Die Mission von Jo Zybell
Internationale Raumstation (ISS), 7. Dezember 2011 Auf dem Monitor räumte der diensthabende ...
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Die Mission von Jo Zybell
Internationale Raumstation (ISS), 7. Dezember 2011 Auf dem Monitor räumte der diensthabende Ingenieur seinen Sessel. Der Mann verschwand hinter dem rechten Bildrand. Dafür erschien das Gesicht Henry Ikemans, Chef des Kontrollzentrums der NASA. » Ich Ich habe Sie nicht verstanden, Commander Bernstein«, sagte er. »Wiederholen Sie - kommen.« Schmal waren die Augen des Astrophysikers. Hundert Falten furchten seine Stirn, und eine einzelne stand zwischen den grauen Brauen; eine tiefe, steile. Sean Bernstein senkte den Kopf und blickte auf den Papierbogen zwischen seinen Händen, die schwerelos über den Schenkeln hingen. Er selbst schwebte über einem im Boden verankerten Sitzgestell, auf dem er sich festgegurtet hatte. »Kontrollzentrum an ISS, bitte wiederholen Sie! Kommen!« Professor Ikemans sonst so gönnerhafte Stimme klang förmlich, ja harsch.
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WAS BISHER GESCHAH Am 8 Februar 2012 tnfft der Komet »Chnstopher-Floyd« die Erde Die Folgen sind verheerend Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten für Jahrhunderte Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt Mutationen bevölkern die Lander und die Menschheit ist auf rätselhafte Weise degeneriert In dieses Szenano verschlagt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Dreier-Staffel durch einen RISS im Raum/Zeit-Kontmuum m eine ferne Zukunft der Erde geschleudert wurde ins Jahr 2516 Beim Absturz über den Alpen wird Matt Drax von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren Zusammen mit der telephatisch begabten Kriegerin Aruula zieht er quer durch Euree (Europa), um nach seiner Mannschaft zu suchen Er muss den Tod zweier Kameraden miterleben, bevor er auf seinen wahnsinnig gewordenen Copiloten Professor Dr Smythe trifft, der sich mit Hilfe einer blutsaufende Mutantenrasse zum Herrscher der Welt aufschwingen will Matt besiegt Smythe, doch der lasst nicht locker und verfolgt ihn mit seinem Hass In Berlin findet Matthew die Pilotin Jennifer Jen-sen und wird von den dortigen Amazonen zum Beischlaf mit ihr gezwungen, bevor er Frieden zwischen Frauen und Mannern stiften kann Jennys Copilot, der Astrophysiker David McKenzie scheint von Barbaren getötet worden zu sein - ein Irrtum, denn Dave lebt und macht sich spater auf die Suche nach Matt Dieser zieht mit Aruula weiter In England stoßen sie auf die »Technos«, die über 500 Jahre m Bunkern überlebt haben und nicht wie der Rest der Menschheit degeneriert sind Diese Ruckentwicklung scheint von grün leuchtenden Kristallen auszugehen, die beim Eintritt »Christo-pher-Floyds« über die ganze Erde verteilt wurden Matt hilft der bntamschen Regierung beim Kampf gegen die brutale Rasse der Nordmanner, die das Ziel haben, Zivilisationen zu zerstören, und macht sich im Auftrag Königin Victorias nach Meeraka (USA) auf, um Kontakt zu den dortigen
Bunkermenschen aufzunehmen Für die Technos selbst ist jeder Aufenthalt im Freien ein Risiko, besitzen sie doch wegen der Isolation kein Immunsystem mehr Doch zunächst werden die beiden getrennt und als Sklaven verkauft Aruula kann fliehen und tnff auf Rulfan, Sohn einer Barbann und eines Technos Matt tritt in Diensten Kapitän Colombs eine gefahrvolle Überfahrt nach Meeraka an, bei der er Kontakt zu einer uralten Meeresrasse bekommt, den menschenscheuen Hydnten Wieder frei, tnfft Matt in Washington D C auf den Weltrat unter Präsident Victor Hymes Die World Council Agency (WCA) kämpft mit zweifelhaften Mittel gegen Partisanen, die Runmng Men Indem Mihtarchef Crow Matthew benutzt, bekommt er deren Fuhrer Mr Black in die Hände, einen Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger Aus den Genen des Klons konnten die Technos der WCA ein Serum gegen die Immunschwache entwickeln Plötzlich taucht David McKenzie aus Matts alter Staffel im Pentagon auf Es handelt sich jedoch um einen Runmng Man namens Philipp Hollyday Die Rebellen hatten den echten Dave abgepasst und dessen Gedächtnis mit Hilfe eines gefangenen Hydnten auf den chirurgisch veränderten Hollyday übertragen Noch durchschaut Matt den Schwindel nicht »Dave II« und Matt erhalten den Auftrag, m Cape Canaveral zu erkunden, ob die Internationale Raumstation noch im Orbit ist Nachdem Matt eine dort ansässige Sekte überzeugt hat, dass sie die »Gesandten des Gottes Elsas« (ISS) sind, finden sie sogar einen Shuttle-Prototypen1 Auf dem Ruckweg nach Washington enttarnt Matt den Doppelganger Trotzdem hilft er den Runmng Men, Mr Black zu befreien - nicht zuletzt, weil Aruula ebenfalls in Washington eingetroffen ist und ms Pentagon verbracht wurde Dort erlauscht sie die Anwesenheit eines Nordmanns1 Das bestärkt Matt m dem Entschluss, den Dienst zu quittieren Er bncht mit Aruula gen Westen auf Nach einigen dramatischen Abenteuern treffen Matt und Aruula m Amanllo auf »Unsterbliche«, Menschen, die ihre organischen Teile nach und nach durch biomsche ersetzen, zuletzt auch das Gehirn Von
einem Computervirus des Weltrats befallen, wollen sie die vermeintlich schwachen Menschen ausloschen Gemeinsam mit den abtrünnigen Cyborgs Naoki und deren Sohn Aiko, die noch über organische Hirne verfugen, gelingt unseren Helden ein erster Sieg über die Androiden Aiko zieht nach Westen, Matt und Aruula setzen sich mit einem Schwebegleiter der Unsterblichen ab während Hollyday, der zur Spionage im Pentagon geblieben ist, mit einem WCA-Trupp nach Flonda gesandt wird, um den Bau des Shuttle-Prototyps zu vollenden Ein dortiger Anschlag der Runnmg Men geht schief Dabei wird General Crows Tochter Lynne lebensgefährlich verletzt - kurz nachdem sie herausbekommen hat, wer der angebliche Dave McKenzie tatsächlich ist' Matt und Aruula gelangen nach Riverside, Matts alter Heimat Hier ist bis auf ein paar Erinnerungen alles zerstört Dafür stoßen sie auf einen grünen Kristall, der von einer Horde Echsenmenschen gehütet wird und deren Brut beemflusst - und auf asiatische Kampfer, die den Kristall stehlen Asiaten gibt es auch m Los Angeles Japanische Einwanderer geben vor, das Kino neu aufleben zu lassen, doch m Wahrheit beeinflussen sie die Zuschauer und machen sie für ihre Plane gefugig Mit der Hilfe Aikos, den sie hier auf der Suche nach dessen Vater Miki Takeo wiedertreffen - ein Android, der vor langer Zeit die Amarillo-Kolonie verließ -, gelingt es Matt und Aruula, die Verschworung zu brechen Takeo ladt sie in sein »Paradies« ein, ein medizinisches Erholung szentrum, wo er im Geheimen »neue Menschen« baut und mit den aufgezeichneten Erinnerungen seiner Gaste ausstattet Der Android hat gerade Geschaftsbeziehungen zu einem General namens Crow aufgenommen, dessen schwer verletzte Tochter er heilt und mit einem biomschen Arm ausstattet Auf Crows Bitte liefert er Matt und Aruula aus und stellt dem General einen Gleiter zur Verfugung, mit dem dieser nach Washington zurück fliegen kann ...
Bernstein blickte zur Seite, zu seinen Kameraden vor dem Modulschott. Winter hielt sich an den Wandgriffen fest, um nicht in den Bereich der Kamera zu geraten. Taurentbeque hing mit gespreizten Beinen im runden Eingangsrahmen des Schotts. Sein linker Arm umklammerte Marsha, und seine Rechte drückte ihr ein Kombimesser gegen die Kehle. Bernstein wandte sich wieder dem Monitor zu. »Commander Bernstein an Kontrollzentrum, ich wiederhole: Brechen Sie den Countdown für Atlantis II ab, wir wollen nicht abgelöst werden.« Ikemans Augen wurden noch schmaler. Er neigte den Kopf und drehte ihn gleichzeitig ein wenig zur Seite. Als würde er seinen Augen nicht ganz trauen; oder seinen Ohren. Sein Gesicht näherte sich dem Objektiv der Kamera, bis es den Monitor fast ganz ausfüllte. »Geht's dir gut, Sean?« Der Professor sprach jetzt sehr leise und mit belegter Stimme. Bernstein wich seinem Blick aus. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Taurent-beque Marshas Kopf gegen seine Schulter zog. Die schwarze Haut ihrer Kehle wölbte sich entlang der Klinge. Mund und Augen weit aufgerissen, starrte sie ihn an. Die Worte auf dem Papier in seiner Hand verschwammen; er atmete tief durch und las zum dritten Mal vor: »Commander Bernstein und Team an Houston: Wir lehnen eine Ablösung vor dem 8. Februar 2012 ab. Unterbrechen Sie den Countdown von Atlantis II. Ende.« Winter zischte irgendetwas. Mit herrischer Geste bedeutete er ihm, die Verbindung zu unterbrechen. Bernstein gehorchte. Kaum hatte sich das Bild aufgelöst, schrie er los: »Ihr seid ja komplett übergeschnappt!« Er verbarg das Gesicht in seinen Händen. Der Schock saß ihm in allen Knochen. »Das ist Fahnenflucht! Dafür werdet ihr euch vor Gericht verantworten müssen!« Er wusste kaum, was er redete. Der Deutsche stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich fürchte, es wird keine Gerichte mehr geben, wenn wir im Februar dort unten landen.« Mit einer Kopfbewegung wies er zum Fenster über der Instrumentenwand. »Falls wir überhaupt je wieder dort unten landen können.«
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Von der Mitte des oberen Fensterrandes bis zur rechten unteren Ecke zog sich der leicht gekrümmte Horizont der Erde. Sternengefunkel im schwarzen All und die strahlende Mondsichel füllten den größeren Teil des Fensters aus. Die Erdscheibe selbst war dunkel. Seit einer halben Stunde etwa flog die ISS über die Nachtseite des Heimatplaneten. »Fahnenflucht?« Louis Taurentbeque lachte bitter. »Wir sind keine Soldaten wie ihr beide, Sean - wir sind Wissenschaftler.« Er nahm das Messer von Marshas Kehle. »Keine Militärhierarchie der Welt kann uns zwingen, einen Befehl auszuführen, der uns das Leben kostet.« »Idiot! Was redest du für einen Bull-shit!« Marsha Hunt keuchte und rieb sich den Hals. »Du hast den Vertrag unterschrieben! Außerdem ist das Transhab-Modul amerikanisches Territorium. Und nach amerikanischem Recht habt ihr eine Meuterei angezettelt...« »Hör doch auf!« Taurentbeque gab ihr einen Stoß. Über Bernsteins Kopf hinweg trudelte Marsha gegen die Schlafnischen auf der gegenüberliegenden Modulwand. »Unser Leben ist wichtiger als irgendein Gesetz irgendeines Staates!« Der Franzose wurde weder laut, noch klang seine Stimme besonders feindselig. »Wenn das in eure sturen Soldatenhirne nicht reingeht - euer Problem! Wir haben lange genug versucht, vernünftig mit euch zu reden.« Bernstein nahm die Hände vom Gesicht. »Niemals hätte ich euch zugetraut, dass ihr so weit geht, niemals...« »Betrachte es als Ausnahmezustand«, sagte Winter. »Ein Staat nach dem anderen ruft da unten den Ausnahmezustand aus. Sogar in Europa geht es jetzt schon los.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben auch den Ausnahmezustand ausgerufen, weiter nichts.« »Ausnahmezustand«, brummte Taurentbeque. »Gute Idee.« »Kommt zur Vernunft, Lou.« Der Commander schnallte sich los. »Es reicht, wenn dort unten alles drunter und drüber geht.« Er zeigte auf die Erde. Inzwischen füllte sie mehr als die Hälfte des Fensters aus. »Wir müssen am Zweiundzwanzigsten zurückkehren...«
Er stieß sich ab und landete so nahe vor den beiden Wissenschaftsastronauten, dass er Winters Parfümgeruch -Sandelholz - riechen und die feinen Schweißperlen auf Taurentbeques 'Stirn erkennen konnte. »Und wollt ihr in so einer Situation wirklich eure Familien allein lassen?« Er schüttelte den Kopf. »Es könnte das letzte Weihnachtsfest sein, bedenkt doch! Ich jedenfalls werde bei meinen Kindern sein! Zu Weihnachten, und wenn es so weit ist, sowieso!« Bernstein hatte drei Kinder zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Seit sechs Jahren war er Witwer. »Wir müssen zurückkehren, kommt zur Vernunft!« »Wer freiwillig auf ein sinkendes Schiff zurück geht, den nenne ich nicht vernünftig.« Hagen Winter drängte sich an Bernstein vorbei. »Den nenne ich verrückt.« Ein Schritt, und er landete neben Marsha vor den Schlaf mulden. »Sei kein Narr, Scan.« Auge in Auge schwebten sich Bernstein und Taurent-beque gegenüber. »Mach mit. Wenn nicht, werde ich dich zwingen. Glaub mir: Ich werde dich zwingen.« Commander Bernstein musterte den französischen Biologen. Dessen graublaue Augen unter den buschigen blonden Brauen hielten seinem Blick stand. Gelassen, fast ein wenig belustigt wirkten sie. Taurentbeque war breiter als er selbst und fast einen halben Kopf größer. Ein netter Kerl eigentlich; mit sonnigem Gemüt in der Hegel und manchmal etwas abgründigem Humor. Niemals hätte Bernstein eine Neigung zur Gewalttätigkeit hinter der sympathischen Fassade vermutet. Aber der Komet schien selbst angenehme und ausgeglichene Charaktere zu deformieren. Natürlich wussten sie alle Bescheid. Auch die vier anderen im Zwezda-Modul. Hier oben konnte man jeden Sender empfangen. Und war zudem unabhängig von Sprachregelungen und Informationspolitik - die ISS verfügte über leistungsstarke Rechner und über eine Verbindung zum Weltraumteleskop Hubble H. * Hagen Winter war Astrophysiker. Einer der
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besten Europas, sonst hätte er das strenge Auswahlverfahren der NASA nicht durchgestanden. Seine Messergebnisse - von der russischen Crew zweimal überprüft - ließen keinen Zweifel: Am 8. Februar 2012 würde der Komet »Christopher-Floyd« die Erde rammen. Dort unten, auf der Oberfläche jener dunklen Scheibe mochte man sich noch mit Rechenspielchen und Glauben an Wunder trösten: eine Wahrscheinlichkeit von knapp zwanzig Prozent, dass er vorbei fliegt; vielleicht ändert er ja doch noch seinen Kurs; vielleicht hat man bei den Berechnungen irgendetwas übersehen, und so weiter. Hier oben glaubte niemand an derartige Trostpflästerchen. »Gib dir keine Mühe, Sean. Lou meint, was er sagt. Er hat keine Familie dort unten.« Bernstein drehte sich um. Marsha Hunt - eine zartgliedrige Afroamerikanerin, Kommunikations-Technikerin und Pilotin der US Air Force im Range eines Captains - funkelte den Deutschen an. »Und wenn ich mir Hagen so anschaue, glaube ich kaum, dass es auf der Erde jemanden gibt, der ihn sich zurück wünscht...« Eine blitzschnelle Bewegung - und der Deutsche umklammerte ihren Körper mit beiden Beinen. Bernstein stieß sich ab, um ihr zur Hilfe zu kommen. Doch Taurentbeque hielt ihn am Shirt fest, und einen Moment später spürte er die Klinge an seinem Hals. »Bleib cool, Sean! Bleib ganz cool...« Anders als Winter hatte Marsha eine Nahkampfausbildung genossen. Dennoch konnte sie dem bulligen Deutschen mit den auffallend kräftigen Händen und dem langen schwarzen Haar nicht allzu viel entgegensetzen. Er drückte sie in die mittlere Schlaf mulde und gurtete sie dort fest. »Keine Sorge, Sean«, keuchte er. »Wir tun ihr nichts - so lange du spurst.« »Ihr... ihr Mistkerle!« Jeder an Bord kannte Sean Bernsteins schwache Stelle: Marsha. Wochenlang auf engstem Raum zusammenleben und arbeiten - da konnte man einander nichts vormachen. Voll ohnmachtiger Wut musste der Kommandant mit ansehen, wie Winter auf der bewegungsunfähigen Frau kniete und seine rechte Schulter dabei gegen die obere
Kante der Schlafmulde presste. Er fesselte Marsha Hunt mit einer Nylonschnur. Danach löste er die Schlafgurte, zog Marsha aus der Mulde und dann an Bernstein vorbei ins Schott. Der Commander wollte nach dem Ärmel von Marshas orangener Bluse greifen, doch Taurentbeque schob sich vor ihn. Bernstein verfluchte den Umstand, dass die einzige Handfeuerwaffe an Bord in Kibo versteckt war, dem japanischen Labormodul. Nur er kannte das Geheimfach im mittleren Laborschrank, er und Ragojew, der Kommandant des russischjapanischen Teams. Seine Gedanken kreisten um das zweite Team, um die Waffe und um die Rettungsfähre, während sich das Schott hinter Winter und der geliebten Frau schloss. »Wohin bringt er sie?« »Mach dir keine Gedanken, Sean. Ihr wird nichts geschehen.« Der Franzose sprach, als müsste er einen in Panik Geratenen beruhigen: begütigend und leise.« Hagen hält sie fest, bis wir wissen, wie Houston reagiert. Wir wollen verhindern, dass du dich heimlich mit Ikeman in Verbindung setzt. Wenn du...« Ein akustisches Signal unterbrach Taurentbeque. Er steckte das Messer ein und schob Bernstein zur Gerätekonsole. Jemand meldete sich jemand über Bordfunk. Der Commander berührte eine Taste. Er wunderte sich, dass der Franzose ihn gewähren ließ. Ein kleiner Monitor flammte auf; Sergej Jarnyszins stoppelbärtiges Gesicht erschien. »Guten Morgen, Sean.« Jarnyszin trug eine große Hornbrille mit schwarzem Rahmen. Sein kahler Schädel glänzte. Anders als sein Gesicht rasierte er ihn jeden Morgen. »Wir sind so weit. In einer halben Stunde im Columbus-Modul; sagst du Lou Bescheid?« Das Columbus-Modul war das europäische Labor und Dr. Sergej Jarnyszin -Biochemiker und Spezialist für Mikrobiologie - der ChefWissenschaftler der russischen Crew. Er runzelte die Stirn. »Du guckst, als hättest du zum Frühstück versehentlich das Besteck mitgegessen.« Scan Bernsteins Blick flog zwischen Taurentbeque und dem Monitor hin und her. Der Franzose stand nur da und belauerte ihn. Er
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machte keine Anstalten, die Kommunikation mit dem russischen Modul abzubrechen oder zu beeinflussen. Und der Russe... Ein böser Verdacht beschlich den Commander. »Meuterei, Serge. Lou und Hagen wollen nicht zurückfliegen...« Er berichtete, was vorgefallen war. Der Russe hörte zu und verzog keine Miene. »Sie wollen Houston zwingen, den Countdown für Atlantis II abzubrechen.« »Das gehört nicht zu meinem Verantwortungsbereich«, sagte Jarnyszin schließlich. »Warte einen Augenblick. Ich wecke Anatol. Er hat sich eben in die Schlaf mulde verzogen.« Jarnyszin schob sich aus dem Kamerabereich. Ein paar Minuten verstrichen. Sean Bernstein starrte auf den Bildschirm: ein leerer Sitz, dahinter ein stationäres Fahrrad mit einem gewaltigen Armaturenkasten auf dem Lenker, wie sie es auch hier im amerikanischen Wohnmodul zum Muskeltraining benutzten; und vor dem Muskeltrainer der mehr als mannshohe Kunststoffquader, der die Elektrolyse-Apparatur für die Wasserspaltung enthielt. Und die ganze Zeit Taurentbeques lauernder Blick von der Seite. Endlich tauchte ein Mittdreißiger mit blondem Bürstenhaarschnitt und quadratischem Schädel im Bildschirmbe-reich auf Oberstleutnant Anatol Rago-jew, der militärische Leiter des russischjapanischen Teams. Zusammen mit dem Japaner Taro Yakumori und dem Deutschen Hagen Winter hatte er seine Dienstschicht vor einer Stunde beendet. An Bord der ISS war Ragojew Commander Bernsteins Stellvertreter. Der russische Offizier griff nach den Armlehnen und zog sich auf den leeren Sessel hinunter. Sein Gesicht war müde und vollkommen ausdruckslos. »Was Soll das, Anatol?«, blaffte Bernstein den Russen an. »Ich weiß Bescheid«, sagte der. »Houston hat sieb über unsere Bodenstation mit uns in Verbindung gesetzt. Ich hab Anweisung, mich nicht einzumischen.« »Was hast du?!« So ruckartig bewegte sich Bernstein, dass er fast bis zu den
Beleuchtungsleisten hinauf' schwebte. Er erwischte einen der vielen Wandbügel und hielt sich fest. »Ihr steckt alle unter einer Decke, ihr Mistkerle!« Ragojews Miene blieb ausdruckslos. »Unsere Ablösung steht erst im April nächsten Jahres an. Ich habe Order, die Sache als ein amerikanisches Problem zu betrachten. In einer halben Stunde sind Serge und Oshi im Columbus-Modul. Die Pilzkulturen warten.« Der Bildschirm wurde schwarz. Bernstein schnaubte. Mit der flachen Hand schlug er auf die Fläche neben der Tastatur. »Ihr habt euch abgesprochen«, zischte er. »Im Zwezda-Modul wussten sie schon Bescheid, bevor Houston sie informiert hat.« Wut trieb ihm das Blut ins Gesicht. »Eine gottverdammte Meuterei ist das!« Auf der Fensterfläche füllte die Erde inzwischen den gesamten Bildschirm aus. Von rechts schob sich eine schmale Lichtsichel in die dunkle- Scheibe. Die Sonne ging auf. Nichts Besonderes hier oben, alle anderthalb Stunden tat sie das. Taurentbeque lächelte. Fast sah es aus, als hätte er Mitleid mit seinem Kommandanten. »Glaubst du im Ernst, wir würden so ein Unternehmen starten, ohne uns Rückdeckung zu verschaffen, Sean?« * Cape Canaveral, ehem. US-Bundesstaat Florida, Dezember 2517 Kopfschmerzen. Morgens, mittags, abends Kopfschmerzen. In letzter Zeit weckten ihn die Schmerzen sogar mitten in der Nacht. Sie vergällten ihm das Leben. Das Essen, das Dach über dem Kopf, das leidlich warme Bett, den Anblick dieser leckeren Offizierin - alles vergällten ihm diese verdammten Schmerzen. Nur das schöne schwarzweiße Gerät nicht, an dem er seit Wochen herumbastelte; den herrlichen Metallvogel, den er zum Fliegen bringen würde. Wie ein Schmerzmittel wirkte der Vogel auf ihn. Philipp Hollyday strich sich das lange Haar aus der Stirn und betrachtete das vordere
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Fahrgestell. Äußerlich wies das Material keinerlei Defekt auf. Seine Hände glitten über den Teleskop-Stoßdämpfer und über den Reifen. Nichts zu finden, was ihn beunruhigen müsste. Merkwürdig - immer wenn er an dem Fluggerät arbeitete, waren die Kopfschmerzen wie weggeblasen. Immer wenn Phil Hollyday sich selbst vergaß und dem zweiten Ich in seinem Hirn das Kommando überließ. Diesem verdammten implantierten Gedächtnis. Er nannte dieses zweite Ich »Mac«. Das Geräusch seiner Schritte verlor sich in der Halle. Eine Halle so groß, dass er die Gesichter der Posten an den Innenschotten nicht erkennen konnte. Und von der lautstarken Auseinandersetzung zwischen Melanie und den beiden Posten am Außenschott, oben auf der Rampe, verstand er kein Wort. Melanie... So sprach er sie nur in Gedanken an. Wenn er mit ihr redete - das ließ sich glücklicherweise nicht vermeiden -, nannte er sie selbstverständlich »Cap-tain Chambers«. Und sie nannte ihn »Professor McKenzie«. Nur einmal hatte sie »Dave« zu ihm gesagt. Nachdem er ihr die Geheimnisse der Kommandokapsel erklärt hatte. Die Geheimnisse, die er selbst nicht begriff. Aber Mac begriff sie. Jedenfalls war es das erste Mal, dass sie allein miteinander gewesen waren, Melanie und er. Danke, Dave, hatte sie gesagt, als sie nebeneinander das prächtige Fluggerät verlassen hatten und die Gangway in die Halle hinunter gestiegen waren. Danke, Dave... Direkt glücklich war er darüber nicht gewesen. Nein - glücklich würde er sein, wenn sie ihn eines Tages »Phil« nannte. Aber der Tag würde nicht kommen. Wenn sie oder irgend] emand hier in den Überresten von Cape Canaveral erfuhr, dass er nicht der war, für den er sich ausgab, sondern ein Rebell, würde er den Anblick dieser reizenden Weltrat-Agentin mit dem rotbraunen Haar nicht einmal mehr von weitem genießen können. Phil Hollyday schritt langsam um sein vollendetes Werk herum. Oder nein, eigentlich nicht um sein Werk - um das Werk des Anderen, dessen Stimme ihm ständig zwischen
seine eigenen Gedanken funkte. Worte, die er nicht dachte; Worte, die ihm niemals über die Lippen gekommen wären; Worte manchmal, deren Sinn er nicht verstand. Es gab Zeiten, da blubberten sie ihm praktisch ununterbrochen aus sämtlichen Hirnwindungen. Und wenn er sich dagegen zur Wehr setzte, wenn er Platz schaffen wpllte für seine eigenen Gedanken und Worte: Kopfschmerzen. Es war zum Heulen. Jetzt zum Beispiel: Er lief um das Fluggerät herum - die Stimme nannte es »Raumfähre« und »Prototyp« - und Mac, diese Nervensäge, raunte: Sie bringt dich um den Verstand, hab ich Recht? »Leck mich«, zischte Hollyday. Und prompt: Kopfschmerzen. Sei froh, dass du mich hast. Wenn dein Verstand flöten geht, hast du immer noch meinen. Mir gefällt sie nämlich nicht... Hollyday ballte die Fäuste und stampfte auf den Hallenboden auf. »Leck mich am Arsch, Mac!« Rasende Kopfschmerzen. »Is was, Doc?« Hollyday blickte nach oben. Diese Stimme stammte nicht aus seinem Schädel, sie kam von der Plattform auf der Gangway über ihm. Dort, vor der Luke zum Cockpit der Raumfähre hockte ein Sergeant hinter einem schweren Maschinengewehr. Ein unflätiger schwarzer Bursche, der ständig auf einer Zigarre herumkaute oder sich während eines Gesprächs ungeniert im Schritt kratzte. Sogar wenn Melanie dabei war. »Waranty« hieß er, oder »Laramy«? Für den Burschen da oben immer noch »Professor McKenzie«, sagte die Stimme in seinem Hirn. »Für Sie immer noch Professor McKenzie!«, blaffte Hollyday zur Gangway hinauf. Die Kopfschmerzen ließen augenblicklich nach. »Sorry.« Der MG-Schütze über ihm nahm die Zigarre aus dem Mund grinste verlegen. »Stimmt irgendwas nicht, Professor?« Hollyday verkniff sich einen Fluch. Manchmal bereute er bitter, sich auf diesen Job eingelassen zu haben. Sicher: Die machtgeilen Vertreter des Weltrats hatten seine Familie auf dem Gewissen. Sicher: Der Kampf gegen den Weltrat war ihm zum Lebensinhalt geworden,
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und er würde keinen Augenblick zögern, sich selbst zu opfern, wenn er diese Krake tödlich treffen konnte. Aber sich dafür gleich eine fremde Persönlichkeit ins Hirn setzen lassen? Hollyday seufzte, zog sich die Brille von der Nase - Fensterglas, denn er war nicht kurzsichtig wie der echte McKenzie - und putzte sie mit dem Saum des Leinenhemds, der ihm aus der Hose hing. Niemals werden die Running Men dir das vergessen, hatte Mr. Black zu ihm gesagt. Wenn wir den Weltrat erledigt haben - und wir werden ihn erledigen -dann wird dein Name in den Geschichtsbüchern stehen. Genau das hatte der Rebellenchef gesagt. Hollyday trat gegen den rechten Reifen des hinteren Fahrwerks. »Leck mich, ich hätts nicht tun sollen.« Er setzte die Brille auf und blickte zurück und zur Gangway hinauf. Der schwarze Rüpel hinter dem Maschinengewehr hatte nichts gehört. Jedenfalls tat er so. Die Kopfschmerzen wurden wieder heftiger. Niemand hat dich gezwungen, sagte die Stimme in seinem Kopf. Wahrscheinlich warst du einfach zu blöd, um die Folgen auch nur annähernd einschätzen zu können. Kein vernünftiger Mensch lässt sich freiwillig das Bewusstsein eines Anderen einpflanzen! »Gib endlich Ruhe, Mac.« Vielleicht hatte die Stimme Recht, vielleicht auch nicht... Natürlich hab ich Recht... ... schon wieder diese verdammten Kopf schmerzen! Hollyday ging zum zweiten Rad des hinteren Fahrwerks. Er dachte an die Stunde, in der das Wasservieh zwischen ihm und Mac gesessen hatte, der sogenannte Hydrit. Unter Dr. Ryans Leitung hatte das Monster Macs Bewusstsein in sein Gehirn übertragen Hollyday wusste nicht wie. Jedenfalls lief er jetzt mit zwei Bewusstseinsinhal-ten herum. Mit seinem eigenen und mit der Erinnerung, der Biografie, dem Wissen und dem Gefühlsleben eines Mannes, der verflucht klug war, der alles Unmögliche wusste und der zu allem Überfluss auch noch aus einer anderen Zeit stammte. Absurd, völlig absurd! Konnte es sein, dass er das alles einfach nur träumte? Nun gut, Schwamm drüber. Er hatte sich darauf eingelassen und basta. Es gab keinen
Weg zurück. Hollyday ging in die Hocke und begutachtete das zweite Rad des hinteren Fahrwerks. Während der Simulation hatte ein rotes Kontroll-Licht auf der Armaturenkonsole eine Störung signalisiert. Die Hydraulikpumpe, schätze ich, sagte Macs Stimme in seinem Schädel. Vielleicht auch einfach Materialermüdung. Vergiss nicht, dass der Vogel über fünfhundert Jahre alt ist. Wir sollten noch einmal das Check-up-Programm starten. Hollyday nickte. Die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Er stand auf und setzte seinen Kontrollgang fort. Komisch; auch während der Simulation einen echten Flug konnte er ohne Piloten nicht durchführen - hatte er seine Kopfschmerzen vergessen. Überhaupt: Immer wenn er sich ganz auf Mac in seinem Schädel einließ, ging es ihm gut. Vielleicht sollte er seine eigene Identität einfach aufgeben. Warum eigentlich nicht? Melanie würde es vermutlich gefallen. Melanie... Er fragte sich sowieso, wie er Mac je wieder loswerden sollte. Darüber hatten sie nie geredet, damals, als Mr. Black und Dr. Ryan ihn gefragt hatte. Und wer wusste denn, ob Dr. Ryan überhaupt noch am Leben war? Ganze sieben Nasen zählten die Running Men noch! Mit ihm, Hollyday, acht. Acht Rebellen gegen den Weltrat. Scheiß Spiel... Nach der Inspektion wollte er den Gangway hinaufsteigen. Eine Menge Arbeit am Bordcomputer wartete auf ihn. Oder nein, nicht auf ihn - auf Mac. »Auf Mac oder mich halt«, Hollyday winkte ab. »Ach, scheiß drauf...!« Von oben grinste ihm der Afro entgegen. Der Rauch seiner Zigarre stieg dem Hallendach entgegen. Präsident Hymes, der persönlich nach Cape Canaveral gekommen war, um die Instandsetzung zu überwachen, hatte strengste Order gegeben, den Prototypen rund um die Uhr zu bewachen. Hauptsächlich wegen der »Söhne des Himmels«. Ständig hatten diese Sektierer, die Cape Canaveral Jahrhunderte lang gehütet hatten, bis der Weltrat sie vertrieb, angegriffen.
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Bis Hollyday sich mit einem Boten der Himmelssöhne heimlich getroffen und es ihnen verboten hatte. Er konnte das. Diese durchgeknallten Barbaren hielten ihn nämlich für eine Art Gott. Wirklich wahr. Aber das war eine andere Geschichte.* Das Laser-Phasen-Gewehr, das der Afro hielt, zeigte auf ihn. Ein blödes Gefühl. »Professor McKenzie!« Erblieb stehen und lauschte. Eine Frauenstimme echote aus allen Ecken der Riesenhalle. Hollyday drehte sich um. »Dave! Kommen Sie, schnell!« Oben an der Rampe winkte Melanie. Ihm wurde warm ums Herz. Süße Melanie... Süße Feindin, funkte Mac dazwischen. Während Hollyday die schmale Stiege neben der Rampe hinauf kletterte, sah er die Gestalt der Offizierin durch das offene Schott nach draußen huschen. Die schwerbewaffneten Wachen am Außenschott grüßten ihn respektvoll. Hollyday trat ins Freie. Feuchtwarme Luft schlug ihm entgegen. In Waashton war es kälter um diese Jahreszeit, wesentlich kälter sogar. Das Klima in Floy-daa - Mac nannte das Land »Florida« machte Hollyday nichts aus. Seine Leute, die Pales, hausten in den Sumpfwäldern dieser Gegend. Er war gewissermaßen hier groß geworden. Melanie stand zehn Schritte vor dem Schott auf der Startbahn. Himmel, was war das für eine Schufterei gewesen, bis sie die Piste wieder in einen brauchbaren Zustand gebracht hatten! Wochen und Monate hatten sie gerodet und Löcher geflickt ! Die Raumfähre würde starten und landen wie ein Flugzeug behauptete Mac. Mit einem Feldstecher beobachtete Melanie Chambers den Himmel. Eine hochgewachsene Frau mit langen rotbraunen Locken und schmalem Gesicht. Jede ihrer Bewegungen, jedes Wort, jeder Blick verriet ihre Weiblichkeit. Nicht einmal die Uniform konnte sie kaschieren. Ein Fluggerät näherte sich dem Komplex aus von der Natur zurückeroberten Ruinen und wenigen noch benutzten Gebäuden ! Während Hollyday vor Staunen der Mund aufklappte ob des fliegenden Dings, wurde Mac mit
Neugierde und freudiger Aufregung erfüllt. »Wer kommt da, Captain Chambers?« Hollyday trat neben Melanie. So dicht, dass er die Wärme ihres Körpers zu spüren glaubte. »Sehen Sie selbst, Professor.« Sie reichte ihm das Glas. Es war ein futuristisches Fluggerät, etwa fünfzehn Meter lang, mit kurzen Heckflügeln und darin integrierten eckigen Antriebsdüsen. Wie ein Gleiter aus einem Science-FictionFilm! Macs wachsende Erregung ließ Hollydays Adrenalinspiegel steigen. Dicht über dem Boden fliegend näherte sich der Gleiter dem Bunker, in dem die unterirdische Zentrale untergebracht war. Dort setzte er zur Landung an. Für Hollyday blieb es ein Buch mit sieben Siegeln, wie so ein Ding fliegen konnte. Das ist wirklich eine interessante Frage, mischte Mac sich in seine Gedanken ein. Und noch interessanter ist, wer es fliegt. Sie kamen beide nicht mehr dazu, darüber nachzugrübeln: Das Gerät setzte auf, die Bordluke öffnete sich, eine kurze Gangway wurde ausgefahren. Eine schwarze Gestalt erschien in der Luke, uniformiert und bewaffnet. Es war Lieutenant Garrett! Ein WCA-Agent. Kein schöner Anblick mit seinem zerstörten Gebiss, das Matthew Drax auf dem Gewissen hatte. Der Afro sah sich nach allen Seiten um, bevor er die wenigen Stufen auf die Startbahn hinunter sprang. Ein älterer Mann folgte ihm. Grauhaarig, hager - General Crow. Er bewegte sich würdevoll und machte insgesamt einen erschöpften Eindruck. Hollyday registrierte es mit grimmiger Befriedigung. Nach dem zweitwichtigsten Mann der World Council Agency verließ ein Blondschopf in zerknitterter Kluft die Maschine. Eine Pilotenkombi, sagte Macs Stimme, das ist Matthew Drax. Hollyday hielt den Atem an. »Maddrax«, entfuhr es ihm. Schmerz blitzte in seinen Schläfen auf. »Mein alter Freund Matt«, korrigierte er sich. »Ach!« Melanie nahm ihm das Fernglas aus den Händen und sah hindurch. »Tatsächlich. Interessanter Mann!« Und sofort nahm ihre Stimme einen missmutigen Klang an. »Seine
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naive Barbarin ist leider auch dabei.« Wenige Worte, aber sie trieben dem guten Hollyday das Blut aus dem Gesicht und einen Bleiklumpen in die Magengrube. Nur ein Vorgeschmack auf das, was ihn darüber hinaus noch erwartete. »Joshua Harris!«, rief Melanie verwundert. »Na, den habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr...« Sie unterbrach sich, sperrte den Mund auf und flüsterte: »Ich werd verrückt! Die Tochter des Generals ...« Der Bleiklumpen in Hollydays Magen verwandelte sich jäh in einen Eisklotz. Bis in die Kehle hinauf schoss ihm die Kälte und schnürte ihm die Luft ab. Diesmal war er es, der Melanie das Glas aus der Hand riss. Und dann sah er es mit eigenen Augen und konnte es dennoch kaum glauben: Zwischen Kadett Joshua Harris und Aruula stieg eine rothaarige Frau über die Gangway auf die Startbahn hinunter - Lynne Crow. Sie lebte, und es schien ihr prächtig zu gehen. Aus und vorbei, dachte Hollyday. Bleib cool und sieh zu, dass du verschwindest, sagte Mac in seinem Kopf. »Na also.« Phil Hollyday reichte Melanie das Glas und zwang sich zu einem Lächeln. »Unkraut vergeht nicht.« »Schon...« Die Offizierin spähte wieder durch den Feldstecher. »Aber ich hätte keinen Pfifferling mehr für sie gegeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Sogar ihren Arm hat sie wieder...« »Die Arbeit wartet.« Hollyday drehte sich um und lief in die Halle hinein und die Rampe hinunter. Nicht so schnell, warnte Mac. Sonst fallen wir auf. Er steuerte das Innenschott an. Die Uniformierten grüßten ihn. Im Gangsys-tem zwischen dem Bunker unter der Halle und den Mannschaftsquartieren beschleunigte er seinen Schritt. Lynne Crow wusste, dass er zu den Running Men gehörte. Sie hatte ihn im vertrauten Gespräch mit dem Rebellen-f ührer Mr. Black gesehen. Kurz bevor ein Krokodil ihr den Arm abbiss, wodurch sie in ein Koma fiel. Hollyday hatte gehofft, dass sie nie mehr daraus erwachen würde. Leider hatte er sie nicht mehr unter Kontrolle
gehabt, nachdem General Crow mit ihr nach Westen aufgebrochen war, um Kontakt mit einer Gruppe aufzunehmen, die sich auf Implantate verstand. Lynne Crow selbst sollte vor Jahren einmal Kontakt zu diesen sogenannten »Unsterblichen« aufgenommen haben. Nun ist es also doch passiert, meldete sich die Stimme Dave McKenzies zu Wort. Sie hat dich längst verraten. Endlich erreichte Phil Hollyday die Tür zu seinem Raum. Er stieß sie auf und schloss hinter sich ab. Pack das Nötigste zusammen und schlag dich zu den Barbaren in den Sümpfen durch... »Erzähl du mir nicht, was ich jetzt zu tun habe, Mac!« Hollyday riss eine abgeschabte Lederjacke vom Wandhaken und schlüpfte hinein. Aus dem Einbauschrank holte er seinen Driller und überprüfte das Magazin. Noch fast voll. Danach schob er sein Lager zur Seite, kniete auf den Boden, rollte den Bast-Teppich zusammen und hob eine zwanzig mal zwanzig Zentimeter große Platte aus dem Estrich. Ein ovales schwarzes Kästchen wurde sichtbar eine Sprengladung mit mechanischem Zünder. Er hatte sie selbst gebastelt, um im Notfall die Raumfähre zu sprengen. Vorsichtig ließ er sie in die Jackentasche gleiten. Bei allen Heiligen - was hast du vor? Die Stimme in seinem Kopf fühlte sich nervös an. Plötzlich erklangen Schritte draußen vor der Tür. Hollyday zog das Bettgestell an seinen Platz zurück und stand auf. Er lauschte. Mindestens zwei Personen näherten sich. Vor seiner Tür verstummten die Schritte. »Professor McKenzie?« Melanies Stimme. »Ja?« »Ich bins, Captain Chambers. Der Präsident und der General wollen Sie sprechen. Wir sollen Sie zu ihnen geleiten.« Zu spät, alles zu spät. Seine Tarnung war aufgeflogen. Im Schnellverfahren würden sie ihn aburteilen. Den Sonnenuntergang würde er schon nicht mehr erleben. Aber sie auch nicht... »Ich komme.« Er öffnete die Tür. Zu dritt standen sie davor: Captain Chambers, ein Lieutenant und ein Sergeant. Aufmerksame Blicke musterten ihn. Me-lanie lächelte, kühler
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noch als sonst. Sie ging voraus. Er hätte sie töten müssen, um überhaupt eine Chance zu haben. Schon das war ein unüberwindliches Hindernis. Und wenn er es über sich gebracht hätte: Hinter ihm liefen die beiden Bewaffneten. Hollyday griff in die Jackentasche. Seine Rechte schloss sich um den Sprengkörper. Dann würden sie eben mit ihm sterben. Und er würde als der Mann in die Geschichte eingehen, der die WCA enthauptet hatte...
Vehicle Assembly Buildings an anderer Stelle wieder verbaut. Hinter dem Ruinenfeld lagen ein schmaler Strandstreifen und die Brandung des Atlantiks. Eines der beiden erhaltenen und offensichtlich gepflegten Gebäude lag wenige hundert Schritte entfernt: die Bunkeranlage, flach und ausgedehnt. Auf das zweite gingen sie zu: ein annähernd würfelförmiges Haus. Von seinem ersten Besuch wusste Matt, dass es den Wohnund Verwaltungsbereich beherbergte. Und inzwischen vermutlich noch das eine oder andere Geheimnis. Interessanter fand Matt die Bunkeranlage. In ihrer ersten Ebene stand der Prototyp eines neuen Space Shuttle, der zum Zeitpunkt des Kometeneinschlags noch nicht ganz vollendet gewesen und jetzt vermutlich startklar war. Und auf einer der unteren Ebenen befand sich ein vollkommen intaktes Kontrollzentrum, dessen Kommunikationssysteme sogar noch in Kontakt mit der ISS standen. Atemberaubende Möglichkeiten. Möglichkeiten, die Leute wie Hymes und Crow sich nicht entgehen lassen konnten. Und ich mir eigentlich auch nicht, dachte Matt, als sie die Treppe zum Eingang erreichten. Denn sie können mir Antworten geben, die ich bislang vergeblich gesucht habe... Crow drehte sich zu ihm um. »Vielleicht fällt Ihnen auf, dass wir eine starke Truppeneinheit hierher verlegt haben?« Matt nickte; er hatte die Patrouillen zwischen den Gebäuden und entlang des hohen Zaunes wahrgenommen. »Das größte Projekt in der Geschichte der WCA steht bevor. Wir können uns keine Nachlässigkeiten erlauben. Zumal die barbarischen Nachkommen der ehemaligen Besatzung in den Sumpfwäldern lauern.« Matt hatte sie kennen gelernt. Sie selbst nannten sich »Söhne des Himmels«, und die ISS verehrten sie als ihren Gott Eisas. Armer Gott. Matt musste lächeln. Kreist seit fünfhundert Jahren einsam und nutzlos um eine verwüstete Welt. Die Sektierer glaubten das Shuttle mit ihrem Blut verteidigen zu müssen, weil sie es für den Himmelswagen ihres Gottes hielten. Und weil
* Nicht Washington war also das Ziel gewesen, sondern Cape Canaveral. Matt hatte es nach der plötzlichen Kursänderung schon vermutet. Er stieg die Gangway hinunter. Nichts lief nach durchschaubaren Regeln in dieser verrückten Welt, schon gar nicht nach seinen Regeln. Seit fast zwei Jahren schon nicht mehr. Zeitverschwendung, sich noch länger daran zu reiben. »Wie heißt dieser Ort?« Aruula neben ihm sah sich neugierig um. Erst jetzt wurde Matt klar, dass sie ja noch nicht hier gewesen war. »Cape Canaveral«, entgegnete er. »Hier stand einst der Weltraumbahnhof meiner alten Heimat.« »Erklär ich dir später.« Sie hatten das Rollfeld repariert. Noch auf der Gangway fiel es dem Mann aus der Vergangenheit auf: Das Gestrüpp, die Bäume, die Risse, die Löcher und Aufwerfungen - alles weg. Sein Verdacht erhärtete sich: Hier stand ein Start bevor. Und dass sie ihn hierher gebracht hatten, hing mit diesem Start zusammen, jede Wette . . . Sonst hatte sich nichts verändert, seit er mit Hollyday und diesem WCA-Spitzel, der sich als Techniker ausgegeben hatte, hier gewesen war wie hatte der Mann gleich geheißen? Rorke, richtig. Ein knappes Dutzend Gebäude, die meisten zerfallen oder jedenfalls unbewohnbar und von Buschwerk, Bäumen und Hecken zugewuchert. Von der einst weltberühmten und so riesigen Halle für die Trägerraketen war bis auf eine grasbewachsene Trümmerhalde nichts geblieben. Wahrscheinlich hatte irgendje-mand Steine, Betonplatten und Stahlträger des
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Matt sowohl Eisas als auch Shat-El identifiziert hatte, sahen sie ihn ihm einen Gesandter ihres Gottes. »Außerdem ist der Präsident persönlich in Begleitung eines starken Truppen verbandes nach Florida gekommen«, fuhr der General fort. In seiner Stimme schwang die Genugtuung eines Mannes, der einen Trumpf auf der Hand hat.
der Wandernden Völker, während sie die Eingangshalle des Gebäudes durchschritten. Von der Seite erhaschte Matt ihren aufmunternden Blick. Genau: Es ist, wie es ist. Auch innerhalb des Gebäudes fielen ihm ungewöhnlich viele Männer und Frauen auf; sogar mehr als er während seines Aufenthalts im Pentagon zu Gesicht bekommen hatte. Von allen Seiten hörte er es hämmern und bohren. Der Weltrat war offensichtlich im Begriff, Cape Canaveral zu einer soliden Nebenstelle aufzurüsten. Eine Lifttür schob sich auseinander. Zu sechst drängten sie sich in der engen Kabine zusammen. Keiner sprach ein Wort, während der Aufzug sich nach unten bewegte. Peinliche Stille entstand. Aruula fasste Matts Hand. Lynne Crow hielt sich den rechten Arm fest und schaute zur Decke. Ihr Vater wippte auf den Stiefelspitzen auf und ab. Seine beiden Wachhunde, Garrett und Harris, lehnten links und rechts der Tür und belauerten Matt. Vor allem Garrett. Wie eine Auszeichnung trug er seine zahnlosen Kiefer zur Schau. Oder wie einen an Matt gerichteten Racheschwur. Matt wusste, was er davon halten musste: Er hatte die Zähne des WCA-Agenten auf dem Gewissen, und mit ein bisschen Pech würde er dafür bezahlen müssen. Der Lift hielt, man stieg aus. Ein Gang, eine Schiebetür, und dann ein hoher Raum. Kein schöner, sondern durch und durch zweckmäßiger Raum: kahle Betonwände; rechts eine nachlässig verblendete Konsole mit Bildschirmen, Tastaturen und Telefonen; Heizungsrohre und an Drähten befestigte Leuchten an der Decke; ein großer runder Tisch mit einem Dutzend Stühle in der Mitte des Raums. Drei Männer in WCA-Uniformen saßen dort. Rorke war darunter, mit dem er und Hollyday vor Monaten die Anlage ausgespäht hatten. Und Präsident Victor Hymes. Den dritten Mann hatte Matt nie zuvor gesehen. »Mister Drax - ich freue mich, Sie zu sehen!« Hymes stand auf und kam auf Matthew zu. Im letzten Augenblick besann er sich wohl. »Und Sie natürlich auch, Miss Aruula.« Der erste
* Crows Adjutant Harris, der die Gruppe anführte, machte Meldung bei den Wachen vor dem Hauptportal. Scharrend öffnete sich die metallene Schiebetür. Crow fasste Aruula am Arm und führte sie durch das Portal. »Präsident Hymes erwartet Sie übrigens.« Ein Lächeln glitt über die kantigen Züge des Kahlkopfes. Es galt nicht Matt, es galt Aruula. Matt zuckte mit den Schultern. »Interessant«, murmelte er halb lustlos, halb zornig. »Für mich sieht es mehr so-aus, als würden wir ihm vorgeführt.« Crow und seine Schergen hatten sie bei Los Angeles einkassiert, und Matt sah keinen Grund, es in irgendeiner Weise schön zu reden. »Sie sind nachtragend, Drax.« Lynne Crow schob sich zwischen ihn und Aruula. »Es gibt höhere Interessen als individuelle: staatliche, weltpolitische, wenn Sie so wollen.« Sie klang zynisch. Aber Crows Tochter gehörte vermutlich zu den Leuten, die sagen konnten, was sie wollten; es würde immer irgendwie zynisch, arrogant oder schroff klingen. »Wenn es um Freiheitsberaubung geht, neige ich nicht zur Toleranz, Miss Crow. Meine Lebensgefährtin übrigens auch nicht.« Aruula und die Crow wechselten einen bösen Blick. Matt schielte auf den rechten Arm der Rothaarigen. Er kam ihm merkwürdig steif vor. Überhaupt wirkte die junge Frau bleich und ausgebrannt. Hinkte sie nicht auch ein klein wenig? »Und was will der Präsident von uns, General?« Eine überflüssige Frage. Matt stellte sie trotzdem. »Das wird er Ihnen selbst erläutern.« »Et fa comu fa«, sagte Aruula in der Sprache
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Händedruck galt dann doch der Barbarin. Danach war Matt an der Reihe. Der feste Druck, das väterliche Lächeln in der freundlichen graubärtigen Miene - wie immer wusste Matt nicht recht, wie er das einzuordnen hatte. Achte nicht auf seine Worte und seine Mimik, sagte er sich. Achte auf das, was er tut, und denke an das, was er getan hat. Die Anrede befremdete Matt, aber er ignorierte sie. »Es wäre unehrlich zu behaupten, dass Ihre Empfindung auf Gegenseitigkeit beruht«, sagte er. »Tut mir Leid, wenn ich das so sagen muss, Sir. Ich liebe es nicht, wenn man mir vorschreiben will, wohin ich zu gehen und was ich zu tun habe.« »Ich verstehe Sie ja, Commander... nun ja, Commander außer Dienst. Noch.« Victor Hymes wies auf den Konferenztisch. »Nehmen wir doch erst einmal Platz. Mister Rorke kennen Sie ja, und das hier ist Major Dwight Miller.« Der Unbekannte blieb sitzen und nickte kurz. »Major Miller ist Spezialist für Lo-gistik und Kommunikationselektronik«, erklärte Hymes. Der bleichgesichtige Major mit dem weißen Stoppelhaar verzog keine Miene. Rorke begrüßte Matt mit einem kurzen Händedruck. Er hätte darauf verzichten können, ihn wiederzusehen. »Die Zeiten sind nicht einfach, Mister Drax«, noch während sich alle setzten, sprach Hymes weiter, »und wir haben ein großes Ziel: den Wiederaufbau der Erde. Für so ein Ziel ist ein Mann wie Sie einfach unentbehrlich.« Er faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und musterte Matt jetzt ganz ohne Lächeln und mit gewichtiger Miene. »Es wäre unverantwortlich gewesen, Sie und Miss Aruula sich selbst zu überlassen. Ich ging davon aus - und ich hoffe, damit liege ich nicht falsch -, dass ein Bürger der alten Vereinigten Staaten, einer, der den ehemaligen Ruhm unseres Landes noch mit eigenen Augen gesehen hat, selbstverständlich mit uns an einem Strang...» Er redete und redete, und wie das bei Politikern so üblich war, verschränkten sich Schmeichelei, Lüge, Wahrheit und Worthülsen zu einem unentwirrbaren Sprachgestrüpp. Bald schon schaltete Matt ab, bis Hymes endlich wieder zur Sache kam.
»... und deshalb möchte ich Sie bitten, wieder in den Dienst der World Council Agency zu treten, der Rechtsnachfolgerin der Vereinigten Staaten von Amerika. Als Commander. Nach erfolgreicher Bewältigung ihres Auftrags erwartet Sie der Rang eines Colonels.« Matt sah, wie Garrett bei dem Angebot seines Oberkommandierenden zusammenzuckte und wie Harris den Blick senkte. Der Neid beißt euch in die Eier... Matt konnte sich eine gewisse Schädenfreude nicht verkneifen. Dabei hatte ein Offiziersrang unter den Angehörigen des Weltrats nicht allzu viel zu bedeuten. Fast alle waren sie Offiziere in dieser elitären Clique, oder wenigstens Offiziersanwärter. Für ihn allerdings hätte die Annahme einer Beförderung zum Oberst weitreichende Konsequenzen: Sie käme einer Mitgliedschaft in der WCA gleich. »Was macht Sie so sicher, dass ich scharf darauf bin, Mr. President?«, fragte Matt. »Und zweitens: Von was für einem Auftrag sprechen Sie?« »Ach Gott, Drax - tun Sie doch nicht so!« General Crow mischte sich ein. Er beugte sich über die Tischplatte. Hinter seinen verschränkten Händen grinste er Matt müde an. »Von was für einem Auftrag sprechen wir schon - Sie sind doch sonst so ein kluger Bursche. Wir wollen, dass Sie das Shuttle zur Raumstation fliegen, was denn sonst?« Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille. Dann platzte Aruula der Kragen. »Schlagt euch das aus dem Kopf!« Als hätte man sie und nicht Matt angesprochen, so bestimmt antwortete sie. Und schüttelte ihre Mähne dabei. »Das werden wir auf keinen Fall tun!« Sie sah Matt an, erwartungsvoll, ihre Augen blitzten. Unter dem Tisch trat sie nach seinen Knöcheln. »Keine Schüsse aus der Hüfte, Miss Aruula.« Victor Hymes setzte wieder sein gewinnendes Lächeln auf. »Die Dinge wollen in Ruhe erwogen werden.« Das ging schon wieder an Matts Adresse. »Bedenken Sie die Ressourcen an elektronischem Know-how, Commander Drax, und die vielen Daten, die dort oben auf uns warten.« Er dachte nicht daran, locker zu lassen. »Bedenken Sie, wie wichtig all das für
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unser gemeinsames Ziel ist, wie unverzichtbar für den Wiederaufbau unserer Zivilisation.« Keinen Augenblick zweifelte Matt daran, dass Hymes die Mission zur Chefsache und zu absoluten Priorität erklärt hatte. Auch ihre Bedeutung für die Ziele der WCA unterschätzte er nicht. Er bezweifelte allerdings, dass der Weltrat idealistisch und selbstvergessen einzig und allein den Wiederaufbau der postapokalyptischen Welt verfolgte. Aber jetzt war nicht die Zeit für Naivitäten, nicht die Zeit, sich die Meinung zu sagen - jetzt war die Zeit zu pokern. Er selbst hatte auch etwas zu gewinnen. Oder zu verlieren. Er und eine ganze Menge anderer Leute auf beiden Seiten des Atlantik. Doch bevor er seine Karten noch sortieren konnte, summte etwas, und eine grüne Lampe blinkte über der Tür. »Captain Chambers«, sagte Major Miller. Garrett stand auf, eilte zur Tür und drückte einen Knopf. Die Tür schob sich auf, eine uniformierte Frau trat ein und grüßte. »General Crow, Mr. President, Gentlemen -Professor McKenzie.« Sie tat einen Schritt zur Seite. Gefolgt von zwei Bewaffneten betrat ein Mann den Raum, auf dessen Anblick Matt gern verzichtet hätte: Philipp Hollyday, der dem echten McKenzie wie ein Zwilling glich. Er trug sein Haar schulterlange und eine Brille auf der Nase, eine Lederjacke über einem karierten Hemd und darunter eine Uniformhose mit Beintaschen. Er sah Dave wirklich verteufelt ähnlich. Aber Hollyday war nicht David McKenzie, sondern ein Maulwurf der Running Men. Daves Double erschien Matt bleicher noch als sonst. Und ausgesprochen nervös. Er sah sich kurz um. Beide Hände tief in den Jackentaschen vergraben, schritt er dann zum Tisch. Dorthin, wo Hymes und der General saßen...
beugte sich über das Elektronenmikroskop; der Franzose beobachtete den Monitor des Quantencomputers. In kurzen Abständen wanderte sein Blick von den Daten auf dem Bildschirm zu Bernstein. Und manchmal auch zur Konsole mit den Kommunikationsgeräten. Doch der Monitor dort blieb dunkel. Über eine Stunde war vergangen; Houston hatte sich noch nicht wieder gemeldet. »Okay.« Jarnyszin hob den Kopf vom Doppelokular und setzte seine schwarze Hornbrille auf. »Laser einschalten«, sagte er mit ruhiger Stimme. Oshi Domoto hatte die Probe aus der Pilzkultur aufs Objektiv geträufelt. Nun drehte er sich um und drückte den Knopf für den Atomlaser. Der Russe blickte sich kurz nach dem Monitor mit den Analysedaten um. Danach nahm er die Brille wieder ab, steckte sie in die Brusttasche seines blauen Baum wollhemdes und presste die Augen erneut gegen das Doppelokular des Elektronen mikroskops. »Stufe zwei... Stufe drei... vier... fünf...« Nach seinen Anweisungen steigerte Domoto die Energiezufuhr des Lasergeräts. Gleichzeitig beobachtete er einen der Monitore. Domoto war Anfang vierzig, hatte aber die weichen, glatten Gesichtszüge eines Halbwüchsigen. Seine schmächtige Gestalt und der Haarzopf unterstrichen diesen Eindruck noch. Dr. Oshi Domoto war Mediziner. Sein Spezialgebiet: Neu-rologie und Genetik. Der Monitor lag in Bernsteins Blickfeld. Er sah ein Gebilde darauf, das ihn an einen Kupferstich mit dem Motiv des brennenden Dornbuschs erinnerte und beim zweiten Blick an zerfranste Lungenbläschen inmitten kleinster Bronchialverästelungen. In Wahrheit aber sah der Commander die hunderttausendfache Vergrößerung eines Pilzes. So viel wusste auch er. Scan Bernstein hatte nicht viel verloren hier im Columbus-Modul. Die La-bormodule waren die Arbeitsplätze der fünf Wissenschaftler an Bord der ISS. Er war Techniker und Pilot. Sein Platz war im Transhab-Modul vor den Kontrollinstrumenten des Navigations computers, oder im Zarya-Modul, wo die Gastanks und die Steuerungselemente untergebracht waren. Aber dort hielt jetzt nie
* ISS, 7. Dezember 2011 Der Japaner hantierte mit Pipette und Reagenzröhrchen; der kahlköpfige Russe hielt sich an den Griffen des Arbeitstisches fest und
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mand die Stellung. Taurentbeque hatte den Commander gezwungen, ihn ins Labor des Columbus-Moduls zu begleiten. Der Mikrobiologe wollte ihn offensichtlich nicht aus den Augen lassen. Ruhig bleiben, sagte sich Bernstein, jede Eskalation im Keim ersticken. Warte auf deine Stunde - auf diese Strategie hatte Bernstein sich festgelegt. »Gut, und jetzt wieder runter auf drei.« Sergej Jarnyszin gab dem Japaner ein Handzeichen. »Gott im Himmel - die Pilze haben sich ja verzehnfacht! Seht ihr die roten Stäbchen zwischen den Chlorophyll-Molekülen? Was sagst du dazu, Lou? Das ist doch Sauerstoff, oder was behauptet der Computer?« Verbissener als sonst konzentrierten sie sich auf ihre Experimente. Es entging Bernstein nicht. Nur nicht hinsehen, nur nicht über die Situation an Bord reden -das schien ihre Devise zu sein. Bernstein hätte schreien mögen. Seine Gedanken kreisten um Marsha. Hagen, dieser Eisberg - würde er sich benehmen können? Wie alle hatte er seit Wochen keine Frau gehabt. Wie alle außer Bernstein. Hagen war Gentleman, Hagen war Akademiker, Hagen war die personifizierte Selbstkontrolle, und dennoch: Wer eine Meuterei in einer Raumstation anzettelte, wer die NASA unter Druck setzte, wer Kollegen bedrohte - war so einem nicht alles andere auch zuzutrauen ...? »Sauerstoff? Schon möglich.« Von einer Sekunde auf die andere hatte Taurentbeque nur noch Augen für die beiden Monitore. Für den mit den Messdaten und den, der wiedergab, was Jarnyszin im Elektronenmikroskop sah. »Der Rechner hält es für Stickstoff und Phosphor ...« »Und diese roten Strukturen?« Domoto zog einen Stift aus der Brusttasche seines Hemdes. Alle bis auf Marsha trugen sie diese blaue Baumwoll-Hemden mit weißen Nähten und Knopfleisten. »Das ist kein Gas.« Er beugte sich zum Monitor, vor dem der Franzose saß, und zeigte mit dem Stift auf die feinen Stäbchen. »Vergrößere, Sergej. Das könnte ein Peptid »sein. Ein Enzym vielleicht, oder ein Hormon... ?« Mit den Feinheiten der mikrobiologischen und genetischen Experimente war Bernstein
nicht vertraut, wie gesagt. Aber selbstverständlich wusste er grob, worum es ging. Immerhin hatte die NASA die Besatzung von üblicherweise sieben auf acht Astronauten aufgestockt. Für so wichtig hielt man das seit sechs Jahren laufende Forschungsobjekt, dass man einen zusätzlichen Wissenschaftler mit an Bord genommen hatte. Und das war es auch: Das Wissenschaftsteam experimentierte mit Pilzen, die in einer Symbiose mit Pflanzen lebten. Ein derartiges Bündnis - eine sogenannte Mykorrhiza, auch diesen Begriff hatte der Commander sich gemerkt - war gang und gäbe auf Erden. Seit Jahrmillionen schon. Die Pilze versorgten die Pflanzenwurzeln unterirdisch über ein Geflecht von Fäden mit Mineralien, und die Pflanze revanchierte sich mit organischen Nährstoffen aus Abfallprodukten der Photosynthese. Genau diese von der Evolution geschaffenen Symbiose wollten die europäischen und japanischen Wissenschaftler nun für die Raumfahrt nutzbar machen. Zu dem Zweck hatten sie zwei Pilzarten genetisch verändert und ihnen synthetische Wachstumshormone eingebaut. Das Hauptziel: Die Nutzpflanzen im Gewächshaus des Observatoriums auf dem Mond sollten schneller wachsen. Und langfristig auch die Pflanzen in den geplanten Gewächshäusern, die eine für 2019 geplante zweite Marsexpedition auf dem roten Planeten errichten sollte. Die erste, von einem zivilen Finanzier geförderte Marsmission war im Jahr zuvor verschollen. Und das Nebenprodukt der Experimente: Man wollte einen Weg finden, Stickstoff und vor allem Sauerstoff für das Leben im All zu produzieren. Für Daueraufenthalte in der Raumstation und zukünftigen Planetenkolonien brauchte die NASA einen sicheren und billigen Weg zur Herstellung von Atemluft. Ein spannendes Abenteuer also für einen leidenschaftlichen Raumfahrer, wie Commander Sean Bernstein einer war. »Sieht gut aus«, sagte Taurentbeque. »Stickstoffproduktion um vierzig Prozent gestiegen...« Er las die Analysedaten von einem der Bildschirme ab. »Phosphor siebzehn Prozent, Chlorophyllmoleküle einundzwanzig
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Prozent...« Sein Interesse an Bernstein schien erloschen. »... Karotinoidmole-küle dreizehn Prozent - hoppla, was haben wir denn da...?!« »Sauerstoffmoleküle«, sagte Domoto. »Es sind Sauerstoffmoleküle, ohne Zweifel!« Er spähte zu den Terrarien. Die rechteckigen Glaskästen enthielten Humus und verschiedene Pflanzen: Kartoffelpflanzen, Spinat, eine junge Eiche, ein Apfelbäumchen, Wirsing und Sojastauden. »Ich denke, der Geosiphon ist so weit. Setzen wir ihn dem Grünzeug in den Pelz.« Geosiphon - so hieß einer der beiden Pilze, mit denen an Bord der ISS experimentiert wurde. Jochpilz hieß er für Lai-en, wenn Bernstein sich recht erinnerte. Den Namen des zweiten Pilzes konnte er sich besser merken: Aspergillus Niger, schwarzer Gießkannen schimmelpilz. Mit ihm wurde im DestinyModul experimentiert. Das Destiny-Modul diente vor allem medizinischen Experimenten. Domoto versuchte ein neuartiges Antibiotikum aus dem Schimmelpilz zu gewinnen. Dazu hatte er ihn mit Wachstumshormonen verändert. Taurentbeque und Jarnyszin hatten den vergrößerten Pilz tatsächlich dazu gebracht, Sauerstoff zu produzieren. »Aber diese rötlichen Strukturen...« Mit gerunzelter Stirn blickte Jarnyszin ins Elektronenmikroskop. Er wirkte unzufrieden. Viel hatte das nicht zu bedeuten : Der kahlköpfige Russe mit der Hornbrille wirkte meistens mürrisch und melancholisch. »Das ist kein Sauerstoff, das ist kein Stickstoff, das ist tatsächlich ein Peptid, aber was für eins, will ich wissen.« »Vielleicht ein mutiertes Somatotro-pin«, sagte Domoto. »Versuch es mit dem Laser zu isolieren. Wir werden es analysieren.« Er wandte sich an den Franzosen. »Holt ihr die Kulturen?« Ein scheuer Seitenblick traf Bernstein. »Vielleicht hilft dir Sean.« Der Commander nickte und mimte den Gleichgültigen. Dabei schlug sein Herz plötzlich so schnell, dass er meinte, man müsste seine Halsschlagader pulsieren sehen: Die Pilzkulturen steckten in den Brutschränken des japanischen Labor-Moduls. Und was rückte im
Kibo-Modul in greifbare Nähe? Das Geheimfach im mittleren Laborschrank. Die Schusswaffe. Bernstein konnte sein Glück nicht fassen. Der Franzose schob sich an ihm vorbei. Ihre Blicke trafen sich kurz. Zwing mich nicht zum Äußersten, schien der Taurent-beques zu sagen. Bernstein drehte sich noch einmal um. Weder Domoto noch Jarnyszin kümmerten sich noch um ihren verdammten Pilz. Sie belauerten ihn, als wäre er der Meuterer und nicht der Franzose. »Ich werd mich gelegentlich bei euch bedanken«, zischte der Commander. Hinter Taurentbeque her zog er sich an der Haltestange durch das Zwischenschott und dann durch den Verbindungstunnel zum Kibo-Modul. Das japanische Labormodul und das ColumbusModul lagen sich praktisch gegenüber. Nur ein kurzes Verbindungsstück trennte sie, von dem aus man auch nach oben in die Zentrifuge und nach links über das Destiny-Modul in die unterhalb der Sonnensegel liegenden Abschnitte der Internationalen Raumstation gelangen konnte. »Ich versteh dich nicht, Lou«, sagte Bernstein. »Einerseits willst du nicht zurück auf die Erde, weil du den Weltuntergang fürchtest, und andererseits butterst du Kraft und Zeit in solche Experimente, als hätten wir noch ein Zukunft. Was soll das? Ich versteh es nicht.« Unter dem geschlossenen Schott der Zentrifuge hindurch hangelte sich Taurentbeque der runden Öffnung zum Kibo-Modul entgegen. »Weil du keine Fantasie hast, du dämlicher Ami«, sagte der Franzose leidenschaftslos. »Erklär es mir.« Taurentbeque schlüpfte durch das offene Schott, drehte sich um und wartete, bis Bernstein ebenfalls in das Labormodul schwebte. Der Raum war hell und lang. An beiden Wänden sah man unzählige Griffbügel an Schubladen und Schranktüren. Nicht nur Brutschränke für Bakterien- und Pilzkulturen gab es hier, sondern auch eingefrorene DNS aller möglicher Pflanzen und Tiere. Die reinste Arche Noah war das Kibo-Modul. Außerdem enthielten die Schränke Labormaterial in Hülle und Fülle. Taurentbeque deutete auf ein kleines
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Sichtfenster in der Deckenwölbung. Ein Relief aus Gebirgszügen, Flussläufen und Küstenstreifen leuchtete dort: das rote Meer, die arabische Halbinsel, das Hörn von Afrika und das Arabische Meer. Mit achtundzwanzigtausend Kilometern pro Stunde flog die ISS über die Tagseite der Erde. Vor neunzehn Minuten war die Sonne aufgegangen, in sechsundzwanzig Minuten würde sie wieder untergehen. »Wenn dort unten Schicht ist, werden wir nicht nur ein paar Tage hier bleiben müssen, Sean.« Sein Blick bekam etwas Stechendes, seine Stimme wurde beschwörend. Schlagartig erkannte Bernstein, dass er einem Mann gegenüber stand, der genau wusste, was er tat. »Wochen, Monate, vielleicht noch länger werden wir hier oben ausharren müssen. Und ich will mich nicht allein auf den Oxyge-nium-Synthesizer verlassen.« »Oxygenium-Synthesizer« nannten sie die Elektrolyseanlage im Zwezda-Mo-dul. Sie spaltete Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff, mischte den Sauerstoff mit Stickstoff aus den Gastanks zu einer irdischen Atmosphäre und sorgte dafür, dass der frei werdende Wasserstoff mit Kohlendioxyd aus der abgeatmeten Luft reagierte. Aus der chemischen Reaktion entstanden Wasser und Methan. Das Wasser wurde wieder der Sauerstoffgewinnung zugeführt. Das Methan diente als Treibstoff für die kleinen Raketenmotoren, mit denen der Kurs von Zeit zu Zeit korrigiert und die Raumstation in ihrem Orbit gehalten wurde. Ein perfekter Kreislauf. Leider hatte sich der Oxygenium-Synthesizer im Lauf der Jahre als störanfällig erwiesen. »Was aber, wenn das Gerät eines Tages ausfällt? Weil ein Meteorit uns die Sonnensegel zerfetzt oder die Stickstofftanks leck schlägt?«, fuhr Taurent-beque fort. »Ich möchte eine zweite Atemluft-Quelle haben, verstehst du?« Er wandte sich ab und hangelte sich zu den Schränken mit den Pilzkulturen. »Das klingt, als wolltest du den Rest deines Lebens hier oben verbringen.« Statt zu antworten, öffnete der Franzose einen der Schänke. »Die Lebensrnittel-Vorräte reichen für höchstens acht Monate«, warf Bernstein ein.
»Einige von uns wollen zurück auf die Erde, wie man hört.« Taurentbeque holte einen flachen Glaskasten aus dem Schrank. Mit einer Kopfbewegung winkte er den Commander heran. »Wenn wir nur zu viert wären, reichten die Vorräte schon ein Jahr. Wären wir nur zu zweit, sogar zwei Jahre.« »Du kannst nicht ewig hier oben bleiben.« Bernstein nahm den Glaskasten mit der Kultur in Empfang. »Was hast du vor, Lou?« Taurentbeque holte eine zweite Kultur aus dem Wärmeschrank und schloss die Tür wieder. »Vielleicht später, Sean. Entscheide dich erst einmal, auf welcher Seite du stehen willst.« Er stieß sich ab, schwebte zum Schott und tauchte in den Verbindungstunnel ein. Bernstein zögerte nicht länger. Er wusste genau, in welchem Schrank die Waffe steckte. Er zog ihn auf, öffnete das Türchen in der Rückwand und holte die Pistole heraus. Eine zwanzigschüssige SIG-Sauer P28 alpha. Doch wohin damit? Die blauen Baumwollhosen und die Hemden lagen eng am Körper an, die Schuhe waren nicht hoch genug, um die Waffe hineinzustecken. Bernstein schob sie sich einfach in den Hosenbund. Sollten sie doch sehen, dass er zu allem entschlossen war... Taurentbeque erwartete ihn unter dem verschlossenen Verbindungsgang zur Zentrifuge. Er entdeckte die Pistole sofort. »Du willst uns erschießen?« Ein müdes Lächeln zog über sein breites Gesicht. »Was bist du doch für ein Idiot, Sean.« Vollkommen ungerührt sagte er das. Kalte Wut füllte Bernsteins Brustkorb aus. »Der Schuss könnte mich verfehlen und eine Katastrophe auslösen. Du weißt es, Sean.« Taurentbeque drehte sich um und hangelte sich weiter bis zum Labormodul. »Du gehst zu Winter!«, rief Bernstein. »In zehn Minuten will ich Marsha sehen! Sonst werde ich dich töten!« »Das glaub ich nicht.« »Du holst Winter und Marsha, und dann sprechen wir mit Houston...!« Bernstein wünschte, er wäre weniger erregt, er könnte ruhiger und überzeugender sprechen, und er wünschte, Taurentbeque würde sich umdrehen
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und zuhören. »Du tust, was ich sage, sofort!« Er ließ den Glaskasten mit der Pilzkultur los und zog die Waffe aus dem Hosenbund. Nein, Taurentbeque blickte sich nicht um. Scheinbar seelenruhig stieß er sich ins Columbia-Modul hinein. Die anderen 'beiden sahen ihm entgegen. Jarnyszin hatte sich die Hornbrille aufgesetzt. Starr waren ihre Mienen, ängstlich ihre Augen. Der Glaskasten schwebte an Bernstein vorbei und gegen eine Konsole. Der Deckel löste sich. Tropfen gelblicher Nährflüssigkeit schwebten davon, und einzelne Fetzen des Nährbodens mit der Pilzkultur. Bernstein ließ sich nach vorn sinken, stieß sich ab, spreizte die Beine und klammerte sich schließlich mit den Füßen im runden Rahmen des Verbindungsschottes fest. Wie ein Schwertfisch in ein Unterwasseraquarium ragte er ins Labormodul hinein. Und die Waffe in den Fäusten seiner ausgestreckten Arme war seine Schwertspitze. »Was glotzt ihr und sagt kein Wort?!« Seine Wut galt jetzt Jarnyszin und Do-moto. »Sie meutern, verdammt noch mal! Winter hält Marsha fest, um mich unter Druck zu setzen! Sie haben mich gezwungen, die Rückreise abzusagen! Das geht auch euch an! Ihr könnt nicht so tun, als wäre nichts geschehen!« Der Russe und der kleine Japaner schwiegen; kein Wort kam über ihre Lippen. Der Deckel des Kulturbehälters und ein paar Tropfen Nährflüssigkei't schwebten an Bernstein vorbei. Taurentbeque befestigte seinen Glaskasten auf dem Arbeitstisch und machte sich wieder am Mikroskop zu schaffen. »Sei vernünftig, Sean.« Seine Aufmerksamkeit galt dem Material und dem Mikroskop, während er sprach. »In zwei Monaten rast ein acht Kilometer durchmessender Glutball vorbei. Wenn wir ein bisschen Glück haben, wird er die ISS verfehlen. Die Erde wird er in jedem Fall rammen.« »Das ändert nichts an unserem Auftrag!«, schrie Bernstein. »Das ändert nichts an unserem Befehl!« »Das ändert alles», sagte Domoto in seinem hölzernen Englisch. »Nichts wird je wieder so sein, wie es gewesen ist.«
»Es ändert zum Beispiel die Grundlagen unseres Auftrags«, schaltete Jarnys-zin sich ein. »Es kann nicht mehr darum gehen, ein langfristig geplantes Raumfahrt-Projekt um seiner selbst willen aufrecht zu erhalten. Es kann nicht mehr darum gehen, ein paar Experimente durchzuführen, die irgendwann einmal zu neuen Techniken und Medikamenten führen. Die Existenz der Menschheit steht auf dem Spiel. Vielleicht werden wir die einzigen Überlebenden sein.« Bernstein ließ die Waffe sinken. Ganz allein stand er; die Einsicht tat weh. Er rang mit seiner Fassung. »Die Karten werden neu gemischt, Sean.« Taurentbeque beugte sich über das Okular des Elektronenmikroskops. »Für ein Spiel, das kaum zu gewinnen ist. Es gibt nur eine winzig kleine Chance. Ich jedenfalls werde sie nutzen.« Er wandte sich an Jarnyszin und Domoto. »Habt ihr das Peptid analysiert?« »Es ist kein Somatropin«, antwortete der Russe. »Aber so etwas Ähnliches. Oshi hält es für einen Nervenreiztrans-mitter; er glaubt sogar ihn identifiziert zu haben: ein Cannabinoid.« Fassungslos musste Commander Bernstein zur Kenntnis nehmen, dass es aufregendere Dinge gab als einen Offizier der amerikanischen Luftwaffe mit einer entsicherten Waffe in der Hand. »Eiweißstrukturen umgeben von Fettmolekülen.« Der Japaner zuckte mit den Schultern. »Erinnert mich an ein Anan-damid. Könnte sein, dass unser Somatropin verunreinigt war...« »Ihr seid ja verrückt...« Taurentbeque beugte sich über das Elektronenmikroskop. Sie fachsimpelten. Tatsächlich: Sie kümmerten sich einfach nicht mehr um Bernstein, sondern fachsimpelten! Wie ein gusseisernes Korsett presste ihm die Ohnmacht den Brustkorb zusammen. Du musst Houston anfunken, dachte er. Nein, du musst zuerst nach Marsha schauen... Er drehte sich um und hangelte sich zurück in den Tunnel. Sämtliche Module würde er nach Marsha und Winter absuchen ... Die Stimmen hinter ihm veränderten sich
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plötzlich. Eine vierte mischte sich unter sie, und schließlich sprach nur noch jene vierte. Bernstein sah zurück. Die drei Wissenschaftler hatten sich um den Bildschirm der Kommunikationskonsole versammelt. Jarnyszin winkte ihm zu. »Houston! Sie wollen dich sprechen, Sean!« Commander Bernstein machte kehrt. Die Waffe in der Rechten, tastete er sich an Decke und Wand entlang bis zur Konsole. Die drei Wissenschaftler wichen zurück. Vom Monitor blickte ihm Henry Ikeman entgegen, der Chef des Kontrollzentrums in Houston. Seine Augen weiteten sich, als er die Pistole in Bernsteins Hand sah. »Um Gottes willen, Sean! Was soll das Schießeisen?!« »Eine Meuterei, Sir! Dr. Louis Taurentbeque und Dr. Hagen Winter haben mich gezwungen, eine von ihnen aufgesetzte Erklärung zu verlesen. Aber ich hab die Situation bald wieder im Griff. Selbstverständlich kann die Atlantis ll starten.« Der Astrophysiker musterte ihn mit ernster Miene. »Wir haben keine Sekunde daran gedacht, den Countdown abzubrechen, Commander Bernstein.« Dieser Wechsel zwischen Förmlichkeit und Vertraulichkeit war typisch für den Chef am Boden. »Atlantis II wird in zwei Wochen an der ISS andocken und Ihr Team ablösen ...« »Davon gehe ich aus, Sir.« »... allerdings wird bis dahin Oberstleutnant Anatol Ragojew das Kommando auf der ISS übernehmen.« Er räusperte sich und senkte die Stimme. »Tut mir Leid, Sean...« Commander Bernstein konnte förmlich hören, wie sie hinter ihm den Atem anhielten. »Was soll das, Sir?!« Er wurde laut. »Ich sagte Ihnen doch, dass ich die Situation bald wieder im Griff habe!« »Wir können die Lage von hier unten sehr schwer einschätzen, Commander.« In einer halb hilflosen, halb entschuldigenden Geste breitete Ikeman die Arme aus. »Sie haben mich gezwungen, Sir!« Bernstein erschrak vor seiner eigenen Stimme. Ikemans Miene verschloss sich. »Das mag sein. Nachprüfen können wir es nicht, also gehen wir auf Nummer Sicher. Ich trage die
Verantwortung für acht Astronauten und ein Milliarden teures Unternehmen. Oberstleutnant Ragojew befehligt ab jetzt die Mission. Sie haben sich ihm unterzuordnen. Ende.« Der Bildschirm erlosch. Sean Bernstein starrte auf die Umrisse seines Spiegelbildes auf der Monitor-flache. Er kaltes Loch breitete sich in ihm aus. Hinter ihm hörte er die Wissenschaftler tuscheln. Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Langsam drehte er sich um. Keiner kümmerte sich um ihn, sie flüsterten miteinander. Erregung verzerrte ihre Gesichter. Sie stecken alle unter einer Decke... Eiswasser schien in seinem Schädel anzusteigen: Dies war nicht das Ende einer Meuterei, nein. Die Ernennung des Russen zum Kommandanten war der erfolgreiche Abschluss einer Meuterei. »Ihr Mistkerle...« Schlagartig unterbrachen sie ihr Getuschel und sahen ihn an. In ihren Blicken las Bernstein, dass sie zum Äußersten entschlossen waren. Sie würden alles tun, um die Besatzung von Atlantis II von der ISS fernzuhalten. »Ihr gottverdammten Mistkerle...!« Jarnyszin nahm seine Brille ab und versenkte sie in der Brusttasche. »Ich wusste immer, dass du zu schwache Nerven hast, Sean.« Der Russe griff nach der Haltestange unter der Platte des Mikro-skop-Tischs und zog sich ein Stück näher an Bernstein heran. Reflexhaft hob der Commander die Waffe. »Du bist nicht kühl genug, Sean, wirklich nicht. Wie bist du bloß zu diesem Job gekommen?« Jarnyszin streckte die Hand aus. »Gib sie mir, Sean. Los, gib her.« »Den Teufel werd ich tun...« Mit beiden Händen umklammerte Bernstein den Pistolenkolben. Er zielte auf Jarnyszins Brust. Wenn er nicht genau traf, würde die Kugel ein wichtiges Instrument zerstören. »Bleib wo du bist!« Ein Gedanke blitzte in Bernstein auf, ein Gedanke, der ihn schmerzte: Diese Männer waren keine Meuterer mehr. Seit Ikeman ihm das Kommando weggenommen hatte, war er der Meuterer. »Du wirst nicht schießen, Sean. Her mit der Waffe!« Noch näher rückte der russische
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Wissenschaftler. »Weg mit dir, oder du stirbst!« Jarnyszin machte eine ruckartige Bewegung, um nach der SIG-Sauer zu greifen. Bernstein zog den Stecher durch. Klick Das Geräusch fegte ihm Brust und Hirn leer. Jarnyszins Finger berührten die Pistole. Noch einmal drückte Bernstein ab. Klick Wieder und wieder. Klick, klick, klick... Erstarrte die wirkungslose Waffe in seinen Fäusten an und begriff nichts mehr. »Nicht nur du kanntest das Notversteck, Sean.« Der Russe nahm ihm die SIG-Sauer aus der Hand. Bernstein ließ es geschehen. Er war wie gelähmt. »Dein ehemaliger Stellvertreter wollte einen Unfall vermeiden.« Jarnyszin ließ das Magazin aus der Pistole gleiten. Es war leer...
Was für ein unverhofftes Glück: Der Präsident, der General und die Rothaarige zum Greifen nahe, und in seiner Tasche der Tod! Die Stunde der Abrechnung war gekommen! Endlich... Um Himmels willen, mach kein Quatsch, Hollyday! Halt dich raus, Mac... In diesem Moment stand der Präsident auf. »Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Professor McKenzie!« Er ging ihm den letzten Schritt entgegen, lächelte sein väterliches Lächeln und reichte ihm die Hand. »Sie sind schließlich die Hauptperson in dieser Runde!« Er wandte sich dem Blonden und der Barbarin zu. »Sie und Ihr Freund und Kollege Commander Drax...« Hollyday begriff nichts mehr. Er ließ die Bombe in seiner Tasche los und drückte Hymes die Hand. Es war ein Reflex - vielleicht auf die freundliche Miene des Präsidenten, vielleicht auf Macs Geschrei in seinem Kopf - und die schöne Todesstimmung war dahin. Was blieb, war Verblüffung. Jetzt stand sogar der mürrisch dreinblickende Crow auf, um ihn zu begrüßen. »Alles bestens, Professor? Der Vogel ist flott, wie ich höre. Gute Arbeit!« Auch Lynne Crow nickte ihm einigermaßen freundlich zu. Statt der rechten streckte sie ihm die linke Hand entgegen. Keine Wut in ihren Augen, auch keine Genugtuung, es ihm heimzuzahlen. Es schien, als hätte sie nie mitbekommen, dass er und Mr. Black gemeinsame Sache machten. Hollydays Verblüffung wuchs noch an. Der Offizier wurde ihm vorgestellt; sein Name blieb nicht in seinem Gedächtnis haften. Worte und Gesichter rauschten an ihm vorbei. Schließlich fand er sich auf einem Stuhl neben Matthew Drax wieder. Der würdigte ihn keines Blickes. Dafür ließ ihn seine Barbarin keinen Moment aus den Augen. Bei allen Sumpfgeistern - warum starrt sie mich so an?, fragte er sich. Melanie und die beiden Uniformierten verließen den Raum, Victor Hymes sagte irgendetwas. Hollyday brauchte ein paar Sekunden, bis er merkte, dass der Präsident ihn ansprach.
* Cape Canaveral, Anfang Dezember 2517 Die Zeit schien stehen zu bleiben, als die Tür sich aufschob. Hollyday blickte auf Melanies Rücken und dachte: Schade um sie, schade um uns... Und als sie ihn dann angekündigt hatte und beiseite trat, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er sah den graubärtigen Victor Hymes, er sah Crow, diesen Haifisch, und neben ihm das rothaarige Biest. Seine Rechte schloss sich um den Sprengsatz in seiner Tasche. Er ging auf den Präsidenten und den General zu. Stechender Schmerz wühlte in seinen Schläfen. Aus den Augenwinkeln registrierte er den Killer Garrett und einen hochrangigen Offizier, den er nicht kannte. Und natürlich Drax, den komischen Vogel aus der Vergangenheit. Sein Barbarenweib hockte neben ihm. Der lauernde Blick der wilden Frau schien Hollyday durchbohren zu wollen. Er kümmerte sich nicht darum. Alles blendete er aus. Die Welt schrumpfte auf seine Kopfschmerzen, Hymes, Crow, dessen Tochter und die Bombe zusammen.
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Er verschränkte die Arme vor der Brust und mimte den Aufmerksamen. »... waren wir gerade dabei, Mr. Drax von der Wichtigkeit der Mission zu überzeugen.« Hymes lächelte ihm aufmunternd zu. »Vielleicht gelingt es Ihnen ja. Ohne den Commander als Piloten bleibt die Raumstation in unerreichbarer Ferne. Und das wäre doch mehr als traurig für uns alle, oder...?« Wie ein Grabmal ragte das Schwert aus dem Dünengras. Es steckte bis zur Hälfte im Sand. Vor ihm häufte sich ein Kleiderbündel: Fellmantel, Lederweste, Lendenschurz, Stiefel... Von dem Kleidergrab weg führten Abdrücke nackter Füße hinunter an den Strand und zur Brandung. Spuren von Frauenfüßen. »Sprich dich aus, Drax. Was gedenkst du zu tun?« Hollydays bohrende Fragen passten nicht zu diesem idyllischen Abend. Matthew wünschte den Mann ans andere Ende der Welt. In das Nest des Avtar auf dem Eiffelturm, oder auf den Sklavenmarkt von Plymeth. Vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit hatte Matt verlangt. Crow und Hymes hätten ihm auch zweiundsiebzig Stunden zugestanden. Der Strand lag schon im Zwielicht der Dämmerung. Das Rauschen der Brandung erinnerte an die Atemzüge einer schlafenden Wakudaherde. Wie warm der Wind aus dem Landesinneren blies! Wie sich das Dünengras unter seiner Berührung vor der hereinbrechenden Nacht verneigte! Und dann das Getschilpe der Möwen über der Brandung man hätte sich vergessen können! O ja, das wäre es gewesen: Alles vergessen diese fremdartige Welt, den Kometen, sich selbst. Am östlichen Horizont entfaltete sich der schwarze Schleier der Nacht; Stück für Stück verhüllte er den Himmel. Am südöstlichen Horizont, korrigierte ' sich Matt. Sein innerer Kompass hatte sich noch nicht auf die verschobene Erdachse eingestellt. Im Kopf hatte er die neuen Verhältnisse einsortiert. Aber sein Instinkt - oder war es einfach nur Gewohnheit? - suchte den Osten noch immer da, wo die Sonne sich morgens als erstes zeigte. Und im Nordwesten waberte ein rötlicher
Dunstschleier über dem Horizont. Die Konturen der Ruinen und der Bäume in den zerklüfteten Mauerkronen wirkten merkwürdig weich und idyllisch. »Ich hoffe, du machst dir nichts vor, Drax sie wollen die Macht, weiter nichts.« Hollyday schien all dies nicht zu sehen. Er saß neben Matt im Hang der Düne. Mit einem Messer spitzte er ein Stück Treibholz zu. »Ich hoffe, du hast dich nicht von dem Gelaber von Wiederaufbau und ihren ach so hehren Zielen beeindrucken lassen.« Der Running Man mit Daves Aussehen rutschte im Sand hin und her. »Sobald sie die Station unter Kontrolle haben und wissen, wie man dort hoch und wieder zurück kommt, glaub mir, lassen sie uns fallen wie abgenagte Knochen...« Matt, der sich zum Sonnenuntergang umgedreht hatte, schloss die Augen. Er versuchte sich das gewaltige Vehicle As-sembly Building vorzustellen, die Abschussrampen und die Massenversammlungen von Schaulustigen und Kamerateams hinter den Zäunen; und Larry King und das Emblem von CNN; und die gigantischen Rauchwolken im Augenblick des Starts, wie sie nach allen Seiten davon stoben; und wie sich schließlich die Trägerrakete aus dem weißen Dampf heraus in den Himmel hob wie der Phönix aus der Asche. Es gelang ihm allenfalls für Sekunden. Zu tief hatte sich das Bild der Ruinen und des allgegenwärtigen Gestrüpps eingebrannt. »Verdammt, Drax! Sag endlich was -morgen Abend wollen sie unsere Antwort wissen, Crow und der Präsident!« Der Präsident der vereinigten Trümmerhalden, dachte Matt. Er öffnete die Augen wieder und suchte die Wellen ab. Von Zeit zu Zeit tauchte ein Kopf im schaumigen Türkis auf. Dann atmete er jedes Mal auf. Aruulas Kopf. Sie war ziemlich weit hinaus geschwommen, obwohl er sie eindringlich vor den Sharga-toren gewarnt hatte. Aber die mutierten Mistviecher, halb Hai, halb Alligator schienen nur nachts zu jagen. Er hatte noch keinen zu Gesicht bekommen. »Was sollte die Aktion mit der Bombe, Hollyday?«, wollte Matt wissen. »Du Idiot hättest uns mit in den Tod gerissen!«
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Philipp Hollyday unterbrach seine Schnitzerei. Böse funkelte er den blonden Mann aus der Vergangenheit an. »Erstens: Sag >Dave< zu mir, wenn du nicht willst, dass ich auffliege. Und zweitens: Einen alten Kameraden nennt man nicht >IdiotMatt<, nicht >Drax<. Also - was war mit der Bombe?« Hollyday schüttelte den Kopf. »Ging nicht anders. Ich musste damit rechnen, dass die Crow mich enttarnt hat, damals, als die Running Men die Insel überfielen. Dieses Miststück hat mitgekriegt, was Mr. Black und ich beredet haben. Aber sie scheint es vergessen zu haben. Wohl durch den Schock, als das Riesenkrokodil sie fast zerfetzt hat. Ihr Vater und der Präsidenten waren jedenfalls ahnungslos, sonst hätten sie mich eingekerkert oder gleich hingerichtet.« Er schüttelte den Kopf. Matts Augen suchten die Wellen nach Dreiecken ab. Er war nervös. Was musste Aruula auch kurz vor der Dämmerung noch hinaus schwimmen! Eigensinniges Weib! »Deshalb also trägt Lynne Crow eine Prothese im rechten Ärmel«, murmelte er. »Was ist genau passiert?« McKenzie alias Hollyday erzählte die Geschichte vom Kampf um Cape Canaveral. »Sie lag im Koma, als man sie aus dem Tunnel holte. Ich hätte meine Stiefel gewettet, dass sie abkratzt.« »Und du meinst wirklich, dass sie deine wahre Identität vergessen hat?« Matt rieb sich das Kinn. »Genau - retrograde Amnesie. Sie kann sich an die letzten Minuten oder Stunden vor dem Schock nicht mehr erinnern.« Wieder schien der Astrophysiker aus dem Mann mit McKenzies Gesicht zu sprechen. »So eine Amnesie kann zeitlich begrenzt sein, Dave.« Matt sprach aus eigener Erfahrung. In Las Vegas hatte er eine Zeit lang auf der Seite der Schurken gestanden, weil er bei einem Sturz das Gedächtnis verlor. »Jedenfalls bin ich froh, dass du die verdammte Bombe in der Tasche
gelassen hast.« Er stand auf, weil er Aruula nicht mehr erkennen konnte. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass man kaum noch die Felsen von den Wogen unterscheiden konnte. »Was uns zur nächsten Frage bringt«, sagte Hollyday. »Fliegst du oder fliegst du nicht? Ich bin zwar als Wissenschaftsastronaut ausgebildet, aber fliegen kann ich die Kiste nicht.« Endlich tauchte Aruula zwischen den Wellen auf, ein dunkler Schatten ihr Haar und ihr Kopf, ein heller Fleck ihr Körper, wenn die Brandung ihn auf den Wellenkamm hob. Für kurze Zeit meinte Matt noch weitere Schatten rechts und links von ihr zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt vor. Doch schon verschwand Aruula wieder zwischen den Wellenbergen, und auch von den anderen Schatten war nichts mehr zu sehen. Unten am Strand patrouillierten WCA-Posten entlang der Brandung. Auch rechts und links des ehemaligen Weltraumbahnhofs bei dem von Bäumen niedergedrückten Zaun konnte Matt Patrouillen ausmachen. Alle zweihundert Meter stand ein Panzerfahrzeug vor dem Wald und der Dünenlandschaft. Crow und Hymes nahmen die Bedrohung durch die »Söhne des Himmels« ernst. Und das war auch gut so. Die Fanatiker würden lieber sterben als den vermeintlichen Götterwagen aufzugeben. »Wenn du >nein< sagst, Matt, dann vergessen wir die ISS und ich jag den Vogel in die Luft.« Hollyday fasste sich an die Stirn und stöhnte. »Verdammte Kopfschmerzen...!« »Den Teufel wirst du tun.« Endlich entdeckte Matt die Barbarin wieder. Keine dreihundert Meter vom Strand entfernt trieb sie rücklings auf den Wogen. Und nichts zeigte sich in ihrer Nähe, was an einen Shargator erinnerte. Gott sei Dank! »Den Teufel!« Hollyday machte eine begriffsstutzige Miene. »Wer ist das, der Teufel? Mac redet auch ständig von Typen wie >Gott< oder >Jesus<.« Matt musterte sein Gegenüber. Der starre Gesichtsausdruck, die flackernden Augen, seine Unruhe - der Mann machte ihm Sorgen. Matt bezweifelte, dass Hol-lydays Kampfgenossen ihm und ihrem Widerstandskampf einen
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Gefallen getan hatten, als sie ihm eine zweite Persönlichkeit einpflanzten. Früher oder später würde Hollyday daran zerbrechen. »Ver-giss es«, sagte er knapp. Und: »Ja, ich fliege. Vorher muss ich aber noch etliche Stunden am Simulator absolvieren. Auch wenn das Shuttle sich ähnlich wie ein Jet fliegt, ich bin nicht daran ausgebildet!« Ohne ihn und Hollyday - oder vielmehr die Fähigkeiten McKenzies in Hollyday - hätte der Weltrat einpacken können. Niemand aus dieser Zeitepoche verfügte noch über das nötige Wissen, eine Raumfähre in die Luft zu bringen oder gar an der Raumstation anzudocken. Mit Engelszungen hatte der Präsident daher auf sie beide eingeredet. Doch Matt war sich klar darüber, wie schwierig ein Flug zur ISS tatsächlich war, und wie viele Monate Vorbereitung man normalerweise dafür aufgewendet hätte. Das musste er jetzt in einem Crash-Kurs absolvieren. Als er mit Hollyday und Rorke zum ersten Mal hier gewesen war, angesichts des ShuttlePrototyps und der Daten, die aus dem Orbit von der ISS empfangen wurden, hatte er genau gewusst, dass er fliegen würde, wenn man ihm die Möglichkeit bot. Nur so konnte er herausfinden, was vor über fünfhundert Jahren nach dem Aufprall des Kometen mit der Erde geschehen war; die Observations-geräte der ISS mussten alles aufgezeichnet haben. Die üblen Erfahrungen mit dem Weltrat allerdings hatten ihn in dieser Hinsicht kritischer und vorsichtiger gemacht. Was immer man diesen Leuten an technischem Know-how verschaffte - sie würden es für die "Zementierung ihrer Macht missbrauchen. Das musste er verhindern. Die Daten der ISSComputer durften Victor Hymes nicht in die Hände fallen. »Du fliegst?« Hollyday nahm die FensterglasBrille ab und schnitt eine verblüffte Miene. Offenbar hatte er nicht mehr damit gerechnet. »Ja, ich fliege.« »Warum sagst du das nicht gleich? Stattdessen lässt du mich auf kleiner Flamme braten.« Da sprach eindeutig McKenzie. Auch die Geste, wie er den rechten Daumen in die
Höhe reckte, war ganz der alte Dave. Er setzte die Brille wieder auf. Merkwürdig, wie rasch seine Gemütszustände wechseln, dachte Matt. Laut sagte er: »Für dich wird es kein Zuckerschlecken. Der Geist McKenzies in deinem Kopf hat zwar eine Ausbildung als Astronaut absolviert, aber dein Körper ist der des Pales Phil Hollyday. Der war nie in einer Zentrifuge, den haben sie nie in einem hunddrtdreißig Kilo schweren Raumanzug in ein Schwimmbecken gekippt!« »Was ein Geist kann, kann auch der Körper, der ihn trägt«, antwortete Hollyday - oder doch eher Dave? - im Brustton der Überzeugung. »Ich fürchte, du wirst derjenige sein, der sich während des Starts in die Hosen pinkelt, Matthew Drax.« »Schon möglich. Weil ich die Risiken besser abschätzen kann.« Ganz Unrecht hatte Hollyday jedoch nicht: Mental auf die Mission vorbereitet zu sein war schon die halbe Miete. Und das war Hollyday, oder jedenfalls der Teil in ihm, der Dave McKenzie hieß. Er selbst hatte dagegen nie das langwierige Training für einen Raumflug absolviert. Unten am Strand stieg Aruula aus dem Wasser. Sie bückte sich und wrang ihr Haar aus. In der hereinbrechenden Nacht verschwamm ihre schlanke Gestalt mit der Brandung. Dennoch sah Matt, wie schön sie war. Seine Fantasie streichelte den dunklen Frauenschatten dort unten im Schaum der Brandung und ließ das Bild ihres Körpers in seinem Bewusstsein entstehen. Und im selben Augenblick wusste er, dass sie Probleme machen würde. Sie würde mitfliegen wollen. Und genau das war ausgeschlossen. Am besten, er brachte ihr das so schnell wie möglich bei. »Bei allen Göttern und Sumpfgeistern...«, stöhnte Hollyday neben ihm. »Was für ein herrliches Weib!« Er stierte der nackten Nymphe entgegen, die nackt über den Strand und den Dünenhang herauf kam. Die Kopfschmerzen schienen sich - buchstäblich in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. »Pass gut auf, Hollyday.« Abrupt fuhr Matt herum. »Diese Frau ist tabu für dich, klar?«
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Er wandte sich wieder ab und stapfte den Dünenhang hinab, Aruula entgegen. Als er ihr Schwert passierte, bückte er sich nach ihrem Fellmantel. »Keine Sorge, Drax«, rief ihm Hollyday hinterher. »Sei bloß nicht so empfindlich ! Mir schwirrt 'ne Frau im Kopf herum, die kann nicht mal deine Barbarin toppen!« Matt blieb stehen und sah sich nach Dave McKenzies Abziehbild um. »Matt!«, zischte er. »Merk dir das endlich!« Er betrachtete Hollydays verdutztes Gesicht und fragte sich, welche von den beiden Persönlichkeiten hinter dieser Stirn verliebt war. Dann ging er weiter Aruula entgegen. Auf halbem Weg begegneten sie sich. Wortlos breitete Matt den Mantel über Aruulas Schultern und hüllte sie ein. »Mir ist nicht kalt, Maddrax.« Sie drückte seine Arme weg und wollte das Fell wieder abstreifen. »Trotzdem«, beharrte Matt. »Ich will nicht, dass er dich so sieht.« Sie runzelte die Stirn, ließ es sich aber gefallen, dass er den Mantel um sie zusammenzog. »Manchmal bist du komisch, Maddrax.« Sie wies zum abendlichen Meer. »Dort wartet jemand auf dich.« »Im Wasser?« Matt war wie elektrisiert. »Wer?« »Leute, die dich für was Besonderes halten.« Aruula seufzte. »>Schick den Gesandten des Eisas zu uns<, haben sie gesagt. Sie sind zu dritt. Bei Wudan, bin ich erschrocken! Zuerst hielt ich sie für die Shargatoren, von denen du erzählt hast.« Sie ließ ihn stehen und stapfte weiter dünenaufwärts. Die »Söhne des Himmels«, dachte Matt. Er lief zur Wasserlinie. Was mochten die sektiererischen Nachkommen der Besatzung Cape Canaverals von ihm wollen? Er entledigte sich seiner Stiefel und seines Pilotenkombis. Eine Patrouille des Weltrats stapfte vor ihm durch den nassen Sand. Diskret blickten die beiden Posten zur Seite, als Matt in seiner Unterwäsche in die Brandung rannte und hinaus schwamm. Das Wasser war nicht halb so kalt, wie er erwartet hatte. Er kraulte einfach drauflos. Die
Sektierer würden ihn sicher beobachtet haben und abpassen. In einer Wellenfurche tauchten sie auf. Erst ein schmalgesichtiger Bursche, dem lange Haarsträhnen im Gesicht klebten, dann kurz nacheinander die anderen beiden. »Heil dir, Gesandter Eisas'!«, prustete einer der nackten Männer. »Unser Kommanda schickt uns. Sind der Shat-El oder einer der Gottgesandten in Gefahr? Wir sind bereit zur großen Schlacht gegen die Ungläubigen.« »Es ist alles so, wie Eisas es wünscht«, entgegnete Matt. Zu viert hob die Brandung sie auf den Wellenkamm. »Sagt das dem Kommanda. Die Ungläubigen dienen uns und dem Götterwagen. Keiner muss sein Blut vergießen.« Sie glitten hinab in ein Wellental und sofort wieder hinauf auf die nächste Woge. Die Nacht kroch schon über die Dünen. Es wurde höchste Zeit, von hier zu verschwinden. »Bald werden wir Shat-El hinauf zu Eisas lenken, ich und der Gesandte Dave McKenzie. Richtet dem Kommanda aus, dass sich die Prophezeiung erfüllt...« * ISS, 20. Dezember 2011 Das Schott schloss sich hinter ihr, fast geräuschlos, nur ein sanftes Summen tönte wie von weit her. Ein alltägliches Geräusch auf der Internationalen Raumstation; keiner hörte es mehr bewusst. Die Tür schob sich zusammen. Jetzt war sie allein. Allein im Labormodul Columbia. Sonnenlicht glitzerte im Sichtfenster. Die Sonne stand im schwarzen All, und zwei Finger breit neben ihr sah Marsha Hunt einen Teil der Erde. Eine rötlich schimmernde Sichel flimmerte über dem Horizont. Auf dem größten Teil des blauen Planeten aber lag schon - der schwarze Schleier der Nacht. Einmal mehr an diesem Tag ging die Sonne unter. Die Arbeit war schnell erledigt: Durchchecken der Kommunikationsanlagen, des Bordfunks, des externen Funks, der Satellitenempfänger, der Verbindung zu Hubble II und zum Mondobservatorium, und so weiter. Reine Routine für die Nachrichtentechnikerin.
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Alle fünfzig Stunden drehten sie oder Taro Yakumori eine Inspektionsrunde durch sämtliche Module. Yakumori war Spezialist für Kommunikations-Elektronik und Bio-Informatik. Sie tat also nichts als ihren gewöhnlichen Job. Und niemand an Bord würde Verdacht schöpfen, weil sie sich im Labormodul aufhielt. Captain Marsha Hunt öffnete den Klettverschluss ihrer Hosenbeintasche und holte ein Kästchen heraus, Schwarz und daumennagelgroß. Ihr Blick fiel auf die Monitore auf der Wandkonsole. Im Transhab-Modul standen drei Männer um den Bildschirm des Satellitenfernsehers herum. Louis Tau rentbeque, Anatol Ragojew und Hagen Winter, dieses Ekelpaket. Wahrscheinlich verfolgten sie die Nachrichten. Jeder an Bord hing zurzeit vor der Glotze, wann immer es die Arbeit erlaubte. Geradezu süchtig sogen sie die verheerenden Bilder und die unheilschwangeren Nachrichten von der Erde auf. Bilder einer entfesselten Menschheit, Nachrichten von einer Welt im Katastrophenfieber. Auf einem zweiten Monitor sah Marsha ihren Geliebten vor der Hauptkonsole sitzen. Sean... Wie edel er aussah mit seinem scharfgeschnittenen Gesicht und dem vollen grauen Haar, mit seinen sinnlichen Lippen und seinem geraden Rücken. Gott, wie sie ihn verehrte...! Auch er hielt sich im amerikanischen Transhab-Modul auf. Auf dem Bildschirm vor ihm erkannte Marsha ein Mädchengesicht. Sean Bernstein sprach mit seinen Kindern. Ein weiterer Monitor erlaubte Einblick ins Zwezda-Modul. Nur gedämpftes Licht erhellte dort den Wohnbereich. Sergej Jarnyszin war dennoch zu erkennen. Er absolvierte sein tägliches Muskeltraining auf dem Fahrrad. Nur eine der drei teilweise sichtbaren Schlafmulden war zugezogen. Dahinter vermutete Marsha ihren japanischen Kollegen Taro Yakumori. In sieben Stunden würde er sie ablösen. Den zweiten Japaner entdeckte sie auf einem der beiden Monitore, über die man ins Innere der Zentrifuge blicken konnte. Oshi Domoto
joggte über die Innenwand des sich drehenden Raumes. Die Drehung erzeugte Schwerkraft. Die Besatzung nutzte die Zentrifuge weniger zum Training der Beinmuskulatur als viel mehr zur Vorbereitung auf die Stunden nach der Landung. Und zu Experimenten natürlich. Seltsam - Oshi Domoto und sein Team würden planmäßig erst im April zur Erde zurückfliegen. Warum also das Schwerkrafttraining? Marsha schüttelte verwundert den Kopf und wandte sich dem Elektronenmikroskop zu. Mit dem Kombischlüssel öffnete sie eine Verblendung im Sockel des Geräts und danach das schwarze Kästchen in ihrer Hand. Das Mikrophon darin war scheibenförmig und nicht größer als ein Reiskorn. Marsha klebte es an die Innenseite der Verblendung. Aus der Brusttasche ihrer orangenen Borduniform zog sie einen Palmtop. Ein paar Tastenkombinationen, ein Check-up der Frequenz, und schon war die Sache erledigt. Sie verschraubte die Blende wieder mit dem Mikroskopsockel und verließ das Labormodul. Jedes Wort, das man hier sprach, würde sie künftig mithören. Sie und Sean. Über den Verbindungstunnel hangelte sie sich hinunter ins Transhab-Modul. Louis Taurentbeque und Hagen Winter trafen sich oft im Columbus-Modul. Öfter als der Forschungsplan vorsah. Eine Gewohnheit, die sie seit jenem verhängnisvollen 7. Dezember pflegten. Und in letzter Zeit sah man auch den Kommandanten häufiger bei ihnen, Anatol Ragojew. Obwohl Ragojew kein Wissenschaftler war und eigentlich nichts im Labor verloren hatte. Sie heckten etwas aus, ohne Zweifel. Marsha und Sean wollten wissen, was das war. Statt der glatten Metallbeschichtung des Führungsholms griff ihre Hand in etwas Samtenes, Feuchtes. Marsha stutzte. Sie hielt die Hand vor Augen und betrachtete die milchkaffeefarbene Haut. In den Linien des Handtellers und in den Gelenkfalten ihrer Finger hingen schwärzliche Brösel. Einige lösten sich und schwebten in der ursprünglichen Bewegungsrichtung der Hand weiter. Einer landete auf Marshas Zunge. Ein leicht modriger und deutlich süßlicher Geschmack breitete sich
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in ihrem Mund aus. Sie roch an ihrer Hand. Woher bloß kannte sie den süßlichen Geruch? Marsha zog sich näher an den Geländerholm und betrachtete ihn. Eine schwarzgrüne Schicht überzog ihn zu beiden Seiten der Schellen, mit denen der Führungsholm an der Tunnelwand befestigt war. Das musste ein Pilz sein, ganz bestimmt. Aber wie hatte er den Weg aus den Brutkästen gefunden? Ich muss es den anderen erzählen. Sie hangelte sich weiter Richtung Schott. Nein, zuerst erzähle ich es nur Sean... Keine zwei Minuten später schloss sich das Schott hinter ihr. Stimmen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, erfüllten das Modul: der raue Bariton des Kommentators von CNN und die Mickymaus-Stimme von Mary Bernstein, Scans jüngster Tochter. »Ich vermiss dich so, Daddy«, krähte sie. »Ich freu mich, wenn du endlich wieder zu Hause bist! Ich freu mich, ich freu mich, ich freu mich...« Marsha kannte Mary. Auch Anne und Kevin kannte sie. Und Seans Eltern selbstverständlich. Das Paar erzog die drei Halbwaisen. Marsha Hunt gehörte schon fast zur Familie bei den Bernsteins. Für den 7. März 2012 war die Hochzeit geplant. Eine Feuerkugel mit ausgefranstem und weit gefächerten Schwanz schimmerte auf dem Bildschirm. Schon vom Schott aus erkannte Marsha das vertraute Bild: Der Komet in der Dunkelheit des Alls, aufgenommen von einer Raumsonde in seiner relativen Nähe. Ein Kloß schwoll in Marshas Hals.
»Natürlich, Kevin«, hörte sie Sean sagen. »Bis dahin ist der medizinische Check-up gelaufen.« »Aber die Schwerkraft, Dad - reichen dir zwei Tage, um dich an die Schwerkraft zu gewöhnen? Das letzte Mal hast du...« Die Stimme des Kommentators überlagerte die des Jungen. Marsha konzentrierte sich auf die Nachrichten. »... allein auf dem Los Angeles International Aiport landeten in den letzten vier Tagen achtzehntausend Flüchtlinge, vorwiegend aus Mittel- und Osteuropa, wo Experten mit den größten Schäden eines mutmaßlichen Kometeneinschlags rechnen. In den gesamten Vereinigten Staaten werden bis zum Jahreswechsel insgesamt zwölf Millionen Flüchtlinge zu verkraften sein...« Kolonnen von Bussen, Taxen, Armeetransportern und Trucks zogen über den Bildschirm. Menschen drängten sich hinter den Fenstern der Busse, an den offenen Heckplanen der Transporter und auf den Ladeflächen der Trucks. Menschen säumten die Fahrbahnränder der Highways, auf denen die Flüchtlinge von Los Angeles ins kalifornische Landesinnere transportiert wurden. Nur wenige winkten. Die meisten standen reglos. Die Kamera fing Gesichter ein, zornig einige, apathisch andere, die meisten gleichgültig. Bildwechsel eine aufgebrachte Menschenmenge stürmte eine Flughalle. Angehörige der Nationalgarde stellten sich ihnen in den Weg, schössen mit Tränengas und Hartgummigeschossen. Aufständische stürmen Flughalle des Internationalen Flughafens von Denver, verkündete die Titelzeile unter dem CNN-Em-blem, und auf dem Nachrichtenlaufband darunter las Marsha: 27 Tote und über 300 Verletzte bei Protesten und Ausschreitungen gegen europäische Flüchtlinge auf den Flughäfen von Cleveland und Kansas City... »Sie fliehen vor dem Einschlag und der Druckwelle, um Tage und Wochen später an Hunger oder Seuchen zu sterben.« Taurent beques Stimme klang emotionslos wie meist. »Oder im Feuerorkan, oder in einer Flutwelle«, ergänzte Ragojew bitter. »Oder ein bisschen später bei einer neuen Eiszeit.«
* 7. März 2012... Manchmal erschien ihr der Tag so unerreichbar wie der Pluto. Der Komet hatte sich wie ein Keil zwischen sie und ihre Zukunft geschoben. Entlang der Haltegriffe zog sie sich zu den Kollegen, die sich um das Fernsehgerät versammelt hatten. Keiner sah sich nach ihr um. »Noch zwei Tage, Dad, dann startet Atlantis.« Ein Blondschopf war auf dem Monitor, vor dem Sean saß, aufgetaucht: Kevin Bernstein, Seans vierzehnjähriger Sohn. »Wirst du denn Weihnachten mit uns feiern?«
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Wieder Bildwechsel: Jetzt sah man Menschen auf den Straßen Manhattans. Frauen und Männer, junge und alte, Schwarze und Weiße. Sie warfen Steine und Brandsätze gegen Formationen heranrückender Nationalgardisten und Polizisten. Bildwechsel: M-2-Panzer rollten über dem Broadway. Bildwechsel: Wasserwerfer trieben die Massen vor dem Campus der Columbia University und Bildwechsel - dem Grand Central Terminal auseinander. Proteste gegen heimlichen Bunkerbau der Regierung, verkündete die Titelzeile. »In den Vereinigten Staaten hat der zweite Bürgerkrieg begonnen«, sagte Taurentbeque. »Der dritte«, korrigierte Hagen Winter. »Du vergisst die Religionskriege.« »Das war kein Bürgerkrieg«, behauptete Ragojew. Unter anderen Umständen hätte Marsha ihm widersprochen. Allein aus ihrer großen Familie und ihrem noch größeren Bekanntenkreis waren zwischen 2004 und 2007 neun Menschen in den Wirren der Religionskriege ums Leben gekommen. Alles US-Amerikaner. Drei von ihnen hatten auf Seiten der Fanatiker agiert. Doch Marsha verzichtete darauf, Ragojews Bemerkung zu kommentieren. Seit Wochen sprachen sie nur noch das Nötigste miteinander. Organisatorisches zumeist. Die Wissenschaftsastronauten verbarrikadierten sich häufig hinter Fachsimpeleien und begeisterten sich an ihren Experimenten mit den Pilzen. Gesprächsstoff gab es reichlich. Marsha wusste, dass es Taurentbeque, Jarnyszin und den Japanern gelungen war, den Geosiphon dazu zu bringen, erstaunliche Mengen Sauerstoff und Stickstoff zu produzieren. Zurzeit brüteten sie über unbekannten Eiweißverbindungen - Neben produkte des gesteigerten Pilzstoffwechsels. Austausch von Mensch zu Mensch erlebte Marsha seit jenem Tag, an dem Winter und Taurentbeque die Masken fallen gelassen hatten, nur in den wenigen Stunden, in denen sie und Comman-der Bernstein es schafften, allein zu sein. Sie nahm an, dass auch die anderen vertraulich miteinander sprachen, wenn
sie unter sich waren. Zumindest der Franzose und der Deutsche. Und vielleicht noch der neue Kommandant, der sich dem Duo in den letzten Wochen mehr und mehr angenähert hatte. Nur wenn sie den Fernseher einschalteten und gemeinsam Nachrichten sahen, entstand für Augenblicke ein An-flug von Solidarität, sogar so etwas wie Harmonie. Die Solidarität des Untergangs, die Harmonie des Schreckens. Bilder zogen über den Bildschirm: Staatsmänner, die abwiegelnde Statements verlasen; Kolonnen von Armee-Einheiten, die Flüchtlingsströme eskortierten oder Großstadtzentren abriegelten; Computeranimationen über den Einschlag von »Christopher-Floyd«; mögliche Katastrophenszenerien in den Monaten danach; die Atlantis II startklar in einem Hangar auf Cape Canaveral; Deserteure der US-Army vor einem Kriegsgericht, und so weiter. Wie rasch man sich an die Bilder gewöhnte. Die Menschen, Zahlen, Panzer, Flugzeuge, Computergrafiken verschwammen vor Marshas Augen. Seltsam leicht fühlte sich ihr Gehirn an. Wie eine Feder, die unter ihrer Schädeldecke schwebte. Als hätte die Schwerelosigkeit in der Raumstation auf einmal eine neue Qualität gewonnen. Was ist mit mir los?, fragte sie sich. Sie dachte an die Raumfahrerkrankheit. Sollten sich die Symptome noch einmal bei ihr melden? Nach so vielen Wochen im All? Ausgeschlossen! Marsha kniff die Lider zusammen. Und öffnete sie wieder. Jetzt sah sie das Bild auf dem Monitor klar und deutlich. Ein Mann mit blondem Pferdeschwanz und Glubschaugen saß hinter einem Gestrüpp von Mikrophonen. Er redete von Ruhe und Ordnung, von Wasser und Nahrungsvorräten, die man sich in Kellern anlegen sollte. Und er gestikulierte heftig, während er sprach. Die Titelleiste von CNN stellte ihn als Chef der Astronomie Division der US Air Force vor. Auch seinen Namen konnte Marsha auf der Leiste lesen: Professor Dr. Jacob Smythe. Sie drehte sich um, stieß sich ab und schwebte zu Scan Bernstein an der Kommunikationskonsole. Jesus! Wie leicht sie
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sich fühlte! Und wie die Feder in ihrem Hirn sie kitzelte. Unwillkürlich musste sie lachen. Sie landete neben Sean und hielt sich an seiner Schulter fest. Auf dem Monitor sah Marsha kein vertrautes Kindergesicht mehr. Nur das Gewusel im Kontrollzentrum von Houston. Doch Sean sprach mit niemandem dort unten. Er starrte die Countdown-Anzeige über dem unteren Bildrand an. 43:12:55 hours war dort zu lesen. Die Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Start von Atlantis II. »Wie geht es deiner Familie?« Marsha hakte sich bei ihm unter. Sie spielten schon lange kein Theater mehr. Jeder wusste inzwischen, was sich zwischen ihnen abspielte. Dass die NASA sie be-wusst als Paar auf die Mission geschickt hatte, hatten die anderen auch herausgefunden. Und so, wie Taurentbeque sie manchmal von der Seite musterte, ahnte er wahrscheinlich längst, dass sie schwanger war. »Wie soll es ihnen gehen?« Sean zuckte mit den Schultern. »Sie haben Angst wie alle, sie machen sich Sorgen wie alle. Und sie sehnen den Tag herbei, an dem ich wieder bei ihnen bin.« Er neigte den Kopf und runzelte die Stirn. »Und wie geht es dir?« An ihm vorbei blickte Marsha zu den anderen. Die drei Astronauten konzentrierten sich auf die Fernsehbilder. Marsha sah ihrem Partner in die Augen und deutete auf die Brusttasche ihrer Uniformbluse. Der Palmtop zeichnete sich unter dem Stoff ab. »Okay«, murmelte der grauhaarige Mann. Noch immer studierte er ihr Gesicht, und noch immer wirkte er irgendwie besorgt. »Was ist los mit dir, Marsha?« »Warum fragst du?« Sie strich sich über die Stirn. »Ich fühl mich komisch. Nicht schlecht eigentlich, aber komisch. Sieht man mir etwas an?« Bernstein nickte. »Deine Pupillen sind unnatürlich groß.« Dieser eine Satz reichte: Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Zuerst sah sie das schwarze Gesicht ihres Dads, dann hörte sie seine strenge Stimme: Warum hast du so große Pupillen, Marsha Hunt? Siebzehn Jahre alt war sie damals gewesen und gerade von einer ihrer ersten wilden Parties zurückgekehrt.
Plötzlich hatte sie wieder den Geruch und den Geschmack des Pilzes auf der Zunge. Und plötzlich wusste sie, woher sie Geruch und Geschmack kannte... * ISS, 21. Dezember 2011 Sie saßen im Zarya-Modul vor einer Wand voller Kontrollinstrumente. Keiner von beiden kümmerte sich um die Anzeigen der Steuerelemente. An dem Tank, der das Modul zur Hälfte ausfüllte, summte die Stickstoffpumpe. Doch auch das registrierten sie nicht: Das Gespräch im Labormodul fesselte ihre Aufmerksamkeit. Taurentbeque, Winter, Domoto und Ragojew hielten sich dort auf. Marsha drückte den integrierten Lautsprecher des Palmtops gegen ihr Ohr, Scan Bernstein hatte sich einen Kopfhörer in die Ohrmuschel gestöpselt. Ein dünnes Kabel verband ihn mit Marshas Minicomputer. Sie lauschten konzentriert. Die Wanze im Mikroskopsockel übertrug jedes Wort, das im Columbus-Modul gesprochen wurde. Es waren keine sonderlich verfänglichen Dinge - zunächst jedenfalls nicht. Die drei Wissenschaftler führten einen Fachdiskurs, und Ragojew, der Kommandant schwieg und hörte zu. Es ging um den Pilz. Besser als erwartet, hatte der Geosiphon das Somatotropin - das Wachstumshormon - in seinen Gencode integriert. Tag für Tag verdoppelte er sich praktisch und produzierte dabei erstaunliche Mengen an Sauerstoff- und Stickstoff molekülen. Ein Ergebnis, über das sich Bernstein unter anderen Umständen gefreut hätte. »Es ist eindeutig ein körpereigenes Cannabinoid«, hörten sie Domoto sagen. Er sprach von dem bislang nicht eindeutig identifizierten Eiweiß. »Ein Cannabinoid?« Die kühle Stimme des deutschen Astrophysikers. »Das klingt ein bisschen wie Haschisch. Erklär mir, was genau das ist.« Scan Bernstein und Marsha Hunt wechselten einen Blick. Seit Marsha die Nebenwirkung des Pilzes am eigenen Leib erfahren hatte, wussten
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sie Bescheid. »Ein Wirkstoff der Cannabispflanze«, sagte der Japaner. »Es klingt also nicht nur so. Die meisten Menschen wissen nicht, dass ihr Körper solche Substanzen als Neurotransmitter produziert.« Domotos hölzernes Englisch war nur unwesentlich eleganter geworden, seit Marsha ihn vor zwei Jahren zum ersten Mal in Cape Canaveral getroffen hatte. »In der Medizin nennt man sie nach dem SanskritBegriff für Glückseligkeit >Anandamide<. Sie übertragen Nervenreize entgegen der Hauptverkehrsrichtung in den hirnnahen Nervenzellen.« Meistens sprach Domoto nicht mehr als drei oder vier Worte-am Stück. Sobald es jedoch um seine Arbeit ging, verwandelte er sich in einen wahren Prediger. »Und wie kommt dieses Zeug in den Pilz?«, wollte Louis Taurentbeque wissen. »Vermutlich mit dem Wachstumshormon; eine Verunreinigung, schätze ich.« »Eine Panne mit einem interessanten Nebenergebnis«, schaltete Winter sich ein. »Unser kleiner Freund hat sich also nicht nur zum Sauerstoffspender, sondern auch zu einer brauchbaren Droge entwickelt.« »Das wäre noch zu beweisen«, sagte Domoto. »Und wenn wir das sicher wissen, sollten wir uns schleunigst nach den Zutaten für ein Gegenmittel umsehen. Für alle Fälle...« So ging das eine Zeitlang hin und her. Bis der japanische Mediziner das Laboratorium verließ, um neue Pilzkulturen aus dem Kibo-Modul zu holen. Mit deutlich gesenkten Stimmen sprachen die anderen weiter. Ein völlig neues Gespräch war es, was sie da führten. »Morgen startet Atlantis II. Vier Astronauten wollen das amerikanische Team ablösen. Wir müssen verhindern, dass das Shuttle andockt. Unsere Lebensmittel- und Energievorräte reichen nicht für zwölf Leute. Jedenfalls nicht über längere Zeit.« »Wieso? Bernstein und die Schwarze wollen doch sowieso zurück zur Erde. Im Shuttle ist Platz für sieben Leute. Mit Bernstein und der Frau schicken wir einfach die gesamte neue Crew zurück.« Die Männer im Labormodul sprachen so leise und hektisch, dass Sean und Marsha kaum noch
ihre Stimmen voneinander unterscheiden konnten. »Wir müssen sie andocken lassen.« Das war eindeutig der sonore Bariton Tau-rentbeques. »Wir brauchen die Atlantis II. Nicht nur ihre Energie- und Proviantvorräte.« »Wozu brauchen wir das ganze Shuttle?« Am harten Akzent erkannte Marsha den Russen. »Einmal wegen des Wassers und der Nahrungsmittel in seiner Ladebucht. Vor allem aber, weil wir mit der Rettungsfähre den Mond niemals erreichen können. Nur die Atlantis II lässt sich auf einen solch relativ komplizierten Kurs programmieren. Mit der Rettungsfähre kannst du nur zurück an einen zufälligen Ort er Erde fliegen, und Punkt...« »Zum Mond! Seid ihr übergeschnappt?« »Nein, Anatol, du hast richtig gehört.« Wieder erkannten sie die Stimme des Franzosen. Er schien eindeutig der Kopf der Meuterei zu sein. »Wir werden das Shuttle zum Mond fliegen.« »Warum zum Mond, bei allen Heiligen der russischen Kirche?!« »Noch einmal zum Mitschreiben, Anatol: In etwa sechs Wochen schlägt >Chris-topherFloyd< ein. Wenn du danach durch dieses Fenster blickst, wirst du vergeblich nach einem blauen Planeten suchen. Du wirst eine schwarzgraue Scheibe sehen. Egal ob die Sonne sie bescheint oder nicht - schwarzgrau. Der Komet wird unsere Erde in eine Hölle verwan deln, vielleicht sogar zertrümmern. Schlimmstenfalls wird es keine Überlebenden geben, bestenfalls ein paar Millionen. Wir müssen versuchen, wenigstens eine Keimzelle der zivilisierten Menschheit zu erhalten. Wir haben die verdammte Pflicht zu überleben...« »Dieser Heuchler!«, rief Bernstein. »Ich fürchte, er glaubt was er sagt.« Marsha seufzte. Sie konzentrierten sich wieder auf die Stimme in Lautsprecher und Ohrstöpsel, auf die Stimme Louis Taurentbeques. »Wir haben alles durchgerechnet: Die potentielle Sauerstoffund Stickstoff produktion, die Energiebilanz auf der Basis der vorhandenen Sonnenkollektoren-Fläche, die Nahrungsmittel und die Kapazität der Nahrungsmittelproduktion.
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Zu dritt könnten wir jahrelang durchhalten. Vielleicht Jahrzehnte...« »Aber warum auf der Mondstation? Warum nicht hier?« Der Russe wurde lauter. »Bleib cool«, zischte Hagen Winter. »Schau her, Anatol!« Unheimlich war die Ruhe in Taurentbeques Stimme. »Erstens: die Muskelatrophie würde uns auf Dauer lebensunfähig machen. Auf dem Mond herrscht wenigstens eine geringe Schwerkraft. Zweitens: Die Elektrolyseanlage der ISS ist störanfällig. Wir brauchen aber einen Oxygenium-Synthesizer, wir sind auf den Kreislauf von Wasser- und Sauerstoffproduktion angewiesen. Die viel modernere Anlage auf der Mondstation arbeitet seit zwei Jahren fehlerfrei...« »Und woher kriegen wir den Stickstoff?«, unterbrach der Russe. »Unsere Pilze produzieren bald genug davon. Etwas können wir auch aus dem ISS-Tank abfüllen. Wir brauchen vorläufig nicht viel, du weißt doch, wie stabil das Gas ist. Drittens: Auf der Mondstation gibt es zwei Gewächshäuser, klein zwar, aber ausbaufähig, und mit dem Geo siphon haben wir gute Chancen...« Marsha und Sean sahen sich an. »Was sollen wir tun?«, fragte Marsha. »Sie einfach machen lassen?« »Niemals. Kannst du nicht rechnen? Die Atlantis II dockt mit vier Mann Besatzung an. Wir sind zu acht. Wenn Taurentbeque, Winter und Ragojew ihre wahnwitzige Idee verwirklichen, bleiben neun Astronauten zurück. Die Rettungsfähre aber fasst nur sieben Mann Besatzung. Was geschieht mit den restlichen beiden?« Marshas Nackenhaare richteten sich auf. Sie schluckte trocken. »Sie werden hierbleiben müssen.« Ihre Stimme klang plötzlich belegt. »Und Taurentbeque und die anderen beiden werden ihnen kaum Vorräte zurücklassen.« »Korrekt.« Scan Bernsteins Gesicht wirkte noch kantiger als sonst. Und blasser. »Du siehst selbst: Der Kampf ist unvermeidlich. Diese Deserteure dürfen nicht...« »Psst...« Marsha hob die Hand. Sie lauschten wieder. Nur noch zwei Stimmen hörte man im Labormodul miteinander tuscheln: Taurent beques und Winters. Die anderen beiden
schienen das Modul verlassen zu haben. Der Deutsche und der Franzose hatten wieder den konspirativen Tonfall angeschlagen. »War es wirklich nötig ihn einzuweihen?«, sagte Winter. »Ja. Ohne seine Hilfe können wir die anderen nicht zwingen, die Rettungsfähre zu benutzen. Und vergiss nicht: Wir haben zwei Leute zu viel an Bord. Irgendwann kommt es zur Eskalation.« »Und irgendwann merkt Ragojew, dass der dritte Platz nicht für ihn bestimmt ist. Was dann?« »Was schon?«, hörten sie die gleichmütige Stimme des Franzosen fragen. »Wir werden bald eine Situation erleben, in der ein einzelnes Menschenleben nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, Herr Kollege...« * Cape Canaveral, Anfang Dezember 2517 Aruula fuhr hoch. Im Schein der Öllampe sah Matt die steile Falte zwischen ihren Brauen und den feuchten Schimmer auf ihrer Stirn und ihren nackten Schultern. »Du willst was?« Genau sp hatte er sich ihre Reaktion vorgestellt. »Ich will mit dem Shuttle hinauf zur Raumstation.« Sie hatten sich geliebt. Die friedliche Stimmung hinterher, das Glück und die Schwere im Kopf und in den Gliedern -Matt schien das die richtige Gelegenheit zu sein, Aruula reinen Wein einzuschenken. »Phil Hollyday und ich werden fliegen.« Nun gut, wahrscheinlich gab es für diese Art von Offenbarung keine günstige Gelegenheit. Aruula deutete zur Decke ihres gemeinsamen Schlafraums. »Du willst tatsächlich hinauf zu Wudan...? Mit einem Eisenvogel? Du bist... verrückt!« Von einem Shuttle hatte sie eine hinreichend konkrete Vorstellung nach all den Erfahrungen mit Fluggeräten, die sie an der Seite eines AirForce-Piloten notgedrungen hatte sammeln müssen. Trotzdem war ihr Glaube an ein Götterreich außerhalb der Erde stärker. Matt hatte vergeblich versucht, ihr anschaulich zu machen, was eine Raumstation im Orbit war.
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»Niemand kann da hoch fliegen, Mad-drax«, flüsterte -sie. »Die Sonne würde ihn verbrennen. Dort oben herrscht Wudan über sein Götterheer. Er wird es nicht zulassen.« Matt seufzte. Aber er wagte es nicht, Aruulas Glauben in Frage zu stellen. »Wenn Wudan etwas gegen einen Flug ins Weltall hätte, wäre die Raumstation niemals erbaut worden. Trotzdem existiert sie, und keinen ihrer Erbauer hat die Sonne verbrannt.« Sie schwieg eine Zeit lang und dachte über das nach, was er gesagt hatte. Schließlich griff sie nach seiner Rechten. »Tu das nicht, Maddrax - ich bitte dich!« Mit beiden Händen drückte sie seine Rechte gegen ihre Brüste. »Ich will nicht, dass du fliegst.« »Ich muss es tun. Versteh doch...« Er sprach von den Daten über den Kometeneinschlag, er sprach von den technischen Ressourcen in der ISS, er sprach von der Notwendigkeit, dem Weltrat zuvor zu kommen. »Du machst dich zu ihrem Werkzeug«, sagte Aruula. »Merkst du nicht, dass sie deine Fähigkeiten ausnutzen? Solltest du je gesund zurückkommen, hast du schnell ausgedient.« Matt ließ sich aufs Lager zurückfallen. Er verschränkte die Arme über der Brust und blickte hinauf ins Halbdunkle. Die Öllampe warf zitternde Schatten an die Betondecke. Schatten, die sich in Vorboten von Unglück und Verderben verwandeln würden, überließe man sich ihnen. Matthew Drax schüttelte den Eindruck ab. Er war Soldat. Er war Air-ForcePilot. Er musste rational denken. »Und selbst wenn - ich würde trotzdem fliegen.« Aruula riss die Decke von ihm und setzte sich auf seine nackte Brust. »Sei kein Narr, Maddrax! Denk an die feinen Menschen aus den Communities in Brita-na! Denk an Leonard Gabriel und Queen Victoria! Wenn die Welt wieder so werden soll, wie du es dir erträumst, dann müssen wir solche Menschen unterstützen und nicht undurchsichtige Magier wie Hymes und Arthur! Wir müssen den Communities das Geheimnis des Serums bringen, mit dem sie sich ohne Schutzanzüge ins Freie wagen können! Das ist wichtiger, als hinauf zu Wudan zu fliegen!« Matt musste lachen. Sie hatte Angst um ihn,
weiter nichts. »Ich fliege nicht zu Wudan, ich fliege zur Internationalen Raumstation.« Er zog ihren Kopf zu sich hinunter und küsste sie. »Und die Technos in den britanischen Bunkern werden dankbar sein für die Schätze, die dort oben auf mich warten.« Aruula gab nicht auf. »Hast du vergessen, dass Arthur mit den Nordmännern zu tun hat?« Matts Gesicht verdüsterte sich. 0 nein, das hatte er nicht vergessen! Der Nordmann in Crows Räumen! Der Militärchef des Weltrats im freundschaftlichen Plausch mit einem Vertreter der grausamsten Rasse, die Matt kennengelernt hatte, seit er in dieser trostlosen Zukunft weilte! Wie hätte Matthew Drax das vergessen sollen? Trotz allem: »Ich werde fliegen. Finde dich damit ab.« Der Diskussion müde, zog er sich das Fell über die Schulter und drehte sich zur Wand. Er musste zur ISS und basta. Lange Zeit blieb sie stumm. Aber er spürte, dass sie genauso wenig schlafen konnte wie er. »Gut«, sagte sie irgendwann. »Dann werde ich mit dir fliegen.« Er hatte es geahnt! »Für dich ist es viel zu gefährlich, Aruu-la. Das kann ich nicht verantworten.« »Wenn du fliegst, musst du es verantworten. Ich fliege mit. Und wenn ich umkomme, wirst du Schuld sein...« Barbarische Logik. Matt ahnte, dass er diese Nacht kein Auge würde zumachen können... * ISS, 22. Dezember 2011 Bernstein fand keinen Schlaf. Er wuss-te, dass er handeln musste. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass die Atlantis II in die Hände von Taurentbeque und Winter fiel. Als Offizier der US Air Force nicht, und als Mensch nicht. Er wollte zur Erde zurück. Noch einmal nach Hause; noch einmal seine Kinder und Eltern sehen; noch einmal mit Marsha in einem normalen Bett liegen. Und vielleicht doch überleben, vielleicht doch einen Weg finden, sich und die Kinder zu retten. Und dem Ungeborenen, das sie hier oben im All gezeugt hatten, eine Lebensmöglichkeit schaffen.
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Festgegurtet in einen Schlafsack schwebte er in seiner Schlaf mulde. Seine Verstand wühlte sich durch Bilder, Sehnsüchte und widerstreitende Empfindungen, und endlich, nach Stunden gelang es ihm, sich aus dem Strudel seiner Grübeleien heraus zu arbeiten. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte. Glasklar stand es ihm vor Augen. Zuerst musste ein Funkspruch an Houston abgesetzt werden. Möglichst unbemerkt von den anderen. Die Besatzung von Atlantis II musste gewarnt werden. Unbedingt. Bernstein hielt das Handgelenk mit der Uhr vor seine Augen und knipste die Beleuchtung des Zifferblatts ein: 0:34 Uhr Central Time. Die Uhren auf der ISS richteten sich nach denen in Houston, Texas. In Cape Canaveral, Florida war es demnach 1:34 Uhr. Kurz nach Sonnenaufgang, um 6:15 Uhr Central Time lief der Countdown ab. In weniger als sechs Stunden also würde Atlantis II starten. Und dann musste er Taurentbeque ausschalten. Irgendwie. Der Franzose war der Spiritus rector der Meuterei. Der durchgeknallte Plan, die menschenverachtenden Berechnungen - alles Ergüsse seines kranken Hirns. Notfalls würde er ihn töten. Ja, es gab keinen anderen Weg - der Franzose musste weg. Aber wie? Vielleicht im Schlaf. Ich könnte ihm eine Überdosis Schmerzmittel spritzen. Oder Insulin! Haben wir nicht Insulin an Bord? Oder sollte er zuerst versuchen, den Russen auszuschalten? Immerhin verfügte er über die Pistole. Ja, sie mussten die Waffe und die Munition zurückerobern. Marsha ist eine mutige Frau. Und sie kann kämpfen. Mit ihr musste es gelingen... Der Vorhang vor seiner Schlafmulde wurde zurückgezogen. Scan Bernstein fuhr hoch. Er blinzelte in Taurentbeques Gesicht. »Houston will dich sprechen«, sagte der Franzose gleichmütig. Bernstein schnallte sich los und schob sich aus der Schlafmulde. Er sah, wie Taurentbeque zum Muskeltrainer zurück schwebte. Er trug kurze Sporthosen und ein weißes Unterhemd. Außer ihm hielt sich niemand im amerikanischen Wohnmodul auf. Bernstein stieß sich ab und schwebte zur
Kommunikationskonsole. Er sah auf den Rücken des Franzosen. Die Gelegenheit ist günstig; jetzt könnte ich es tun. Jetzt könnte ich ihn erledigen ... Auf dem Monitor war das vertraute' Gesicht Henry Ikemans zu sehen. Nein, erst die Bodenstation, Ikeman muss erfahren, was sich hier abspielt... Bernstein überlegte, wie er dem Chef des Kontrollzentrums eine Botschaft übermitteln könnte, ohne dass Taurent-beque es mitbekam. Er zog sich auf die Sitzfläche des Hockers vor dem Monitor und schnallte sich fest. Die Tastatur! Schreib eine Botschaft und schick sie ab; ein paar Worte reichen ... »Hallo, Scan.« Ikemans Züge wirkten angespannt. Er hob die Hand zu einem müden Gruß. Bernstein legte die Hände auf die Tastatur. Der Bildschirm des Arbeitscomputers erhellte sich. Seine Zeigefinger suchten die F- und die JTasten. • »Schlechte Nachrichten, Sean. Ich hab schon mit Ragojew gesprochen...« Bernstein begann blind zu schreiben: Warnung! II. LT, HW & AR wollen Atlantis II... »... aber du musst es als Nächster erfahren, weil es dich persönlich betrifft. Dich und Marsha. Und die beiden Europäer. Wir haben den Countdown abgebrochen. Atlantis II wird also heute nicht starten.« Bernsteins Finger erstarrten. Unfähig zu irgendeiner Reaktion starrte er in das Gesicht des Astrophysikers. »Warum nicht?!«, platzte es aus ihm heraus. Hinter ihm hörte Taurentbeque auf, in die Pedale zu treten. »Zwei Astronauten müssen ausgetauscht werden. Statt Peter Lowell und Ronald Durban werden Colonel Paul McRice und General Humphrey Jordan fliegen. Sie sind zwar fit, aber die Vorbereitung wird trotzdem ein paar Wochen in Anspruch nehmen...« »Ich verstehe das nicht!« Bernstein brauchte alle Selbstbeherrschung, um nicht wieder laut zu werden. »Warum der plötzliche Personalwechsel?« Rechts hinter ihm schob sich das Schott auseinander. Er merkte es nicht. »Tut mir Leid, Sean. Befehl aus dem Pentagon. Es gibt neue Überlegungen aus der
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Astronomical Division. Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Wir werden es im Laufe des Vormittags euren Familien mitteilen. In ein paar Stunden könnt ihr sie sprechen...« Bernstein hörte nicht mehr zu. Seine geballten Fäuste lagen auf der Tastatur, der Textbildschirm füllte sich Zeile um Zeile mit dem Buchstaben K. Der Komet! Wenn die Astronomical Division sich einmischt, hat es mit dem verfluchten Kometen zu tun... Noch einmal vier Wochen oder länger im Orbit. Weihnachten ohne die Kinder, die vielleicht letzten Tage der Menschheit ohne diejenigen, die ihm am Herzen lagen: Die Enttäuschung trieb ihm fast die Tränen in die Augen. »Keine Sorge, Sean«, Ikeman schlug einen vertraulichen Ton an. »Du wirst bei deiner Familie sein, wenn es so weit ist. Wir sprechen uns in den nächsten Stunden. Ende.« Die Umrisse dreier Menschen spiegelten sich im Monitor. Siedendheiß fuhr es Bernstein durch die Glieder. Die angefangene eMail! Er griff nach der Maus und schloss die Datei, ohne sie zu speichern. Plötzlich schwebte Taurentbeque neben ihm. »Versuch so etwas nie wieder, Sean, hörst du?« Bernstein drehte sich um. Als hätte man ihn ausgehöhlt, so war ihm zumute. Vor dem offenen Schott schwebten Marsha und Hagen Winter. Marshas Gesicht hatte die Farbe getrockneten Lehms. Und Winter presste sich ihren Palmtop ans Ohr. »Interessant, wirklich interessant.« Er grinste auf eine Weise, die seinem Gesicht den Charme eines bissigen Hundes verlieh. »Und sehr clever.« Er reichte Taurentbeque den Palmtop. »Hör mal rein, Lou - man versteht jedes Wort, das im Labor gesprochen wird...«
zerrten Beschleunigungskräfte an dir, die hast du ohne Training nicht überlebt...« Wenn Hollyday so redete, vergaß Matt manchmal, dass er nicht Dave, sondern dessen Double zuhörte. »Und du hast in deinem Jet auch vier bis £cht g aushalten müssen, Matt. Aber dieser Vogel hier landet nicht nur wie ein Jet; er startet auch wie einer.« Er deutete auf ein Display in der Konsole mit den Navigationsinstrumenten. »Was ist das?« »Flugdatenanzeige«, sagte Matthew knapp. Der blonde Mann aus der Vergangenheit schnitt eine verdrossene Miene. Er hatte tatsächlich kein Auge zugemacht in der vergangenen Nacht. Die Begegnung mit den Sektierern, die Entscheidung für die halsbrecherische Mission, Aruulas Eigensinn - Stoff genug für endlose Grübeleien. »Ich mache mir Sorgen um meine Freundin. Sie lässt sich nicht davon abhalten mitzufliegen.« McKenzie/Hollyday schüttelte den Kopf. »Sie soll sich das aus dem Kopf schlagen.« Er zeigte auf einen Knopf am Überkopf-Schaltbrett. »Und das?« »Beleuchtung Ladebucht.« Eine verwirrende Vielfalt von Schaltern, LED-Anzeigen, Displays, Hebeln, Druckknöpfen und Tastaturen breitete sich über, neben und vor Matt aus - schätzungsweise doppelt so viel wie in der F-17 Alpha 2, die Matt zuletzt geflogen hatte. Hollyday trainierte mit ihm die »Geografie« der Instrumente. »Aruula und sich etwas aus dem Kopf schlagen?« Matt grinste wehmütig. »Du kennst sie nicht; dazu müsste man ihr den Kopf schon abschlagen.« »Übertreib nicht schon wieder. Zeig mir lieber, wo der Reservehöhenmesser ist.« Matt deutete auf eine Anzeige neben dem Display für die Warnhinweise. »Brennstoffventile.« Matt fand sie auf Anhieb. »Gut. SchleusendruckAus-gleichsventil.« Matt deutete darauf. »Gut. So muss das gehen, wie im Schlaf.« Hollyday schnallte sich ab. »Willst du Hymes und Crow deine Entscheidung tatsächlich erst heute Abend mitteilen?« Matt nickte. »Wir brauchen noch Zeit.« Auch er stand auf. »Lass uns das Unternehmen noch einmal in Ruhe durchdenken: Was fehlt uns
* Cape Canaveral, Anfang Dezember 2517 »Die Beschleunigung ist nicht das Problem.« Sie saßen im Cockpit des Prototypen und checkten die Kontrollinstrumente durch. »Früher, als wir die Shuttles noch mit Trägerraketen in den Orbit schossen, okay, da
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noch an Ausrüstung? Wie viele Tage brauchen wir noch für die Vorbereitung?« Sie öffneten das kleine Schott in der Rückwand des Cockpits und bückten sich
am Boden. »Auf denen können wir uns in der Schwerelosigkeit mit EM-Stiefeln problemlos fortbewegen. Die magnetisierten Sohlen bleiben an den Metallflächen haften.« »Alle Achtung. Werden die Stiefel auch an Bord der ISS funktionieren?« McKenzie/Hollyday hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich hoffe es. Wir müssen uns überraschen lassen.« Über eine sekundäre Instrumenten-Konsole in der Ladebuch fuhr Hollyday die Ladeklappen und danach die der Kumpfform angepassten Radiatoren auseinander. -Matt steuerte den Manipulatorarm, einen rohrartigen Kran zum Be- und Entladen der Ladebucht. »Auch hier gibts nichts zu meckern«, sagte Hollyday. »Oder siehst du das anders?« Matt verneinte und machte einen entsprechenden Vermerk in sein Notizbuch. »Dann lass uns Schluss machen für heute.« Hollyday wandte sich zur Schaltkonsole und verschloss den Rumpf des Space Shuttle. Sie öffneten die Ausstiegsluke zur Gangway. »Und? Wie gehts den Innereien des Vögelchens, Professor?« Der schwarze Posten grinste ihnen entgegen. Seine Rechte hing über dem Kolben des Maschinengewehrs. »Bestens«, knurrte Hollyday. An dem Soldaten vorbei stiegen sie die Stufen hinunter. Unten drehte sich Matt noch einmal um und betrachtete das Space Shuttle. Auf seinen Flügeln prangte in frischem Rot und Blau das Sternenbanner. Etwas wie Wehmut stieg in Matthew auf. Die Raumfähre war kleiner als die, mit denen man in den goldenen Jahren vor »ChristopherFloyd« zur ISS geflogen war. Ein Prototyp der zweiten Generation jener Shuttle, die ohne Trägerraketen starten konnten. Ein schönes Gerät, Schwarzweiß und schlank - in besseren Zeiten hätte Matthew glatt erotische Empfindungen dafür entwickeln können. Aber die Zeiten waren schlecht und sein Job ein anderer. Der MG-Schütze beobachtete ihn grinsend. »Wie heißt du, Kollege?«, rief Matt. »Christopher Laramy«, antwortete der Afro. »Nenn mich Chris. Und du bist Maddrax, richtig? Kommst von weit her, wie man hört.«
in eine nicht einmal mannshohe Röhre: der Verbindungstunnel zum integrierten Laboratorium. Das Double des Astrophysikers überprüfte Computer, Mikroskope, Energiequellen, Kühlfächer. Matt notierte Beanstandungen. »Diesen Raum werden wir sicher nicht brauchen«, sagte Hollyday. Sicher - seit zwei Jahren gehörte dieser Begriff zu den Worten, denen Matt grundsätzlich misstraute. »Wer weiß?« Es gab nur wenig aufzuschreiben. Selbst dieser Teil des Space Shuttle war tadellos in Schuss. »Ich will nichts dem Zufall überlassen.« Weitere zwei Stunden investierten sie in die Kontrolle des hinteren Shuttleteils: Luftschleusen, Sauerstoff-Elektrolyse-Anlage, Sortimente wissenschaftlicher Instrumente, Sichtfenster, Einstiegsluken - Stück für Stück beargwöhnten sie, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter. Am Schluss inspizierten sie die Ladebucht zwischen Laboratorium und Cockpit. Metallplatten auf dem Boden fielen Matt auf. Etwa zwanzig auf zwanzig Zentimeter groß, führten sie in einer Geraden durch die gesamte Ladebucht. Wie ein Weg. An verschiedenen Stellen zweigten Pfade im rechten Winkel zu Kontrollinstrumenten, Luken und Maschinen ab. »Was sind das für Platten?« »Bemerkst du die jetzt erst? Ich hab sie auch im Cockpit und im Labor verlegen lassen. Auf ihnen haften die elektromagnetischen Stiefel, die ich für die Mission gebastelt habe.« Matt verstand nicht gleich. »Elektromagnetische Stiefel?« Nein, das war nicht Phil Hollyday, der da mit ihm sprach, das war Professor Dr. David McKenzie. »So ist es, mein Freund - EM-Stiefel. Bedenke bitte: Du hast Schwerelosigkeit noch nie am eigenen Leib erfahren. Und ich nur während zwei Dutzend Parabelflügen in einer alten Boing 707. Es wird schwer genug für uns.« Er deutete auf die glänzenden Metallplatten
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Seltsam heiter wirkte der junge Bursche. Und sein Vorname berührte Matt unangenehm: »Christopher-Floyd«, der verdammte Komet schon wieder eine Visitenkarte von ihm. Irgendwie gehorte der Killerkomet seit knapp zwei Jahren zu seiner Biographie, natürlich, zu seiner Identität sogar. Seit zwei Jahren? Seit fünfhundert-f ünf Jahren! Seite an Seite steuerten sie die offizielle Tür ins Bunkersystem an. Den direkten Weg ins geheime Kontrollzentrum hatte Crow bis auf Weiteres versiegeln lassen. Matt deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück zum Shuttle. »Hat es schon einen Namen?« Hollyday machte ein begriffsstutziges Gesicht. »Einen Namen? Für eine Maschine?« Er griff sich an die Stirn als plagten ihn plötzlich Kopfschmerzen. »Von mir aus. Hast du eine Idee?« »Queen Victoria«, sagte Matt ohne lange nachzudenken. Die Königin der Com-munity London - ihr fühlte er sich mehr verbunden als dem legitimen Nachfolger des US-Präsidenten. Ihr und dem Octa-vian von Salisbury, Leonard Gabriel. In Matthew Drax' Augen repräsentierten die Tochter des getöteten King Roger und Rulfans Vater all die kühnen Männer und Frauen in den britischen Bunkerkolonien, die unter Trümmern begraben dem Kometen und seinen verheerenden Folgen getrotzt hatten. »Queen Victoria ...« Etwas wie Heimweh überfiel ihn. »Ja, das wärs doch.« »Manchmal verstehe ich dich nicht, Drax.« Der Pale Philipp Hollyday sprach wieder aus dem Mann an Matts Seite. »Aber warum nicht? >Queen Victoria< -klingt halt ein bisschen...« Hollyday malte Kreise in die Luft, als wollte er ein passendes Wort in seinem Kopf umzingeln. »... nostalgisch. Wenn man bedenkt, dass es um ein Raumfahrzeug geht...« Matt musterte ihn von der Seite. Jetzt klang der Mann plötzlich wieder nach Dave McKenzie. Bizarr... Sie liefen durch das Labyrinth des Bunkersystems. McKenzie/Hollyday schien sich darin zu Hause fühlen. Zielstrebig steuerte er die konservierte Kommandozentrale an. Die »Söhne des Himmels« hatten die
vakuumversiegelten Räume fünf Jahrhunderte lang bewacht. Matt fiel auf, dass kaum noch verrottete Maschinenwracks herumstanden. Auch die Decken waren zum Teil schon ausgebessert worden. In einigen Räumen sahen sie Männer und Frauen, die Kabel verlegten, Wände neu verkleideten und zerstörtes Mobiliar abtransportierten. Schließlich standen sie vor dem großen Bunkerschott. Es war verschlossen. »Nach Ihnen, Commander«, grinste McKenzies Double. Der Pilot aus der Vergangenheit öffnete die Klappe des integrierten Tastaturkästchens und tippte den Code ein: 0-2-0-8-2-0-1-2. Das Datum des Kometeneinschlags. Scharrend öffnete sich das große Schott. Das schummrige Licht der Gangbeleuchtung sickerte ein paar Schritte weit in die Dunkelheit ein, die vor ihnen gähnte. Aber kaum betraten sie den Raum jenseits des Schotts, flammten Deckenlichter auf. Neonröhre um Neonröhre sprang an, taghelle Beleuchtung enthüllte einen langen Korridor mit glänzenden Metallwänden und hellem Steinboden. Zögernd zunächst, dann schneller und zielstrebiger drangen sie in das Herzstück der Bunkeranlage ein. Nach ein paar Schritten lösten nur von Türöffnungen unterbrochene Glasscheiben die Betonwände des Ganges ab. Dahinter befanden sich Arbeitsräume voller Instrumentenkonsolen und Computern, Laboratorien, Raumanzüge an Stangen unter niedrigen Decken und medizinische Untersuchungsräume. Hollyday deutete auf die Raumanzüge. Matt sah die Stiefel in Regalfächern darunter. Die EMStiefel, vier Paar. Vor einem der Räume blieb Hollyday stehen. »Hier.« Diesmal deutete er auf ein Podest mit einem Stuhl. »Ein Drehstuhl für den Vestibulartest.« Er zog Matt zwei Räume weiter. »Und das ist ein Flugsimulator.« Was Matt tatsächlich sah, erinnerte eher an den Behandlungsraum eines Zahnarztes: zwei vielgliedrige Sessel auf im Boden verankerten Teleskopsockeln, über jedem ein kugelförmiger Helm, der von der Decke herab hing. Kabelstränge verbanden die Sessel mit den
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Computerkonsolen, die hufeisenförmig um die Sessel angeordnet waren. »Ich hab die Software überarbeitet.« Stolz sprach aus Dave - ja, jetzt war es original David McKenzie, den Matt reden hörte. Verblüfft musterte er den Mann mit der runden Brille und den schulterlangen Haaren von der Seite. »Fünf Stunden Training am Tag, höchstens sechs, und wir sind in maximal zwei Wochen auf den Shuttleflug vorbereitet.« Matt antwortete nicht. In diesem Augenblick bewunderte er den Astrophysiker nur, weiter nichts. Wie gut er sich den neuen Verhältnissen angepasst hatte, wie flexibel er versuchte, das Beste aus ihrem unfreiwilligen Exil in der Zukunft zu machen... »Nicht auszudenken, dass diese Anlage dem Weltrat zur Verfügung steht - die Sumpfgötter sollen die Kerle holen!« Hollyday ging weiter, und Matt folgte. Übergangslos hatte sich sein Schicksalsgenosse in den Eingeborenen der gegenwärtigen Zeit zurück verwandelt. »Irgendwie werden wir verhindern, dass sie damit noch allzu viel anfangen können, was meinst du, Drax?« Schließlich erreichten sie das Kontrollzentrum. Rechnerkonsolen, Projek tionsflächen, Arbeitstische, und alles wie neu. Matt dachte an den Moment, als er diese unerhörte Anlage zum ersten Mal gesehen hatte. Fast sieben Monate war es her. Die »Söhne des Himmels« hatten sie damals ins vakuumversiegelte Herz des Bunkersystem geführt - Rorke, Hollyday und ihn. Er hatte seinen Augen nicht getraut, und auch jetzt noch durchperlte ihn ein Schauer der Fassungslosigkeit. Über fünfhundert Jahre hatte dieses Kontrollzentrum unbeschadet überstanden. Fünfhundert Jahre! Als hätte es auf ihn gewartet. »Unglaublich...!« »Aber wahr!« McKenzie/Hollyday lief in das Kontrollzentrum hinein. Er lachte. »Hier verbringe ich jeden Tag mindestens drei Stunden.« An Konsolen voller Tastaturen, Monitore und Digitalanzeigen vorbei ging er zum Befehlsstand. »Ich wünschte mir nur, in meinem eigenen Körper hier zu sein!« Matt blieb stehen, als wäre er gegen eine Glaswand geprallt. »Was sagst du da... ?« Zur
Abwechslung erlebte er mal wieder einer der Momente, in denen er hätte schwören können, dem sympathischen Astrophysiker leibhaftig gegenüber zu stehen. Zwei Persönlichkeiten in einem Körper - manchmal überstieg das einfach Matts Vorstellungsvermögen. McKenzie/Hollyday überhörte seine Frage. Er hatte nur noch Augen für die Instrumente. »Die Anlage läuft den ganzen Tag auf Stand-byModus.« Er drückte einen Knopf; das Summen und Tackern der elektronischen Geräte wurde laut. Matt stieg zu ihm auf den Befehlstand. »Wer soll diese hochsensible Elektronik bedienen, wenn wir zur ISS fliegen?« Das McKenzie-Double tippte ein Codewort in ein Monitorfenster. Matt registrierte es und prägte es sich ein. Es lautete Daanah. Ein Begriff, mit dem er nichts anfangen konnte. »Unterschätze die WCA nicht, Matt. Die Mistkerle wissen viel, und sie lernen schnell.« Der Bildschirm baute sich auf. Hollydays Finger glitten über die Tastatur. Fenster um Fenster öffnete sich. Und dann: der blaue Planet! Die Erde durch das BordkameraObjektiv auf der ISS betrachtet. »Ich hab oft davon geträumt, seit ich dieses Bild vor einem halben Jahr zum ersten Mal sah.« Matt stemmte die Fäuste auf die Konsole und betrachtete die lichtüberflutete Erdscheibe. Man sah Nordeuropa, das zerklüftete Skandinavien, den Hundekopf Norwegens und, halb von einer Wolkenschicht verdeckt, Island und die britischen Inseln. »Noch zwei Wochen, dann wirst du es mit eigenen Augen sehen«, sagte McKenzie/Hollyday ... * ISS, 31. Januar 2012 Sean und Marsha vertrieben sich die Zeit mit Schachpartien, Kursberechnungen für hypothetische Flüge zu diversen Sternensystemen und mit meditativen Betrachtungen der Taghälfte des blauen Planeten. Und natürlich mit Liebe. In sofern hatte es etwas für sich, dass Rago-jew sie im ATV eingesperrt hatte.
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ATV hieß die Frachtfähre der ESA. Zwei Mal im Jahr korrigierte sie den Kurs der ISS, und hin und wieder flog sie unbemannt zur Erde, um mit Proviant, Treibstoff und Material zurückzukehren. Ragojew und Taurentbeque hatten selbstverständlich die Funkanlage der Frachtfähre unbrauchbar gemacht. Stundenlang hatte Marsha die Anlage zu reparieren versucht, bis sie merkte, dass wesentliche Prozessoren fehlten. Auch zu den Modulen der Raumstation konnten sie keinen Kontakt aufnehmen. Nicht einmal zum Zwezda-Modul, an das der Raumfrachter angedockt war. Nur ein Computer war noch intakt. An seinen beiden Terminals spielten sie Schach und berechneten ihre hypothetischen Flüge. Masha benutzte ihn außerdem, um Abschiedsbriefe an sämtliche Menschen zu verfassen, die ihr nahe standen. Und das waren nicht wenige. Der Gedanke, dass keine der Mails je ihren Adressaten erreichen würde, belastete sie nur in außergewöhnlich dunklen Stunden. Es tat ihr einfach gut, sich Freude, Angst, Schuldgefühle und Hoffnung von der Seele zu schreiben. Und Scan Bernstein legte .eine Datei an, die sicher den Rang eines historischen Dokuments erlangte, würde sie jemals von einem Historiker gefunden werden: Er verfasste eine Chronologie der letzten Monate der ISS. Doch bald würde es keine Historiker mehr geben, da war sich Bernstein ziemlich sicher. Wahrscheinlich würden Taurentbeque oder Winter die Datei irgendwann entdecken und löschen. Lange hatten sie diskutiert. Und schließlich beschlossen, keinen Ausbruchsversuch zu unternehmen und nicht den Kampf zu suchen. Solange nicht, bis das Shuttle andockte. Dann würde man weitersehen. Sie hatten sich daran gewöhnt, Gefangene zu sein. Selbst an den Kometen hatten sie sich gewöhnt. Nur noch acht Tage trennten sie von ihm. Der eigene Tod hatte längst nichts wirklich Beängstigendes mehr. Und dass nur noch eine Woche zwischen ihnen und einer weltumspannende Apokalypse lag, überstieg schlicht ihr Vorstellungsvermögen. Allerdings schreckte Bernstein immer häufiger aus dem Schlaf, weil er von seinen Kindern träumte.
Den anderen hatte Ragojew erzählt, Marsha und Bernstein hätten eine Sabotage der ISS geplant, um ihre sofortige Heimkehr zu erzwingen. Vermutlich hatte er das auch nach Houston gefunkt. Und dann, drei Tage vor der Ankunft des Shuttle, schien sich das Blatt noch einmal zu wenden. Die Schleuse zum Zwezda-Modul öffnete sich. Sie schwebten Rücken an Rücken vor den Monitoren und spielten Schach. Marsha hatte Bernstein durch ein raffiniertes Springeropfer in die Falle gelockt. Es sah schlecht für seine Dame aus. Zuerst erschien Ragojew in der Rundung des Schotts. Nur er, Taurentbeque oder Winter sahen einmal am Tag nach ihnen, brachten ihnen Nahrung, Wasser und frische Wäsche. Oder begleiteten einen von ihnen zur Nasszelle. Jarnyszin, Domoto und Yakumori hatte das Paar seit dem 22. Dezember nicht mehr zu Gesicht bekommen. Hinter Ragojew tauchte Taurentbeque auf. Die Waffe steckte in seinem Hosenbund. Es war das erste Mal seit ihrer Gefangennahme, dass sie nicht in einen Pistolenlauf blickten, nachdem das Schott sich geöffnet hatte. »Ihr könntet mich davon überzeugen, dass der Vorwurf, der Meuterei ungerechtfertigt war«, sagte Ragojew. »Und wie?«, fragte Bernstein. »Indem ihr euch meinem Kommando unterordnet.« Der Russe lächelte. »Und ein schlechtes Gedächtnis entwickelt. Zumindest was die Zeit seit Anfang Dezember betrifft.« Louis Taurentbeque hinter ihm sprach kein Wort, verzog keine Miene. »Ihr müsst schon deutlicher werden«, forderte Marsha. »Der Countdown für Atlantis II läuft wieder. Am dritten Februar startet sie. An Bord sind Colonel McRice und General Jordan, zwei hohe Offiziere eurer Armee. Spezialisten für Nuklearraketen. Wir haben acht davon in den neuen Silos. Ich nehme an, ihr habt das gewusst.« Bernstein stieß sich ab und schwebte fast bis zur Decke. »Sie wollen den Kometen ...?« Obwohl er insgeheim damit gerechnet hatte, überraschte ihn die Neuigkeit doch.
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Ragojew nickte. »... beschießen, richtig. Befehl aus dem Pentagon. Haben sie in einer NATO-Sitzung beschlossen.« Er schlug die Faust in die Handfläche seiner Linken. »Wir haben noch eine gute Chance schätze ich.« Taurentbeques Miene sagte etwas anderes. Bernstein machte sich nichts vor: Der Franzose passte sich den Verhältnissen an, und im Augenblick war Optimismus angesagt. Im Grunde wusste er genau, dass »ChristopherFloyd« mit seinem Durchmesser von acht Kilometern nicht zu stoppen war. Und Bernstein wusste es auch. »Und jetzt braucht ihr uns plötzlich.« Spott schwang in Marshas Stimme. »Nun - ihr seid amerikanische Offiziere. Und Scan kennt sich mit den Waffensystemen aus, Ikeman will, dass ihr den beiden Spezialisten ein wenig zur Hand geht.« Sein Blick wanderte zwischen Marsha und Bernstein hin und her. Nicht die Spur eines schlechten Gewissens schien ihn zu plagen. »Wir könnten die Sache vergessen und neu anfangen. Überlegt es euch bis morgen.«
Matt, Aruula und dem McKenzie-Double gegenüber am runden Tisch. »Selbstverständlich würde ich fliegen, Sir«, sagte Dave McKenzie alias Phil Hollyday. »Doch die Entscheidung hängt schließlich ganz von Matts Entschluss ab. Er ist der Pilot.« Drei Augenpaare richteten sich auf Matthew Drax. Hollyday sah das Flackern in Crows Augen; er sah, wie die Mundwinkel des Präsidenten zuckten und wie sich Lynne Crow den rechten Arm rieb. Auf und ab, auf und ab als hätte sie Schmerzen. Unwillkürlich tastete er nach seiner Stirn. Merkwürdig - seit der gemeinsamen Inspektion der Raumfähre mit dem Commander verspürte er keine Kopfschmerzen mehr. »Ich hätte da zunächst noch einige Fragen, Mr. President«, begann Matthew Drax. »Tun Sie sich keinen Zwang an, Mr. Drax.« Der Präsident floss förmlich über vor Verständnis. »Angenommen, Professor McKenzie und ich fliegen zur Raumstation hinauf, und weiter angenommen, wir kehren mit den Daten aus den Bordrechnern zurück...« Matt machte eine Pause und fixierte den graubärtigen Mann mit der väterlichen Aura. »... wem steht das Know how zur Verfügung, das wir mitbringen werden? Die Ergebnisse wissenschaftlicher Experimente, die Auswertung des Kometeneinschlags, die Blaupausen technischer Bauteile, die wir dort oben finden werden, und nicht zuletzt das Know-how über die Raumfahrttechnik insgesamt - wer gehört zum Kreis der Menschen, die davon profitieren werden?« Das Lächeln verzog sich aus der Miene Victor Hymes'. Ernst blickte er jetzt, sehr ernst, und seine Stimme nahm einen feierlichen Unterton an. »Alle die sich für den Wiederaufbau unserer Erde engagieren werden, Mister Drax.« »Auch den europäischen Bunkerkolonien?« Aruula saß zwischen Matt und Hollyday. Aus den Augenwinkeln nahm der Mann aus der Vergangenheit den schläfrigen Blick seiner Gefährtin wahr. Aber der Eindruck täuschte: Aruula war hellwach. Sie hatten vereinbart, dass sie Hymes und Crow belauschte. »Selbstverständlich auch unseren Freunden in
* Cape Canaveral, Anfang Dezember 2517 »Ich kann nicht verhehlen, dass wir sehr neugierig auf Ihre Entscheidung sind, Commander Drax.« Obwohl Hymes lächelte, sah Matt dessen väterlicher Miene die Anspannung an. »Pardon -Mister Drax, selbstverständlich.« Sein Lächeln wurde noch um eine Spur verbindlicher. »Was Sie betrifft, Professor McKenzie -«, der Präsident wandte sich an den Astrophysiker. »- Sie haben ja bereits angedeutet, dass Sie für die Mission zur Verfügung ständen:« McKenzie/Hol-lyday deutete ein Nicken an. Er saß dem Weltrat-Trio gegenüber neben Aruula. Über einige Bildschirme in der Wandkonsole flimmerten Bilder: die Kommandozentrale, das Space Shuttle in der Reparaturhalle, Wachtposten im Schein der Flutlichtanlage auf dem Rollfeld. Hymes, General Crow und seine Tochter Lynne hatten sie im selben unterirdischen Konferenzraum empfangen wie bei ihrer Ankunft. Nebeneinander saßen sie
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Britana.« Der Präsident sprach ruhig und nachdrücklich. Wie man es von einem guten Politiker erwartete. »Jetzt machen Sie mal halblang, Drax!«, polterte Arthur Crow los. »Sie tun ja so, als säßen sie machtgeilen Imperialisten gegenüber!« »Offen gestanden: Ich bin mir nicht ganz sicher, wem ich gegenüber sitze.« Matt lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Dies war seine Stunde! Ungeniert studierte er die Mienen des Trios auf der anderen Tischseite. Maskenhaft und kühl die der 'Generalstochter, unverhohlen ärgerlich die des Generals und verständnisvoll lächelnd, aber mit einem starren Zug um die Augen die des Präsidenten. »Ich habe eine Menge erlebt mit Ihnen und Ihren Leuten«, fuhr der Mann aus der Vergangenheit fort. »Auch Angenehmes, zugegeben, aber weit mehr Unangenehmes. Und einige Dinge, die ich bis zum heutigen Tag nicht recht einordnen kann.« »Ich verstehe, Mr. Drax.« Hymes gab sich jetzt ein wenig zerknirscht. »Sie denken zum Beispiel an die Art, wie der Weltrat Sie überprüft hat.* Zugegeben: Das war nicht die feine Art. Aber was sollten wir denn tun?« Wie entschuldigend breitete der Graubart die Arme aus. »Überall Gefahren, überall Unwägbarkeiten, überall Feinde! Sie konnten sich doch selbst und hundertfach von der Unberechenbarkeit unserer Welt überzeugen. Wir durften einfach kein Risiko eingehen. Wir durften Sie auch nicht schutzlos und unbeobachtet zur Westküste ziehen lassen...« »Warum pflegen Sie Kontakt zu dieser skandinavischen Kriegerrasse?« Wie einen Pfeil schoss Matt die Frage ab. Aruula neben ihm saß plötzlich kerzengerade, und McKenzie/Hollyday machte ein begriffsstutziges Gesicht. »Skandinavische Kriegerrasse?« Der Präsident runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht genau, wovon Sie sprechen, Mr. Drax...« Irgendwie hilflos blickte er erst Crow und dann dessen Tochter an. Die reagierten nicht. »Ich meine einen Mann in brauner Wildlederkleidung und mit missgebildetem
Gesicht. Einen sogenannten Nordmann aus dem Gebiet nördlich der europäischen Ostsee; oder, wie die Eingeborenen Europas sagen würden: aus dem Gebiet jenseits des Kalten Sunds.« Matt fasste General Crow ins Auge. »Ein Nordmann, den Ihr Militärchef Arthur Crow in diesem Sommer zu einem f reundschaf tlichen Gespräch in seinen Räumen empfangen hat.« Für Sekunden herrschte absolute Stille. Dann räusperte sich Hymes. »Nun, Mister Drax, Ihre Frage überrascht mich nicht wenig.« Er zog die Brauen hoch. »Sie berühren hier ein Thema, das bei uns unter höchster Geheimhaltungsstufe rangiert. Was wissen Sie über diesen Mann und seine Rasse?« Er wirkte plötzlich besorgt, und Crow machte den Eindruck, als würde ihm jeden Moment der Kragen platzen. »Nordmänner nennen die Völker von Euree diese Leute, wie gesagt. Es ist eine blutrünstige, kriegerische Rasse von gnadenlosen Eroberern.« »Wenn sich das so verhält, verstehe ich Ihr Misstrauen natürlich, Mr. Drax.« Präsident Hymes faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch. Manchmal erinnerte er Matt an den Reverend der Lutherischen Kirche, der seine Einheit auf der Luftwaffenbasis in Berlin Köpenick seelsorgerisch betreut hatte. »Er ist ein Schiffbrüchiger.« »Ein Schiffbrüchiger?« Mit dieser Antwort hatte Matt nicht gerechnet. Sein Blick streifte Aruula. Ihre Mimik verriet nicht, was sie von der Antwort hielt. »Ja«, nickte der Präsident. »Sein Schiff, eine Art Schaufelraddampfer übrigens, wurde von Meereskreaturen vor der Küste Washingtons angegriffen. Es sank mit sechzig Menschen an Bord. Nur der Mann, den Sie offensichtlich in den Bunkern von Waashton gesehen haben, konnte sich retten. Sechs Jahre ist das her.« »Fast sieben«, knurrte Crow. Hollyday fiel aus allen Wolken. So viele Monate hielt er sich nun schon als Maulwurf im Machtzentrum des Feindes auf, und nie hatte er von diesem Schiffbrüchigen gehört. Hatte er seinen Job so miserabel erledigt? »Angegriffen - von Meereskreaturen?« Die Neuigkeit verblüffte auch Matt, wenn auch aus
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anderen Gründen. Sollten die Nordmänner tatsächlich schon versucht haben, den Atlantik zu überqueren? »Wir haben den Mann natürlich gründlich verhört. Er sprach von mytischen Fischwesen«, sagte Crow. Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Wieder diese Halbwahrheiten. Matt war sicher, dass der Weltrat von der Existenz der Hydriten, die selbst die Legende der schrecklichen Fishmanta'kan verbreiteten, wusste. »Eine Zeitlang saß er bei uns in Haft.« Der Präsident ergriff wieder das Wort. »Dann schulten wir ihn und setzten ihn als Späher ein. Seit drei Jahren arbeitet er in einem Stoßtrupp, den wir in die Gegend der Großen Seen geschickt haben. Das Projekt ist streng geheim, Mr. Drax.« Das McKenzie-Double zog seine Brille ab und begann sie zu putzen. Ganz ruhig bleiben, nur nichts anmerken lassen... Auch von einem Geheimprojekt bei den Großen Seen hatte er nie gehört. Für Matt klangen die Auskünfte erschöpfend. Er hatte nicht den Eindruck, dass Hymes oder der General ihn anlogen. Was bei Politikern nichts zu bedeuten hatte. Sein Blick suchte Aruulas Blick. Sie beugte sich zu seinem Ohr. »Ich konnte nicht viel spüren«, flüsterte sie. »Auch nichts Dunkles oder Böses. Sie scheinen die Wahrheit zu sagen.« Matt wollte sich wieder zurücklehnen, aber Aruula hielt ihn an der Schulter fest. »Sag es jetzt!«, zischte sie. Erwartungsvoll ruhten die Augen des Trios auf Matt. Er seufzte innerlich. Aber es ließ sich nicht vermeiden: »Eine Bedingung noch«, sagte er. »Bitte, Mr. Drax«, lächelte der Präsident. »Nur zu.« »Wenn ich zustimme, wird Aruula mit zur ISS fliegen.« »Selbstverständlich, Mr. Drax, überhaupt kein Problem.« Der Präsident schien zu meinen, was er sagte. Über Crows Gesicht allerdings flog ein Schatten des Missmuts. Er sagte aber nichts. »Gut, dann bin ich dabei.« Die drei Menschen an der gegen
überliegenden Tischseite atmeten auf. Vor al lem der Präsident. »Wunderbar, Commander Drax!« Ein Satz, und schon besaß Matthew Drax wieder seinen alten militärischen Rang. »Im Namen des Weltrates danke ich Ihnen. Wann werden Sie starten?« »In frühestens zehn Tagen.« »Wir brauchen ein Minimum an Vorbereitung.« McKenzie/Hollyday zog einen Zettel aus der Brusttasche seiner Jacke. »Außerdem hätten wir da noch ein paar Wünsche...« Er trug die Mängelliste vor. Hymes sagte alle Unterstützung zu, die sie verlangten. Irgendwann blinkte eine grüne Lampe über der Tür. »Wir hätten da auch noch ein Ansinnen, Commander Drax und Professor McKenzie.« Der Präsident drückte auf einen Knopf unter der Tischplatte. Langsam schob sich die Eingangstür auf. »Ihre Lebensgefährtin ist nicht der einzige zusätzliche Passagier.« Drei Uniformierte traten ein: Melanie Chambers. Joshua Harris und ein bleichgesichtiger Major mit weißem Stoppelhaar. Matt schwante Übles, und McKenzie/Hollyday fiel die Kinnlade herunter. »Sie werden verstehen, Commander, dass wir Ihnen einige erfahrene Offiziere zur Seite stellen wollen.« Victor Hymes lächelte verbindlich. »Captain Chambers kennt die Befehlsstrukturen innerhalb der WCA von der Picke auf, Major Dwight Miller ist Spezialist für Logistik und Kommunikationselektronik, und mein Adjutant Lieutenant Harris wird für Ihre Sicherheit zuständig sein.« »Für unsere Sicherheit, aha.« Matt setzte ein zynisches Grinsen auf. »Das ist natürlich unabdingbar, Mr. President, wo doch so viele Wegelagerer im Orbit lauern. Man hört ja Tag für Tag die grausigsten Geschichten von dort oben...« Der Präsident antwortete nicht. Wahrscheinlich fehlten ihm die Worte. An seiner Stelle schaltete der General sich ein. »Machen Sie keine Witze, Drax!«, blaffte er. »Erstens stehen Sie seit dreißig Sekunden unter meinem Kommando, und zweitens ist die Mission durch die Ergänzung gewissermaßen paritätisch besetzt. Oder sehen Sie das anders?«
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Sie trauen mir genauso wenig über den Weg wie ich ihnen, dachte der frischgebackene Commander. Eine Einsicht, mit der er leben konnte. Sie erleichterte ihn sogar. Ein Mann wie Matthew Drax schätzte klare Fronten. Mehr der Form halber wandte er sich an McKenzie/Hollyday. »Du bist wissenschaftlicher Leiter der Mission, Dave. Was meinst du zu unserem Teamzuwachs?« Hollyday schaute Melanie Chambers in die Augen. Und sie ihm. Sein Blick kam Matt irgendwie verklärt vor, als wäre er nicht bei der Sache. »O doch.« Er lächelte unsicher. Und schon wieder dieser Griff an die Schläfen. »O doch, ich bin froh, wenn Daanah mitfliegt...« Matt runzelte die Stirn, der Präsident und Crow sahen sich an, und Hollyday zuckte zusammen. »Pardon, ich meine... ich bin einverstanden mit der Verstärkung, Mr. President. Und Captain Chambers wird uns eine große Hilfe sein, da bin ich ganz sicher...«
Kurs abzubringen, ist lächerlich gering. Und wenn er einschlägt, werden Taurentbeque und Winter ihren Plan durchziehen. Dann sollten wir alles tun, um sie unschädlich zu machen. Als Gefangene waren ihnen die Hände gebunden, also gingen sie auf Ragojews Angebot ein. »Noch zwanzig Sekunden bis zum Andocken.« Colonel Paul McRice' Stimme aus dem Empfänger. »Noch neunzehn, achtzehn, siebzehn...« Nur die rechte Tragfläche von Atlantis II sah man jetzt noch auf dem Monitor. Langsam schob sie sich aus dem Bild. »... vierzehn, dreizehn, zwölf...« Ragojew und Marsha hatten sich vor der Steuerkonsole festgeschnallt. Sie überwachten die Funktion der Schotte und Luftschleusen im Einstiegstunnel. Die anderen schwebten in einer eng zusammengedrängten Traube vor dem Monitor. Für Momente gab sich Bernstein der Illusion hin, wieder als vollwertiges Besatzungsmitglied ins Team aufgenommen zu sein. Niemand hatte ein persönliches Wort mit ihnen gesprochen, seit sie ihr Gefängnis in der Frachtfähre verlassen hatten. Körperlich mochte das Paar wieder frei sein, sozial war es nach wie vor isoliert. Jeder belauerte sie miss-trauisch. Jetzt allerdings gab es Wichtigeres. »... acht, sieben, sechs...« Die letzten Kacheln verschwanden aus dem Aufnahmebereich der Kamera, nur der Rand des Querruders war noch zu sehen. »... vier, drei, zwei...« Die Raumfähre glitt endgültig aus dem Sichtbereich. Und gleich darauf durchlief ein leichtes Vibrieren die Raumstation. »Kommandant an Houston, Atlantis II hat angedockt«, meldete McRice. »Houston an Atlantis II - gratuliere!« Das war Henry Ikemans Stimme. Rechts und links von Bernstein applaudierten die Männer. Auch er konnte sich Begeisterung nicht entziehen und klatschte in die Hände. Ein halbe Stunde später kroch das erste Besatzungsmitglied der Atlantis II aus dem Schott zur Luftschleuse des Landungsmoduls General Humphrey Jordan. Er klappte den Solarschild seines Helm nach oben. Bernstein sah in ein hohlwangiges,
* ISS, 3. Februar 2012 Die Außenkameras lieferten gestochen scharfe Bilder: Das Sonnenlicht wurde von der weißen, kachelartigen Oberfläche von Atlantis II reflektiert. Sie drängten sich alle um den Monitor-Taurentbeque, Winter, Ragojew, Marsha Hunt und Bernstein. Auch das japanische Duo und Ser-gej Jarnyszin hatten sich zur Begrüßung der amerikanischen ShuttleBesatzung im Transhab-Modul eingefunden. Die Außenkamera erlaubte einen Blick auf die Oberseite der Raumfähre. Stück für Stück schob sie sich an die ISS heran. Hinter ihr leuchtete der blaue Planet im Sonnenlicht. Bald füllte das Shuttle den halben Bildschirm aus. Seit zwei Tagen bewegten sich Captain Marsha Hunt und Commander Sean Bernstein wieder frei an Bord der Raumstation. Oder wenigstens relativ frei. Wie zufällig hielt sich immer einer der anderen sechs in ihrer Nähe auf. Die Entscheidung war ihnen nicht schwer gefallen. Marsha hatte ihre Situation auf den Punkt gebracht: Wir sollten uns nichts vormachen - die Chance, den Kometen vom
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zerfurchtes Altmännergesicht, aus dem ein paar hellblaue Augen funkelten. Die Augen waren es, die den Eindruck von Alter und Schwäche augenblicklich wieder zerstreuten. »Willkommen an Bord!« Ragojew hielt sich an einem Haltegriff fest, um einen halbwegs korrekten militärischen Gruß hinzubekommen. Der General versuchte sich erst gar nicht in derartiger Akrobatik, sondern streckte dem Russen die behandschuhte Hand entgegen. »Freut mich, Anatol.« Hinter ihm schob sich der hünenhafte Rice aus dem Schott. Zwei weitere in Raumanzüge gekleidete Gestalten folgten. »Wer ist Commander Bernstein?«, wollte General Jordan wissen. »Ich, Sir.« Bernstein hörte die Kälte in der Stimme. Er legte die Fingerspitzen kurz an die Schläfen. »Ich muss Sie leider festnehmen, Commander. Sie sind vorläufig Ihres militärischen Ranges enthoben.« An der Steuerkonsole drehte Marsha sich um. Seans Blick traf sich mit ihrem. »Gemeinsam mit Captain Hunt, Dr. Taurentbeque und Dr. Winter werden Sie in achtzehn Stunden den Rückflug zur Erde antreten. Ein Kriegsgericht wird über Ihre weitere Zukunft zu befinden haben.« Ein Lächeln huschte über Marshas Gesicht, ein fast triumphierendes Lächeln. Atemlose Stille herrschte plötzlich im Modul. Colonel Paul McRice klappte seinen Solarschild auf. Ein breites dunkelhäutiges Gesicht wurde sichtbar. »Jawohl, Sir!«, platzte es aus Bernstein heraus. Nacheinander begrüßten der General und die anderen drei Neulinge die Besatzung. Außer den beiden Offizieren waren zwei amerikanische Wissenschaftler an Bord gekommen: ein Molekularbiologe namens lan Hong - ein Amerikaner chinesischer Abstam mung - und ein Astrophysiker namens Alexander Rubowitz. »Dann wollen wir mal die Übergabe hinter uns bringen, damit der Vogel pünktlich zurückfliegen kann«, sagte General Jordan nach dem Begrüßungsritual. »Und danach überlegen wir, wie wir diesen Scheiß-Kometen zerbröseln.« Ragojew räusperte sich. »Tut mir Leid, Humphrey. Weder Commander Bernstein und
Captain Hunt, noch Dr. Taurentbeque und Dr. Winter werden zur Erde zurück fliegen.« Irritiert blinzelte der General von einem zum anderen. »Wie soll ich das verstehen?« »Sie sind unentbehrlich an Bord, vor allem die beiden Wissenschaftler.« »Es sind da ein paar Probleme aufgetreten.« Taurentbeque schwebte zum General. Er hielt ein Tablettengläschen in der Hand. »Ein Pilz hat sich gewissermaßen selbstständig gemacht.« Er schraubte das Gläschen auf und drückte dem verdutzten General eine Tablette in die Hand. »Wir finden ihn in fast jedem Modul. Zusammen mit den erwünschten Sauerstoffmolekülen sondert er unerwünschte Cannabinoide ab. Wenn Sie auf einen klaren Kopf Wert legen, sollten Sie diese Tablette nehmen. Ein Bro-mid, baut spezifische Neurotransmitter ab.« »Wollen Sie mich verarschen?« Der General schnitt eine grimmige Miene. »Leider nicht, Humphrey«, sagte Ragojew. »Taurentbeque arbeitet intensiv an dem Projekt. Wenn er aussteigt, kann ich für die Sicherheit an Bord nicht mehr garantieren...« Ohnmächtige Wut krampfte Bernsteins Eingeweide zusammen. * Cape Canaveral, Mitte Dezember 2517 Kopfschmerzen, nichts als Kopfschmerzen. Seit Tagen schon. Es lag an der Frau, keine Frage, es lag an Melanie. Hollyday überprüfte ihr Gurtschloss und nickte ihr zu. »Okay.« Er versuchte seinem Lächeln etwas Unverkrampftes zu verleihen. »Es geht los, Captain Chambers.« Sie nickte und - sie lächelte zurück. Die Hitze stieg ihm ins Gesicht. Und von dort in Bauch und Lenden. Gleichzeitig bohrte der Schmerz hinter seiner Stirn. Guck nicht, nörgelte Mac in seinem Kopf, verbind ihr lieber die Augen, und dann drück endlich den Knopf. Hollyday nahm das Tuch von der Stuhllehne. »Ich verbinde Ihnen jetzt die Augen, Captain Chambers. Optisch werden sie nicht mehr wahrnehmen, ob Sie sich bewegen oder nicht.«
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Das war Macs Satz, nicht seiner, und entsprechend schwer fiel er ihm. »Ich gewöhne mich allmählich an diese Folter, Professor McKenzie.« Melanie zwang sich zu einem Lächeln und hob den Kopf von der Nackenstütze. »Wir wollen es möglichst schnell hinter uns bringen, ja?« Sie ließ den Vestibulartest nicht zum ersten Mal über sich ergehen. Während McKenzie/Hollyday mit ihr auf dem Drehstuhl trainierte, beschäftigte sich der Commander zwei Räume weiter mit Miller und Harris. Und mit Aruula. Unter den Simulationshelmen erlebten die drei alle denkbaren Situationen eines Shuttlefluges vom Start bis zum Andocken an die ISS, und lernten hoffentlich, sie zu bewältigen. Behutsam legte er Melanie das Tuch über die Augen und knotete es unter ihrem Hinterkopf zusammen. Gott, wie ihre kastanienroten Locken duf teten! Danach wandte Hollyday sich zur In strumentenkonsole um und drückte den Knopf. Der Stuhl mit Melanie Chambers begann sich zu drehen, langsam erst, dann schneller und schneller. Sie tat ihm Leid, und sein Kopf tat ihm weh. Seit Hollyday wusste, dass sie mitfliegen würde, fiel es ihm schwer, sich auf die Mission zu konzentrieren. Seit er Melanie Chambers Tag für Tag durch das Trainingsprogramm begleitete, seit- es kaum noch Stunden gab, in denen sie nicht in seiner Nähe war. Abgesehen von den schlaflosen Nächten - leider. Und je weniger er sich auf die Mission konzentrierte, desto heftiger konzentrierte sich Schmerz in seinem Hirn. Hoch mit der Frequenz, raunte es in seinem Kopf. Verdammte Stimme! Verdammter Mac! Hollyday drückte auf den Schalter, und Melanies Stuhl kreiste noch schneller. So schnell, dass er viele Melanies sah. Sie tat ihm Leid, ja. Anders, als wenn er Miller oder Harris rotieren ließ. Die beiden Wachhunde mit diesem Training zu quälen bereitete ihm sogar Vergnügen. Zu dumm, dass nicht auch eine Zentrifuge zur Ausstattung der Anlage gehörte. Aber nicht
weiter tragisch - die Beschleunigungskräfte des Shuttle-Proto-typen, der wie ein Flugzeug startete, konnten einen gesunden Menschen nicht umbringen. Viel wichtiger war es, die Crewmitglieder auf die Schwerelosigkeit zu trainieren. Und der Drehstuhl war hierfür die einfachste Trainingsmethode. Mit ihr waren zukünftige Astronauten schon vor Dave McKenzies Zeit auf die unangenehmen Anfangssymptome der Schwerelosigkeit - auf die Raumfahrerkrankheit also - vorbereitet worden. Drehzahl erhöhen, forderte die Stimme in seinem Kopf. »Beim gierigsten aller Sumpfgötter: Sie rotiert schon so schnell, dass ich ihre Rückseite nicht mehr von ihrer Vorderseite unterscheiden kann!« Du liebst sie doch, oder? Je öfter sie diesen Zustand erlebt, desto besser wird sie nachher mit der Schwerelosigkeit fertig. Also hoch mit der Drehzahl! Hollyday presste die Linke gegen die Stirn und erhöhte die Drehzahl. Die Luftwirbel, die der rüttelfreie Stuhl erzeugte, zerrten an seinem Haar und seinen Kleidern. Wenn du sie liebst, hörst du jetzt auf zu jammern und überlässt mir die Regie... Hollyday krampf te es das Herz zusammen, während er die Frau auf dem rotierenden Stuhl beobachtete. Wie eine Spindel sah sie aus. Mac hatte ja Recht: Die Schwerelosigkeit würde unweigerlich ihrer aller Gleichgewichtszentrum aushebeln - Übelkeit war eines der heftigsten Symptome. Sie mussten einfach lernen, den Ausfall des Gleichgewichtssinns und seine Symptome zu kontrollieren. Auch Melanie... Sie und der Stuhl verschwammen für Hollydays Augen längst zu einer Einheit. Melanie selbst spürte nicht, dass sie sich bewegte - wegen der Rüttelfreiheit und der verbundenen Augen. Ihr Gehirn nahm Stillstand wahr. Das sollte sich gleich ändern. »Beweg den Kopf nach links!«, forderte McKenzie/Hollyday. »Beug den Oberkörper ein wenig nach vorn! Dreh den Kopf nach rechts...!« Spätestens jetzt geriet Melanies Gleich gewichtssinn mit den übrigen Sinneseindrücken
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ihres Körpers in Konflikt. Ein Teil ihrer Sinne sagte: Der Stuhl steht still, ein anderer: Der Stuhl rotiert. Die Folgen konnte McKenzie/Hollyday auf dem Monitor ablesen. Die Signale der drahtlosen Elektroden am Körper der Offizierin übermittelten Kältegefühl, Schweißausbruch, Herzfrequenzerhöhung in Folge von Übelkeit... Aber zum ersten Mal erbrach sie sich nicht. Nach ein paar Minuten reduzierte McKenzie die Drehzahl Stufe um Stufe. Der Stuhl hielt an. »Tapfer!« Er schnallte Captain Chambers los. »Du hast dich wacker geschlagen, Melanie...!« Zum ersten Mal redete er sie bei ihrem Vornamen an. »Langsam bekommst du die Sache in den Griff! Noch ein paar Karussellstunden und die Raumfahrerkrankheit kann dir nichts mehr anhaben.« Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Blass und nassgeschwitzt hing Captain Chambers im Drehstuhl. Hollyday wischte ihr den Schweiß von der Stirn. »Ich hab nicht gekotzt«, flüsterte sie. »Endlich hab ich mal nicht gekotzt...« Er lächelte und tastete nach ihrer Halsschlagader. Die Pulsfrequenz war schon wieder auf unter hundert gesunken. Das hätte er aber auch auf dem Monitor ablesen können. »Ich freu mich, Dave.« Jetzt lächelte auch Melanie. »Ich freu mich darauf, hinauf zu fliegen und die Erde von den Sternen aus zu sehen.« Er wusste nichts zu sagen. Hatte sie ihn »Dave« genannt oder hatte er sich verhört? Natürlich hatte sie ihn »Dave« genannt. McKenzie/Hollyday schob sich näher an sie heran, wischte den Schweiß von der Haut ihres Halses und ihres Nackens, wischte und streichelte. Was für ein Hals! Und was für ein Nacken! Beim geilsten aller Sumpfgötter, was für ein Nacken! »Du hast keine Angst?« Eine überflüssige, geradezu naive Frage, aber eine geistreichere fiel ihm beim besten Willen jetzt nicht ein. Ihre Nähe sabotierte seinen Verstand und damit auch sein Sprachzentrum. Wie sie duftete! Wie sie lächelte! Wie feucht und heiß sich ihre Haut anfühlte!
»Nein, Dave, ich hab keine Angst.« Der Tag wird kommen, an dem du mich »Phil« nennst... Von wegen! Macs Stimme funkte ihm dazwischen. Ich bin David McKenzie, und dass dieses Prachtweib Dave zu mir sagt, hast du einzig und allein mir zu verdanken, du Sumpfdotterlaus... Hollyday begriff nun gar nichts mehr, und als Melanie: »Wenn du bei mir bist, habe ich vor gar nichts Angst, Professor«, hauchte, wusste er nicht, ob sie mit ihm sprach oder mit Mac oder mit irgendjemandem sonst, der heimlich in den Raum getreten war. Er hatte das Tuch längst fallen gelassen und massierte ihren Nacken mit bloßer Hand. Seine Linke verirrte sich zu ihrer Hüfte und schob sich unter ihre Uniformbluse. Was für ein hässliches, überflüssiges Ding, so eine Uniformbluse! »Dann fürchte ich mich vor gar nichts, Dave«, wiederholte die Offizierin. Verzeih mir, Daanah!, rief Macs Stimme in Hollydays Kopf. Und: Yeah, sie liebt mich! Sie liebt mich!, widersprach Hollyday. »Küss mich, Dave. KÜSS mich jetzt...« Er ließ es sich nicht zweimal sagen. Ihre Lippen waren warm und feucht - genau wie die anderen, verborgenen Lippen sich anfühlen mussten, denen seine Fantasie schon voraus eilte. Die noch verborgenen Lippen. Er fühlte, wie sie unter seinen Küssen und seinen Händen zerschmolz. Mach dir nichts vor. Die Stimme in seinem Hirn triumphierte. Verfluchter Mac! Unter meinen Händen schmilzt sie dahin! Unter meinen Küssen! Hollyday versuchte die Stimme abzuschütteln. Kopfschmerzen überfluteten ihn für Sekunden. Doch der Brand unter seiner Zunge und in seinen Lenden betäubten sie. »Schließ die Tür ab, Dave«, flüsterte Melanie, »und senk die Jalousien vor die Glaswand...« * ISS, 8. Februar 2012 Leicht verzerrte Stimmen schwirrten durch den Raum. Stimmen aus dem Kontrollzentrum in Houston, Stimmen von einer Jetstaffel auf
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der anderen Seite des Erdballs, Stimmen aus dem ehemaligen Landemodul des russischen Raumfrachters, das man vor drei Jahren zu Abschuss-Silos für MX-3-Raketen umgebaut hatte. Die vergrößerte Ladekapazität der ESAFrachter und der kNASA-Shuttles hatten den russischen Frachter irgendwann überflüssig gemacht. Schweißperlen lösten sich von Bernsteins Stirn und schwebten der Steuerkonsole entgegen, als er den Kopf hob. Er blickte durch das Sichtfenster nach draußen. Eine dunkle Wolkendecke verschleierte die Erdscheibe. Vor ein paar Minuten war die Sonne untergegangen. Den Kometen sah Bernstein aus dieser Perspektive noch immer nicht mit bloßem Auge. Dafür dominierte er schon seit zwei Stunden die Bilder der Außenkameras. Zu viert hockten sie vor den Monitoren: Marsha Hunt, lan Hong, Alexander Ru-bowitz und Louis Taurentbeque. Taro Yakumori, Oshi Domoto und Hagen Winter verfolgten den Beschuss vom Columbus-Modul, die beiden Russen vom Zwezda-Modul aus. Stumm starrten sie das grell leuchtende, keulenartige Gebilde auf den Bildschirmen an: »Christopher-Floyd«, der Killerkomet. Der lange, glitzernde Schweif, den er hinter sich herzog, bog sich deutlich von der Sonne weg und zerfaserte in alle Richtungen. Knapp hundertdreiundvierzigtausend Kilometer war er noch entfernt. Und mit jeder Minute schrumpfte die Distanz zur Erde um fast fünftausend Kilometer. Die Jet-Staffel, die den Raketenbeschuss beobachten sollte, war von einer US-Luftbasis in Berlin, Deutschland aufgestiegen. Der Chef der Astronomical Division der Air Force flog an Bord des Kommandeurs mit. Bernstein kannte den Namen des Mannes. Vermutlich kannte ihn mittlerweile die fernsehende Mehrheit der Erdbevölkerung. Jacob Smythe hieß er. »Noch zwölf Sekunden bis zum Abschuss!«, schnarrte die gepresste Stimme des Generals aus dem Bordfunk. General Jordan und Colonel McRice kommandierten die Aktion vom ehemaligen russischen Landemodul aus. Seit einem Jahr steckten acht MX-3-Raketen mit je sechs Atomsprengköpfen in den Silos. Teil des
NATO-Raketenabwehrschildes. »Zehn, neun, acht, sieben...« Bernstein stieß sich ab und schwebte hinter die Kollegen vor der Instrumentenkonsole. Er legte seine Hände auf Marshas Schultern und blickte auf die digitale Zeitangabe in der Fußleiste eines der Monitore: 9:09:55 Uhr. Für 9:42 Uhr Central Time war der Einschlag berechnet worden. In etwas mehr als einer halben Stunde. Das Ende der Menschheit, so nah war es. »... sechs, fünf, vier...« Bernstein sah, wie der schmächtige lan Hong die Handflächen ausbreitete. Er summte leise vor sich hin. Ein spirituelles Ritual, vermutete Bernstein. Er hatte keine Ahnung, welcher Religion der Chinese angehorte, hatte sich nie sonderlich für Religionen interessiert, und seitdem seine Frau gestorben war gleich gar nicht mehr. »... zwei, eins... Start!« Jordans Stimme überschlug sich. Keiner an Bord machte den Versuch, seine Nervosität zu verbergen. Falls er nervös war. Taurentbeque war es nicht: Ruhig und vollkommen entspannt schwebte er in seinem Sessel. Bernstein konnte sein Gesicht im Monitor vor ihm sehen. Es sah aus, als würde der Franzose lächeln. »Acht MX-3-Raketen auf programmiertem Kurs. Treffer gemäß Plan um 9:29:55 Uhr Central Time.« »Baruuch atah adonai Elohenuu...!« Alexander Rubowitz richtete sich plötzlich auf und streckte die Hände gegen die Decke des Moduls. Bernstein wusste, dass er Jude war. Er betete laut und ohne jede Hemmung. »Baruuch atah adonai elohenuu melech ha olaam...!« lan Hong verstärkte sein Gemurmel. Marshas Hände fassten nach Bernsteins Handgelenken. Sie klammerte sich an ihm fest. Er hörte sie das Vaterunser flüstern. Kein Ton drang mehr aus dem Bordfunk und den Empfängern. Die Angst war mit Händen greifbar. Taurentbeque wandte den Kopf nach Bernstein um. Er lächelte, wahrhaftig, er lächelte!
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»Gelobet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt...« Schneller und schneller betete Rubowitz. »... der die Erde ausdehnt über dem Wasser. Gelobet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mir alles geschaffen, was ich brauche. Gelobet seist du, Ewiger...« »Verstärkte Strahlungsaktivität in der Koma des Kometen!« Hagen Winters Stimme tönte aus dem Lautsprecher. »Neutronen, massenhaft Neutronen...« »Jesus!«, stöhnte eine Stimme, die Bernstein nicht identifizieren konnte. Das Bild auf den Monitoren hatte sich kaum verändert. Noch einmal blickte Bernstein zum Fenster. Der Komet hatte sich jetzt von der Erdscheibe gelöst. Strahlend hell raste er heran; fast ein Viertel der Fensterfläche füllten seine Koma und vor allem sein Schweif aus. Die Feuerkeule schoss aus dem kalten Nichts der Erde entgegen. Und auf einmal füllte wohltuende Kälte Bernsteins Schädel aus. Ruhig wurde er, beinahe überirdisch ruhig; er lächelte sogar. Alles war vergeblich. Der Komet würde die Wiege der Menschheit zertrümmern. Mit jeder Faser seines Körpers wusste er es. Es gab kein Entrinnen. »Noch fünfundsechzig Sekunden!« Eine helle Sichel legte sich auf die Krümmung des Erdhorizontes. Nicht mehr lange und die Sonne würde erneut aufgehen. Vielleicht zum allerletzten Mal für dich und deinesgleichen... Bernstein schüttelte die Faszination ab und riss sich vom Anblick des Kometen los. 9:29:31 Uhr. Er registrierte die Trockenheit seines Mundes, er nahm die hochgezogenen Schultern und steifen Rücken der Kollegen wahr, er sah Schweißtropfen durch das Modul schweben, überall Schweißtropfen... »Sie tauchen in seine Koma ein!« Winter, Jordan und Jarnyszin brüllten fast gleichzeitig aus den Lautsprechern. Bernstein zwang sich zu einem tiefen Atemzug. »Gammastrahlung!«, schrie Hagen Winters Stimme. »Treffer!«, rief der General. »Acht Treffer! Vierundneunzigtausend Kilometer über der Erdoberfläche!« Wieder fuhr Bernstein herum, ruckartig diesmal; er schwebte zum Sichtfenster. An den
»Was ist mit deiner metaphysischen Ader, Scan? Kein Gebet? Kein Mantra? Keine Anrufung Gottes? Das nenne ich intellektuelle Redlichkeit, mein lieber Seari. Alle Achtung.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete wieder den Monitor. »Schauen wir also, ob der seidene Faden doch noch hält, an dem sechs Milliarden Leben hängen. Und wenn nicht - dann sehen wir dem Tod ins Auge, wie wir dem Leben ins Auge gesehen haben. Oder was meinst du, Sean?« »Phrasen!« Bernstein schnaubte verächtlich. »Nichts als Phrasen! Es ist noch nicht lange her, da wolltest du das Leben anderer aufs Spiel setzen, um dein eigenes zu retten, Lou.« Er wandte sich ab und sah zum Bordfenster hinaus. Dort draußen war noch immer nichts zu sehen von »Christopher-Floyd«. Die Minuten schleppten sich dahin. Die Gebete im Modul wurden leiser. Bald flüsterte nur noch Rubowitz vor sich hin. Er war inzwischen aus dem Hebräischen .ins Englische gerutscht. »Gelobet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns Menschen gebildet mit Weisheit ...« Die Meldungen aus dem Bordfunk nahmen wieder zu. Auch Houston meldete sich in kurzen Abständen und bestätigte den Zielkurs der acht Raketen. Die Stimme eines gewissen Commander Matthew Drax meldete die Radarerfassung der Geschosse. Der Pilot befehligte die Beobachtungsstaffel. Und draußen im All sah Bernstein, wie sich ein elliptischer Stern vom dunklen Horizont der Erde löste. Wenig später sah er den Kometen mit eigenen Augen: Eine leuchtende Feuerkeule, die sich von Minute zu Minute vergrößerte. Bald überlagerte ihr Schweif die Helligkeit der Sterne. Bernstein spürte sein Herz in seinem Brustkorb herum stolpern. Ein Psalm drängte sich auf seine Zunge. Er schüttelte die uralten Worte ab und murmelte stattdessen die Namen seiner Kinder vor sich hin: »Anne, Kevin, Mary, Anne, Kevin, Mary...« »Noch knapp vier Minuten«, quäkte Jordans Stimme aus dem Bordfunk. Bernstein fuhr herum. 9:26 Uhr zeigte die Zeitangabe auf Marshas Monitor.
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Wandgriffen hielt er sich fest und presste die Stirn gegen das Titanglas. Die Feuerkeule über der Sichel des aufdämmernden Erdtages erglühte in gleißendem Licht. Bogenförmige Glutsäulen stiegen aus ihrem Feuernebel auf. Aber sonst geschah nichts, keine Spur der Feuerkaskade, in der die Computeranimation das Zerbersten des Kometen vorweggenommen hatte. Sekundenlang herrschte Stille. Die Computerventilatoren summten, die Belüftungsanlage rauschte, sonst nichts. Dann knisterte es im Empfänger. »Objekt getroffen, aber kein sichtbares Ergebnis. Over.« Die Meldung des Staffelkommandanten an seine Basis. Jemand schluchzte. Rubowitz begann wieder zu beten. Langsam wandte Bernstein sich vom Fenster ab. Marsha blickte ihm entgegen. Tränen lösten sich von ihren Augen und Wangen und taumelten an Taurentbe-ques Rücken vorbei. Die Zeitangabe auf der Monitorfußleiste sprang eben auf 9:32 Uhr Central Time. »... die geboren sind, werden sterben, die gestorben sind, werden leben, die leben, werden gerichtet, dass sie wissen, kundtun und erfahren, dass er Gott ist...« Rubowitz' Stimme zitterte. Marsha stieß sich ab und schwebte zu ihm unter das Sichtfenster. So fest, als wollten sie sich nie mehr loslassen, hielten sie sich während der letzten Minuten vor dem Einschlag umklammert. Taurentbeque und der Chinese gesellten sich zu ihnen. »Christopher-Floyd« raste der Erde entgegen. Benommen starrten sie die lodernde Flammenfaust an. Die Spitze verfärbte sich Orange, als der Komet in die äußersten Schichten der Erdatmosphäre eindrang. »... alles gehört ihm: und wisse, alles ist wohlberechnet, darum verführe dich nicht dein Trieb, dass die Gruft dir eine Zuflucht sei, denn wider deinen Willen wirst du geboren...« Eine rötliche Glutkuppel blähte sich vor der Kometenspitze auf. Minute um Minute vertiefte sich die Rotfärbung. Ihr Reflex tränkte die Atmosphäre rund um den Kometen und breitete sich immer weiter aus. Und hinter ihm ging die Sonne auf. Ihre weißliche Scheibe löste sich
vom brennenden Horizont. Dessen milchiges Blau sog die rote Glut auf, und wenig später überstrahlte »Christopher-Floyd« selbst das Zentralgestirn des Sonnensystems. »... wider deinen Willen lebst du, wider deinen Willen stirbst du...« Die Glutkuppel, die »Christopher-Floyd« vor sich her schob, schwoll zu einer gewaltigen Blase an. Orange und Rot flutete die Atmosphäre von Horizont zu Horizont. Die Wolkenschicht riss jäh auf, ungeheure Kräfte jagten sie in alle Richtungen auseinander. Der Komet tauchte endgültig in die erdnahe Atmosphäre ein. Für Augenblicke konnte Bernstein die Umrisse des europäischen Kontinents erkennen. »... und wider deinen Willen...« »Halt endlich das Maul, verflucht noch mal!« Taurentbeque schrie nicht - er kreischte. »Halts Maul! Halts Maul! Halts Maul!« »... wirst du einst Recht und Rechenschaft ablegen vor dem König aller Könige...« Rubowitz schien Taurentbeques Gebrüll nicht zu hören. »... dem Heiligen, gelobt sei er!« Eine Flut von Flüchen auf Französisch ergoss sich über den jüdischen Astrophysiker. Taurentbeque stieß sich ab, schwebte zu ihm und begann ihn zu würgen, Bernstein und die anderen hinterher. Kaum konnten sie den Entfesselten bändigen... * Cape Canaveral, Mitte Dezember 2517 Ihn fröstelte. Trotz des isolierten und temperaturgeregelten Raumanzuges fror Matthew Drax. Fast wünschte er sich in die vertraute Pilotenkombi zurück, die er in seinen Spind gepackt hatte. Er hatte darauf bestanden, sie als »Glücksbringer« mitzunehmen. Und als Tarnung für das kurze japanische Schwert, das er mit an Bord geschmuggelt hatte. Auch Aruulas Schwert, ihr Lendenschurz, ihr Fellmantel und ihre Stiefel würden sie auf der Reise begleiteten, allerdings in der Ladebucht verstaut. 05:14 Die Sekunden auf der digitalen Zeitanzeige
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verrannen. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf in diesen letzten Minuten vor dem Start. 04:55 Er dachte an Aruula, die kein Auge zugetan hatte in der vergangenen Nacht. Er hatte sie festgehalten, weil sie zitterte und er glaubte, sie würde frieren, so wie er jetzt fror. Aber nein: Sie hatte Angst. Jetzt hing sie irgendwo unter ihm im Middeck in ihrem Sitz. Flankiert von Joshua Harris und Dwight Miller. Er dachte an Dave McKenzie, der neben ihm im Copiloten-Sessel saß. Ja -Dave McKenzie, nicht Phil Hollyday. In diesen kritischen Minuten schien Hollyday seinem implantierten Verstand die Kontrolle zu lassen. Matt vergaß schier, dass er es mit einem Fremden zu tun hatte, mit einem Widerstandskämpfer aus einer fremden Zeit. 03:36 Und an die Startbahn musste Matthew Drax denken. Wie oft hatte er sie abgeschritten, wie viele kleine Risse, Löcher und Wölbungen hatte er ausbessern lassen! 03:09 An die unzähligen Trainingsstunden unter den Simulatorhelmen dachte Matt, auf dem rüttelfreien Drehstuhl und im Cockpit des Shuttle. Aus geplanten zehn Vorbereitungstagen waren vierzehn geworden. Erst als Matt ganz sicher war -so sicher, wie er in dieser Ausnahmesituation eben sein konnte -, dass Aruula die Strapazen von Beschleunigungskräften und Schwerelosigkeit bewältigen würde, hatte er den Countdown freigegeben. 02:57 Die Triebwerke liefen längst. Armlehnen, Boden und Rückenlehnen vibrierten leicht. Manchmal, wenn das Stakkato im Helmfunk für Sekunden verstummte, hörte Matt ein tiefes Brummen. Der Astrophysiker neben ihm ging die Kontrollinstrumsnte durch. 02:33 Die noch ausstehenden Okay-Meldungen der Besatzung gingen bei ihm ein. »Hüftgurt?« »Okay.« Aruula war die Letzte. »Schultergurt?« »Okay.« Wie oft war er das mit ihr durchgegangen. Himmel noch mal -wenn sie
das nicht heil überstand... Matt schob die Angstvorstellung beiseite. Keinen negativen Gedanken zulassen - auch das hatte er mit ihr trainiert. Positiv denken, positive Bilder herauf beschwören. Zweckoptimismus war angesagt. »Sauerstoffanschluss?« »Okay.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, klar. Wenn sie sich nur nicht in die Hosen machte. »Wasserzufuhr erreichbar?« »Okay.« Jeder von ihnen trug zwei Liter Trinkwasser in sechzehn flachen Beuteln am Körper. Sie waren miteinander verbunden. Das Wasser konnte bei Bedarf durch Saugen an einem Röhrchen im Helminneren aufgenommen werden. 01:52 Captain Melanie "Chambers saß in einem der beiden Sitze hinter Matt und McKenzie/Hollyday. Sie wirkte gefasst, schien sich sogar zu freuen auf die Mission. Matt war nicht verborgen geblieben, dass es gewaltig knisterte zwischen dem Astrophysiker und der Offizierin. 01:29 Endlich der Com-Check. McKenzie/Hollyday führte ihn durch. »Mission Control, können Sie mich hören?« »Wir hören Sie laut und klar.« Crows Stimme. Er leitete das Kontrollzentrum persönlich. Und Lynne Crow blähte sich als seine Stellvertreterin auf. Matt versprach sich keine Hilfe von ihnen und ihren Agenten hinter den Bildschirmen. Und wenn der Weltrat seine fähigsten Leute an die Konsolen gesetzt hätte: Woher hätten sie das Know-how und die Erfahrung für die Kontrolle und Bodenunterstützung einer Raummission nehmen sollen? Nein, was dort unten inszeniert wurde, war eine Überwachung, weiter nichts. Sie waren auf sich selbst gestellt und der »Große Bruder« kontrollierte sie dabei. Von mir aus, dachte Matt. Er hoffte nur, dass Dave McKenzie alias Phil Hol-lyday die Sache durchstand. Psychisch durchstand. Er schien ihm diesbezüglich nicht mehr der Stabilste zu sein. Geradezu verwirrt kam er Matt manchmal vor. Wenn ihm sein eigener Name nicht einfiel, wenn er plötzlich Selbstgespräche führte oder wie abwesend in irgendeine Ferne starrte und
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dabei stumm die Lippen bewegte. Vielleicht war es nur Verliebtheit. Aber er würde den Mann im Auge behalten müssen. Schließlich war er sein wichtigster Partner in den nächsten Tagen. 00:52 »Hier spricht Präsident Hymes. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug und viel Glück für die Mission.« »Danke, Sir«, kam es fünffach zurück. Aruula vergaß sich zu bedanken. 00:23, 00:22, 00:21... Matt verschmolz mit den Instrumenten und Schaltern, die für den Start wesentlich waren. Schubkraftkontrolle Haupttriebwerk, Nachbrenner, Schubkraftkon trolle Manövertriebwerk, Fahrwerkkontrolle, Querruder, Geschwindigkeitskontrolle, Höhenruder, und so weiter - über zweihundert Schalter, Digitalanzeigen, LED-Leuchten insgesamt. Wehmütig dachte er an seine gute alte F-17 Alpha 2. 00:18,00:17... Viele Kontrollen und Funktionen in diesem Prototyp verwaltete der Bordcomputer - Dave McKenzie hatte ihn Captain Ahab getauft. Als leicht erkennbare Symbole huschten sie über das große HUD - das Head-up-Display -oder konnten bei Bedarf über eine Menüleiste angeklickt werden. McKenzie hatte den Kurs in den Orbit programmiert: Captain Ahab wusste Bescheid. 00:09,00:08,00:07... Fiebrige Erregung fuhr wie elektrischer Strom durch Matts Glieder. Im Helmfunk herrschte vollkommene Ruhe. Durch das Cockpitfenster sah er einen fast linealgeraden Spalt im hellgrauenHochnebel. Er musste lächeln unter seinem Plexiglasvisier, weil er sich vorstellte, wie irgendein Gott durch den Spalt auf sie herab sah. Wudan is watching you... 00:03, 00:02, 00:01... Ein grünes Licht flammte in der digitalen Zeitanzeige auf; die Queen Victoria rollte an. Matt behielt die digitale Geschwindig keitsanzeige im Auge. Die Ziffern veränderten sich stetig: Von zunächst fünfzehn, zwanzig, vierzig Knoten kletterten sie rasch auf neunzig, hundert, hundertzwanzig und hundertfünfzig
Knoten. Das Shuttle vibrierte, Matt wurde durchgeschüttelt, die Beschleunigung presste ihn in den Sessel. Fast genoss er es. Seit dem Flug von Berlin nach Köln hatte er dieses Gefühl nicht mehr empfunden! Dieses Gefühl von Geschwindigkeit und von Kräften, die dem Menschen überlegen sind und die er dennoch bändigen konnte. Es war gut, in diesem Sitz zu liegen, es war gut, diesen Kräften ausgesetzt zu sein. Und am allerbesten war es, sie im Griff zu behalten. Hundertfünfzig Knoten, hundertachtzig, zweihundert, zweihundertdreißig... Die Maschine vibrierte. »Anhalten«, stöhnte eine Männerstimme im Helmfunk. »Stoppt die verdammte Kiste...!« War es Harris' Stimme, oder doch Millers? Matt war sich nicht ganz sicher, aber Panik passte irgendwie nicht zu dem weißhaarigen, sehnigen Kommunikationstechniker. »Sparen Sie Ihren Atem, Harris«, sagte er. »Denken Sie an das, was wir trainiert haben.« Zweihundertfünfundachtzig Knoten, zweihundertneunzig... Matt zog den Steuerknüppel an sich heran, und die Queen Victoria hob ab! Links und rechts der Atlantik und über ihnen der graue Himmel und die Lichtflut aus dem Spalt in der Wolkendecke. Obwohl eine Marmorplatte auf seiner Brust und in seinem Schoß zu lasten schien, fühlte Matt sich leicht, unglaublich leicht. Eine Leichtigkeit, die nicht seinen Körper, aber sein Herz beflügelte. Er hätte gern laut gelacht, wenn ihm genug Atem geblieben wäre. Doch die Gravitationskräfte der immensen Beschleunigung drückte ihm die Luft ab. Er widerstand der Versuchung, die mühselige Atemarbeif aufzugeben, und konzentrierte sich auf Captain Ahabs Display. Vierhundert Knoten, vierhundertsech-zig, fünfhundert, fünfhundertzwanzig... Wie würde es Aruula gehen? Sinnlos, sie anzusprechen. Genau wie er selbst brauchte sie ihre ganze Kraft jetzt, zum Atem zu holen. Sechshundert Knoten, sechshundertfünfzig, siebenhundert... Und dann ließ der Druck nach, die Atemluft
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strömte freier durch Matts Kehle. Die Queen Victoria durchstieß die Grenze zur Stratosphäre. Der bläuliche Schleier vor den CockpitFenstern zerriss, und Sonne und Sterne funkelten in der kalten schwarzen Finsternis des Kosmos. »Willkommen im Orbit«, keuchte Matt in den Helmfunk. »Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug - und eure Hosen sind noch trocken...«
sie zurückerobern zu wollen, seit Eisas' Gesandter ihnen gesagt hatte, dass die Fremden in seinem Auftrag handelten. Also diente ihre Anwesenheit dem großen Plan und war gut. Wenn der Plan erfüllt war, konnte man sie ja immer noch abschlachten... * Die Daten huschten über die Monitore Koordinaten und Vektoren. Der grüne Punkt des Radarreflexes leuchtete noch auf, doch mit den Außenkameras war nur noch der Kondensstreifen zu sehen. Das Shuttle hatte die Wolkendecke durchstoßen und war mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen. Gespannte Ruhe herrschte im Kontrollzentrum. Nur sechs Sessel vor einer breiten Instrumentenkonsole war besetzt. Präsident Hymes, General Crow und seine Tochter Lynne sowie drei Offiziere des Weltrats beobachteten hier die Monitore. Seit Monaten hatte Arthur Crow die Datenbanken durchforstet, um sich auf die Leitung der Bodenstation vorzubereiten. Und dann endlich drang Commander Drax' Stimme aus den Lautsprechern: »Queen Victoria an Kontrollzentrum: Umlaufbahn erreicht, ISS im Radar, Kurs korrekt, Andocken in sieben Stunden, vierzehn Minuten. Kommen.« »Kontrollzentrum an Queen Victoria.« Lynne Crow sprach ins Mikro. »Glückwunsch und alles Gute für die Mission. Ende.« Sie unterbrach die Verbindung. Victor Hymes und Arthur Crow reichten sich die Hände. »Glückwunsch, Mister President«, grinste der General. »Der erste Schritt ist getan. Wenn sie jetzt noch erfolgreich andocken, haben wir so gut wie gewonnen.« »Ganz meinerseits, Arthur. Gratuliere.« Der Präsident wirkte erschöpft, aber zufrieden. »Es war ein langer Weg bis zu dieser Stunde. Aber wir haben es geschafft.« »Drax hat besser mitgespielt, als ich befürchtet hatte«, schaltete sich Lynne Crow ein. »Er scheint nichts zu ahnen.« Sie stieß ein bitteres Lachen aus und rieb sich dabei den künstlichen Arm. »Und Hollyday hat sich
* Seit zwei Sonnenuntergängen warteten sie auf den großen Augenblick. Auf den Augenblick, dem der Stamm seit Ge- nerationen all sein Dichten und Trachten geweiht hatte, alle Kräfte, alle Hoffnung. Und jetzt war er gekommen. Ein Rausch hatte die Männer gepackt, die sich »Söhne des Himmels« nannten. »Seht, Brüder! Seht die Erfüllung der Verheißung!« Ihr Häuptling - sie nannten ihn Kommando - deutete in den Himmel, wo der weiße, vogelartige Götterwagen zwischen den Wolken verschwand und einen Feuerstrahl hinter sich herzog. »Seht in Erfüllung gehen, woran eure Väter und Großvater geglaubt, wovon sie geträumt, wofür sie gearbeitet haben!« »Gnädig und barmherzig ist Eisas, geduldig und von großer Güte!«, rief der Chor aus rauen Kehlen. Sie kauerten und beobachteten den Feuerschein zwischen den Wolken. Voller Andacht beteten und jubilierten sie. Der Schweif des Götterwagens hatte sich längst in eine Girlande aus weißem Dampf verwandelt, als sie sich in die Arme fielen. Der Kommando. stimmte ein Lied an. Fröhlich singend stiegen sie in die Sumpfwälder zurück... »Gepriesen sei Eisas!« Die Männer rissen die Arme hoch, einige warfen sich auf die Knie. »Gnädig und barmherzig ist Eisas, geduldig und von großer Güte! Ehre sei Eisas!« Sie waren auf eine Anhöhe geklettert, struppige Männer in grob vernähten Wildlederstiefeln, Fellen und ledernen Beinkleidern, zwei Dutzend und mehr. Man konnte das Meer sehen von hier oben aus, und die heilige Insel, auf der seit Monden schon die Ungläubigen hausten. Sie hatten es aufgegeben,
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täuschen lassen. Wie gut, dass ihr auf mich gehört habt. Weder diese Wilde noch Drax haben auch nur einen Schimmer.« »Ich kann immer noch kaum glauben, dass eine einfache Hypnose genügt hat, um unsere wahren Gedanken vor dieser Telepathin zu verbergen«, brummte ihr Vater. »Warum nicht?«, konterte Lynne. »Sie kann schließlich nur das lesen, was wir denken. Und die Hypnose hat jede Erinnerung an Hollydays Identität und unsere wahren Absichten unterdrückt - bis zum Ablauf des Countdowns.« »Vorsicht. Keine voreiligen Siegesfeiern«, warnte Hymes. »Immerhin kocht Drax auch sein eigenes Süppchen. Hoffen wir, dass unsere Leute die Kontrolle auf der Raumstation behalten.« »Da mach dir mal keine Sorgen«, knurrte Crow. »Wie sagt Suntzu in seiner Kunst des Krieges? >Einen, der sich selbst kennt und der seinen Feind kennt, werden hundert Schlachten nicht gefährden< Wir kennen Drax, wir kennen den Running Man Phil Hollyday, und wir kennen unsere Sturmspitze. Für Captain Chambers lege ich meine Hand ins Feuer. Sie wird Hollyday umlegen, sobald wir ihn nicht mehr brauchen. Und wenn Miller und Harris die Barbarin ausgeschaltet haben, steht Drax mutterseelenallein.« »Erst wenn ich die Datenträger aus der Raumstation und Drax' Leiche vor mir sehe, glaube ich an den Erfolg.« Der Präsident blieb zurückhaltend. »Mach dir keine Gedanken, Victor.« Crow legte den Arm um ihn und führte ihn zum Haupteingang des Kontrollzentrums. »Drax glaubt, er hätte bereits gewonnen. Umso tiefer wird sein Fall...«
Und Blut. »Du bist ein gottverdammter Mistkerl, Lou«, zischte Bernstein. »Red keinen Quatsch, Sean.« Mit der Pistole deutete Taurentbeque zum Schott. Es führte in die Luftschleuse zur Rettungsfähre X-38. »Sei froh, dass du einen Platz bekommen hast.« Das war zynisch. Nur er, Marsha, Rubowitz und der General hatten sich freiwillig entschieden, mit dem Gleiter zur Erde zurück zu fliegen. In die Hölle. Die anderen fünf hatten sich geweigert, um die verbliebenen drei freien Plätze in der Rettungsfähre zu losen. Also hatte Taurentbeque die Lose an ihrer Stelle gezogen. Bernstein musterte nacheinander alle drei Hagen Winter, Anatol Ragojew und den Franzosen. Er konnte ihren Mienen keinerlei Gefühlsregungen entnehmen. »Ich verfluche euch«, sagte er. Dann klappte er den Solarschild seines Raumanzugs herunter und stieg in den Verbindungstunnel zur Schleuse ein. Marsha hatte er seit Tagen nicht gesehen. Die drei Meuterer hatten sie In Zweierund Dreiergruppen gefangen gehalten. Vermutlich tvar Marsha vor ihm in die Rettungsfähre gebracht worden. Minuten später öffnete sich das Schott zum Gleiter. Er kletterte in die Maschine und nahm seinen Platz auf dem Pilotensitz ein. Zwei Sitze waren schon besetzt. »Marsha?« Bernstein drehte sich um. Wegen der schwarzen Schilde konnte er die Gesichter nicht erkennen. »Marsha?« Die Astronauten schüttelten ihre behelmten Köpfe. Eine Stunde dauerte es, bis der sechste ausgeloste Passagier durch das Schott schwebte. Marsha war nicht dabei. Und der vorgesehene siebte folgte nicht... Die Kontrollinstrumente und der Navigationscomputer für die Rettungsfähre befanden sich im Steuerungsmodul Zarya. Es schloss sich direkt an das Startmodul für die Rettungsfähre an. Taurentbeque blickte zum schmalen Sichtfenster hinaus ins Weltall, während Ragojew die Flugkoordinaten einprogrammierte und die Kontrollinstrumente checkte. Schwarzgraue Wolken verhüllten die Erde. Seit drei Tagen schon. Houston antwortete nicht mehr. Und auch
* ISS, 12. Februar 2012 Commander Sean Bernstein schwebte neben dem Toten. Er konnte ihn nicht erkennen - der Solarschild verdeckte sein Gesicht. Fetzen spreizten sich rund um das Einschussloch im Raumanzug des Toten. Metallteile und Schaltelemente der in den Anzug eingearbeiteten Sensoren schwebten heraus.
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sonst keine Bodenstation. Kein Schiff, kein Flugzeug, kein Bunker, kein Ministerium weder in Washington, noch in Paris, noch in Moskau. Gespenstische Funkstille herrschte im Äther. Auch die Messungen, die Taurentbeque durchgeführt hatte, ließen keinen Optimismus aufkommen: Flutwellen, Feuerorkane, Erdbeben, Vulkanausbrüche, radioaktive Strahlung, dichte Staubwolken über Kontinenten und Ozeanen. Sie hatten die Ausgelosten mit Waffengewalt zum Betreten der Fähre zwingen müssen. Und er hatte einen von ihnen erschießen müssen, um auch den Letzten von der Gnade seines Loses zu überzeugen. »Verdammte Scheiße.« Ragojew neben ihm fluchte auf Englisch und Russisch. »Die Rampenhydraulik klemmt!« Mit der elektronisch gesteuerten Hydraulik wurde die Rettungsfähre von der Außenhülle der Raumstation geschoben und in Startposition gebracht. Ragojews Finger huschten über Tastaturen, Knöpfe und Schalter. Die Fähre bewegte sich nicht. »Ich kriegs nicht hin!«, schimpfte Ragojew. »Einer von uns muss raus!« »Geh du, Anatol.« »Ich bin doch nicht bescheuert!« »Einer von uns muss es tun.« »Dann geh du doch raus!« »Lass uns losen.« Taurentbeque stellte die Verbindung zum Columbus-Modul her. Der Bildschirm flammte auf. Hagen Winter schwebte davor. Und hinter ihm, mitten im Labor, eine Gestalt in einem Raumanzug. Captain Marsha Hunt. Winter hatte ihr den Helm abgenommen und man konnte ihr dunkles Gesicht und ihr schwarzes Kraushaar erkennen. Sie war ohnmächtig. Taurentbeque persönlich hatte ihr ein Betäubungsmittel in den Hals gespritzt, als sie in den Tunnel zur Schleuse einsteigen wollte. »Was gibt's?«, wollte Winter wissen. »Probleme mit X-38. Komm runter. Einer von uns muss raus. Wir losen.« Der Bildschirm wurde dunkel. »Und wie willst du losen?«, blaffte der Russe ihn an. »Hast du etwa Streichhölzer dabei?« Taurentbeque griff in die Brusttasche seines
Hemdes und holte das Röhrchen mit den Tabletten heraus. Solange sie noch an Bord waren, mussten sie den Anandamid-Hemmer schlucken. Kein Weg führte daran vorbei. Sie wurden streng darauf achten müssen, dass der Pilz nicht in die Atlantis II eindringen konnte. »Hast du eine Idee?« Der Franzose schob sich eine Tablette in den Mund. »Hatte Hagen nicht ein Pokerblatt dabei?« Taurentbeque nickte. »Hat er.« Er wusste jetzt schon, wer die Lusche ziehen würde. Sein Blick wanderte über die Monito-re. Im Halbdunkel der Zentrifuge kauerte die Gestalt eines Mannes. Ihn hatte das Los dazu verdammt, in der ISS zurückzubleiben. Oder ihn dazu begnadigt, je nachdem. Eine Bewegung im Startmodul von X-38 machte ihn stutzig. Er blinzelte und sah genauer hin. Tatsachlich: Das Schott vor dem Schleusentunnel bewegte sich. »Was ist das?!« Ragojews Kopf schoss nach vorn. Er schwebte ruckartig von seinem Sessel. »Verdammt! Da steigt einer aus der Rettungsfähre!« Taurentbeque zog die Pistole aus dem Hosenbund und stieß sich in Richtung Verbindungsschott ab. * An Bord der »Queen Victoria«, Mitte Dezember 2517 Auf zahllosen Bildern hatte er sie gesehen: in Fernsehsendungen, in Magazinen, im Internet. Sie jetzt wiederzusehen, unter diesen Umständen wiederzusehen, ließ sein Herz höher schlagen. »Ich werd verrückt«, flüsterte McKenzie/Hollyday neben ihm. Majestätisch schwebte die Raumstation vor ihnen im scheinbar leeren Raum. Als hätte nichts ihr etwas anhaben können - der Komet nicht, fünfhundert Jahre nicht. Matt hoffte, dass es sich genauso verhielt. »Es ist unglaublich.« Etwas wie Euphorie berauschte Captain Melanie Chambers. »Dass ich so etwas erleben darf...!« Wie gebannt blickte sie auf den vom Sonnenlicht erleuchteten Erdball. »Es ist einfach unfassbar!
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Wenn ich jetzt sterben müsste, wäre ich trotzdem zufrieden.« »Aber ich nicht.« Hollyday drehte sich um und streckte die Hand nach der Offizierin aus. Zärtlich berührte sie seine Fingerspitzen. Die Gurte verhinderten, dass sie sich näher kamen. Aruula meldete sich selten. Und wenn, mit heiserer Stimme. Der Start und die neuen Eindrücke hatten sie stark mitgenommen. Um die beiden Soldaten bei ihr auf dem Mitteldeck kümmerte sich Matthew Drax nicht. Die Raumstation rückte näher und näher. Das kesseiförmige Schleusen-Element unterhalb des Zentralmoduls war jetzt deutlich zu erkennen. »Fertig machen zum Andocken«, sagte Matt. »Helme schließen und auf interne Sauerstoffversorgung umschalten.« Die Queen Victoria glitt unter den ersten, kreuzförmig angeordneten Modulen der ISS hinweg. Ein antikes Bauwerk, dachte Matt. Fast fiinfhundertzwanzig Jahre alt... Die Größe der Raumstation flößte ihm Ehrfurcht ein. Ihre Größe und ihre Fremdartigkeit gemessen an all dem, was er in den vergangenen zwei Jahren hatte sehen müssen. Das Monument einer untergegangenen Zivilisation ... Matts Hand tastete über den Steuerungsmonitor. Er tippte auf die Grafik für die Bugtriebwerke. Die Maschine verlor noch weiter an Geschwindigkeit. Langsam schob sich das Zentralmodul heran. Und schließlich der Schleusentunnel. Ein Ruck ging durch das Shuttle, als sie andockten. »Wir haben es geschafft«, seufzte Matt in den Helmfunk. Keiner jubelte. »Siehst du das?« McKenzie/Hollyday deutete an ihm vorbei zum linken Frontfenster. Matt blickte hinaus. Etwas schwebte knapp hundertzwanzig Meter entfernt im freien Raum. Er sah genauer hin. Ein Mensch. Ein Mensch in einem Raumanzug. Ein schlauchartiges Seil verband die Gestalt mit einem Modul über ihr. »Bei allen Göttern Meerakas...!«, stöhnte Melanie Chambers' Stimme im Helmfunk.
»Er hängt am Startmodul für die Rettungsfähre«, sagte McKenzie/Hollyday. Er kannte die Topologie der Raumfähre in- und auswendig; jedenfalls der Teil in ihm, der David McKenzie war. »Die Rettungsfähre selbst ist verschwunden. Rätselhaft. ..« »Es wird nicht das einzige Rätsel bleiben, das uns in diesem Koloss erwartet.« Matt löste seinen Gurt. Die Schwerelosigkeit ließ ihn abheben. »Versuchen wir die Schleuse zu öffnen...«
Fortsetzung folgt
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Im Orbit Commander Matthew Drax steht kurz davor, das Rätsel um den Kometen zu lösen - oder knapp vor dem Ziel getötet zu werden. Welche Geheimnisse und Gefahren erwarten ihn und den Rest seiner ungleichen Crew auf der ISS? Was planen Präsident Hymes und General Crow? Und wie erging es der Besatzung der Raumstation vor über 500 Jahren? In drei Wochen erst könnt ihr lesen, wie es mit der Saga um »Maddrax« weitergeht. Denn nachdem dieser Band wegen der Weihnachtstage um eine Woche vorgezogen wurde, erscheint Band 51 regulär erst am 8. Januar 2002. Ich hoffe, bis dahin habt ihr euch nicht vor Spannung die Fingernägel bis zum Knochen abgeknabbert. Wir lesen uns im neuen Jahr! Euer MAD MIKE
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Das MADDRAX Autorenporträt: JO ZYBELL Von Jo Zybell ist immerhin bekannt, dass ihn seine Mutter in den 50er Jahren während einer Reise in Düsseldorf geboren hat. Angeblich sei an diesem Tag der Rhein zugefroren gewesen was aber vermutlich mit seiner Geburt in kenem direkten Zusammenhang steht. Kurz darauf wuchs Zybell u. a. in Cottbus, Frankfurt, Rastatt und Karlsruhe auf. In Kindheit und Jugend begann er sich die Langeweile mit selbst ersonnenen Gedichten und Geschichten zu vertreiben. Sein ätzendster Job war es, eine gewisse Mathematiklehrerin im Auge zu behalten, während sie die Tafel voll kritzelte (mit Funktionsgleichungen und Infinitesimalrechnungen). Sein schönster, Geschichten aus dem Leben Verstorbener vor deren Särgen in Dortmunds Trauerhallen zu erzählen. Dazwischen verdiente er sein Geld auf mancherlei Weise: Hähnchen grillen, Kranke pflegen, Hauswände maurern, predigen, Taxi fahren, Leute sozialbearbeiten und dergleichen. Während eines Jobs in einer Psychoklinik im Schwarzwald fiel ihm die Geschichte des größenwahnsinnigen Nashorns Nero ein, das keine gescheckten und gestreiften Mittiere in der Savanne duldete.
Die wurde von Rowohlt als Kinderbuch mit Erfolg gedruckt. Danach meinte seine Liebste, es müsste eigentlich Spaß machen, mal einen dieser Arztromane zu verfassen. Seitdem schreibt Jo Zybell für den Bastei Verlag. Meistens jedenfalls. Dort erfüllt er sich manchen Jugendtraum: Zum Beispiel auf dem Rücken eines Rappen durch die Prärie zu reiten, in einem Jaguar E herumzukurven und durch postapokalyptische Großstädte zu wandern ... Kometen auf Kollisionskurs hält Jo Zybell für unpraktisch, weil sie seinen Tabak-, Getränke- und Zeitungshändlern das Leben unnötig schwer machen könnten. Die Krönung seiner bisherigen schriftstellerischen Laufbahn bildete die Ehrung als Bester Autor mit dem DEUTSCHEN PHANTASTIK-PREIS 2001. Roman-Nachweis MADDRAX: Softcover: l, 2, 10, 12, 17, 18, 21, 24, 28, 34, 35, 40, 47, 50, 51, Hardcover: »Apokalypse« und »Genesis«
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