden konnte. Er beschloss, dass er seine Gefährten zum ersten und zum letzten Mal im Stich gelassen hatte. Er wurde der Tatsache gewahr, dass Sven ihn anstarrte. Das Schuldgefühl überkam ihn, sein Schlachtbruder könne seine Gedanken lesen. »Was?«, fragte er grimmig. »Nichts. Ich wollte mich nur dafür bedanken, dass du mir mein verfluchtes Leben gerettet hast, weiter nichts.« Ragnar ließ das einen Moment auf sich wirken. Sven hatte seine
Furcht nicht bemerkt. Er glaubte, dass Ragnar sich tadellos verhalten hatte. »Nein. Danke, dass du mein Leben gerettet hast. Es wäre mein Ende gewesen, hättest du den Genräuber nicht niedergemetzelt, als er auf mir lag.« Svens schiefes Grinsen ließ sein hässliches Gesicht strahlen. »Denk dir nichts dabei. Ich tue es auch nicht. Dich dabei zu haben lässt uns andere gut aussehen. Deswegen habe ich es getan.« »Trotzdem danke, o Großzügiger.« Ragnar fühlte sich bereits besser. Er musterte die anderen. Sternberg und Karah waren unversehrt, wenn auch ein wenig erschüttert. Sergeant Hakon sprühte Kunsthaut auf sein Gesicht, um eine klaffende Wunde zu versorgen. Vor Ragnars Augen schloss sich das künstliche Gewebe über dem Schnitt, der zugleich versiegelt und gesäubert wurde. Ragnar wusste, dass es eine ziemlich üble Wunde sein musste, wenn er das rätselhafte Zeug überhaupt benötigte, aber wenn Hakon Schmerzen hatte, ließ er sie sich nicht anmerken. Als er ihn ansah, fragte Ragnar sich, wie oft Hakon in seiner langen Laufbahn wohl verwundet worden war. Hatte er sich nach einer Verwundung je so gefühlt wie Ragnar? Wenn ja, hatte es ihn anscheinend nicht sonderlich beeinflusst. Ragnar beschloss, sich ein Beispiel an dem Sergeant zu nehmen. Wenn Hakon lernen konnte, damit zu leben, konnte er es auch. Die Leibwächter liefen hektisch umher und kümmerten sich um ihre Verwundeten. Als er sie beobachtete, wurde Ragnar noch einmal vor Augen geführt, was für ein zerbrechliches Ding so ein menschliches Wesen war. Die Leichen sahen erbärmlich aus. Manche waren von den Krallen der Räuber förmlich aufgeschlitzt worden. Verglichen mit diesen machten einige der anderen einen seltsam unversehrten Eindruck. Ihre Wunden sahen so geringfügig aus, dass sie nicht in der Lage hätten sein dürfen, einen Erwachsenen zu töten − und doch hatten sie es getan. Die Überlebenden wirkten müde und erschöpft nach einer Schlacht, die in ihm ein Gefühl der Belebung wachgerufen hatte. Er fragte sich, ob das für eine gewisse Art von Menschen normal oder
ob es Bestandteil der Umstrukturierung seines Körpers zu einem Space Marine war. Er wünschte, er hätte jemanden zu diesen Dingen befragen können. Gul, Sternberg und die Korporale der Leibwächter kommandierten sie bereits wieder herum und teilten sie in eine neue Marschformation ein. Nils und Strybjörn näherten sich wachsam. Ragnar sah, dass sie beständig nach neuen Gefahren Ausschau hielten. Strybjörns Miene war missmutig wie immer. Nils’ Gesicht erstrahlte in einem grellen, intensiven Leuchten. Er schien in Hochstimmung zu sein. »Das war ein guter Kampf«, sagte er. »Ich habe allein fünf von diesen vierarmigen Ungeheuern erledigt. Eine Zeit lang haben sie uns ziemlich zugesetzt, aber letzten Endes haben wir sie zurückgeworfen.« Strybjörn zuckte die Achseln und starrte in die Ferne. Er schien von einer seltsamen Melancholie ergriffen zu sein. Gleichzeitig kündete seine Witterung von einer wilden Erregung, die noch stärker war als bei Nils. »Wir haben hier auch ein paar erledigt«, sagte Sven. »Es wären noch mehr gewesen, wenn der verfluchte Ragnar nicht beschlossen hätte, sich mitten in der Schlacht einfach hinzulegen und ein Nickerchen zu machen.« »Also schön! Formiert euch!«, rief Gul. »Wir marschieren weiter.« »Wir sind jetzt ganz nah«, sagte Karah aufmunternd, obwohl ihre Miene ihre Zuversicht Lügen strafte. »Ich wette, wir begegnen noch mehr von diesen verfluchten Räubern, bevor wir kriegen, was wir suchen.« »Sie sind, was ich suche«, sagte Nils, während er und Strybjörn sich ans Ende der Kolonne zurückfallen ließen. »Aye, leicht gesagt«, murmelte Sven. »Aber Ragnar und ich sind hier vorn an der verfluchten Spitze.« Das Innere des Kolosses wurde dunkler und finsterer. Hier und da
waren Spuren einer organischen Substanz an den Wänden zu sehen. Ragnar witterte jene Sorte von Gerüchen, die man wahrnahm, wenn man eine Leiche aufschnitt oder ein Tier ausweidete. Ausdünstungen wie exotische Parfüms. Alles wurde von einer absonderlichen fremdartigen Witterung überlagert, die große Ähnlichkeit mit derjenigen der Genräuber hatte, aber eben doch anders war, als gehöre sie zu etwas mit ihnen Verwandtem. »Es stinkt, als ob wir durch eine Leiche kriechen würden«, sagte Sven. Ragnar nickte. Es war keine angenehme Sinneswahrnehmung, und sie wurde immer schlimmer. Neben dem Gestank lag noch eine bedrückende Aura von einer Präsenz in der Luft. Sie ähnelte in mancherlei Hinsicht derjenigen des orkischen Häuptlings. Sie ließ auf eine mächtige psychische Kraft schließen. Ragnar wusste, dass sie der Intelligenz immer näher kamen, welche die Genräuber steuerte. Er fragte sich, ob sie feststellen würden, dass diese Intelligenz das Fragment des Talismans in ihrem Besitz hatte und vielleicht auf dieselbe Weise Gebrauch von ihm machte, wie Gurg es getan hatte. Es würde ihn nicht überraschen, wenn es so war. Er warf einen Blick zurück, um festzustellen, wie Karah zurechtkam. Sie schien in eine hitzige Diskussion mit Sternberg vertieft zu sein. Sie machte ein langes Gesicht und hatte die Stirn gerunzelt. Es sah so aus, als habe sie Schmerzen, die mit jedem Schritt zunahmen. Wenn diese Aura, von der sie alle umgeben waren, so stark war, dass sie auch ein Nicht-Psyker wie er spürte, musste sie ihr erhebliche Probleme bereiten. Er stellte sich vor, dass ihre psychische Wahrnehmung so stark war wie die Geruchswahrnehmung bei ihm. Es war kein beruhigender Gedanke. Die Wände in den Gängen veränderten sich. Hier und da waren Spuren eines glänzenden Schleims zu sehen. Manchmal klebten Fetzen einer Substanz wie Schimmel an den Wänden. Bei genauerem Hinsehen konnte er die Überreste einer nahezu durchsichtigen Membran erkennen. Es war so, als sei etwas aus dem Metall ausgebrochen
und habe sich dann entfernt. Im Geiste stellte er sich vor, wie die Wände obszöne, mannsgroße Ungeheuer ausbrüteten. Er schauderte, da er versuchte, die Vorstellung abzuschütteln. Etwas später sah er gewaltige Rohre wie Adern aus derselben Substanz, die in den Flecken an der Wand endeten. Aus ihrem Innern war das Gurgeln von Flüssigkeiten zu hören. Was war das?, fragte er sich. Jetzt hatte es wirklich den Anschein, als seien sie tief im Innern eines riesigen Lebewesens. Und doch, bei genauerem Hinsehen konnte er erkennen, dass es diesem wie auch immer gearteten Lebewesen nicht gut ging. Das Ding strahlte eine Aura der Krankheit aus. In der Luft lag ein Geruch nach Verwesung, Fäulnis und schwärenden Eiterbeulen. Das ließ ihn an Nurgle denken, an den Finsteren Gott der Krankheit und des Verfalls. Welche gigantische Bestie hier auch leben mochte, sie war krank, und dies war nicht ihr natürlicher Zustand. Als er an die Genräuber dachte, gegen die sie zuvor gekämpft hatten, kamen ihm ihre gesprungenen und fleckigen Panzer und die entzündeten Stellen in den Sinn. Auch sie waren krank gewesen. Es war so, als sei hier eine schreckliche Kraft am Werk, die sogar die Genräuber beeinflussen konnte und sie für ihre eigenen Zwecke erschaffen hatte. »Das sieht verflucht schlecht aus«, hörte er Sven murmeln. Die Worte rissen ihn aus seinen Grübeleien und zwangen ihn, seine Umgebung eingehender zu betrachten als nur auf die automatische Art, wie er es bisher getan hatte. Ihm war sofort klar, was Sven meinte. In der Ferne konnte er eine Masse organischen Materials ausmachen, die in mancherlei Hinsicht an die Bestandteile einer riesigen lebendigen Maschine denken ließ. Über den organischen Maschinen brannten grünliche Lichter. Sie erinnerten Ragnar an die phosphoreszierenden Algen, die es in den Gewässern auf Fenris gab, waren aber viel heller und viel konzentrierter. Er konnte große Röhren erkennen, durch die mittels peristaltischer Bewegungen eiförmige Gegenstände transportiert wurden. Er konnte etwas ausmachen, das Ähnlichkeit mit einem großen pulsierenden
Herz hatte und auf dem etwas saß, das ihm wie ein freiliegendes Gehirn vorkam. Gewaltige Fasern erstreckten sich in alle Richtungen und waren mit Fleischknoten verbunden, die sich in das Metall des Kolosses gebohrt hatten. Das ganze Ding hatte einen Überzug aus einem faserigen, glänzenden, grünlichweißen Schleim. Er wusste sofort, dass sie das Zentrum der Fäulnis erreicht hatten, dass dies das Herz der Finsternis innerhalb des Schiffs war. Mitten in der Hirnmasse funkelte etwas, und Ragnar war sofort klar, dass er den gesuchten dritten und letzten Teil des Kristalls vor sich sah. Im nächsten Augenblick löste sich eine Horde lebendiger Wesen aus der fleischigen Masse, die sich mit einer unmenschlichen Präzision bewegten, als seien sie alle Zellen eines mächtigen Organismus. Er konnte große Kreaturen mit Insektengliedern erkennen, deren Waffen so aussahen, als bestünden sie aus organischem Material. Es gab kleinere, flinkere Kreaturen, die nur aus Beinen, Mäulern und peitschenden Schwänzen zu bestehen schienen. Es gab Genräuber, die zirpten und knurrten. Und noch etwas anderes − etwas Gewaltiges und Monströses mit riesigen Beißzangen, die einen Menschen dadurch zerteilen konnten, dass sie sich einfach schlossen. Er wusste sofort, womit sie es zu tun hatten. »Tyraniden«, hörte er Sergeant Hakon sagen, in dessen Tonfall sowohl Beklommenheit als auch Staunen lag. Ragnar schauderte. Dies waren die gefürchteten Krieger der Schwärme, welche die Menschheit in der Vergangenheit mehrfach bedroht und dabei auch viele Wolfskrieger getötet hatten. Was waren diese Exemplare? Überlebende einer der großen Schwarmflotten, die durch das Reich der Menschheit gezogen waren? Oder waren sie geheime Eindringlinge, die Vorboten einer bevorstehenden neuen Invasion der Tyraniden? Und in dem Augenblick, als sie ihren Sturmangriff begannen, konnte er erkennen, dass auch hier irgendeine Krankheit am Werk war. Sie sahen fehlerhaft aus, falsch produziert, als habe der Prozess,
der sie erschaffen hatte, nicht richtig funktioniert. Sie stimmten nicht mit seinen künstlichen Erinnerungen überein, sondern sahen wie kranke, entstellte Parodien aus. Glieder hingen schlaff an den Seiten, die Haut war mit Beulen und Warzen übersät. Dünner gelber Schleim quoll aus ihren Mäulern und Atemmembranen. Es war, als litten sie unter einer furchtbaren Seuche. Sogar ihre Bewegungen waren hinkend und kränklich. Das war etwas Neues, dachte er. In keiner der Aufzeichnungen war die Rede von erkrankten Tyraniden. Manchmal infizierten sie ganze Welten mit ihren biomechanischen Sporen, aber es gab keinen einzigen Verweis darauf, dass sie unter irgendwelchen Krankheiten gelitten hätten. Obwohl das nichts heißen wollte, dachte Ragnar nach einem Moment des Nachdenkens. Die alten Aufzeichnungen waren lückenhaft, und wer wusste schon über diese ketzerischen Nichtmenschen Bescheid? Vielleicht gab es irgendeine Verbindung zwischen dieser Krankheit und der Seuche auf Aerius. Dann war die Zeit des Überlegens vorbei, als die Tyraniden angriffen. Sie kamen in einer gewaltigen Welle. Die riesigen Schwarmkrieger bellten unheimliche, fremdartige Herausforderungen. Die kleineren Wesen zirpten und richteten kleine, organische Schusswaffen auf sie. Ihr Chitinpanzer glänzte grünlich im Dämmerlicht. »Aufpassen!«, bellte Sven. Ein Knirschen ertönte, und dann spien ihnen die bizarren Pistolen einen Geschosshagel entgegen. Ragnar warf sich flach auf den Boden und ließ die Kugeln über sich hinwegfliegen. Schmerzensschreie hinter ihm verrieten ihm, dass andere nicht so schnell reagiert hatten. Er erwiderte das Feuer mit seiner Boltpistole, wobei er sich auf die Genräuber und die massigen Schwarmkrieger konzentrierte. Ihm war klar, dass die Welle ihn bald erreicht haben würde und er sich erheben musste, weil sie ihn liegend niedermetzeln würden, aber in den nächsten Sekunden wollte er zunächst einmal ihre Anzahl verringern.
Gebrüllte Befehle von hinten verrieten ihm, dass die anderen dieselbe Idee hatten. Laserstrahlen zuckten über ihn hinweg, als die verbliebenen Leibwächter der Inquisitoren das Feuer erwiderten. Das Donnern der Boltpistolen verriet ihm, dass auch seine Schlachtbrüder schossen, was ihre Waffen hergaben. Er sah einige runde Gegenstände über sich hinwegfliegen, und eine tödliche Explosion fegte durch die anstürmenden Reihen der Tyraniden. Jemand hatte genug Geistesgegenwart, um die dicht gedrängten Massen ihrer Feinde mit Granaten zu bewerfen, dachte er. Gute Idee! Er drückte auf seinen Granatenspender. Eine kleine runde Mikrogranate fiel in seine gewölbte Hand. Er drückte zweimal, um den Zeitzünder einzustellen, und warf. Sie landete in hohem Bogen zwischen den angreifenden Tyraniden. Die ersten liefen unbeschadet darüber hinweg, aber einen Moment später erfasste die Explosion einen der riesenhaften Schwarmkrieger und einige der kleineren Bestien. Große Brocken des Panzers flogen in alle Richtungen, und dann ging der Tyranid zu Boden wie ein gefällter Baum. Seine kleineren Verwandten wurden augenblicklich zerfetzt. Kalte Befriedigung erfüllte Ragnar, als er nach einer weiteren Granate griff. Einige Geschosse der Angreifer prallten ganz in seiner Nähe auf den Boden. Sie zerplatzten, und sofort schoss ihm ein stechender Geruch nach Säure in die Nase, als eine brodelnde grünliche Flüssigkeit herausquoll. Ihm war klar, dass es sich um eine Säure handelte, die sowohl das Ceramit der Rüstung als auch Leiber zersetzen würde. Der Gestank war grässlich. Er war froh, dass er nicht getroffen worden war. Er wälzte sich herum, um den Bestien ein schwierigeres Ziel zu bieten. Etwas spritzte auf seine Hand, und Brandgeruch von seinem Handschuh drang ihm in die Nase. Da er im Augenblick nichts dagegen unternehmen konnte, sprang er auf und gab Schuss um Schuss auf die anstürmende Horde ab. Es waren so viele, dass er sie gar nicht verfehlen konnte. Jede Patrone traf einen Gegner. Köpfe explodierten, Gewebe zerriss, und
nichtmenschliche Körperflüssigkeiten spritzten auf das Deck. Jede menschliche Streitmacht wäre unter dem erbarmungslosen Beschuss der Marines und ihrer Verbündeten längst verzweifelt, aber die Tyraniden setzten ihren Angriff ungeachtet ihrer ungeheuren Verluste fort. Ihre unmenschliche Gleichgültigkeit, was den Tod in ihren eigenen Reihen betraf, war furchtbar mit anzusehen, und Ragnar konnte die kaum unterdrückte Furcht aller Menschen ringsumher riechen. Nur die Wolfskrieger, die beiden Inquisitoren und Gul schienen dagegen immun zu sein. Er hörte, wie Sternberg seinen Männern Aufmunterungen zurief und Gul den Soldaten befahl standzuhalten. Er spürte, wie Karah ihre psychischen Kräfte sammelte. Ihm kam es so vor, als befinde er sich mitten in einem Strom aus reinem Licht. Die Leibwächter hielten den Beschuss trotz ihrer Panik aufrecht. Ihnen war offenbar klar, dass ihre Überlebensaussichten am besten waren, wenn sie ihren Anführern gehorchten und so viele Feinde wie möglich töteten. Die gesamte führende Reihe der Tyraniden wurde niedergemäht. Für einen kurzen Moment schien es so, als könne ihr unnachgiebiger Vormarsch ins Stocken geraten. Sie schwankten, da der Beschuss der Menschen und ein Hagel von Granaten ihre Reihen ausgedünnt hatten. Die Angreifer schienen ihren Zusammenhalt zu verlieren, und es hatte den Anschein, als könnten sie tatsächlich den Schwanz einziehen und fliehen. Doch dann war der Moment vorbei, und sie sprangen über ihre gefallenen Kameraden hinweg, fest entschlossen, ihre Feinde in ein Handgemenge zu verwickeln. Ragnar wappnete sich für den Moment des Aufeinandertreffens in dem Wissen, dass er in den nächsten Augenblicken sterben konnte. Diesmal war er entschlossen, komme, was da wolle, nicht zu erstarren und, falls er hier sterben musste, einige dieser unmenschlichen Ungeheuer mit in die Hölle zu nehmen. Sven ließ ein langes Heulen hören und stürmte vorwärts. Ragnar sah ihn mit wirbelndem Kettenschwert durch die monströse Masse pflügen. Die brutalen Sägezähne des Kettenschwerts zerfetzten Chitin wie Papier und legten schleimi-
ge Eingeweide bloß. Waffen aus Fleisch und Knochen wurden entzwei gehauen. Die Einzelteile bluteten und eiterten genau wie die Ungeheuer, welche die Waffen trugen. Der Wolf sah einen Moment zu und kam dann zu dem Schluss, dass Svens Idee die richtige war. Er sprang vorwärts und spürte den Aufprall, als sein Kettenschwert organische Panzerung durchschlug. Er kam sich wie ein Schwimmer vor, der in ein Meer aus Fleisch sprang. Überall brüllten monströse Wesen. Verzerrte unmenschliche Gesichter, zu unergründlichen Fratzen entstellt, die Hass oder Hunger ausdrücken mochten, umringten ihn. Unnatürliche Augen funkelten vor Hass und Böswilligkeit. Der Gestank der Tyraniden war überwältigend und stachelte die Bestie in ihm zu barbarischen Exzessen an. Er hackte sich einen Weg zu Sven, und dann standen sie Rücken an Rücken in der wogenden Masse der Angreifer. Laserstrahlen zuckten durch die Düsternis. Granatenexplosionen blitzten durch sein Gesichtsfeld. Er roch Feuer, Blut und den sauren Gestank von Krankheit. Das Deck vibrierte unter seinen Füßen im Einklang mit den Detonationen, während ihm der Kampflärm in den Ohren hallte. Er schoss mit seiner Boltpistole, und die Patronen pflügten einen Pfad der Zerstörung durch die Masse der Ungeheuer, die so dicht gedrängt waren, dass sie nicht ausweichen konnten. Boltpatronen durchschlugen ein Ungeheuer und explodierten in der Brust eines Tyraniden dahinter. Er wich dem Hieb einer riesigen Klaue aus und hackte sie mit einem Streich seines Kettenschwerts ab. Grünlicher Schleim schoss aus dem Stumpf und bespritzte ihn. Die rotierenden Klingen des Kettenschwerts verteilten winzige Tröpfchen im ganzen Korridor. In den nächsten Sekunden war er zu beschäftigt, um nachzudenken, geschweige denn zur Kenntnis zu nehmen, was ringsumher vorging. Ausweichen und zuschlagen, parieren und stoßen, ducken und schießen, mehr konnte er nicht tun. Das Tempo der Schlacht war zu groß für bewusstes Denken. Instinktiv war ihm klar, dass sein Überleben von der Schnelligkeit seiner Reflexe abhing. Er existierte nur
im Augenblick, spürte nichts außer seinen eigenen Bewegungen und nahm nichts wahr außer den verschwommenen Bewegungen seiner Feinde. Es war schrecklich und erhebend zugleich, er fühlte sich, als reite er auf einer riesigen Welle aus Erregung, Furcht und Handeln. Das hieß es, lebendig zu sein. Er war in perfekter Verfassung, jeder Sinn war aufs Äußerste gespannt, und jede Sehne wurde zusätzlich gestrafft durch die Notwendigkeit, den Tod zu bringen und der raschen Vergeltung auszuweichen. Er schlug mit dem Kettenschwert zu und schlitzte eine der Bestien auf. Er spürte, wie etwas Riesiges durch die Horde eilte wie ein Orca durch einen Fischschwarm und dabei die kleineren Ungeheuer einfach beiseite wischte. Plötzlich stand er einem der gewaltigen Schwarmkrieger gegenüber. Er war fast doppelt so groß wie er. In zwei seiner vier Klauen hielt er Schwerter aus messerscharfem Chitin, die anderen beiden hatten eine der organischen Schusswaffen umklammert. Die gewaltigen Kiefer öffneten sich, und das Ungeheuer brüllte eine Herausforderung, während die beiden Klingen von beiden Seiten auf Ragnar niedersausten. Ragnar drehte und duckte sich, um dem Hieb von der rechten Seite auszuweichen, und hob das Kettenschwert, um den von der linken zu parieren. Die Wucht des Aufpralls riss ihm die Waffe beinahe aus der Hand, aber er zwang seine Finger mit eisernem Willen, geschlossen zu bleiben und das Heft zu umklammern, und er hob seine Pistole in der Absicht, dem Ungeheuer eine Patrone ins Auge zu jagen. Der Tyranid durchschaute seine Absicht, und eine seiner Klingen ruckte herum, traf den Lauf der Boltpistole und fegte die Waffe beiseite, sodass die Patrone ihn verfehlte. Ragnar heulte seinen eigenen Kampfruf und sprang mit beiden Füßen auf die massigen Beine des Ungeheuers, die er als Sprungbrett benutzte, um für einen Augenblick auf gleicher Höhe mit dem Kopf des Tyraniden zu sein. Bevor das Ungeheuer reagieren konnte, hatte die Klinge seines Kettenschwerts bereits den Hals des Wesens durchschlagen und den Kopf säuberlich von den Schultern getrennt. Rag-
nar landete auf dem fallenden Körper und benutzte ihn erneut als Ausgangspunkt für einen Sprung, der ihn mitten in die Massen der kleineren Wesen dahinter beförderte. Er landete auf einem, das sofort zu Boden ging, und er hieb, stieß, schwang und schoss, bis er von einem Ring toter und sterbender Ungeheuer umgeben war. Zwei der kränklichen Genräuber gingen aus entgegengesetzten Richtungen auf ihn los. Ihre Bewegungen waren weitaus langsamer als diejenigen der Genräuber, gegen die sie zuvor gekämpft hatten, aber immer noch viel schneller als bei einem normalen Menschen. Als sie angriffen, ließ er sich auf ein Knie sinken, sodass ihre Klauen über ihn hinwegsausten, um dann sein Kettenschwert kreisen zu lassen und beiden den Bauch aufzuschlitzen. Er sprang zurück, um ihrem instinktiven Todeshieb auszuweichen, und stieß mit Sven zusammen, der hinter ihm in ein ähnliches Manöver verwickelt war. Ein reiner Reflex veranlasste ihn, nach seinem Schlachtbruder zu schlagen, aber er konnte sich im letzten Augenblick zügeln und ließ den Hieb stattdessen auf einen der fallenden Räuber niedersausen. Diesmal spaltete er dem getroffenen Räuber den Schädel. Einen Moment später hatte Sven den anderen in Stücke gehackt. Plötzlich bewegte sich nichts mehr in ihrer unmittelbaren Umgebung. Ragnar sah, dass sie sich gerade an einer Stelle vorübergehender Ruhe auf dem Schlachtfeld befanden und ihnen eine kurze Atempause vergönnt war. Mit einem raschen Rundumblick orientierte er sich über den Verlauf des Kampfes. Die Masse der Tyraniden hatte sich auf die Menschen gestürzt. Die Schlacht war zu einem Gemetzel verkommen, das weder Disziplin noch Formation kannte, was dem Kampfstil der Tyraniden viel mehr entgegenkam als demjenigen der Diener des Imperiums. Leibwächter schlugen mit den Kolben ihrer Lasergewehre zu, um anschließend von den Klauen der unmenschlichen Ungeheuer zerrissen zu werden. Hier und da wahrten kleine Zusammenballungen der Menschen noch den Zusammenhalt und hielten sich die Feinde mit konzentriertem Beschuss vom Leib, aber diese Inseln wurden lang-
sam ein Opfer der erbarmungslosen Flut der Schlacht. Zur Rechten behaupteten sich die Inquisitoren, Gul und Sergeant Hakon, und Wolfsgeheul aus der Ferne verriet ihm, dass auch Strybjörn und Nils noch kämpften. Bei genauerem Hinsehen wurde er eines flackernden Lichtscheins gewahr, der den Talisman auf Karahs Brust umgab. Sengende Strahlen aus weißglühender Energie zuckten aus ihren Händen und trafen ihre Feinde. Ihr Gesicht schien von innen heraus zu leuchten, und in ihren Augen brannte ein unheimliches Feuer, was ihr ein dämonisches Aussehen verlieh. Mit ihren Kräften fügte sie den Angreifern ungeheure Verluste zu, aber für Ragnar gab es dennoch keinen Zweifel, dass die Menschen den Kürzeren ziehen und ihre Mission in einer Katastrophe und mit ihrer aller Tod enden würde, wenn nicht rasch etwas unternommen wurde. Die Tyraniden kämpften immer noch so, als seien sie Krallen an einer riesigen Klaue, und legten dabei eine Koordination und eine Wut an den Tag, die einfach zu viel für die Menschen war. Er hielt verzweifelt Ausschau nach einem Ausweg, nach einer Möglichkeit, das Blatt zu wenden. Er sah, dass der Weg zu der riesigen organischen Maschine und dem Talisman frei war, dessentwegen sie gekommen waren. Vielleicht konnte er ihn an sich bringen, und vielleicht ließ sich dann ein geordneter Rückzug bewerkstelligen. Es schien einen Versuch wert zu sein. Über einen Teppich aus organischer Materie lief er dem Herzen einer lebenden Maschine aus Fleisch, Knochen und Knorpel entgegen. »Ich hoffe, du weißt, was du, verflucht noch mal, tust«, hörte er Sven schreien und sah auch sofort, warum. Als reagierten sie auf eine unmittelbarere Gefahr, hatten die Tyraniden sich vom Großteil der menschlichen Streitkräfte gelöst und liefen als unaufhaltsame Masse auf Ragnar und Sven zu. Warum taten sie das?, fragte er sich. Es musste einen Grund geben. Er hatte die Frage kaum gestellt, als er sie auch schon beantworte-
te − sie sollten etwas Wichtiges beschützen. Sie nahmen an, dass die beiden Blutkrallen etwas bedrohten, das für ihre eigene Sicherheit von ausschlaggebender Bedeutung war. Das Problem war, dass Ragnar keine Ahnung hatte, was, und ihm nicht viel Zeit blieb, das Rätsel zu lösen. Ihm fiel nur eines ein, also halfterte er seine Boltpistole und warf im Laufen eine Granate in die Masse hirnartigen Gewebes. Die Horde der Tyraniden stieß ein einstimmiges Kreischen des Schmerzes und beinahe menschlichen Entsetzens aus. Für einen Moment irrten sie ziellos umher, bevor sie wieder vorrückten. Ragnar wusste, dass er Fortschritte machte. Er lief weiter und warf mehrere Granaten. Die Explosionen wirbelten Fleischbrocken auf, wo sie die Gewebemasse zerfetzten. Bei jeder Explosion hielt die Horde inne und heulte. Ragnar war klar, dass dies ungewöhnlich war. In keiner Aufzeichnung aus der Vergangenheit fand sich ein Hinweis darauf, dass diese Kreaturen jemals eine derartige Schwäche gezeigt hätten. Handelte es sich um eine Mutation, hervorgerufen durch den langen Aufenthalt im Koloss, oder war es ein Makel, der auf die Krankheit zurückzuführen war, unter der sie so offensichtlich litten? Er wusste es nicht, war aber dankbar, dass es so war. Sven hatte mittlerweile begriffen, was er tat, denn er bombardierte die organische Maschine ebenfalls mit Granaten. Hinter ihnen hörte Ragnar, wie sich die überlebenden Menschen, vom Druck des Ansturms der Ungeheuer befreit, neu formierten und die Horde unter Beschuss nahm. Die Ablenkung hatte ihnen die Atempause beschert, die sie so dringend benötigten. Jetzt mähten sie die Tyraniden wie Gras nieder. »Nicht nachlassen!«, rief Ragnar. Er lief durch die Gänge innerhalb der Maschine und warf Granaten nach rechts und links, wobei er jedes Mal, wenn die Horde ihre Qualen herausbrüllte, ein Gefühl des Triumphs verspürte. In den Gängen ringsumher waren zwar Tyraniden unterwegs, aber ihre Aktionen wirkten jetzt viel langsamer und weniger koordiniert. Plötzlich bemerkte er, dass er vor der großen Mittelsäule stand.
Hoch oben funkelte das Bruchstück des Talismans. Er wusste sofort, was er zu tun hatte. Er sprang in die Höhe und schlug mit seinem Schwert zu. Das verschlungen gemaserte Fleisch der Biomaschine der Tyraniden teilte sich. Flüssigkeiten leckten wie Tränen aus der Wunde. Der Talisman löste sich und fiel in Ragnars ausgestreckte Hand. Er hielt ihn fest und landete neben Sven. Augenblicklich herrschte Stille, als habe jemand einen Schalter umgelegt und die Schlacht abgestellt. Die Horde hörte auf, sich zu bewegen, als seien die Ungeheuer nur durch die Anwesenheit des Talismans in ihrer Mitte animiert worden. Irgendwo aus weiter Ferne spürte Ragnar ein psychisches Kreischen mehr, als dass er es hörte, als befinde sich etwas in Todeszuckungen. Dann, so abrupt wie sie innegehalten hatten, waren die Tyraniden wieder in Bewegung − doch diesmal haftete ihren Handlungen wenig Gemeinschaftliches oder Vernünftiges an. Sie liefen in alle Richtungen, als sei die lenkende Intelligenz verschwunden. Die kleineren Wesen schienen so unvernünftig wie Tiere zu sein. Die größeren erweckten den Eindruck, als versuchten sie die Kontrolle über sie zu erringen. Der unablässige Beschuss ihrer menschlichen Gegner forderte auch weiterhin seinen Tribut, und da ihnen diesmal die lenkende Präsenz dessen fehlte, was in der Maschine gesteckt hatte, wandten sie sich zur Flucht und stoben in alle Richtungen. Ragnar riskierte einen Blick auf Sven und erwiderte das breite Grinsen seines Kameraden. Er konnte es kaum glauben. Es war vorbei, und sie hatten gewonnen. Die Inquisitoren und Gul kamen zu ihnen gerannt. Karah bedeutete ihm mit einer Geste, ihr den Talisman zu geben. Als er das fanatische Leuchten in ihren Augen sah, widerstrebte es ihm einen Moment, es zu tun − er gab ihr das Bruchstück aber dennoch. Sie lächelte, und das Lächeln hatte kaum etwas Menschliches. »Der Talisman gehört uns«, sagte sie. »Jetzt müssen wir nach Aerius und die Mission vollenden.«
Irgendwie klangen ihre Worte äußerst ominös. Ragnar spürte, wie ihn ein Schauder überlief.
DREIZEHN
Die Licht der Wahrheit tauchte in den äußersten Randbezirken des Aerius-Systems aus dem Immaterium auf. Ragnar fühlte Stolz und Hoffnung in sich aufwallen. Bald würde ihre Mission beendet sein. Sie hatten den Talisman von Lykos zurückgebracht. Auf der Rückreise vom Koloss war es Inquisitorin Isaan gelungen, die drei Teile zu einem bruchlosen Ganzen zusammenzufügen. Ragnar riskierte einen Blick auf sie durch die Kommandozentrale und empfand plötzlich Unbehagen. Trotz ihrer dunklen Hautfarbe sah sie blass und abgemagert aus, als entziehe ihr das funkelnde Smaragdamulett an ihrem Hals ihre Lebenskraft. Ihr Gesicht war hager, und ihr Haar wies graue Strähnen auf. Das Amulett, ein Stein von unvergleichlicher Schönheit, pulsierte an einer Kette um ihren Hals. Seine unheimliche, fremdartige Schönheit hatte etwas an sich, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten. Er fragte sich, ob er als Einziger so empfand. Seine Schlachtbrüder schienen sein Unbehagen nicht zu teilen, und er hatte bisher noch mit keinem von ihnen darüber geredet. Er fragte sich, wie es weitergehen würde. Eine seltsame Stille hatte sich ausgebreitet. Den Astropathen des Schiffs war es nicht gelungen, Kontakt zu ihren Kollegen auf Aerius aufzunehmen. Das war kein gutes Zeichen. Nur der Tod konnte einen Astropath vollkommen verstummen lassen. Die anderen betrachteten erwartungsvoll die Hologrube in der Mitte der Brücke. Nun, da sie sich Aerius bis auf Funkdistanz genähert hatten, würden sie bald direkt mit der Planetenoberfläche kommunizieren anstatt über Astropath. Ragnar fragte sich, was sie dann erfahren würden. »Inquisitor, wir sind jetzt innerhalb der Funkdistanz«, verkündete
der Leitende Initiat Vosper schließlich nach einer Zeitspanne, die ihnen wie Stunden des Wartens vorkam. »Der Imperator sei gepriesen«, erwiderte Inquisitor Sternberg. »Versuchen Sie, eine Verbindung zum Gouverneurspalast herzustellen.« »Es soll geschehen, Inquisitor.« Der Mann gab seinen Leuten Zeichen, und der technische Choral intensivierte sich, während die Besatzung Schieberegler auf ihren Kontrollaltären bewegten. Ragnar sah, wie Vosper zwei gargylköpfige Hebel zu sich heranzog, und plötzlich flackerte ein Licht in der Hologrube. Im nächsten Augenblick sahen sie den imperialen Gouverneur. Er bot einen furchtbaren Anblick. Der Mann musste früher einmal groß, stark und beeindruckend ausgesehen haben, so viel war offensichtlich. Er saß auf einem Thron, der wie der doppelköpfige Imperiumsadler gestaltet war. Dessen Augen waren Diamanten, und er stand auf einem Podest aus Marmor. Die Rüstung des Mannes sah aus, als gehöre sie eigentlich einem viel größeren Krieger. Die Wangen waren eingefallen, und man sah die Knochen an Händen, welche die Armlehnen des Throns umklammerten. Ein fiebriges Feuer brannte in seinen Augen. »Inquisitor Sternberg!«, krächzte er. »Sind Sie das?« »Minister Karmiakal! Wo ist Gouverneur Tal?« »Tal … Tal ist tot, Inquisitor. Die meisten Mitglieder seines Kabinetts sind auch tot. Sie sind alle der Seuche zum Opfer gefallen, die unsere Welt verheert.« Sternberg sah schockiert aus und dann von Kummer überwältigt. »Dann sind Sie im Augenblick geschäftsführender Gouverneur?« »Ich habe diese Ehre. War Ihre Suche … erfolgreich?« In der Stimme des Mannes lag ein Anflug von einer wahrhaft jämmerlichen Verzweiflung, fand Ragnar. »Aye, wir haben den Talisman bei uns.« »Dann müssen Sie ihn zu uns bringen. Er ist unsere letzte Hoffnung. Diese Krankheit hat über die Hälfte der Bevölkerung befallen.
Die Sterberate ist enorm. Die Leichen verstopfen die Straßen, und es sind so viele, dass die Leichenwagen sie nicht abtransportieren können.« »Wir werden tun, was wir können«, sagte der Inquisitor. »Ich lasse sofort mein Beiboot startklar machen. Bitten Sie das Administratum, uns sofort Landeerlaubnis zu erteilen.« »Es wird geschehen, Inquisitor. Obwohl ich nicht glaube, dass noch genug Angehörige der Luftabwehr am Leben sind, um Ihnen ernsthafte Schwierigkeiten zu machen, selbst wenn Sie versuchen sollten, ohne Erlaubnis zu landen.« Die Gestalt in der Hologrube flackerte und verschwand, und die Leute auf der Brücke sahen einander in entsetztem Schweigen an. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Sternberg. »Wie es scheint, sind wir keinen Augenblick zu früh eingetroffen.« Die Inquisitoren, Gul und die Wolfskrieger verließen die Brücke und gingen zum Beiboothangar. Ragnar betrachtete Aerius durch das Bullauge des Beiboots. Er war froh, dass sie das Schiff genommen hatten und nicht den Teleporter. In diesem Stadium des Unternehmens hatte Sternberg nicht mehr das Risiko einer Fehlfunktion dieser alten und unzuverlässigen Vorrichtung eingehen wollen. Aerius war eine kleinere Welt als Fenris, so viel war offensichtlich, und die Kontinente glitzerten dunkel im Licht der Sonne. Als das Beiboot in die Atmosphäre eintauchte, erkannte er auch den Grund dafür. Die gesamte Oberfläche der Landmassen war mit Metall verkleidet. Der Kontinent war eine einzige riesige Industriestadt. Die schwarzen Wolken, die den Himmel unter ihnen verdeckten, waren nicht natürlich, sondern Emissionen gigantischer Fabriken. Schlote so groß wie Berge spien chemische Schadstoffe in den Himmel. Hier und da waren monströse Feuergruben zu erkennen, die wie Seen aus geschmolzener Lava aussahen. Das von den Lehrmaschinen verankerte Wissen verriet ihm, dass es sich dabei um die Abfallpro-
dukte der titanischen Fabriken handelte, für die Aerius berühmt war. Je tiefer sie sanken, desto mehr Einzelheiten wurden sichtbar, und der Maßstab dessen, was er sah, wurde fast zu groß, um noch alles zu begreifen. Sie überflogen Gebäude von der Größe der Inseln auf Fenris. Es gab Tausende von ihnen in allen Formen und Größen, Bauwerke wie Gebirge, die so groß waren, dass sie unmöglich von Menschen errichtet worden sein konnten. Vielmehr schienen sie Erzeugnisse der Phantasie wahnsinniger Götter zu sein. Ein wachsendes Gefühl des Staunens breitete sich in ihm aus. Rein verstandesmäßig hatte Ragnar gewusst, dass das Imperium in der Lage war, in diesem Maßstab zu bauen. Aber es war eine Sache zu wissen, dass etwas möglich war, und es war eine ganz andere, dies mit eigenen Augen zu sehen. Das Beiboot fing an zu bocken, als es auf Turbulenzen in der Atmosphäre traf. Ragnar ignorierte das Schütteln und Rucken und drückte die Nase an das Bullauge, um weiter nach draußen zu schauen. Ihm ging auf, dass das, was er für Flüsse gehalten hatte, gewaltige Straßen zwischen den Wolkenkratzern waren, die sich in Schwindel erregende Höhen schraubten. »Was glaubst du, wie viele Leute da unten leben?«, fragte Ragnar Sven. »Zu verflucht viele!«, erwiderte die Blutkralle. »Aber weniger als üblich wegen der Seuche«, fügte er düster hinzu. »Man sagt, dass auf Aerius eine Million Millionen Menschen gelebt haben«, sagte Inquisitor Sternberg. Offensichtlich hatte er Ragnars Frage gehört. »Niemand weiß es mit Sicherheit. Der Ekklesiarchie ist es nie gelungen, mehr als einen kleinen Teil von ihnen durch offizielle Zählungen zu erfassen.« »Es muss eine sehr reiche Welt sein«, sagte Ragnar. »Reich und schrecklich«, erwiderte Sternberg. »Sie ist eine der produktivsten Bienenstockwelten des Imperiums. Ihre Fabriken versorgen über die Hälfte aller Planeten in diesem Sektor. Sollte sie verloren gehen, wäre dies ein furchtbarer Schlag für das Imperium.«
»Aber Sie glauben nicht, dass dies auch nur im Entferntesten möglich ist, oder?«, sagte Ragnar. »Es ist mehr als eine Möglichkeit. Angesichts der gewaltigen Schwächung aller Abwehrvorrichtungen könnte eine entschlossene Invasion durch Orks, das Chaos oder irgendeine der anderen blasphemischen, nichtmenschlichen Rassen mit Leichtigkeit die großen Fabrikbezirke erobern oder zerstören.« »Dann ist es gut, dass wir noch rechtzeitig eingetroffen sind, um diese Welt zu retten«, sagte Nils mit einem Lächeln. »Wir haben sie noch nicht gerettet«, warf Karah Isaan ominös ein. Die Schwarze Pyramide war nicht ganz so groß, wie Ragnar erwartet hatte. Gewiss, nach den Maßstäben der Dörfer seiner Kindheit war sie gewaltig, aber sie wurde von den umliegenden Bauwerken in den Schatten gestellt. Dennoch war sie das beeindruckendste Gebäude von allen, die Ragnar sehen konnte. Die Seiten funkelten wie Glas, und ihre trostlose Umgebung spiegelte sich auf ihnen wider. Noch beeindruckender war die greifbare Aura der Macht, von der sie umgeben war. Ein Blick auf sie reichte, um zu erkennen, dass sich in ihr etwas von erheblicher Bedeutung verbarg. Ragnar sah das Spiegelbild des Beiboots auf einer Seite größer werden und sich dann stabilisieren, als das Schiff zuerst auf der Stelle schwebte und dann tiefer sank. Nachdem er Wochen an Bord eines Sternenschiffs eingepfercht gewesen war, erleichterte ihn die Aussicht, bald wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Das Beiboot bebte, als die Landevorrichtung auf dem metallverkleideten Boden aufsetzte. »Tja, wenigstens sind wir schon mal hier«, sagte Nils. Das Erste, was Ragnar auffiel, als er den Boden betrat, war die Anzahl der Leichen. Der riesige Platz vor der Pyramide war voller Leichen. Sie lagen überall, in verschiedenen Stadien der Verwesung. Erst nach einigen furchtbaren Augenblicken ging ihm auf, dass einige
der Leiber noch lebten, wenn auch nur noch soeben, gänzlich in den Klauen der schrecklichen Seuche. Das Nächste, was ihm auffiel, war die Pyramide selbst. Sie kam ihm jetzt viel größer vor als aus der Luft. Sie hatte eine majestätische Ausstrahlung, die alle umliegenden Bauwerke, wenngleich viel höher, klein erscheinen ließ. Von allen Gebäuden in dem Gebiet war es das einzige, was den Blick auf sich zog. Und doch hatte die Pyramide etwas an sich, bei dem Ragnar äußerst unbehaglich wurde. Trotz ihrer funkelnden Schönheit haftete ihr etwas Bedrohliches an, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten. Alle bösen Vorahnungen, die ihn im Reißzahn und hin und wieder auch auf ihrer Reise beschlichen hatten, schienen mit doppelter Intensität zurückzukehren. Er versuchte sich einzureden, es liege nur an der Anwesenheit so vieler kranker und toter Menschen, dass er eine Gänsehaut bekam, aber er wusste, dass das nicht stimmte. Die Pyramide selbst hatte etwas an sich, das ihn beklommen machte und in ihm das Bedürfnis weckte, den anderen eine Warnung zuzurufen. Alle seine Instinkte rebellierten, als er sie betrachtete. Er war überrascht, dass seine Gefährten nicht dasselbe empfanden. Für ihn schien es vollkommen offensichtlich zu sein. Vielleicht war das auch nur ein Symptom der Unzulänglichkeit, die ihn seit seiner Verwundung befallen hatte. Vielleicht sah er eine Gefahr, wo es keine gab. Es musste so sein. Die anderen konnten doch unmöglich so blind sein. »Seht euch das an«, hörte er Nils hauchen. Er schaute himmelwärts in die Richtung, in die sein Kamerad zeigte, und sah Tausende funkelnder Kondensstreifen über den Himmel rasen und durch ein Loch in den Wolken tiefer sinken. Zuerst glaubte er, sie würden angegriffen, aber dann ging ihm auf, dass es sich um Sternschnuppen handelte, und zwar um so viele, dass sie sogar bei Tageslicht zu sehen waren. Die Sterne werden vom Himmel fallen, dachte er. Als die Lücke in den Wolken größer wurde, erblickte er noch etwas anderes: Ein monströser roter Komet mit einem
grünlich gelben Schweif erhellte den Himmel. Niemand brauchte Ragnar zu sagen, dass er den Unheilsstern betrachtete. »Was nun?«, hörte er Hakon fragen. »Wir gehen hinein«, erwiderte Sternberg versonnen. »Das Orakel war in dieser Beziehung ziemlich eindeutig. Um der Seuche ein Ende zu bereiten, muss der Talisman in die verborgenen Kammern im Innern der Pyramide gebracht werden.« »Und wo ist der Eingang?« »Wir werden ihn finden«, sagte Sternberg grimmig. Sie mussten über die Leichen der Verstorbenen steigen, als sie sich dem Bauwerk näherten. Für Ragnar sahen sie aus wie Opfergaben, die irgendeinem bösen Gott dargebracht worden waren. Die Art und Weise, wie sie in allen möglichen Stellungen dalagen, hatte etwas an sich, das zutiefst gegen sein Gefühl für Schicklichkeit und Anstand verstieß. Noch schlimmer waren die Sterbenden, die um Wasser oder gar Erlösung aus ihrem Elend flehten, wenn sie sich ihnen näherten. Ragnar versuchte ihre Bitten zu ignorieren, doch trotz aller Bemühungen brannten sie sich in sein Bewusstsein. Er sah, wie Gul sich bückte und einem mit einem raschen Handkantenschlag das Genick brach. Dann ließ der massige Krieger den Blick über all die Leute wandern, die ringsumher lagen, und zuckte dann jämmerlich die Achseln, als sei er überwältigt vom Ausmaß dessen, was sie hier erlebten. »Verflucht fröhlicher Ort«, murmelte Sven, als spüre er Ragnars Laune und versuche ihn aufzuheitern. Er sah Ragnar an und lächelte spöttisch. »Schwitzt du, Ragnar? Ich hoffe, du bekommst kein Fieber.« Seiner Witterung konnte Ragnar entnehmen, dass Sven scherzte, aber er fragte sich trotzdem, ob sein Schlachtbruder etwas bemerkt hatte, das ihm entgangen war. Schwitzte er tatsächlich? Ein Griff an die Stirn verriet ihm, dass es nicht so war. Er stieß einen Seufzer aus
und versuchte den durchdringenden und ekelhaften Gestank der Seuche zu ignorieren. Die Pyramide ragte immer höher vor ihm auf. Wie wollten sie hineingelangen? Die Prophezeiung hatte sich zu dieser Frage nicht geäußert. Um die Wahrheit zu sagen, ihm ging plötzlich auf, dass er keine Vorstellung davon hatte, was sie überhaupt tun sollten. Bis jetzt war er einfach den anderen gefolgt, da er vermutete, dass sie es besser wussten als er. Es war wie bei einer Gestalt aus den alten Sagen. Man zweifelte nicht an der Weisheit der Worte der Wahrsager, sondern befolgte sie einfach. Jetzt geriet er jedoch ins Grübeln. Welche Bedeutung konnte ein mystischer Talisman, wie mächtig auch immer, im Kampf gegen den Tod in diesem Maßstab haben? Die Seuche war eine Kraft, die unsichtbar und doch allgegenwärtig war, und sie zwang eine mächtige Welt in die Knie. Ragnar spürte, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, das auch ein Knurren hätte sein können. Für derartige Gedanken war es jetzt ziemlich spät, ging ihm auf. Er fragte sich, was mit ihm los war. Warum waren seine Überlegungen in den letzten Wochen so defätistisch geworden? Vielleicht lag es an seinen Wunden, vielleicht lag es an äußerlichen Gründen. Aber an welchen? Und warum dachte er jetzt so? Welche Einflüsse waren hier am Werk? Sie hatten die Pyramide erreicht und marschierten in ihrem gewaltigen Schatten. Ragnar konnte sein Spiegelbild auf dem schwarzen Marmor erkennen. Es machte einen verzerrten Eindruck − er war dünner, schwächer, die Augen fiebrig, die Haut fleckig, als habe er die Seuche. Für einen Moment glaubte er, dies könne ein Omen sein, dass er einen Ausblick auf sein zukünftiges Verhängnis sah. Er schob den Gedanken mit einem Schauder beiseite. Ihm ging auf, dass seine Haut angefangen hatte zu jucken. Er rang den Drang nieder, sich zu kratzen, und marschierte weiter. Sie waren jetzt in der Mitte der Westseite der Pyramide. Karah hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf war von einem Nimbus psychischer Kraft umgeben. Kraftfäden verliefen von ihm zum Amu-
lett und wieder zurück. Suchende Energiefinger gingen von ihr aus und glitten über die Pyramidenseite. Dabei entstanden Linien aus einem unheimlichen Feuer, die ein kompliziertes Muster in der kuriosen Runenschrift der Eldar enthüllten. Einen Moment strahlte das Symbol so hell wie eine Sonne, und sein Anblick brannte sich in Ragnars Verstand. Es hatte etwas Ominöses an sich, das ihn noch unruhiger machte, als kreische es eine Warnung, die er nicht verstand. Er wollte vortreten und den anderen sagen, sie sollten aufhören, sie weckten etwas, das besser in Ruhe gelassen werden sollte. Er wollte, aber er konnte nicht. Ihm ging auf, dass er ebenso dem simplen Schwung ihrer Mission verhaftet war. Er hatte keinen Grund, sie aufzuhalten, und sie hatten keinen Grund, auf ihn zu hören. Er hatte lediglich seine Vorahnungen, und was waren die wert verglichen mit der Möglichkeit, Milliarden Leben zu retten? Das schimmernde Symbol verschwand und mit ihm ein Teil der Seitenwand. Sie löste sich auf wie Nebel und ließ eine Kluft im Gestein zurück, hinter der sich der Eingang zu einem großen dunklen Tunnel verbarg. Ragnar war, ohne es zu wollen, von der Magie beeindruckt, und er wurde von einer Welle der Erregung überflutet. Was sie auch taten, sie machten Fortschritte. Sie hatten die Wand eines Bauwerks durchdrungen, das sich jahrtausendelang als undurchdringlich erwiesen hatte. Inquisitor Sternberg zog eine Lichtkugel aus einer tiefen Tasche in seinem Umhang, und dann schritten sie in die Düsternis. Die Wände im Innern der Pyramide schienen aus purem Granit gemeißelt und viel älter zu sein als die Außenmauern. Offenbar befanden sie sich in den Überresten einer viel älteren Anlage. Die Wände waren mit Fresken und Schneckenornamenten bedeckt, die mit weiteren Symbolen der Eldar beschriftet waren, und Ragnar wünschte sich zum ersten Mal, er hätte diese geheimnisvolle Sprache lesen können. Er war begierig darauf, wenigstens einen Teil des großen Geheimnisses in Erfahrung zu bringen, das sich in diesem Bauwerk verbarg. Was war das für ein Ort?, fragte er sich. War es ein
riesiges Grabmal, das errichtet worden war, um den Leichnam eines uralten Eldar-Königs zu schützen? Nach allem, was er im Raum-Koloss gesehen hatte, war dies seiner Ansicht nach unwahrscheinlich, aber woher wollte er es mit Sicherheit wissen? Er bezweifelte jedoch, dass sie irgendetwas so Primitives gebaut hätten. Hielten die Eldar sich andererseits nicht von Planetenoberflächen fern und taten sie das nicht schon seit ihrer ersten Begegnung mit der Menschheit? War dies etwas aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit, aus einer Zeit, bevor die Eldar Planetenoberflächen aufgegeben hatten? Jetzt wünschte er sich wirklich, er hätte die Schrift an den Wänden lesen können. Überall ringsumher spürte er das Wirbeln mystischer Kräfte. Instinktiv verlagerte er sein Gewicht auf die Fußballen, bereit, jeder Bedrohung zu begegnen, obwohl er wusste, dass es eine sinnlose Geste war. Die Erbauer dieses Komplexes würden nicht so etwas Banales wie Falltüren und Wächter einsetzen. Die Maßnahmen zum Schutz der Pyramide würden viel raffinierter sein. Zauber, Flüche, reine psychische Kräfte, das war es, was sie hier zu erwarten hatten, und es waren Dinge, die eigentlich nicht in sein Fachgebiet fielen. Das waren Fälle für Runenpriester, nicht für einfache Krieger. Trotz seiner Unerfahrenheit wäre der arme Lars auf diese Umgebung besser vorbereitet gewesen als er. Lars hatte zumindest etwas Zeit mit den mystischen Fachleuten des Ordens verbracht. War er aus diesem Grund tot?, fragte Ragnar sich plötzlich. War hier ein gewaltiges Schema von Ereignissen am Werk, auf das er bisher nur einen flüchtigen Blick hatte werfen können? War dies alles Teil einer gewaltigen Verschwörung in einem Maßstab, den er nicht einmal ansatzweise begreifen konnte? Hatten das Auftauchen der Sternschnuppen, ihre Mission und der Tod seines Kameraden alle ihren Platz in irgendeinem gewaltigen Plan? Er schüttelte den Kopf. Er bildete sich Dinge ein. Dieser finstere Ort ging ihm langsam an die Nieren. Am Rand seines Blickfelds glaubte er zu sehen, wie sich eine Rei-
he schattenhafter, nichtmenschlicher Gestalten versammelte. Er hatte ähnliche Wesen schon einmal gesehen. Sie sahen wie Eldar aus. »Verhalten Sie sich ganz ruhig«, sagte Karah mit einer Stimme, die in dem Gang einen unheimlichen Nachhall hatte. »Seien Sie völlig still, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.« Ragnar konnte keine Gefahr erkennen, aber ihr Tonfall und ihre Witterung warnten ihn, dass sie es vollkommen ernst meinte, also blieb er wie angewurzelt stehen. Er strapazierte seine Sinne bis an ihre Grenzen und konnte immer noch nichts entdecken. Also wartete er. Karah hob die Hände, und das Amulett leuchtete grell auf. Dabei wurden weitere feurige Linien sichtbar. Sie schimmerten vor ihnen in der Luft, Millionen und Abermillionen von Strahlen in einem komplizierten Netz aus Licht. Auf ihre Geste leuchteten sie immer heller − und verblassten dann plötzlich. »Wir … wir können weiter«, stammelte sie im Tonfall von jemandem, der gerade eine tödliche Gefahr erkannt und um Haaresbreite gebannt hatte. Sie drangen tiefer ins Herz der Pyramide vor. Die Aura der Düsternis vertiefte sich. Ragnars Gefühl, von verborgenen Mächten umringt zu sein, wurde umso stärker, je weiter sie gingen. Augenblicke später fing die Luft vor ihnen an zu wirbeln. Eine Gestalt materialisierte scheinbar aus dem Nichts. Ragnar starrte die Erscheinung an, während ihm plötzlich Geschichten über Geister im Kopf herumspukten, die er auf Fenris gehört hatte. Es waren keine unangemessenen Gedanken. Die Gestalt vor ihm hätte der Geist eines Kriegers sein können, der zurückkehrte, um die Lebenden heimzusuchen. Es war ein Eldar, unmenschlich groß und schlank und in eine wunderschöne, exotisch geformte Rüstung gehüllt. Auf der zierlichen Kopfbedeckung saß ein Helmbusch, am Gürtel baumelten absonderliche Waffen. Der Eldar stand mit vor der schmalen Brust verschränkten Armen vor ihnen. Er trug einen mit Karomustern verzier-
ten Überwurf, und Arm- und Beinschützer waren mit grellen Schachbrettmustern geschmückt. Als er sprach, war seine Stimme angenehm und musikalisch. »Kehrt um, Menschen«, tönte er. »Ihr hättet nicht hierher kommen sollen.« Der Eldar war nicht real, erkannte Ragnar. Er schnappte keine Witterung auf, und die Erscheinung schimmerte durchsichtig. Wenn er die Hand ausstreckte, würde sie auf keinen Widerstand stoßen. Dennoch, was war der Sinn dieser Projektion? War sie nur ein Medium, um mit ihnen zu kommunizieren, oder war sie eine Ablenkung, um sie zu beschäftigen, während etwas anderes einen Angriff auf sie vorbereitete? »Wir gehen, wohin wir wollen«, erwiderte Hakon. Ragnar sah sich um und schnüffelte, um sich zu vergewissern, dass sein Argwohn unbegründet war. »Wir sind die Diener des Imperators in seinem Reich, und es steht keinem Nichtmenschen zu, uns zu sagen, wohin wir gehen können und wohin nicht.« Der Eldar schüttelte traurig den Kopf. »Ich will euch nichts Böses, Wolfskrieger. Ich bringe eine Warnung. Ihr mischt euch in Dinge ein, die besser nicht gestört werden sollten. Ihr wollt etwas aufwecken, das nicht geweckt werden sollte. Wenn ihr euren Weg fortsetzt, wird er nur in eine Katastrophe von einem Ausmaß führen, wie ihr es euch nicht vorstellen könnt.« Die Worte des Eldar verhallten in den Gängen, während sie einsanken. Was war das für ein Gerede über Warnungen und Katastrophen? Meinte der Eldar es aufrichtig oder war dies alles nur ein Trick? Sven stand mit offenem Mund hinter ihm, was nur angemessen war. Ragnar hatte selbst ein Gefühl, als stehe er einem mystischen Wesen aus einer uralten Sage gegenüber. »Was soll das alles?«, hörte er Sternberg fragen. »Was willst du von uns, Alter?« Der Eldar zeigte auf den Talisman, der auf Karahs Brust hing. »Versucht nicht zusammenzusetzen, was zerbrochen ist. Bringt die-
sen Talisman nicht an den Ort des Fluchs. Befreit nicht den Eingesperrten. Ihr wurdet gewarnt. Die Kräfte, die ihn halten, werden bereits schwächer, und der Zauber, der dafür gesorgt hat, dass meine Brüder und ich hier blieben, um ihn zu bewachen, ist so gut wie erloschen. Kehrt um! Kehrt um! Bevor es zu spät ist, kehrt um!« Unmittelbar nach den letzten Worten flimmerte die Gestalt und verschwand. Die Inquisitoren und die Wolfskrieger starrten einander an. Niemand sagte etwas. Es gab auch nichts zu sagen. Sie alle wussten, dass sie bereits zu weit gekommen waren, um jetzt noch umzukehren. Sie alle dachten über die Worte des geisterhaften Eldar nach. Was war das für ein Ding, das nicht geweckt werden sollte? Handelte es sich um einen aufrichtigen Versuch der Eldar, ein Verhängnis abzuwenden, oder um ein unergründliches Vorhaben, sie für ihre eigenen Zwecke zu manipulieren? Er wusste es nicht. Er wusste nur, wenn sie den Talisman nicht in einem Stück nach Aerius brachten, würde die ganze Welt sterben. Und dass die Seuche enden würde, wenn sie es taten, obwohl er den Verdacht hatte, für einen hohen Preis. Das Orakel hatte so etwas angedeutet. Die Runenpriester der Wolfskrieger hatten es bestätigt. Die Eldar verfügten zwar über ihre ganz eigene dunkle Weisheit und wahrscheinlich auch über die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, aber die konnte doch unmöglich größer sein als die der Weisen des Imperiums. Ragnar schwirrte der Kopf von dem Versuch, der Komplexität ihrer Situation auf den Grund zu gehen. Er schob alle Gedanken beiseite, für den Augenblick froh, dass er hier nicht der Anführer war, dass er keine Entscheidungen zu treffen brauchte, dass es nicht seine Aufgabe war, mit den Rätseln zu ringen, die sie umgaben. Er brauchte in diesem Augenblick lediglich zu kämpfen, wenn es nötig wurde, und zu gewinnen, wenn es menschenmöglich war. Er lächelte, als dieses Wissen sich in seinen Verstand einnistete. Es war gut, Dinge auf solch eine elementare Einfachheit zu beschränken. Es war noch besser, in der Lage zu sein, etwas zu finden,
worauf man sich konzentrieren konnte, um nicht über Dinge nachgrübeln zu müssen, von denen man keine Ahnung hatte. Als sie tiefer ins Herz der Pyramide vorstießen, erkannte Ragnar, dass die Gänge wie ein Labyrinth angelegt waren. Sie bogen ab und beschrieben Kurven ohne Sinn und Schema und taten es auf eine Weise, als sollte dadurch der Verstand eines normalen Menschen verwirrt werden. »Warum ist dieser Ort so angelegt?«, hörte er Nils fragen. »Möge Russ mich holen!«, schnauzte Sven. »Siehst du denn nicht, dass sie nur versucht haben, Narren zu verwirren, die den Weg hinein finden würden? Narren wie uns.« »Nein, Wolfskrieger, Sie täuschen sich«, sagte Karah. »Das Labyrinth ist in Übereinstimmung mit einem arkanen geometrischen Prinzip angelegt worden. Die Runen in den Wänden und die Anlage der Gänge sind alle Teil eines Schemas mit dem Zweck, unsichtbare Energien zu kanalisieren. Ich kann den Fluss überall um uns spüren, wie er gebündelt und gelenkt wird.« »Warum?«, fragte Ragnar. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht gehört das alles zu dem System, das in all diesen Jahrhunderten für die Unversehrtheit der Pyramide gesorgt hat. Vielleicht ist es mehr als das. Aber ich fühle, dass etwas sehr Mächtiges in der Mitte ist.« Dann ist die Pyramide kein Grab, dachte Ragnar. Ein Tempel? Ein Brennpunkt mystischer Kräfte? Eine Maschine zur Bündelung von Energie? Wer konnte schon erraten, warum die Eldar diese Pyramide gebaut hatten? Noch dreimal blieben sie wie angewurzelt stehen und warteten beklommen, während Karah die feurigen Linien vertrieb. Dann war es plötzlich vorbei. Sie hatten das Ende des Tunnels und ihrer Reise erreicht. In einer offenen Kammer, in der ihre Schritte hohl hallten, gebot ihnen eine immense, mit Runen bedeckte Steintür Einhalt. Ragnar
fragte sich, was dahinter lag. »Wie werden wir diese Tür öffnen?«, fragte Sven mit in der Kammer viel zu laut hallender Stimme. »Sprengstoff«, schlug Nils vor. »Wir haben keinen«, schniefte Strybjörn. »Wir haben unsere Granaten.« »Mit denen werden wir diese Tür nicht mal ankratzen. Sie ist mindestens zehn Schritte dick und wiegt Tonnen.« Ragnar dachte über das enorme Gewicht des behauenen Gesteins vor ihnen nach. Es kam ihm ebenso massiv und unbeweglich vor wie die Pyramide von außen und ebenso undurchdringlich. Und doch standen sie jetzt im Zentrum des riesigen, uralten Monuments. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie einen Weg ins geheime Herz der Pyramide finden würden. Karah Isaan trat vor die riesige steinerne Tür und legte die Hände flach darauf. Grelle Strahlen aus weißem Licht schossen aus ihren Händen und breiteten sich wie ein feuriges Netz über das Gestein aus. Diesmal verblasste das Muster nicht, sondern blitzte und funkelte einige Sekunden. Ein Grollen wie von einem Erdbeben ertönte, und Staub wirbelte umher. Die Steintür verschwand in einer raschen Bewegung im Boden, und der Weg ins Herz der Pyramide war frei. Kaum war die Tür im Boden verschwunden, als Ragnar ein jähes, furchtbares Gefühl äußerster Beklommenheit und ein überwältigender Eindruck von etwas Bösem überkam. Kaum einen Herzschlag später hallte ein tiefes, grollendes Gelächter durch die Kammer, verrucht und doch sonderbar jovial, und dann ertönte eine machtvolle Stimme. »Seid gegrüßt, ihr Narren! Im Namen des allseits geliebten Onkels Nurgle entbiete ich, Botchulaz, des allerabscheulichsten Herrn der Krankheit liebster Spross, euch ein herzliches Willkommen. Ich danke euch aus tiefstem Herzen für meine Befreiung.« Gemeinsam mit seinen Kameraden trat Ragnar wachsam und mit
bereitgehaltenen Waffen, aber in dem Wissen ein, dass er sich nicht vor dem schützen konnte, was sie in der neuen Kammer erwartete. Der Boden war überzogen mit etwas, das wie die verkrusteten Überreste eines Jahrtausends der Absonderungen von Eiter, Rotz und Schleim aussah. In der Mitte des Bodens, auf einem Altar, der aussah, als sei er aus einem Haufen reinen, gehärteten Schleims gemeißelt, kauerte eine fettleibige und extrem beunruhigende Gestalt. Sie war wahrhaftig massig und widerlich fett, und die Haut war fleckig und kränklich grün. Sie warf viele ledrige Falten und hing bis auf den Boden durch. Der Gestank, den die Gestalt verströmte, war schlimmer als jede Kloake. Aus dem ekelhaften, knollenförmigen Kopf sprossen zwei winzige Hörner. Die Augen waren ebenfalls winzig, und in ihnen funkelte uralte Boshaftigkeit. Das Ding hustete rasselnd und ausgiebig, und ein Sprühregen aus Rotz spritzte auf den Boden. Wo die widerlichen Absonderungen landeten, verwandelte sich jeder Tropfen in eine winzige, umhertänzelnde Gestalt, die ihrem Schöpfer ähnelte. Sie wirbelten einen Moment über den Boden, dann sanken sie in den Teppich der Ablagerungen ein und verschwanden spurlos darin. »Der Imperator beschütze uns, ein Unreiner …«, hörte er Sternberg murmeln, und Ragnar überlief ein Schauder des Entsetzens. ›Unreiner‹ war eine uralte Bezeichnung für eine furchtbare, beängstigend mächtige Dämonenart in Diensten Nurgles, des Herrn der Pestilenz, und jetzt hatte es den Anschein, als stünden sie hier vor so einem Wesen. »Jetzt ist mir alles klar.« Das grünliche Zeug, aus dem der Altar bestand, wogte und formte sich um. Winzige Gargyl-Gesichter bildeten sich, streckten die Zunge heraus, husteten und spien und verschwanden dann wieder in der Substanz, als glätte sich die Oberfläche eines Teichs, nachdem er Wellen geschlagen hatte. »Entschuldigt, dass ich mich nicht erhebe«, sagte das dämonische Wesen. »Aber ich bin nicht bei bester Gesundheit.« Es lachte schallend, als habe es gerade einen unglaublich lustigen
Witz gemacht, und das Gelächter verstummte erst, als es in einen weiteren langen Hustenanfall überging. »Dämonischer Abschaum! Bereite dich auf deinen Tod vor!«, brüllte Hakon. »Etwas leiser, bitte. Siehst du denn nicht, dass es mir nicht gut geht?«, sagte der Dämon, indem er den Sergeant mit wässrigen Augen ansah, in denen zynischer Humor funkelte. »Ihr Menschen könnt so ermüdend sein. Fast so schlimm wie diese lästigen Eldar, die mich hier eingesperrt haben. Tja, es waren ein paar langweilige Jahrtausende, aber auch irgendwie erholsam, also sollte ich mich wohl nicht beklagen. Aber jetzt habe ich einiges zu erledigen. Die Arbeit eines Seuchendämons ist nie getan, müsst ihr wissen.« Ragnar starrte den Dämon voller Verblüffung an. Er wusste, dass seine Worte tatsächlich nicht laut ausgesprochen wurden, sondern wie durch Magie in seinem Kopf auftauchten. Und er wusste auch, dass seine Sprache trotz des humorvollen Tonfalls nur ein Weg war, sie herabzusetzen und abzulenken. Hier war eine verruchte Intelligenz am Werk. »Du wirst diesen Ort nicht verlassen!«, rief Sternberg. Ein Ausdruck des Entsetzens huschte über das Gesicht des Inquisitors. Er sah aus wie ein Mann, der herausgefunden hatte, dass sein ganzes Lebenswerk nur eine Farce war. Ragnar empfand ein gewisses Mitgefühl für ihn. Der Inquisitor war in dem Glauben hierher gekommen, er werde seine Heimatwelt vor einer Seuche retten − aber er hatte soeben herausgefunden, dass er einen der tödlichsten Dämonen befreit hatte, die es überhaupt gab. Ein schändliches Wesen, dem entgegenzutreten er geschworen hatte, und zwar auch mit seinem Leben, wenn es sein musste, war durch seine Handlungsweise auf das Universum losgelassen worden. Und auch mit meinem Leben, wurde Ragnar klar. Der Dämon lachte wieder. »Ganz im Gegenteil, mein kleiner menschlicher Freund. Ich bin begierig darauf, die Außenwelt wiederzusehen. Ihr habt ja keine Ahnung, was Langeweile ist, bevor ihr
nicht zweitausend Jahre damit verbracht habt, Statuen Leben einzuhauchen, die aus eurem eigenen Dreck bestehen, und dann versucht, ihnen das Tanzen beizubringen. Andererseits hat immer alles auch eine gute Seite. Ich habe nämlich einige sehr interessante neue Krankheitserreger ersonnen, müsst ihr wissen.« »Du wirst niemals eine Gelegenheit haben, sie zu verbreiten«, fuhr Sergeant Hakon ihn an. Er sah aus, als wolle er jeden Augenblick angreifen, aber seiner Haltung und Witterung konnte Ragnar entnehmen, dass er sehr unsicher war. Die seltsam gesprächige Art des Dämons und dessen offensichtliche Gelassenheit hatten ihn aus der Fassung gebracht. Ragnar konnte erkennen, dass sein ganzes Rudel unter einem ähnlichen Unbehagen litt. Möglicherweise waren sie alle schockiert ob des Gedankens, sie könnten von dieser bösen, gackernden Monstrosität als Marionetten benutzt worden sein. »Nun, nun, habt euch doch nicht so«, sagte Botchulaz affektiert. »Ein klein wenig Spaß steht mir schon zu. Zeigt ein wenig Mitgefühl. Schließlich sitzt nicht ihr seit Jahrtausenden mit euren Sekreten als einziger Gesellschaft hier fest. Ich finde, diese Eldar waren unnatürlich schlau, wenn ihr mich fragt, fast zu schlau für so ein armes, stümperhaftes Wesen wie mich. So viele Schutzvorrichtungen und Tore, so viel Energie in diesem reizenden Talisman gebündelt. So viele uralte Krieger-Geister, um meine Anhänger fern zu halten. Eines jener verfluchten komplizierten Muster, die ihre Schwachstelle nur alle dreitausend Jahre zeigen, wenn Sternschnuppen vom Himmel fallen und die Monde die richtige Konstellation haben. Es war ziemlich heikel, all das zu arrangieren, das will ich gern zugeben. Da könnt ihr mir doch unmöglich verübeln, dass ich mich etwas amüsieren will.« »Wir werden dich auf der Stelle töten«, wagte Nils zu sagen. »Du dummer Junge, du kannst mich gar nicht töten. Ich bin ein Dämonenfürst Nurgles. Wenn du sehr viel Macht und Glück hättest, könnte es dir vielleicht gelingen, dieses lebende Gefäß zu zerstören und meine Essenz in den Warpraum zurückzuschicken, aber du könn-
test mich nicht töten. Nicht einmal euer Imperator könnte das. Glaub mir, ich weiß es, ich bin ihm schon begegnet. Ein ganz netter Kerl eigentlich, aber ziemlich sauertöpfisch.« Ragnar konnte nicht glauben, dass er diese Blasphemie hörte. Und doch, ging ihm auf, war es durchaus möglich, dass der Dämon die Wahrheit sagte. Der Heiligen Schrift zufolge hatte der Imperator vor über zehntausend Jahren gegen die Seuchendämonen Nurgles gekämpft. War es tatsächlich so unglaublich, dass diese Kreatur einer von ihnen gewesen war? Nicht unglaublicher als die Tatsache, dass er hier im Herzen dieser Pyramide nicht nur die ganze Zeit überlebt und seine Flucht geplant, sondern sie alle dabei über die gewaltige räumliche Entfernung hinweg als Marionetten benutzt hatte. Fast so, als habe er seine Gedanken gelesen, wandte der Dämon seinen speckigen Kopf und musterte ihn von oben bis unten. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, bei dem er unzählige Reihen mit Tausenden von fleckigen grünen und braunen Zähnen zeigte. Plötzlich stank es widerlich nach Halitose und Zahnfleischerkrankung. »Es war nicht leicht, das kann ich euch sagen. Nur zu ganz bestimmten Zeiten konnte ich meine Gedanken aussenden, um Kontakt mit Lakaien aufzunehmen und euch dazu zu bringen, meinen Willen zu tun. Die Zeit hier ist mir wie eine Ewigkeit vorgekommen, glaubt mir. Ach, was sage ich denn? Ich sitze ja tatsächlich schon seit einer Ewigkeit hier fest. Auch wieder die Eldar − sie konnten mich noch nie leiden, müsst ihr wissen. Ich könnte mir denken, dass ihre Seher diese Pyramide schon vor ewigen Zeiten als Falle für meinesgleichen erbaut haben. Bei denen kann man nie wissen, sie können nämlich auf eine ganz merkwürdige Art die Zukunft vorhersehen und sind in mancherlei Hinsicht viel raffinierter, als ihr Menschen es je sein könntet. Jedenfalls bin ich arglos hineingestolpert. Eigentlich war ich nur gekommen, um ein paar neue Keime und etwas gute Laune unter meinen Verehrern zu verbreiten, und dann fielen sie förmlich vom Himmel und fingen mit ihren Ritualen an. Niemand war überraschter
als ich, hier in dieses Gefängnis gesogen zu werden. Wahrscheinlich hätte ich hier auch eine Ewigkeit gesessen, wenn euer Volk sich nicht eingemischt und die Eldar abgeschlachtet hätte. Und ihr hattet auch noch das dreimal verwünschte Amulett zerbrochen und die Einzelteile in alle Winde verstreut, und da dachte ich mir: Tja, das war’s, jetzt sitze ich fest, oder nicht? Das Amulett war der Schlüssel, und plötzlich war es kaputt und weg. Wegen meiner schlechten Gesundheit war es schwer, sich eine positive Einstellung zu bewahren. Ich war so deprimiert, dass ich Jahrhunderte brauchte, um mit meinen Lakaien in Verbindung zu treten und den Verbleib auch nur eines Bruchstücks zu klären. Und dann war da noch das Problem, euch einen Grund liefern zu müssen, um die Fragmente zu suchen und sie hierher zu bringen. Das hat mir Kopfzerbrechen bereitet, das will ich gern gestehen.« Der Dämon verspottete sie, ging Ragnar auf. Er prahlte damit, wie er sie benutzt hatte, während sein Tonfall beständig Mitgefühl und Humor vortäuschte. Warum standen sie nur herum und hörten sich das alles an? Waren sie alle hypnotisiert? Erinnerungen daran, wie Madoks Zauberei ihn beinahe eingewickelt hätte, überkamen ihn. Das war eine ziemlich knappe Angelegenheit gewesen, und diese Kreatur war sehr wahrscheinlich hundertmal stärker als Madok. »Ach, da fällt mir ein: mein lieber Gul, es wird Zeit für deine Belohnung.« »Danke, Gebieter.« Commander Gul trat schneidig vor und baute sich vor dem Dämon auf. Plötzlich sah er viel größer aus, als habe er irgendwie von ihnen unbemerkt seine Körperfülle verändert. Er ragte vor der massigen Gestalt Guls auf und beugte sich vor, um ihm mit langer, schleimbedeckter Zunge über das Gesicht zu lecken. »Kein Grund, so schockiert dreinzuschauen«, sagte der Dämon zu ihnen. »Ich brauchte doch jemanden, der euch alle auf der richtigen Fährte hielt. Und Gul ist schon seit vielen Jahren mein Diener, nicht wahr, Gul?«
»Ja, Gebieter.« »Mann und Junge, wie sein Vater vor ihm und davor dessen Vater und so weiter. Ich will euch nicht mit einer ermüdenden Aufzählung aller Zaubereien langweilen, die nötig waren, um seine wahre Natur vor euch und euren Prüfungen zu verbergen. Sie waren zahlreich und mannigfaltig, und man bewahrt sich doch gern ein paar von seinen Geheimnissen. Für die meisten davon waren ohnehin meine Anhänger zuständig, und ich bin keiner, der immer alles Lob für sich beansprucht. Es genügt wohl, wenn ich sage, dass sie schwierig und kostspielig waren, was die Anforderungen an Energie und Opfer anbelangt.« »Gul, Sie sind ein Verräter an der gesamten Menschheit«, sagte Sternberg. Unverblümter Unglaube zeigte sich auf seinem Gesicht. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, sich an den Gedanken des Verrats seines treuen Handlangers und Anführers seiner persönlichen Leibwache zu gewöhnen. »Und Sie sind ein Narr, der glaubt, die Wahrheit zu kennen«, erwiderte Gul mit höhnischem Grinsen. Hass zerriss förmlich Ragnars Eingeweide. Gul hatte sie auf ihrer Mission begleitet und sich dabei als ihr Verbündeter ausgegeben, und dabei hatten sie die ganze Zeit seinen schändlichen Zwecken gedient. Lars und auch andere waren gestorben, damit dieser Mann, wenn man ihn überhaupt noch so nennen konnte, hatte hierher finden und sich vor Botchulaz erniedrigen können. »Nun, nun«, sagte der Seuchendämon. »Es gibt keinen Grund für harsche Worte. Ende gut, alles gut, und so weiter.« Botchulaz’ spöttischer Tonfall schürte Ragnars rechtschaffenen Zorn. Er wusste jetzt, dass dieser endlose Strom fröhlicher leerer Phrasen nicht mehr war, als ein boshafter Scherz des Dämons. In Wahrheit hasste er sie alle und dies war seine Art, seine Verachtung für ihre Intelligenz zu zeigen. Ragnar gelang es, den Bann der Dämonenstimme lange genug abzuschütteln, um seine Boltpistole zu heben und einen Schuss auf Gul
abzugeben. Die Patrone traf ihr Ziel und explodierte im Herzen des Dämonenanbeters. »Das war aber gar nicht nett, Ragnar«, sagte Botchulaz, als Gul vor ihm zusammenbrach. Der ehemalige Commander sah zu dem Seuchendämon auf, wie vielleicht ein Hund sein geliebtes Herrchen ansehen mochte. »Eigentlich hatte ich Gul belohnen wollen. Er hatte keine leichte Aufgabe, müsst ihr wissen. Treue gegenüber dem Imperator und seiner doch sehr übereifrigen Inquisition zu heucheln war ein wenig zermürbend für einen Mann seiner Herkunft.« Gul streckte eine Hand aus und zupfte an Botchulaz’ Bein. Seine Finger erzeugten ein widerliches Sauggeräusch, als sie abrutschten. Ragnar konnte erkennen, dass ihre Kuppen mit Schleim überzogen waren. »Ja, ja«, sagte der Dämon beschwichtigend. »Keine Sorge, ich bringe das wieder in Ordnung. Das ist doch wirklich das Wenigste.« Ragnar zielte auf den Dämon, der seinem grimmigen Blick begegnete. Bräunliche Zähne entblößten sich zu einem breiten Grinsen. »Du würdest doch wohl nicht …«, sagte er fröhlich. Ragnar drückte ab und feuerte Patrone um Patrone auf den Dämon ab. Eine fuhr in seinen Kopf, drei weitere trafen den Bauch. Botchulaz’ Gesicht stülpte sich nach innen wie ein zusammengerolltes Stück Papier. Die Patronen verschwanden spurlos in den Fettfalten um seine Hüften. Einen Moment glaubte Ragnar, dem Ding vielleicht etwas Schaden zugefügt zu haben, aber dann sprang das Gesicht wieder zu seiner normalen Form zurück − und dann ploppte es, als werde ein Korken aus der Flasche gezogen, und die Boltpatronen wurden von seinem Körper abgestoßen. »Das tat ein wenig weh«, sagte er mit gequälter Stimme. Ein entsetzliches Husten nahm seinen Anfang tief unten in seiner Kehle, und für einen Moment glaubte Ragnar, doch etwas bewirkt zu haben. Der Dämon beugte sich vor, hielt sich den Bauch, wo ihn die Patronen getroffen hatten, und übergab sich. Widerliches Zeug strömte aus seinem Mund und hüllte den sterbenden Gul ein. Ragnar sah voller
Abscheu und Entsetzen, wie es die Wunden des Sterbenden ausfüllte, sie stopfte und sich dann weiter über die Haut ausbreitete, wobei es eine fleckige, schimmlige Kruste zurückließ. Gul keuchte und schüttelte sich wie ein Mann im Endstadium eines furchtbaren Fiebers. Dann hörte das Zittern auf, und sein ganzer Leib schien anzuschwellen. Die Muskeln blähten sich auf, und die Haut nahm eine kränkliche grünlich gelbe Farbe an. Seltsame Lichter spielten in seinen Augen, und er erhob sich, während sich seine Finger krümmten und spannten wie Adlerkrallen. »Das hätten wir«, sagte Botchulaz. »Eine Liebe ist der anderen wert, so etwas in der Art.« Karah Isaan schien aus ihrer Trance zu erwachen. Sie stimmte einen schneidenden Singsang an und hob die Arme hoch über den Kopf. Eine Flut weißglühender psychischer Energie strömte von ihr dem Dämon entgegen. Eine Mauer aus sengendem Feuer hüllte Botchulaz ein und ließ seine Umrisse flimmern und tanzen. Die Haut des Dämons warf für einen Moment Blasen und schien aufzuplatzen. Ragnar glaubte schon, der Inquisitorin könne es tatsächlich gelingen, den Dämon zu bannen. Dann gerannen und verdichteten sich seine Umrisse wieder. Er wandte sich Karah zu und schien selbst eine Energiewelle hervorzurülpsen. Tausende von Schlangen aus einem widerlichen grünen und gelben Licht wickelten sich um sie und hüllten sie ein. Sie stieß einen gequälten Seufzer aus, als ihre Haut plötzlich fleckig und farblos wurde, und dann sank sie reglos zu Boden. Dampf stieg von Botchulaz’ Haut auf, während die Blasen verschwanden. Er nickte bei sich, prüfte alle seine Gliedmaßen auf Vollständigkeit und Funktionsfähigkeit, sah sich um und lachte fröhlich. »Tja, das hat Spaß gemacht, aber ich darf nicht trödeln. Ich muss mich um einige dringende Geschäfte kümmern. Ich bin sicher, Gul wird sich eurer annehmen.« Ragnar sah voller Verblüffung zu, wie ein Netz aus grünem und gelbem Licht aus dem Körper des Seuchendämons hervorbrach. Irgendwie hatte er den Eindruck, als würden gewaltige Energien ent-
fesselt. Die Wände der Pyramide änderten die Farbe. Ragnar wusste, dass das nichts Gutes für die Bewohner von Aerius zu bedeuten haben konnte, sah aber auch nicht, was sich im Moment dagegen unternehmen ließ. Gul sah immer weniger gesund aus. Seine ganze Gestalt sackte vorwärts, da sein Fleisch zum Teil geschmolzen war. Seine Finger bildeten lange Krallen aus. Blasen brachen durch die Kruste um seinen Körper. Ein Geruch nach Verwesung lag in der Luft, nur noch viel süßlicher. »Ich bin unsterblich«, sagte er. »Das werden wir ja sehen, verflucht«, brüllte Sven und ging auf Gul los. Ragnar beeilte sich, ihm zu folgen.
VIERZEHN
Ein Dutzend Dinge geschahen gleichzeitig. Die Blutkrallen, Sergeant Hakon und die Inquisitoren setzten sich zur Wehr. Sich windende Gestalten lösten sich aus dem widerlichen Schleimteppich, der den Boden verkrustete, ganze Leiber tauchten daraus auf wie Schwimmer aus einem See. Sie waren vage humanoid und ähnelten kleineren, weniger gut ausgebildeten Versionen von Botchulaz. Ihre Köpfe hatten kein Gesicht, sondern nur zwei wie gestanzt aussehende Augenlöcher. Den Leibern haftete etwas Flüssiges, Knochenloses an. Ihrem Gestank konnte Ragnar entnehmen, dass sie aus Rotz, Schleim und anderen dämonischen Absonderungen bestanden. Etwas umschloss seinen Fußknöchel, und als er nach unten schaute, starrte ein lachendes Gesicht zu ihm auf. Es schien aus dem Boden geschnitzt worden zu sein, aber Ragnar wusste genau, dass es Augenblicke zuvor noch nicht da gewesen war. Es grinste ihn mit einer irren dämonischen Freude an, die Botchulaz’ entsprach. Er trat aus und riss den Arm vom Boden los. Die Finger blieben an seinem Knöchel kleben, und die ganze Gestalt hob sich weiter aus dem Schlamm. Überall krachten Boltpistolen, und Gul und die von Botchulaz beschworenen Schleimgestalten wurden von Patronen getroffen. Sofort war auch das seltsame Sauggeräusch wieder zu hören. Die Patronen schienen keine Wirkung zu erzielen, was Ragnar nicht sonderlich überraschte. Die Gestalten hatten weder Knochen noch innere Organe und verdankten ihr Leben übelster Zauberei. Sie würden nicht an Wunden zugrunde gehen, die einen normalen Menschen getötet hätten. Gul lachte irre, während er seinen veränderten Körper begutachtete, und vollführte hämische Kapriolen. »Und nun, Diener des Falschen Imperators«, sagte er, »werdet ihr sterben.«
Ragnar bewegte sein Bein, aber der Griff verstärkte sich, und der Arm des Schleimdings wurde länger. Er spürte, wie der Druck zunahm, und sah zu seinem Entsetzen, dass das Ceramit an manchen Stellen nachgab. Er schlug mit seinem Kettenschwert zu und traf den Arm seines Häschers an der Schulter. Die Klingen kreischten und fetzten und durchtrennten ihn. Der Arm löste sich, und Ragnar konnte sich wieder bewegen. Ein rascher Rundumblick zeigte ihm, dass sich immer mehr der unheimlichen Gestalten aus dem Boden hoben. Seine Schlachtbrüder deckten sie mit Boltpatronen ein, aber alle dadurch entstehenden Risse und Löcher schlossen sich sofort wieder. Sven schlug mit seinem Kettenschwert zu und trennte einen Kopf ab. Er rollte davon und wurde von einer anderen Monstrosität aus Rotz und Schleim aufgehoben, die den Kopf an ihrer eigenen Brust befestigte. Gul stand im Zentrum von alledem, in seinen fleckigen Panzer gehüllt, und heulte voller irrer Freude. Eine der grässlichen Gestalten streckte ihre langen Arme aus, und ein Sprühregen des ekelhaften Schleims klatschte Inquisitor Sternberg ins Gesicht. Ragnar fragte sich, welchen Schaden das anrichten sollte, bis er die Eiterströme aus den Augen des Inquisitors quellen sah. Einen Augenblick später platzte sein Kopf unter dem extremen Druck der widerlichen Flüssigkeit, die hineingespritzt worden war. Für einen kurzen Moment stellte Ragnar sich die letzten Augenblicke des Inquisitors vor, wie sich die Würmer aus krankem Plasma durch die Windungen seines Gehirns und den Schlund hinunter in den Magen schlängelten. Ragnar warf einen Blick auf Sergeant Hakon und konnte seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass der alte Wolfskrieger in etwa dasselbe dachte. Es wurde Zeit zu verschwinden. Ragnar hob Karahs bewusstlose Gestalt auf und warf sie sich über die Schulter. Er pflügte eine grüne Schneise in den knietiefen Schleim und strebte dem Ausgang entgegen. Als Gul das sah, zückte er seine Pistole und zielte auf ihn. Seine Bewegungen waren langsam, und seine Hand zitterte, als habe er
Schüttelfrost, aber Ragnar wusste, dass das keine Rolle spielte. Mehr als ein Schuss war nicht nötig. Er warf sich vorwärts in der Hoffnung, dass er umso schwerer zu treffen sein würde, je schneller er sich bewegte. Eine Boltpatrone bohrte sich hinter ihm in den Schleim. Ragnar lief weiter und richtete ein Stoßgebet an Russ und den All-Vater. Er hörte Kriegsrufe der anderen Blutkrallen, als sie ebenfalls den Rückzug aus der Kammer antraten. Hände zerrten an seinen Knöcheln und hielten ihn auf. Jedes Mal, wenn er einen Fuß hob, ertönte ein grässliches Schmatzen. Es war, als sei er in einem wohlbekannten Albtraum gefangen, in dem er von tödlichen Feinden verfolgt wurde, er bei seiner Flucht aber nicht von der Stelle kam. Er hörte einen weiteren Schuss und rechnete damit, eine jähe Explosion der Schmerzen in der Brust zu verspüren. Nichts dergleichen geschah. Er wandte den Kopf und sah, dass Sergeant Hakon Gul mit einem Schuss beiseite gefegt hatte und jetzt versuchte, sich von den Schleimbestien abzusetzen, die sich aus Wänden und Boden lösten. Ragnar wollte ihm helfen, doch irgendein Instinkt flüsterte ihm ein, Karahs Rettung sei von ausschlaggebender Bedeutung. Vielleicht hatte die Inquisitorin eine Idee, wie man dem Seuchendämon und seinen Ungeheuern beikommen konnte. Eines wusste er ganz genau: Er selbst hatte keine. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sah, dass Strybjörn und Sven dem Sergeant zu Hilfe eilten. Mit ihren Kettenschwertern durchtrennten sie unmenschliche Gliedmaßen und zogen Hakon durch die Tür in Sicherheit. Ragnar sah sich ein wenig panisch nach Nils um. In der Mitte der Kammer war eine menschliche Gestalt, die vollkommen in verhärteten Schleim gehüllt war. Immer mehr der grünlichen Dinger warfen sich auf sie, und die Gegenwehr erlahmte. Einen Moment später waren nur noch Nils’ Umrisse unter einer harten Schleimkruste zu sehen. Entsetzen erfüllte Ragnar. Dies war
ein Grauen, gegen das es keine Verteidigung zu geben schien. Normale Waffen schienen wirkungslos gegen diese Kreaturen zu sein. Ihr weicher, magisch animierter Körper war unempfindlich für Boltpatronen, und was ein Kettenschwert zerteilte, wuchs einfach wieder zusammen. Es war wie ein Kampf gegen Trolle, nur noch schlimmer. Nicht einmal Trolle hatten ihm ein derartiges Entsetzen eingeflößt. »Weiter! Weiter!«, befahl Sergeant Hakon. »Wir können nichts mehr für ihn tun.« Ragnar wollte bleiben und es wenigstens versuchen, aber sein Verstand erkannte die Vernunft in den Worten des Sergeants. Wenn sie blieben, war ihnen ein schrecklicher Tod sicher, der in keiner Beziehung heldenhaft war. Ein Opfer, das den Milliarden Menschen auf Aerius nicht helfen, sondern nur dem Dämon in die Hände spielen würde. Zumindest kamen diese Ungeheuer nur langsam voran. Wenn sie liefen, waren seine Kameraden und er deutlich schneller als sie. Er fragte sich, was mit Gul war. Ragnar hatte den Verräter nicht mehr gesehen, seit Hakon ihn erschossen hatte. Wenn es eine Gerechtigkeit gab, dachte Ragnar, würde er in dem Schleim ertrinken, der den Boden der Kammer bedeckte. Irgendwie bezweifelte er jedoch, dass sie so viel Glück haben würden. Er vergewisserte sich, dass Karahs schmächtige, leblose Gestalt sicher auf seiner Schulter lag, und machte sich an den Rückweg aus der Pyramide, wobei er nur ihrer Duftspur zu folgen brauchte. Hallende Schritte hinter ihm setzten ihn davon in Kenntnis, dass ihm seine Schlachtbrüder folgten. Sie traten aus der Pyramide in die Nacht und in eine ominöse Stille. Ragnar fragte sich, was geschehen war. Es konnten doch unmöglich schon alle tot sein. Die Kräfte des Dämons konnten nicht so gewaltig sein, oder? Doch woher wollten sie wissen, wozu dieses Wesen in der Lage war? Wie wollte er die Fähigkeiten eines Wesens messen, dem es gelungen war, Jahrtausende im Herzen der Schwarzen Pyramide
zu überleben, und das die gerade erst erlebte schwarze Magie beherrschte? Seine Kräfte stellten diejenigen Madoks, des von Ragnar getöteten Krieger-Zauberers von den Tausend Söhnen, bei Weitem in den Schatten. Vielleicht konnte Botchulaz diese Welt tatsächlich in die Knie zwingen. Vielleicht hatte er es bereits getan. Ragnar konnte es einfach nicht beurteilen. Er starrte in den Nebel und die Stille. In der Ferne funkelten Muster aus winzigen Lichtern auf den Wolkenkratzern. Am Himmel blinkten die Positionslichter von Flugmaschinen und landenden Raumschiffen. Hinter ihm drang ein seltsam grünlichgelbes Licht durch die Mauern der Pyramide. Es pulsierte unheimlich, dann schien es sich von dem Bauwerk zu lösen und zu einer Wolke zu verdichten, die in die Nacht entschwebte. Tausende und Abertausende nebliger Ranken schlängelten sich auswärts, eine Manifestation schwarzer Magie, die er nicht verstand. Er war jedoch sicher, dass sie nichts Gutes für die Bewohner von Aerius verhieß. Die Lichter an den Seiten der Schwarzen Pyramide flackerten und fügten sich zu neuen Mustern zusammen. Ragnar hätte schwören können, für einen Sekundenbruchteil die grinsende Fratze des Seuchendämons gesehen zu haben. Augenblicke später war er davon überzeugt, dass dieses Gesicht seinerseits aus Tausenden und Abertausenden kleinerer Ausgaben von Botchulaz bestand, die alle Kapriolen schlugen, herumtollten und sich in Positur warfen. Plötzlich sah er, wie sich Flüssigkeit auf den Seitenwänden der Pyramide bildete. Tropfen eines grünlichen, schleimigen Schweißes schienen aus den Poren des Gesteins zu quellen. Daraus konnte Ragnar nur den Schluss ziehen, dass die Magie der Eldar, mit deren Hilfe sie Botchulaz eingesperrt hatten, nicht mehr funktionierte. Ihm ging auf, dass er sich selbst nicht sonderlich wohl fühlte. Ihm war ein wenig schwindlig, und auf seiner Stirn hatte sich ein Schweißfilm gebildet. Als er ein Niesen unterdrückte, gestand er sich ein, dass er Fieber hatte und so krank war wie noch nie, seit er ein Space Marine war. Nicht einmal sein verändertes Immunsystem war
gegen die von dem Dämon Botchulaz entwickelten Seuchen gefeit. Jetzt konnte er nur noch zu Russ und dem Imperator beten, dass er stark genug war, um der Krankheit zu widerstehen. Da ging ihm auf, dass diese Krankheit, wenn sie stark genug war, um Auswirkungen auf Space Marines zu haben, in der Tat eine furchtbare Plage für Normalsterbliche sein musste. »Riecht ihr das?«, hörte er Sven sagen. Ragnar witterte und wusste sofort, was sein Schlachtbruder meinte. Der Nachtluft haftete etwas Neues an, und seine Nüstern schienen zu kribbeln. »Böse Zauberei«, sagte Sergeant Hakon. »Von der schlimmsten Sorte.« »Was wollen wir dagegen unternehmen?«, fragte Strybjörn. Hakon warf einen Blick auf die bewusstlose Karah. »Wir müssen herausfinden, was eigentlich los ist. Was hat der Dämon vor?« »Ich glaube, das wird gerade offensichtlich«, sagte Sven, indem er auf die Menge der kranken Gestalten zeigte, die auf dem Platz lagen. Ragnars üble Vorahnungen verstärkten sich noch, als der unheimliche Geruch nach Zauberei durchdringender wurde und sie alle in eine dichte Wolke hüllte. Es roch wie eine Mischung aus Abwasser und verwestem Fleisch, nur viel stärker und tausendmal schlimmer. Die Kranken stöhnten jetzt und wanden sich. Einige von ihnen erhoben sich unsicher. Aber sie sahen nicht so aus, als sei dies die Folge einer Besserung ihres Zustands. Eher sahen sie noch schlimmer aus. Ihre Gesichter waren bleich. Ihre Körper waren mit Pusteln übersät. Den Bewegungen haftete eine schreckliche Langsamkeit an wie bei alten Menschen im Endstadium einer tödlichen Krankheit. Die Haut hatte eine grünlich gelbe Färbung. Ihr Schweiß sah mehr nach Schleim als nach einer normalen Körperflüssigkeit aus, was ihrer Haut einen widerlichen, Übelkeit erregenden Glanz verlieh. In ihren Augen stand ein seltsames grünes Leuchten, ein magisches Licht, das trübe unter dem Schleim brannte, der ihre Augen verklebte. Ragnar spürte den Fluss fremdartiger Energien rings um sie und in ihnen. Er wusste jetzt, dass sie das Stadium des Menschseins hinter sich gelassen hat-
ten und unter dem bösen Bann des Seuchendämons standen. Wie zur Bestätigung wandte sich das erste der gerade aufgestandenen Seuchenopfer gegen die Blutkrallen. Es öffnete den Mund und stieß einen unheimlichen Laut aus, halb Kreischen, halb Gurgeln. Ein Geräusch, das Ragnar an einen Sterbenden denken ließ, der am Schleim in Lunge und Kehle erstickte. Langsam schlurfte ihnen der infizierte Mann mit ausgestreckten Armen, klaffendem Mund und glühenden Augen entgegen. Ragnar warf einen Blick auf seine Kameraden. Er hatte keine Angst. Verglichen mit den Ungeheuern in der Pyramide stellten diese wenigen verdorbenen Seelen keine Gefahr dar. Einen Augenblick später dämmerte ihm die wahre Erkenntnis, und was er sah, wurde plötzlich mehr als beängstigend. Auf dieser Welt gab es Hunderte Millionen infizierte Sterbliche. Wenn alle oder auch nur einige von ihnen durch diese Krankheit in Anhänger Nurgles verwandelt wurden, konnte der Herr der Seuchen bald über eine riesige Armee gebieten. Schlimmer noch, wenn diese Seuche auf andere Welten übergriff, würden ihm bald ganze Systeme, vielleicht sogar ganze Raumsektoren in die Hände fallen. Konnte dieses monströse Wesen wirklich so mächtig sein? In diesem Fall war der Dämon nicht nur eine Gefahr für Aerius, sondern für das ganze Imperium! Sein Respekt vor Botchulaz’ finsterer Macht wuchs unwillkürlich. »Vielleicht sollten wir aufs Schiff zurückkehren und dafür sorgen, dass Inquisitorin Isaan behandelt wird«, schlug Sven vor, während er ihre reglose Gestalt betrachtete. »Nein!«, sagte Ragnar plötzlich. Alle Augen richteten sich auf ihn. »Wenn wir infiziert sind, würden wir diese Seuche nur in die Licht der Wahrheit einschleppen. Wer weiß, wohin sie sich in diesem Fall noch ausbreiten würde.« »Ragnar hat Recht«, stimmte Hakon zu. »Wir müssen diesen Planeten unter allen Umständen unter Quarantäne halten!« Der Sergeant meldete sich über Komm-Netz und teilte dem Schiff Einzelheiten über ihre Lage mit. Er empfahl dringend, über Aerius
ein Start- und Landeverbot für Raumschiffe zu verhängen und eine imperiale Schlachtflotte anzufordern, um die Einhaltung der Quarantäne zu gewährleisten. Ragnar sah den Sinn der Maßnahme ein, fragte sich aber, ob sie noch etwas nützen würde. Bis zum Eintreffen einer Flotte würde der Schaden längst angerichtet sein. Ragnar konzentrierte sich wieder auf die Menge. Die Kranken machten Anstalten, die Space Marines zu umzingeln. Dem Wolfskrieger war nicht ganz klar, was sie ohne Waffen gegen gut ausgerüstete Truppen zu erreichen hofften. Plötzlich setzte die Menge sich in Bewegung, die Finger wie Krallen ausgestreckt. Es widerstrebte ihm, das Feuer auf diese bemitleidenswerten Opfer von Botchulaz’ dämonischen Machenschaften zu eröffnen. Schließlich waren sie die Leute, die zu beschützen er geschworen und deren Rettung ihre Mission gegolten hatte. »Feuer frei!«, sagte Sergeant Hakon. »Diese Leute sind nicht mehr zu retten. Sie sind keine Menschen mehr, sondern nur noch Werkzeuge des Bösen.« Er unterstrich seine Worte durch Taten und schoss. Eine Boltpatrone durchschlug die Brust des ersten Bedauernswerten und ließ ihn rückwärts in die Menge taumeln. Die anderen Seuchenopfer ließen sich dadurch nicht aufhalten. Sie schlurften automatenhaft weiter, nur darauf bedacht, Ragnar und seine Kameraden zu töten. Ragnar ging auf, dass es ihnen durch den Druck der schieren Masse sogar gelingen mochte. Er griff nach einer Granate und warf sie in die Masse der Leiber. Die Explosion zerfetzte sie und ließ Blut in alle Richtungen spritzen. Laserstrahlen und Boltpatronen schlugen neben ihm in die Wand. Jetzt sah er, was geschah. Durch die Masse der Leiber führte einfach kein Weg mehr. Es gab zu viele, und einige der Infizierten waren bewaffnet. Sie konnten sich den Weg nicht freikämpfen. Die zahlenmäßige Übermacht der Seuchenopfer zwang die Wolfskrieger zum Rückzug in die Pyramide. Karah regte sich. Als sie etwas sagte, war ihre Stimme schwach,
aber die Worte waren klar und deutlich zu vernehmen. »Diesen Ort zu verlassen nützt nichts. Der Dämon … zapft die Kräfte der Pyramide an und benutzt die Energien, die ihn bisher gefesselt haben, um seine Zauberkräfte zu schüren. Wenn wir ihn nicht hier und jetzt aufhalten, schaffen wir es nie mehr. Wir müssen zurück … und diese Sache beenden …« Wenigstens lebt sie noch, dachte er und gab einen Schuss auf die anrückende Menge ab. Sie brüllte und gurgelte mit einer Stimme, und aus diesem unheimlichen Laut glaubte Ragnar ein obszönes Echo der Fröhlichkeit des Seuchendämons herauszuhören. »Folgt mir!«, bellte Hakon. Seine scharfen Ohren hatten ihre Worte offenbar verstanden. Er rannte in die Pyramide zurück. Augenblicke später waren ihm die Blutkrallen gefolgt. Hinter ihnen heulte und gurgelte die Meute, was Ragnar dazu veranlasste, sich zu fragen, in welche Hölle sie nur geraten waren. Kurz darauf schloss sich wieder die Schwärze der alten Eldar-Pyramide rings um sie. Es war still. Ragnar lehnte sich mit dem Rücken an das kühle Gestein der Tunnelwand und atmete tief durch. Ihm schwirrte der Kopf. Er fühlte sich fiebrig. Ihm war klar, dass dies die Folgen der dämonischen Magie waren. Sein Körper versuchte gegen die Symptome der Seuche anzukämpfen, bisher ohne Erfolg. Ein Blick auf die anderen zeigte ihm, dass sie auch nicht besser aussahen. Auf Svens Stirn standen Schweißperlen, und seine Haut hatte einen kränklichen grünlich gelben Farbton angenommen. »Du siehst aus wie ein Ork«, sagte Ragnar. »Du siehst auch nicht besser aus«, erwiderte Sven. »Ich habe schon Leichen gesehen, die gesünder aussahen.« »Das Chaos ist hier sehr stark«, sagte Strybjörn. Sven lachte kurz und bitter. »Vielen Dank für diese Feststellung. Ich bin sicher, ohne deine Hilfe wäre ich nie darauf gekommen.« Strybjörn funkelte Sven an und knurrte. Plötzlich knisterte es zwi-
schen ihnen vor Spannung und unterdrückter Gewalt. Sergeant Hakon legte beschwichtigend eine Hand auf Svens Schulter, und Ragnar trat zwischen sie. »Wir sind alle krank und müde, und auf dieser Welt geht ein Dämon um. Das ist nicht der rechte Zeitpunkt, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen«, sagte Hakon. »Wir müssen zusammenhalten, sonst finden wir nie einen Weg, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.« Verzweiflung erfüllte Ragnar bei den Worten des Sergeants. Sie alle hatten die Macht des Dämons erlebt. Er schien unüberwindlich zu sein. Gegen so ein Wesen konnten sie nichts ausrichten. Gar nichts. Der Dämon hatte sie von Anfang an benutzt. Er war zu schlau für sie. Das zeitlose, ewige Böse in ihm war mehr, als ein Sterblicher überwinden konnte. Was konnten sie gegen so ein Wesen und seine Lakaien ausrichten? Die von ihm erschaffenen Ungeheuer waren schlimm genug, aber er wusste jetzt, dass vor der Pyramide eine dem Chaos ergebene Armee im Entstehen begriffen war, eine Armee aus den Leichen der Seuchenopfer, zweifellos verstärkt durch die Mitglieder des Geheimkults, der schon so lange tätig war, um Botchulaz’ Freiheit zu erwirken. Wer wusste schon, wie viele es gab und welche Machtpositionen sie innehatten? Wenn der Anführer von Sternbergs Leibwache zu ihnen gehörte, wie viele andere in ähnlicher Stellung mochte es dann noch geben? Von Anfang an waren sie in ein Netz des Bösen verstrickt gewesen, aus dem sie nicht hatten entkommen können. Ragnar fragte sich, ob überhaupt je die Möglichkeit bestanden hatte, sich daraus zu befreien, ob irgendeine Entscheidung auch hätte anders getroffen werden können, sodass sie den Seuchendämon nicht befreit und das Leben ihrer Kameraden gerettet hätten. Ein Schuldgefühl überkam Ragnar. Er hatte Sternberg geglaubt und war unwissentlich zu einer Marionette des Dämons geworden, ebenso wie seine Kameraden. Unwissentlich hatten Nils und Lars ihr Leben im Dienst der üblen Mächte des Chaos gelassen. Bei diesem
Gedanken schämte er sich bis ins Mark seines Wesens. Außerdem machte es ihn wütend. Wenn er auch nur zum Teil verantwortlich war für die Verheerungen, die sie miterlebten, war Botchulaz es umso mehr. Der boshafte Intellekt des Dämons hatte all das geplant, und Ragnar machte Sternberg, seine Kameraden und sich sich selbst nicht halb so sehr für alles verantwortlich wie dieses schändliche Ungeheuer. Er schwor sich, dafür Rache an dem Dämon zu nehmen, auch wenn es das Letzte war, was er tat. Mit der Wut kam das Gefühl, verraten worden zu sein. Sie alle waren im Stich gelassen worden. Die Prophezeiungen, aufgrund deren sie hier waren, hatten sich als falsch erwiesen. Er spürte die Hoffnungslosigkeit zurückkehren, als ihm aufging, dass die Kräfte des Dämons groß genug gewesen waren, um aus seiner versiegelten Pyramide über die halbe Galaxis hinweg die Gedanken der Runenpriester und Wolfskrieger zu beeinflussen. Aber stimmte das wirklich? Die Prophezeiung hatte nur gesagt, dass das Böse enden würde, wenn der Talisman in die Zentralkammer der Pyramide gebracht wurde. Sie hatte nichts über den damit verbundenen Verlust von Menschenleben gesagt. Aber hatten sie den Talisman nicht an den entsprechenden Ort gebracht, und waren sie nicht dennoch gescheitert? Ragnar zwang sich zurückzudenken. Was war wirklich geschehen? Karah war bewusstlos geworden, bevor sie Gelegenheit bekommen hatte, ihre Kräfte einzusetzen. Die Helfer des Dämons hatten sie zum Rückzug gezwungen. Wären sie geblieben, hätten sie vielleicht etwas erreichen können. Aber was? Die kurze Hoffnung, die in ihm aufgeflackert war, erlosch wieder. Er klammerte sich an Strohhalme, machte sich etwas vor. Es gab keine Hoffnung. Sie waren gescheitert. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als sich hinzulegen und zu sterben. Er spürte eine Berührung an der Stirn, und als er den Blick senkte, sah er, dass Karah die Augen geöffnet hatte. Sie sah ihn voller Begreifen an, als habe sie seine Ge-
danken gelesen. Sie lächelte matt. »Ich glaube, Sie haben Recht«, sagte sie durch aufgesprungene Lippen. »Der Talisman ist der Schlüssel − und wenn wir ihn richtig anwenden, können wir den Dämon vielleicht wieder in sein Gefängnis sperren.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich hatte mehr als jeder andere Gelegenheit, die Anlage dieser Pyramide zu studieren. Ich hatte Verbindung zu den Kräften, die hier am Werk sind. Ich glaube, ich sehe eine Möglichkeit, sie zu reaktivieren und diesen Dämon wieder einzusperren.« »Und wenn Sie sich irren?« »Was haben wir zu verlieren?«, sagte sie achselzuckend. »Wir sind ohnehin bereits so gut wie tot.« Ragnar hörte das scharfe Einatmen seiner Schlachtbrüder, und als er sich zu ihnen umdrehte, stellte er fest, dass sie alle einhellig nickten. Die Verzweiflung auf ihren Gesichtern war einem Ausdruck sturer Entschlossenheit gewichen. »Sie hat verflucht Recht«, sagte Sven für sie alle. »Wir haben nichts zu verlieren und alles zu gewinnen.« »Wir hätten Gelegenheit, unsere Rechnung mit dem Seuchending zu begleichen. Das würde ich begrüßen.« »Dann lasst uns gehen und unserem Verhängnis entgegentreten«, sagte Ragnar. »Zumindest könnten wir sterben wie würdige Söhne von Russ!« Alle nickten bis auf Sergeant Hakon. Seine dünnen Lippen waren zu einem Knurren zusammengepresst. »Noch nicht«, sagte er. »Ich wüsste gern mehr darüber, was wir tun sollen. Unser Heldentod mag uns in Russ’ Augen erlösen, aber er wird nichts für die Leute bewirken, die zu beschützen wir geschworen haben. Ich wüsste gern mehr über Ihre Pläne, Karah Isaan.« »Also gut«, sagte sie. »Dann hören Sie zu.« Und bei ihren Worten sank Ragnars Mut.
Sie eilten weiter, tief ins Herz der Pyramide. Ragnar hielt seine Waffen so fest umklammert, dass die Knöchel an den Händen weiß hervortraten. Sein Kettenschwert war bereit. Seine Boltpistole wies nach vorn. Falls ein Feind vor ihm auftauchte, würde dieser augenblicklich sterben. Der Geruch der Erkrankten war überall. Sie hatten die große Pyramide ebenfalls betreten und irrten darin herum. Ragnar konnte die Krankheit in ihnen riechen, und es gab auch noch andere Witterungen, deren Makel feiner war und die, wie er annahm, zu den Anhängern der Kulte gehörte, die Botchulaz verehrten. Er fletschte die Zähne zu einem Knurren. Er wollte mit diesen Verrätern an der Menschheit abrechnen. Er wollte, dass sie mit ihrem Leben für ihren Verrat am Imperium und ihren Mitmenschen bezahlten. Die Gänge waren düster. Seltsame Hexenfeuer brannten in Nischen in den Wänden. Ihr gelblich grünes Licht erinnerte ihn an die magischen Energien, die der Seuchendämon entfesselt hatte. Er hatte diesen Schein für seine eigenen üblen Zwecke beschworen, vermutlich um seinen Anhängern zu ermöglichen, die Wolfskrieger zu jagen. Bisher war es ihnen gelungen, den schändlichen Kreaturen aus dem Weg zu gehen. Die Pyramide war riesig, und ihre Gänge kamen ihnen endlos vor. Selbst die ungeheure Masse der Erkrankten konnte nicht überall sein. Es war ihnen gelungen, ihnen aus dem Weg zu gehen, indem sie andere Abzweigungen genommen und sich darauf verlassen hatten, dass ihr überlegener Orientierungssinn ihnen ermöglichen würde, bei Bedarf schnell wieder auf den richtigen Weg einzuschwenken. Aber es verlangsamte ihr Vorankommen, und Ragnar hatte das Gefühl, dass jede Sekunde zählte. Er spürte förmlich, wie die Macht sich mit jedem Herzschlag, der verging, weiter ausbreitete. Die Seuche wurde immer stärker, und immer mehr Menschen würden ihr zum Opfer fallen und in den Bann der dämonischen Magie geraten. Schlimmer noch, er spürte, wie auch seine eigenen Kräfte nachließen und seine Stirn fiebriger wurde. Im Hinterkopf konnte er eine merkwürdige flüsternde Stimme voller irrer, überschäumender Häme hören, die ihn drängte, sich hinzu-
legen, sich auszuruhen, nur für einen Moment. Dadurch werde er wieder zu Kräften kommen. Er wusste, dass dies Botchulaz’ Werk war, der Beginn des Zaubers des Seuchendämons. Wenn er sich hinlegte, würde er nur als Sklave des Dämons wieder aufstehen. Er beschloss, dass er es niemals tun würde, dass er sich lieber seine eigene Boltpistole an die Stirn setzen und abdrücken würde, als zum Sklaven eines derart bösartigen Wesens zu werden. Dem Knurren seiner Schlachtbrüder konnte er entnehmen, dass sie dieselbe Entscheidung getroffen hatten. Eine weiche Hand legte sich auf seine Schulter. »Und auch das wäre ein Sieg für den Spross Nurgles«, sagte Karah grimmig. »Wenn alle, die willensstark genug sind, um seiner Macht zu widerstehen, gleich empfinden, wird bald niemand mehr da sein, um sich ihm zu widersetzen. Seien Sie versichert, dass auch das nur eine Manifestation der Chaos-Kräfte des Dämons ist. Wenn Sie ihr nachgeben, triumphiert er ebenso, wie wenn Sie seinen Seuchenkeimen zum Opfer fallen.« Er sah, wie die anderen sie verständnislos anstarrten, bis das Begreifen in ihren Augen dämmerte. Ihnen ging auf, dass ihre düstere Stimmung ebenfalls ein Produkt des bösen Zaubers war. Ragnar spürte, wie sich ihr Rückgrat versteifte, als sie sich wappneten, ihm zu widerstehen. Da durfte er selbst nicht zurückstehen. Aber bei Russ, wie seine Gelenke schmerzten. Und jetzt lief seine Nase. Er hörte Sven niesen und wie Strybjörn sich geräuschvoll räusperte und ausspie. Sogar Sergeant Hakon hustete. Das war nicht gut. Wie konnten vier geschwächte Space Marines und ein erschöpfter Psyker die Kraft überwinden, die eine derart mächtige Krankheit hervorgebracht hatte? Er versuchte den Gedanken abzutun, wollte sich einreden, dass es lediglich eine Folge von Botchulaz’ teuflischem Zauber war, aber er wusste genau, dass es nicht so war, dass die Verzweiflung in ihm nur allzu wirklich war. Mit einem Stoßgebet an den Imperator schritt er weiter aus und kam so dem Herzen jener Finsternis immer näher, die im Kern der Pyramide schwärte.
Weit voraus hörte er Singsang. Es war ein unreines Geräusch, so anders als die reinen Choräle, die in den Tempeln des Imperiums erklangen. Er hatte nichts mit den gutturalen Kriegsrufen der Orks zu tun, sondern war weitaus schlimmer. Er war wie das Tosen eines Meers aus Schleim. Er war wie das Rasseln und Blubbern Hunderter verstopfter Lungen. Er war das gequälte Murmeln von Männern, die in Fieberträumen um sich schlugen. Er war der Lärm einer Menge, die sich völlig der Anbetung Nurgles hingegeben hatte. Der Gestank war hier noch schlimmer. Die Wände waren mit Unrat verklebt. Große Klumpen grünlichen Schleims blieben bei jedem Schritt an seinen Stiefeln haften. Pfützen abgestandenen Urins glänzten im grünlichen Schein. Ein Gestank wie von eiternden Wunden drang ihm in die Nase. Seine Haut fühlte sich widerlich warm und feucht von seinem eigenen Fieberschweiß an. Er wusste nicht, ob er sich zum Weitergehen zwingen konnte, wusste aber auch, dass es keine Alternative gab. »Hört sich an, als würden sie eine Riesenfeier abhalten«, sagte Sven. »Ich frage mich, was sie wohl feiern?« Er hielt inne, als rechne er mit einer Erwiderung, und sah sich dann um. Niemand brauchte Ragnar zu sagen, dass er auf eine verächtliche Antwort von Nils wartete, eine Antwort, die nie kommen würde. Er sah den Schmerz in Svens Augen, als ihm die Erkenntnis dämmerte, und erkannte dann, dass er diesen Schmerz teilte. Im Kern seines Wesens flackerte ein winziger, aber heller Funke der Wut auf. Er verlieh ihm die Kraft, sich der Krankheit zu widersetzen. Er gab ihm die Kraft weiterzugehen. »Gehen wir zu ihnen und stören sie«, knurrte er. »Zeigen wir ihnen, dass sie noch nicht gewonnen haben.« »Einverstanden«, sagte Sven. Sergeant Hakon nickte. Ragnar spürte, dass Karah und Strybjörn seine neuerliche Entschlossenheit teilten. Er gestattete sich ein kurzes Lächeln, wobei er sich fragte, ob sie alle wahnsinnig waren. Nicht,
dass es eine Rolle spielte, dachte er. Verrückt oder nicht, dies war eine Schlacht, aus der keiner von ihnen zurückkehren würde. Die zentrale Kammer war voller ekelhafter Anbeter des Herrn der Krankheit. Sie waren in grüne Kapuzenumhänge mit gelben Gürtelschärpen gehüllt, und der grobe Stoff war mit seltsamen Flecken übersät. Ein widerlich süßer Geruch nach Fäulnis lag in der Luft. Ragnar sah, dass jeder der Anwesenden eine Waffe trug, und er wusste, dass es sich bei ihnen um die geheimen Anführer des Seuchenkults handelte, die gekommen waren, um ihrem Herrn und Meister ihre Aufwartung zu machen. Ein merkwürdiges Summen war zu vernehmen. Aufrecht vor einem Altar, der aussah, als bestehe er aus hart gewordenem Rotz, stand Gul. Sein Gesicht war fleckig, und er hatte die aufgeblähten Arme erhoben, da er das Anbetungsritual der ChaosAnbeter leitete. Auf dem Altar lag Botchulaz. Ein Netz aus magischer Energie floss aus seinem Leib und verschwand im Altar und in den Mauern der Pyramide. Ragnar bezweifelte nicht, dass diese Energie dazu diente, den Seuchenzauber über die Weltenstadt zu verbreiten. Der Seuchendämon streckte seine lange Zunge heraus. Sie kroch über sein Gesicht, fuhr in ein Nasenloch und wurde mit einem dicken Schleimklumpen wieder herausgezogen, den er zusammen mit der Zunge schlürfend in den Mund holte. Als spüre er ihre Anwesenheit, hob Botchulaz den Kopf und begegnete Ragnars Blick. »Ach, da seid ihr ja«, schniefte er. »Sehr schön. Ich hatte mich schon gefragt, wann ihr wieder zurückkehren würdet. Nett, dass ihr euch blicken lasst. Das spart uns die Mühe, euch zu suchen.« Sven trat einen Schritt vor. »Ich werde dieses Kettenschwert nehmen und es dir in deinen verfluchten …« »Ich glaube, wir haben eine Vorstellung von deinen Absichten«, unterbrach ihn Botchulaz mit einem sonoren Glucksen. »Traurig, so viel Feindseligkeit bei jemandem zu erleben, der schon bald ein treuer Diener sein wird. Aber wir beide werden noch eine ganze Ewigkeit für das eine oder andere freundliche kleine Zwiegespräch haben.« Die volle, liebliche Stimme des Dämons hatte einen Unterton, der
vermuten ließ, dass etwaige Gespräche zwischen ihm und Sven alles andere als freundlich verlaufen würden. Ragnar ging plötzlich auf, was das Summen zu bedeuten hatte. In der Kammer wimmelte es von fetten, blau schillernden Schmeißfliegen. Die Insekten krabbelten zu Dutzenden über die Chaos-Anbeter. Nur der Bereich rings um den Altar war frei von ihnen. Er erkannte, dass praktisch jede Fliege in der Stadt den Weg hierher gefunden haben musste. Er fragte sich kurz, warum. Vielleicht verbreiteten sie die Seuche. Vielleicht schlummerte irgendwo in ihrem winzigen Hirn ein Funke der Verehrung für den Herrn des Verfalls. Er wusste es nicht und erkannte, dass es ihn in diesem Augenblick auch nicht interessierte. Er wollte nur noch seine Feinde niedermetzeln und den Dämon zwischen die Finger bekommen, der ihn und seine Kameraden an der Nase herumgeführt hatte. Als nehme er weder ihre Feindseligkeit noch die Tatsache zur Kenntnis, dass seine Jünger sich erhoben und zu ihren Waffen griffen, plapperte Botchulaz spöttisch weiter. »Ich bin sicher, ihr werdet euren Irrtum bald einsehen und all diese Gemeinheiten bereuen. Es ist so viel leichter, wenn Leute einfach hergehen können und …« In der Enge der zentralen Kammer hallte der Boltpistolenschuss schockierend laut. Ein riesiges Loch erschien in der Brust des Seuchendämons, dem rasch weitere folgten, da Sergeant Hakon feuerte, was das Zeug hielt. Einen Moment wallte Hoffnung in Ragnar auf, als er die widerlichen Innereien des Dämons sah, aber dann schlossen sich die Wunden mit einem abscheulichen Sauggeräusch. Kopfschüttelnd äußerte Botchulaz seine Missbilligung: »Ts-ts-ts. Also wirklich, dafür gibt es keinen Grund.« Der Spott in seinen Worten war nicht zu überhören. Seine Jünger setzten sich in Bewegung, und in jeder Hand war eine Klinge, Pistole oder Laserwaffe zu sehen. Eine Flutwelle erkrankter Chaos-Anbeter strömte ihnen entgegen. Ragnar fletschte die Zähne. Dies war die Art Kampf, von der er etwas verstand. »Beschäftigen Sie sie nur«, hörte er Karah murmeln. »Lenken Sie
den Dämon ab, wenn Sie können. Ich werde einige Zeit brauchen, um den Pyramidenzauber zu erneuern. Seien Sie bereit zu verschwinden, wenn ich das Zeichen gebe.« Da er wusste, was sie vorhatte, wollte ein Teil von Ragnar ihr sagen, sie solle es nicht tun. Doch ein anderer Teil, jener Teil von ihm, der dem Imperator und der Menschheit treu ergeben war, wusste, dass es keine andere Wahl gab und dass sie weder auf ihn noch auf andere hören würde. Eine Trauer erfüllte ihn, die nichts mit derjenigen über den Verlust seiner Kameraden zu tun hatte. Es entsprach eher seinen Empfindungen an dem Tag, als er Ana auf den Schiffen der Grimmschädel hatte davonsegeln sehen, einem traurigen, wehmütigen Gefühl, dass er sie nie wiedersehen, niemals Gelegenheit haben würde, mit ihr zu reden oder sie zu berühren … Brutal unterdrückte er diese Gefühle, sie waren eines Wolfskriegers unwürdig. Sie waren beide Krieger des Imperators, und sie würden ihre Pflicht erfüllen, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Und überhaupt konnte er derartige Ablenkungen im Moment nicht gebrauchen, nicht jetzt, da ein brodelndes Meer erzürnter Seuchen-Jünger mit Mord im Herzen und Waffen in den Händen auf ihn losging. Außerdem sah er, dass ektoplasmische Energie aus Botchulaz strömte und sich die widerlichen Schleimgestalten aus dem Boden schälten, obwohl die schiere Masse der Chaos-Anbeter verhinderte, dass sie sich gänzlich lösen konnten. Es gab einfach nicht genug Platz für alle. Für den Augenblick war Ragnar darüber mehr als dankbar. »Vergessen Sie nicht, wenn ich das Zeichen gebe, machen Sie, dass Sie aus der Kammer verschwinden«, hörte er Karah sagen. Die tiefe Besorgnis in ihrer Stimme zerriss ihm das Herz. »Ich werde Sie nicht verlassen«, sagte er. »Sie müssen, Sie alle müssen das. Jemand muss der Inquisition Nachricht von den Geschehnissen hier bringen, damit so etwas nie wieder vorkommt. Je mehr von Ihnen es versuchen, desto größer ist die Chance, dass es einer von Ihnen schafft«, sagte sie grimmig.
Ihrem Tonfall konnte Ragnar entnehmen, dass sie nicht viel Hoffnung für sie hatte, aber sie war willens, ihnen eine Chance zu verschaffen. In diesem Augenblick wusste er nicht, woher er die Kraft nehmen sollte, sich von ihr zu trennen, oder überhaupt den Wunsch. Sie schien seine Gedanken zu spüren. »Es ist Ihre Pflicht, Ragnar«, sagte sie. »Damit haben Sie vollkommen Recht. Vergessen Sie das nicht.« Da er die Macht des Dämons spürte und die Massen seiner Anhänger sah, fragte er sich, ob das überhaupt noch eine Rolle spielte. Die Chance, dass ihr Plan gelang, war mehr als gering. Er beruhte auf so vielen ungewissen Faktoren. Konnte sie die Zauber der Eldar tatsächlich erneuern? Konnte das überhaupt irgendein Mensch? Er wusste es nicht. Es war ein Gebiet, auf dem er keine Ahnung besaß. Er wusste einfach, dass sie es versuchen musste und sie den Dämon und dessen Diener währenddessen abzulenken hatten. Dies war nur auf eine Weise möglich: indem sie auch gegen eine hoffnungslose Übermacht weiterkämpften und zu Russ und dem Imperator für ihren Erfolg beteten. Alles in allem war es jedoch kein schlechter Tod. Zumindest würde er einige dieser verlorenen Seelen vorausschicken, sodass sie ihn in der Hölle begrüßen konnten. Trotzdem, dachte er mit Galgenhumor, hatte er eigentlich für seinen letzten Kampf auf heroischere Gegner gehofft als diese von Krankheit geplagten, dreimal verfluchten Ketzer und ihren schwafelnden Herrn und Gebieter. Er verdrängte alle derartigen Gedanken und stürzte sich in das Getümmel wie ein Schwimmer in die Fluten. Die kapuzenverhüllten Chaos-Anbeter waren mit rostigen und schleimbesudelten Klingen bewaffnet. Ihre Pistolen und Gewehre waren schäbig und machten einen unbrauchbaren Eindruck. Sie bewegten sich träge wie Männer in den letzten Zügen einer tödlichen Krankheit. Er schlug mit seinem Kettenschwert zu und trennte einen Arm ab. Finger schlossen sich im Todeskampf um den Abzug einer Laserpistole, und ein flimmernder Lichtstrahl zuckte an die Decke. Ragnar heulte auf, und sein lang gezogener einsamer Ruf wurde von seinen Schlachtbrüdern beantwor-
tet, da sie gewillt waren, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Botchulaz’ höhnisches, perlendes Lachen hallte durch die Kammer. »Gul, heiße unsere neuen Kameraden gebührend willkommen. Bedauerlicherweise muss ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den großen Zauber der Unreinheit konzentrieren. Aber ich bin sicher, du kannst unseren Freunden den Empfang bereiten, den sie verdient haben …« Bei den Worten des Dämons intensivierte sich das Energienetz um den Altar, das Summen der Fliegen wurde lauter, und jedes Insekt war in einen Lichtschein gehüllt. Ihre Augen glitzerten wie kleine Edelsteine, als sie in einer geschlossenen Wolke durch die Luft wirbelten. Ragnar spürte ihr Kitzeln auf seinem Gesicht und schloss eiligst den Mund, um keines der summenden Wesen zu verschlucken. Er konnte nur ahnen, was das zur Folge haben würde, und wollte dieses Risiko nicht eingehen. Zwei weitere Chaos-Anbeter warfen sich auf ihn und schlugen mit ihren Klingen zu. In seinem durch die Krankheit geschwächten Zustand war Ragnar zu langsam, um ihnen gänzlich auszuweichen. Ein Schwert traf klirrend seine Rüstung, konnte sie aber nicht durchdringen. Das andere prallte auf sein Kettenschwert. Funken sprühten, wo die beiden Klingen sich trafen. Er hob seine Boltpistole und drückte ab. Der Kopf eines Chaos-Anbeters explodierte, als die Patrone seinen Nasenrücken traf und am Hinterkopf austrat. Ein Teil der Kapuze wurde weggerissen, und der Rest schwoll an wie ein Segel im Wind, als er sich mit Hirnmasse füllte. Ragnar spielte seine überlegene Kraft aus und drückte mit seinem Kettenschwert die Waffe seines Gegners herunter, der sich zwar verzweifelt wehrte, dem Wolfskrieger aber nicht gewachsen war. Mit einem abschließenden Ruck trieb Ragnar seinem Gegner die Klinge in die Brust. Ein lautes Kreischen ertönte, als die Sägezahnklingen auf einen verborgenen Brustharnisch trafen. Die Waffe bockte in seinem Griff wie ein lebendiges Wesen, aber unter Aufbietung all seiner Kräfte drückte er die Waffe tiefer, und die Rüstung teilte sich. Blut
spritzte dem Wolfskrieger ins Gesicht, als er seinen Gegner zerteilte. Umherfliegende Tröpfchen trafen die summenden Fliegen und färbten sie rot. Der Gestank war ekelhaft, und das Krabbeln der Fliegen auf seinem Gesicht war beinahe unerträglich. In der Luft lag ein elektrisches Summen magischer Kräfte, da der Dämon seinem Seuchenzauber immer mehr Energie zuführte. Wahnsinnige Visionen wirbelten durch Ragnars Verstand. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie sich die Kranken von ihrem Lager erhoben, den nächstbesten Gegenstand nahmen und auf ihre Pfleger losgingen. Er sah erkrankte Soldaten auf ihre Offiziere schießen und kranke Offiziere heimtückisch ihre Männer niedermetzeln. Er sah, wie die Seuche sich wie ein Lauffeuer über Städte und Landschaften ausbreitete, und wusste, dass sie nicht aufzuhalten war, dass jeder Widerstand zwecklos war, dass es besser sein würde, sich einfach hinzulegen und sich mit seinem Schicksal abzufinden. Tief in ihm heulte die Bestie. Sie fand sich nicht mit der Niederlage ab, wie Ragnars bewusster Verstand es tun wollte. Sie sah nur eine Herausforderung vor sich, die überwunden werden musste, um überleben zu können. Sie kümmerte sich weder um Aussichten und Chancen, böse Zauberei oder die Macht seines dämonischen Feindes. Sie wollte nur ihre Feinde zerfetzen und sich entweder aus dieser Falle kämpfen oder bei dem Versuch sterben. Ihre wilde Ursprünglichkeit verlieh Ragnar Kraft, und plötzlich fühlte er sich besser. Die durch die Krankheit hervorgerufene Schwäche wich von ihm, und er spürte, wie er mit jedem Augenblick stärker und schneller wurde. Er erinnerte sich an eine Zeit lange vor seiner Verwandlung in einen Space Marine, als er mit einer Kraft gegen die Horde der Grimmschädel gekämpft hatte, die ans Übernatürliche grenzte. Er war nicht so dumm, sich gegen diese ursprüngliche Wut zu wehren. Vielmehr ergab er sich ihr. Ihm kam es so vor, als würden seine Feinde langsamer. Sie bewegten sich wie Männer unter Wasser, als verdichte sich die Luft um
sie und halte sie auf. Ragnar wusste, dass dies nur eine Illusion war, hervorgerufen durch die Tatsache, dass er jetzt schneller handelte und dachte. Er hieb um sich wie ein Berserker und raste dabei vorwärts, da er sich ins Zentrum der feindlichen Streitmacht vorkämpfen und Botchulaz selbst angreifen wollte. Er verschwendete keinen Gedanken daran, was geschehen würde, wenn er dort ankam. Sein Verstand fasste lediglich den Entschluss, und sein Körper gehorchte. Wie aus weiter Ferne hörte er das Krachen der Boltpistolen seiner Kampfgefährten. Er roch erhitzten Knochen, wenn sein Kettenschwert Gliedmaßen zersägte. Der Gestank des Todes vermischte sich mit dem verdorbenen Krankheitsgeruch. Er hieb zu, hackte sich durch zwei Feinde gleichzeitig, warf sich unter einer Parade flach zu Boden, wälzte sich herum und jagte einem der Chaos-Anbeter eine Boltpatrone in den Unterleib, um ob des schrillen Schmerzgeheuls des Mannes befriedigt zu knurren. Er kam geschmeidig wieder hoch und spürte dabei mehr, als dass er es sah, wie etwas aus der Menge nach ihm griff. Einen Moment später ging ihm auf, dass es sich um eines der beschworenen Wesen handelte, um eines der Schleimwesen, die Nils getötet hatten. Er drehte sich zur Seite, aber es folgte seiner Bewegung in dem Versuch, ihn zu packen. Er sah das seltsam teigige Gesicht, die Augen, die wie zwei in den Schnee gebohrte Löcher aussahen, und einen obszön klaffenden Mund, dessen Ausdruck ihn an die dämonische Fratze seines Herrn und Meisters erinnerte. Ragnar schlug mit seiner Klinge zu und trennte zwei Chaos-Anbetern die Beine ab. Sie fielen zwischen ihm und dem Ungeheuer zu Boden, konnten es aber nicht aufhalten. Sein biegsamer Körper dehnte sich um sie herum, und die ausgestreckten Klauen griffen immer noch nach Ragnar. Da die Bestie in seinem Kopf heulte, empfand er keine Furcht, aber dem noch vernünftigen Teil seines Verstandes war unbehaglich zumute. Er wollte nicht so sterben wie Nils. Es war ein Schicksal ähnlich wie Ertrinken, vor dem sich alle fenrisischen Krieger fürchteten, nur schlimmer, denn von diesem magisch belebten
Ungeheuer erwischt zu werden, war gleichbedeutend damit, von etwas Dämonischem umschlossen und darin gefangen zu sein. Wer wusste schon, was danach kommen mochte? Er halfterte seine Boltpistole und drückte auf den Granatspender an seinem Gürtel. Eine kleine explosive Scheibe fiel in seine Hand. Als das Wesen näher kam, warf er die Scheibe. Der Zünder war auf eine Sekunde eingestellt. Sie explodierte genau auf der Höhe seines Verfolgers und sprengte ihn in Fetzen. Chaos-Anbeter heulten, als sie von umherfliegenden Splittern getroffen wurden. Ein Triumphgefühl blitzte in Ragnar auf, das ebenso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war. Die Einzelteile der Kreatur entwickelten ein Eigenleben und krochen aufeinander zu. In kurzer Zeit würde sie sich neu und genauso stark wie zuvor gebildet haben und ihn wieder verfolgen. Dennoch hatte er sich eine kurze Atempause verschafft. Er eilte weiter seinem Ziel entgegen und ließ sich dabei von nichts ablenken, weigerte sich einfach, darauf zu warten, dass sein Gegner wieder zusammenfloss. Ihm blieb nur eine kurze Zeitspanne, um diese NurgleJünger zu töten und vielleicht ihrem Herrn und Meister gegenüberzutreten. Er hatte keine Ahnung, was er dann tun würde, aber alles schien besser zu sein, als darauf zu warten, sich wie ein Lamm abschlachten zu lassen. Er eilte weiter dem monströsen Altar entgegen, auf dem der Seuchendämon lag wie eine riesige Schnecke. Wolken leuchtender Fliegen strichen über sein Gesicht. Plötzlich hörte er einen Singsang ganz in der Nähe, der ihm verriet, dass einer der Chaos-Anbeter einen bösen Zauber wob. In einer flüssigen Bewegung zog Ragnar seine Boltpistole, drehte sich um und gab einen präzisen Schuss ab. Ein grässlicher Schrei ertönte, als der getroffene Chaos-Jünger zu Boden fiel. Sein Körper sonderte Energieranken ab, die sich wie Maden durch seine Haut zu fressen schienen. Welche absonderlichen Kräfte er auch hatte beschwören wollen, jetzt gerieten sie außer Kontrolle und verzehrten sein Fleisch wie ein Feuer trockenen Zunder. Ein ste-
chender Geruch drang Ragnar in die Nase. Er metzelte einen weiteren Chaos-Anbeter nieder und stand unvermittelt Gul gegenüber. Dem Wolfskrieger wurde kalt ums Herz, als der untote Krieger mit einem irrsinnigen Funkeln in den Augen nach ihm griff. »Gut«, hauchte der Jünger der Finsternis. »Auf diesen Augenblick freue ich mich, seit du meine Agenten auf der Licht der Wahrheit getötet hast.« »Genieße deine letzten Atemzüge, Verräter«, fauchte Ragnar und hieb mit seinem Kettenschwert zu. Guls Parade kam mit trügerischer Langsamkeit. Irgendwie war die Klinge gerade rechtzeitig da, um Ragnars Klinge aufzuhalten. Der Wolfskrieger lehnte sich mit all seinem Gewicht nach vorn in der Hoffnung, Guls Deckung zu durchdringen, wie es ihm zuvor bei einem anderen Chaos-Anbeter gelungen war, aber Gul war viel stärker, als er erwartet hatte. Er spannte seine aufgeblähten Arme und schleuderte Ragnar in die Menge zurück. Der junge Space Marine landete zu Füßen von Sergeant Hakon. Der Veteran brüllte eine Herausforderung und stürzte sich auf Gul. Ihre Klingen zuckten hin und her, fast zu schnell für sterbliche Augen, um ihnen folgen zu können. Sterne tanzten vor Ragnars Augen, als er sich mühsam aufrappelte. Er spürte, wie Hände nach ihm griffen und ihn zurückzuhalten versuchten, während andere ihre Waffen bereit machten. Mit lautem Wutgebrüll schüttelte er sie ab und machte Anstalten, sich wieder ins Getümmel zu stürzen. Er würde Sergeant Hakon helfen, Gul zu vernichten, und dann … Nein, Ragnar, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die er sofort als Karahs erkannte. Lenk den Dämon ab. Sergeant Hakon kann auf sich selbst aufpassen. Ragnar spürte eine Veränderung in der Atmosphäre ringsumher. Energieströme flossen jetzt durch die Pyramide, und nicht alle wurden von Botchulaz und seinem widerwärtigen Seuchenzauber gelenkt. Allem Anschein nach hatte die Inquisitorin zumindest einen Teilerfolg errungen und es geschafft, mit Hilfe des Talismans die
Kräfte der Pyramide anzuzapfen. Offenbar war er nicht der Einzige, der das spürte. Botchulaz riss die Augen auf, als sei ihm diese neue Gefahr gerade erst bewusst geworden. Er betrachtete Ragnar, als könne er seine Gedanken lesen, und dann wandten sich die uralten, bösen Augen in die Richtung des Eingangs zur zentralen Kammer. Ein zögerliches Grinsen des Begreifens verzerrte sein unmenschliches Gesicht. Des Begreifens − und vielleicht auch der Furcht. Neue Hoffnung keimte in Ragnar auf. Er konnte jetzt noch ein anderes Licht im Boden der Kammer sehen, einen leuchtenden smaragdgrünen und rubinroten Schein, der mit dem widerwärtigen Leuchten des Dämons rang. Dieser Schein schien aus den Mauern der Pyramide zu dringen und sich genau in der Mitte der Kammer zu einem Mandala aus Licht zu verdichten, wo der dämonische Altar stand. Botchulaz stieß ein gedehntes Ächzen aus und murmelte: »Das ist aber nicht sehr freundlich.« Er hob eine aufgeblähte Pranke und machte Anstalten, Karah einen Energiestrahl entgegenzuschleudern. Seine Krallen umspielte eine Aura aus absolut bösem Licht. Wenn diese üble Energie ihr Ziel fand, würde der Zauber der Eldar niemals erneuert und der Dämon jede Freiheit haben, sein böses Werk zu vollenden. Ragnar war völlig klar, was er zu tun hatte. Als der Dämon die Hand ausstreckte, um den Energiestrahl zu schleudern, sprang er Botchulaz an. Seine massige, gerüstete Gestalt traf den schleimigen Arm des Dämons und schlug ihn zur Seite, sodass der Energieblitz sein Ziel lediglich streifte. Karahs Schreie waren dennoch schrecklich anzuhören, aber der Strom uralter Eldar-Energien geriet nicht ins Stocken. »Du hast ja keine Ahnung, wie dumm das war, mein kleiner Freund«, grollte Botchulaz, indem er sich vor Ragnar in die Höhe reckte. Plötzlich zeigte der Dämon seine wahre Fratze und seine überwältige Ausstrahlung der Verdorbenheit war in der Tat Furcht erregend. Sein Schatten fiel auf Ragnar wie ein Gespenst seines unmittelbar bevorstehenden Todes. In seinen Augen leuchtete eine furcht-
bare Kraft, und als Ragnar in ihre Tiefen schaute, spürte er, wie ihm die Seele aus dem Körper gesogen wurde. Für einen beängstigenden Moment erhaschte er einen Blick auf die Grube, aus der Botchulaz gekrochen war. Er sah, dass er nur ein Bruchteil einer weit größeren Verderbnis war, jener Ehrfurcht gebietenden Wesenheit, welche die Menschen als Nurgle kannten, dass der Dämon von seinem Erzeuger getrennt worden und ins Universum geschickt worden war, um Böses zu wirken, er aber immer noch mit seinem Schöpfer verbunden war wie auch alle anderen Abkömmlinge Nurgles. Wissen über ein Universum, in dem es von furchtbaren, finsteren Kräften wimmelte, drohte in Ragnars Verstand einzufallen und ihn geistig zu zerrütten. Er sah das langsame, subtile Wirken des Verfalls in allen Dingen, sogar in seinem eigenen Körper. Er sah, wie er unablässig an allem nagte, sogar an den Werken der anderen Chaos-Fürsten. Er sah, dass es in allen Dingen Krankheit gab, den einen unüberwindlichen Feind, der sogar die Leiber seiner Gegner in Waffen gegen sie verwandeln konnte. Er sah die Gewissheit des unausweichlichen Triumphs, die allen Bruchstücken des Herrn des Verfalls zu Eigen war, und den grässlichen Humor, der daraus erwuchs. Nurgle würde am Ende siegen, selbst wenn sie die heutige Schlacht gewannen. Sein Sieg war unausweichlich. Die kaum noch zu haltende Wolf-Bestie in Ragnar heulte trotzig. Er richtete Stoßgebete an den Imperator und an Russ zur Bewahrung seiner geistigen Gesundheit, während Botchulaz alle Vorbereitungen traf, seinen Geist zu zermalmen und seine Seele zu verschlingen. Ein Ozean von schmutzigem, verdorbenem Wissen rang darum, sich in seinen Verstand zu ergießen. Er hatte einen vagen Einblick in den Vorgang, wie Seuchen entstanden, und auf die Millionen verschiedener Keime, die sie verbreiteten. Sie existierten mikroskopisch klein und stumm auf jeder Welt, an jedem Ort und sogar in seinem veränderten Körper. Er sah, wie er selbst von einer Million verschiedener Krankheiten verzehrt wurde, spürte die Symptome unzähliger Seuchen und wand sich im Griff langsamer Tode. Das war eine Tortur
der höllischsten Sorte, ein Zauber, von einem Feind gewirkt, der ihn hasste und alles, wofür er stand. Er wusste jetzt, dass er nur noch Sekunden zu leben hatte und ihm etwas Schlimmeres bevorstand als lediglich die Auslöschung seines Lebens, dass Botchulaz einen Teil seiner unsterblichen Essenz aufsaugen und er diese Qualen und den Spott des Dämons bis in alle Ewigkeit erleiden würde. Und er sah auch, wie sehr der Dämon sich darauf freute. Verzweifelt versuchte er den Dämon abzuschütteln, aber er war nicht stark genug. Er war nur ein Sterblicher, der sich gegen ein Wesen stemmte, dessen Lebensspanne in Jahrtausenden gemessen wurde und dessen Macht nach den Maßstäben der Menschen unermesslich war. Er spürte, wie der Triumph, der Botchulaz bei dieser Aussicht erfüllte, für einen kurzen Moment alle anderen Begierden überlagerte − und dann spürte er, wie eine kalte, saubere Kraft, die zum Teil menschlich und zum Teil anders war, durch seinen Verstand fegte und ihn aus dem Griff des Dämons befreite. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, von anderen umringt zu sein. Er spürte die Anwesenheit von Karah und Abertausender anderer Seelen. Sie waren ebenso unsterblich wie der Dämon, Eldar-Krieger, die an die Pyramide gebunden waren, um die Flucht des Dämons zu verhindern. Sie traten vor, um gegen den Dämon zu kämpfen, und Ragnar spürte, wie Karah ihn kurz umarmte. Ihre leisen Abschiedsworte flatterten durch seine Gedanken. Plötzlich waren seine Augen offen und er selbst frei vom Einfluss des Dämons. Mit einem Blick nahm er die Geschehnisse ringsumher auf. Botchulaz wand sich auf dem Altar. Sein Fleisch teilte und schloss sich unablässig, als fügten ihm tausend unsichtbare Klingen beständig Schnitte zu. Er schien gegen ein geisterhaftes Heer zu kämpfen, und am Rande seiner Wahrnehmungsfähigkeit glaubte Ragnar viele unsichtbare Präsenzen zu sehen. Die Chaos-Anbeter kreischten voller Entsetzen, als die Geister der Eldar über sie kamen. Viele starben, ohne von stofflichen Händen berührt worden zu sein.
Der Verräter Gul sank vor Sergeant Hakon zu Boden, nachdem ihm ein mächtiger Schwerthieb den Kopf von den Schultern getrennt hatte. Er sah Sven und Strybjörn Rücken an Rücken gegen ChaosAnbeter kämpfen. Die Mauern der Kammer erstrahlten jetzt grün, rot und golden, und sogar die Luft schien in diesen Farben zu flimmern, als die Bindungszauber der Eldar erneuert wurden. Als er sich umdrehte, sah er Karah reglos auf dem Boden liegen, und ihrer Haltung konnte er entnehmen, dass sie bereits tot war, dass ihr letzter Versuch, die Kraft des Talismans zu entfesseln, die Verbindung zwischen Seele und Körper zerstört hatte. Hass und Wut explodierten förmlich in ihm, und er wollte sich auf seine Feinde stürzen und sie alle töten. Doch bevor er damit beginnen konnte, hielt ihn eine kraftvolle Hand an der Schulter fest, und als er knurrend herumfuhr, starrte er in die brennenden Augen Sergeant Hakons. »Es wird Zeit zu verschwinden, Ragnar«, sagte er. »Wir müssen unsere Pflicht tun, genau wie sie.« In den Händen hielt der Sergeant den Talisman von Lykos. Er sah jetzt matt und untätig aus, aller Energie beraubt, aber nichtsdestoweniger wusste Ragnar, dass es das Beste war, ihn von diesem Ort wegzubringen. Der Schlüssel zum Gefängnis des Dämons durfte nicht in dessen Reichweite bleiben. Ragnar nickte und beeilte sich, seinen Schlachtbrüdern zu folgen. Gemeinsam kämpften sich die Blutkrallen den Weg nach draußen und in die Nacht frei.
EPILOG
Ragnar starrte auf die Einöden von Hesperida und dachte an die Worte des Chaos-Zauberers, den er zuvor getötet hatte. Botchulaz entbietet seinen Gruß. War der Dämon entkommen? Ragnar bezweifelte es. Die uralten Zauber der Eldar hatten noch Bestand, davon war er überzeugt. Vielleicht waren seine Gedanken durch den Warpraum getröpfelt, und er hatte Verbindung zu seinen Jüngern aufgenommen, wie ihm dies auch bei Gul und dessen Vorfahren gelungen war. Oder vielleicht war alles nur ein Trick. Wer konnte das bei Chaos-Anbetern so genau sagen? Jedenfalls war die Seuche nach dem Versiegeln der Pyramide zum Erliegen gekommen. Die befallenen Opfer waren einfach umgefallen und gestorben. Man hatte sie in riesigen Seuchengruben beerdigt, die in aller Eile ausgehoben worden waren. Zumindest einige Dinge hatten ein glückliches Ende gefunden. Bruder Tethys war nach Galt zurückgekehrt. Viele Jahre später hatte Ragnar ihn unter weitaus erfreulicheren Umständen wiedergetroffen. Und die Licht der Wahrheit hatte die überlebenden Wolfskrieger und den Talisman von Lykos zurück nach Fenris gebracht. Soweit Ragnar wusste, war das Juwel immer noch dort in den Gewölben des Reißzahns, nur eine Trophäre unter Millionen. Er hörte die Stimmen der Blutkrallen unter sich und empfand jetzt weniger Neid. Die Erinnerung hatte ihn an diesem Abend eines gelehrt. Selbst in ihrem Alter war das Leben nicht so simpel gewesen, wie er es hatte glauben wollen. Er hatte jetzt mehr Mitgefühl für sie, als er sich an seine eigenen Verluste erinnerte: an Nils und Lars und Sternberg − und am meisten von allen an Karah, die ihr Leben geopfert hatte, um den Dämon weiterhin in Gefangenschaft zu halten und deren Seele so sicher an die Pyramide gebunden war wie jene der
Eldar-Geister und wie Botchulaz selbst. Er schob die Erinnerungen beiseite. Morgen war ein neuer Tag mit neuen Schlachten, die ausgetragen werden mussten, und neuen Feinden, die es zu besiegen galt. Besser, er bereitete sich darauf vor. ENDE