Matthias Buck · Florian Hartling · Sebastian Pfau (Hrsg.) Randgänge der Mediengeschichte
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Matthias Buck · Florian Hartling · Sebastian Pfau (Hrsg.) Randgänge der Mediengeschichte
Matthias Buck Florian Hartling Sebastian Pfau (Hrsg.)
Randgänge der Mediengeschichte
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Layout und Satz: Sascha Trültzsch Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16779-4
Manfred Kammer zum 60. Geburtstag
Inhalt Einleitung Matthias Buck, Florian Hartling, Sebastian Pfau Randgänge der Mediengeschichte: Einleitende Bemerkungen ............ 11 I.
Historiographie Rainer Leschke Mediale Konstellationen und mechanische Bräute. Überlegungen zur Konzeption von Kommunikationsgeschichte......... 29
II. Bildgeschichte Gerhard Lampe Reflexionen zu William Henry Fox Talbots Photographie Die offene Tür................................................................ 49 Kathrin Fahlenbrach Ikonen in der Geschichte der technisch-apparativen Massenmedien. Kontinuitäten und Diskontinuitäten medienhistorischer Ikonisierungsprozesse .......................................................................... 59 Manja Rothe-Balogh Stay – Neue Perspektiven im Schnitt- und Filmraum .......................... 75 III. Emotionen und Medien Ingrid Brück Liebesgeschichte(n) ............................................................................. 95 Anne Bartsch Zeitungs-Sucht, Lesewut und Fernsehfieber. Zur Geschichte der kritischen Diskurse über Medien und Emotionen................................................................ 109
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Inhalt
IV. Technikgeschichte der Medien Klaus Kreimeier Eine technische Tour de Force. Thomas A. Edison und seine Mitarbeiter............................................. 125 Claudia Dittmar Geplatzte Träume im Äther. Gescheiterte Projekte des DDR-Fernsehens im Wettstreit mit dem Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland........................................ 135 Jessica Quick Vom Rezeptions- zum Selektionsmedium oder: Wie der Journalismus digital wurde. Eine exemplarische Untersuchung des Online-Engagements in der deutschen Presselandschaft........................................................ 149 Jürgen Beine Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe. Wikis als eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft? ....... 163 V.
Hören und Medien Karl Karst Medium Ohr. Eine kurze Geschichte des Hörens ................................ 181 Thomas Wilke Der Ton läuft. Zur Reproduzierbarkeit historischer Hörräume ................................... 191 Golo Föllmer Vision, Utopie und Pragmatismus. Historische Positionen zum öffentlichen Raum in Musik und Audio Art....................................................................... 205
Inhalt
VI. Medien und Öffentlichkeit Cornelia Bogen Melancholie und Medien. Aspekte der Gesundheitskommunikation in der Epoche der Aufklärung.............................................................. 229 Reinhold Viehoff Sinn und Form – „personality“ … „private homepage“ … „under construction“. Überlegungen zu kommunikativen Selbstdarstellungen im Internet.... 245 Daniela Pscheida und Sascha Trültzsch Am Rande des guten Geschmacks?! Eine kleine Medienkulturgeschichte der veröffentlichten Privatheit ... 259 Helmut Schanze Der Computer als Medium: Paradoxien der Computersicherheit ..................................................... 275 VII. Medienanalyse Cordula Günther Mediengeschichte fängt bei Adam und Eva an.................................... 285 Matthias Uhl und Peter Hejl Die alten Geschichten sind die Besten. Eine evolutionstheoretisch-inhaltsanalytisch vergleichende Untersuchung westlicher und indischer Erfolgsfilme. ......................... 299 Ulrike Schwab Der Kriegsfilm: Historisch-kritische Reflexionen zur Bestimmung eines Genres......... 313
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Randgänge der Mediengeschichte: Einleitende Bemerkungen Matthias Buck, Florian Hartling, Sebastian Pfau
Randgänge ziehen die Grenzen eines Gegenstandes nach. Sie erlauben eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand von dort aus, wo er sich von anderen unterscheidet. Der vorliegende Band zu den „Randgängen der Mediengeschichte“ widmet sich einem der größeren Themengebiete der Medien(kultur)wissenschaft. Er stellt aktuelle Forschungspositionen zusammen, die sich der Exploration von noch vorhandenen „weißen Flecken“ im Feld widmen, wie es Rainer Leschke in seinem Beitrag ausdrückt. Ob die Grenzen, die in den Beiträgen abgeschritten werden, ein großes Gebiet umfassen, ob eine Epoche nachgezeichnet, ob ein historiographisches Theorem geprüft oder ob ein kleines seltenes, kaum bemerktes Eiland vermessen wird, ist je vom methodischen Zugang abhängig. Neben Leschkes Überblicksartikel zur „Historiographie“ sind dies Studien zur Bildgeschichte, zu Emotionen und Medien aus mediengeschichtlicher Perspektive, zur Technikgeschichte der Medien, zur Geschichte von Hören und Medien, zur Geschichte von Medien und Öffentlichkeit sowie zur Medienanalyse unter medienhistorischer Fragestellung. Dabei werden unterschiedliche systematische Facetten der Mediengeschichtsschreibung beleuchtet, sei es nun die technische Herausbildung von Einzelmedien, die Geschichte von institutionellen Entwicklungen oder die Beschreibung von programmgeschichtlichen Aspekten. So wird gleichzeitig chronologisch ein Bogen geschlagen, von den Philosophen der Antike über die Gesundheitskommunikation der Aufklärung und dem frühen Film bis hin zu den medialen Bedingungen sozialer Netzwerke im 21. Jahrhundert. Letztere befinden sich derzeit noch an den Rändern einer Mediengeschichtsschreibung, werden aber, wie Jahresringe mehr und mehr in deren Zentrum rücken. Insofern haben Randgänge der Mediengeschichte nicht nur die Funktion noch bestehende „weiße Flecken“ zu beseitigen, sondern sollen immer auch neue Forschungsfelder initiieren.
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Historiographie Kann Kommunikationsgeschichte unter Zuhilfenahme der Vielzahl bestehender Kommunikationsmodelle geschrieben werden? Mit dieser Frage setzt sich Rainer Leschke mit seinem historiographischen Beitrag in diesem Band auseinander. Dabei stellt er zunächst normative sowie deskriptive Modelle von Kommunikation gegenüber und diskutiert ihre Stärken, beschreibt aber vor allem deren Unzulänglichkeit Kommunikation zu beschreiben. Keinesfalls geht er aber von einer prinzipiellen Unbeschreibbarkeit von Kommunikation aus, sondern zeigt die strukturellen Grenzen der jeweiligen Modelle auf, vor allem bei der Beschreibung von massenkommunikativen Phänomenen. Das Scheitern der meisten Kommunikationsmodelle führt Leschke auf deren „Fixierung auf nur eine [medienhistorische] Urszene“ zurück, weil sie alle anderen Medien ignorieren, „die in dieser Szene […] keinen Auftritt haben“ und somit den medialen Geltungsbereich des Modells von vorneherein einschränken. Somit würde die Zuhilfenahme dieser Modelle bei der Konzipierung einer Kommunikationsgeschichte eher hinderlich als nützlich sein. Nur wenn auf die Beschränkung auf kommunikative Urszenen verzichtet wird und stattdessen von dem jeweiligen „spezifischen historischen Mediensystem“, in dem verschiedene Medien in funktionaler Beziehung zueinanderstehen ausgegangen wird, kann Kommunikationsgeschichte betrieben werden. Nicht die Beschreibung von Einzelmedien spielt dabei eine Rolle, sondern die Darstellung der kommunikativen Konstellationen und Infrastrukturen. Freilich gesteht Leschke auch zu, dass es bei der Erforschung von Einzelmedien noch zahlreiche weiße Flecken gibt, plädiert aber für eine historische Auseinandersetzung, welche die Strukturen eines historischen Mediensystems aufdeckt und sich nicht ausschließlich mit einzelnen Medien auseinandersetzt. Bildgeschichte Um die Authentizität von Bildern zu bekräftigen, werden vor allem zwei Topoi angewandt. Von spätantiken Ikonen wurde behauptet, sie seien nicht von Menschenhand gemalt, sondern göttlichen Ursprungs. Der zweite Topos wird erst zu Beginn der Neuzeit formuliert. Die Anwender und Theoretiker der Zentralperspektive heben als besonderen Vorzug ihrer Methode die Homologie menschlicher Wahrnehmung und perspektivischer Konstruktion hervor. Beide Topoi werden von den Pionieren der Fotografie zur Durchsetzung ihres neuen Bildmediums aufgegriffen. Gerhard Lampe zeigt dies anhand der Fotografie Die offene Tür von Henry Fox Talbot, die er zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen über das Wesen fotografischer Bilder macht. Talbot hat mit seiner Erfindung des
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Negativ-Positiv-Verfahrens als erster fotografische Bilder reproduzierbar gemacht. In seiner theoretischen Schrift The pencil of nature variiert er schon im Titel die Denkfigur, die die Ikonen begleitete: die Bilder haben keinen menschlichen Autor, sondern werden von der Natur hervorgebracht. Durch eine eingehende Bildanalyse gelangt Lampe weiter zu der Erkenntnis, dass Talbots Fotografie einer berankten Hauswand, mit offenstehender Tür, die den Blick ins Innere eines Raumes gestattet, gleichsam das Prinzip des fotografischen Verfahrens versinnbildlicht. Lampe erkennt in der Abfolge von Außenraum, Türöffnung und Innenraum die prototypische Konstellation der Fotografie: die Camera obscura. Talbot greift in seinen Bildern und Schriften systematisch die Argumente der Zentralperspektive auf und schreibt sie der Geschichte des eigenen Mediums ein. Ziel des Wiederaufgreifens der Topoi ist, wie erwähnt, die Authentizität der Bilder zu steigern. Dies gelingt umso besser, je erfolgreicher die Kultürlichkeit aller menschlichen Bilder geleugnet werden kann. Die Reproduzierbarkeit fotografischer Bilder und der Glaube an ihre Authentizität war die Grundvoraussetzung für die Entstehung von Medienikonen, die Kathrin Fahlenbrach als zentrales, bildliches Phänomen der technischapparativen Massenmedien diskutiert. Sie zeigt, wie der historische, religiöse Bildkult in den modernen Medien wieder auflebt und wie sich in ihnen Mechanismen einer medialen Ikonisierung entwickelt haben. Während die Fotografie in ihrer Frühzeit vor allem von den herrschenden Eliten zur Selbstinszenierung genutzt wurde, werden Foto-Ikonen im 20. Jahrhundert vor allem von Fotografen, aber auch von Kameraleuten gezielt lanciert. Bilder und Filmaufnahmen etwa von Katastrophen ‚gehen um die Welt‘. Rund um das Medium Film sind Ikonisierungsprozesse vor allem an die Stars gekoppelt und durch deren (Selbst-) Inszenierungsstrategien bedingt. Gleichsam ein Paradebeispiel für moderne mediale Mechanismen der Image-Inszenierung ist Marilyn Monroe. Wobei es Fotografien und nicht Filmsequenzen sind, die im Mittelpunkt des Ikonisierungsprozesses stehen. Ähnliches ist auch beim Medium Fernsehen zu beobachten. Die Ikonisierung ist hier schwierig, weil sich Ereignisse nur unzureichend in audiovisuellen Sequenzen ikonisch verdichten lassen. Am Beispiel der Mondlandung zeigt Fahlenbrach auf, dass hier eben nicht die audiovisuelle Sequenz zur medialen Ikone wird, sondern Standbilder dieser. Schließlich werden massenmedial verbreitete Bilder im digitalen Zeitalter vollends dem Primat der Eliten und der Profis entrissen, zunehmend finden auch private Zeugnisse ihren Weg in die Massenmedien. Damit, so Fahlenbrach, „wird (…) die strategische Lenkung von Ikonen immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich“. Mit der Digitalisierung verlieren die Theoretiker des fotografischen Bildes ihre wichtigsten Argumente, um Fotografie und Film einen privilegierten Wirklichkeitsbezug zuschreiben zu können. Dem Verlust an Authentizität steht ein
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Zugewinn an Gestaltungsspielräumen gegenüber. Die Möglichkeiten, fotografische Bilder mit den Freiheiten eines Malers zu gestalten, wachsen und die technischen Mittel, die das ermöglichen, werden allgemein zugänglich. Welche Möglichkeiten das im Falle der Videobearbeitung sind und wie sie sich von analoger Technik unterscheiden, ergründet Manja Rothe-Balogh: „Effekte wie Picture in Picture, Splitscreen, also Bilder parallel neben- oder übereinander, sowie Zeitraffer, Slow Motion, Vor- oder Rücksprung, die zwar schon im klassischen Filmschnitt möglich waren, sind nicht mehr aufwendig im Kopierwerk, sondern mit einfachen Mausklicks im Schnittprogramm realisierbar.“ Die neuen Möglichkeiten verändern auch die Konstruktion des filmischen Raums. Die Gesetzmäßigkeiten des klassischen Continuity-Editing verlieren an Verbindlichkeit. Um das zu verdeutlichen, skizziert Rothe-Balogh zunächst die historische Analogtechnik aus kulturgeschichtlicher Perspektive, um dann komparativ die heutigen digitalen Möglichkeiten zu betrachten. Der Kinofilm Stay von Marc Foster liefert schließlich Anschauungsmaterial in Sachen digitales Filmediting. Emotionen und Medien Kaum ein Forschungsgebiet der Medienwissenschaften hat in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung erlebt wie die Erforschung der Emotionen. Das besondere Interesse der Medienwissenschaften galt dabei dem Horror, wohingegen das höchste aller Gefühle, die Liebe, nicht die ihr gebührende Beachtung fand. Andere Disziplinen haben dagegen das Thema schon seit langem für sich entdeckt. Weil die Psychologie, Theologie, Anthropologie und Neurophysiologie die Liebe bereits ausgiebig erforscht haben, stützt sich Ingrid Brück für ihre Analyse des Liebesfilms zunächst auf deren Erkenntnisse. Das heißt: viele Disziplinen und noch mehr Ansätze: Liebe ist unmittelbare Anziehung, physische Erregung und sexuelles Interesse… Die Kunst der Liebe ist das Lieben, nicht das Geliebt-werden-wollen… Liebe wird gesteuert durch drei autonome Liebesschaltkreise: Anziehung, Lust und Verbundenheit… Verliebte verhalten sich wie Zwangspatienten… Liebe soll die Wunden schließen, die die Vereinzelung in der mobilen Industriegesellschaft mit sich gebracht hat… Soviel ist klar, einfache Muster romantischer Liebe haben sich überlebt. Das Schema „Junge Frau trifft jungen Mann, gemeinsam überstehen sie Prüfungen und finden am Ende glücklich zueinander“ hat ausgedient. Zwar gibt es noch Fernsehfilme, die sich auf das überkommene Erzählmuster beziehen, sie sind aber nichts anderes als audiovisuelle Heftchenromane. Wo sich Liebesgeschichten der gesellschaftlichen Realität nähern, da geben die Lebensumstände von Patchworkfamilien, von verzeitlichten
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Partnerschaften und serieller Monogamie den Rhythmus der Story vor. Vor allem Daily Soaps und Telenovelas spiegeln seit den 90er Jahren mehr und mehr die gesellschaftlichen Veränderungen wieder. Bei allem Wandel gibt es auch Konstanten des Liebesfilmgenres. Brück identifiziert als basale Dichotomie von Liebesgeschichten die Unterscheidung nach ‚richtiger‘ sowie ‚falscher Liebe‘ und erkennt darin den unveränderlichen Kern, von dem aus kulturelle Unterschiede und historische Veränderungen systematisch beschreibbar werden. Das Fernsehen wird mehr und mehr zum Medium der Emotionen, es betreibt die Emotionalisierung der Politik, der Wirtschaft, es fördert die Emotionalisierung jeglichen gesellschaftlichen Themas. Allerorten ist die Klage über die voranschreitende Emotionalisierung des Fernsehens zu hören, sogar von der ‚Diktatur der Emotionen‘ ist inzwischen die Rede. Anne Bartsch stellt angesichts des immer lauter werdenden Vorwurfs des fortschreitenden Verlustes der rationalen Welterschließung die Frage, ob die mit schöner Regelmäßigkeit von Seiten medienkritischer Autoren erhobene Klage über die Emotionalisierung der Medien eine Konstante ist. Belege für diese These finden sich in der Mediengeschichte zuhauf. Schon die Flugschriften gewannen die Gunst ihres Publikums durch Sensations- und Schreckensgeschichten; die frühen Zeitungen knüpften daran nahtlos an. Beide fanden zeitgenössische Kritiker, die wortreich die Sensationslust der Medien geißelten. Nicht anders als heute wurde befürchtet, dass die Darstellung von Verbrechen zur Nachahmung anregen könnte. Auf die Zeitungssucht folgte im 18. Jahrhundert die Lesesuchtdebatte, in deren Mittelpunkt die Abkehr von den Idealen der Aufklärung und die Hinwendung zu Empfindsamkeit und Sentimentalität stand. Das ‚Werther-Fieber‘ brach aus, es wurde über eine Epidemie von Nachahmer-Suiziden berichtet, womit die Debatte über die Emotionalisierung der Medien wieder einmal einen Höhepunkt erreichte, dem dann noch etliche in der Moderne folgen sollten. Im Kampf um Aufmerksamkeit ist die Emotionalisierung ein erprobtes Mittel, sie ist weder zu verdammen noch zu verharmlosen. Medien machen süchtig. Das kann man genießen, analysieren, sich zunutze machen und auch beklagen, ändern kann man es wohl nicht. Technikgeschichte der Medien Neben der Institutionsgeschichte, der Programmgeschichte und der Mentalitätsgeschichte ist die Technikgeschichte ein weiterer Aspekt der Mediengeschichtsschreibung. Diesem Bereich der Mediengeschichtschreibung widmet sich der Abschnitt „Technikgeschichte der Medien“ mit den Schwerpunkten Kino/ Film, Fernsehen und neue Medien. Freilich werden hier auch Themen behandelt, die über reine Beschreibungen von naturwissenschaftlich geprägten Entwicklungen
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neuer Apparate zur Speicherung und Übertragung von Informationen hinausgehen. Es wird vielmehr der Einfluss der Technik auf ästhetische, institutionelle und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen gezeigt. Klaus Kreimeier behandelt in seinem Beitrag die Entwicklung des frühen Films. Thomas Alva Edison und seine Mitarbeiter stehen für eine Vielzahl von Erfindungen, die der Geschichte der Wahrnehmung in der industriellen Moderne wesentliche Impulse gaben. Bahnbrechend waren der von Edison und seinem Partner W. L. Dickson um 1890 entwickelte Kinematograph für die Aufnahme, und das Kinetoskop für die Betrachtung bewegter fotografischer Bilder. Daraus resultierten weitere Innovationen: 1893 richteten die beiden das erste Filmstudio in New Jersey ein. In dieser „Hexenküche früher Movies“, wie Klaus Kreimeier es in seinem Aufsatz in diesem Band nennt, entstanden Meilensteine der Filmgeschichte. Mit dem Kameramann Edwin S. Porter hatte Edison einen Studiochef engagiert, der die Montagetechnik vorantrieb und mit The Great Train Robbery den ersten Blockbuster der US-amerikanischen Filmgeschichte herausbrachte. Für die Erweiterung des kinematografischen Sehens steht die erste Kamerafahrt mit Hilfe eines Krans. Die Entwicklung der Distribution beginnt auf den Jahrmärkten und führt schon nach wenigen Jahren zur Errichtung von Kinos. Edison und seine Mitarbeiter treiben die Entwicklung auf allen Ebenen voran, experimentieren mit Erzählformen, kreieren Genres, schaffen eine neue Industrie und moderieren dabei den Weg der Gesellschaft in die Moderne. Kreimeier fokussiert auf die kurze Phase eines Medienumbruchs und zeigt, wie sich Film binnen weniger Jahre von einer Jahrmarktsattraktion zu einem Massenmedium verwandelt, wie sich eine simple, von Vaudeville abgeleitete Erzähltechnik dramaturgisch anreichert und vom Aufzählen zum Erzählen voranschreitet, wie die starre Guckkastenoptik in Bewegung gerät und wie sich dies alles vor dem Hintergrund der Urbanisierung sowie einem sich wandelnden Massengeschmack abspielt. Der Text bietet einen panoramatischen Blick, der im Zeitraffer die Geburt des Kinos rekonstruiert. Einen besonderen Aspekt der Entwicklung der deutschen Mediengeschichte behandelt Claudia Dittmars Aufsatz. Er beschreibt ein technisches Wettrüsten beider deutscher Staaten, die Fernsehtechnik betreffend. Seit seiner Existenz hatten die ostdeutschen Programmverantwortlichen mit dem Problem zu kämpfen, dass das ‚gegnerische‘ Programm von weiten Teilen der eigenen Bevölkerung gesehen werden konnte und somit allabendlich virtuell ‚auswandern‘ konnte. Darauf versuchten die Planer und Leiter des DDR-Fernsehens zu reagieren, indem sie westdeutsche Entwicklungen stets genau beobachteten und versuchten, diese zu wiederholen oder gar zu ‚überholen‘. Wie Dittmar zeigt, blieb der ostdeutsche Vorsprung beim Start des Versuchsprogramms im Jahr 1952 ein ‚einsamer Sieg‘. Alle weiteren Versuche, mit den Entwicklungen in den westlichen
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Sendern ‚gleichzuziehen‘, scheiterten an den wirtschaftlichen Problemen in der DDR. Diese Geschichte der medialen Konkurrenz und des Scheiterns in diesem Wettstreit zeichnet die Autorin anhand zentraler Pläne des DDR-Fernsehens nach, die als ‚Luftschlösser‘ in dessen Historie eingingen. Das Projekt eines „Deutschland-Fernsehens“ scheiterte Anfang der 1960er Jahre noch auf beiden Seiten, sowohl im Westen wegen der Ablehnung eines staatlich gelenkten Fernsehens als auch im Osten aufgrund wirtschaftlicher Probleme. Ein zweites Fernsehprogramm konnte dagegen in der DDR erst 1969 und damit mehrere Jahre nach dem Start des ZDFs (1963) auf Sendung gehen. Pläne zu einer Regionalisierung des Fernsehens blieben im Osten in den Anfängen stecken, von vollständigen dritten Programmen wie im westlichen Teil Deutschlands konnte man in der DDR nur ‚träumen‘. Gleiches galt für die Nutzung von Satellitentechnik. Im letzten Jahrzehnt des ‚real existierenden Sozialismus‘ „war selbst ein solches ‚pro forma‘-Gleichziehen unmöglich geworden. Die Potentiale der bundesdeutschen Medienlandschaft, zukünftig durch die Konkurrenz zwischen öffentlichrechtlichen und privatwirtschaftlichen Rundfunkbetreibern weiter ausdifferenziert, und die des ‚Staatsfernsehens‘ der DDR drifteten mehr als jemals zuvor auseinander.“ Jessica Quick diskutiert die wesentlichen Entwicklungen in der noch kurzen, aber bereits sehr ereignisreichen ‚Geschichte‘ des an Printmedien orientierten Onlinejournalismus. 1994, in der Frühzeit des World Wide Webs und damit auch noch zu Beginn dessen Booms, startete das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ seinen Online-Auftritt und lag damit noch knapp vor der ersten US-amerikanischen Webpublikation. Diese erste Führung sollte aber einzigartig bleiben, alle weiteren Entwicklungen sind zuerst von den ökonomisch potenteren US-amerikanischen Medien angestoßen worden (und es steht zu erwarten, dass es dabei auch bleibt). Zu Beginn des digitalen Journalismus wurden vor allem noch die Möglichkeiten und Chancen des neuen Mediums, aber auch die notwendigen Kommunikationsregeln und Risiken ausgelotet. Mit der Zunahme der publizistischen Angebote einher gingen aber schnell professionalisierende und ökonomisierende Tendenzen: Erhebung von Online-Nutzerzahlen sowie die Kontrolle der Reichweite von Online-Medien. Das Jahr 2000 bildete so etwas wie den Wendepunkt im Onlinejournalismus: Während inzwischen fast alle massenmedialen Printprodukte auch online waren, gründete sich mit der „Netzzeitung“ die erste reine Onlinepublikation. Ein Jahr später legte der Crash der New Economy schonungslos die ökonomischen Probleme des Onlinejournalismus offen. Wie Quick zeigt, ist die jüngere Geschichte des digitalen Journalismus vor allem von den Herausforderungen gekennzeichnet, die dieser von Seiten nicht-journalistischer Angebote erfährt. Dazu gehören bestimmte Genres von Weblogs als mögliche neue Journalismusformen, aber auch als Kontrollinstan-
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zen. Zu nennen ist auch die produktive Einbindung der Leser, sei es unter dem Schlagwort des „user generated content“, sei es in Form von Microblogging („Twitter“). Deutlich wird, dass sich das Genre des Onlinejournalismus weiter in der Ausdifferenzierung befindet, und weiterhin erfolgreiche Konzepte für eine Ökonomisierung fehlen. Mit der Edition historischer, schriftlicher Quellen wendet sich Jürgen Beine einem methodologisch eher geschichtswissenschaftlichem Problem zu. Ein Problem, dass auch für mediengeschichtliche Projekte von Relevanz ist, welche mit schriftlichen Quellen umzugehen haben und etwa Editionen von medienwissenschaftlich relevanten Grundlagenmaterialien herausgeben. Wie Beine zeigt, hat die Editionswissenschaft seit der breiten Verfügbarkeit von (vernetzter) Computertechnik damit begonnen, historische Quellen in Datenbanken einzuspeisen, um von dort aus dann Reproduktionen in Buchform oder für den Bildschirm zu generieren. Dazu entwickelte die „Text Encoding Initiative“ (TEI) übergreifende Dokumentbeschreibungssprachen, welche von den einschlägigen Archivierungsinstitutionen und -projekten auch breit verwendet werden. Beine kritisiert nun allerdings, dass diese Sprachen recht komplex und damit schwer erlernbar sind; sie seien nur Experten zugänglich und schlössen Amateure aus. Als alternative Plattform stellt Beine das wikibasierte Onlinesystem „Wikisource“ vor, das als Schwesterprojekt der bekannten Online-Enzyklopädie „Wikipedia“ deren leicht verständliche Sprache und damit einfache Benutzung teilt. Von Vorteil wäre hier insbesondere, dass eine große, nichtprofessionelle Gemeinschaft an den Quellen arbeiten könne und damit schnell eine gewisse Quantität erreicht worden sei. Außerdem wäre der gesamte Editionsprozess nichthierarchisch organisiert; durch ein mehrstufiges Editier- und Kontrollsystem sei aber stets sichergestellt, dass die fertigen Editionen eine hohe Qualität aufweisen. Beine skizziert zentrale Merkmale dieser Editierplattform am Beispiel von Quellen zu Ritualmorden. Er argumentiert für eine verstärkte Nutzung von „Wikisource“ für alle denkbaren netzbasierten Editionsprojekte, da diese bereits gute Standards bereithalten und nur so das Wachstum eines digitalen Archivs von kompatiblen Daten möglich ist. Hören und Medien Medien des Hörens – Hören und Medien; diese Dualismen werden von einer ganzen Reihe aktueller Forschungszugänge untersucht. In der analytischen Schnittmenge von Musik-, Film- und Medienwissenschaft sowie den Cultural Studies spielt etwa der Einfluss von Sound auf die ästhetische Wahrnehmung eine maßgebliche Rolle. Auch die wachsende Erforschung von Populärkultur
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stellt das Hören in das Zentrum der Untersuchungen. Aus einer mediengeschichtlichen Perspektive widmet sich der Abschnitt „Hören und Medien“ dieser fruchtbaren Beziehung. Karl Karst entwickelt in seinem Text eine kurze Geschichte des Hörens, die aber gleichwohl eng mit einer Geschichte des Sehsinns zusammenhängt, da beide unterschiedliche Moden erlebt hätten. Dabei spannt er den Bogen von der Antike hin zu aktuellen Konzepten des ZEN. In der Antike wurde das Sehen als der zentrale Sinn angesehen, mit dem Erkenntnisse gewonnen werden konnten, wie etwas Platons „Wesens-Schau“ deutlich werden ließ. Diese Auffassung setzte sich im Mittelalter fort und führte zur Entwicklungen von Technologien, die den Sehsinn des Menschen verstärken konnten. Der Hörsinn wäre dagegen erst ab dem Mittelalter in seiner Bedeutung entdeckt und allmählich dem Sehsinn gleichgestellt worden. Je mehr in der Moderne die visuelle Erkenntnisgewinnung versage, weil die Gegenstände der modernen Wissenschaften unsichtbar sind, desto mehr würde das Hören aufgewertet. Kennzeichen für diesen paradigmatischen Umschwung wäre etwa die Forschungsarbeit „Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit“, in der Elsie von Cyon im Jahr 1908 konstatierte, dass das Ohr sogar das wichtigste Sinnesorgan sei. Für die jüngere Vergangenheit stellt Karst eine marginalisierte Welterkenntnis durch die Sinnesorgane fest. Ebenso wie der Sehsinn reiche auch der Hörsinn nicht mehr für eine vollständige Durchdringung von Welt aus. Stattdessen wären innere, geistige und intuitive Organe notwendig, die etwa mit den Begriffen „drittes Auge“ oder „sechster Sinn“ bezeichnet werden könnten. Damit aber verliere Wissenschaft ihre dominierende Rolle für Welterkenntnis und gebe Raum für religiöse und spirituelle Welterkenntnis. Thomas Wilke hat sich die scheinbar einfache Frage vorgelegt, wie sich die ersten Nutzungskonzepte zu einer Erfindung der Medientechnik verhalten. Zuerst ist da die technische Erfindung, bei Wilke also die Möglichkeit akustische Phänomene zu speichern, und erst danach folgen die Diskussionen über ihren möglichen Gebrauch. Es war im Falle des Phonographen nicht ein Bedarf, der der Erfindung voranging und gleichsam vorab ihren Gebrauch bestimmte. Alles war denkbar. So wurden die Leser der Gartenlaube 1878 darauf eingestimmt, dass in Zukunft Dichter ihre Gedichte und Erblasser ihre Testamente als Tondokumente hinterlassen würden. Der „Académie française“ schenkte Edison einen Phonographen mit dem Hinweis, dass von nun an die Reden der Akademiemitglieder für die Nachwelt gespeichert werden könnten. Dem deutschen Kaiser wurden Musikstücke vorgespielt, denen die Auskunft beigegeben war, dass vor allem Fortschritte beim Sprachunterricht zu erwarten seien, denn die Aussprache der jungen Untertanen würde verbessert. Reden des Kaisers, von Bismark und von Moltke sollten außerdem aufgezeichnet werden. Der Kaiser selbst erwartete
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eine bedeutende Vereinfachung des Büro- und Kanzleidienstes. Nach einer zweiten Vorführung wünschte er sich einen eigenen Phonographen für Versuche. Edison und seine Emissäre dienten das neue Gerät den europäischen Eliten vor allem als Instrument der Überlieferung und der Erziehung an. Seine größten Erfolge feierte der Phonograph freilich auf einem anderen Feld. Die Antwort auf die Frage: „Wie verhalten sich eigentlich die ersten Nutzungskonzepte zu einer Erfindung der Medientechnik“, ist also komplex, denn die Diskussion wird nicht von denen bestimmt, die den Phonographen, und seinen Nachfolger das Grammophon, zu einem Massenmedium machten. Golo Föllmer diskutiert den engen und produktiven Zusammenhang von Klangkunst und öffentlichen Räumen. Dies sei darin begründet, dass die Klänge in Stadträumen selbst von der Klangkunst aufgenommen würden. Umgekehrt würden klangkünstlerische Projekte oft in öffentlichen Räumen aufgeführt, da sich die traditionellen musikalischen Veranstaltungsorte den experimentellen neuen Formen verschlössen. Föllmer fundiert seine Überlegungen theoretisch auf die Bedeutung von öffentlichen Räumen nach Vilém Flusser und zeigt auf, dass Klangkunst in diesen Zusammenhängen in höchstem Maße utopisch konzipiert ist und auch so wahrgenommen wird. Drei dieser utopischen Klangkunstwerke analysiert er näher, um daraus einen konzeptionellen Begriff des „Utopragmatismus“ ableiten zu können. Nicholas Schöffers „spatiodynamische Türme“ (1954/55 und 1961) stellten – erstens – einen Entwurf für die „funktionale künstlerische Gestaltung der zukünftigen, modernen Stadt“ dar. Diese Kunstwerke sollten im öffentlichen Raum platziert werden und die ästhetische Wahrnehmung seiner Bewohner beeinflussen. Damit steht Schöffers Arbeit beispielhaft für spätere, ähnliche Entwürfe. In seinen radiotheoretischen Arbeiten entwickelte Bertolt Brecht – zweitens – explizit keinen ästhetischen Ansatz, sondern wollte kunstsoziologisch die strikte hierarchische Trennung zwischen Rundfunkproduzent und -rezipient auflösen. Brecht konnte in seinen praktischen Experimenten diese Auflösung aufgrund des unzureichenden Rückkanals im Radio zwar nicht umsetzen. Allerdings knüpften spätere Radiokunst- und Netzmusikprojekte produktiv an seinen Überlegungen an (etwa Max Neuhaus). Glenn Goulds Vision richtete sich – drittens – stattdessen auf einen privaten Verwendungszusammenhang von Musik, in der jeder Hörer seinen eigenen Mix aus vorfindlichen Materialien zusammenstellen sollte. Auch damit wurde der Hörer zum Produzenten, wobei in diesem Fall die Reichweite des geschaffenen Kunstwerkes im eingeschränkten privaten Rahmen verblieb. Eine Rückkopplung an das Massenmedium Radio – wie etwa bei Brecht – war hier nicht vorgesehen. Diese Vision hat sich als außerordentlich anschlussfähig erwiesen, so ermöglichen etwa die so genannten „Soundtoys“ auf Webseiten oder mit Hilfe spezieller Playersoftware auf ganz unterschiedliche Art und Weise eine solche Produktion.
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Medien und Öffentlichkeit Einen wichtigen medienhistorischen Zugang bildet die Frage, wie Öffentlichkeit durch (Massen-)Medien hergestellt wird bzw. wie solche medialen Öffentlichkeiten strukturiert sind. Gleichartig wird auch der öffentliche Charakter von Massenmedien sowie von offenen Individualmedien zu einer Herausforderung für die Mediennutzer bzw. für die Amateurproduzenten der digitalen Medien. Dieses oft problematische Verhältnis wird von den Beiträgen im Abschnitt „Medien und Öffentlichkeit“ gleichsam in einem historischen Schnitt untersucht. Cornelia Bogen nimmt die Gesundheitskommunikation der Aufklärung unter die Lupe. Dabei führt sie den Nachweis, dass der öffentliche medizinische Diskurs weniger rational oder vernunftorientiert war, sondern vor allem durch seine mediale Bedingtheit erklärbar wird. In der Epoche der Aufklärung rückte ein Interesse an der Gesunderhaltung der Bevölkerung erstmals in das Bewusstsein der absolutistischen Herrscher Europas. Gesundheitsaufklärung war Sache von Experten. Ärzte und Wissenschaftler publizierten für ein Publikum von medizinischen Laien und bedienten sich dabei eingeführter Kommunikationsformen. Noth- und Hilfsbüchlein wurden zahlreich publiziert, Gesundheitswörterbücher erschienen, und interessierte medizinische Laien lasen Handbücher zur Volkshygiene. Ihr Beitrag zum öffentlichen Gesundheitsdiskurs der Zeit waren autobiographische Schriften, in denen auch Fragen der Volkshygiene behandelt wurden. Bogen wählt aus den zahlreichen Krankheitsbildern mit der Melancholie eines der beliebtesten der Zeit aus. An ihr zeigt sie, dass die Texte der Autoren von drei Ideen geprägt waren. Der Sensationalismus sah – erstens – die Melancholie als eine besonders schwere Erkrankung an, die sehr häufig bei Gelehrten anzutreffen war und in enger Beziehung zu Selbstmord und Mord gestanden hätte. Der Leitgedanke des Widerspruchs hätte – zweitens – die Melancholie als eine minder schwere Krankheit angesehen, die sich nicht direkt auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe bezogen hätte. Drittens beschäftigte sich eine Gruppe von Autoren mit der Wirkung der sich widersprechenden MelancholieTheorien auf die interessierten Laien, denen die Aussicht auf Orientierung genommen wurde. Bogen fasst diesen Beitrag unter dem Stichwort Selbstreferentialität zusammen. Die Vertreter dieses Gedankens hätten einen Ausweg aus der Widersprüchlichkeit des publizierten Wissens gesucht, indem sie den Gesundheitsdiskurs auf die Ebene der wissenschaftlichen Publizistik zu heben trachteten, womit die mediale Bedingtheit des gesamten Diskurses in den Blick gerät. Reinhold Viehoff widmet sich in seinem Beitrag dem onlinetypischen Genre der „privaten Homepage“ und dessen kurzer, aber reichhaltiger Mediengeschichte. Wie er zeigen kann, haben Homepages zwar ihren dominierenden Ty-
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pus verloren, die sie Mitte bis Ende der 1990er Jahre innehatten. Mit der dispositivären Wandlung des World Wide Webs hin zum so genannten „Web 2.0“ geht die Zunahme von personalen Selbstpräsentationen in den Social Networks oder auf Weblogs einher. Viehoff kann allerdings darlegen, dass das Genre Homepage nach wie vor einen gewichtigen Anteil in der Netzkommunikation innehat und daran entwickelte Analyseschemata der personalen Selbstrepräsentation anschlussfähig sind für neue mediale Phänomene. Viehoff diskutiert das World Wide Web als Handlungsrahmen für „private Kommunikationen“ und stellt dabei insbesondere das paradoxe Changieren zwischen personaler Kommunikation (die Homepage richtet sich vor allem an Adressaten, die deren Autor kennen) und Massenkommunikation (die Homepage ist von der gesamten Netzöffentlichkeit einsehbar und bezieht diese Möglichkeit auch mit ein) heraus. In der ästhetischen, textlichen und argumentativen Gestaltung der Homepage sind für Viehoff sowohl literar-ästhetische Traditionen (etwa Fiktionalisierung oder Identifikationsangebote) zu berücksichtigen als auch Kulturen der Selbstdarstellung (etwa Thematisierung der Autor-Rolle oder des Erwartungshorizontes für Rezipienten). Aus diesen Grundlagen entwickelt Viehoff schließlich eine viergliedrige Analysetypologie für private Homepages: Bezug auf die eigene Person, Bezug auf die Gruppe, Bezug auf die kommunikativen Bedingungen der Inszenierung, Bezug auf die Handlungsbedingungen im World Wide Web. Diese Charakteristiken würden ergänzt durch zwei relevante Kompetenzen von HomepageKreatoren: kognitiv-ästhetische sowie kommunikativ-ästhetische Kompetenz. Im Gegensatz zu frühen Internettheoretikern (wie etwa Sherry Turkle) sieht Viehoff im Genre der Homepage keinen starken sozialen Wandel vollzogen, der Individualität und Identität völlig umstülpe. Stattdessen stellt er heraus, dass sie vor allem Glaubwürdigkeit und Authentizität einer realen Identität darstellen wollen. Diese Identität aber würde stets als integrierende Einheit der gesamten Homepage wirken. Mit dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0 beschäftigen sich Daniela Pscheida und Sascha Trültzsch. Dabei beschreiben die Autoren zunächst das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in seiner historischen Entwicklung und konzentrieren sich dabei vor allem auf die Veränderungen, die die Massenmedien seit dem Buchdruck herbeigeführt hätten. Sie diskutieren dabei verschiedene differenztheoretische Ansätze. Das Konzept von Privatheit, das hier verwendet wird, lässt sich zunächst auf drei zentrale Absetzungen bestimmen: das individuelle Verfügungsrecht über Privatsachen, die Freiheit des Staatsbürgers und Privatheit als Sphäre der Häuslichkeit gegenüber dem öffentlichen Leben. In modernen Gesellschaften übe Privatheit die wichtige Funktion aus, das Persönliche im Sinne von Individualität sowie deren Erhalt und Entfaltung zu schützen. Der von den Autoren verwendete Terminus der
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„veröffentlichten Privatheit“ wird von Ihnen als Übertragung privater Inhalte in die öffentliche Sphäre verstanden, wobei von Fall zu Fall unterschieden werden soll, welcher Inszenierungsstrategien sich die Darstellungen dabei bedienen. Pscheida und Trültzsch beschreiben eine Tendenz, dass die Öffentlichkeit immer stärker in die Privatsphäre eindringe, seit sich die modernen Massenmedien entwickelt hätten. Vor allem sei dies durch das Fernsehen bedingt. Aber auch umgekehrt betrachten sie die immer stärkere Durchdringung der Öffentlichkeit mit privaten Themen anhand verschiedener historischer Entwicklungen. Stand zunächst nur die inszenierte Abbildung der Privatsphäre prominenter Personen in Form von Gemälden oder Photographien im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, gelangten mit der Etablierung der Boulevardpresse auch intimere Details an die Öffentlichkeit. Erst mit der Einführung des privaten Fernsehens wäre mehr und mehr das alltägliche Privatleben in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Im Kontext des World Wide Web hätte die Durchdringung beider Sphären eine neue Qualität erhalten, da nun ‚gewöhnliche‘ Personen fernab einer redaktionellen Kontrolle ihr Privatleben der Öffentlichkeit zugänglich machen können. Am Beispiel der Plattform „studiVZ“ untersuchen die Autoren diese aktuellen Entwicklungen. Sie analysieren ein Sample von 100 frei zugänglichen deutschen Profilen und beschreiben dabei, wie mit persönlichen Informationen im sogenannten „Web 2.0“ umgegangen wird. Mit der Entwicklung des Computers und seiner Nutzung beschäftigt sich Helmut Schanze. War der Computer in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nur wenigen Experten zugänglich, entwickelte er sich seit Beginn der 1980er Jahre immer mehr zum Alltagsgegenstand. Durch die Entwicklung des World Wide Webs und damit einhergehend mit steigender Nutzerzahl wurde aus der Maschine Computer ein Medium, das sowohl ein Individual- als auch ein Massenmedium sein konnte. Indem alle bisherigen Medien auf dieses Dispositiv aufsetzen konnten, entstand eine ‚digitale Plattform‘. So wurde der vernetzte Computer nahezu zu einem Universalmedium, das vor allem auch durch seine Interaktivität geprägt war. Darüber hinaus haben die Nutzer dieser digitalen Plattform nun erstmals die Möglichkeit, ihre eigenen virtuellen Welten zu entwickeln, zu gestalten und einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Aber gerade hier beschreibt der Autor einen konfligierenden Anspruch der Privatsphäre mit den Interessen der öffentlichen Sphäre: Medien in ihrer Funktion als Agenturen der Öffentlichkeit wären letztendlich nicht dafür prädestiniert, Geheimnisse zu wahren. Daher spricht Helmut Schanze von einer „Paradoxie der medialen Sicherheit“, denn mit ihrer aufklärerischen Funktion ist der Geheimnisbruch den Medien schon inhärent. Davon ausgehend, dass sich alle bisherigen Medien auf einer digitalen Plattform darstellen lassen und diese Plattform mit dem World Wide Web vernetzt ist, stellt Schanze fest, dass ganz verschieden
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abgestufte mediale Nutzungsformen existieren. Gemeinsam ist all diesen Nutzungsformen, dass sie Öffentlichkeiten herstellen. Während in einer „one to all“ Kommunikation ein Geheimnisbruch eher erwünscht ist, ist dies in einer „one to one“ Kommunikation nicht der Fall. Der Autor plädiert daher für eine dynamische Regulierung der Medien auf der Grundlage einer ausgearbeiteten medienwissenschaftlichen Begrifflichkeit, für ein Modell der Skalierung von Sicherheit im Web. Kritisiert wird letztendlich das allgegenwärtige Sicherheitsdenken in Sachen Computer und die damit verbundene Reduktion des Mediums auf eine reine Maschine. Er ruft damit die eigentliche, wenn nicht sogar die wesentliche Funktion eines Mediums in Erinnerung. Medienanalyse Einen Mediengeschichtsbegriff der auch Medieninhalte umfasst, wird von Cordula Günther verwendet, wenn Sie die Tradierung von Medieninhalten und deren Adaption in aktuellen Medien anhand der Darstellung des Sündenfalls aus dem 1. Buch Mose am Beispiel zweier Werbekampagnen untersucht und diese miteinander vergleicht. Dabei handelt es sich zum einen um ein Plakat aus der von der „Bild“-Zeitung initiierten Kampagne „Bild informiert. Leider erst seit 1952!“ und zum anderen um ein Werbemotiv von „Otto Kern Fragrances“. Werbung greift bei der Produktion von neuen Medienprodukten immer wieder auf vorhandene Medieninhalte zurück und bedient sich dabei an Stoffen, Motiven und Darstellungen der bildenden Kunst. Die Verwendung auch religiöser Motive verwundert dabei zunächst nicht, sind doch in der europäischen Kultur vielfältige Bezüge zur christlichen Religion verankert. Dennoch beschreibt Günther, dass die Synthese von Werbung und Religion widersprüchlich ist, da hier Heiliges und Profanes, Religiöses und Weltliches aufeinandertreffen. Die ausführlichen Bildanalysen der beiden Werbemotive erfolgen in Anlehnung an Panofkys Methode der ikonographischen Analyse und ikonologischen Interpretation. Auch wenn vereinzelt von der Entleerung religiöser Symbole die Rede ist, entstehen bei der Verwendung von religiösen Motiven in der Werbung Synergien. Auf der Seite der Werbetreibenden durch die Generierung von Aufmerksamkeit, auf theologischer und religionspädagogischer Seite durch die Weitertradierung religiöser Motive, auch wenn vereinzelte Stimmen eine Trivialisierung derselben kritisieren. Medienangebote der aktuellen Werbegeschichte kommen also kaum ohne überlieferte Stoffe und Motive aus, wie Günther exemplarisch anhand des Adam und Eva-Stoffes darlegt. Wie Menschen mit Massenmedien umgehen gehört seit jeher zum Erkenntnisinteresse der Medienwissenschaft. Neu am Ansatz von Matthias Uhl und Peter
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Hejl ist, dass fiktionale Filmhandlungen hier nicht nur als Resultate kultureller Entwicklungen und Wirkungsmechanismen betrachtet werden, sondern dass der Umgang mit Medien auch durch Mechanismen beeinflusst wird, die ihren Ursprung in der menschlichen Evolution haben. Hollywood und Bollywood gelten gemeinhin als Paradebeispiele für den Massenmarkt produzierender Filmkulturen. Daher untersuchten Uhl und Hejl 100 amerikanische und 50 indische Filme mit Hilfe eines evolutionspsychologisch ausgerichteten Analyserasters, um ihre Annahme zu bestätigen. Sie erfassten dabei vor allem die Konflikte und Probleme, welche die Handlung der Filme dramaturgisch vorantreiben und mit denen die Protagonisten im Laufe der Filmhandlung umzugehen haben. Die Autoren belegen als Indiz für die kulturellen und sozialen Entstehungskontexte, dass im amerikanischen Film vor allem das Individuum im Vordergrund steht. Im Bollywood-Film genießt die Familie einen höheren Stellenwert, da die indische Gesellschaft deutlich familienzentrierter als die westliche Welt ist. Trotz unterschiedlicher Dramaturgien und Inszenierungen beider Filmmärkte, können die Autoren jedoch auch nachweisen, dass die Zuschauer mit grundsätzlich gleichen Inhalten konfrontiert werden, wenn Konflikte und Probleme die Handlung dramaturgisch vorantreiben sollen. Die Aufmerksamkeit der Rezipienten für fiktionale Narrationen ist somit immer auch abhängig von evolutionär geprägten Präferenzen. Mit dem Phänomen des Kriegsfilms setzt sich Ulrike Schwab in Ihrem Beitrag auseinander. Eine allgemein verbindliche Bestimmung des Begriffs „Kriegsfilm“ ist bis auf den heutigen Tag nicht gelungen. Ein einheitliches Verständnis dessen, was ein Kriegsfilm sei und was nicht, würde die Diskussion dieses Genres aber auf ein sicheres Fundament stellen. Schwab geht deshalb den Ursachen für die bestehende Unbestimmtheit nach. Die Klärung des Begriffs lässt sich, so ihr Ansatz, durch das Studium der frühen Kriegsfilme vorantreiben. Erster Prüfstein der vorgeschlagenen Vorgehensweise ist die kontrovers debattierte Unterscheidung zwischen Kriegs- und Antikriegsfilmen, die keine Anwendung auf Filme findet, welche einen Krieg behandeln, der vor der Erfindung des Films liegt. Damit deutet sich an, dass schon die Unterscheidung zwischen Historienund Kriegsfilm nicht scharf genug ist und zur Verunklärung beiträgt. Kriegsfilm und Antikriegsfilm erweisen sich in der Rekonstruktion als nahezu gleichursprünglich, woraus Schwab ableitet, dass sie nicht als zwei eigenständige Genres betrachtet werden sollten. Eine zweite Ursache für die widersprüchliche Begriffsverwendung sieht Schwab im Ineinandergreifen von fiktionalen und dokumentarischen Genreanteilen in Kriegsfilmen. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Grenzen zwischen fiktionalem und dokumentarischem Darstellungsmodus fließend sind; und selbst wenn sich beim Re-Inszenieren dokumentarische und fiktionale Darstellungsmodi partiell überschneiden, sind auch dem Zuschauer die
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unterschiedlichen Gattungsmodi stets bewusst, weshalb hier nicht leichtfertig eine handhabbare Unterscheidung eingeebnet werden sollte. Der Weg zur Erkenntnis führt für Schwab über die Geschichte des Genres; weitere Bausteine zur Begriffsbestimmung liefert die Analyse der Sozialerfahrungen, der Genderproblematik und der Dramaturgie.
I.
Historiographie
Mediale Konstellationen und mechanische Bräute. Überlegungen zur Konzeption von Kommunikationsgeschichte. Rainer Leschke
E.T.A. Hoffmanns Medienphantasie Olimpia mag als Medium noch so avanciert sein, ihre Kommunikationsleistung stellt hingegen ein vollständiges Desaster1 dar. Sie beschränkt sich nämlich auf ein schlichtes „Ach, Ach“. Dass Professor Spalanzani, der Erfinder dieses Mediums, sich auf den Austausch dieses „Ach, Ach“ als eine „außerordentlich lebhaft(e)“ (Hoffmann 1815: 32) Unterhaltung bezieht, hebt den Kontrast noch zusätzlich hervor und deutet bereits auf jene Paradoxie hin, die man später ebenso bei Joseph Weizenbaums Eliza2 feststellen wird. E.T.A. Hoffmanns mechanische Braut, das Medium Olimpia, das von Norbert Wiener3 immerhin zu den Vorläufern der Turingmaschine gezählt wird, bewerkstelligt reproduktive Leistungen souverän, es spielt Klavier und singt ausgezeichnet, und vor allem hält es den Takt mit nicht gekannter Genauigkeit. Ansonsten handelt es sich, wie quasi mit McLuhan und damit medientheoretisch bemerkenswert aktuell vermerkt wird, um ein eher kaltes Medium. Dass dem Medium Olimpia von Hoffmann hier nur die konventionell Maschinen zugewie1 2
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Eine solche Desavouierung mag quasi als Konkurrenzbeobachtung für die Imaginationen von Schriftstellern kennzeichnend sein. „Vielleicht ist es paradox, daß der Mensch zu genau dem Zeitpunkt, da er im wahrsten Sinne aufgehört hat, an seine eigene Autonomie zu glauben – geschweige denn darauf zu vertrauen -, beginnt, sich auf autonome Maschinen zu verlassen, d. h. auf Maschinen, die während eines größeren Zeitraums völlig auf der Basis ihrer eigenen inneren Realität arbeiten.“ (Weizenbaum 1976: 23) Interessant ist, dass sich parallel zu dem hier von Weizenbaum markierten Einschnitt das Aufkommen von generellen Medienontologien (vgl. Leschke 2003: 237ff.) beobachten lässt. Insofern drängt sich der Eindruck auf, dass die Medien die theoretische Position des Subjekts übernommen hätten, was wiederum insbesondere für das Konzept von Geschichte nicht unbedeutende Folgen hat. Die Anwendung des Medienbegriffs ist hier von Norbert Wiener inspiriert: „In den Tagen der Magie haben wir den bizarren und dunklen Begriff des Golem, jener Figur aus Ton, in die der Rabbi von Prag als Blasphemie des unaussprechlichen Namen Gottes Leben hauchte. In der Zeit Newtons war der Automat die Spieluhr mit den kleinen Figuren, die sich steif obenauf drehten. Im 19. Jahrhundert ist der Automat eine glorifizierte Wärmemaschine, die irgendeinen brennbaren Stoff verbrauchte anstatt des Glykogens der menschlichen Muskeln. Schließlich
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senen Merkmale verabreicht werden, verwundert vor dem Hintergrund der damals gängigen Automatenphantasien kaum. Interessant ist jedoch die radikale Unterscheidung von reproduktiven und diskursiven Leistungen, geht es doch bei dem Diskurs mit Olimpia nach Aussage ihres Erzeugers Spalanzani darum, „Geschmack daran [zu finden; Anm. R. L.], mit einem blöden Mädchen zu konversieren“ (Hoffmann: 32). Diese Unterscheidung markiert also bei Hoffmann offensichtlich das dem Maschinellen per se transzendente, nämlich Kommunikation4 und mit dieser in eins gesetzt Intelligenz. Nun müssen literarische Phantasien wirklich nicht allzu viel besagen; interessant wird es jedoch, wenn sich der implizite Kommunikationsbegriff der von Hoffmann erdachten Uhrwerkskonstruktion nur wenig von kommunikationstheoretischen Vorstellungen unterscheidet. Die dieser Automatenimagination zugeschriebene Opposition verfügt nämlich über eine besondere Affinität zu einem normativen Kommunikationsbegriff, wie er etwa von Habermas präferiert wird. Dieser sich am Diskursbegriff festmachende Begriff von Kommunikation verdankt sich wiederum selbst einer spezifischen medienhistorischen Urszene. Habermas stützt sich mit seinem Leitmodell von Kommunikation, dem Diskurs eines räsonierenden Publikums, auf ein Ensemble von Salons, Journalen, Kaffeehauskultur und Leihbibliotheken und das, was in diesen historisch möglich gewesen sein soll. Kommunikation ist also das, was das Medium Olimpia nicht beherrschte, nämlich der Diskurs. Nun fußt der solcherart gewonnene Kommunikationsbegriff zwar auf medienhistorischen Phänomenen, dennoch handelt es sich bei diesen um das Ergebnis einer beherzten Selektion: Der frühe Sensationsjournalismus, die Modejournale, die Hofberichterstattung, die etwa Christian Schubarth sich bereits 1774 zu kritisieren genötigt sah (Prokop 2001: 155), wollen nur schlecht zu einem Kommunikationsideal passen, das die Aufklärung quasi in die Zeitung verlegt und das bereits von Walter Benjamin in seinem Hörmodell „Was die Deutschen lasen,
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öffnet der gegenwärtige Automat die Türen mittels Fotozellen oder richtet Geschütze auf die Stelle, an welcher ein Radarstrahl ein Flugzeug erfaßt, oder errechnet die Lösung einer Differentialgleichung. Weder der griechische noch der magische Automat liegen auf den Hauptentwicklungslinien der modernen Maschine, noch scheinen sie viel Einfluß auf ernstes philosophisches Denken gehabt zu haben. Ganz anders ist es mit dem Uhrwerksautomaten.“ (Wiener 1948: 64) Die abgeschlossene Monade des Uhrwerks Olimpia ist in ihrer konstruktionsbedingten Autonomie offensichtlich nicht kommunikationsfähig: „So betrachtet Leibniz eine Welt von Automaten, die er, wie es bei einem Schüler von Huyghens natürlich ist, nach dem Vorbild des Uhrwerks konstruiert. Obgleich die Monaden sich beeinflussen, besteht die Beeinflussung nicht in einem Übertragen der kausalen Kette von einer zur anderen. Sie sind wirklich ebenso in sich abgeschlossen oder sogar mehr in sich abgeschlossen als die passiv tanzenden Figuren oben auf einer Spieluhr. Sie haben keinen wirklichen Einfluß auf die äußerliche Welt noch sind sie effektiv durch sie beeinflußt. Wie er sagt, haben sie keine Fenster.“ (Wiener 1948: 65f.)
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während ihre Klassiker schrieben“ (Benjamin 1932) ironisch kommentiert5 wurde, noch bevor Habermas es überhaupt entworfen hatte. So musste denn der normative Kommunikationsbegriff auf ein extremes medienhistorisches Wohlwollen6 spekulieren, wenn er wenigstens ansatzweise anerkannt werden wollte. Der aus dem Dialog abgeleitete Kommunikationsbegriff hat insofern ähnlich viel mit der medialen Wirklichkeit der gesellschaftlichen Organisation des Mediensystems im 18. Jh. zu tun wie das „Globale Dorf“ mit der Faktizität des „Digital Divide“. Darüber hinaus definiert eine als Diskurs gedachte Kommunikation auch die für sie relevanten Medien, denn eine solche Kommunikation findet vornehmlich in Gesprächen und notfalls noch in Texten statt. Ihre mediale Basis bildet dann naturgemäß der Journalismus. Bild- und Tonmedien kommen schlicht nicht vor. Ein solcher Kommunikationsbegriff selektiert also nicht nur normativ, sondern auch medial, ja mehr noch: Die ideale Kommunikation des Diskurses tendiert dazu, alle Medien mit Ausnahme der Sprache selbst zum Verschwinden zu bringen. Das Optimum ist und bleibt der Dialog, so dass dann jede Intervention eines Mediums naturgemäß einen Verlust darstellt. Das gibt letztlich auch der Medienentwicklung ihr Ziel vor: das Mediale soll wieder zu jener ursprünglichen Natur des Dialogs verhelfen und ansonsten selbst nach Möglichkeit verschwinden. Das, was Licklider und Taylor einmal, als hätten sie Olimpia gekannt, „the richness of living information“ (Licklider/Taylor 1968: 21) nannten, also Interaktivität und Reflexivität, wird damit zwangsläufig zu einem hohen kommunikativen Gut. Die Normativität des räsonierenden Diskurses findet sich im Übrigen bereits bei Hoffmann. So sind es zwar keine Kaffeehäuser, aber wenigstens die „vernünftigen Teezirkel(.)“ (Hoffmann: 36), die in einer ähnlichen medialen Konstellation, wie sie Habermas später als „räsonierendes Publikum“ und bürgerliche Öffentlichkeit reformuliert hat, das nicht diskursfähige Medium Olimpia und seinen Erfinder mittels einer drohenden „Kriminaluntersuchung“ (ebd.: 37)7 verbannen. 5
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Walter Benjamin begegnete in seinem Hörmodell: „Was die Deutschen lasen, als ihre Klassiker schrieben“ einem solchen medienhistorischen Idealismus mithilfe der Goetheschen Medienmaxime, wonach das Publikum Gemeinheit und Genie gleichermaßen liebe, mit den entsprechenden massenhaften Banalitäten der Mediengeschichte: den Almanachen und Sensationsgeschichten. (vgl. Benjamin 1932: 640 ff. ) Kleists sarkastische Typologie des Bestandes von Leihbibliotheken und damit des Gegenstandes des Habermasschen Diskurses, die bekanntermaßen zwischen Rittergeschichten mit und ohne Gespenstern unterscheidet, bemerkt dazu eigentlich bereits das Nötige. Das Betrugsmotiv des Maschinenmenschen nimmt im Übrigen Walter Benjamin wieder auf, indem er dessen diskreditierte ‚Fähigkeiten’ auf den historischen Materialismus appliziert und diesen als eine Puppe, die stets die gewünschten Ergebnisse hervorbringe, kennzeichnet. Das Medium des Maschinenmenschen wird so zum negativen Medium oder Taschenspielertrick der Geschichte. (vgl. Benjamin 1942: 693)
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Allerdings gelingt es Hoffmann im Gegensatz zu Habermas wenigstens in seiner Imagination über den Schatten von Texten zu springen: Verursacht wird nämlich die ganze Verwirrung des armen Nathanael ausgerechnet durch eine optische Medientechnik, durch Coppolas Perspektiv. Der medial vermittelte Blick auf die in Klara verkörperte bürgerliche Vernünftigkeit erzeugt nicht nur Sinnestäuschungen, sondern Ungeheuer. Und mittels des Einschlusses dieser Ungeheuer des Blicks und ihrer optischen Medientechnik ist das Hoffmannsche Szenario medienhistorisch entschieden vollständiger und genauer – denkt man etwa an die Bedeutung des Perspektivs für das Revolutionsmedium der optischen Telegrafie – als die Habermassche Abstraktion. Natürlich wäre es vermessen, Hoffman eine größere medienhistorische Klarsicht zu unterstellen, als sie etwa Habermas zur Verfügung steht. Allerdings funktioniert in der Narration etwas, das der Theorie oftmals zu ihrem eigenen Nachteil nicht gelingt. Narration kann ihre eigene Negativität einbauen und ausmalen, viel eher und weiter, als es der Selektivität theoretischer Phantasie möglich ist. Und so fällt auch die Habermassche Kopplung von theoretischer Imagination und Normativität quasi naturgemäß ärmer aus als das Hoffmannsche Szenario. Vor diesem Hintergrund scheinen die Resentiments gegenüber der historischen Erzählung, wie sie etwa Wolfgang Ernst hegt, zunächst einmal strukturell und eben auch medienhistorisch unbegründet zu sein, erweist sich doch selbst eine literarische Spekulation der Romantik zumindest als medientechnisch vollständiger als das normative Modell von Kommunikation. Über eine medienhistorische Urszene verfügt ebenfalls der deskriptive Kommunikationsbegriff, den die Nachrichtentechniker ausgebildet und die Kommunikationswissenschaften gepflegt haben. Die betreffende mediale Urszene scheint medientechnisch ein wenig mehr auf der Höhe der Zeit zu sein. Dieses Modell, das in seiner mathematischen Variante von den beiden Angestellten der Bellschen Telefongesellschaft Shannon und Waever entworfen wurde, um das Risiko des Rauschens in Telefonleitungen bestimmen zu können, war zweifellos kein Kommunikationsmodell. Dazu wurde es erst durch die großzügige Interpretation des Informationsbegriffs und damit durch eine gravierende Veränderung des Problemkontextes8. Vor dem Hintergrund kommunikativer Problemlagen arbeitete das Modell allerdings noch nicht einmal die vom Telefon ermöglichten Netzstrukturen bzw. die Interaktivität von Kommunikation auf, die etwa der gelegentlich wirklich lucide Literat Brecht bereits zum gleichen Zeitpunkt auf den Rundfunk übertrug, sondern das in die Kommunikationswissenschaft ge-
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„Frequently the messages have meaning; that is they refer to or are correlated according to some system with certain physical or conceptual entities. These semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering problem” (Shannon 1948: 379)
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wendete Modell fällt medientechnisch auf die Stufe des elektrischen Telegrafen9 zurück: Ein Kanal mit begrenzter Übertragungskapazität, Codierung und Unmöglichkeit der Interaktivität. Auch dieses medientechnisch gesehen inzwischen einigermaßen betagte deskriptive Modell von Kommunikation, das die technisch avancierte Alternative zum dialogzentrierten Kommunikationsmodell der Kaffeehäuser bilden soll, generiert sein eigenes Telos: nämlich das Funktionieren von Kommunikation mittels medientechnischer Vermittlung. Und ebenso bildet es auch mediale Präferenzen aus, die erstaunlich nah an die von Habermas her bekannten Beschränkungen heranreichen: Auch die deskriptive Vorstellung von Kommunikation stützt sich zunächst einmal auf Sprache bzw. Texte, so dass alles andere zwangsläufig als Appendix behandelt werden muss. Und auch dieses Modell orientiert sich im Prinzip an der Individualkommunikation und ist nur unter Schwierigkeiten auf die Verhältnisse von Massenkommunikation10 zu übertragen. Darüber hinaus versagt das nachrichtentechnische Modell, sobald man die bloße mediale Distribution verlässt und zu dem übergeht, was Brecht einmal hoffnungsfroh Kommunikationsmedien nannte, nämlich zur Interaktivität. Interaktivität wird als Nacheinander einseitiger Kommunikationsprozesse beschrieben, wobei für das Nacheinander und damit die Interaktivität kein logischer Ort vorgesehen ist. Der jeweilige Begriff von Kommunikation generiert nicht nur seinen eigenen Gegenstand und findet seine eigene medienhistorische Urszene, sondern er produziert eben auch die entsprechenden Unverträglichkeiten und blinden Fle9
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„In telegraphy we have an encoding operation which produces a sequence of dots, dashes and spaces on the channel corresponding to the message.“ (Shannon 1948: 380) Shannon behandelt unterschiedliche Medien von dem Telegrafen, dem Telefon bis zum Farbfernsehen prinzipiell gleich, nämlich als Funktionen von Variablen, wobei die Zahl der Variablen von der Zahl der Wahrnehmungskanäle, in denen Informationen geliefert werden, abhängt. Im Übrigen ist es vollkommen klar, warum Shannon sich nicht für den Telegraphen als Referenten entschieden hat, sondern ihm das Telefonmodell näher lag: Das Rauschen ist vor allem ein Problem analoger Signale, nicht aber von mit digitaler Information arbeitenden Systemen, „the discrete noiseless channel“(Shannon 1948: 381). Allerdings ist seine Evidenz offenbar immer noch so überzeugend gewesen, dass die weitere Modellbaugeschichte von Kommunikation sich im Wesentlichen als nichts anderes als eine Serie von Nachbesserungen innerhalb dieses Modells darstellt. Die Weiterungen sind dabei vergleichsweise mechanisch und d. h., sie bleiben in der Logik des ursprünglichen Modells gefangen: So wird beim Übergang zur Massenkommunikation auf der Seite des Rezipienten nur mehr hinzugefügt, etwa dass es von diesem mehrere gäbe, die aber als typgleich veranschlagt werden könnten und daher an der prinzipiellen Konstellation nur wenig ändern. Die auffällige Differenz gegenüber dem dialogzentrierten Modell wird mittels mehr oder minder stark ausgeprägter Rückkanäle wenigstens notdürftig kompensiert. Die Geschichte solcher Weiterungen und Nachbesserungen des Telegrafen- oder Dialog-Modells reicht von Maletzke bis zum pentamodalen Modell von Mertens und selbst das Mertens keineswegs zu Unrecht so wichtige Reflexivwerden von Kommunikation bleibt nur eine Schleife in dem ansonsten hinreichend bekannten Ablauf.
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cken. So hat im Gegensatz zum deskriptiven Konzept von Kommunikation das normative Modell von Hegel bis Habermas mit Interaktivität keine sonderlichen Schwierigkeiten, umgekehrt büßt es jedoch rapide an Beschreibungsleistung ein, sobald es sich um Massenkommunikation dreht. Insofern handelt es sich nicht um eine prinzipielle Unbeschreibbarkeit des Phänomens Kommunikation, sondern um strukturelle Grenzen des jeweils verwandten Modells. Das ändert sich auch nicht beim Versuch, durch Generalisierung und Abstraktion von den medienhistorischen Bedingungen die Schwierigkeiten des Kommunikationsbegriffs zu vermeiden. Das Vorhaben, Kommunikation solchermaßen auf einen einheitlichen Begriff zu bringen, nötigt die Theorie wiederum in die Falle der Universalität. Die Affinität zur Sprach-, Verhaltens- oder Handlungstheorie, die solche Bestrebungen gezeigt haben, sind daher keineswegs zufällig: Es dreht sich darum, Kommunikation als anthropologisches, ja gelegentlich selbst als biologisches Phänomen11 unter Beweis zu stellen. Der Streit darüber, was den Begriff von Kommunikation ausmachen soll, provoziert insofern einen Prozess wechselseitigen Hintergehens und damit eine Art Regress ins Elementare. Selbst wenn Kommunikation solcherart sollte bestimmt werden können, bleibt sie medial im günstigsten Fall indifferent. Man gewinnt also auf diesem Weg einen Begriff, mit dem man mit einiger Sicherheit nichts anfangen kann, sobald es um die Erklärung konkreter massenkommunikativer Phänomene geht: Das Elementare schlägt dergestalt um ins historisch Belanglose. Zudem wird vor lauter Fixiertheit auf das Grundsätzliche vergessen, dass trotz all der ontologischen Anstrengung12 die Grundsätzlichkeit keine Garantie für Vollständigkeit darstellt. So hat etwa das Spezifische der einzelnen Medien bei Fragen solcher Güte auch nur wenig zu melden. Zugleich wird mit der Fixierung auf die Universalität des Begriffs die Historizität des Phänomens zwangsläufig getilgt. Was auf diesem Wege von Kommunikation übrig bleibt, mag vielleicht zum „Schlüsselbegriff der Humanwissenschaften“ (Richter/ Schmitz 2003) taugen, zu dieser Ehre gelangt es jedoch nur dadurch, dass es historisch und medial keine Unterschiede13 mehr kennt. 11 12
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Dieser Rückgriff hat eine lange Tradition in der Kommunikationswissenschaft. Vgl. etwa Bentele 1987, 80f. So versucht Luhmann auch konsequent der Falle der Ontologisierung durch die Formalisierung zu entgehen: „Kommunikation ist Prozessieren von Selektion.“ (Luhmann 1987: 194), was jedoch in diesem Falle auch nicht das Problem löst, da nach wie vor die Schwierigkeit besteht, historische Konstellationen aus einem nun theoretischen Urszenario zu rekonstruieren. Der ontologische Furor in der Bestimmung des Kommunikationsbegriffs zwingt diese Versuche gleichermaßen zur Unerheblichkeit wie zur Ähnlichkeit. So weist etwa Luhmann auch aus eben diesem Grunde die Übertragungsmetapher für den Kommunikationsbegriff zurück: „Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert.“ (Luhmann 1987: 193)
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Der Drall ins Grundsätzliche, der den fundierenden Teil der Reflexion von Kommunikation kennzeichnet, sorgt zugleich dafür, dass dieses Grundsätzliche in der Regel überschaubar ausfällt. Es wird stets eine Art Robinsonade der Kommunikation entworfen und stillschweigend davon ausgegangen, dass die Übertragung ins Große oder Historische wenigstens für das Kalkül selbst gefahrlos sei. Nur wird mit einer solchen Robinsonade als Urszene der Kommunikation ausgerechnet die Gründungskonstellation der Kommunikations- und Medienwissenschaft verdrängt, die ja gerade im problematisch und unkalkulierbar gewordenen Übergang von der Individual- zur Massenkommunikation bestand. Die elementaren Modelle von Kommunikation hintergehen insofern systematisch ihr ureigenstes Motiv. Von daher stellt diese Strategie der Modellbildung zugleich eine Art Verdrängungsgeschichte dar. Die Komplexitätsreduktion reduziert offenbar ausgerechnet das, was sie erklären sollte. Wenn also auch der Regress ins Elementare weder historisch noch medial für Abhilfe zu sorgen vermag, wenn daher die Erfassung historischer und medialer Unterschiede eines eigenen Modells bedürfte, das aus dem formalen Kommunikationsbegriff dann aber zwangsläufig herausfallen würde, wenn also all jene Unterschiede, die Hoffmann zwischen Nathanael, Olimpia und Klara installiert, keine der Kommunikation wären, dann stellt sich die Frage nach dem kommunikationsgeschichtlichen und medienwissenschaftlichen Nutzen solcher Modelle. Nimmt man Luhmanns Bemerkungen über Kommunikation, nämlich dass sie „als Einzelereignis (…) nicht vorkommen“ kann und dass „jede Kommunikation (…) andere Operationen gleichen Typs voraus(setzt)“ (Luhmann 1997: 190), einmal ernst, dann sind selbst formale Robinsonaden14 als Modelle von 14
„Dieser Zustand [der auf einer einsamen Insel; R. L.] ist, wie ich gern einräume, freilich nicht der des gesellschaftlichen Menschen und wird wahrscheinlich nicht der Zustand Emils werden, aber er soll ihm als Maßstab zur Beurteilung aller übrigen dienen. Das sicherste Mittel, sich über Vorurteile zu erheben und sein Urteil von den wahren Verhältnissen der Dinge leiten zu lassen, besteht darin, daß man sich an die Stelle eines völlig auf sich allein angewiesenen Menschen versetzt und über alles so urteilt, wie dieser Mensch mit Rücksicht auf seinen eigenen Nutzen selbst darüber urteilen muß.“ [Rousseau: Emil oder Ueber die Erziehung. (vgl. Rousseau-Emil Bd. 1: 329)] Auch Lessing begreift die Robinsonade als explizite Negation des Gesellschaftlichen: „Denn wir sind selten mit der menschlichen Gesellschaft so zufrieden, daß uns die Ruhe, die wir außer derselben genießen, nicht sehr reizend dünken sollte, besonders unter der Vorstellung, welche jedes Individuum schmeichelt, daß es fremden Beistandes nach und nach kann entbehren lernen.“ [Lessing: Laokoon. (vgl. Lessing-W Bd. 6: 33-34)] und Jean Paul geht in der Vorschule der Ästhetik vom „Idyllen-Duft und Schmelz“ der RobinsonKonstellation aus. [Jean Paul: Vorschule der Ästhetik.(vgl. Jean Paul-W, 1. Abt. Bd. 5: 259)] Engels beklagt in seinem Anti-Dühring, dass die Robinson-Konstruktion, „die eigentlich in die Kinderstube und nicht in die Wissenschaft gehörige Geschichte“ [Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. (vgl. MEW Bd. 20:154)], sich als Modell in die Ökonomie eingeschlichen habe, hier allerdings als Subjekt – Natur Topos [Engels: Herrn Eugen Dührings
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Kommunikation nur wenig sinnvoll, historische hingegen verbieten sich vollständig. Der Begriff von Kommunikation ist also nicht in einer idealtypisch ausgelegten Einzelsituation zu suchen. Zugleich ist Kommunikation nicht auf einen einzelnen Akt zu reduzieren, vielmehr bezeichnet sie stets Zustände in einem System, einem System, das in radikalem Sinn immer schon historisch und immer schon massenhaft ist und das nicht erst seit dem Buchdruck. Die Reduktion auf den singulären kommunikativen Akt übersteuert den didaktischen Impuls und generiert auf diese Weise quasi die falsche Urszene. Der Nutzen der Kommunikationsbegriffe für eine Geschichte der Kommunikation ist daher bescheiden. Der normative Kommunikationsbegriff kennt nicht nur ein Telos der kommunikativen wie der medialen Entwicklung, sondern er kennt – wenigstens dem Anspruch nach – die Geschichte, bevor sie abgelaufen ist, zumindest aber weiß er, wie sie hätte ablaufen sollen. Ist das einmal nicht der Fall, dann modelliert der normative Kommunikationsbegriff zwangsläufig alles, was nach der Urszene abweichend davon stattfindet, als Verfallsgeschichte. Im Übrigen scheitern die meisten Kommunikationsmodelle allein schon technisch. In ihrer Fixierung auf nur eine Urszene sind sie nicht nur von einem einzigen Medium abhängig, sondern gleichzeitig auch medienvergessen, denn sie ignorieren notgedrungen alle diejenigen Medien, die in dieser Szene nun einmal keinen Auftritt15 haben, und das ist mit Ausnahme der Sprache16 und vielleicht der Tele-
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Umwälzung der Wissenschaft (vgl. MEW Bd. 20:143)]. Und wenn Engels bemerkt, dass „auch auf den Phantasie-Inseln der Robinsonaden (…) bis jetzt die Degen nicht auf den Bäumen“ [Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. (vgl. MEW Bd. 20:. 154)] wachsen, so gilt für Medien und Massenkommunikation zweifellos nichts anderes. Und bei Kant rangieren die Robinsonaden unter dem Label der Misanthropie, was die Karriere der – so Kant – „Verzichtung auf alle gesellschaftliche Freuden“ [Kant: Kritik der Urteilskraft. (vgl. Kant-W Bd. 10: 204)] im kommunikationswissenschaftlichen Kontext umso erstaunlicher macht: „Misanthropie, wozu die Anlage sich mit dem Alter in vieler wohldenkenden Menschen Gemüt einzufinden pflegt, welche zwar, was das Wohlwollen betrifft, philanthropisch genug ist, aber vom Wohlgefallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit abgebracht ist: wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantastische Wunsch, auf einem entlegenen Landsitze, oder auch (bei jungen Personen) die erträumte Glückseligkeit, auf einem der übrigen Welt unbekannten Eilande, mit einer kleinen Familie, seine Lebenszeit zubringen zu können, welche die Romanschreiber, oder Dichter der Robinsonaden, so gut zu nutzen wissen, Zeugnis gibt.“ [Kant: Kritik der Urteilskraft. (vgl. Kant-W Bd. 10:203)] Aus dieser systematischen Beschränkung des Kommunikationsbegriffs kommt man auch durch das metaphorische Stretchen des jeweiligen Kommunikationsbegriffs nicht heraus, denn auch das hat seine Grenzen: So mag die Kanalmetapher noch so halbwegs funktionieren, solange es sich um die Drähte der elektrischen Telegrafie und ihre jeweilige Transportleistung handelt, sie versagt allerdings technisch bereits bei der drahtlosen Telegrafie, ist doch kaum einzusehen, was Frequenzen und Kanäle miteinander zu tun haben mögen, und bei der Übertragung von Bildern wird die Metapher schlicht paradox. Das gilt gerade auch für Luhmann: „Das grundlegende Kommunikationsmedium, das die reguläre, mit Fortsetzung rechnende Autopoiesis des Gesellschaft garantiert, ist die Sprache.
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grafie eigentlich so ziemlich alles, was es an Medien historisch gegeben hat. Die medientechnische Selektion der Kommunikationsbegriffe betrifft dabei vor allem die Bildmedien, die mit frappanter Hartnäckigkeit ausgeschlossen oder gleichgeschaltet und d.h. in Texte übersetzt werden. Insofern begrenzt die Fixierung auf eine besondere mediale Urszene immer schon den technischen, historischen und medialen Geltungsbereich des theoretischen Modells. Die medientechnischen Urszenarios und die auf sie abgestimmten Rekonstruktionen des Kommunikationsbegriffs laufen dabei wenigstens aus historischer Sicht Gefahr, sich zwei systematische Sollbruchstellen einzuhandeln: Denn entweder belastet die Rekonstruktion sich wie im Fall des Habermasschen Modells mit der normierenden Ineinssetzung von Urszene und Telos, also die Annahme, dass die ursprünglich dialogisch verfasste Kommunikation zugleich der Maßstab jeglicher Kommunikation sein müsse, oder aber die Urszene begrenzt als Deskriptionsmodell die theoretisch möglichen Vorstellungen von Kommunikation. Beide Grenzen der Modellbildung, also Normativität und historische Beschränkung, sind jedoch für eine Kommunikationsgeschichte gleichermaßen unerwünscht. Die Modelle und Begriffe von Kommunikation verhindern daher eher die Konzipierung einer Kommunikationsgeschichte, als dass sie sie beförderten. Ein universaler Begriff von Kommunikation17 kennt keine Geschichte und der nor-
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Zwar gibt es durchaus sprachlose Kommunikation – sei es mit Hilfe von Gesten, sei es ablesbar an schlichtem Verhalten, zum Beispiel am Umgang mit Dingen, mag dies indes als Kommunikation gemeint gewesen sein oder nicht. Man kann sich aber schon fragen, ob es solche Kommunikation geben, das heißt: ob man einen Unterschied von Mitteilungsverhalten und Information überhaupt beobachten könnte, wenn es keine Sprache, also keine Erfahrung mit Sprache gäbe.“ (Luhmann 1987: 205) Hier wird auch deutlich, dass Luhman noch die visuell anmutende Kategorie der Beobachtung letztlich an Sprache koppelt. Im Übrigen enthalten sich auch die mit motivierenden Urszenen operierenden Kommunikationsmodelle keineswegs sämtlicher ontologischer Ambitionen. So tendiert etwa Habermas’ normativer Diskursbegriff kaum minder zur Universalie als Luhmanns Idee von Kommunikation und beide tendieren mit einiger Vehemenz zur Sprache als Modell. So macht etwa auch Luhmann wie Habermas die sprachtheoretische Wende mit. Allerdings holt er quasi die Sprachtheorie in die Gesellschaftstheorie zurück: „Insofern folgen wir dem ‚linguistic turn‘, der das transzendentale Subjekt durch Sprache, aber das heißt jetzt durch Gesellschaft ersetzt.“ (Luhmann 1997: 219) Bei allen sonstigen durchaus auch drastischen Differenzen unterscheiden sich daher ihre Kommunikationsbegriffe in dieser Hinsicht nur marginal. So wird Kommunikation bei Luhmann etwa wie folgt eingeführt: „Der basale Prozeß sozialer Systeme, der die Elemente produziert, aus denen diese Systeme bestehen, kann unter diesen Umständen nur Kommunikation sein.“ (Luhmann 1987: 192) und: „Der elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozeß ist ein Kommunikationsprozeß. Dieser Prozeß muß aber, um sich selbst steuern zu können, auf Handlungen reduziert, in Handlungen dekomponiert werden. Soziale Systeme werden demnach nicht aus Handlungen aufgebaut, (…).“ (Luhmann 1987: 193) Die sprachtheoretischen, nachrichtentechnischen und dialogischen Modelle mit ihren je-
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mative oder der deskriptive determinieren sie vorhersehbar und beschränken sie damit zugleich. Sofern man also Kommunikationsgeschichte betreiben will, wird man auf Dauer ganz ohne kommunikative Urszenen auskommen müssen. Stattdessen wird man von jeweils spezifischen historischen Mediensystemen ausgehen müssen, innerhalb derer Medien zueinander in funktionalen Beziehungen stehen. Eine integrale Medien- und Kommunikationsgeschichte18 kann daher nur als die funktionale Relationierung von solchen je historischen medialen Infrastrukturen aufgefasst werden. Es geht also um die Bestimmung kommunikativer Konstellationen und damit immer schon um mehr als um Einzelmedien, deren bloße Idee schon Uricchio als „heuristische Bequemlichkeit“ (Uricchio 2001a: 281) bezeichnet hat. Die Geschichten der meisten Einzelmedien sind einschließlich ihrer Vorgeschichten ohnehin weitgehend geschrieben19. Der Forschungsbedarf hält sich hier in kalkulierbaren Grenzen. Zweifellos lassen sich „der Suche nach de(n) technologischen Stammbäum(en)“ (Uricchio 2001a: 286f.) noch endlos Marginalien hinzufügen, nur zeitigt eine solche Erhöhung der historischen Genauigkeit vermutlich keine kommunikationstheoretischen Konsequenzen und Aufschlüsse. Wenn es jedoch um die funktionale Äquivalenz von Medienpraktiken, um die Typik der Karrieren von Medien in kommunikativen Konstellationen, um den kulturellen oder ästhetischen Wert von Medienkommunikation, um den sozialen oder ästhetischen Aufstieg und Fall von Medien, um die Geschichte von TextBild-Relationen, um jene von Benjamin vermutete und von Crary gezeigte Historizität von Wahrnehmung, um das Verhältnis und die soziale Bedeutung von Individual- und Massenkommunikation oder um den von Uricchio analysierten Wandel in medienkulturellen Praktiken20 geht, dann handelt es sich stets um die Relationierung von kommunikativen Konstellationen21 und daher um mehr als
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weiligen Urszenen drohen so ontologisch zusammenzufallen und ihre medialen Szenen als bloße Oberflächenmotive preiszugeben. „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von der Jetztzeit erfüllte bildet.” (Benjamin 1942: 701) „Wie die Arbeiten von Forschern wie Kittler, Gumbrecht, Zielinski in Deutschland, von Ong, Douglas und Marvin in den USA oder Flichy, Virilio und Mattelart in Frankreich gezeigt haben, herrscht an mehr und mehr elaborierten (und eklektischen) Untersuchungen zu den komplexen Geschichten der Medien kein Mangel.“ (Uricchio 2001b: 65) „The very definitions of cultural practises – (…) – have been put in question by these participatory networks. And the institutional practices behind them have to some extent been subverted.” (Uricchio 2006: 82) Bereits Walter Benjamin verwendet den Begriff der Konstellation in einem historischen Kontext: „Aber kein Tatbestand ist als Ursache eben darum bereits ein historischer. Er ward das, posthum, durch Begebenheiten, die durch Jahrtausende von ihm getrennt sein mögen. Der Historiker, der davon ausgeht, hört auf, sich die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen wie ein Rosenkranz. Er erfaßt die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist.“ (Benjamin 1942: 704) „Wo das Denken in einer
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um die Darstellung von Einzelmedien. Es geht nicht mehr um die weißen Flecken in der Karte der Mediengeschichte, sondern um die Struktur der Karte und das, was sie zeigen soll. Und in dieser Hinsicht ist der Forschungsbedarf immens. So ist die Entwicklungslogik der Konjunkturen von Medien- und Mediensystemen noch weitgehend unbekannt. Man ahnt etwa, dass es so etwas wie Medienumbrüche gegeben haben muss. Zugleich lassen sich diese keineswegs mechanisch auf einzelne Medien zurückführen, z.T. sind sogar die Beobachtungen bei bestimmten Einzelmedien gegenläufig. Offensichtlich bewegen sich Medien historisch nicht im Gleichschritt, sondern vermittelt. Insofern kann man die Effekte einzelner Medien nicht einfach addieren, um zu einem einigermaßen zuverlässigen Befund bei medialen Umbrüchen zu kommen. Und deshalb ist auch der Nutzen der Einzelmediengeschichten für eine Geschichte von Mediensystemen und kommunikativen Konstellationen naturgemäß beschränkt. Demgegenüber ist das Mediensystem, also die spezifische historische Konstellation, dasjenige, was historischen Effekt macht, und nicht das einzelne Medium. Daher ist es, wenn man Mediengeschichte treiben will, auch nur wenig sinnvoll mit Kommunikationsbegriffen oder aber mit den Eckdaten bestimmter Einzelmedien anzufangen. Auch die Logiken und Zwänge von Medientechniken verfügen über keine hinreichende Wirkmacht, so dass auf ihrer Grundlage die Entwicklung von Medien einigermaßen zuverlässig beschrieben werden könnte. So gibt es – etwa beim Radio – den vollständigen Funktionswechsel eines Mediums, ohne dass sich an seiner technischen Plattform irgendetwas geändert hätte, und gerade auch technisch ausdifferenzierte Medien wie der Film erleben, wie bereits Bazin gezeigt hat, jenseits der technologischen Entwicklung eine reiche Repertoire- und Formgeschichte. von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.“ (ders. 1942: 702f.) Im Übrigen handelt es sich um eine Forderung, die durchaus auch der Kommunikationswissenschaft vertraut ist. So formuliert Hans Bohrmann etwa: „Sie [die Kommunikationsgeschichte; R. L.] soll Auskunft geben über die Möglichkeiten und Realitäten menschlicher Kommunikation als Aktionsform in der Gesellschaft. Von der öffentlichen, mediengebundenen Kommunikation unserer Jahrzehnte gelangt die Fragestellung der Kommunikationsgeschichtsschreibung rückblickend schnell zu Systemen weniger öffentlicher Kommunikation, die sich, je weiter zurückreichend desto mehr, nicht der Medien, sondern in immer höherem Anteil des mündlichen Austauschs bedient. Diese Sachlage zwingt dazu, Mediengeschichte lediglich als Teilgebiet der Kommunikationsgeschichtsschreibung anzusehen und prinzipiell für jede Epoche die Summe der kommunikativen Möglichkeiten abzuschätzen, ehe die Einzelforschung angesetzt werden kann.“ (Bohrmann 1987: 46f.) Abgesehen von dem interessanten, weil recht technophilen Medienbegriff haben die damaligen, keineswegs unerheblichen Forschungsdefizite, was die Einzelmediengeschichten anbelangt, bei der Einlösung dieser Forderung für einen gewissen Aufschub gesorgt. Mittlerweile dürfte der Grund für das Aussetzen der Forderung jedoch entfallen sein.
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Insofern wird man stets und systematisch an ein historisches Mediensystem als die einzige verlässliche Bezugsgröße von Mediengeschichte verwiesen. Man hat es bei historischer Kommunikation also, wenn man Ruesch und Bateson folgt (Ruesch/Bateson 1951: 52), immer schon mit komplexen Kommunikationsnetzwerken zu tun, die in ein Gefüge von Medien und medialen Formen sowie kulturellen Mustern und Systemen eingehängt sind, die sich alle zudem auch noch historisch bewegen und das keineswegs immer synchron. Im Überschwang der eigenen Bedeutsamkeit hat die Mediengeschichte die historische Dynamik von Mediensystemen ein wenig vorschnell als Revolutionen beschrieben. Zwar sind, wenn man sich die Verhältnisse näher ansieht, diese Medienrevolutionen allesamt ausgefallen22 und kein einzelnes Medium, keine Technik allein hat jemals ernstlich einen Umsturz ausgelöst. Allenfalls ist die eine oder andere Revolution durch ein Medium angekündigt worden. Allerdings hat es zweifellos eben auch jene historischen Umbrüche und frappanten Beschleunigungen im Mediensystem gegeben, die Medien über ihr Maß hinaus haben bedeutsam erscheinen lassen. Jedoch waren das, und darauf weist etwa Uricchio hin, in der Regel langfristige Umschichtungen und keineswegs abrupte Wechsel. Dennoch und gerade deshalb bleibt die Frage nach Mediendynamiken eine der entscheidenden Fragen der Mediengeschichte. Hinzu kommt, dass, wenigstens wenn man mit Sybille Krämers Kritik des Medienaprioris (Krämer 2005: 15) konform geht, man es bei historischen Kommunikationskonstellationen immer mit Verhältnissen vergleichsweise schwacher Determinanz23 zu tun hat, so dass Ansätze mit großer Erklärungstiefe oder we22
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Brian Winston lehnt das Modell der Medienrevolution prinzipiell ab und setzt stattdessen auf Implementationsroutinen von Technologie und Kontinuitäten. Allerdings wird von ihm die Systemreferenz, die für Umbruchssituationen im Mediensystem entscheidend ist, da sie Rückkopplungseffekte und Resonanzen ermöglicht, weitgehend ignoriert, da er Technologieentwicklungen letztlich ausschließlich vom Einzelmedium bzw. der Einzeltechnologie her denkt. Insofern ist das Kontinuitätsmodell Effekt der spezifischen Gegenstandskonstruktion. Dass Medien hingegen keine sozialen Revolutionen auslösen, darüber scheint demgegenüber Konsens zur bestehen. So formuliert etwa Weizenbaum für den Computer: „Aber wenn der Triumph einer Revolution an der Tiefe der gesellschaftlichen Veränderungen gemessen werden soll, die sie mit sich gebracht hat, dann hat es keine Computerrevolution gegeben. Und wie man auch immer das gegenwärtige Zeitalter charakterisieren will, der Computer ist nicht dessen Urheber.“ (Weizenbaum 1976: 54f.) Auch Weizenbaums Verweis auf die Erfindung der Dampfmaschine und deren Entwicklung lässt deutlich werden, dass man es nicht mit abrupten Änderungen, sondern mit systematischen Dynamiken in symbolischen Bezugssystemen zu tun hat, wovon ja auch Winston ausgeht, für die der Revolutionsbegriff eindeutig der falsche Terminus wäre. (Weizenbaum 1976: 55 f.) Norbert Wiener etwa geht über die Vorstellung schwacher Determinanz noch in Richtung eines Indeterminismus hinaus: „Unter diesen Umständen nützt es gar nichts, sich in der Geschichte nach Parallelen für die folgenreichen Erfindungen der Dampfmaschine, des Dampfschiffs, der Lokomotive, der modernen Metallverhüttung, des Telegrafen und der Überseekabel, der Ein-
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nigstens mit einem solchen Erklärungsanspruch zumeist die jeweilige Konstellation überanstrengen. Es geht um Zusammenhänge mittlerer Größenordnung, denn es handelt sich weder um Individualverhältnisse noch um universale Gesetze, die in jedem Fall die Faktizität überforderten. Man hat es dann zugleich, wie Uricchio es fordert, mit vom „teleologischen Determinismus“ (Uricchio 2001a: 305) entlasteten Zusammenhängen zu tun. Insofern kommt man hier auch mit einer Systemlogik nur bedingt weiter, sondern man ist an Modelle verwiesen, die über den erforderlichen Grad an Unschärfe und Offenheit verfügen. Hier haben die Kulturwissenschaften immerhin einige – von der Rhetorik bis zur Foucaultschen Archäologie24 – herausgebildet. Es dreht sich also darum, das Funktionieren von schwach deterministischen Zusammenhängen in historischen Konstellationen von Medien zu erklären. Auf einen solchen Zusammenhang reagiert etwa auch David Bolters Remediationprogramm, das im Übrigen vom Visuellen her gedacht wird. Bolter versucht, die ständigen Interferenzen zwischen Medien im Sinne einer ins Historische gewendeten Intermedialitätsthese zu erklären und die Medienevolution durch ein wechselseitiges Repräsentationsmodell von Medien zugleich zu vermitteln und abzufedern. Was Bolter dabei jedoch übersieht, ist, dass sämtliche der von ihm beobachteten Bezugnahmen von Medien aufeinander und Repräsentationen ineinander jeweils in einem endlichen historischen System medialer und kommunikativer Möglichkeiten stattfinden. Es ist jedoch vor allem dieses endliche historische System medialer Möglichkeiten, das die Bedingungen des Funktionierens von Medien schafft, und nur die Strukturen dieses Systems können jene ebenso seltenen wie prominenten Situationen von Medien erklären, die Marketingexperten sich angewöhnt haben Medienrevolutionen zu nennen. Das Remediation-Konzept kennt dabei nicht nur die reflexiven Bezüge von Medien aufeinander, sondern zugleich eine historische Abfolge oder Evolution von Me-
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führung der Elektrizität, des Dynamits und des modernen hochexplosiven Geschosses, des Flugzeugs, der Elektronenröhre und der Atombombe umzusehen.“ (Wiener 1952: 34) Wiener konzipiert die „Periode, die die Hauptlebensbedingungen für die große Masse der Menschen wiederholt und umwälzend verändert hat“ (Wiener 1952: 34), als Ansammlung von Einzelereignissen, die letztlich keiner Systematik unterliegen. Zumindest jedoch für Entwicklungen im Mediensystem lässt sich eine solche Regelmäßigkeit wenigstens ansatzweise annehmen. Mithilfe der Konstruktion des Archivs kann man sich vielleicht noch, wie Wolfgang Ernst das tut, für das Technische der Kommunikation in die Bresche werfen und eine entsprechende Sammlung von Phänomenen organisieren, nur dürfte auch das sich zwischenzeitlich erledigt und daher überlebt haben: Dass bei Kommunikation stets auch Technik im Spiel ist, stellt, wenn man von der Grundlegung des Kommunikationsbegriffes einmal absieht, seit geraumer Zeit zumindest kein theoretisches und in der Regel auch kein historisches Problem mehr dar. Auch die zahllosen medialen Einzelerscheinungen und die von ihnen angestoßenen Einzelgeschichten stellen weder die Analyse von Kommunikation in Frage, noch wird ihnen irgendein Widerstand entgegengebracht.
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dien. Von dieser reflexiven Intermedialität ist es zu Vorstellungen der Koevolution und der Resonanz von Medien nicht mehr weit, die den Überlegungen zu einer integrativen Kommunikationsgeschichte zugrunde liegen. Die Karrieren von Medien finden also stets unter den Bedingungen eines historischen Mediensystems statt und sind von dessen Interferenzen und Resonanzen abhängig. Dabei gibt es typische historische Bewegungen. So bestimmt die jeweilige Einstiegsposition eines Mediums, also der Ort, von dem aus ein Medium seine Integration in ein bestehendes System von Medien antritt, dessen weitere Entwicklung: Jahrmarkt, Rüstungsgut, Errungenschaft der Revolution oder aber Instrument der Wissenschaft machen hier durchaus einen Unterschied, der über die kulturelle Dynamik des Mediums entscheidet. Demgegenüber sinken in der Regel mediale Stoffe und Formen zwar sozial und kulturell, jedoch kann dieses Veralten durch einen Wechsel zu einem neuen Medium zumindest aufgeschoben oder aufgehalten werden kann. Derartige Einzelmedien übergreifende Prozesse lassen sich allerdings nur vor dem Hintergrund eines Konzepts medienhistorischer Konstellationen überhaupt erfassen. Es geht daher auf der einen Seite um die Analyse historischer Isomorphien im Mediensystem über die Grenzen von Medien hinweg, wie sie Uricchio mittels des Live-Charakters zwischen Telefon und Fernsehen (Uricchio 2001a: 290f. u. ders. 1997: 82f.) herstellt. Es geht um Zusammenhänge, die Panofsky reflektiert, wenn er nach den „Ideologischen Vorläufer(n) des Rolls-Royce Kühlergrills“ (Panofsky 1963: 106) sucht und den Gegensatz von Silver Lady und Kühler in den Kontrasten der englischen Architektur- und Kulturgeschichte wiederfindet. Es geht um Zusammenhänge, die auch Crary (Crary 1999) bemüht, wenn er die historische Dialektik von Medium, Wahrnehmung und ästhetischer Darstellung in der Kunstgeschichte rekonstruiert. Auf der anderen Seite muss es uns um die Bestimmung der Potentiale von medialen Infrastrukturen, also um jene historische Kopräsenz von unterschiedlichen Medientechniken, Medienpraktiken, medialen Formen und Erwartungen, die eine historische Konstellation kennzeichnen, zu tun sein. Zugleich lassen sich zwischen den unterschiedlichen Konstellationen nicht nur Isomorphien und Differenzen beobachten, sondern mediale Konstellationen bringen genauso gut ihre Desiderata und medialen Träume hervor, die dann von anderen Konstellationen eingelöst oder wenigstens aufgenommen werden. So funktionieren die Ingredienzien der medienhistorischen Konstellation E.T.A. Hoffmanns, also die Automaten, Dioramen, Panoramen oder Panoptiken heute außerhalb von Erzählungen sicherlich nur noch als rührende Kuriositäten, ihre mediale Idee jedoch hat sich in den Darstellungskonventionen von Überwachungskameras, Filmen, Computerspielen und den Industrierobotern erhalten.
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Von daher sind es neben den wechselseitigen Resonanzen der Medien in einer historischen Konstellation vor allem die funktionalen Äquivalenzen und Differenzen, die die Entwicklung und den Zusammenhang von Mediensystemen begreifen lassen. Das aber bedeutet auch, dass die Mediengeschichte nicht in einem Kommunikationsbegriff grundgelegt werden kann, sondern dass umgekehrt der Begriff von Kommunikation aus den historischen Möglichkeiten von Medien zu gewinnen ist. Literatur Adelmann, Ralf; Hesse, Jan O.; Keilbach, Judith (Hrsg.) (2001): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft: Theorie, Geschichte, Analyse. Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft. Benjamin, Walter (1932):Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben. In: Ders: Gesammelte Schriften Bd. IV 1,2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Verlag 1980: 640-670 Benjamin, Walter (1942):Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. I, 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Verlag 1980: 691-704 Benjamin, Walter (1980): Gesammelte Schriften Bd. IV 1,2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Bentele, Günter (1987): Evolution der Kommunikation – Überlegungen zu einer kommunikationstheoretischen Schichtenkonzeption. In: Bobrowsky, Manfred; Langenbucher, Wolfgang R. (1987) Hrsg.): 79-94. Bobrowsky, Manfred/ Langenbucher, Wolfgang R. (1987) (Hrsg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte. München: Ölschläger Bohrmann, Hans (1987): Methodenprobleme einer Kommunikationsgeschichtsschreibung. In: Bobrowsky, Manfred/ Langenbucher, Wolfgang R. (1987) (Hrsg.): 44-48. Bolter Jay David/ Grusin, Richard (2000): Remediation. Understanding New Media. 3. Aufl. Cambridge, Massachusetts, London: 2000. Brecht, Bertolt (1932). In: Ders. (1990): 127-134. Brecht, Bertolt (1990): Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Verlag 1990 Crary, Jonathan (2002): Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Verlag Engell, Lorenz/ Joseph Vogl (Hrsg.) (2001): Mediale Historiographien. Weimar: Universitätsverlag. Grampp, Sven/ Kirchmann, Kay u. a. (Hrsg.) (2008): Revolutionsmedien – Medienrevolutionen. Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft Hoffmann, E.T.A. (1815): Der Sandmann. E.T.A. Hoffmann Werke, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1967: S. 7-40 Krämer, Sybille (2004): Die Heteronomie der Medien. Versuch einer Metaphysik der Medialität im Ausgang einer Reflexion des Boten. In: Phänomenologie. Jg. 2004, Bd. 22: 18-38.
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II.
Bildgeschichte
Reflexionen zu William Henry Fox Talbots Photographie Die offene Tür Gerhard Lampe
Abbildung 1:
William Henry Fox Talbot, Die offene Tür. Salzpapierkopie nach einem Kalotypienegativ.
Fox Talbot (* 11. Februar 1800 in Melbury, Dorset; † 17. September 1877) zählt zu den großen Pionieren der Photographie.1 Als Erfinder des Negativ-PositivVerfahrens ist er in die Geschichte des Mediums eingegangen. Sein Verfahren ermöglichte die Vervielfältigung seiner – von ihm so seltsam sperrig genannten – ‚photogenischen Zeichnungen‘ (‚photogenic drawing‘, der Ausdruck ‚Photogra1
Siehe dazu grundlegend: Amelunxen 1989
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phie‘ setzte sich bekanntlich erst später durch). Zuvor waren photographische Bilder immer Unikate. Zur Aufnahme verwendete Talbot Jodsilberpapier, das in Gallussäure und Silbernitrat entwickelt und in Natriumthiosulfat fixiert wurde. Durch Baden in Wachs machte er es transparent und kopierte es dann auf Jodsilberpapier zu Positiven um. Dieses Verfahren ließ er sich durch ein Patent schützen. Talbots ‚Kalotypie‘ [wörtl. Schöndruck] wurde später sogar Talbotypie genannt. Sein Verfahren musste allerdings eine von den Zeitgenossen als störend empfundene gröbere Papierstruktur in Kauf nehmen, weshalb es hauptsächlich bei Architektur- und Landschaftsaufnahmen angewendet wurde, während man für Portraitaufnahmen bis in die 1860er Jahre die Daguerrotypie bevorzugte. Talbots Erfindung bedeutete zunächst einmal eine mediale Umwälzung, denn Photographien waren jetzt beliebig reproduzierbar. Talbot selbst ging sogleich daran, Photobücher herzustellen und erfolgreich zu vermarkten. 1844 erschien das erste: Pencil of Nature, dem im Jahr darauf Sun Pictures of Scotland folgte. Nach 1850 zog sich Talbot von der Photographie zurück. Sein Wohnsitz Lacock Abbey ist heutzutage ein Museum. Das Photo Die offene Tür erscheint uns als ein geradezu magischer Abdruck einer vergangenen Zeit. Das Motiv ist noch heute zu besichtigen, wenn auch nicht mehr im Zustand des Moments der Aufnahme. Es handelt sich um ein Portal eines der typischen stone cottages aus Lacock Village, deren Fassaden noch heute oft von Kletterrosen und Rankengewächsen wie Clematis oder Glyzinie bedeckt sind, wie sie ja auch den photographierten Eingang säumen. Man darf der Qualität der Reproduktion aus dem Verlag Schirmer/Mosel trauen, so dass man behaupten kann: Talbot demonstriert uns allererst die Qualität seines Verfahrens. So präzise ist die Kopie, dass sie den Bereich der Schärfentiefe deutlich hervortreten lässt: Die geöffnete Tür steht im Zentrum der Wahrnehmung, nicht das hell reflektierende Mauerwerk der Außenseite des Portals und der angelehnte Besen, ebenso wenig das dunkle Innere, das die geöffnete Tür freigibt und aus dessen Tiefe durch ein Fenster schwaches Licht schimmert. Talbots ‚photogenische Zeichnung‘ gliedert die Tür in mehrere Bereiche: Die Tür selbst ist so arrangiert, dass der Einfall des Tageslichts ihre Strukturen vor allem im unteren rechten, trapezförmigen Abschnitt wie in einem kontinuierlichen Verlauf vom Weiß über sämtliche Grauwerte in Schwarz hervortreten lässt, so dass beispielsweise die Köpfe der Nägel oder die Fasern des Holzes der Bretter plastisch werden. Der obere Teil wird als ein beinahe flächiges dunkles Grau2 wiedergeben, das mit den changierenden Grautönen des Fensters und dem 2
Die Reproduktion nach Newhall gibt die Photographie in schwarz/weiß wieder. Das Original dürfte zeit- und techniktypisch in rot- oder schwarzbraunen Tönen gehalten sein, ähnlich wie in
Reflexionen zu Talbots Photographie Die offene Tür
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satten Schatten des Innenraums, der die Türöffnung kompositorisch buchstäblich ergänzt, wunderbar kontrastiert. Die neue Technik bringt Erstaunliches zu Tage. Talbot stellt hier bewusst die Leistungsfähigkeit seiner Erfindung als Durchbruch zu einer neuen Kunst aus: Die Talbotypie öffnet uns neue Wege des Sehens – und des Fixierens und der Reproduktion der Wahrnehmung. Und möglicherweise hat Talbot das Motiv sogar so arrangiert, dass der Besen eine Metapher ist: Das Bild Die offene Tür zeigt eine bis dahin ungesehene Klarheit und Reinheit einer Photographie (man verzeihe hier die Anwendung des späteren Ausdrucks), aus der frühere ‚Verschmutzungen‘ getilgt sind. In diesem Sinne kann man die Motivgestaltung Talbots durchaus in der Tradition einer bestimmten Bildgattung ansiedeln, wie sie Talbot selbst angeführt hat: „In der holländischen Malerei gibt es genügend Beispiele dafür, dass alltägliche und vertraute Gegenstände bildwürdige Themen sein können. Das Auge des Malers wird oft auf Dingen verweilen, an denen der Durchschnittsmensch nichts Bemerkenswertes findet. Ein zufälliges Glänzen des Sonnenlichts, ein Schatten auf dem Wege, eine verwitterte alte Eiche oder ein mit Moos bedeckter Stein genügen, um Gedankenfolgen, Empfindungen und bildliche Vorstellungen wachzurufen“ (zit. nach Newhall 1989: 45).
Offenbar reiht sich Talbot in die Tradition des Stilllebens ein, was durchaus Sinn machen würde, denn diese Gattung eignete sich wie kaum eine andere zur Demonstration virtuosen Könnens und der Beherrschung (oder Erneuerung) der technischen Mittel der Gestaltung, wie etwa die Werke Hubert van Ravesteyn in der zweiten Hälfte des 18. Jh. mit ihren streng architektonisch aufgebauten Kompositionen von Alltagsgegenständen diese besondere Rolle des Stilllebens belegen. Talbots Die offene Tür erschließt der Kunst im Kontext dieser Bildgattung neue Dimensionen und zeigt in der dunklen Kammer des Raums hinter der Tür metaphorisch die camera obscura: Die offene Tür wäre dann auch Linse und/oder Blende, und das Lichtbild auf ihrer Rückwand wäre zugleich auch ein Sinnbild für das neue Medium (kein technisches Abbild freilich, denn dann müsste das Fenster ‚auf dem Kopf‘ stehen). Talbot hatte sich ziemlich erfolglos als Zeichner versucht, er hat über seine Schwierigkeiten berichtet und auch Problemlösungen in Aussicht gestellt: „An einem der ersten Oktobertage des Jahres 1833 beschäftigte ich mich an den lieblichen Ufern des Comer Sees damit, mit Hilfe von Wollastons Camera lucida Skizzen anzufertigen, oder, wie ich besser sagen sollte: Ich versuchte sie anzufertider Abb. in von Amelunxen 1989: 49. Unabhängig davon geht es hier um die Qualität der Abstufungen.
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Gerhard Lampe gen, leider nur mit dem bescheidensten Ergebnis [...]. Nach verschiedenen ergebnislosen Bemühungen legte ich das Instrument beiseite und folgerte, dass sein Gebrauch zeichnerische Vorkenntnisse erforderte, die ich bedauerlicherweise nicht besaß. Danach dachte ich daran, es erneut mit einer Methode zu versuchen, die ich mehrere Jahre zuvor probiert hatte. Diese Methode bestand darin, eine Camera obscura zu nehmen und das Abbild der Gegenstände auf ein durchsichtiges Stück Pauspapier zu projizieren, das auf eine Glasscheibe im Brennpunkt des Instruments gelegt wird [...]. Während dieser Versuche kam mir die Idee, wie reizvoll es sein müsste, könnte man diese natürlichen Bilder veranlassen, sich selbst dauerhaft abzudrucken und immerwährend auf dem Papier zu verweilen“ (zit. nach Newhall 1989: 20).
Man versteht vor diesem Hintergrund den Ausdruck ‚photogenische Zeichnung‘ besser: Talbot hat sein Ziel erreicht, das flüchtige Abbild der camera obscura zu fixieren (und sogar zu reproduzieren), das ihm geholfen hat, seine zeichnerische Insuffizienz zu überwinden. Und er notierte unter dem Eindruck seiner Entdeckungen weiter: „Es gibt gewiss eine via regia zur Zeichenkunst, und eines Tages, wenn er [der Königsweg] besser bekannt und erkundet ist, wird man ihn wahrscheinlich häufig einschlagen. Schon haben etliche Amateure den Zeichenstift beiseite gelegt und sich mit chemischen Lösungen sowie camerae obscurae ausgerüstet. Vor allem diese Amateure – und es sind nicht wenige –, denen es schwer fällt, die Regeln der Perspektive zu erlernen und anzuwenden, und die leider auch träge sind, ziehen eine Methode vor, die sie aller Schwierigkeiten enthebt“ (zit. nach Newhall 1989: 46).
Der Besen bekommt so vielleicht sogar eine autobiographische Bedeutung: Talbot hat vor seiner Türe gekehrt und Fehler überwunden. Was wir im Bild Die offene Tür also auch entdecken können, ist der befreiende Durchbruch von der Zeichnung zur Photographie. Und diesen Übergang hat Talbot sogar kunsttheoretisch begründet. Im Januar 1839 schickte Talbot Proben seiner Arbeit und einen Bericht an die Royal Society in London mit dem Titel: Some Account of the Art of Photogenic Drawing, or, The Process by which natural Objects may be made to delineate themselves without the Aid of the Artist’s Pencil. Der in diesem Kontext entscheidende Ausdruck ist der einer „Skizze ohne den Zeichenstift des Künstlers“. In diesem Sinne hat Talbot seinem Bericht auch eine Photographie seines Landsitzes beigefügt und als „den ersten überlieferten Fall eines Hauses, das sein eigenes Portrait gemalt hat“, charakterisiert (zit. nach Newhall 1989: 21). Die Emphase dieser Deutung wiederholt programmatisch der Titel des ersten Photobuchs: Zeichenstift der Natur. Talbot glaubt sich damit am Ziel eines langen Traumes. Das ‚Acheiropoieton‘ (DFHLURSRLKWRQ) hatten sich schon
Reflexionen zu Talbots Photographie Die offene Tür
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Künstler der Antike gewünscht: das nicht von Menschenhänden (sondern von Göttern) geschaffene Bild. Legenden, die sich beispielsweise um das Schweißtuch der Veronika oder das Turiner Grabtuch ranken, behaupten einen von künstlerischen Manipulationen und/oder Unzulänglichkeiten gereinigten Objektivitätsgrad von Bildern durch gewissermaßen natürliche Kontaktabzüge. Die Heilige trägt ihren Namen für die Behauptung eines wahren Bildes (vera icona). Veronika ist gewissermaßen die erste Photographin: Sie trägt in Gestalt des Schweißtuchs das Medium mit sich, in das Christus sein Antlitz drückt und es dauerhaft fixiert. Deshalb wurde das dabei entstandene ‚Mandylion‘, das seit dem 6. Jh. als ‚authentische Reliquie‘ gilt, zum Urbild aller Christusikonen.3 Talbots technisch-ästhetischer Besen fegt hier also grundsätzlich unsaubere künstlerische Praktiken weg. Doch handelt es sich hier – wie im Fall der historischen Beispiele – nicht um einen neuen Mythos? – Betrachten wir Die offene Tür noch einmal, so fällt eine bestimmte geometrische Ordnung auf: Abbildung 2:
3
Talbots Die offene Tür mit Linien zur Verdeutlichung der zentralperspektivischen Anordnung der Objekte
Siehe dazu: Belting 1990
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Gerhard Lampe
Die eingezeichneten Linien sollen die These der Vorstellung nahebringen, dass Talbot nicht der Natur den Zeichenstift in die Hand gegeben hat, sondern weiterhin einem künstlerischen Muster folgt. Die offene Tür hat uns zwar eine neue, überlegene Zeichenmethode aufgezeigt, aber sie müht sich noch immer damit ab, ‚die Regeln der Perspektive zu erlernen und anzuwenden‘, um an Talbots Notizen zu erinnern. Die über die ‚photogenische Zeichnung‘ gelegten Linien sollen die Lektionen der Linearperspektive andeuten, wie sie seit Leon Battista Albertis Traktat über die Malerei (De pictura / Della pittura, 1435/36) Gegenstand künstlerischer Ausbildung sind, sicher auch in Cambridge, wo Talbot 1826 seinen Master of Arts machte. Talbot nimmt hier einen bestimmten Schnitt durch die ‚Sehpyramide‘ vor, übt sich in Fluchtpunkt- und Distanzpunktoperationen, wie man an den nachfolgenden Abbildungen genauer vergleichen kann: Abbildung 3:
Albertis perspektivische Konstruktion, Lucca, Biblioteca Governativ
Reflexionen zu Talbots Photographie Die offene Tür
Abbildung 4:
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Zeichnungen zu Variationsmöglichkeiten des Albertifensters
In Nelson Goodmans Die Sprachen der Kunst kann man nachlesen, dass die Zentralperspektive kein natürliches Sehen, sondern einen zu erlernenden Akt darstellt: „Die Einführung der Perspektive in der Renaissance wird allgemein als ein großer Schritt hin zur realistischen Abbildung gesehen. Die Gesetze der Perspektive liefern angeblich absolute Treuestandards, die sich über Unterschiede im Stil des Sehens und bildlichen Darstellens hinwegsetzen [...]. Perspektivisch gemalte Bilder müssen wie alle anderen gelesen werden; und die Fähigkeit zu lesen, muss erworben werden. Nach den pikturalen Regeln zeichnet man Eisenbahnschienen, die sich vom Auge weg erstrecken, konvergierend, Telefonmasten dagegen (oder die Kanten einer Fassade), die sich vom Auge nach oben erstrecken, zeichnet man parallel. Nach den ‚Gesetzen der Geometrie’ müssten die Masten auch konvergierend gezeichnet werden. Zeichnete man sie aber so, dann würden sie genau so falsch aussehen wie parallel gezeichnete Eisenbahnschienen. [...] In diametralem Gegensatz [..., sc. zu einigen Kunsthistorikern] muss sich der Künstler, der eine räumliche Repräsentation hervorbringen möchte, die vom zeitgenössischen westlichen Auge als getreu akzeptiert werden soll, den ‚Gesetzen der Geometrie’ widersetzen“ (Goodman 1995: 21f./25f.).
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Gerhard Lampe
Mit anderen Worten: Auf der Rückwand in Talbots Photographie Die offene Tür und seinem künstlerischen Modell einer camera obscura entdecken wir lediglich ein neues Verfahren der Abbildung, nicht aber ein ‚realistisches‘ Bild der Wirklichkeit; im Hintergrund sehen wir einen Widerschein des Alberti-Fensters, d.h. eine Konstruktion der Welt und ihrer Erscheinungen nach Maßgabe der Euklidischen Geometrie – mit anderen Worten: eine auf die Photographie übertragene Erfindung aus der Zeit der Renaissance, also ein Kulturmuster, keine sich selbst abbildende Natur. Ob Talbot dies bewusst war, lässt die Forschung offen; von Amelunxen (S. 48f.) und Busch (S. 188ff) gehen zwar auf Aspekte der Kunstgeschichte ein, konzentrieren sich dabei aber auf ‚Verlust der Aura‘, wie Walter Benjamin die mit Talbot sich abzeichnenden Folgen der industriellen Vervielfältigung von Kunstwerken genannt hat. Wie auch immer: Talbot wäre vermutlich nie in eine Authentizitätsfalle getappt, in die Roland Barthes mit seinen Bemerkungen zur Photographie mit dem Titel Die helle Kammer geriet, als er in der Photographie reine Abbilder der Wirklichkeit sah: „Wenn die Photographie sich nicht ergründen läßt, dann deshalb, weil ihre Evidenz so mächtig ist. Im Bild gibt sich der Gegenstand als ganzer zu erkennen, und sein Anblick ist gewiß – im Gegensatz zum Text oder zu anderen Wahrnehmungsformen, die mir das Objekt in undeutlicher, anfechtbarer Weise darbieten und mich dadurch auffordern, dem zu mißtrauen, was ich zu sehen glaube. [...] Die Photographie einer Flasche, eines Irisstengels, eines Huhns, eines Palastes zu sehen, beansprucht nur Wirklichkeit“ (Barthes 1985: 117 f).
Hier ließe sich mit Vilém Flusser einwenden: „Es gibt kein naives, unbegriffenes Fotografieren. Die Fotografie ist ein Bild von Begriffen. In diesem Sinne sind alle Kriterien des Fotografen im Programm des Apparates als Begriffe enthalten“ (Flusser 1983: 34).
Für Flusser war diese Frage von entscheidender Bedeutung: „Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparatprogramm seiner Absicht zu unterwerfen, und dank welcher Methode“ (Flusser 1983: 43)? Die Antwort lautet: Ganz klar hat Talbot die Technik seiner camera obscura und die Chemie seiner ‚photogenischen Zeichnungen‘ seinen künstlerischen Intentionen unterworfen, indem er ein Stillleben von bis dahin unerreichter Präzision schuf (wenn man die Farbe außer Acht lässt) und diesem Bild eine Komposition einarbeitete, die vielleicht sogar selbstreferentiell ist und das neue Medium buchstäblich und metaphorisch reflektiert.
Reflexionen zu Talbots Photographie Die offene Tür
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Literatur Alberti, Leon Battista (2002): Della Pittura. In: Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Amelunxen, Hubertus von (1989): Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot. Berlin: Nishen Barthes, Roland (1985): Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Belting, Hans (1990): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor der Kunst. München: C.H. Beck Busch, Bernd (1989): Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. München: Hanser Edgerton, Samuel (2002): Die Entdeckung der Perspektive. München: Fink Goodman, Nelson (1995): Die Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Flusser, Vilém (1983): Für eine Philosophie der Fotografie. Berlin: European Photography Newhall, Beaumont (1989): Geschichte der Photographie. München: Schirmer/Mosel
Abbildungen Abb. 1: William Henry Fox Talbot, Die offene Tür. Salzpapierkopie nach einem Kalotypienegativ. Abbildung VI aus Ders., The Pencil of Nature, London 1844-46. Fox Talbot Museum, Lacock, England; entnommen aus: Newhall 1998: 44 Abb. 2: Talbots Die offene Tür mit Linien zur Verdeutlichung der zentralperspektivischen Anordnung der Objekte Abb. 3: Albertis perspektivische Konstruktion, Lucca, Biblioteca Governativa; wiedergegeben nach Leon Battista Alberti, 2002: 15. Abb. 4: Zeichnungen zu Variationsmöglichkeiten des Albertifensters aus: Edgerton 2002: 46.
Ikonen in der Geschichte der technisch-apparativen Massenmedien. Kontinuitäten und Diskontinuitäten medienhistorischer Ikonisierungsprozesse Kathrin Fahlenbrach
1.
Vorbemerkung
In der Geschichte der Bildmedien nehmen Ikonen durchgängig eine hervorgehobene Rolle ein. Ist der Begriff ursprünglich gebunden an den religiösen Bildkult des Christentums, so erfährt er mit der Konjunktur der Bilder im Zeitalter der Massenmedien eine neue Relevanz. Während Walter Benjamin den Siegeszug der Fotografie und des Films begleitet sah durch den ‚Verlust der Aura‘, lässt sich bereits zu Beginn massenmedialer Bildkultur eine paradoxe Wiederentdeckung des Ikonischen beobachten. Im Folgenden möchte ich zeigen, welche technischen, institutionellen und kulturellen Strukturen und Mechanismen der modernen und säkularen Ikonisierung von Bildern sich in der Frühzeit der Massenmedien ausgebildet haben. Dabei soll ein quasi archäologischer Blick darauf geworfen werden, wie mit dem Aufkommen technischer Massenmedien um die Jahrhundertwende neue Bildbegriffe und Abbildpraktiken entstehen, die bis heute die Wurzeln des modernen kultischen Gebrauchs von Bildern darstellen 2.
Medienikonen: Ikonisierung visueller Ikonen in den Massenmedien
Erscheinungsweisen, Funktionen und Verwendungsweisen religiöser Ikonen unterscheiden sich in vieler Hinsicht grundsätzlich von der modernen Bildkultur. Dennoch haben sich in der Geschichte der technischen Massenmedien Formen der Ikonisierung von Bildern entwickelt, in denen einzelne Bilder eine Aura des Mythischen erlangen, die übergeordnete Werte und Sinndeutungsmuster symbolisch verdichten und zugleich als authentischer Bestandteil eines Kollektiverlebnisses wahrgenommen werden.
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Kathrin Fahlenbrach
Diese Bilder werden von den Medien aus der Bilderflut als besonders signifikant ausgewählt und in immer neue medienkulturelle Kontexte gestellt. In der intermedialen Wiederholung verbinden sie sich für das Publikum oft untrennbar mit einem bestimmten Ereignis und werden als zugleich authentisches und sinnfälliges Dokument im visuellen Gedächtnis verankert. Wie Hariman/Lucaitis (2007) in ihrer aktuellen Studie zu Ikonen des Fotojournalismus zeigen, stellen moderne Bildikonen signifikante Fragmente eines Ereignisses dar, weil sie visuelle Spuren eines Geschehens sichtbar machen. Als wichtigste Funktionen ikonischer Bilder betrachten Hariman/Lucaitis:
die Reproduktion von Ideologie, die Kommunikation sozialen Wissens, die Gestaltung kollektiver Erinnerung und das Fungieren als bildhafte Ressourcen in kommunikativen Handlungen (vgl. Hariman/Lucaitis 2007: 9)
Der hier genannte dritte Aspekt der kollektiven Erinnerung scheint mir von besonderer Bedeutung zu sein, wobei sich ein Vergleich mit den Strukturen und Funktionen religiöser Ikonen lohnt (vgl. ausführlich Fahlenbrach/Viehoff 2005). Im kultischen Ikonenverständnis werden Ikonen als authentische Zeugnisse Gottes wahrgenommen: Die religiöse Ikone ist bildgewordene göttliche Präsenz. Damit wird sie als ein heiliger Gegenstand rezipiert. Wie der Kunsthistoriker Hans Belting zeigt, besitzen religiöse Ikonen in diesem Sinne zwei wesentliche Eigenschaften: Sie sind imago, authentisches Abbild eines Heiligen; und sie sind verbunden mit einer historia, einer Bildgeschichte, wie sie in der Heiligen Schrift erzählt wird und sich dem Betrachter in Anschauung des imago vergegenwärtigt (vgl. Belting 2000: 9, 20). Medienikonen können im Unterschied dazu als authentisches imago eines kollektiv erlebten Ereignisses wahrgenommen werden; gleichzeitig liefern die Medien durch Kommentare und Kontextualisierungen die historia, die seine Deutung ermöglicht und übergreifende Orientierung bietet. In der Anschauung der Medienikonen verbindet sich das imago mit der historia als derjenigen Bildergeschichte, die im medialen Diskurs entsteht. Anders als die historia der Ikone, die auf einem kollektiv geteilten kulturellen Fundament in der christlichen Mythologie beruhte, verweist die historia der modernen Medienikone auf die Situation ihrer Entstehung und auf ihren permanenten Gebrauch in den Mediendiskursen, durch den mit immer neuen Konnotationen angereichert wird. Diese historia erläutert nicht nur das historische Geschehen, sondern sie liefert auch ihre weltanschauliche Interpretation.
Ikonen in der Geschichte der technisch-apparativen Massenmedien.
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Anschließend an Aleida und Jan Assmann (1994) kann man den Prozess der Ikonisierung zudem als einen zugleich synchronen und diachronen Prozess betrachten: Indem sie von historischen Akteuren und den Medien ausgewählt, inszeniert und massenhaft verbreitet werden, gelangen sie zunächst, synchron betrachtet, ins kommunikative Gedächtnis einer Gesellschaft. Gleichzeitig werden sie aber, diachron betrachtet, in der Moderne massenmedial im kulturellen Gedächtnis gespeichert. Sie können damit auch nach Phasen des ‚kommunikativen Vergessens‘ und je nach kollektiver Interessen- und Bedürfnislage re-aktualisiert, sowie mit neuen Bedeutungen ‚verbunden‘ werden. Damit wird im diachronen Verlauf der Ikonisierung die oben beschriebene moderne historia erweitert um die pluralen Konnotationen der Rezeption (vgl. Viehoff/Fahlenbrach 2003; Fahlenbrach/Viehoff 2005). 3.
Ikonisierungsprozesse im frühen Zeitalter technischer Massenmedien
Mit der Erfindung der Fotografie tritt dem Moment der Vervielfältigung eines Bildes, wie es bereits die Druckgrafik ermöglichte, das Moment der technischen Bilderzeugung hinzu: Erstmals produziert eine technische Apparatur ein Bild, das sich durch eine hohe Abbildqualität gegenüber dem Dargestellten auszeichnet. Auch wenn diese zu Beginn aufgrund technischer Mängel noch weit hinter den längst ausgereiften realistischen Maltechniken zurücksteht, ist die technische Re-Produktion von Welt ein zunächst vieldiskutiertes Skandalon und ein tiefgreifender Einschnitt, der den epistemologischen Status des Bildes grundlegend verändert. So begeistert sich William Fox Talbott 1844 über die Fotografie als „Pencil of Nature“, deren „gläsernes Auge“ die Realität in all ihren Details wahrheitsgetreu und ohne menschliche Vorbehalte wiedergebe. Auch von leidenschaftlichen Kritikern des neuen Mediums, wie Charles Baudelaire, werden dem fotografischen Bild von Beginn an hohe dokumentarische Qualitäten zugesprochen, die nicht nur für seine Authentizität, sondern auch für seinen ‚Wahrheitsgehalt‘ bürgen (vgl. Baudelaire 1859). Damit wird in der Frühzeit der Fotografie das neu entstehende (i. S. Baudrys) fotografische Dispositiv vor allem geprägt durch den Glauben an die ‚Echtheit‘ und ‚Authentizität‘ ihrer Abbildungen. Auf der Basis dieses Glaubens entstehen neue künstlerische, soziale und politische Abbildpraktiken, die eine veränderte Bildkultur etablieren – eine Bildkultur, in der nun fotografische Bilder als ‚echte Bilder‘ prädestiniert sind, ikonenhaften Status zu erlangen. Der Wandel des Bildes, der durch die Entdeckung der Fotografie im 19. Jahrhundert ausgelöst wird, ist daher gekennzeichnet von einem folgenreichen Paradoxon, das Susan Sontag treffend beschreibt:
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Kathrin Fahlenbrach „Was die Originalität der Fotografie ausmacht, ist, dass sie just in dem Augenblick in der langen, zunehmend profanen Geschichte der Malerei, da der Säkularismus auf der ganzen Linie triumphierte, etwas wie den primitiven Status der Bilder (Hervorhebung von mir, K. F.) – auf eine ganz und gar profane Weise – wiederherstellt.“ (Sontag 1977: 245)
Im Hinblick auf die Produktion und Rezeption ikonischer Bilder kann zu dieser Zeit eine ambivalente Umbruchsituation beobachtet werden. Denn während einerseits eine breite bürgerliche Demokratisierung von Bildproduktion und -rezeption stattfindet und sich eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung um die Jahrhundertwende der Fotografie bemächtigt und damit die Bildkultur aktiv verändert (etwa durch Portraitfotografie und Amateurfotografie, vgl. Freund 1979; Frizot 1998b), bleibt es vorerst den etablierten Eliten vorbehalten, gezielt und strategisch Selbstbildnisse breitenwirksam in Umlauf zu bringen und als Ikonen zu lancieren. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht daneben ein neuer fotografischer Bildtyp, der später in den Ikonisierungsprozessen des 20. Jahrhunderts das bisher dominierende Herrscherbild in seiner Bedeutung verdrängt: die journalistische Fotografie bzw. die Reportagefotografie. Schon die ersten Reportagebilder eignen sich den Gestus einer ‚objektivierenden‘ Fotografie an und speisen hieraus ihren Anspruch auf Authentizität – freilich nicht, ohne sich zunächst der in den Künsten bewährten ‚Beglaubigungs‘-Kodes und Bildformeln zu bedienen. Allerdings sind bis Ende des 19. Jahrhunderts wesentliche Voraussetzung moderner massenmedialer Ikonisierung fotografischer Bilder noch nicht gegeben: Zum einen verfügt damals die Presse nur über sehr begrenzte Möglichkeiten der fotografischen Illustration. Der Transport von Fotos mit der Bahn dauerte mehrere Tage und erst ab den 1890er Jahren ermöglichte die Autotypie-Technik überhaupt den Druck von Fotografien in den Printmedien. Die medientechnischen und institutionellen Voraussetzungen medialer Ikonisierungsprozesse, die auch die Wahrnehmungs- und Rezeptionsbedingungen von Bildern verändern, differenzieren sich erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dann aber in zunehmender Schnelligkeit, aus. Nachdem erste Schritte einer Professionalisierung des Pressewesens und der massenmedialen Bildproduktion durch den ersten Weltkrieg unterbrochen worden waren, gilt dies besonders seit den 1920er Jahren (vgl. Ritchin 1998). Von der Telegrafie, die die minutenschnelle Übermittlung von Bildern über große Entfernungen erlaubt, über die Entwicklung von leichten Handkameras bis zur Versendung von Fotoreportern in die ganze Welt professionalisieren die Medien damals die Produktion und Vermittlung von Bildern. Damit verfestigt sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Dominanz des Bildlichen in öffentlichen Diskursen, Repräsentationen und kollektivem Erleben. Dies schafft neue Voraussetzungen der visuellen Ikonisierung durch die Medien. Un-
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terstützt werden die Printmedien dabei auch von anderen Bildmedien wie Kino und Wochenschauen. So werden statische und bewegte Bilder immer mehr zum Modus der kollektiven und individuellen Wirklichkeitsaneignung. Geschwindigkeit der Bildübertragung, zeitliche Nähe, Aktualität werden zu zentralen Kriterien für die Glaubwürdigkeit von Bildern. Damit etabliert sich der bereits in der Frühzeit der Fotografie neu entstandene epistemologische Status der Bilder: Indem Ereignisse nicht nur zeitgleich visuell dokumentiert, sondern auch in kurzer zeitlicher Distanz einem Massenpublikum gezeigt werden können, steigt ihr ‚objektivierender‘ Wert, sowohl in der aktuellen Wahrnehmung als auch in der Erinnerung. Dabei nehmen die Massenmedien zunehmend eine konstitutive Rolle in der Selektion und öffentlichen Bewertung von Ereignissen ein: „Das Ereignis gewinnt in seiner technischen Reproduktion eine historische Bedeutsamkeit“, so der Kunsthistoriker Hubertus von Amelunxen (1998: 133). All diese Veränderungen schaffen neue Bedingungen der medialen Ikonisierung, sowohl im Hinblick auf die Produktion, als auch auf ihre synchrone und diachrone Vermittlung und Rezeption. Dies kann an einem signifikanten Beispiel aus dieser Zeit veranschaulicht werden: dem Foto des 1937 verunglückten Luftschiff „Hindenburg“. Im Mai 1937 bricht das bis dato größte Passagierluftschiff von Deutschland aus auf zu einem Transatlantikflug in die USA. Hunderte von Journalisten, Kameraleuten und Fotografen warten in Lakehurst auf seine Ankunft. Vor den laufenden Kameras explodiert das Schiff dann kurz vor seiner Landung. Schon am nächsten Tag werden zahlreiche Bilder und Filmaufnahmen des Unglücks in Zeitungen und Wochenschauen dem Publikum in der ganzen westlichen Welt gezeigt und lösen einen kollektiven Schockzustand aus. Zum ersten Mal findet eine Katastrophe vor laufenden Kameras statt, werden Fotografen und Kameraleute unmittelbare Augenzeugen eines Unglücks, das die ganze westliche Öffentlichkeit berührt. Dabei ist es nicht der erste und auch nicht der schlimmste Unfall in der Geschichte der Luftschifffahrt: 1930 war bereits ein britisches Luftschiff explodiert und hatte wesentlich mehr Opfer gefordert. Diese Nachricht gelangte damals zwar auch auf die Titelseiten der Tageszeitungen; die Wirkung im öffentlichen Bewusstsein aber war ungleich schwächer. Schließlich gab es damals keine Bilder der Katastrophe. Erst die fast zeitgleiche visuelle Dokumentation eines Unglücks in bewegten und statischen Bildern synchronisiert die kollektive Wahrnehmung sowie die damit verbundenen Emotionen und verankert das Ereignis nachhaltig im Bewusstsein der Menschen.
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Abbildung 1:
Kathrin Fahlenbrach
Explodierendes Luftschiff „Hindenburg“ (Fotograf: Sam Shere, 6.5.1937)
In der Menge der Hindenburg-Bilder gibt es eins, das in kürzester Zeit durch die selektiven Mechanismen der Medien zum Sinnbild des gesamten Geschehens wird: das Bild des Fotografen Sam Shere (Abb. 1). In seiner Komposition weist das Foto symbolisch über die Katastrophe hinaus und visualisiert latente Fortschritts-Ängste, die dem Publikum damals als imaginäre dystopische Visionen etwa aus Literatur, Film und Comics bereits vertraut sind – mit dem Unterschied, dass es sich um ein authentisches Dokument handelt, das im Sinne des obigen Ikonenbegriffes das imago des Ereignisses ist. Das Foto wird von der gerade gegründeten Bildagentur Associated Press Service als Cover-Bild an diverse Tageszeitungen sowie an das prominente LifeMagazine verkauft. Nach der Life-Reportage wählen es auch andere Bildredaktionen immer wieder als das signifikanteste und evidenteste visuelle Dokument aus der Bildermenge aus und platzieren es entsprechend prominent. Hier werden die neu etablierten institutionellen Mechanismen der Bildauswahl offenbar, die innerhalb des mittlerweile professionalisierten Mediensystems entstanden sind. Für die ikonische Wirkung des Bildes ist außerdem das intermediale Zusammenwirken mit den bewegten Bildern der verschiedenen Wochenschauaufnahmen und vor allem mit dem ebenfalls legendären Radiobericht des NBCModerators Herbert Morrison entscheidend. Der Radiobericht bildet gewisser-
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maßen den akustischen Subtext zu dem Bild von Shere, der mindestens von den Zeitgenossen, aber auch später von vielen Betrachtern, mit assoziiert wird. Damit ist die frühe Ikonisierungsgeschichte des Bildes bereits gekennzeichnet durch das intermediale Zusammenspiel von Fotografie, Printmedien, Wochenschauen und Radio. Intermedialität ist daher schon in der frühen Geschichte der Massenmedien konstitutiver Bestandteil von Ikonisierungsprozessen. Der synchronen Ikonisierung des Bildes folgt eine bis heute anhaltende diachrone Ikonisierung: Das Bild wird in Filmen, im Fernsehen, in Karikaturen und in satirischen Collagen zitiert, verwandelt und in immer neue Kontexte gestellt. Während sich die Konnotationen des Bildes dabei stetig ändern, wobei auch der Ikonisierungsprozess selbst zum Thema wird, bleibt es denotativ ein dystopisches Sinnbild für die Risiken des technologischen Fortschritts und den damit verbundenen Ängsten. Im intermedialen Zusammenspiel wird so die mediale und diskursive historia des Bildes immer weiter fortgeschrieben. 4.
Star-Ikonen des Kinos
Neben der journalistischen Foto-Ikone entsteht durch das Kino ein weiterer ikonischer Bildtypus: Die visuelle Ikonisierung von Stars. Vor allem Hollywood hat mit seinem Starkult die Ikonisierungsprozesse im 20. Jahrhundert entscheidend beeinflusst. In den USA etabliert sich bereits seit den 1910er Jahren eine schnell expandierende Filmindustrie, die immer professioneller das kollektiv entdeckte Bedürfnis nach Stars befriedigt. Bewegte und statische Bilder von Stars wie Valentino oder Marlene Dietrich sind von Anfang an dazu prädestiniert, ikonenhaften Status zu erlangen. Spätestens seit Hollywood das Starsystem in den 1930er/-40er Jahren etabliert, werden einzelne Schauspieler nicht nur zu Markenzeichen eines Studios, sondern auch zu Trägern kollektiver Sehnsüchte, Identitäten und Werte. Durch ausgefeilte Inszenierungsstrategien produzieren die Studios öffentliche Star-Images einzelner Schauspieler – die sie nicht nur in den Filmen, sondern intermedial verbreiten: durch Fotoportraits auf Autogrammkarten sowie durch Bildberichte in Kinozeitschriften, Zeitungen und Magazinen über das vermeintlich ‚authentische‘ und dennoch für die Öffentlichkeit inszenierte Leben der Schauspieler. Auch wenn es dabei gelingt, viele Stars synchron im kommunikativen Gedächtnis des Publikums zu verankern, gibt es nur einzelne, deren Bilder und Images auch diachron immer wieder erinnert werden. Zu den in diesem Sinne ‚unsterblichen‘ Stars gehört Marilyn Monroe, die zugleich Paradebeispiel ist für die medialen Mechanismen der Image-Inszenierung in Hollywood und ihre Folgen.
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Kathrin Fahlenbrach
Im kulturellen Gedächtnis wird sie meist mit einem bestimmten Bild erinnert: es stammt aus dem Film „The Seven Year Itch“ (Billy Wilder, 1955) und zeigt sie in weißem, hoch wehendem Kleid auf einem U-Bahn-Luftschacht (Abb. 2). Abbildung 2:
Pressefoto zum Film „The Seven Year Itch“ (Fotograf: Matty Zimmerman, 1954, New York)
Um den Film öffentlichkeitswirksam zu vermarkten, baten die Filmproduzenten Monroe, jene erotisch besonders ‚delikate‘ Szene nachzustellen, die sie mit wehendem Kleid auf einem U-Bahnschacht zeigt. Umringt von einer Masse von etwa 1500 Fans und Fotografen posiert Monroe auf der Lexington-Avenue in New York. Der Pressetermin wird zu einem legendären Medienereignis und die dabei entstandene Foto-Ikone stellt einen, wie Peter Stepan sagt, neuen Typus in der Pressefotografie dar: den Typus nämlich einer inszenierenden Pressefotografie, in der Darstellerin, Fotografen und Publikum gleichermaßen der Verführung durch Kamera und Eros unterliegen (zitiert in Bronfen 2008: 117). Vergleicht man die Filmsequenz mit dem memorierten Foto, stellt man fest, dass sie visuell völlig anders komponiert ist: der filmische Blick auf Monroe ist
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im Film fragmentiert in zwei Ansichten: wir sehen erst ihr Gesicht und Oberkörper, dann ihre Beine, umweht vom auffliegenden Rock. Obwohl die Filmeinstellungen eine größere Nähe zu dem Star herstellen, hat sich in der medialen und kollektiven Erinnerung die Totalansicht ihrer Pose festgesetzt, wie sie auf dem Foto zu sehen ist. Entscheidend hierfür ist v. a. die offensivere erotische Inszenierung der Szene, in der Monroe durch ihre Körpersprache direkt die Zuschauer anspricht. Zudem weht ihr das Kleid im Film aus Rücksicht auf die damalige Filmzensur nur bis zu den Knien, während das Foto den Blick auf ihre Unterhose freilegt. Im Foto von Zimmerman verdichten sich also Körperpose und Mimik Monroes zu einer authentisch wirkenden, gleichwohl inszenierten Bildformel des Erotischen, die über den gezeigten filmischen Moment hinaus verallgemeinerbar ist. Genau dies ist, ästhetisch betrachtet, Voraussetzung für den Ikonenstatus des Bildes. Denn somit wird es reproduzierbar und re-kontextualisierbar als immer neu verwendbare Projektionsfläche und bildliche Ressource für kollektive sowie individuelle Sehnsüchte und Phantasien. Ausdruck hierfür ist die bis heute anhaltende diachrone Kanonisierungsgeschichte des Fotos, nicht nur in den Medien, sondern auch und gerade in der Alltags- und Populärkultur. Das Bild wirft schließlich eine allgemeine wirkungsästhetische Frage auf, die sich erstmals mit dem Film stellt, nämlich: Können auch bewegte Bilder und Sequenzen Ikonenstatus erlangen oder ist dies statischen Bildern vorbehalten? Diese Frage stellt sich verstärkt mit dem Aufkommen des Fernsehens und auch später des Internets, weshalb ich hierauf weiter unten zurückkommen werde. 5.
Medienikonen im Zeitalter des Fernsehens
Mit dem Aufkommen des Fernsehens in den 1960er Jahren und später dem Internet ab den 1990ern weiten sich die Möglichkeiten der Ikonisierung rapide aus. Das Live-Prinzip des Fernsehens stellt von Anfang an neue Qualitäten massenmedialer Kommunikation her: Erste Live-Erfahrungen waren bekanntermaßen die Krönung von Elisabeth II. oder das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft von 1954 zwischen Deutschland und Ungarn. Die globale Gleichzeitigkeit medialen Dabei-Seins wird zum neuen Modus öffentlicher Wahrnehmung. Ereignisse in aller Welt können nun zeitgleich an unterschiedlichen Orten kollektiv vor den Bildschirmen erlebt werden. Zudem wird das Fernsehen als Informations- und Unterhaltungsmedium rituell fest in den Alltag der Bundesbürger integriert. Die öffentliche Omnipräsenz von Bildern wird dadurch weiter erhöht, v. a. bei einschneidenden Ereignissen. Auswahl und Inszenierung eines Bildes als einzigartige und repräsentative Ikone, die auf Seiten der Bildproduzenten und -vermittler
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Kathrin Fahlenbrach
auch mit einem verschärften Kampf um die Deutungsmacht eines Ereignisses einhergeht, wird dadurch ebenso erschwert wie die Selektionsprozesse auf Seiten der Rezipienten: Denn wo gleichzeitig viele verschiedene Bilder als Ikonen angeboten und z. T. strategisch lanciert werden, zerstreut sich die Aufmerksamkeit und diversifizieren sich die Zuschreibungen. Das macht die Ikonisierung einzelner Bilder immer schwieriger. Dies gilt umso mehr als gerade durch das Fernsehen bewegte Bilder die öffentliche Wahrnehmung von Ereignissen prägen. Dabei wird evident, dass die ikonische Verdichtung eines Ereignisses in audiovisuellen Sequenzen ungleich schwieriger ist. Während nämlich Standbilder statische Zustandsbeschreibungen bzw. Momente darstellen, die zur idealtypischen Anschauung im Anschluss an tradierte Ikonografien symbolisch überhöht werden können, beschreiben Bewegtbilder und Ton immer in der Zeit fortlaufende Prozesse, die wesentlich schwieriger zu symbolischen Aussagen abstrahiert und als solche memoriert werden können. Mit den Worten Hickethiers: „Diese Bilder entstehen und vergehen innerhalb einer zeitlichen Phase, sie verändern sich ständig, wandeln sich von Einzelbild zu Einzelbild. Das Bild (...) als überdauerndes, unveränderliches Manifestum, schreibt sich als Filmbild und als Fernsehbild die Zeit als Faktor selbst in die Struktur ein: das Einzelbild (still) als Zwischenzustand, findet seine Form erst in der Bewegung.“ (Hickethier 2003: 95) Dies belegt ein prominentes Beispiel aus der Frühzeit des Fernsehens. Mit der Übertragung der Mondladung wurde 1969 ein historisches Ereignis als Medien-Ereignis inszeniert, dessen Höhepunkt sich in Bewegtbild und Ton in das kollektive Gedächtnis der Zeitgenossen eingebrannt haben dürfte: Die ersten Schritte von Neil Armstrong auf die Mondoberfläche ebenso wie sein gleichzeitig gesprochener Satz: „That’s one small step for [a] man, one giant leap for mankind!“ Die Sequenz wurde daneben in mehreren Standfotos statisch festgehalten und es ist bezeichnend für die visuelle Ikonisierung eines durch das Fernsehen dokumentierten Ereignisses, dass es mehrere Standbilder gab, die in den Kreislauf medialer Kanonisierung eingespeist wurden.
Ikonen in der Geschichte der technisch-apparativen Massenmedien.
Abbildung 3:
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Mission „Apollo 11“ (Fotograf: Neil A. Armstrong, 21.7.1969)
Ein Bild wird besonders häufig reproduziert, zitiert und re-kontextualisiert, nämlich das Foto von Edwin Aldrin, der im Astronautenanzug vor der amerikanischen Flagge salutiert: es hält den Moment der ‚Landnahme‘ des Mondes durch die Amerikaner symbolisch fest, unter Verwendung des ikonografisch tradierten Motivs des Flagge-Hissens (Abb. 3). Der in dieser vertrauten Bildformel festgehaltene Moment kann statisch zu einem ideologisch aufgeladenen ‚Zustand‘ überhöht werden: Von nun an ist der Mond menschliches – bzw. in der Ideologie der Amerikaner: amerikanisches – Terrain. Vor allem dieses Bild ist damit nicht nur Ausdruck damaliger Fortschrittsideologien sondern vor allem auch politischer Ideologien im Kalten Krieg. Die Bilder der Mondlandung, von der NASA produziert und von der amerikanischen Regierung gezielt in der Weltöffentlichkeit lanciert, rufen daher sehr bald schon Zweifel und Kritik an der ideologischen Kriegsführung der USA hervor. Bereits kurz nach der Mondlandung verbreitet sich in der Öffentlichkeit das Gerücht, dass die Mondlandung gestellt und die Weltöffentlichkeit einem grandiosen ideologischen Propagandabetrug unterlegen sei. Die Bedeutung des Bildes löst sich in der medien- und popkulturellen historia also immer mehr von der strategisch lancierten, politisch-ideologischen historia der Bildproduzenten. Damit wird deutlich, dass solche strategischen BildBotschaften gerade im multimedialen Zeitalter nicht mehr in der Form durchgesetzt werden können, wie das in vormodernen Gesellschaften möglich war und in Gesellschaften, die kein plurales und mit stabilen Freiheitsrechten abgesichertes öffentliches Kommunikationssystem haben. In modernen Mediengesellschaften
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Kathrin Fahlenbrach
ist die Reflexivität der Kommunikation soweit entwickelt, dass ‚eindeutige‘ Zuschreibungen eben nicht mehr möglich sind. 6.
Medienikonen im digitalen Zeitalter
Die Reflexivität der Medien erhöht sich einmal mehr mit dem Aufkommen des Internet als kollektiv genutztem Medium der Bildarchivierung, -produktion und -verbreitung. Dies hat ein weiteres Mal nachhaltige Konsequenzen für die Ikonisierung von Bildern. Einerseits wird bisher fast unzugängliches Archiv-Material aus Fernsehen, Printmedien und Werbung, über dessen Archivierung die Produzenten bisher sorgsam wachten, nun jederzeit massenhaft abrufbar. Bereits vergessene Bilder und auch Sequenzen können wieder im kollektiven Gedächtnis in Erinnerung gerufen und von jedem einzelnen kommentiert, bewertet und re-kontextualisiert werden. Dies betrifft auch Bilder, die von den Usern selbst produziert worden sind. So ist es zum anderen nicht länger das Privileg einzelner Eliten in den Massenmedien, Bilder zu veröffentlichen. Von Amateuren produzierte, private Bilder finden nun den Weg in die Öffentlichkeit. Dabei können Bilder bereits durch massenhaftes Abrufen der Nutzer einen Ereignischarakter erhalten, der die Aufmerksamkeit der etablierten Medien auf sich zieht. Für Ikonisierungsprozesse ist dabei wichtig, dass diese Bilder gerade aufgrund ihrer Unprofessionalität und Spontaneität als besonders ‚echt‘ und glaubwürdig wahrgenommen werden. Zum Abschluss soll eines der prominentesten Bilder erwähnt werden, dessen Erfolg und Wirkung untrennbar an die Voraussetzungen des Internets gebunden ist und das aufgrund seiner bisherigen Kanonisierungsgeschichte prädestiniert ist, synchron und diachron als Medienikone im kollektiven Gedächtnis erinnert zu werden: das Folterbild eines irakischen Gefangenen im US-Gefängnis Abu-Ghuraib (Abb. 4). Das Foto gehörte zu jenen Bildern, die von US-Soldaten an der Front selbst geschossen und teilweise als Siegestrophäen nach Hause geschickt und ins Internet gestellt wurden. Dort aber wurden sie als authentische Dokumente für die Brutalität des US-Einsatzes im Irak wahrgenommen und damit zu wirksamen Gegenbildern der von der US-Regierung selbst lancierten Triumphbilder, wie jene vom Sturz der Statue des irakischen Präsidenten Saddam Hussein oder von George Bush in Fliegermontur auf dem Flugzeugträger Lincoln. Während diese in der Öffentlichkeit rasch als propagandistische Inszenierungen enttarnt werden, ist die Glaubwürdigkeit der privaten Soldatenbilder umso höher und ihre Wirkung umso schockierender.
Ikonen in der Geschichte der technisch-apparativen Massenmedien.
Abbildung 4:
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„Die Folterer von Bagdad“ (Spiegel, H. 19, 2004)
Das Bild des Folteropfers in Abu Ghuraib wird von den Internetnutzern und rasch auch von der globalen Medienöffentlichkeit als authentisches Sinn-Bild aufgenommen, das übergreifende Symbolkraft hat. Dies liegt vor allem an der Körperhaltung des Mannes: Das Bild zeigt ihn in klassischer Opferpose, die Arme von sich gestreckt, mit Drähten für Elektroschocks verkabelt. Die starke Wirkung des Bildes ist nicht nur der fotografischen Abbildung der gezeigten Foltersituation geschuldet, sondern wird noch dadurch erhöht, dass es vertraute ikonografische Kodes der Leidensdarstellung in der Kunst und Malerei aufweist. Der Bildwissenschaftler James W. Mitchell (2004) etwa sieht eine direkte ikonografische Verwandtschaft zwischen dem Foto aus Abu Ghraib und tradierten Motiven der Demütigung und der Kreuzigung Christi. Damit besitzt es eine symbolische Gestalt, die über das Geschehen in Abu Ghraib hinausweist und das Foto für viele zu einem Sinnbild macht für die moralische Illegitimität amerikanischen Weltmachtstrebens. Der bereits synchron erlangte ikonische Status des Bildes wird auch hier manifest in zahlreichen Reproduktionen in den Medien, in der Kunst und der politischen Protestkommunikation. Wie Gerhard Paul in seiner Analyse des Folter-Bildes treffend bemerkt: „Die mit der Fotografie verbundenen Assoziationen waren nicht mehr zu stoppen (…). Innerhalb weniger Monate
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Kathrin Fahlenbrach
war aus einem als Foltermedium entstandenen Foto ein publizistisches Symbol des Schreckens, eine globale Protest- und Widerstandsikone und schließlich eine sich verselbstständigende Medienikone geworden.“ (Paul 2008a: 702-703) 7.
Fazit
Trotz der seit 1900 in immer kürzeren Abständen stattfindenden Differenzierung technischer Massenmedien lassen sich, wie auch das letzte Beispiel zeigt, gewisse Kontinuitäten in der Wirkungsästhetik und der Funktion ikonischer Bilder beobachten. Zum einen werden sie gerade dann als besonders authentisch und ‚echt‘ und damit als imago eines Geschehens oder einer abgebildeten Person wahrgenommen, wenn sie vertraute visuelle Beglaubigungskodes aufweisen, die in einer Bildkultur bereits etabliert sind. Das ‚Echte‘ ist damit immer Resultat des ‚Richtigen‘. In dieser Hinsicht stehen die meisten modernen Bildikonen in einer gewissen strukturellen Kontinuität mit den kultischen Ikonen traditionaler Gesellschaften. Zudem, und auch das kann als eine Fortsetzung dieser Tradition betrachtet werden, wird das ‚Besondere‘ und die ‚Aura‘ dieser Bilder gerade in ihrer seriellen Wiederholung und ihren immer neuen Reproduktionen und ReInszenierungen manifest. Dies gilt vor allem im Zeitalter massenhafter Bildproduktion und -verbreitung durch technische Medien, wo die Aufmerksamkeit zerstreut wird, aber gleichzeitig ein Bedürfnis nach ‚bleibenden‘ Bildern besteht, die kollektive Werte, Ideologeme, Wissen aber auch kollektive Emotionen bildhaft bündeln und anhaltend ‚bewahren‘. Und auch diese Funktionen können als konstante Merkmale von Medien-Ikonen betrachtet werden. Dennoch haben sich im Laufe der Mediengeschichte die Voraussetzungen der Ikonisierung stetig verändert: mit jedem neuen Medium entstehen neue Bildtypen und differenzieren sich die Zuschreibungsverhältnisse. Wie gezeigt, wird nicht nur die strategische Lenkung von Ikonen immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich; auch lassen sich die ideellen, politischen, kulturellen oder emotionalen Bedeutungszuschreibungen von Bildern kaum noch vorhersehen. Mit der Pluralisierung der Bild-Narrative steigt gleichzeitig die Relevanz von Bildern in politischen, ideologischen und kulturellen Deutungskämpfen. Die Funktion ikonischer Bilder, Weltsichten und Wirklichkeitsbegriffe symbolisch zu überhöhen, wird proportional zur Differenzierung medialer Wirklichkeiten immer relevanter und zugleich umkämpfter. Dies ist aber nur auf den ersten Blick paradox – denn, wie Susan Sontag zu Recht feststellt: „Die Bevorzugung des Bildes ist vielmehr zu einem guten Teil als Reaktion zu verstehen auf die zunehmende Komplizierung und Aushöhlung der Wirklichkeitsbegriffe (…)“ (Sontag 1977/1999: 248). Denn gerade statische Bilder und besonders Medien-Ikonen, die die Komplexität
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von Wirklichkeit visuell reduzieren, ermöglichen Individuen und sozialen Gemeinschaften kognitive und kulturelle Orientierung. Gleichzeitig sind sie in ihrer semantischen Offenheit anschließbar sowohl für generalisierende Weltdeutungen sowie für subjektive Erinnerungen und Assoziationen. Das macht bis heute ihre Macht im kollektiven und im individuellen Gedächtnis aus. Literatur Assmann, Aleida; Assmann, Jan (1994): Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Merten/Schmidt/Weischenberg (1994): 114-141 Baudelaire, Charles (1859). Die Fotografie und das moderne Publikum. In: Helmes/Köster (2002): 109-114 Belting, Hans (2000): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 5. Auflage. München: Beck Benjamin, Walter (1977): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Beuthner, Michael/Buttler, Joachim/Fröhlich, Sandra/Neverla, Irene/Weichert, Stephan A. (Hrsg.) (2003): Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September. Köln: Herbert von Halem Bronfen, Elisabeth (2008). Marilyn. Diva und Sexikone der 50er Jahre. In: Paul (2008b): 114-122 Fahlenbrach, Kathrin/Viehoff, Reinhold (2005): Medienikonen des Krieges. Die symbolische Entthronung Saddams als Versuch strategischer Ikonisierung. In: Knieper/Müller (2005): 356-388 Freund, Gisèle (1979): Photographie und Gesellschaft. München: Rogner&Bernhard Frizot, Michel (Hg.) (1998a): Neue Geschichte der Fotografie. Köln: Könemann Frizot, Michel (1998b): Riten und Bräuche. Fotografien als Erinnerungsstücke. In: Frizot (1998a): 746-755 Hariman, Robert/Lucaites, John Louis (2007): No Caption needed. Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy. Chicago: University of Chicago Press Helmes, Günter/Köster, Werner (Hrsg.) (2002): Texte zur Medientheorie. Stuttgart: Reclam Hickethier, Knut (2003): Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler Kemp, Wolfgang (Hg.) (1980): Theorie der Fotografie I: 1839-1912. München: Schirmer & Mosel Kemp, Wolfgang (Hg.) (1999): Theorie der Fotografie III. 1945-1980. Neudruck. München: Schirmer & Mosel Knieper, Thomas/Müller, Marion (Hrsg.) (2005): War Visions. Bildkommunikation und Krieg. Köln: Herbert von Halem Merten, Klaus/Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (Hrsg.) (1994): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag
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Kathrin Fahlenbrach
Mitchell, William J.T.: Echoes of a Christian Symbol. Photo reverberates with Raw of Christ on Cross. In: Chicago Tribune. 10.5.2004 Paul, Gerhard (2008a): Der „Kapuzenmann“. Eine globale Ikone des beginnenden 21. Jahrhunderts. In: Paul (2008b): 702-710 Paul, Gerhard (Hg.) (2008b): Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht Ritchin, Fred (1998): Zeitzeugen. Das Engagement des Fotojournalisten. In: Frizot (1998a): 590-612 Sontag, Susan (1977): Die Bilderwelt. In: Kemp (1999): 243-250 Talbott, Henri Fox (1844): Der Stift der Natur. In: Kemp (1980): 6 Viehoff, Reinhold/Fahlenbrach, Kathrin (2003). Ikonen der Medienkultur. Über die (verschwindende) Differenz von Authentizität und Inszenierung der Bilder in der Geschichte. In: Beuthner et al. (2003): 42-60 von Amelunxen, Hubertus (1998): Das Memorial des Jahrhunderts. Fotografie und Ereignis. In: Frizot (1998a): 131-147
Abbildungen Abb. 1: Explodierendes Luftschiff „Hindenburg“ (Fotograf: Sam Shere, 6.5.1937), Quelle: (Stand: 03.04.2009) Abb. 2: Pressefoto zum Film „The Seven Year Itch“ (Fotograf: Matty Zimmerman, 1954, New York), Quelle: (Stand: 03.04. 2009) Abb. 3. Mission „Apollo 11“ (Fotograf: Neil A. Armstrong, 21.7.1969), Quelle: (Stand: 03.04.2009) Abb. 4: „Die Folterer von Bagdad“ (Spiegel, H. 19, 2004), Quelle: (Stand: 03.04.2009)
Stay1 – Neue Perspektiven im Schnitt- und Filmraum Manja Rothe-Balogh „Die Kultur des bewegten Bildes wird neu definiert. Der Filmrealismus steht nicht mehr im Zentrum, sondern wird zu einer Option unter anderen.“ (Manovich: 10)
Große Filmproduktionen werden heute weltweit zunehmend mit digitaler Technik realisiert. Neben der neu entwickelten digitalen Kameratechnik, die oft mit Festplatten oder Speicherkarten bewegte Bilder aufzeichnet und mittlerweile von jedem Technikverleih angeboten und von den meisten Herstellern immer weiter für die professionelle Filmproduktion optimiert wird, wurden die Schnitträume schon seit den 1980ern auf digitale Filmbearbeitungen vorbereitet und entsprechend aufgerüstet. Längst findet man Schneidetechnik wie den Steenbeck, den klassischen Schneidetisch, immer seltener. Ein üblicher Schnittraum von heute ist ausgestattet mit einem digitalen Schnittsystem wie Avid, Final Cut, Premiere etc. Diese Programme bieten von der Filmmontage über Tonbearbeitung, FX-Bearbeitung und Farbkorrektur bis hin zur Ausspielung auf unterschiedliche Medien alles an einem Arbeitsplatz, was vormals von einzelnen Gewerken der Filmpostproduktion übernommen wurde. Betritt man den ‚neuen‘ Schnittplatz, findet man mindestens zwei Monitore, einen Rechner mit Fire-Wire-Schnittstelle sowie Maus und Tastatur. Über die Schnittstelle können dann digital die Kamerabilder in das Schnittprogramm importiert, transcodiert oder eindigitalisiert werden. Die Cutter haben sich umstellen müssen, sitzen nicht mehr vor kilometerlangen Filmstreifen, sondern blicken auf digitale Clips, die sie arrangieren. Der Schnitt wird zuerst bei der Fernsehtechnik und seit den 1990ern auch bei der Kinofilmproduktion offline und nicht-linear am Rechner hergestellt. Dabei wird in der Timeline der Schnittprogramme mit mehreren Spuren gearbeitet. Effekte wie Picture in Picture, Splitscreen, also Bilder parallel neben- oder übereinander, sowie Zeitraffer, Slowmotion, Vor- oder Rücksprung, die zwar schon im klassischen Filmschnitt möglich waren, sind nicht mehr aufwendig im Kopierwerk, sondern mit einfachen Mausklicks im Schnittprogramm realisierbar. 1
Stay (2005; R: Marc Forster; USA)
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Die digitale Technik der neuen Schnitträume ermöglicht heute einen anderen Umgang mit dem filmischen Ausgangsmaterial. In den Schnittprogrammen können mehrere Varianten einer Sequenz parallel geschnitten und gespeichert werden. Die Schnittprogramme stellen dabei virtuelle Verknüpfungen zum Ausgangsmaterial her, ohne dass dies dabei (wie früher am Schneidetisch) physisch verändert werden muss. Damit liegt die Vermutung nahe, dass sich dieser nun etablierte non-lineare Arbeitsprozess auch in der Montage widerspiegeln könnte. Warum nicht ein Nebeneinander verschiedener Sequenzen der Erzählstränge, statt des klassischen Nacheinanders des Erzählkinos? Es scheint, als sei der Ablauf mancher aktueller Kinofilme2 ein ‚Springen‘ mit der Timelinemarkierung des Schnittprogramms von einer Sequenz zu einer anderen, die nach dem ‚Sprung‘ jeweils linear abgespielt werden. Vielleicht kann man eine gewisse Korrelation zwischen digitalen Arbeitsabläufen in der Montage und Erzählstrategien aktueller Kinofilme festmachen. (vgl. Weingarten: 226-231) Die Montage, das Handwerkszeug, mit dem Filmräume sequenziell konstruiert und der Film organisiert wird, hat neue digitale Offerten. Gleichzeitig ist im Spielfilm (meist) das mit der Kamera aufgenommene Bildmaterial die Grundlage, um überhaupt montieren zu können. Mit der Kamera werden filmische Räume je Einstellung durch Bildaufbau, Mise en scène, Architektur, Bühne, Ausstattung, Beleuchtung, Kadrierung, Kameraperspektive und -bewegung visualisiert. Auch hier wird heute anders gearbeitet, denn zunehmend entstehen ‚Kamerabilder‘ nicht mehr in der Produktionsphase, sondern erst in der Postproduktion der Filmherstellung, also in den Schnitträumen. Und wie verändert die Digitaltechnik der neuen Schnitträume den filmischen Raum? Wie grundlegend verändert das digitale Handwerkszeug die tradierten Prinzipien von Montage, Filmsprache und filmischer Auflösung? Um das zu klären, werden wir uns das ‚alte Filmhandwerk‘ noch einmal kurz kulturhistorisch vor Augen führen, um dann komparativ die heutigen digitalen Möglichkeiten der Filmemacher3 zu betrachten, und schließlich mit dem Film Stay4 von Marc Foster explorativ auf ein aktuelles Beispiel des Erzählkinos zu blicken. Dabei kann mit Stay sehr gut verdeutlicht werden, wie die digitale Arbeitsweise von Filmemachern – also sowohl bei der Kameraarbeit, als auch bei der Montage 2 3
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Beispielsweise können hier Kinofilme wie Timecode (2000; R: Mike Figgis; USA); Memento (2000; R: Christopher Nolan; USA), Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004; R: Michael Gondrey; USA) genannt werden. In diesem Rahmen sind damit die rein handwerklich an der Bild- und Filmproduktion beteiligten Gewerke wie Kamera- und Montage-Gewerk gefasst. Mit dem Terminus Filmemacher werden hier nicht alle an der Filmproduktion beteiligten Gewerke wie Regie, Produktion, Ton, Ausstattung, Beleuchter usw. berücksichtigt, sondern er bezieht sich ausschließlich auf die rein handwerkliche Herstellung von Bild und Film. Stay (2005; R: Marc Forster; USA)
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– in der filmischen Raumkonstruktion des aktuellen Erzählkinos zu Buche schlägt. Die Entwicklung des filmischen Handwerkszeugs Die ersten Filme waren eher Attraktion und als Bewegtbild sich selbst genug, vergleichbar mit den Ikonen in der Malerei. Man bestaunte die bewegten Bilder, hatte aber noch nicht ihre narrative Funktion im Blick. Bei den ersten Filmvorführungen spricht man heute von einem „Kino des Zeigens“ oder „Kino der Attraktionen“ (Elsaesser: 74). Bis 1907 bestanden die Filme meist nur aus einer Einstellung. Dabei war der Bildkader meist durch Totalen bestimmt. Die Kamera hatte einen festen Standpunkt zum Geschehen und die agierenden Darsteller waren in ihrer vollen Größe zu sehen. Man bildete ab, was man vorfand, meist ohne filmische Auflösung durch Lichtsetzung oder Schnitt. Daher kann diese filmische Form der Tableau-Einstellung, die quasi den Blick auf die Szenerie einer Theaterbühne simuliert, eher als theatralisch denn als filmisch bezeichnet werden (vgl. Usai: 17). Zudem wird wie im Nicht-Bewegtbild (also in Malerei und Fotografie) ein Bildraum aus einem festen Betrachterstandpunkt generiert. Die Filmemacher konnten hier mit dem Handwerkszeug der gemalten oder fotografierten Bilder noch Bildräume nachvollziehbar aufbauen. Als konventionelle Vorlagen können die perspektivischen Bildräume des Tafelbilds gesehen werden, die ebenfalls bereits Jahrhunderte zuvor für das Bilderverstehen arrangiert wurden: Zeitliche Abläufe der im Bild repräsentierten Geschichte waren durch die Positionierung bestimmter Bildelemente im Bildvorder-, -mittel- oder -hintergrund dargestellt worden. Die Narration ist hier anders als im Film „verräumlicht statt verzeitlicht“ (Weingarten: 226). Ebenso lenkten Blickachsen der Bildprotagonisten den Blick der Betrachter und organisierten so Handlungsachsen der verbildlichten Erzählung. Würde man heute die einzelnen Bildelemente eines Tafelbildes aus dem 15. oder 16. Jahrhundert als Einzelbilder extrahieren und in eine Sequenz montieren, hätte man ein Storyboard als Vorlage für eine filmische Auflösung. Also wurde bereits in der Malerei das Prinzip der Bildsequenzen angelegt, sowohl im Bild durch Blickpunkte und Blickbeziehungen, als auch durch Bildabfolgen, die der Betrachter im Raum ‚ablaufen‘ musste, z. B. bei Bildteppichen oder Wandmalereien in Sakralräumen, deren Bildinhalte sequenziell verstanden werden konnten. Was erst mit dem Filmischen konstruiert werden konnte, ist die Bewegung als zeitliche Abfolge. In dem Maße, wie sich die Filmemacher der narrativen Möglichkeiten des Films bewusst wurden, entwickelten sich Konventionen zur Konstruktion von filmischen Erzählungen. Anfangs behalf man sich mit so genannten Erklärern,
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Moderatoren, die im Kino dem Publikum die Geschichten verstehbar machten. Wollte man allerdings Erzählkino anbieten, musste man eigene Werkzeuge entwickeln, um die Narration nachvollziehbar zu gestalten. D.h. es wurden Instrumente nötig, die dem Zuschauer Orientierung ermöglichten. In den folgenden Jahren wurden die bewegten Bilder zunehmend mittels Lichtgebung, Bildkomposition und Schnitt strukturiert und organisiert, um dem Zuschauer die Geschichte zu vermitteln. (vgl. Usai: 31) Das Attraktionskino wurde zum Erzählkino, dessen filmische Elemente und Erzählstrategien immer weiter ausdifferenzierten. Das Continuity-Editing-System und unsere Sehkonventionen Im Zuge der technischen Entwicklung wurden auch die Bedingungen für eine filmische Auflösung der Tableau-Einstellungen des frühen Kinos begünstigt. Zwar wurden jene Einstellungen ebenfalls als Bilderreihe aneinander montiert, dabei behielten sie aber stets die Betrachterperspektive des Zuschauers vor der Leinwand bei. Gleichzeitig begannen Filmemacher wie David W. Griffith mit der Auflösung szenischer Räume zu experimentieren. Er nutzte die kameratechnischen Möglichkeiten und variierte Kamerapositionen und Kadrierungen. Dadurch veränderte sich das Filmsehen der Zuschauer grundlegend. Sie nahmen nun nicht mehr eine quasi feste Blickposition ein, sondern sahen sich durch Kadrierungswechsel und Montage innerhalb der erzählten Zeit der Narration mit einem häufigen Wechsel im Filmraum mittels veränderter Blickwinkel und Schauplätze konfrontiert: „Mit dem IMR [institutionalisierten Repräsentationsmodus, der durch die Kontinuitätsmontage erreicht wird, Anm. d.V.] wird die Beziehung zwischen Zuschauer und Leinwand radikal umgeformt, dematerialisiert und dekontextualisiert. Sie wird bis zu dem Punkt abstrahiert, an dem die Last des ‚Realen‘, des ‚Physischen‘ in den Filmtext als dessen imaginäre oder virtuelle Dimension verlegt wird: eine Aufgabe, für die [...] Griffiths narrative Konstruktion seiner Filmsujets und Melodramen überaus geeignet waren.“ (Elsaesser: 117)
Diese neue Filmsprache musste sich wiederum an den Wahrnehmungskonventionen der Rezipienten orientieren, damit sie verstanden werden konnte. Hier greifen im Wesentlichen drei Muster: 1. das durch Segmente und Überlappungen nachvollziehbare Konstruieren des Raumes, 2. die durch Blickachsen organisierten Blickwinkel und Schauplätze und 3. die kognitive Verknüpfung und Interpretation von Einstellungen zu sequenziellen Einheiten. Die einzelnen Elemente waren nicht neu und bereits in der Malerei genutzt worden.
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„Die ständige Transformation des Bildraumes durch Bewegung und Montage erfordert eine fortdauernde neue Orientierungsleistung in einem sich wandelnden Raumgefüge. [Dabei] gewährleistet die Inszenierung des Raums in der Regel nicht nur eine geografische Orientierung und Zuordnung von Figuren. Über den Raum können auch Charakterisierungen, Wahrnehmungszustände und Beziehungsgefüge visualisiert werden.“ (Khouloki: 182)
Es wurden also in der Montage Konventionen zur Konstruktion filmischer Realitäten entwickelt, die mit dem Begriff des Continuity Editing gefasst werden können: 1. 180°-Schema, 2. Eyeline-Match und 3. Kontinuität von Bewegungsabläufen, Raum und Zeit. Damit kann der Zuschauer in der filmischen Abfolge von Einstellungen durch minimale Anhaltspunkte eventuelle ‚Leerstellen‘ in der Montage füllen, er generiert quasi eine ‚mentale Landkarte‘ des Filmraumes. Mit diesen Mitteln wird eine Kontinuität von Raum und Zeit innerhalb einer Sequenz aufrechterhalten und gleichzeitig immer wieder bestätigt, so dass der harte Schnitt in den Hintergrund rückt, quasi unsichtbar und nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. Ebenso wie die zu Beginn der Filmgeschichte etablierten Konventionen des Continuity Editing Systems bis heute die Narration der Filme unterstützen und Filme verständlich machen, wurde von Anfang an auch mit diesen Konventionen experimentiert: Der angestrebte ‚unsichtbare Schnitt‘ des klassischen Erzählkinos wird dann abgelöst, die Sequenzen ‚springen‘, und die filmische Illusion wird durch die folgende Desorientierung aufgebrochen. Als Folge der Desorientierung entsteht beim Zuschauer eine gesteigerte Aufmerksamkeit, um Anhaltspunkte zur Orientierung wiederzufinden. Wird in der filmischen Auflösung einer ‚multiple shot scene‘, entgegen dem Kontinuitätsprinzip der filmische Raum nicht vom Allgemeinen zum Detail erschlossen, kann der Zuschauer dennoch durch minimale Anhaltspunkte die Raumorientierung finden, eine ‚mentale Landkarte' generieren und Sinn konstruieren. Werden Einstellungen ohne bildinhaltliche Zusammenhänge aneinander montiert, also Einstellungen in eine Abfolge gebracht, die räumlich und zeitlich völlig verschiedene Bildinhalte haben, kann eine assoziative Montage erreicht werden. Der Zuschauer versucht dann, diese Abfolge inhaltlich zu einer Aussage zu verknüpfen und zu deuten. Wir haben also immer zwei parallele Entwicklungen in der Filmmontage, die im Wesentlichen mit zwei tradierten Montage-Konzepten arbeiten: Auf der einen Seite positioniert sich die ‚klassische‘ Raumkonstruktion des Kontinuitätssystems, das mit unsichtbaren Schnitten und räumlichen Überlappungen die menschlichen Wahrnehmungen und Blickgewohnheiten simuliert, nun den kulturellen Sehgewohnheiten entspricht und sich als ästhetischer Standard im Erzählkino etabliert hat. Auf der anderen Seite steht das Experimentieren und bewusste Spielen mit den Brüchen dieser Konventionen, das die Auflösung der filmischen
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Illusion anstrebt, um neue Aufmerksamkeit und neue Perspektiven zu erzeugen. Eisenstein mit seiner Kollisionsmontage und Kuleschow mit seinen Assoziationsexperimenten sind hier als Pioniere zu nennen. Digitale Welten der Filmemacher Die Bewegtbild-Produktion löst sich heute zunehmend von ihren tradierten Methoden. Nicht mehr nur materiale Wirklichkeit und deren apparatives Aufzeichnen sind die Grundlagen von Filmen, sie werden nun zu einer Möglichkeit unter vielen. Nachdem die Malerei sich in ihrem Streben nach Naturalismus der Wirklichkeit so sehr angenähert hatte, dass nur die Fotografie dies übertrumpfen konnte, befreiten sich die Maler von diesem Ziel und fegten alle Grenzen, die sie sich selbst auferlegt hatten, hinfort (wie in der Kunst ab der klassischen Moderne deutlich wird). Sie besannen sich auf das Ureigene: ihre Möglichkeiten, sich mit Malmitteln, mit Farbe auszudrücken, zu experimentieren. Nun beginnt anscheinend ein neues Kapitel der visuellen Kulturgeschichte: Das Filmische beginnt sich zu entfesseln, entledigt sich dank Digitaltechnik immer mehr seiner realitätsverhafteten Basis. Mit den Digitaltechniken, mit denen Filmemacher die Filme Bild für Bild in Pixel auflösen, sie manipulieren, verändern, neu zusammenstellen und arrangieren und dabei via Maus und Tastatur ihre Werkzeuge bedienen, arbeiten die digitalen Künstler ebenso wie die Maler, für die Pinsel und Pigment grundlegend sind. Da „ein Film aus einer Serie von Fotografien besteht“, schlussfolgert Manovich: „Wenn ein Künstler leicht digitalisiertes Filmmaterial als ganzes oder Bild für Bild verändern kann, dann wird ein Film in gewissem Sinne zu einer Reihe von Gemälden.“ (Manovich: 6)
Es zeichnet sich eine neue Tendenz in der Arbeitsweise der Filmemacher ab: Die Bilder entstehen zwangsläufig nicht mehr in der Kamera. Ihre Entstehung wird zunehmend auch in den Bereich der Postproduktion verlagert. Die Grenzen zwischen den Gewerken Kamera und Bildpostproduktion verschwimmen. So werden beispielsweise mit Hilfe der digitalen Farbkorrektur Filmbilder im Rechner aufbereitet. Ähnlich wie Maler sitzen Kameraleute ohne Kamera vor Bildbearbeitungsprogrammen und regulieren u. a. Lichtverhältnisse, Farbtemperatur, Kontraste und Filterung. Dabei ist real gedrehtes Filmmaterial nur ein ‚Werkstoff‘ unter anderen. Es fallen dabei besonders die neuen Filmräume auf, die mittels digitaltechnischer Bearbeitung entstehen. So kann man heute eine Kamerafahrt durch den
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menschlichen Körper illusionieren, kann der Zuschauer mit Raumschiffen fliegen, die sich mit (visualisierter) Lichtgeschwindigkeit durch das All bewegen oder durch ein zukünftiges Utopia ebenso wie durch ein zerstörtes New York laufen, ohne dass die Filmkulisse real gebaut werden musste. Durch die digitale Konstruktion von Bildern im Rechner ist inzwischen alles möglich und dabei auch alles realistisch. Die filmische Illusion wird erweitert, die Imagination erreicht eine neue Qualität. „In der Tat erweist sich heute, dass die Kinematographie nur eine Episode in der Kulturgeschichte des Auges war – eine Episode freilich, die ihren Nachhall und ihre Schattenspiele noch weit in das bevorstehende nächste Jahrtausend senden wird. Nicht der Film, als Abdruck des Augenscheinlichen auf einer Emulsionsschicht, prägt die kinematische Epoche, sondern das Filmische, das Prinzip des bewegten Bildes, das heute auf den Bildschirmen der Computer weiter vibriert.“ (Kreimeier: 244)
Das bedeutet, dass sich auf der Ebene der reinen Bewegtbildproduktion das Handwerkszeug zur filmischen Illusion von Welt sehr verändert und erweitert hat. Damit wurden Filmräume erweitert. Die Intention von filmisch simulierter und für den Zuschauer akzeptierbarer Welterfahrung scheint dabei aber erhalten zu bleiben. Digitale Schnitträume, neue Filmräume Auch das Experimentieren mit der Filmsprache wird quasi durch die digitale Technik provoziert, das ‚Spielen‘ mit Montagemöglichkeiten wird erleichtert, neue Kombinationen mit konventionellen Prinzipien – das eine Montageprinzip unterstützt das assoziative Verstehen und das andere sichert mit Hilfe von konstruierter Kontinuität das narrative Verstehen – liegen auf der Hand, denken wir nur an die Musik-Clip-Ästhetik. Haben solche filmische Formate auch Einfluss auf Continuity Editing Sytem im Erzählkino? Und werden Filmräume nun in der Postproduktion anders konstruiert? Der explorative Blick auf ein aktuelles Filmbeispiel des Erzählkinos soll verdeutlichen, wie die digitale Arbeitsweise der Filmemacher in der filmischen Raumkonstruktion des aktuellen Erzählkinos zu Buche schlägt. Dazu sollen drei kurze Sequenzen aus Stay von Marc Forster dienen. Schon im ‚Klappentext‘ der deutschen DVD-Hülle wird Stay zu „eine[m] der visuell wie auch inhaltlich außergewöhnlichsten Filme der vergangenen Jahre“ gekürt. Und in einer Filmkritik resümiert die Autorin: „Stay bleibt dennoch eine visuelle Kinorevolution und trägt das Potential in sich, durch seine bizarre Bilder- und Gedankenstruktur
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Kultstatus zu erreichen.“ (Ribbecke: 1) Marc Forster erzählt in diesem Film die bizarre Geschichte des Henry Letham, der nach einem Autounfall schwer verletzt auf der Brooklyn Bridge in New York liegt und offenbar auf einer anderen Bewusstseinsebene, die herbeigeeilten Unfallzeugen in die kognitive Aufarbeitung seiner Lebenssituation einflechtet. Dabei ist der real helfende Arzt Sam Foster in Henrys Gedanken sein Psychiater, der versucht Henrys angekündigten Selbstmord zu verhindern, indem er nach möglichen Ursachen für dessen Entscheidung sucht. Die filmische Realität wird hier jedoch mit dem Gedankenablauf in Henrys Kopf etabliert und im Film erst am Ende aufgebrochen und als Traum gekennzeichnet. Die sich dann ergebende filmische Wirklichkeit wird vorab nur in ‚Flashbacks‘ angedeutet. Betrachten wir die erste Beispielsequenz aus Stay, in der Psychiater Sam Foster mit seinem suizidgefährdeten Patienten Henry Letham über dessen Verlobte spricht. In dieser Szene wird bewusst immer wieder mit dem Kontinuitätsprinzip gebrochen: Beide Protagonisten laufen nebeneinander durch eine große Halle mit Säulen. Henry rechts im Bild zündet sich eine Zigarette an (Abb. 1). In der nächsten Einstellung sind wir bereits über die etablierte Handlungsachse gesprungen (Abb. 2). In dieser Einstellung sieht man schließlich am Ende Sam Foster sowohl rechts, als auch im Hintergrund links aus dem Bild gehen (Abb. 3). Hier werden zwei Einstellungen übereinander gelegt, wobei jeweils der Bildpart gelöscht‘ wird, der durch die andere Einstellung ersetzt wird. Abbildung 1
Abbildung 2
Beim klassischen Film konnte dies durch Doppelbelichtung im Kopierwerk erreicht werden, digital werden nun die Einstellungen bis zu einer natürlichen Bildmarkierung, wie den Säulenkanneluren, beschnitten. Wir sehen also hier keine nur mit Digitaltechnik mögliche Option. Aber wir erleben, dass die Kontinuität von Zeit und Raum durch Montage gebrochen wird und sind als Zuschauer zunächst irritiert, suchen nach Orientierung und Interpretationsangeboten.
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Abbildung 3
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Abbildung 4
Im nächsten Bild setzt sich dann die neue etablierte Handlungsachse von Abb. 2 fort, wobei die Kontinuität wieder mit einem Sprung über die Achse bei Abb. 5 gebrochen wird. Diese Sprünge setzen sich bis Abb. 8 im weiteren Verlauf der Sequenz fort. Die Schnittfrequenz ist dabei nicht hoch, so dass wir Zeit haben, uns immer wieder an den durch den Achssprung verursachten Perspektivwechsel zu gewöhnen. Abbildung 5
Abbildung 6
Abbildung 7
Abbildung 8
Der Bruch mit der Kontinuität wird durch Achssprünge deutlich, die allerdings dadurch gemildert werden, dass der Raum durch die Säulen klar definiert ist und
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Manja Rothe-Balogh
die folgenden Einstellungen länger beibehalten werden. Die räumliche Desorientierung kann immer wieder durch die überlappenden Raumelemente sowie die kontinuierliche Handlung der Protagonisten ‚entschärft‘ werden, und die Orientierung des Zuschauers ist wieder hergestellt. Dennoch signalisieren diese Brüche, dass ‚etwas nicht stimmt‘ und unterstützen die filmische Narration, indem sie durch die teilweise Auflösung der filmischen Illusion die Irrealität der Szene andeuten. Ein weiteres Beispiel aus dem Film von Marc Forster zeigt einen fast schon spektakulären Match Cut, der die Freundin des Psychiaters Lila aus der U-Bahn aussteigen und sie dann direkt in die Wohnung der beiden weiterlaufen lässt. Damit werden durch die kontinuierliche Bewegung eines Protagonisten zwei Filmräume miteinander verbunden, ohne dass diese im örtlichen Zusammenhang stehen. Das führt zwangsläufig zur Desorientierung der Zuschauer. Abbildung 9
Abbildung 10
Abb. 9 zeigt einen Blick in den U-Bahnwagen. In der nächsten Einstellung öffnet sich die Wagontür, und wir sehen ab Abb. 11 in einer rückwärtsgewandten Kamerafahrt mit langsamer Aufwärtsbewegung erst die Beine und schließlich den Oberkörper einer Frau, die aus der U-Bahn steigt. Dabei lässt auch der Hintergrund mit dem Geländer bis Abb. 14 noch auf die U-Bahn schließen. Abbildung 11
Abbildung 12
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Abbildung 13
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Abbildung 14
Abb. 15 bis Abb. 16 markieren den unsichtbaren Übergang in die Wohnung, der so ausgefeilt ist, dass er bei der Analyse schnitttechnisch nicht auf den Punkt markiert werden kann. Wir sehen am verschwommenen Hintergrund noch nicht, dass wir nun woanders als im U-Bahnhof sein müssen. Abbildung 15
Abbildung 16
Erst wenn die Kamera nach oben zu Lilas Gesicht fährt und wir durch die etwas weitere Kadrierung einen Blick in den Bildraum im Hintergrund erhalten, wird uns eine neue Umgebung auffallen (Abb.17 bis 18). Sicher sind wir uns schließlich, wenn die Kamera mit Lilas Bewegung mitschwenkt, bis Lila das Bild verlässt und Sam, der Psychiater, im Bild links sitzend und telefonierend auftaucht (Abb. 19 bis 21).
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Abbildung 17
Abbildung 18
Abbildung 19
Abbildung 20
Die Kamera fährt dann auf Sam zu, und wir erblicken im Hintergrund wieder Lila und haben mit dieser Einstellung eine Rückorientierungsmöglichkeit (Abb. 22). Dabei wird nun durch die Mise en scène deutlich, dass der neue Bildraum nichts mit der durch das Aussteigen aus der U-Bahn initialisierte Erwartung an den nun eigentlich folgenden Raum zu tun hat. Abbildung 21
Abbildung 22
Trotz der Perfektion mittels digitaler Bildbearbeitung ist auch dieser Match Cut ein konventionelles Montagemittel, das hier den transsequentiellen Übergang
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verschleiert und damit zwar Kontinuität in der Bewegung herstellt, die Erwartungshaltung an den Raum aber bewusst nicht erfüllt und so für räumliche Desorientierung sorgt. Auch hier muss der Zuschauer die illusionistische Filmrealität in Frage stellen. Mit diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr sich die Arbeit von Kameramann und Cutter überschneidet: Es kann in der Analyse nicht eindeutig geklärt werden, wo im digitalen Bildbearbeitungsprozess die Kameraarbeit aufhört und wo der Schnitt ansetzt. Das letzte Beispiel aus Stay ist die räumliche Verknüpfung von zwei Szenen durch eine scheinbar kontinuierliche Kamerafahrt, die mittels Überblendung verlängert wird, und die dank Digitaltechnik absolut realistisch wirkt. Abbildung 23
Abbildung 24
Die erste Szene zeigt Henry Letham vor der großen Scheibe eines Aquariums, hinter der Seekühe schwimmen. In der Scheibe spiegelt sich ein Ehepaar, das sich ebenfalls mit ihm im Raum befindet (Abb. 23). Henry wird auf beide aufmerksam, dann verlassen sie die Szene. Henry wendet seinen Blick wieder zu den Seekühen (Abb. 25). Abbildung 25
Abbildung 26
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Wir folgen scheinbar seinem Blick (Abb. 26), doch die Einstellung wird zu einer Kamerafahrt, die der Seekuh immer tiefer ins Wasser folgt (Abb. 27), bis wir schließlich erst schemenhaft, dann deutlich eine Hauswand und ein Fenster erkennen können (Abb. 28). Kurz vor dieser Stelle wird geblendet, was durch die unstrukturierte Bildfläche des trüben Wassers nicht auffällt. Den Anschluss der nächsten Einstellung greift die Kamerafahrt wieder auf, so dass hier eine kontinuierliche Bewegung durch einen Filmraum simuliert wird. Abbildung 27
Abbildung 28
Wir haben immer noch den Eindruck, dass das Haus sich ebenfalls unter Wasser befindet. Die Kamera fährt weiter auf das Fenster zu, das auch mit Algen oder Ähnlichem verschmutzt zu sein scheint (Abb. 29). Die Kamera nähert sich weiter und wir können zwei Personen hinter der Fensterscheibe erkennen (Abb. 30). Abbildung 29
Abbildung 30
Die Kamera fährt nun ganz langsam nach rechts am Fenster vorbei, die Farbtemperatur des Filmbildes lässt die Kühle der Unterwasserwelt hinter sich und wird wärmer (Abb. 31). Die Kamera hält an, und wir blicken in Lilas Atelier, sehen sie und Sam. Beide unterhalten sich. Es wird deutlich, dass auch hier mittels Montage und Kamerabild nach dem Kontinuitätsprinzip vorgegangen wird. Die Einzelleistung von Kameraarbeit und Montage ist durch digitale Technik wieder
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nicht mehr trennscharf unterscheidbar. Man kann nur ungefähr bestimmen, wo die Kamerafahrt der ersten Einstellung aufhört und die Montage zur nächsten Einstellung ansetzt. Gleichzeitig werden hier die Möglichkeiten der digitalen Farbkorrektur sichtbar. Abbildung 31
Abbildung 32
Abbildung 33
Mit dem nun folgenden Schnitt in den Raum und zum Dialog (Abb. 33) ist die Raum verbindende Kamerafahrt von Henrys Position im Aquarium bis zu Sams und Lilas Diskussion im Atelier abgeschlossen. Hier findet sich das klassische Kontinuitätsprinzip, das durch die neuen Möglichkeiten der digitalen Technik eine Kamerafahrt simuliert und dabei räumliche Einstellungen zueinander fügt, die unsere Erwartung von filmischer Wirklichkeit in die Irre führt. Durch die Digitaltechnik werden (virtuelle) Kamerafahrten möglich, die im Realfilm so nicht realisierbar wären. Mit diesen digital generierten Fahrten kann für den Zuschauer eine neue Raumerfahrung simuliert werden, und die analoge Raumkonstruktion erfährt ihre digitale Erweiterung. Im aktuellen Erzählkino wird mit bewussten Brüchen des Kontinuitätsprinzips gearbeitet, allerdings nur, wenn man damit die Narration unterstützen kann. Die Brüche bei Stay markieren jeweils einen Moment, der dem Zuschauer mehr Aufmerksamkeit abfordert, und lenken ihn auch auf neue Fährten in der Narrati-
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on. Mittels Montage werden hier einerseits offensichtliche Brüche der Kontinuität provoziert und andererseits wird das Gefühl von kontinuierlichen Handlungen vermittelt, die dann aber durch die Konstruktion unerwarteter Raumverknüpfungen aufbrechen. Das Ziel ist dabei die Neuorientierung der Zuschauer: Die Filmproduzenten ‚spielen‘ mit den Sehkonventionen, was kurzzeitig die Dekonstruktion der illusionistischen Filmwelt zur Folge hat und die Logik der Handlung in Frage stellt. Bei Stay wird an diesen Zäsuren deutlich, dass mit den analogen Montageprinzipien, mit der konventionellen Filmsprache immer noch die aktuellen Filme des Erzählkinos gestaltet und konstruiert werden. Filme wie Stay, der in einer Reihe mit ähnlich konzipierten, aktuellen und publikumswirksamen Filme5 genannt werden kann, zeigen eine Tendenz: Es sind Filme, „in denen die Zuverlässigkeit des Gezeigten hintertrieben wird, indem sie sich den Realitätseindruck des Filmbildes zunutze macht – und damit auch die Konvention, nach der das, was gezeigt wird, vom Zuschauer innerhalb der diegetischen Welt auch als real wahrgenommen wird, solange es nicht entsprechend den Konventionen als Traum oder Ähnliches markiert wird“ (Khouloki: 183).
Sollen Filme narrativ sein, so gelten heute immer noch die grundlegenden filmischen Konventionen, wie sie mit Beginn der Filmmontage entwickelt wurden. Die Filmemacher spielen mit den Sehkonventionen, lösen aber die analogen Montagekonventionen nicht grundlegend auf. Die Filme bleiben so illusionistisch, dass wir uns auf diese Filme einlassen und sie vor allem verstehen können. Gleichzeitig wird hieran deutlich, wie stark die Arbeitsfelder von Kamera- und Montage-Gewerk im Bereich der Postproduktion verschmelzen und wie stark die Rolle der Postproduktion im gesamten filmischen Herstellungsprozess gewichtet ist. „Der Film entfesselt also als erstes in zunehmender Weise die Darstellung des physischen Raums, eine Entwicklung, die auch durch neue Technologien beschleunigt wird, und er löst zweitens herkömmliche Erzählstrukturen auf, lässt die Zuverlässigkeit des Gezeigten in Frage stellen und macht damit die Grenzen der verschiedenen narrativen Räume innerhalb einer Erzählung durchlässiger.“ (Khouloki: 183)
Doch bleiben die grundlegenden Prinzipien, mit denen die Filmemacher arbeiten, immer noch die, welche uns schon durch die Bild- und Filmgeschichte vertraut sind. Mit der digitalen Technik wurde bis heute das Handwerkszeug der Filme5
Unter diesem Aspekt sind z. B. Mulholland Drive (2001; R: David Lynch; USA), Fight Club (1999; R: David Fincher; USA), The Others (2001; R: Alejandro Amenábar; USA, Spanien, Frankreich, Italien), The Sixth Sense (1999; R: M. Night Shyamalan; USA), The Butterfly Effect (2004; J. Mackye Gruber, Eric Bress; USA), Memento (2000; R: Christopher Nolan; USA) oder What Dreams may come (1998; R: Vincent Ward; USA) aufschlussreiche Filmbeispiele.
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macher geschärft, ergänzt und ausgebaut. Die Bildräume werden erweitert, bleiben aber immer noch erfahrbar. Das 180°-Schema ist nicht ‚tot‘, vielmehr wird mehr damit ‚gespielt‘, aber das bestätigt es in gleichem Maße. Zwar verliert der Film durch die digitalen Schnitträume zunehmend seine in der Realität verortete Basis bei der Produktion, kann aber nicht völlig von den sich an natürlichen Wahrnehmungsmustern orientierenden filmischen Sehkonventionen und den darauf ruhenden Montageprinzipen gelöst werden, wenn er narrativ verstanden werden soll. Die Basics der bildlichen Raumkonstruktion, die bereits in der Tafelmalerei zum Tragen kamen, sind immer noch in den kleinen und kleinsten Filmeinheiten zu finden. Allerdings stehen wir erst am Anfang der Digitalisierung. Es bleibt spannend, die Arbeit der Filmemacher zu verfolgen, eben weil die Filmherstellung in zunehmendem Maße in der Postproduktion geschieht und digital bestimmt ist. Zudem werden sich auch Zuschauergewohnheiten verändern, die im Zuge der digitalen Möglichkeiten, u. a. der Verschmelzung unterschiedlicher filmischer Medien und deren Ästhetiken, neue Perspektiven im Film erlauben oder ein neues Filmerleben durch 3D-Technik offerieren. Mit der digitalen 3D-Technik werden sicher neue Konventionen entwickelt, da hier dann nicht die Konstruktion von Räumen im Film via 2D-Bildersequenzen hergestellt wird, sondern der filmische Raum bereits in einem 3D-Bild visuell existiert. Die Montage steht dann wieder vor der Herausforderung, diese Räume sequenziell so zu arrangieren, dass die Zuschauer die Orientierung behalten, das Gesehene dechiffrieren und Sinn konstruieren können. Literatur Agotai, Doris (2007): Architekturen in Zelluloid: Der filmische Blick auf den Raum. Bielefeld: transcript Verlag Belting, Hans (2008): Florenz und Bagdad: Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: Verlag C.H. Beck Boehm, Gottfried (2007): Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin: University Press Bordwell, David (1997): Modelle der Rauminszenierung im zeitgenössischen europäischen Kino. In: Rost, Andreas (Hrsg.): Zeit, Schnitt; Raum. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren Elsaesser, Thomas (2002): Filmgeschichte und frühes Kino: Archäologie eines Medienwandels. München: Edition text + krtik Hickethier, Knut (2003): Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler Khouloki, Rayd (2007): Der filmische Raum: Konstruktion, Wahrnehmung, Bedeutung. Berlin: Bertz + Fischer
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Manja Rothe-Balogh
Kreimeier, Klaus (2008): Prekäre Moderne: Essays zur Kino- und Filmgeschichte. Marburg: Schüren Verlag Manovich, Lev (1997): Was ist digitaler Film. Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6109/1.html Zugriff 30.01. 2009 Ribbecke, Nicole (2006): Jenseits von Neverland. (Filmkritik zu Stay) In: Schnitt#41. Artikel-URL: http://www.schnitt.de/202,2569,01 Zugriff 30.01.2009 Usai, Paolo Cherchi (2006): Das Kino des Übergangs. In: Nowell-Smith, Geoffrey (Hrsg.): Geschichte des internationalen Films. Stuttgart: Metzler Weingarten, Susanne (2008): Patchwork der Pixel: Zu den Folgen der Digitalisierung für die Filmästhetik. In: Kloock, Daniela (Hrsg.): Zukunft Kino: The End Of The Reel World. Marburg: Schüren Verlag Wenzel, Horst (2007): Der Schuß ins Auge: Zum Imaginationstheater mittelalterlicher Bilderhandschriften. In: Helas, Philine [et al.] (Hrsg.) Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp. Berlin: Akademie Verlag
Abbildungen Alle Abbildungen sind Screenshots aus: Stay (2005; R: Marc Forster; USA)
III.
Emotionen und Medien
Liebesgeschichte(n) Ingrid Brück
Unser Gehirn ist auf Zuneigung ausgerichtet, es kann nicht anders, sagt der Psychologe Joachim Bauer (2008). Diese Ausrichtung verschafft der Gattung Mensch einen handfesten Überlebensvorteil, und das schon seit ewigen Zeiten. Wir bestehen zwar darauf, das Phänomen Liebe nicht wirklich verstehen zu können („sie ist, was sie ist“), die Aussage, dass sie eine exponierte Form der Sympathie ist, würden aber wohl die meisten akzeptieren. Historisch gesehen steht also nicht die Liebe zur Disposition, wohl aber ihre Wahrnehmung. Was meinen wir, wenn wir von Liebe sprechen? Welche inneren und äußeren Zustände und gesellschaftlichen Normen sind mit diesem Begriff verknüpft? Woher wissen wir überhaupt, was Liebe ist? „Es ist Ihnen gesagt worden“, lautet die kategorische Antwort des Soziologen Peter Fuchs (1999). Es ist Ihnen auch gezeigt worden, möchte ich als Medienwissenschaftlerin hinzufügen. Nicht nur im sozialen Nahbereich, in der Familie, dem Freundeskreis. Auch in den Massenmedien. Liebesgeschichten – ob gedruckt, vertont, ins Bild gesetzt – bestimmen unsere Vorstellungen von Liebe ganz entscheidend mit. Sie gehören zum unabdingbaren Inventar einer jeden Sozialisation. Und woher wissen Liebesgeschichten, was Liebe ist? Nun, auch ihnen ist es gewissermaßen ‚gesagt‘ worden. Vereinfacht ausgedrückt: Die gesellschaftlichen Übereinkünfte darüber, was unter Liebe zu verstehen ist, fließen auf vielfältige Weise in den Produktionsprozess ein und drücken sich als kulturelle Manifestationen (Siegfried J. Schmidt 1992: 436) in Liebesgeschichten aus. Die mediale Darstellung von Liebe findet ihren Niederschlag wiederum in den soziokulturellen Übereinkünften und so fort: ein permanenter Rückkopplungsprozess, bei dem unentscheidbar bleibt, was zuerst da war, die Liebe (so wie wir sie kennen) oder die Liebesgeschichte. Schon durch ihr prominentes Vorhandensein verweisen Liebesgeschichten in allen medialen Umsetzungen auf die gesellschaftliche Relevanz des Themas. Umso merkwürdiger ist es, dass die Medienwissenschaft der fiktionalen Darstellung von Liebe bisher kaum Beachtung geschenkt hat.1 Sind nicht die Program1
Mehr medienwissenschaftliches Interesse hat dagegen die Inszenierung von Gefühlen in Spielshows, Talkshows und im Reality-TV gefunden; vgl. etwa Reichertz 1998a und 1998b. Mit
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me voll von Liebesgeschichten? Verstehen wir zwar die Liebe nicht, aber deren Geschichten? Liegt es am Trivialitätsverdacht? An der gesellschaftlichen Verabredung von der Unergründbarkeit der Liebe? Oder an dem tiefen Graben dazwischen? In den folgenden Überlegungen zur medialen Konstruktion von Liebesgefühlen werde ich noch weitgehend von medial bedingten Darstellungskonventionen absehen. Zunächst möchte ich mich auf das konzentrieren, was wir Liebe nennen. Denn die Liebe ist – im Gegensatz zu Liebesfilmen – recht gut erforscht: psychologisch, soziologisch, theologisch, anthropologisch und auch neurophysiologisch. Aus den Erkenntnissen der Liebesforschung sollen in einem ersten Schritt Hinweise für die Analyse von Liebesfilmen im Fernsehen herausgefiltert werden. Wirklichkeitsmodell Liebe Wollen wir verstehen, wie Liebe zu unterschiedlichen Zeiten, also unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen jeweils medial konstruiert wird, wollen wir also den Wandel, dem diese Konstruktion doch vermutlich unterliegt, beschreiben, müssen wir uns zunächst einmal fragen, was sich denn wandeln könnte. – Folglich: Was bildet den ‚Genrekern‘ von Liebesgeschichten, erhält mithin über gesellschaftliche Veränderungen hinweg das Grundkonzept ‚Liebesgeschichte‘ stabil? Und welche Genrebestandteile sind historisch wandelbar – also auch verhandelbar? Dass Liebesgeschichten von Liebespaaren handeln, ist eine triviale Feststellung. Auch, dass das Suchen, Finden, Verlieren und ggf. Wiederfinden breiten Raum in solchen Geschichten einnimmt. In aller Regel erwartet uns ein Happy End – weil wir es erwarten. Über alle möglichen Variationen und Anreicherungen hinweg funktioniert das einfache dramaturgische Kuss&Schluss-Konzept ‚Begegnung – Konflikt – Lösung/Paarbildung‘ immer noch gut. Gleichwohl haben sich entscheidende Darstellungsdimensionen enorm verschoben. Etwa indem als Liebespaare – speziell im Fernsehen – immer häufiger bereits existierende Paare fungieren, die ihre Liebe im Alltag verteidigen müssen. Oder dadurch, dass die dargestellten Liebespaare keineswegs immer jung sind. Oder dass die Liebe an den postmodernen Wahlfreiheiten und -zwängen (!) zu scheitern droht. Solche Beobachtungen machen deutlich, dass es sich lohnt, sich mit Aspekten zu befassen, die als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels in Liebesgeschichten einfließen können. Denn im historischen Vergleich wird die VerändeLiebe als Kulturmedium beschäftigen sich u. a. Faulstich/Glasenapp 2002. – Zur Liebesliteratur gibt es allerdings einen recht umfangreichen Fachdiskurs.
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rung angeblicher kultureller Konstanten offenbar. Ist es doch gerade Aufgabe von Mediengattungen, trotz ständigen Wandels (der durch den permanenten gesellschaftlichen Diskurs gar nicht zu vermeiden ist), Genremuster jederzeit als konstant erscheinen zu lassen (vgl. Schmidt 1992 und 2003). Laut Siegfried J. Schmidt (2003 u. a.) erfolgt die Konstruktion und fortwährende Abgleichung gesellschaftlicher Wirklichkeitsmodelle primär über Dichotomien und deren Verknüpfungen, auch und in Mediengesellschaften vor allem durch einschlägige Medienangebote. Die Frage ist also, was die zentrale, die Basis-Dichotomie von Liebesgeschichten ist, an die dann über Verknüpfungen mit weiteren Dichotomien die Thematisierung diverser gesellschaftlicher Aspekte – mediengeschichtlich variabel – angedockt werden kann. Meine Arbeitshypothese ist: Die zentrale Dichotomie von Liebesgeschichten lautet: ‚richtige Liebe versus falsche Liebe‘. Ich meine, dass diese Basisdichotomie sich als Ausgangspunkt eignet, kulturelle Unterschiede und historische Veränderungen bei der Konstruktion von Liebesgefühlen durch Liebesgeschichten systematisch beschreibbar zu machen. Das setzt voraus, dass die Frage von ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Liebe als zentrales Thema in den Geschichten erhalten bleibt, auch wenn Darstellungsmodi und inhaltliche Füllungen der Basis-Dichotomie wechseln. Und auch, wenn sich die gängigen Verknüpfungen mit anderen Dichotomien (bzw. Themen) ändern, sich somit das Netzwerk des Diskurses insgesamt ändert. Was aber ist das, eine ‚richtige‘ Liebe? Nun, genau das, so meine ich jedenfalls, wird in Liebesgeschichten immer wieder aufs Neue gefragt und beantwortet. Hier ein einfaches Beispiel für die Möglichkeiten, die ‚richtige‘ und die ‚falsche‘ Liebe im Film darzustellen: Ein Muster in Heimatfilmen ist das Eintreffen einer oder eines Fremden in einer dörflichen, also kleinen Gemeinschaft. Der oder die Fremde scheint für den heimischen Part zunächst ‚richtig‘ zu sein: sympathisch, durchaus robust und zupackend (etwa naturlieb oder bergsteigend), und doch – irgendwie passt es am Ende nicht. Es wird im Gegenteil klar, dass es eine einheimische Person gibt, die passt – was die Familie, die Nachbarn etc. schon immer gewusst haben: Die beiden gehören zusammen, sie haben den gleichen sozialen und kulturellen Hintergrund. Und damit das nicht so prosaisch erscheint, passt nach einigen Verwicklungen plötzlich auch das Gefühl: die ‚richtige‘, die ‚große‘ Liebe. Wie man weiß, spielt die Liebe auch in Gesellschaften, in denen andere Paarfindungs-Regeln herrschen als bei uns – etwa Vorschriftsheiraten – durchaus eine Rolle.2 Und auch dort gibt es Liebesgeschichten. Als exotisches Beispiel möchte ich die indonesische Insel Flores anführen (vgl. Kohl 2001). Die im Os2
Einen reichhaltigen Fundus für die Überprüfung kultureller ‚Selbstverständlichkeiten’ im Hinblick auf Liebe und Heirat bieten immer noch Fohrbeck/Wiesand 1983.
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ten dieser Insel herrschende Heiratsregel wird bestimmt durch die Zugehörigkeit zu Familienstämmen. Der matrilateralen Kreuzkusinenheirat entsprechend wählen Männer ihre Bräute aus der Abstammungsgruppe, aus der ihre Mutter stammt. Für jede Familie gibt es klar definierte Gruppen von Frauengebern und Frauennehmern. Durch eine entsprechende Sprachregelung wachsen die Kinder bereits in dem Bewusstsein auf, dass es richtige und falsche Liebes- bzw. Heiratspartner gibt. Obwohl keine drastischen Sanktionen vorgesehen sind für den Fall, dass jemand aus diesem System ausschert, halten sich die meisten daran. Die Liebesgeschichten sind ganz ähnlich konstruiert wie die beschriebenen Heimatfilme. Ein junger Mann oder eine junge Frau hat sich jemand ‚Falsches‘ ausgesucht und muss am Ende feststellen, dass eine Person aus der offiziell passenden Stammesgruppe doch die ‚richtige‘ ist. – Zufall oder interkulturelle Übereinstimmung? Zumindest ein Beispiel dafür, wie sozial erwünschtes Verhalten mittels Liebesgeschichten transportiert wird. Romantische Liebe Es braucht nicht viel Überlegung, um zu sagen, eine ‚richtige‘ Liebe ist für uns irgendwie eine ‚große‘, eine ‚wahre‘ – mit anderen Worten: eine ‚romantische Liebe‘. Was das genau ist, ist schon schwerer zu beantworten. In der psychologischen Literatur wird sie unterschiedlich beschrieben: Die so genannte Romantische Liebe hat etwas zu tun mit unmittelbarer Anziehung, physischer Erregung und sexuellem Interesse stellt der viel zitierte Psychologe John A. Lee (1976) fest. Robert J. Sternberg (1986) bringt sie auf die Formel „Leidenschaft + Intimität“. Bindung als dritter Eckpunkt seiner einflussreichen Dreieckstheorie der Liebe, ist bei Romantischer Liebe nur schwach ausgeprägt (vgl. Bierhoff/Grau 1999). Für den Psychoanalytiker Erich Fromm (2001: 115f.) stellt das, was gemeinhin als „wahre große Liebe“ bezeichnet wird, eher eine Form von Pseudoliebe dar, die er abgöttische Liebe nennt. Für die zweite Form der Pseudoliebe, die sentimentale Liebe, spielen s. E. Liebesgeschichten eine große Rolle, indem sie nämlich die „unerfüllten Sehnsüchte nach Liebe, Vereinigung und menschlicher Nähe“ ersatzweise befriedigen. Die reife Liebe jedoch sieht er nicht als etwas an, was über die Menschen hereinbricht und dem sie ausgeliefert sind, sondern als etwas, das man aktiv betreiben muss. „Die Kunst des Liebens“ besteht, schlicht gesagt, darin zu lieben, statt geliebt werden zu wollen. Die Anthropologin Helen Fisher (2001 und 2005) fasst unter „Anziehung“: romantische, obsessive, leidenschaftliche, auch blinde Liebe, die der Wahl eines bestimmten Partners dient. Ihres Erachtens bildet ‚Anziehung‘ einen von drei getrennten Liebes-Schaltkreisen im Gehirn. Die anderen beiden sind ‚Lust‘ und
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‚Verbundenheit‘. Diese Gehirnsysteme „agieren im Zusammenspiel miteinander und mit anderen Körpersystemen“ (2001: 85). Sie sind aber in der Lage, unabhängig voneinander zu operieren, können einzeln und gleichzeitig aktiviert werden. Jedem dieser Systeme ist ein spezifisches Verhaltensrepertoire zuzuordnen. Mit dem Gehirnsystem ‚Lust‘ ist die Wahl irgendeines passenden Partners verbunden, mit der ‚Anziehung‘, wie erwähnt, die Wahl eines bestimmten Partners und mit ‚Verbundenheit‘ langjährige Partnerschaft, gemeinsame Elternschaft und soziale Stabilität (vgl. Fisher 2001). Verliebtheit, Liebe, Sexualität und Leidenschaft, sind also eng miteinander verknüpft, aber nicht deckungsgleich (ausführlich in Fisher 2005). Leidenschaft, so legen einschlägige Untersuchungen diverser Disziplinen nahe, ist eine Art Initialzündung für die Liebe. Der Zustand von Verliebtheit entfacht die Leidenschaft und mit ihr das sexuelle Begehren. Umgekehrt kann sexuelles Begehren in Verliebtheit und später in Liebe münden, muss es aber nicht (vgl. Fisher 2005: 104-108). Da – biologisch gesehen – die Verliebtheit dazu dient, zwei Menschen so nahe zusammen zu bringen, dass sie Nachwuchs zeugen können, wird offenbar das Zusammensein hormonell ‚belohnt‘, das Getrenntsein dagegen ‚bestraft‘. Die Wechselbäder der Gefühle, unter anderem durch den extrem schwankenden Serotonin-Haushalt hervorgerufen, halten sowohl euphorische Glücksgefühle als auch abgrundtiefe Traurigkeit bereit. Die Psychiaterin Donatella Marazziti vergleicht deshalb Verliebtheit mit dem Zustand von Zwangspatienten (vgl. Kast 2004: 14f.). Drehbuchautoren und Regisseure greifen diese ‚Zustände‘ gerne auf, lassen sie sich in Liebesfilmen doch genüsslich inszenieren. Sich zu verlieben dient also dazu, zunächst einmal ein großes Interesse füreinander zu wecken, das es ermöglicht, in relativ kurzer Zeit eine Verbundenheit zu erzeugen, die dann wiederum ein näheres Kennenlernen ermöglicht. Erste Anziehung sagt jedoch noch nichts über das Zukunftspotenzial eines Paares aus. Charakter, Interessen, Vorlieben, Meinungen, Einstellungen etc. sind für die Gefühlslage zunächst zweitrangig, werden aber im Transformationsprozess vom Verliebtsein zur Liebe umso wichtiger. Dann zeigt sich auch, dass Anderssein zwar sehr anziehend sein kann (offenbar, da es ‚gen-streu-technisch‘ vorteilhaft ist), Gleichheit aber eher langfristiges Glück garantiert. Effekte gegenseitiger Bestätigung erzeugen ein Gefühl von Geborgenheit - und ‚Richtigkeit‘? (vgl. Kast 2004). Aus der soziologischen Sicht von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1990) ist das Konzept der Romantischen Liebe eine Mogelpackung, die einerseits dazu dient, die Festlegung auf ein „Berufsmenschentum“ überhaupt zu ermöglichen, andererseits die damit verbundenen Zumutungen zu überdecken. Seit der Erfindung der Kleinfamilie im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der damit verbundenen Auflösung größerer Familienverbände und
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anderer Sozialbindungen, seit der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche in eigenständige soziale Systeme lastet auf der Liebe eine besondere Verantwortung. Sie soll, so jedenfalls glauben Beck/Beck-Gernsheim, die Wunden schließen, die die Vereinzelung der mobilen Industriegesellschaft mit sich gebracht hat.3 Nüchterner formuliert es der Soziologe Peter Fuchs: „Die moderne Gesellschaft ist polykontextural, also nicht einheitsfähig. Das Bewusstsein in der Umwelt dieser Gesellschaft kann von dieser Form nicht unbeeinträchtigt bleiben. Unter dieser Voraussetzung könnten evolutionäre Sozialformen begünstigt werden, in denen es um die Einheit des Bewusstseins geht, und unsere These ist zunächst die, dass eine dieser begünstigten Sozialformen die Erfindung der modernen Liebe ist.“ (Fuchs 1999: 24)
Moderne Liebe in diesem Sinne meint: Zwei Menschen sind exklusiv füreinander da, meint die gegenseitige „Komplettberücksichtigung“ und damit auch die „Komplettzugänglichkeit“ des Anderen. Liebe erscheint aus dieser systemtheoretischen Perspektive als ‚symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‘ des Intimsystems (a.a.O.: 52). Intimsysteme nennt Fuchs Soziale Systeme, die die Funktion „reziproke Komplettberücksichtigung der EINS des Anderen“ erfüllen – gemeinhin als Liebe bezeichnet (a.a.O.: 24 und 35). Der Code des Intimsystems lautet: „WIR ZWEI/Rest der Welt“ (a.a.O.: 43). Lieben ist die Operation, die aus dem Code des Intimsystems resultiert, ist die „kommunikative Anzeige wechselseitiger Höchstrelevanz, also der reziproken Komplettberücksichtigung der EINS des Anderen“ (a.a.O.: 44). – Das Prinzip der Solidarität, das in der Formel ‚Wir zwei gegen den Rest der Welt‘ steckt, ist fester Bestandteil von Liebesgeschichten. Etliche Formvorschriften, die Fuchs nennt, etwa der Zufall der Begegnung oder absolute Ehrlichkeit, finden dort ebenfalls ihren Niederschlag.4 Laut Niklas Luhmann (1994: 186) setzt sich die „Freigabe der Eheschließung für romantische Liebe“ im 19. Jahrhundert durch; „Liebe wird zum einziglegitimen Grund der Partnerwahl“. Schwärmerische Leidenschaft werde von nun an als Test für die Bereitschaft zur Eheschließung und Glücksversprechen angesehen.
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Über den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Liebe kann man u. a. auch bei Fromm 2001 (1956) und Illouz 2003 einiges lernen. Der Zufall der Begegnung hängt mit der westlichen Forderung nach Freiheit zur Liebe zusammen; eine bewusste Herbeiführung von Liebe, etwa durch Verkuppeln oder Berechnung, ist demnach nicht erwünscht.
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Das ganz normale Chaos: Dichotomie-Verknüpfungen Was sagt uns der kursorische Blick auf die einschlägige Liebesforschung für die Analyse von Liebesfilmen? Nun, zunächst, dass das Konzept Romantischer Liebe gar nicht ohne Weiteres zu ermitteln ist, Leidenschaft bzw. sexuelle Anziehung, Intimität und Verliebtheit jedoch zum festen Inventar zu gehören scheinen. Insgesamt führen die Ergebnisse der Liebesforschung zu einer Fülle interessanter Fragestellungen für die Analyse von Liebesfilmen: Wird Verliebtheit als Liebe dargestellt bzw. einfach unterstellt, dass aus der Verliebtheit in den/die Richtige(n) die große (= richtige) Liebe erwächst? Stimmen die Gestaltung und das Verhalten der Figuren überein mit den Aussagen der Liebesforschung
hinsichtlich der optischen Präferenzen von Männern und Frauen? hinsichtlich des Flirtverhaltens? hinsichtlich der Ähnlichkeit der Partner (positives Indiz für eine langlebige und glückliche Beziehung)? hinsichtlich der Glücksfaktoren (Zuwendung, Wir-Gefühl, Akzeptanz, positive Illusionen und Aufregung im Alltag)? hinsichtlich der ‚Beziehungszerstörer‘ (Kritik, Verteidigung, Verachtung, Rückzug, Machtdemonstration)?5 hinsichtlich der verschiedenen Liebesstile, die mehr oder weniger dauerhaftes Glück versprechen (1. sicherer Liebesstil, von der Mehrheit präferiert; 2. Liebesvermeider, braucht Abstand; 3. Liebesängstlicher, klammert)?
Die Beschäftigung mit dem Konzept Romantischer Liebe zeigt auch, dass es paradoxerweise aus handfesten gesellschaftlichen Anforderungen hervorgegangen ist. – Wie ja überhaupt die Vorstellung von der reinen, der zweckfreien Liebe6 nur schwer mit ihrem Eingebundensein in gelebtem Alltag übereinzubringen ist. Der Alltagsaspekt findet sich im prinzipiell stark realitätsbezogenen Fernsehen auch in den Liebesfilmen prominent wieder, obwohl insgesamt ein breites Spektrum von Fernseh-Liebesfilmen zu konstatieren ist. An dessen einem Pol stehen triviale Varianten a là Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen, quasi Heftromane mit audiovisuellen Mitteln. Romantische Liebe in Reinkultur wird also primär in Fernsehfilmen realisiert, die kaum oder keinen unmittelbaren Bezug zur aktuellen Lebenswirklichkeit des Publikums haben. Ein schönes Beispiel dafür sind auch Courts-Mahler-Verfilmungen, die um die vorletzte Jahrhundert-
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Dies ist besonders interessant für Filme, in denen es um Paare geht, die schon länger zusammen sind und nun eine Krise durchleben. Auch dies ist eine Voraussetzung für die Freiheit zur Liebe.
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wende spielen.7 Am entgegengesetzten Pol aber stehen Beziehungsdramen, in denen romantische Vorstellungen von Liebe an den Anforderungen des täglichen Lebens zu zerbrechen drohen. Die von Beck/Beck-Gernsheim konstatierte Brüchigkeit des Konzepts Romantischer Liebe wird hier durchaus thematisiert. Beliebter als Dramen sind allerdings komödiantische Formen. Sie bedienen sich der bewährten ‚Medizin-auf-Zucker-Methode‘, indem sie ernste Aspekte humorvoll und damit unterhaltsam offerieren. – Und das ist im Hinblick auf „das ganz normale Chaos von Liebe“8 auch nötig! Die gesellschaftlichen Analysen von Beck/Beck-Gernsheim (1990) lesen sich an manchen Stellen geradezu wie eine Beschreibung von Fernseh-Liebesfilmen aus den 90er und späteren Jahren. Denn die Kontexte, in die die LiebesDarstellung (zumindest am realitätsnäheren Pol) seitdem tendenziell eingebettet ist, werden hier aufgelistet: Lebensentwürfe und Rollenverständnis sind heute pluralistisch und damit verhandelbar geworden. Liebende müssen eine Vielzahl von Vereinbarungen treffen und Konflikte bewältigen, die aus den Wahlfreiheiten und -zwängen entstehen. Es sind gerade solche pragmatischen Konsequenzen aus der Liebe, die in Fernsehfilmen explizit thematisiert werden. Themen wie die Einsamkeit der berufstätigen Frau, die Einsamkeit von Singles überhaupt werden überwiegend in Komödien verpackt. Ebenso die Verzeitlichung von Liebesbeziehungen und die sich daraus ergebende serielle Monogamie, die ggf. damit verbundene Krise der mittleren Jahre und schließlich das Kind als letzte verlässliche Primärbeziehung. Weitere pragmatische Konsequenzen, die das Alltagsleben und die (gemeinsame) Eingliederung in gesellschaftliche Strukturen betreffen, sind Übereinbringen der Berufstätigkeit bzw. der Berufs-Biografie beider Partner, die Versorgung der Kinder, Prioritäten in der Lebensführung und Ähnliches. Diese Liste zeigt definitiv, dass aus der Liebe eine Vielzahl unliebsamer Konsequenzen hervorgehen kann. Das alte Muster, junge Frau und junger Mann begegnen sich, überwinden Hindernisse und finden im Happy End zueinander, greift hier nur noch bedingt, denn ein Teil der genannten Aspekte betrifft vor allem bereits bestehende Paare bzw. Restposten früherer Paare oder Familien.9 Patchwork-Familien, allein erziehende Mütter und Väter, die Liebe unter Lebensabschnittsgefährten, das heißt auch unter älteren Menschen bestimmen zu 7 8 9
Zum Beispiel der Zweiteiler „Durch Liebe erlöst“ (ZDF, 2005). So der Titel des Buches von Beck/Beck-Gernsheim 1990. Allerdings wird dieses Muster auch übertragen auf die bestehenden Beziehungen, die Begegnung wird dann quasi zu einer Neu-Begegnung, indem plötzlich zutage tritt, dass die alten Grundlagen für die Gemeinsamkeit nicht mehr gewährleistet sind. Die Krise ist dann also schon mitgeliefert, wird durchlebt und am Ende zeigt sich, wie die Karten neu gemischt werden können. – Es gibt auch in dieser Konstellation durchaus einen Hang zum Happy End, an dem die Partner endlich (wieder) merken, was sie aneinander haben. Prinzip: Stand by your man – der nun hoffentlich gemeinsam mit seiner Liebsten gereift ist.
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einem guten Teil die Themen von aktuellen Fernseh-Liebesfilmen. – Und diese Themen beinhalten dann die besagten Dichotomie-Verknüpfungen. Es ist ja nichts Neues, dass sich Liebende gesellschaftlichen Zwängen stellen müssen. Während diese früher eher außerhalb des Paares lagen (meist in der Familie oder im sonstigen sozialen Nahbereich), betreffen sie heute die Liebenden und damit den Lebensnerv der Liebe selbst. Es ist eben ein Unterschied, ob Romeo und Julia nicht zusammenkommen können, weil die verfeindeten Familien es verhindern, oder ob ihre Liebe daran zerbricht, dass die beiden ihre Erwerbsbiografien nicht synchronisiert bekommen. So werden dann aus Verknüpfungen wie ‚richtige/falsche Liebe + standesgemäß/nicht standesgemäß‘ solche wie ‚richtige/falsche Liebe + karriereorientiert/nicht karriereorientiert‘. – Dass die Wertigkeiten in den Dichotomie-Verknüpfungen allerdings nicht generell bestimmt werden können, zeigt dieses Beispiel sofort: Zwar erfordert die Liebe zeitliche Präsenz und Aufmerksamkeit, was eher gegen Karriereorientierung spricht, jedoch kann eine Liebe sicher auch an alltäglichem Geldmangel zerbrechen… Es kommt also auf der dramaturgischen Ebene darauf an, ob bzw. wie im Film die Lebenseinstellungen und -stile der Protagonisten zusammenpassen, und auf der analytischen Ebene, welche Klischees von Frauen- und Männerbildern, Milieus etc. im Wandel der Zeit bedient werden. So könnte im Prinzip ein karriereorientierter Partner durchaus ‚richtig‘ sein; in Liebesfilmen wird aber augenscheinlich meist dessen Negativbilanz thematisiert. – War das zu Wirtschaftswunderzeiten auch so? Oder wurde damals unter ‚Tüchtigkeit‘ positiv verbucht, was heute als ‚Karrieregeilheit‘ negativ konnotiert wird? Romantische Liebe im Fernsehen Während sich die von Beck/Beck-Gernsheim aufgelisteten Problemlagen in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren deutlich verschärft haben, stellen die von Fuchs genannten Aspekte (Akzeptanz der ganzen Person, kommunikative Anzeige von Höchstrelevanz, die Freiwilligkeit von Liebe und Sexualität als spezifischer Körperbezug) allgemeine, schon über längere Zeit stabil gebliebene Anforderungen an das Intimsystem dar (vgl. Luhmann 1994). Es ist also anzunehmen, dass sich Letztere auch in Liebesfilmen über einen längeren Zeitraum hinweg nachweisen lassen. Sie erscheinen mithin eher für das Liebeskonzept als solches interessant. Jüngerer gesellschaftlicher Wandel lässt sich dagegen mit Sicherheit anhand der ‚modernen‘ Erscheinungen ablesen, die Beck/BeckGernsheim beschreiben. Dabei ist zu erwarten, dass dieser Wandel sich durch die
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Mainstream-Orientierung des Fernsehens in Fernseh-Liebesfilmen eher zeitverzögert niederschlägt.10 Mit der allgemeinen Entwicklung des westdeutschen Fernsehspiels passen Liebesfilme lange wenig zusammen. Waren die 60er Jahre primär geprägt von einem hohen Kunstanspruch einerseits und politisch-historischem sowie ostwest-bezogenem Dokumentarismus andererseits, wurde in den 70er Jahren die gesellschaftskritische und realistische Besichtigung bundesrepublikanischer Gegenwart ausgerufen (vgl. Hickethier 1998). Mit dem ‚amphibischen Film‘11 kam in dieser Dekade allerdings eine Wende hin zu mehr Fiktionalität, was für Liebesstoffe eher förderlich erscheint. Spätestens mit der Einführung des Dualen Systems Mitte der 80er Jahre kann durch die zunehmende Kommerzialisierung von einem begünstigenden Produktionsklima für Liebesfilme im Fernsehen ausgegangen werden. Seit den 90er Jahren sind Liebesstoffe im deutschen Fernsehen definitiv auf dem Vormarsch, schlägt sich die fortschreitende Serialisierung und Formatisierung in lang laufenden Liebesserien (z. B. die Daily Soap „Verbotene Liebe“, ARD, seit 1995) und Telenovelas (z. B. „Verliebt in Berlin“, Sat1, 2005-2007) nieder. Es wäre also zunächst einmal eine quantitative Bestandsaufnahme interessant.12 Hinsichtlich der Inhalte lassen sich mit Beck/BeckGernsheim einige Erwartungen an Veränderungen der Konstruktion von Liebe im Liebesfilm über die Jahrzehnte formulieren:
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Der Aufwand für das Prüfen der Voraussetzungen des „WIR ZWEI/Rest der Welt“ hat sich erheblich erhöht (pluralistische Lebensentwürfe und -stile, doppelte Erwerbsbiografie, verwischte Frauen- und Männerbilder etc.). Die zeitliche Gültigkeit des „WIR ZWEI/Rest der Welt“ hat sich verkürzt bzw. wird zeitlich unbestimmt (Beziehungsbiografien entstehen). Durch diese zeitliche Verkürzung bzw. Unbestimmtheit erweitert sich das Liebesgeschehen auf ältere und bereits bestehende Paare (die immer wieder abgleichen müssen, ob es noch passt oder ob für den nächsten Lebensabschnitt ein neuer Partner nötig ist). Dadurch erhöht sich auch die Zahl der beteiligten Personen: Kinder und andere Mitglieder von Patchwork-Familien werden unmittelbar relevant für Liebesgeschichten. Den ersten unkonventionellen Fernsehkommissar gab es im westdeutschen Fernsehen auch erst 1981, während die soziologisch beschriebenen Wertwandlungsprozesse bereits in den 1960er Jahren ihren entscheidenden Schub bekamen (vgl. Klages 1984). Ausdruck von Günther Rohrbach, der Filme bezeichnet, die sowohl im Kino als auch im Fernsehen gezeigt werden. Anders als etwa beim Krimi ist bis in die 90er Jahre von Einzelproduktionen auszugehen, was die Wahrnehmung von Liebesstoffen erschwert.
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Mögen die aktuellen Problemlagen für Liebende auch lästig sein, für die Produktion von Liebesfilmen bieten sie eine Fülle von Ausgangspunkten für turbulente Geschichten (und damit auch Potenzial für deren Analyse). Analyse von Liebesgeschichten Folgt man den Ausführungen von Peter Fuchs, so müsste eine ‚richtige‘ (romantische) Liebe auch im Film daran zu erkennen sein, dass die Liebenden ‚anzeigen‘, sich gegenseitig komplett zu akzeptieren, nicht nur einen Teil der Person, sondern alles an ihr. In „Single sucht Nachwuchs“ (NDR, 1997) ist das beispielsweise die nach einem Autounfall bestehende Unfähigkeit der Auserwählten, weitere Kinder zu bekommen (eine Tochter hat sie schon). Das ist deshalb besonders gravierend, weil ihr Liebster einen so starken Kinderwunsch hat, dass er deswegen gerade sein Yupi-Single-Dasein umgekrempelt hatte. Er wollte ein Kind, keine Frau. Nun hat er eine Frau, aber keine Aussicht auf ein Kind. Die Liebe ist letztlich stärker und er akzeptiert ihren ‚Defekt‘. – Selbstredend nicht, ohne am Ende dafür mit Zwillingen belohnt zu werden. Diese Akzeptanz ist ebenso Ausdruck von Höchstrelevanz (die Frau ist nun wichtiger als der Kinderwunsch). Solidarisches Verhalten des Mannes mit seiner Frau und seinem Stiefkind in Abgrenzung zu seiner eigenen Mutter zeigt in diesem Film am Ende sowohl die Komplettakzeptanz als auch die Höchstrelevanz und das „WIR ZWEI/Rest der Welt“ an.13 Es müsste zudem an Aussagen und Verhalten erkennbar sein, dass die Liebenden füreinander auch vollkommen zugänglich sind, indem sie sich immer alles ehrlich sagen. Die Komplettberücksichtigung und –zugänglichkeit müsste sich zudem aus völliger Freiheit heraus ereignen.14 An dem Verdacht, dass hinter dem Zusammentreffen der Protagonisten von einer Seite Kalkül steht, droht beispielsweise im Fernsehfilm „Im Himmel schreibt man Liebe anders“ (ZDF, 2006) eine junge Liebe zu zerbrechen.15 Die angeführten Beispiele zeigen nur, dass sich Anschlüsse an die Aussagen von Peter Fuchs in Filmen finden lassen; welchen Stellenwert diese im fil-
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Das „WIR ZWEI/Rest der Welt“ der Paarbeziehung erweitert sich hier durch das Kind auf Familiengröße, also: ’WIR [die Familie]/Rest der Welt“ (vgl. Fuchs 1999). Wie bei Normen üblich, setzt die Tatsache, dass diese Formvorschriften schwierig einzuhalten sind, sie nicht außer Kraft. Partnersuche via Partnervermittlung etwa dürfte mit diesem Konzept kollidieren; ebenso die Ehrlichkeitsvorschrift. Schwierig gestaltet sich auf Dauer wohl auch die Vorschrift, nichts an dem anderen als unangenehm zu kennzeichnen. Erst als sich herausstellt, dass die Begegnung der beiden Liebenden nicht willentlich herbeigeführt worden ist, kann die Liebe zugelassen und gelebt werden.
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mischen Geschehen haben und in welcher Form sie sich manifestieren, bedarf selbstredend einer sorgfältigen Analyse. Die Ergebnisse der psychologischen und biologischen Liebesforschung lassen sich wohl am besten auf die Ebene persönlicher Eigenschaften, Einstellungen, Meinungen, Interessen und Vorlieben, also auf die Figuren, deren Verhalten und verbalen Äußerungen beziehen. So entsteht beispielsweise dauerhaftes Glück vor allem durch Ähnlichkeit der Partner: hinsichtlich Intelligenz, Charaktereigenschaft, Interessen etc. In Fernsehfilmen wird allerdings aus dramaturgischen Gründen häufig ein Kontrast aufgebaut. Die Verschiedenartigkeit wird dann aber wahlweise dazu benutzt, zu zeigen, dass ein Paar nicht zusammenpasst oder, im Gegenteil, dass es zusammenpasst. In letzterem Fall muss sich dann allerdings herausstellen, dass die oberflächliche Einschätzung getäuscht hat oder – viel besser! – dass die Liebe zumindest einen der Liebenden grundlegend verändert hat (was bei „Single sucht Nachwuchs“ der Fall ist). Die Indizien für die ‚Richtigkeit‘ bzw. ‚Falschheit‘ können in Liebesfilmen quasi als Prüfkriterien für die Partnerwahl fungieren und sprechen gleichzeitig umfassendere gesellschaftliche Problemzonen an. Sie lassen sich festmachen an Verhalten und Aussagen der Protagonisten, an dramaturgischen und inszenatorischen Aspekten. Emotionale Knotenpunkte lassen sich aus typischen Handlungsbögen herausfiltern. Diese sind durch die klassische Kuss&Schluss-Dramaturgie etabliert und ändern sich im Grunde auch dann nur wenig, wenn es um bereits bestehende Paare geht (vgl. Fußnote 9). Inwieweit die ‚reife‘ Liebe (im Frommschen oder einem anderen Sinne) überhaupt vorkommt, scheint mir eine der spannendsten Fragen zu sein – vor allem im Hinblick auf die ‚Alterung‘ der Liebespaare. Es dürfte aufschlussreich sein, welche Anforderungen an Liebe in der Ehe transportiert werden: Wird die Bindung zentraler Punkt der Darstellung oder wird eher eine Erwartung der ewigen Verliebtheit geschürt – oder gar beides zu erreichen gesucht? Wie auch immer, die mit dem Happy End verbundene Botschaft ist: Die ‚richtige‘ Liebe ermöglicht viel. Sie verändert den Charakter; Partner, die sehr verschieden sind, werden durch die Liebe quasi passend gemacht. Aus Verliebtheit entsteht automatisch Liebe und damit zugewandtes, fürsorgliches und solidarisches Verhalten. Mit den Ergebnissen der Forschung stimmt das nur teilweise überein, die Anforderungen an die Romantische Liebe sind hoch, die Prognose ist nicht eben rosig. Unberührt davon vollbringt die Liebe, wenn sie denn die ‚richtige‘ ist, im Liebesfilm kleinere und größere Wunder.
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Zeitungs-Sucht, Lesewut und Fernsehfieber. Zur Geschichte der kritischen Diskurse über Medien und Emotionen Anne Bartsch
„Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten und wurde zornig“, sagte Marcel Reich-Ranicki (2008a) über die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises, den er aus Ärger über die Qualität des Fernsehprogramms ablehnte und mit diesem Eklat zum „Höhepunkt des Fernsehjahrs“ (Buß, 2008) machte. Die kulturpessimistischen Prognosen von Postman (1985) und anderen Autoren (Horkheimer & Adorno, 1947/1998; Enzensberger, 1997; Winterhoff-Spurk, 2005) scheinen sich damit ein weiteres Mal zu bestätigen. Die Medienaufmerksamkeit, mit der Reich-Ranickis Fernsehschelte aufgenommen wurde, zeigt nicht nur, dass die These von der fortschreitenden Emotionalisierung und Sinnentleerung öffentlicher Diskurse durch das Fernsehen die Gemüter weiterhin zu erregen vermag. Dass Reich-Ranickis Unmutsäußerung zum medialen Großereignis wurde, zeugt gleichzeitig von eben jener Tendenz zur Emotionalisierung, mit der sich das Fernsehen Gefühlsanlässe aller Art einverleibt – und sei es in Form zorniger Fernsehschelte. Kaum ein Bereich des Fernsehprogramms scheint vom Vorwurf der fortschreitenden Emotionalisierung ausgenommen. Inhaltsanalysen zum Anteil von Gewaltdarstellungen am Fernsehprogramm machen deutlich, dass dieser Anteil sowohl in den Nachrichten als auch in Unterhaltungssendungen kontinuierlich zugenommen hat (Winterhoff-Spurk, Unz und Schwab, 2005; Wegener, 2001). Die öffentlich-rechtlichen Sender passen sich dabei nach Winterhoff-Spurk et al. (2005) mit einem Abstand von etwa vier Jahren dem Gewaltlevel der privaten Sender an. Gegenstand der Kritik sind insbesondere Mischformen von Informations- und Unterhaltungsformaten wie Infotainment und Politainment, die journalistische Qualitätskriterien zu Gunsten einer emotionalisierten und personalisierten Berichterstattung aufgeben (Dörner, 2001; Holtz-Bacha, 2004; Wegener, 2001). Die Tendenz zur Emotionalisierung macht selbst vor jahrhundertealten Ritualen und Grundwerten unserer Kultur nicht halt, wie Reinhold Viehoff (2007) am Beispiel der Berichterstattung zur Beerdigung Papst Johannes Paul II zeigt. Als typische Erscheinungsformen des „Affektfernsehens“ gelten außerdem
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Formate wie Daily Talks, Reality- und Casting-Shows, die unprominente Gäste oder B-Prominente mit affektgeladenen Situationen konfrontieren und zur möglichst ungehemmten Zurschaustellung von Gefühlen animieren (Bente & Fromm, 1997; Winterhoff-Spurk, 2005; Plake, 1999). Für Postman (1985) hat diese Tendenz zur Emotionalisierung strukturelle Ursachen. In Anlehnung an McLuhans (1967) These „the medium is the message“ geht er davon aus, dass das Medium Fernsehen grundsätzlich ungeeignet ist, komplexe Informationen und Argumente zu vermitteln. Bildmedien wirken ihm zufolge als oberflächliche ästhetische und emotionale Reize, die nicht nach rationalen Kriterien, sondern lediglich nach ihrem Sensations- und Unterhaltungswert beurteilt werden können. Das Aufkommen des Fernsehens als neues Leitmedium sieht er daher als Rückschritt gegenüber dem Zeitalter der Aufklärung, das durch die Schriftkultur geprägt war und so einen Austausch komplexer Ideen und Argumente ermöglichte. Bleibt uns im Zeitalter der audiovisuellen Medien also nichts Anderes übrig als uns zu Tode zu amüsieren? Ganz so pessimistisch ist nicht einmal Reich-Ranicki. Immerhin fand er, man könne „im ARTE-Programm manchmal sehr schöne und wichtige Sachen sehen“ (Reich-Ranicki, 2008b). Ein Blick in die Geschichte der Medien und der Medienkritik zeigt zudem, dass das Fernsehen nicht das erste Medium ist, dessen Entwicklung von den Zeitgenossen mit Skepsis wahrgenommen wurde und Sorgen in Bezug auf Kulturverfall, Emotionalisierung und geistige Verarmung des Publikums hervorrief. Die Kritik von Horkheimer und Adorno (1947/1998) an der Kulturindustrie, auf die sich Postman (1985) in vieler Hinsicht bezieht, hatte in der „Dialektik der Aufklärung“ noch nicht das Fernsehen zum Gegenstand, sondern vielmehr ein Mediensystem aus Film, Radio und Magazinen. Auch die Printmedien sind über den Vorwurf der Emotionalisierung keineswegs erhaben. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert wurden Streitschriften gegen die Sensationslust der Flugblätter und Zeitungen und die „Neue-Zeitungs-Sucht“ verfasst (Fritsch, 1676; Hartman, 1679). Mit der Lesesuchtdebatte im 18. Jahrhundert rückte später auch die fiktionale Literatur ins Augenmerk der Kritik (Beyer, 1796; Bauer, 1791, Goeze, 1775). Die aktuelle Diskussion über die Emotionalisierung und Sinnentleerung der Medienkommunikation ist somit kein historischer Einzelfall, der sich auf das Fernsehen beschränkt. Eine mediengeschichtliche Perspektive auf Emotionalisierungsprozesse scheint daher hilfreich, um die aktuelle Mediensituation im Kontext ihrer historischen Entwicklung verstehen und einordnen zu können.
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„Unzeitige Neue-Zeitungs-Sucht“ – Sensationen und Schreckensgeschichten in Flugschriften und Zeitungen des 16. und 17. Jahrhunderts Der Sensationsjournalismus ist so alt wie die Geschichte der Printmedien (Dulinski, 2003). Bereits die Flugblätter und Flugschriften, die als erstes Massenmedium gelten, und aus denen sich später die regelmäßig erscheinenden Zeitungen entwickelten, waren voll von Kuriositäten, Sensationen und Schreckensgeschichten (Kirchschlager, 2006). Häufige Themen waren gewaltsame Ereignisse wie Katastrophen, Kriege und spektakuläre Verbrechen. Auch Schauergeschichten über Werwölfe, Hexen- und Teufelsspuk oder Kuriositäten wie Missgeburten und exotische Tiere gehörten zum Themenrepertoire der Flugblätter und später der Zeitungen. Die Flugblätter mussten sich verkaufen und berichteten daher bevorzugt über Themen, die die Neugier und das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums ansprachen. Um den Grusel zu verstärken, wurde im Titel auf den Realitätsgehalt der „wahrhafftigen und erschrecklichen“ Geschichten hingewiesen. Rezipiert wurden Flugblätter und Zeitungen meist in geselliger Runde, bei Hofe, in Klöstern und zunehmend auch in kleinbürgerlichen Kreisen und der Unterschicht, wobei ein Lesekundiger, z. B. Dorfpfarrer, Schulmeister, Wirt oder Krämer, die Blätter vorlas und man anschließend darüber diskutierte (Welke, 1981). Die Popularität des Flugblatt- und Zeitungslesens wurde von den Obrigkeiten des 17. Jahrhunderts mit Besorgnis wahrgenommen. Vor allem gegen Ende des 17. Jahrhunderts häuften sich die Klagen über die „Unzeitige NeueZeitungs-Sucht“ (Hartmann, 1679). Kuriosität und Fürwitz galten als Hauptantrieb der Zeitungsleser, und man fürchtete, die ungefilterte Aneignung von Neuigkeiten und Meinungen durch Privatleute würde die etablierten Autoritäten untergraben. „Was aber Privatpersonen anlangt, so ist ihre allzu große Neugierde auch hierin wie in anderen Dingen überhaupt ein Fehler und verdient gerechten Tadel“, schreibt hierzu Ahasver Fritsch (1676; zit. nach Blühm & Engelsing, 1967:52). Neben der Kritik an Sensationslust und unangemessener Neugierde wurde befürchtet, dass die Darstellung von Verbrechen die Zeitungsleser zur Nachahmung anregen könnte. „Nun ist nicht zu leugnen / daß in den Zeitungen (...) oft von einem verübten Bubenstücke berichtet und die Art und Weise / wie solches angefangen und vollendet sey / so ümständlich beschrieben / daß / wer zu Bösem geneiget / daraus völligen Unterricht haben kann / dergleichen auch vorzunehmen“ (Stieler, 1695/1969: 61).
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„Wahre Abcontrafactur vnd eygentliche Abbildung: Der gantz trawrigen vnd erbärmlichen Mordthat“. Flugblatt aus dem 17. Jh.
Obwohl die Professionalisierung des Zeitungswesens im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Veränderungen mit sich brachte, blieb die Kritik an der Fokussierung des Mediums auf Neugier und Sensationslust bestehen. So nennt Marcel Proust (1919) das Zeitungslesen „jenen greulichen und doch wollüstigen Akt [...], dank dessen alles Unglück und alle Kataklysmen dieser Welt im Verlauf der letzten 24 Stunden, die Schlachten, die 50 000 Männer das Leben kosteten, die Verbrechen, Arbeitsniederlegungen, Bankrotte, Feuersbrünste, Vergiftungen, Selbstmorde, Ehescheidungen, die grausamen Gemütsaufwallungen des Staatsmannes wie des Schauspielers, uns, die wir nicht involviert sind, zur morgendlichen Speise verwandeln, sich auf höchst erregende und stärkende Weise mit dem anempfohlenen Einnehmen einiger Schlucke Milchkaffees verbinden.“ (Proust 1919; zit. nach Bourdieu, 1994: 44).
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„Ungesunde Lesewuth“ und „Werther-Fieber“ – die Lesesuchtdebatte im 18. Jahrhundert Wie die Streitschriften über die Zeitungs-Sucht benutzte auch die Lesesuchtdebatte des 18. Jahrhunderts den Suchtbegriff als Metapher für die Irrationalität und Schädlichkeit eines emotionsbetonten Lektüreverhaltens. Die Emotionalisierungsphänomene, die Gegenstand der Debatten waren, könnten jedoch kaum unterschiedlicher sein. Während sich die Kritik an der Zeitungs-Sucht auf die Neugier und Sensationslust des Publikums bezog, wurden mit der Lesesuchtdebatte des 18. Jahrhunderts die übersteigerte Empfindsamkeit, Sentimentalität und Realitätsflucht der fiktionalen Leserschaft zum Gegenstand der Besorgnis (Kreuzer, 1977; Erning, 1972; König, 1977; Wittmann, 1981). Mit der Literatur des Sturm und Drang entstand in Deutschland eine literarische Kultur, die sich von der Vernunftorientierung der Aufklärung abwandte und auf die Leidenschaften und emotionalen Befindlichkeiten der Figuren fokussierte. Durch die zunehmende Alphabetisierung und die Expansion des Buchmarkts änderten sich zudem die soziale Zusammensetzung des Lesepublikums und das Angebot an Lesestoffen. Frauen und Jugendliche bildeten neue Leserschichten, die zum Erfolg der populären, meist aus dem Französischen übersetzten Literatur und der neuen gefühlsorientierten Literatur in Deutschland beitrugen. Gleichzeitig entstanden neue Lektüreformen, die durch eine leidenschaftliche und emotional-identifikatorische Rezeptionshaltung gekennzeichnet waren. Literarisch verewigt wurde dieser neue Lesertypus von Karl Philipp Moritz (1785) in seinem autobiografischen Roman „Anton Reiser“. Über diesen heißt es: „Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen. [...] Das Bedürfnis zu lesen ging bei ihm Essen und Trinken und Kleidung vor, wie er denn wirklich eines Abends den Ugolino las, nachdem er den ganzen Tag nicht das mindeste genossen hatte, denn seinen Freitisch hatte er über dem Lesen versäumt, und für das Geld, das zum Abendbrot bestimmt war, hatte er sich den Ugolino geliehen, und ein Licht gekauft, bei welchem er in seiner kalten Stube, in eine wollene Decke eingehüllt, die halbe Nacht aufsaß, und die ,Hungerscenen‘ recht lebhaft mit empfinden konnte.“ (Moritz, 1785/1999: 255).
Die neue emotional-identifikatorische Rezeptionshaltung, die hier in ironischüberzeichneter Form beschrieben wird, war vielen Zeitgenossen suspekt. Die fehlende emotionale Distanz gab Anlass zu der Befürchtung, dass die Lesestoffe unreflektiert und „unverdaut“ auf die Leser wirken und deren Charakter und Realitätssinn verderben würden. Als besonders gefährdet galten die Frauen und die Jugend (Kreuzer, 1977; Erning, 1972; König, 1977). Johann Rudolph Gott-
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lieb Beyer (1796/1981) fasst die Gefahren des exzessiven Lesens wie folgt zusammen: „Die meisten Schriften, welche zur Modelektüre gehören, geben der Sinnlichkeit, der Weichlichkeit, der falschen Empfindsamkeit, und den thierischen Trieben eine so reichliche Nahrung, daß es gar nicht zu verwundern ist, wenn unsre Jünglinge und Mädchen, Herren und Dames so tändelnde, empfindelnde, weichliche, wollüstige und sinnliche Geschöpfe sind, welche zu Romanhelden, Liebesrittern, Theaterprinzessinnen und galanten Konversationen besser zu gebrauchen sind, als zu ernsthaften Geschäften und solchen Verrichtungen, welche Energie, Stätigkeit, Geduld, Anstrengung und Ausharrung erfordern.“ (Beyer, 1796/1981).
Neben schädlichen Auswirkungen auf den Charakter wurde das Lesen auch als Gefahr für die körperliche Gesundheit gesehen, insbesondere bei Frauen. „Hypochondrie [...] Stockungen und Verderbniß im Blute, reitzende Schärfung und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper“ gehörten nach Karl Georg Bauer (1791: 190) zu den Folgeerscheinungen exzessiver Lektüre. Ihren Höhepunkt erreichte die Lesesuchtdebatte mit dem Erscheinen von Johann Wolfgang Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ (Goethe, 1774/2001), der bei der jugendlichen Leserschaft ein regelrechtes „WertherFieber“ auslöste. Es wurde sogar über eine Epidemie von Nachahmer-Suiziden berichtet (Andree, 2006). Obwohl die tatsächliche Anzahl der Selbstmordfälle mit Bezug zu Werther vermutlich geringer war als in der Debatte behauptet, wurde das „Werther-Fieber“ von vielen Zeitgenossen als Inbegriff der schädlichen Lektürewirkung verstanden. Der Theologe Johann Melchior Goeze (1775/1970) sah den Werther als „einen Roman, welcher keinen andern Zweck hat, als das Schändliche von dem Selbstmorde eines jungen Witzlings [...] abzuwischen, und diese schwarze That als eine Handlung des Heroismus vorzuspiegeln, einen Roman, der von unsern jungen Leuten nicht gelesen sondern verschlungen wird [...] Welcher Jüngling kann eine solche verfluchungswürdige Schrift lesen, ohne ein Pestgeschwür davon in seiner Seele zurück zu behalten, welches gewis zu seiner Zeit aufbrechen wird. Und keine Censur hindert den Druck solcher Lockspeisen des Satans?“ Goeze (1775/1970).
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Abbildung 2:
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Wilhelm Amberg „Vorlesung aus Goethes Werther“ 1870 Alte Nationalgalerie Berlin
Die Lesesuchtdebatte setzte damit im Diskurs über die Emotionalisierung der Medien neue Akzente. Das Hauptaugenmerk der Kritik richtete sich nun auf übertriebene Sentimentalität, Realitätsflucht und die unsittliche Fokussierung auf Liebesangelegenheiten. Die exzessive Beschäftigung mit Liebesbeziehungen, Identitätskrisen und den dadurch ausgelösten Gefühlen bis hin zu Weltschmerz und Selbstmordgedanken erregten bei den Lesesucht-Kritikern am meisten Besorgnis. „Wir amüsieren uns zu Tode“ – Die Kritik an der Entfremdung und Kommerzialisierung der Unterhaltungsmedien im 20. Jahrhundert Mit der sprunghaften Entwicklung neuer Medientechnologien im 19. und 20. Jahrhundert entstand eine Vielfalt neuer Angebotsformen und Inhalte, insbesondere auf dem Gebiet der audiovisuellen Medien, deren Entwicklung teils euphorisch, teils kritisch aufgenommen wurde. Ein prominenter Bereich der Medien-
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kritik im 20. Jahrhundert, der den Diskurs über die Emotionalisierung der Medienkommunikation nachhaltig beeinflusste, war die Kritik an der „Kulturindustrie“ und den durch sie geprägten Medien wie Film, Rundfunk und Fernsehen (Horkheimer & Adorno, 1947/1998; Benjamin, 1963; Kracauer, 1973; Postman, 1985). Hintergrund dieser Debatte waren Medienentwicklungen, die eine nahezu unbegrenzte Reproduzierbarkeit nicht nur von Texten, sondern auch von Fotografien, Tönen und Bewegtbildern ermöglichten. Neue Inhalte wurden dadurch für ein Massenpublikum zugänglich, insbesondere die auf sinnliche und emotionale Erfahrung ausgerichteten Inhalte des Showbusiness konnten effektiver vermarktet werden. Die neuen Unterhaltungsmedien suggerierten eine Unmittelbarkeit und sinnliche Nähe des Publikums zu den Interpreten, die mit dem Starkult um Sänger und Schauspieler neue Wunsch- und Identifikationspotenziale schuf. Medien- und Kulturkritiker sahen in dieser Entwicklung eine einseitige Lust- und Profitorientierung, die gerade wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber politischen und ideologischen Inhalten als gefährlich galt. Hauptauslöser der Kritik an den neuen Unterhaltungsmedien war ihre Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Kritik als solche war jedoch umfassender und bezog sich auf die Kommerzialisierung der Medienkultur und ihre Warenästhetik, die als Voraussetzung für die Inanspruchnahme durch die nationalsozialistische Propaganda gesehen wurde. Dabei ging es vor allem um subtile Formen der Beeinflussung, die im scheinbar harmlosen und unpolitischen Modus der Unterhaltung daherkamen. In der Dialektik der Aufklärung schreiben Horkheimer und Adorno (1947/1998) über die Kulturindustrie: „Die ursprüngliche Affinität aber von Geschäft und Amusement zeigt sich in dessen eigenem Sinn: der Apologie der Gesellschaft. Vergnügt sein heißt Einverstanden sein. […] Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat.“ (Horkheimer & Adorno, 1947/1998: 153)
Die Warenästhetik der Kulturindustrie bedingt nach Horkheimer und Adorno eine passive und entfremdete Konsumhaltung auf Seiten des Zuschauers, die ihn im Modus der Unterhaltung zum Komplizen und Mitläufer des politischen Status Quo werden lässt. Die gleiche entfremdete und genussorientierte Rezeptionshaltung ermöglichte es nach Benjamin (1963/1980), dass die „Ästhetisierung der Politik“ in NS-Propagandafilmen und Wochenschauen ihre Wirkung entfalten konnte.
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„Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. So steht es mit der Ästhetisierung der Politik, die der Faschismus betreibt.“ (Benjamin, 1963/1980: 469).
Durch die Verstrickungen der Unterhaltungsindustrie im Nationalsozialismus hatten Amüsement und Unterhaltung spätestens nach dem 2. Weltkrieg für viele Kritiker den Anschein des harmlosen Vergnügens verloren. Dem amüsierfreudigen Publikum wurde eine generelle Mitverantwortung für gesellschaftliche Missstände zugeschrieben. Neil Postman (1985) geht später aus einer ähnlichen Perspektive mit neueren Entwicklungen der Unterhaltungsmedien ins Gericht, wenn er die TV-Nation USA mit Aldous Huxleys (1932) „schöner neuer Welt“ vergleicht – einer Welt, in der Unterdrückung nicht mehr auf Angst und Schrecken beruht, sondern auf der manipulativen und betäubenden Wirkung positiver Gefühle (Postman, 1985: 7-8). Auch wenn sich die Medienkritik im 20. Jahrhundert keineswegs in der Auseinandersetzung mit der Unterhaltungsindustrie erschöpft, beleuchtet diese Debatte eine wichtige Akzentverschiebung im Diskurs über Medien und Emotionen. Während die Emotionalisierung des Publikums in den Debatten über Leseund Zeitungssucht vor allem als Gefahr für Moral, Autoritätsgläubigkeit und soziale Harmonie gesehen wurde, tritt hier die Problematik der politischen Gleichgültigkeit und Überangepasstheit des amüsierfreudigen Publikums in den Vordergrund. Fazit Bereits ein kurzer Ausflug in die Geschichte der Emotionalisierungsdebatten verdeutlicht die Bandbreite emotionaler Medienphänomene, die Anlass zu kulturpessimistischen Befürchtungen gaben. Kaum ein Medium und kaum ein Bereich der menschlichen Emotionalität scheinen von der Kritik der Emotionalisierungsdebatten ausgenommen. Im 17. Jahrhundert waren es die Zeitungen, die Nachrichten über Gewaltereignisse und Sensationen verbreiteten und damit beim Publikum Neugier, Grusel und Sensationslust nährten. Im 18. Jahrhundert rückte die fiktionale Lektüre und mit ihr das weltfremde Schwelgen in Empfindsamkeit, Sehnsucht und Liebesschmerz ins Augenmerk der Kritik. Im 20. Jahrhundert traten vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus die Schattenseiten der neuen Unterhaltungsmedien, insbesondere der audiovisuellen Medien Film und Fernsehen hervor. Unterhaltung verlor den Anschein des harmlosen unpolitischen Vergnügens und wurde als Ausdruck einer entfremdeten und affirmativen Konsumhaltung gesehen. Die Kritik an der Emotionalisierung der Medien bezieht sich somit nicht allein auf die zerstörerischen Potenziale negativer Emo-
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tionen, die die soziale Harmonie gefährden und im Extremfall zur Nachahmung von Gewalttaten oder zum Selbstmord anregen können. Glaubt man den Kulturkritikern des 20. Jahrhunderts, können Amüsement und Vergnügen nicht weniger tödlich sein. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich Emotionalisierungsphänomene über verschiedene Medien, Gattungen und historische Epochen hinweg als Konstante durch die Geschichte der Medien ziehen – auch wenn sie in den jeweiligen Debatten meist als beispiellose, durch neue Medienentwicklungen ausgelöste Verfallssymptome gesehen wurden. Aus einer weiter gefassten Perspektive ergeben sich jedoch unübersehbare Parallelen. So finden sich Neugier und Sensationslust nicht nur im Zusammenhang mit Printmedien wie Flugschriften und Zeitungen. Sensationsjournalismus war und ist auch im Radio, im Fernsehen und im Internet präsent (Dulinski, 2003). Bei fiktionalen Medien spielt das Motiv der Sensationssuche ebenfalls eine wichtige Rolle, beispielsweise im Zusammenhang mit Kriminalromanen, Thrillern, Action- und Horrorfilmen (Zuckerman, 1994; Winterhoff-Spurk, 2004). Auch die digitalen Medien sprechen Neugier, Nervenkitzel und Sensationslust der Nutzer auf vielfältige Weise an, beispielsweise in Form gewalttätiger Computerspiele, oder in Form von Verschwörungstheorien, die sich im Internet großer Beliebtheit erfreuen. Ähnliche Kontinuitäten lassen sich auch in Bezug auf die sentimentale und identifikatorische Rezeptionshaltung beobachten, die in der Lesesuchtdebatte kritisiert wurde. Diese Form der Emotionalisierung setzte sich in der Hoch- und Populärliteratur ebenso fort wie im Theater, in Kinofilmen und in Fernsehserien (Hickethier, 2007). Der Erfolg von Liebesdramen wie Titanic (USA, 1997), die Beliebtheit von Telenovelas und Bollywoodfilmen (Hejl, Kammer & Uhl, 2005) zeigen, dass das Bedürfnis des Publikums nach starken empathischen Gefühlserlebnissen in keiner Weise nachgelassen hat. Dies gilt nicht nur für fiktionale Genres, sondern auch für die empathische Anteilnahme am Schicksal prominenter Persönlichkeiten, wie beispielsweise am Tod von Prinzessin Diana oder Papst Johannes Paul II. Ebenso wenig war und ist die heitere Unterhaltung aus der Medienlandschaft wegzudenken. Komödien und Kurzformen wie Cartoons und Sketche erfreuen sich in fast allen Medien unveränderter Beliebtheit. Musikalische Unterhaltung nimmt speziell im Radio und im Musikfernsehen einen Großteil der Sendezeit ein. Unterhaltungsmedium par excellence ist weiterhin das Fernsehen, das wesentlich vom Kultstatus beliebter Showmaster und Entertainer wie Rudi Carrell, Thomas Gottschalk und Stefan Raab lebt. Neue Formen der Komik haben sich vor allem im Internet durch nutzergenerierte Inhalte wie Podcasts, Samplings, u.Ä. entwickelt.
Zeitungs-Sucht, Lesewut und Fernsehfieber.
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Eine geschichtliche Perspektive auf mediale Emotionalisierungsphänomene legt somit die Schlussfolgerung nahe, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, die sich aus der Entwicklung eines bestimmten Mediums heraus erklären ließen. Es verdichtet sich vielmehr der Eindruck, dass Medien zu allen Zeiten grundlegende Bedürfnisse des Publikums nach Gefühlserlebnissen wie Nervenkitzel, Sentimentalität und Zerstreuung aufgegriffen und diese mit jeweils kulturspezifischen Inhalten gefüllt haben (Hejl, Kammer & Uhl, 2005). Medienpsychologische Untersuchungen zeigen, dass das Erleben von Emotionen mit vielfältigen Gratifikationen auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene verbunden sein kann, die von den Zuschauern als belohnend erlebt werden und selektives Mediennutzungsverhalten motivieren (Bartsch, Mangold, Viehoff & Vorderer, 2006). Ein Rückgang emotionsbetonter Medieninhalte und Rezeptionsweisen wird daher auch in Zukunft nicht zu erwarten sein. Die Kontinuität von Emotionalisierungsphänomenen in der Mediengeschichte sollte allerdings nicht zu einer allgemeinen Relativierung medienkritischer Diskurse Anlass geben. Emotionalisierungsprozesse pauschal zu verharmlosen ist ebenso unangemessen wie sie pauschal zu verurteilen. Um emotionale Medienphänomene differenziert beurteilen zu können, müssen Medien und Inhalte im jeweiligen historischen und sozialen Kontext betrachtet werden. Das Ergebnis der Beurteilung ist nicht zuletzt eine Frage der gesellschaftlichen Werte und Idealvorstellungen, die dabei herangezogen werden. Auch wenn die Debatten über Medien und Emotionen im Rückspiegel der Geschichte nicht selten überzogen und ihrerseits emotionalisiert erscheinen, haben sie wichtige gesellschaftliche Funktionen: sie zwingen die Öffentlichkeit, den Status Quo ihrer medialen Emotionskultur zu überdenken und deren Wertmaßstäbe neu zu definieren. Der Zustand unserer Medienkultur ist zweifellos reif für die nächste Generation von Emotionalisierungsdebatten. Nach der Zeitungs-, Lese- und Fernsehsucht stehen mit Stichwörtern wie „Computerspiel-Sucht“, „Handy-Sucht“ und „Internetabhängigkeit“ die Emotionspotenziale der digitalen und interaktiven Medien auf der Agenda. Literatur Andree, Martin (2006): Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt, München: Fink. Barkow, Jerome H./Hejl, Peter M. (2006): You can’t turn it off. Media, Mind, and Evolution, New York/Oxford: OUP. Barton, Walter (Hrsg.) (1999): Ahasver Fritsch und seine Streitschrift gegen die ZeitungsSucht seiner Zeit. Die lateinische Originalausgabe (Jena 1676) mit Übersetzung,
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IV.
Technikgeschichte der Medien
Eine technische Tour de Force. Thomas A. Edison und seine Mitarbeiter Klaus Kreimeier
Eine Geschichte der Wahrnehmung in der industriellen Moderne wäre ohne Thomas A. Edison und seine Mitarbeiter undenkbar. Nicht zuletzt Produzenten und Kameraleuten wie James White, James Blair Smith und William Heise ist es zuzuschreiben, dass der Allround-Unternehmer Edison auch als einer der ‚Erfinder‘ des Films in die Technik- und Kulturgeschichte eingegangen ist. Noch 1888 konzentrierte er sich mit seinem Partner William Kennedy Laurie Dickson auf die Weiterentwicklung des Phonographen, einer walzenförmigen Vorrichtung zur Speicherung und Wiedergabe von Tönen. Erst die ‚Chronofotografien‘ von Eadweard Muybridge, die Tiere in Bewegung zeigten, und die Begegnung mit dem belgischen Forscher Jules-Etienne Marey auf der Pariser Weltausstellung 1889 brachten ihn auf die Idee, „to do for the eye what the phonograph does for the ear“, und für die Reproduktion optischer Signale den von George Eastman entwickelten (sehr bald perforierten) Zelluloidstreifen zu verwenden. Um 1890 konstruierten Edison und Dickson den Kinematographen für die Aufnahme und das guckkastenähnliche Betrachtungsgerät Kinetoskop für die Wiedergabe bewegter fotografischer Bilder. Im Bemühen, Bild und Ton für den Betrachter zu koordinieren, erfanden sie eine Peep-Show-Konstruktion, die bereits auf der Idee einer mechanischen Synchronisation optischer und akustischer Signale basierte: „An exhibition cabinet had to be constructed to hold the phonograph and the motion picture film, with mechanism to operate them simultaneously, so that the auditor-spectator at the peep-hole could see the movies and hear the music at the same time.” (Hampton 1970: 7) Edison selbst hatte sein Interesse zu dieser Zeit bereits anderen Erfindungen zugewandt. Er hatte das erste technikgestützte audiovisuelle Laboratorium der Kulturgeschichte geschaffen, aber er sah offenbar nicht die Marktchancen, die sich hier erschlossen und bald von geschäftstüchtigen Schaustellern mit der Gründung der ersten penny arcades wahrgenommen wurden. Die Patentierung seines Kinetoskops außerhalb der Vereinigten Staaten versäumte er, sodass europäische Unternehmer alle Freiheiten hatten, sein Gerät nachzubauen oder für eigene Erfindungen zu nutzen. Edisons Kamera war mit dem Erfolg des Cinéma-
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Klaus Kreimeier
tographe der Brüder Louis Jean und Auguste Marie Louis Lumière, einer Kombination von Aufnahmekamera und Projektor, definitiv überholt, und nach der ersten öffentlichen und kommerziellen Filmprojektion der Lumières am 28. Dezember 1895 in Paris war auch erwiesen, dass der Projektionsort für Bewegungsbilder nicht der Guckkasten, sondern die Kinoleinwand sein würde. Schon 1893 hatte William K. L. Dickson für Edison das erste Filmstudio eingerichtet, die Black Maria in New Jersey: Kinematographisches Labor und Produktionsstätte in einem, Hexenküche früher Movies und magischer schwarzer Kasten für ingeniöse Einfälle. Die zahlreichen kurzen Filme, die von 1893 bis 1895 entstanden – meist mit Boxern, wahlweise spanischen, ägyptischen oder chinesischen Tänzerinnen, Pantomimen, Vaudeville-Komikern, Cowboys, Zirkusakrobaten, aber auch Derwischtänzern und Sioux-Indianern aus Buffalo Bills Wild West Show – wurden ausnahmslos von Dickson und William Heise gedreht, darunter der erste, der in den 1890er Jahren so populären Feuerwehrfilme: Fire Rescue Scene (1894), eine im Studio mit allem erdenklichen Aufwand inszenierte Löschaktion. (Musser (o.J.)) 1896 kam James White hinzu, der mit Heise vorwiegend ‚outdoor‘ drehte: Filme über die Niagarafälle, Pferdeschlittenrennen in Pennsylvania oder den Rettungsdienst an der pazifischen Küste bei San Francisco. Im Herbst 1900 schließlich engagierte Edison den Kameramann Edwin S. Porter, der sein neues Studio in New York City für Innenaufnahmen technisch ausrüstete, zum Studiochef avancierte und das Repertoire mit seinen „story films“, Streifen mit Spielhandlung und vergleichsweise elaborierter Montage, erweiterte. Porters Produktionen Life of an American Fireman (1902/03), Uncle Tom's Cabin (1903) und der ‚Western‘ The Great Train Robbery (1903), der erste Blockbuster der USamerikanischen Filmgeschichte, wurden berühmt und in der Filmgeschichtsschreibung immer wieder gewürdigt.1 Gleichzeitig entwickeln Edisons Kameraleute, aber auch die anderer amerikanischer Produktionsgesellschaften, verblüffende Ideen im Bemühen, die Kamera in Bewegung zu setzen und ihr ungewöhnliche Perspektiven zu entlocken. Fünfundzwanzig Jahre bevor er als Spezialgerät in den Filmstudios und auf den Außensets Verwendung findet,2 wird das Prinzip des Krans getestet. Für seinen Streifen Panorama view street car motor room (American Mutoscope and Biograph Company, 1904) montiert G. W. ‚Billy‘ Bitzer, der Jahre später als Kameramann für David Wark Griffith berühmt werden wird, seine Kamera auf eine 1 2
Vgl. z. B. für den deutschen Sprachraum die ausführliche Analyse von Life of an American Fireman bei Joachim Paech : 1988, 17-24, die auch das Problem der alternierenden oder Parallelmontage vor Griffith behandelt. Dazu auch: Thomas Elsaesser (2002): 79f. Der erste Kran wurde 1929 in dem Film Broadway eingesetzt (Regie: Paul Fejos) eingesetzt. Wulff (o.J.)
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Vorrichtung, an der sie in der Werkhalle einer Motorenfabrik etwa auf halber Höhe in gleich bleibendem Tempo über Maschinen, Arbeiter und Produktionsvorgänge gleitet. Eine mobile ‚Aufsicht‘ auf den Fabrikalltag als Travelling – einige Arbeiter reagierten mit ihren Blicken auf den Blick der Kamera, argwöhnten in ihr vermutlich eine Kontrollinstanz. Der Kontrollblick ist dem Medium von Beginn an inhärent. Lower Broadway wurde im Mai 1902 von Robert K. Bonine für die American Mutoscope gedreht: Aus einer leicht erhöhten Position beobachtet die Kamera das Treiben am Broadway nahe der Kreuzung Wall Street, vor der Trinity Church – Straßenbahnen, Kutschen, Pferdefuhrwerke, Menschenströme. Kameraposition und Bildausschnitt sind präzise kalkuliert: Sie ermöglichen den ‚langen Blick‘ auf die Schneise, die der Broadway zwischen die Hochhauskomplexe Manhattans legt und in der sich dichter Verkehr in nördliche Richtung bewegt, aber sie erfassen auch das quirlige Treiben im Vordergrund an der Kreuzung und die kleinen Störungen, die entstehen, wenn sich Fahrzeuge und Passanten quer zum Verkehrsstrom ihren Weg zu bahnen versuchen. Für einen heutigen Betrachter sieht der Streifen wie ein modernes Überwachungsvideo aus. ‚Sehen‘ und ‚Überwachen‘ – das scheint auch das Leitmotiv des Films New York City „Ghetto“ Fish Market von 1903, den James Blair Smith für die Edison Company gedreht hat. Er gehört zu einer Serie von Aktualitäten, die Smith gemeinsam mit Porter produzierte, um „the other half of city life“ einzufangen. (Musser 1994: 347) Der Standort ist vermutlich Nähe Hester Street, Lower Eastside, um die Wende zum 20. Jahrhundert das wichtigste Handelszentrum des jüdischen Ghettos von New York.3 Aus erhöhter Position blickt die Kamera auf das Menschengewimmel des Markts, auf Verkaufsstände und Sonnenschirme, Kisten und Karren, Händler und Kunden, Flaneure und neugierige Müßiggänger. Von Beginn an hat sie einen engen Ausschnitt gewählt, die gesamte Ausdehnung des Markts gerät nicht in den Blick. Die Fokussierung suggeriert: An diesem Ort, in diesem Sichtfeld könnte etwas passieren! Es ‚passiert‘ nichts, umso lebhafter ist die Aktivität der Kamera. Nach etwa einer Minute des (bei 15 Bildfeldern pro Sek.) knapp dreiminütigen Films verengt sich der Ausschnitt, als konzentriere sich die Kamera auf einen bestimmten Punkt. Gleichzeitig setzt sie zu einem Linksschwenk an, wandert zum nächsten Verkaufsstand, folgt drei Herren (darunter ein Uniformierter), die langsam an den Ständen vorbeischlendern und die Waren inspizieren – vermutlich Beamte des Gesundheitsdezernats. In diesen drei Akteuren wird der Kontrollblick, die „Sichtweise“ des technischen Apparats, zu einem Moment des filmischen Geschehens selbst: Überwachung fungiert gleichzeitig als Modus und Gegenstand des Sehvorgangs. Der komplexen Struktur 3
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entspricht die Mobilität der Kamera: Während sie ihren Schwenk fortsetzt, dreht sich, zunächst kaum merklich, die Perspektive. Zog sich zu Beginn die Reihe der Marktstände diagonal von links unten nach rechts oben durch das Bild, so ist am Ende die spiegelbildliche Umkehrung – von rechts unten nach links oben – zu sehen. Die Kamera hat somit eine Drehung der Blickachse um 90 Grad vollzogen. (Kameraschwenks sind in den ‚Aktualitäten‘, also den nicht-fiktionalen Filmen, etwa seit 1900 geläufig, (Salt 1992: 46) doch in der Kombination mit perspektivischen Veränderungen noch äußerst ungewöhnlich.) Auch Edwin S. Porter hat mit seinen weniger bekannten ‚non-fictionals‘ das Spektrum des kinematographischen Sehens bereichert. Die Hinrichtung eines Elefanten mit elektrischen Stromstößen, gedreht vor 1500 Zuschauern im Luna Park von Coney Island (Electrocuting an Elephant, 1903), ging eher als schockierende Kuriosität in die Filmgeschichte ein. Der Streifen Pan-American Exposition by Night hingegen, den Porter im Oktober 1901 mit James Blair Smith produzierte, war auch eine kinematographische Sensation – und ein optisches Kabinettstück, das Edisons Katalog mit besonderem Stolz der Öffentlichkeit als exzellentes Panorama-Spektakel präsentierte. Das Panorama als prä-kinematographische Attraktion und Medium der Populärkultur hatte schon Ende des 18. Jahrhunderts von England aus den europäischen Kontinent und bald auch die USA erobert. (Oettermann 1980) Etliche Kameraleute testeten mehr als hundert Jahre später die Effekte des „RundumPanoramas“ im neuen Laufbildmedium. Porter ging einen Schritt weiter, indem er eine Tag- und eine Nachtaufnahme zu einem Zeitraffer-Effekt kombinierte. Der Film, 51 Sekunden lang, beginnt mit einem langsamen Panoramaschwenk über die exotisch anmutenden Prachtbauten der Panamerikanischen Ausstellung in Buffalo, N.Y. Edisons Katalog beschreibt genau den Ablauf und die von Porter vorgenommenen technischen Kunstgriffe: „Alle Gebäude, vom Tempel der Musik bis zum Elektrischen Turm, sind zu sehen. Die Emotionen und die Sinne werden dadurch angesprochen, dass die panoramatische Aufnahme bei Tageslicht einsetzte und der Film weiterlief, bis der Elektrische Turm das Zentrum des Blickfeldes bildete. Dann wurde die Kamera angehalten und die Position bis zum Anbruch der Nacht fixiert, um das Aufflammen der Lichter einzufangen – ein Ereignis, das von allen als emotionaler Höhepunkt der Ausstellung empfunden wurde. Sobald die Lichter ihre volle Stärke erreichten, wurde die Kamera erneut in Bewegung gesetzt, zu einem Schwenk zurück bis zum Tempel der Musik. Danach vollführte die Kamera noch einmal die umgekehrte Bewegung, um als Höhepunkt des Films auf dem Elektrischen Turm zu verharren. Die mächtigen
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Scheinwerfer des Turms waren während der gesamten Dreharbeiten in Aktion und verstärkten den Überraschungseffekt.“4 Die Überraschung dieses Films besteht darin, dass der Übergang von Tag zu Nacht nicht – wie schon in den prä-kinematographischen Medien (Panorama, Laterna magica) üblich und seit 1899 von Georges Méliès auch im Film erprobt – mit Hilfe von ‚fließenden‘ Überblendungseffekten suggeriert wird. Der Tag/Nacht-Wechsel überrumpelt den Betrachter als Filmschnitt, und es ist nicht das natürliche Dunkel, sondern das Bild der elektrifizierten Nacht, das ihn gleichsam als Schock ereilt. Charles Musser nennt Porters Film „a technical tour de force“, und er beschreibt die Machination, die hier zur Anwendung kam: „Only a new and highly sophisticated panning mechanism made this film possible. The time change was modeled on a popular stereopticon convention – dayto-night dissolving views.“ (Musser 1994: 317 ff.) In diesem „one shot“-Film erzählt Porter nicht – er zeigt etwas, er stellt etwas zur Schau. Was er uns zeigen will, ist nichts Geringeres als eine Sensation. Letztlich ist es das Phänomen der Elektrizität selbst, die Attraktion der zeitgenössischen Weltausstellungen, die Porter mit einem einfachen, aber ingeniösen filmischen Trick präsentiert – nicht um die Realität nachzuahmen, sondern um eine aktuelle technische Errungenschaft ekstatisch zu zelebrieren. Pan-American Exposition by Night ist ein Experimentalfilm ‚avant la lettre‘: Ein Film, der nicht nur das aktuell verfügbare technische Instrumentarium, sondern neue visuelle Erfahrungen ausprobiert. Im Herbst 1903 entstand, als Produktion der Thomas A. Edinson Inc. und gedreht von Porter, der dreiteilige, insgesamt zwölf Minuten lange Film Rube and Mandy at Coney Island. Rube und Mandy sind ein naives junges Paar vom Land, das sich im Luna Park von Coney Island amüsieren will und ziemlich unvermittelt mit den neuesten Attraktionen der Vergnügungsindustrie konfrontiert wird. Die Halbinsel Coney Island, im äußersten Süden von Long Island, ursprünglich ein Eldorado für Pferderennen, hatte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem ausgedehnten Freizeitpark für die Mittelschichten, zunehmend aber auch für ein weniger zahlungskräftiges Publikum entwickelt. Rube und Mandy repräsentieren den Sozialtypus des unbedarften Provinzlers, der sich der scheinbar grenzenlosen Angebotsfülle der ‚Moderne‘ gegenübersieht und angesichts der Vielzahl verführerischer Optionen buchstäblich ins Stolpern gerät – ein Muster, das sehr bald zum international erfolgreichen Topos zahlloser Großstadt-Grotesken in der Kinematographie vor 1914 werden wird und den urbanisierten Massen der Industrieländer einen Weg anbietet, sich ironisch mit den neuen Lebenswirklichkeiten auseinanderzusetzen. Hier ist es ein hoch kommerzialisierter Vergnügungspark mit seinen Sensationen, der seine einfältigen Besu4
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cher in Staunen versetzt und ihre Aufnahmekapazitäten am Ende überfordert. Da zahlreiche Kulissen dieser bizarren Amüsierszene aus den Restbeständen der großen Weltausstellungen zusammengesetzt wurden, stellt sich der Luna Park von Coney Island in der Tat als eine Schnittstelle und Großmontage der Moderne dar, und eben dieser Aspekt hatte Porter, als Regisseur und Kameramann, wohl besonders interessiert. Dramaturgisch folgt der Film einem vertrauten seriellen Prinzip: Jener publikumswirksamen Abfolge ‚komischer Nummern‘, die sich seit Langem im Varieté wie auch im Vaudeville bewährt hat. Wie diese populären Theaterformen ist auch der Jahrmarkt, als Präsentationsstätte früher Filme, ein Geburtshelfer der Kinematographie. Rube and Mandy at Coney Island bündelt somit die Ursprungslinien, die den Film als Produkt einer vielfältigen, aus unterschiedlichen Quellen gespeisten Mediengeschichte ausweisen, markiert jedoch gleichzeitig das neue Medium als technische und ästhetische Zäsur: Als ein Verfahren, das mit dem traditionellen Material in revolutionärer Weise umgeht. Das Pärchen aus der Provinz bewegt sich mit wechselndem Geschick zwischen Karussells und Achterbahn, absolviert ein Hindernisrennen auf Holzpferden und einen grotesken Hochseilakt, es fährt auf einer Miniatureisenbahn und purzelt über die Rutschbahn, saust mit dem Schnellboot über einen Teich und vertilgt am Ende – in einer Naheinstellung, die den komischen Effekt verstärkt – mit nachgerade obszöner Begeisterung und sich gegenseitig fütternd Frankfurter Würstchen. „Interesting not only for its humorous features, but also for its excellent views of Coney Island and Luna Park” – so preist der Edison-Katalog diesen Film an. (Edison Films Catalog 1903: 16) Doch nicht die simple Addition ‚komischer Nummern‘ und exzellenter Außenaufnahmen, sondern die Integration beider Elemente in einen fließenden Handlungsablauf macht die Qualität dieses Films aus; sie bestimmt seinen Rhythmus und animiert den Betrachter, mit den beiden Protagonisten an einer „Reise“ durch die Turbulenzen eines modernen Freizeitparks teilzunehmen. Charles Musser verweist im Zusammenhang mit diesem Film auf die Usancen der Programmbetreiber um die Jahrhundertwende, z. B. auf ihre Präferenz, („dokumentarische“) Reiseansichten mit kurzen, im Studio gedrehten, komischen Szenen zu kontrastieren, um das zeitgenössische Publikum mit unterhaltsamer Vielfalt zu locken. „Comedy“ und „scenery“ stellen den traditionellen medialen Rahmen, innerhalb dessen Porter neue ästhetische Wege geht – “maintaining a consistent tone from one shot to the next even as he perpetuated this dichotomy within the individual shots”. (Musser 1991: 249) Während die Darsteller von Rube und Mandy, dem Vaudeville entsprechend, in Kostümen und mit exaltierten Gesten agieren, setzt Porter eine vergleichsweise mobile, ‚dokumentarische‘ Kamera ein, um ihren Bewegungen zu folgen und ihre Interaktio-
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nen mit dem szenischen Environment, den unterschiedlichsten Attraktionen des Luna Parks ins Bild zu setzen. Dabei muss er, bis zu einem gewissen Grade ‚improvisieren‘, d.h. wachsam auf Unvorhergesehenes, auf unvermittelte Eingebungen der beiden Komiker gefasst sein und sie in sein Konzept einbeziehen. ‚Aktion‘ und ‚Interaktion‘ bewegen sich mithin auf zwei Ebenen: Die Darsteller interagieren mit den vielfachen Angeboten des Sets, die Kamera re-agiert auf die Willkürlichkeiten ihrer Performance. Es entsteht ein kinematographisches Kontinuum, das sich auf tradierte (vor-kinematographische) Medien und Rezeptionserfahrung stützt, mit der neuen Technik jedoch eine neue sinnliche Dimension erobert. Auch Rube and Mandy at Coney Island erzählt noch keine komplexe Geschichte, der Zeige-Gestus dominiert. Doch das, was uns der Film zu zeigen hat, befindet sich in unablässiger Bewegung – es ist gewissermaßen die vom Kinematographen provozierte Bewegung selbst. Die kleine Halbinsel und ihr exotisches Inventar haben sich als exzellentes Drehset bewährt. Bis zum Ersten Weltkrieg werden auf Coney Island noch annähernd dreißig weitere (überwiegend nicht-fiktionale) Filme entstehen5, und 1912 wird Mack Sennett für die Keystone-Comedy At Coney Island seine Stars Mabel Normand, Ford Sterling und Alice Davenport mit einer Rasanz über das Set jagen, die das Genre der Slapstick-Burleske auf einem Höhepunkt der Kunst und des bis dahin technisch Möglichen präsentiert. Das knappe Jahrzehnt zwischen Porter und Mack Sennett zeichnet sich freilich nicht nur dadurch aus, dass die Filmaufnahmetechnik erheblich verbessert wird und die von ihr abhängigen ästhetischen Standards im Übergang zwischen ‚Zeigen‘ und ‚Erzählen‘ an Komplexität, Raffinesse und narrativer Qualität gewinnen. Erst jener Paradigmenwechsel in der Filmgeschichtsschreibung, der die Aufmerksamkeit von den Filmen (und einer allzu engen Betrachtung der Produktionstechnik) auf die tiefgreifenden Veränderungen im Distributionsbereich gelenkt hat, schärfte den Blick für den umfassenden „Medienwandel“ (Thomas Elsaesser), der sich im Zuge der Etablierung der Kinematographie zwischen 1895 und 1914 vollzogen hat und, berücksichtigt man den kurzen Zeitraum, alle Eigenschaften eines Medienumbruchs aufweist. Vom guckkastenförmigen Kinetoskop zur Leinwand, von den ‘penny arcades‘ zu den großen Kinos, von der Intimität der ‚peep hole‘-Rezeption zum massenmedialen Ereignis, vom dezentralen Gewerbe der Schausteller und Wanderkinematographen zu den zentralisierten Produktions- und Distributionsformen der großen Industrie: Betrachtet man die Frühgeschichte der technisch in Bewegung gesetzten Bilder als einen dynamischen Prozess innerhalb der Wahrnehmungsgeschichte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, so spie5
The Complete Index to World Film since 1895. Film Data Base: http://www.citwf.com/ indexx.asp
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Klaus Kreimeier
gelt sich in ihr die Expansionsgeschichte einer anderen Erfindung wider, die gleichfalls Thomas Alva Edison zu verdanken ist, nämlich die des elektrischen Lichts. Mit dem Unterschied freilich, dass schon die ältere Technik des Gaslichts zentraler Produktions- und Verteilungsstätten bedurfte, wenngleich sie noch eine Erinnerung an die Intimität der Kerzen- und Öllampen barg – diese verschwand endgültig mit dem elektrisch beleuchteten öffentlichen Raum und seinem Angriff auf die Wahrnehmungstraditionen der bürgerlichen Innerlichkeit. Das neue Licht, schreibt Wolfgang Schivelbusch, „kam ähnlich von außen wie das Tageslicht. Es brannte scheinbar mitten im Zimmer in der Lampe, doch sein wirklicher Ursprung lag im Gaswerk und in der elektrischen Zentralstation, in der ‚großen Industrie‘ also, gegen die sich die bürgerliche Psyche ebenso abzudichten suchte wie gegen die Öffentlichkeit. Verschaffte sich mit dem Tageslicht die Öffentlichkeit Zutritt in die Wohnung, so drang mit dem Lichtschein der Gasflamme und der Glühbirne die große Industrie ein.“ (Schivelbusch 1983: 178)
Nicht nur die ökonomische Struktur der Gesellschaft veränderte sich um 1900 mit der „Transformation des liberalen Konkurrenz- in den korporativen Monopolkapitalismus“ (Schivelbusch 1983: 76 f). Die Elektrifizierung, die diesen ökonomischen Prozess „technisch vorweggenommen“ hatte, veränderte auch das Weltbild und das Perzeptionsverhalten des Einzelnen im Verhältnis zum unmittelbaren Lebensumfeld und den vielfach dramatischen Umwälzungen, denen es ausgesetzt war – zunächst in den urbanen Ballungszentren, dann zunehmend auch in der von Urbanisierung und Industrialisierung erfassten ländlichen Provinz. Die Expansion des elektrischen Lichts und die Dynamisierung des Wahrnehmungsfeldes durch das bewegte Bild verabschieden das Zeitalter der bürgerlichen Öffentlichkeit und den Lebensrhythmus der bürgerlichen Intimität. Gleichzeitig läuten sie eine Epoche neuer, von kollektiven Bedürfnissen bestimmter und ökonomisch gesteuerter Öffentlichkeiten ein. Ortsfeste Kinos mit technisch verbesserten Projektoren und professionellem Personal ermöglichen ab etwa 1905 eine exklusive Konzentration auf das Produkt Film – im Gegensatz zum Vaudeville-Programm, das der technischen Neuheit einen Platz unter vielen anderen Attraktionen gewährte. Die Infrastruktur des Kinos begründet einen neuen Markt und neue Rezeptionsweisen, erfordert ein neues Publikum und, im Vergleich zur Wanderkinematographie, eine neue, auf den Ort oder den Stadtteil ausgerichtete ‚Reichweite‘ für das Programm. Den ökonomischen Bedürfnissen der Betreiber und den wachsenden Ansprüchen des Publikums entsprechen die Umstellung auf längere Filme und ein schnellerer Wechsel des Programms; beide wiederum wirken sich auf den Produktionsrhythmus der Hersteller, auf die Produktionstechnik sowie auf die Gestalt und zunehmende Standardisierung der Filme aus. Thomas Elsaesser definiert, im Anschluss an Charles Musser, diese Umbruchphase als eine „Kampfperiode“, in
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deren Verlauf „die textuelle und organisatorische Kontrolle über das Kinoerlebnis von den Schaustellern, den Vaudeville- und Kinobesitzern an einen anderen Teil der Institution Kino, nämlich die Produktion, überging (…)“ (Elsaesser 2002: 114). Zugespitzt formuliert: Der formende Einfluss auf Wahrnehmungsund Verhaltensmodalitäten, auf Denk- und Orientierungsmuster eines rasant wachsenden Massenpublikums verlagert sich: von einer Schaustellerinnung, die ihre Wurzeln in vergangenen Jahrhunderten hat, auf einen industriellen Produktionskomplex. Literatur Edison Films Catalog, No. 185. October Supplement 1903 Elsaesser, Thomas (2002): Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München: Edition text+kritik Hampton, Benjamin B. (1970): History of the American Film Industry from its Beginnings to 1931. New York: Dover Publications Musser, Charles (1991): Before the Nickelodeon. Edwin S. Porter and the Edison Manufacturing Company. Berkeley/Los Angeles/Oxford: University of California Press Musser, Charles (1994): The Emergence of Cinema. The American Screen to 1907. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press Musser, Charles (o.J.): Edison. The Invention of the Movies. http://www.kino.com/ edison/d1.html (Stand 5.5.2009) Oettermann; Stephan (1980): Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/Main: Suhrkamp Paech, Joachim (1988): Literatur und Film. Stuttgart: Metzler Salt, Barry (1929: Film Style and Technology: History and Analysis. Second Edition. London 1992, Starword Schivelbusch, Wolfgang (1983): Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1983: Hanser-Verlag Wulff, Hans J. (o.J): Lexikon der Filmbegriffe, http://lexikon.bender-verlag.de/suche.php. Bender Verlag (Stand 5.5.2009) http://memory.loc.gov/ammem/index.html (Stand 5.5.2009) http://www.kino.com/edison/d1.html (Stand 5.5.2009) The Complete Index to World Film since 1895. Film Data Base: http://www.citwf.com/ indexx.asp (Stand 5.5.2009)
Geplatzte Träume im Äther. Gescheiterte Projekte des DDR-Fernsehens im Wettstreit mit dem Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland Claudia Dittmar
Als das ostdeutsche „Fernsehzentrum Berlin“ am 21. Dezember 1952 – Stalins 73. Geburtstag – erstmals öffentlich mit seinem Programm auf Sendung ging, errang es einen, wie der „Spiegel“ damals spottete, „einsamen Sieg über Westdeutschland“ (o. N. 1953: 30). Dem DDR-Fernsehen war es tatsächlich gelungen, als erstes deutsches Fernsehprogramm einen „Offiziellen Versuchsbetrieb“ aufzunehmen. Ganze vier Tage später, am ersten Weihnachtsfeiertag, begann der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR), regulär Sendungen auszustrahlen. Einsam blieb dieser Triumph im innerdeutschen Fernsehwettstreit vor allem, weil das bundesdeutsche Fernsehen sich zukünftig nicht mehr mit dem zweiten Platz zufrieden gab. Es war bei allen nachfolgenden Entwicklungen schneller als die ostdeutsche Konkurrenz, ging eher zum regelmäßigen Programmbetrieb über, erweiterte als erstes sein Angebot um ein zweites Programm und führte vor dem DDR-Fernsehen das Farbfernsehen ein. Das Angebot von Dritten Programmen machte das westliche Fernsehen seinen Zuschauer dann nicht nur zuerst, sondern auch als einziges deutsches Fernsehen – das DDRFernsehen konnte dieses nie realisieren. Viele Pläne und Hoffnungen, die die SED-Führung auf das wichtigste Massenmedium in ihrem Staat projizierte, erfüllten sich nicht – die wirtschaftliche Überlegenheit des ‚Gegners‘ im Westen setzte dem ersehnten ‚Gleichziehen‘ häufig Grenzen. Aber auch aufgrund der eigenen starren Vorstellungen vom politischen Auftrag und der ideologischen Wirkungsweise des Mediums mussten viele Pläne scheitern, und so häufen sich in der Geschichtsschreibung des DDRFernsehens – quasi randständig neben der Historiographie der realisierten Projekte – die ‚Luftschlösser‘ der ostdeutschen Medienverantwortlichen, die nie verwirklicht wurden. Mit diesen Plänen hatten die Mitarbeiter des DDR-Fernsehens auch immer wieder Anlauf genommen, den Erfolg von 1952 zu wiederholen oder sogar zu
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übertreffen. Schließlich war das als „feindliches Fernsehen“1 wahrgenommene bundesdeutsche Programmangebot die permanente Vergleichsfolie, vor der die Fernsehmacher in der DDR die eigenen Leistungen bewerteten, als quasi ewiger Maßstab des eigenen Erfolgs. Und nicht zuletzt hatte das ostdeutsche Publikum, das bis auf wenige Ausnahmen (wie im sogenannten ‚Tal der Ahnungslosen‘ in der Region um Dresden) die westlichen Sender empfangen konnte, jeden Abend die Möglichkeit, in den ost- und westdeutschen Programmen das attraktivste Angebot auszuwählen. Die damit beschriebene Konkurrenzsituation war der deutsch-deutschen Medienentwicklung von Anfang an inhärent: Schon in der Konzeptions- und Versuchsphase für beide deutsche Fernsehprogramme hatte es einen ‚Wettlauf zwischen Ost und West‘ gegeben. Dieser eher stille Konkurrenzkampf, in dem sich beide Seiten noch zurückhielten, die Entwicklungen im jeweils anderen Sektor öffentlich zu kommentieren, wirkte aber eher als Motor denn als Bremse in der Entwicklung der institutionellen und technischen Grundlagen der Rundfunkmedien. Zugespitzt kann sogar behauptet werden, dass das deutsche Nachkriegsfernsehen sein Entstehen dem Kalten Krieg verdankt (vgl. dazu Hoff 2002b: 63). Beide Seiten hofften darauf, die ‚Nase vorn‘ zu haben und die Fernsehpläne des ‚anderen‘ Deutschlands zu übertrumpfen. Dementsprechend hatte der Erfolg der DDR im Terminwettlauf um den Start des offiziellen Versuchsprogramms die bundesdeutschen Medienakteure unangenehm überrascht. Nachdem sie den für 1953 geplanten Programmstart mit Hilfe zusätzlicher Mittel auf Weihnachten 1952 vorverlegt hatten, waren sie doch nur als zweite deutsche Fernsehstation auf Sendung gegangen: „Der Stachel saß (…) tief, von den Adlershofern überrundet worden zu sein. Eine solche Schlappe durfte den erfolgsverwöhnten Westdeutschen nicht noch einmal passieren, und sie passierte auch nicht noch einmal“ (Dussel 2004: 145). Die nächste ‚Runde‘ im deutsch-deutschen Fernsehwettkampf, der Start des regulären Programmbetriebs, ging eindeutig an den Westen: Das Versuchsstadium endete für das westdeutsche Fernsehprogramm mit der Ablösung des NWDR-Fernsehens durch das gemeinsame ARD-Programm „Deutsches Fernsehen“ bereits am 1. November 1954. Das ostdeutsche Fernsehzentrum Berlin strahlte noch bis zum Jahresende 1955 sein offizielles Versuchsprogramm aus und begann erst am 2. Januar 1956 als „Deutscher Fernsehfunk“ sein reguläres Programm. Aber bereits kurze Zeit später zeichnete sich eine Entwicklung ab, in der Ost und West erstaunlich ähnliche ‚Luftschlösser‘ bauten – die allerdings auf 1
Dieser Begriff stellt erstens einen originalen Terminus der DDR-Fernsehführung dar. Vgl. z. B. Schmotz 1967: 9. Zweitens ist er auch der Titel der Dissertationsschrift der Autorin, vgl. Dittmar 2009.
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beiden Seiten scheiterten: Unter dem identischen Namen „Deutschland-Fernsehen“ wurde sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR ein zweites Programm für die Fernsehzuschauer geplant, das eng mit den Interessen der jeweiligen politischen Führung verknüpft war (vgl. ausführlicher Dittmar 2007). ‚Luftschlösser‘. Das doppelte „Deutschland-Fernsehen“ in der DDR und der Bundesrepublik Im Westen Deutschlands vertrat der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Auffassung über die Rolle der Medien in der jungen Republik, die der der ostdeutschen Führung nicht unähnlich war: Für Adenauer stellten Presse, Hörfunk und Fernsehen nützliche Instrumente dar, die die politischen Positionen der Bundesregierung unter das Volk bringen sollten (vgl. umfassender Steinmetz 1996: 35-83). Er strebte an, diese Vorstellungen in gesetzliche Grundlagen zu überführen und die Rundfunkhoheit der Bundesländer einzuschränken, was zu einem massiver Bund-Länder-Konflikt führte. Die Fernsehfunktionäre im Osten beobachteten die Ambitionen Adenauers mit großer Sorge, mussten sie doch befürchten, gegenüber der westlichen Konkurrenz ins Hintertreffen zu geraten. Ab Februar 1958 lassen sich daraufhin ‚Gedankenspiele‘ der Rundfunk- und Fernsehführung im überlieferten Schriftgut des DDR-Fernsehens nachweisen, die ein zweites – und perspektivisch – ein drittes Programm betrafen (vgl. u. a. o. N. 1958). Im folgenden Jahr schlug der Intendant des DFF, Heinz Adameck, vor, dem Westen mit einem Programm zuvorzukommen – und zwar mit einem ostdeutschen Fernsehprogramm konzipiert speziell für die westdeutschen Zuschauer (vgl. Adameck an Ley 1959). Mit diesem sollten der gesamtdeutsche Auftrag und die Westpropaganda, die der DFF in diesem Jahrzehnt noch sehr ernst nahm, erweitert werden. Im Juni 1959 eskalierte derweil der Streit in der Bundesrepublik. Die Regierungspläne für ein zweites Fernsehprogramm auf bundesstaatlicher Ebene wiesen die Bundesländer zurück und forcierten stattdessen eigene Pläne für einen zweiten Fernsehsender. Daraufhin schwenkte die Bundesregierung auf eine privatwirtschaftliche Lösung um: Sie visierte eine Bundesanstalt mit dem Namen „Deutschland-Fernsehen“ an, die später häufig als „Adenauer-Fernsehen“ bezeichnet wurde. Ohne die Öffentlichkeit zu informieren, beauftragte die Bundesregierung im Dezember 1959 die „Freies Fernsehen GmbH“ mit der Schaffung eines zweiten Fernsehprogramms, das Anfang 1961 auf Sendung gehen sollte. Im ersten Halbjahr 1960 wurden hierfür erste redaktionelle Strukturen geschaffen, Ausstrahlungsrechte erworben und Programm vorproduziert, an dessen Entstehung prominente Redakteure, Journalisten und Regisseure beteiligt waren.
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Der Kanzler war nun entschlossen, Fakten in der Rundfunkfrage zu schaffen. Gemeinsam mit Bundesjustizminister Fritz Schäffer gründete er am 25. Juli 1960 die „Deutschland-Fernsehen GmbH“. Die Öffentlichkeit reagierte entrüstet auf diesen überstürzten Schritt. Der Vorwurf wurde laut, Adenauer hätte sich ein eigenes Fernsehen als Waffe im Wahlkampf geschaffen, der Bundestag wäre entmündigt und das föderalistische System der Bundesrepublik ausgehebelt worden (vgl. Steinmetz 1996: 189-197). Diese Pläne und Entwicklungen hatte die ostdeutsche Seite in der westlichen Presse verfolgt und fürchtete nun, es demnächst sogar mit drei westlichen Fernsehprogrammen zu tun zu bekommen – ARD, ‚Adenauer-Fernsehen‘ und einem weiteren Programm der Bundesländer. Die Abteilung Agitation und Propaganda beschwerte sich sogleich beim Politbüro der SED, dass damit ein deutsch-deutsches „Fernsehverhältnis“ von „3:1“ zu Ungunsten der DDR entstehen würde (Abteilung Agitation und Propaganda 1960: 1). Um das Schreckensszenarium komplett zu machen – und den Druck auf die SED-Führung, die die Pläne bisher nicht wirklich ernst genommen hatte, zu erhöhen – wurde über die Ausrichtung der zwei neuen bundesdeutschen Programme spekuliert: Beide würden zukünftig „bewusst auf die Bürger unseres Staates“ zielen und „ausschließlich Unterhaltung in geschickter Mischung mit politischen Hetzsendungen gegen uns“ (ebd.) senden. Die Schlussfolgerung konnte nach den bisherigen Erfahrungen im innerdeutschen „Fernsehwettstreit“ nur lauten, dem Westen zuvorzukommen: „Die jetzige Lage erfordert von uns sofortiges Handeln!“ (ebd.: 3) Gefordert wurde, umgehend mit den Vorbereitungen zu einem zweiten DDR-Programm zu beginnen, das auf jeden Fall noch vor einem zweiten bundesdeutschen Fernsehprogramm auf Sendung gehen sollte. Im Juli 1960 wurden dementsprechend die ostdeutschen Pläne zu einem „Deutschland-Fernsehen“ in der DDR („Neues Deutschland“) und in der westdeutschen Presse („Frankfurter Rundschau“) angekündigt (vgl. Vollberg 2002: 148 sowie o. N. 1960b und o. N. 1960a). Warum man dafür den gleichen Namen gewählt hatte wie zuvor die Bundesrepublik für ihre geplante neue Bundesanstalt, lässt sich heute leider nicht mehr eruieren. Möglicherweise war dies aber auch Zufall, und der ostdeutsche Name stellte lediglich eine Kurzform des ursprünglichen Namens „Deutschlandsender-Fernsehfunk“ dar (vgl. Adameck an Ley 1959: 2). Auf jeden Fall war damit eine namenstechnische Parallele zum „Deutschlandsender“ (dem DDR-Hörfunkprogramm mit Ausrichtung auf ein westdeutsches Publikum) gegeben, der insgesamt eine Vorbildfunktion für das geplante Fernsehprogramm hatte. Die ostdeutschen Medienverantwortlichen waren 1960 allerdings nicht die einzigen, die aufgrund der Entwicklungen im anderen deutschen Staat zur Eile
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drängten. Nachdem die ostdeutschen Pläne bekannt waren, zeigte sich die konservative westdeutsche Presse von den Entwicklungen in der DDR beunruhigt. Die westliche Presse argumentierte dabei in ähnlicher Weise wie die Abteilung Agitation und Propaganda in der DDR. Auf beiden Seiten wurde versucht, mit der Darstellung der ‚gegnerischen‘ Pläne zum Fernsehausbau Druck auf die Verantwortlichen auszuüben, die eigenen Pläne für ein zweites Programm zu beschleunigen. Im Dezember 1960 verbreiteten die Zeitungen in der Bundesrepublik mit alarmierendem Tonfall, dass der Start des ostdeutschen DeutschlandFernsehens knapp bevorstünde. Dies war eine Falschmeldung, wie die Chronologie der Ereignisse in der DDR belegt: Am 13. September 1960 nahm sich das Politbüro endlich des Problems um das zweite Fernsehprogramm an. Die Fernsehfunktionäre hatten die eigene politische Führung zuvor erneut über die westlichen Aktivitäten informiert: Die Vorbereitungen zum „Start eines klerikal-militaristisch-revanchistischen zweiten Fernsehprogramms“ des „Bonner Regimes“ würden auf ‚Hochtouren‘ laufen, und das Programm würde demnächst „seine wirksamsten ideologischen Schleusen in unsere Republik“ öffnen (Apel/Brook/Egemann 1960: 5-6). Nur ein zweites ostdeutsches Fernsehprogramm hätte demzufolge das Schlimmste verhindern können und wäre gleichzeitig hervorragend geeignet, die aktuellen deutschlandpolitischen Zielstellungen der SED umzusetzen. Nach den zeitgenössischen ostdeutschen Vorstellungen bedeutete dies, Streiks und Protestaktionen beim westdeutschen Publikum zu provozieren (vgl. ebd.). Dahinter stand eine äußerst optimistische Vorstellung von der Wirkungsweise des Fernsehens, die aktives Handeln als direkte Folge der ausgesandten Propaganda ansah. Aber es kam anders: Schon in der Sitzung am 13. September deutete sich das Scheitern des Projektes an. Die Argumentationen der Fernseh- und Rundfunkführung ließen sich im Politbüro nicht durchsetzen. Zwei Wochen später stellte die Parteiführung – in Anwesenheit von Walter Ulbricht – die Einführung des Deutschland-Fernsehens aus wirtschaftlichen Gründen zurück, was angesichts der knappen finanziellen Ressourcen des ostdeutschen Staates einer Ablehnung gleichkam. Für das zweite Programm wären Investitionen in Höhe von 50 Millionen DM, davon 21,5 Millionen „in harter Währung“ nötig gewesen (Staatliche Plankommission 1960: 1). Die einzige Möglichkeit zur Realisierung hätte darin bestanden, die bereits 1960 benötigten fünf Millionen DM in westlicher Währung der Staatsdevisenreserve zu entnehmen, die sich bis Ende 1960 auf 12,7 Millionen DM belief. Diese eiserne Reserve der DDR an westlichen Währungen war aber schon für andere Vorhaben verplant: Es gab einen dringenden volkswirtschaftlichen Bedarf u. a. für die Rohstoffversorgung der Margarineindustrie (vgl. ebd.). Dies war für die DDR-Führung ausschlaggebend, schließlich maß sie der Versorgung
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ihrer Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern eine hohe Bedeutung bei. Zwei Jahre zuvor, auf dem V. Parteitag der SED 1958, hatte Ulbricht als ‚ökonomische Hauptaufgabe‘ das Ziel bekannt gegeben, das bundesdeutsche Niveau des Pro-Kopf-Verbrauchs bei allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern einzuholen und gar zu überholen. Die real existierenden Engpässe in diesen Bereichen versuchte die Staatsführung darum mit allen Mitteln zu kaschieren. Ein Abzug von hierfür dringend benötigten Devisen zugunsten eines zweiten Fernsehprogramms stellte für das Politbüro keine wirkliche Möglichkeit dar. Zugespitzt formuliert heißt das: Vor eine Entscheidung gestellt, war den Genossen die Margarine auf den Broten der DDR-Bürger wichtiger als ein ostdeutsches Fernsehprogramm auf den Bildschirmen der Westdeutschen. Und auch in der Bundesrepublik war der Stern des Deutschland-Fernsehens im Sinken begriffen: Der Fernsehstreit war an das Bundesverfassungsgericht delegiert worden, welches im Sinne der klageführenden Länder entschied und damit sowohl der „Deutschland-Fernsehen GmbH“ als auch der „Freies Fernsehen GmbH“ ein schnelles Ende bereitete. Das erste Fernsehurteil des Gerichtes bekräftigte 1961 die Rundfunkhoheit der Länder: Fernsehen in Deutschland musste demnach öffentlich-rechtlich organisiert und staatsfern sein. Kurze Zeit später wurde die „Deutschland-Fernsehen GmbH“ aufgelöst und für die „Freies Fernsehen GmbH“ begann eine zweieinhalb Jahre dauernde Phase der Liquidation. Erst mit deren Ende war klar, dass die Staatskasse dadurch mit insgesamt 35 Millionen DM belastet worden war (vgl. Steinmetz 1996: 400). Keine Chance für Regionalisierung. Programmausbau und Farbfernsehen Am 17. März 1961 beschlossen die Ministerpräsidenten der Bundesrepublik eine neue, zentralistisch organisierte Fernsehanstalt einzurichten, die ein zweites öffentlich-rechtliches Fernsehprogramm ausstrahlen sollte. Knapp drei Monate später wurde das ZDF per Staatsvertrag gegründet. Es war in gewisser Weise Adenauers „illegitimes Kind“2, denn es verwirklichte nicht nur personell und materiell (in Bezug auf die Übernahme der Sendezentrale in Eschborn und der technischen Ausstattung) einen Teil des Erbes der „Freies Fernsehen GmbH“. Das ZDF strahlte später zudem Teile von dessen vorproduziertem Programm aus. Die Zuschauer in der Bundesrepublik (und in weiten Teilen der DDR) kamen aber schon vor dem Sendestart des ZDF in den Genuss eines bundesweiten 2
Dieses Zitat geht in der Überlieferung von Karl Holzamer auf Adenauer zurück, vgl. Steinmetz 1996: 249.
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Kontrastprogramms zum „Deutschen Fernsehen“ der ARD, auch wenn dieses vorerst noch eng an die Programmstrukturen des ersten Programms angelehnt war. Ab dem 1. Juni 1961 strahlte die ARD für eine knapp zweijährige Übergangszeit ein zweites Programm aus, das am 1. April 1963 vom Programm des ZDF abgelöst wurde. Auf diese Weise waren im Westen schon über Jahre hinweg, trotz aller politischen Unstimmigkeiten, Fakten in Form von Programm und Investitionen geschaffen worden, während man im Osten ein zweites Programm nur in Gedanken formte. Bis 1964 lagen die Pläne für ein zweites Fernsehprogramm in der DDR nämlich auf Eis. Das ZDF war bereits ein Jahr erfolgreich ‚auf Sendung‘ als auch der DFF seine Planungen zu einem zweiten Programm wieder aufnahm. Zunächst wurde noch einmal neu überlegt, welche Ausrichtung das künftige Programm haben sollte. Die Fernsehführung bot der politischen Führung drei verschiedene Varianten an: Zum ersten wurde die Idee eines „Deutschlandfernsehens“ reaktiviert, zweitens die Realisierung eines Kontrastprogramms für die DDR-Bevölkerung diskutiert oder drittens alternativ der vorerst alleinige Ausbau des ersten Programms einschließlich der Ausstrahlung regionaler Programme vorgeschlagen (vgl. o. N. 1964: 12-20). Das erste Konzept – also das Deutschland-Fernsehen – erwies sich dabei endgültig als gescheitert, weil historisch überlebt: Zum einen hatten das ‚Schaufenster‘-Konzept und der ‚Überhol‘-Anspruch gegenüber der Bundesrepublik in der SED-Propaganda an Bedeutung verloren. Die „letzten ‚Aufhol‘-Illusionen“ (Lemke 2001: 421) Ende der 1950er Jahre hatten sich in uneingelöste Versprechungen umgekehrt, die die negative Stimmung in der Bevölkerung noch verschärften. Zwar blieben der Systemwettstreit und die ideologische Konkurrenz beider deutscher Staaten bis zum Ende der DDR erhalten, aber innerhalb des wirtschaftlichen Wettbewerbs herrschten künftig zurückhaltendere Töne vor. Zum anderen hatte sich die ostdeutsche Führung längst vom kurz- oder mittelfristigen Ziel einer Wiederherstellung der deutschen Einheit verabschiedet. Auch wenn offiziell, vor allem auf propagandistischer Ebene, noch eine gesamtdeutsche Auslegung der SED-Politik erhalten blieb, richteten sich in der realen Politik die Bestrebungen vor allem auf eine Anerkennung der DDR und die Stabilisierung im Inneren. Beide Faktoren – das gescheiterte wirtschaftliche Gleichziehen und die veränderte Deutschlandpolitik – waren mit dem Mauerbau 1961 offensichtlich geworden. Die Fernsehführung präferierte in diesem Planungsspiel klar die dritte Variante (Ausbau des ersten Programms inklusive Regionalprogramme), die den Fernsehmachern in Adlershof den meisten Spielraum gegeben hätte. Zunächst sah es auch so aus, als wäre ihnen damit Erfolg beschieden: Die hierarchisch höher angesiedelte Rundfunkleitung entschied im Februar 1964 zugunsten dieser
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Option. Adlershof konnte damit auf eine wirtschaftliche Konsolidierung des Fernsehens hoffen und auf die schon seit langem angestrebte Regionalisierung des Programms (vgl. Hoff 2002a). Schon seit Mitte der 1950er Jahre war es der Wunsch der Fernsehführung gewesen, dass zumindest Teile des DDRFernsehens zukünftig dezentralisiert produziert werden sollten. Beginnend in Leipzig hätten hierfür Studios in verschiedenen Gebieten der DDR entstehen müssen (so in Rostock und Dresden, perspektivisch auch in Erfurt, Magdeburg und Karl-Marx-Stadt). Bisher waren diese Pläne aber an fehlenden wirtschaftlichen Kapazitäten für die notwendigen baulichen, technischen und personellen Investitionen gescheitert. Aber dieser Traum platzte 1964 erneut. Die politische Führung der DDR entschied sich nicht dafür, in Leipzig ein neues Fernseh- und Rundfunkstudio bauen zu lassen und die regionalen Interessen der Zuschauer mit dem DDRFernsehprogramm besser zu bedienen. Der zentralistische Charakter des DDRFernsehens blieb erhalten, lediglich ein – sehr reduziertes – Studio nahm in Halle seine Arbeit auf. Das Ostseestudio Rostock blieb bis 1989 ein Provisorium, die Studios Dresden und Karl-Marx-Stadt wurden nie gebaut, lediglich einzelne Sendungen in öffentlichen Veranstaltungssälen realisiert. Stattdessen setzte sich in den weiteren Planungen zu einem zweiten Fernsehprogramm ab 1965 das oben als zweite Variante diskutierte „Kontrastprogramm“ für die ostdeutschen Zuschauer durch. Ausschlaggebend war dabei die schnelle Entwicklung der Farbfernsehtechnologie, die man unbedingt in einem eigenen Programm verwirklichen wollte, auch um den DDR-Zuschauern eine zweite Alternative zum Westfernsehen zu bieten. Im dritten Sendejahr des ZDF (und damit angesichts von zwei in die DDR einstrahlenden westlichen Programmen) wurden die Forderungen der ostdeutschen Mediengremien erneut lauter, den „Rückstand unseres Fernsehens gegenüber dem Westen“ (Norden 1965: 2) nicht zu groß werden zu lassen. Das Präsidium des Ministerrats schloss sich 1966 dieser Argumentation an und ordnete den Sendebeginn des zweiten DDR-Fernsehprogramms im Jahr 1973 an. Ein Jahr später entschied sich das Gremium für eine vorfristige Realisierung, die ebenfalls mit den Aktivitäten des Gegners begründet wurde – schließlich hatte die Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, Sendungen in Farbe auszustrahlen (vgl. Vollberg 2002: 155-156). Auf Beschluss des ZK-Politbüros wurde der Sendestart auf den 20. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1969 festgelegt, und tatsächlich ging das zweite Programm bereits am 3. Oktober auf Sendung. Mit der Planung und Einführung des zweiten DFF-Programms ging die Entscheidung für das französische Farbfernsehsystem SECAM einher. Hier schloss sich die DDR-Regierung dem von der Sowjetunion gewählten System an, auch
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wenn dies zukünftig bedeutete, dass beide deutsche Staaten unterschiedliche Normen verwendeten. An dieser Stelle wird deutlich, inwieweit sich die Prioritäten der politischen Führung innerhalb von zehn Jahren änderten: Hatte man noch 1959 erwogen, für das bundesdeutsche Publikum ein komplettes zweites Fernsehprogramm einzuführen, war diese Zielgruppe 1969 überhaupt nicht mehr relevant. Die DDR begann mit einem zweiten Programm aus Sorge um die eigenen Zuschauer, damit sich das DDR-Fernsehen mit zwei parallelen Programmangeboten besser gegen die einstrahlenden westlichen Sender positionieren konnte. Dass zumindest die Farbtechnologie inkompatibel war, störte die Entscheidungsträger dabei wenig: Die Zuschauer in der DDR konnten mit den dort verkauften Geräten das Westprogramm nur schwarz-weiß empfangen. Die politische Führung konnte so hoffen, dass das Westprogramm an Attraktivität für die Ostzuschauer verlor. Gleichzeitig konnten die Westzuschauer das Ostprogramm ebenfalls nur ‚farblos‘ verfolgen, aber dieses Manko wurde nicht mehr als wichtig erachtet. Die potentiellen Zuschauer des DDR-Fernsehens in der Bundesrepublik waren mittlerweile eher ein willkommenes ‚Abfallprodukt‘ der eigenen Technologie, die über die DDR hinausstrahlte, entscheidungsrelevant waren sie nicht mehr. Dies änderte nichts an der Tatsache, dass man das Westfernsehen als Konkurrenten betrachtete, der im Kampf um die ostdeutschen Zuschauer sehr gute Karten hatte. Also nutzte das DDR-Fernsehen jede Gelegenheit, ARD und ZDF in eben diese ‚zu schauen‘. In einem bis dato nicht gekannten Ausmaß beschäftigte das Fernsehen der Bundesrepublik seit Ende der 1960er Jahre die ostdeutsche Fernsehführung: Es wurden Informationen gesammelt (die u. a. auch vom Ministerium für Staatssicherheit beschafft wurden), diese im Sinne der ideologisch korrekten Interpretation von den „Diversionsversuchen“ der westlichen Medien ausgewertet und der Versuch unternommen, in den eigenen Programmen strategisch auf die westlichen Programmstrukturen zu reagieren (vgl. Dittmar 2002). Aber bereits nach kurzer Zeit zeigte sich, dass das zweite Programm die Erwartungen, die Fernseh- und SED-Führung in seinen „Kontrastcharakter“ gegenüber dem ersten Programm gesetzt hatten, bei weitem nicht erfüllen konnte. Anders als das ZDF in der Bundesrepublik wurde der „DFF 2“ nicht als vollwertiges Programm wahrgenommen, sondern von den Zuschauern schnell als „Wiederholungssender“ und „Russenprogramm“ abqualifiziert und das zu Recht: Das zweite Programm verfügte weder über eine eigene Nachrichtensendung noch über attraktive Sendekonzepte, sondern strahlte vor allem (farbige) Wiederholungen des ersten Programms aus und verprellte einen Großteil seiner Zuschauer mit Sendungen in russischer Sprache (vgl. Vollberg 2002).
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In diese Problematik schaltete sich Erich Honecker, der neue Partei- und Staatschef, auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 persönlich ein: Vehement forderte er das DDR-Fernsehen auf, eine „bestimmte Langeweile“ im Programm zu überwinden, zwei vollwertige Fernsehprogramme zu senden und dem Bedürfnis der Zuschauer nach Unterhaltung besser Rechnung zu tragen. Hierarchisch ausgerichtet, schloss sich die Fernsehführung der Kritik Honeckers rückhaltlos an, die erste Programmreform des DDR-Fernsehens 1971/72 versuchte all dies umzusetzen. Es gelang damit auch kurz- bis mittelfristig, bessere Zuschauerbeteiligungen zu erreichen, an der Grundsituation im innerdeutschen TV-Wettstreit änderte sich aber nichts: Das bundesrepublikanische Fernsehen war wirtschaftlich, technisch und konzeptionell überlegen, und diese Unterschiede verschärften sich mit dem technologischen Fortschritt weiter. Ohne Illusionen. Weiterer Programmausbau und Satellitentechnik Zehn Jahre später, zu Beginn der 1980er Jahre, war das DDR-Fernsehen erneut geprägt von politischen und wirtschaftlichen Zwängen, Zuschauerverlusten und der Unzufriedenheit des Publikums mit dem eigenen Fernsehangebot, besonders dem zweiten Programm. Gleichzeitig verschärfte sich die Konkurrenzsituation mit dem Fernsehen der Bundesrepublik noch einmal: Angesichts der bevorstehenden Einführung eines dualen Rundfunksystems mit zusätzlichen privaten Fernsehanbietern versuchten sich ARD und ZDF den Zuschauern mit attraktiven Programmen zu empfehlen. Mit der Einführung der „alternativen Programmstruktur“ – einem neuen Sendeschema, das die Alternative zum ersten Programm des DDR-Fernsehens dauerhaft in dessen zweiten Programm zu schaffen hoffte – sollte das DDR-Fernsehen 1982/83 seine Akzeptanz beim Publikum steigern, ohne dass sich die Fernsehführung tatsächlich mit den veränderten Wettbewerbsbedingungen auseinandersetzen konnte (vgl. Dittmar/Vollberg 2004). Die alternative Programmgestaltung – und damit letztendlich die immer gleiche Idee von zwei Kontrastprogrammen – blieb bis zum Umbruch 1989 das Konzept, mit dem sich das DDR-Fernsehen als massenwirksames und volksverbundenes Fernsehen zu profilieren suchte. Dabei waren der politische Erwartungsdruck und die straffe Lenkung des Fernsehens durch die Parteiführung stärker als je zuvor. Die Fernsehführung in der DDR war dabei in den 1980er Jahren bestens über die Etablierung des Dualen Rundfunkssystems in der Bundesrepublik und die technischen Entwicklungen informiert: Erkenntnisse, mit immensem Aufwand von der Staatssicherheit zusammengetragen, wurden über die Abteilung Agitation dem Fernsehkomitee zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug lieferte die Fernsehführung Informationen, über die sie aufgrund der verstärkten Kooperati-
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on mit ARD und ZDF verfügte. Dabei wurde ein Feindbild gepflegt und kanonisiert, das nach wie vor von größtem Misstrauen gegenüber der unterstellten ideologischen Diversion der westdeutschen Medien geprägt war. Ein besonders ausgeprägtes Interesse hatte die Leitung des Fernsehens in der DDR an der Entwicklung der Satellitentechnik und der quantitativen Programmentwicklung im anderen deutschen Staat. So wurden im Jahr 1982 beispielsweise Prognosen über den Ausbau der öffentlich-rechtlichen Programme in der Bundesrepublik aufgestellt und innerhalb der Fernsehführung diskutiert, die sich – wie schon so oft zuvor – unter erheblichem Druck sah (vgl. Leucht, Sauer u. a. 1982). Es wurde erörtert, wie das DDR-Fernsehen künftig in dieser Konkurrenzsituation bestehen könnte: „Sollte der DDR in absehbarer Zeit ein geostationärer Satellit zur Ausstrahlung von Fernsehsendungen für den Direktempfang zur Verfügung stehen, entsteht die Frage, ob über die Zielstellung des X. Parteitages hinaus (zwei vollwertige alternative Programme) ein neues 3. Fernsehprogramm entwickelt werden muß, das nur über Satellit abgestrahlt wird. Unser Standpunkt ist, daß – auch im internationalen Vergleich – die Forderung nach einem solchen Programm äußerst stark werden wird und ein 3. Programm unbedingt vorbereitet werden muß“ (ebd.: 7). Allerdings wurde sofort eingeräumt, dass dieses Projekt wirtschaftlich nicht zu realisieren war: Es fehlten schlicht die finanziellen Mittel (insbesondere Devisen), um Sendungen für ein derartiges zusätzliches DDR-Fernsehprogramm zu produzieren, das nur über Satellit ausgestrahlt werden sollte. Die Produktionskapazitäten des DDR-Fernsehens waren bereits voll ausgeschöpft. Als Minimallösung wurde ein Satelliten-Spezialprogramm aus Nachrichten, Sport und Filmen diskutiert – für das freilich ebenfalls weder Geld noch Personal vorhanden war. Die resignierende Schlussfolgerung führte zu einer Verschiebung des Projekts um etliche Jahre nach hinten – in eine Zukunft, von der wir heute wissen, dass es in dieser Zeit zwar Satellitenprogramme, aber kein DDR-Fernsehen mehr gab: „Um ein 3. Fernsehprogramm vor dem Jahr 2000 nicht völlig auszuschließen, wäre es denkbar, im Zeitraum bis 1990 mit der Vorbereitung eines 3. Programms zu beginnen, über dessen Realisierung erst in den 90er Jahren entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten entschieden werden könnte“ (ebd.: 8). Das Beispiel Satelliten-Fernsehen zeigt deutlich, wie die wirtschaftliche Schwäche des DDR-Fernsehens dem ‚Mithalten‘ mit der Konkurrenz Grenzen setzte. Fünfzehn Jahre zuvor war das DDR-Fernsehen mit der Einführung eines zweiten Programms (1969) zumindest noch in der Lage gewesen, quantitativ zum bundesdeutschen Fernsehen aufzuschließen. Zwar erreichte der zweite DDR-Sender keine mit dem ZDF in der Bundesrepublik vergleichbare Publikumswirkung, aber immerhin konnte man ein zweites, farbiges Fernsehprogramm ‚vorweisen‘. In den 1980er Jahren war selbst ein solches ‚pro forma‘-
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Gleichziehen unmöglich geworden. Die Potentiale der bundesdeutschen Medienlandschaft, zukünftig durch die Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Rundfunkbetreibern weiter ausdifferenziert, und die des ‚Staatsfernsehens‘ der DDR differierten mehr als jemals zuvor. Dies lässt sich auch im überlieferten Schriftgut der Fernsehführung nachweisen: Die sorgfältig ‚ausgekundschafteten‘ Pläne und Details des Westfernsehens fanden ab Mitte der 1980er Jahre immer weniger Eingang in den Diskurs der Fernsehführung bzw. wurden in einer neuen Form von ‚Sprachlosigkeit‘ nicht mehr kommuniziert. Innovative Technologien waren wirtschaftlich unerschwinglich – wie im Bereich der Satellitentechnik dargestellt – und dieses Manko wurde nur noch punktuell thematisiert. Die Zeit der ‚Luftschlösser‘ war vorüber: Ohne eine wirkliche Strategie im Konkurrenzkampf entwickeln zu können, versuchte das DDR-Fernsehen mit vorwiegend internationalen Filmen, Serien, Shows und den beliebten Ratgebersendungen auf den besten Sendeplätzen gegen die westlichen Sender und ihr verstärktes Unterhaltungsprofil anzukommen. Die Fernsehführung gestand sich dabei das Sehverhalten der eigenen Zuschauer offen ein, die zwischen westlichen und östlichen Angeboten hin- und herwechselten. Sie war vor allem bemüht, diesen Status quo zu halten und nicht noch mehr Zuschauer zu verlieren. Dies änderte sich erst im Wendeherbst 1989. Zu diesem Zeitpunkt fand das DDRFernsehen nicht mehr nur vorwiegend mit seinen unterhaltenden Angeboten, sondern auch mit seinen täglichen Nachrichten und Sondersendungen sein Publikum. Damit erreichte es schließlich das in den 1980er Jahren immer wieder aufgestellte Ziel, eine echte Orientierungsfunktion für die Zuschauer im Klassenkampf mit dem Gegner zu sein – indem es das Ende eben dieses Klassenkampfes dokumentierte. Literatur und Quellen Abteilung Agitation und Propaganda, Sektor Rundfunk/Fernsehen (1960): Das II. Fernsehprogramm und sein Stand in Westdeutschland und der DDR. 19.04.1960. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/9.02/86 Adameck, Heinz an Hermann Ley (1959): Brief. 17.02.1959. BArch DR 6/281 Apel, Erich/Brook, [?]/Egemann, Hubert u. a. (1960): Zweites Fernsehprogramm der Deutschen Demokratischen Republik, genannt ‚Deutschland-Fernsehen‘. Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees. 02.09.1960. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/902/19 Dittmar, Claudia (2002): Das „feindliche Fernsehen“ – das DDR-Fernsehen und der ständige Krieg im Äther. In: Dittmar/Vollberg (2002): 99-146
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Dittmar, Claudia (2007): Ostdeutsches ‚Westfernsehen‘. Das Projekt „DeutschlandFernsehen“ in der DDR 1958 bis 1964. In: Dittmar/Vollberg (2007): 215-271 Dittmar, Claudia (2009): Das feindliche Fernsehen. Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland. Philosophische Fakultät II. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Publikation in Vorbereitung) Dittmar, Claudia/Vollberg, Susanne (Hrsg.) (2002): Die Überwindung der Langeweile? Zur Programmentwicklung des DDR-Fernsehens 1968 bis 1974. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag Dittmar, Claudia/Vollberg, Susanne (Hrsg.) (2004): Alternativen im DDR-Fernsehen? Die Programmentwicklung 1981 bis 1985. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag Dittmar, Claudia/Vollberg, Susanne (Hrsg.) (2007): Zwischen Experiment und Etablierung. Die Programmentwicklung des DDR-Fernsehens 1958 bis 1963. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag Dussel, Konrad (2004): Deutsche Rundfunkgeschichte. 2., überarbeitete Auflage. Konstanz: UVK Hoff, Peter (2002a): Dezentralisierung oder Regionalisierung des DDR-Fernsehens der DDR? Das Projekt eines Fernseh- und Rundfunkstudios in Leipzig 1958. In: Rundfunk und Geschichte. Jg. 28 (2002). H. 1/2. 22-30 Hoff, Peter (2002b): Protokoll eines Laborversuchs. Kommentar zur ersten Programmschrift des DDR-Fernsehens 1955. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag Leucht, Günter/Sauer, Horst u. a. (1982): Konzeption ‚Abrechenbare Schritte für einen raschen Leistungszuwachs des DDR-Fernsehens in den 80er Jahren‘. 28.05.1982. Komiteevorlage Nr. 11/1982. BArch DR 8/181 Lemke, Michael (2001): Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949-1961. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Norden, Albert (1965): Brief an Willi Stoph vom 26.10.1965. BArch DR 6/130 o. N. (1953): Zilles bunte Bühne. In: Der Spiegel. Jg. 7 (1953). H. 16. 30-32. o. N. (1958): Programmperspektive des Deutschen Fernsehfunks bis 1975. 26.02.1958. BArch DR 8/11 o. N. (1960a): DDR kündigt zweites Fernsehprogramm an. In: Frankfurter Rundschau vom 14.07.1960 o. N. (1960b): Deutschland-Fernsehen. In: Neues Deutschland vom 13.07.1960 o. N. (1964): Probleme der Entwicklung des Fernsehens in der DDR bis zum Jahre 1970. 06.02.1964. SAPMO-BArch DY 30/IV A 2/2.028/66 Schmotz, Dieter (1967): Monatsbericht Oktober bis 7. November 67. November 1967. BArch DR 8/76 Staatliche Plankommission (1960): Realisierung des zweiten Fernsehprogramms. 26.09.1960. SAPMO-BArch DY 30/IV 2/9.02/19 Steinmetz, Rüdiger (1996): Freies Fernsehen. Das erste privat-kommerzielle Fernsehprogramm in Deutschland. Konstanz: UVK Vollberg, Susanne (2002): „Wiederholungssender“, „Russenprogramm“ oder alternatives Massenprogramm? Zur Konzeption und Realisation des zweiten Programms des DDR-Fernsehens. In: Dittmar/Vollberg (2002): 147-182
Vom Rezeptions- zum Selektionsmedium oder: Wie der Journalismus digital wurde. Eine exemplarische Untersuchung des OnlineEngagements in der deutschen Presselandschaft Jessica Quick
„Die Zeitungsmacher müssen sich mit der neuen Internetwelt beschäftigen. Sie müssen nicht alles mitmachen, aber sie müssen verstehen, wie sich Informationen über Netzwerke, Blogs oder Twitter verbreiten und wie sie diese Informationswege für sich nutzen können.“ (Schmidt 20091)
Seit der Entwicklung des World Wide Web sind 20 Jahre vergangen und noch immer predigen Medienwissenschaftler wie der Amerikaner Jeff Jarvis den Printmedien, sich dem Internet zu öffnen. Das geschieht nicht ohne Grund: Auch in Deutschland sind die Vorbehalte vieler Printredakteure gegenüber den Neuen Medien und dem Online-Engagement der eigenen Zeitung groß. Begriffe wie Kannibalisierung oder Copy-und-Paste-Journalismus begleiten Onlinejournalisten, seitdem die ersten traditionellen Medien ihren Auftritt im Netz wagten. Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden, wie, wann und in welcher Form sich Verlage beziehungsweise Zeitungen und zum Teil Zeitschriften in Deutschland für ein Mitwirken im Bereich der Neuen Medien entschlossen haben. Den Startschuss in Deutschland und weltweit gab das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, das im April 1994 mit einer grauen Website und blauen Links beim Onlinedienst Compuserve online ging. Bestehend aus dem Titelbild des montags erscheinenden Printprodukts sowie ausgewählten Beiträgen wurde die Website bereits am Wochenende – also mindestens ein Tag vor der Veröffentlichung im Print – durch den Chef vom Dienst aktualisiert (vgl. Foerster 2007). Die technischen Möglichkeiten waren noch begrenzt. Welches Potenzial das Internet aber bot, war bekannt, und die Zwei-Mann-Redaktion des Web„Spiegels“ versuchte es zu nutzen. So scheuten sich Online-Chefredakteur Uly 1
Holger Schmidt zitiert in seinem Artikel „Verleger müssen wie Google denken“ Journalismus Professor Jeff Jarvis in übersetzter Form. Leider war es mir nicht möglich, das originale Zitat ausfindig zu machen.
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Foerster und Kollege Gerd Meissner nicht davor, mit der Internetgemeinde in E-Mail-Kontakt zu treten. Schon bald entwickelte sich eine Kommunikationskultur, in der der Spiegelleser den Chef mit „lieber Uly“ ansprach und dieser „sich nach Kräften mühte, möglichst zeitnah zu antworten und mitunter Web-gerecht zurück zu duzen“ (Patalong 2004). Zudem diskutierten User in einem Forum, fanden über eine Linkliste weitere interessante Webangebote und konnten über diese abstimmen – in Zeiten ohne Suchmaschine eine ausgesprochen große Hilfe. Die Seite auf Compuserve galt als Test und war nicht für jeden erreichbar. Selbst die beiden Spiegelchefredakteure Wolfgang Kaden und Hans Werner Kilz hatten keinen Zugang. Sie vertrauten „blind darauf, dass die MEK-Redaktion [Medien, Elektronik, Kommunikation; J. Q.] schon keinen Schaden (…) anrichten würde“ (Foerster 2007: 11). Am 25. Oktober 1994 – einen Tag vor dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time“ – war die erste Web-Version des „Spiegels“ online erreichbar, vorausgesetzt man kannte den Deeplink, der zu der Seite führte: „Für die User im Norden hieß es http://hamburg.bda.de:800/bda/net/spiegel und für die Nutzer im Süden war es http://muenchen.bda.de:800/bda/net/spiegel. Da war man über jeden Surfer froh, der sich irgendwie bis zur Homepage vorgearbeitet hatte und begrüßte ihn dort erstmal mit einem ‚Herzlichen Willkommen!‘“ (Foerster 2007: 11)
Trotz Serverproblemen, Verspätungen und System-Abstürzen galt das OnlineEngagement des „Spiegels“ als „mediale Pioniertat“ (vgl. Patalong 2004). Ähnlich verhielt es sich mit dem ersten Politiker-Chat im Dezember desselben Jahres, für den das „Wall Street Journal“ extra eine Korrespondentin nach Deutschland schickte, um am nächsten Tag auf seiner Titelseite den Fortschritt der Europäer zu loben – während das Medienecho in Deutschland sehr verhalten blieb (vgl. Foerster 2007). Was gab es schon über ein solches Ereignis zu berichten? Die Ressentiments der Print-Kollegen gegenüber den Neuen Medien waren hoch – selbst bei den Vorreitern vom „Spiegel“. In den Redaktionssitzungen fanden sie ihren Ausdruck: „Die Netzwelt müsse (…) als Nischenthema behandelt werden, das kaum jemand anderen interessiere als ein paar durchgeknallte Studenten.“ (Foerster 2007: 11) Im Frühling 1995 bekam der „Spiegel“ Gesellschaft im World Wide Web. Als erste deutsche Tageszeitung ging am 5. Mai die „Schweriner Volkszeitung“ online. Eine Woche später folgte nach einer Testphase die „taz“, die ihre aktuelle redaktionelle Ausgabe komplett ins Internet stellte. Und auch die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) wagte zu ihrem 50-jährigen Jubiläum 1995 die ersten Schritte in das neue Medium. Die Aufregung und der Druck, der auf den Verantwortlichen zum Start im Oktober lag, sind beispielgebend für alle vorangegangenen und
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folgenden Launches und Relaunches. So erinnert sich SZ-Redakteur Thomas Becker: „Die erste Meldung am frühen Morgen des 6. Oktober lautete: ‚Error 404 – Document Not Found. The requested file could not be found.‘ Was war passiert? Der Provider hatte noch nicht alle Ressort-Links freigeschaltet – zehn Minuten später war der Albtraum wieder vorüber.“ (Becker 2005)
In den USA verkündete der Journalist Joshua Quittner bereits „The Birth of Way New Journalism“ (vgl. Quittner 1995) – ein Journalismus, „der durch Video, Audio und Hypertext das Erzählen zur Perfektion bringen und durch die Interaktivität eine engere, gleichberechtigtere Beziehung zu seinem Publikum schaffen werde“ (Neuberger 2005: 118). Laut Neuberger gilt dieser Artikel als das „Manifest des Online-Journalismus“ (ebd.). Allerdings machten vor allem die langsamen Übertragungsraten zu Zeiten des 14.4-Modems dem „Neuen Journalismus“ einen Strich durch die Rechnung. Mit diesem Problem hatten auch „Spiegel Online“ und vor allem seine User zu kämpfen. Nach dem Relaunch zum einjährigen Jubiläum am 25. Oktober 1995 präsentierte sich die Website in „Spiegelrot“, illustriert mit Grafiken und Fotos und einem schwarzen Balken, der als Platzhalter für spätere Banner geplant war. Der neue Auftritt erzeugte nicht nur Lob bei den Usern, sondern vor allem auch Empörung über die längeren Wartezeiten am Monitor und die drohende „Zumüllung“ durch Werbung. Die Bilder würden zudem den Textfluss stören (vgl. Foerster 2007: 12). Dessen ungeachtet präsentierte Online-Chef Uly Foerster im Editorial zum Relaunch die „Spiegel“Website als „das wohl umfassendste elektronische deutschsprachige MedienAngebot im Web“ (Foerster 1995), das zusätzlich frei zugänglich sei. Die ausgefeilte Online-Version des „Spiegels“ war vornehmlich ein Marketingauftritt mit Diskussionsforum und Linksammlungen zu Web-Cams in aller Welt oder Lieblingswebseiten der Redaktion. Neben dem Design war deshalb das eigentliche Novum die Rubrik „Online-World“, in der im Wochenrhythmus erstmals auch Texte ausschließlich für die Web-Ausgabe geschrieben wurden. ‚Im Web fürs Web‘ hieß die Devise, denn die noch geringe Zahl der Onlinenutzer beschäftigte sich in der Anfangsphase vor allem mit Beiträgen, die das Internet selbst thematisierten. Ressortleiter Foerster wusste sicher um den Meilenstein, den er mit seinen Kollegen gesetzt hatte, war sich aber auch der noch auszuschöpfenden Möglichkeiten bewusst, die das Internet bereithielt: „Die noch jahrelang benutzte Werbefloskel, der Spiegel sei weltweit das erste Nachrichtenmagazin im Web gewesen, war zwar richtig, konnte in Wahrheit aber nur die beeindrucken, die den direkten Vergleich nie angestellt hatten: Hier Time mit einem recht aktuellen und optisch eindrucksvollen Nachrichtenangebot, dort der überwie-
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Jessica Quick gend graue Spiegel, der Artikel aus dem gedruckten Heft mit ein paar Arabesken verzierte.“ (Foerster 2007: 12)
Nach dem verzögerten Einstieg waren die Journalisten aus Übersee den Deutschen kontinuierlich voraus. Nur allmählich folgten die deutschen Verlage den Amerikanern ins Netz, 1996 auch das Nachrichtenmagazin „Focus“. Am 18. Januar – drei Jahre nach der Gründung des Printproduktes – drückte Chefredakteur Helmut Markwort bei einer Festveranstaltung in Bonn den „roten Knopf“ (vgl. o. N. 2006b). Die Administratoren, Techniker und Redakteure waren in den ersten Tagen nahezu rund um die Uhr mit dem Online-Auftritt beschäftigt. 24Stunden-Aktualität gehörte schließlich zu den Neuerungen, die das Internet mit sich brachte. Was die Kompetenz im Bereich der Neuen Medien betraf, war es am Ende oft nur eine Handvoll, die sich mit dem World Wide Web beschäftigte. Für die Verleger und Chefredakteure galt Online als Experiment, das sie vertrauensvoll in andere Hände legten (vgl. Foerster 2007). „In der Startwoche alarmiert Markwort Bueroße [Online-Chefredakteur; J. Q.], auf FOCUS Online stünden nur veraltete Meldungen; der Chefredakteur hastet in Markworts Büro, um zu erklären, dass sich das Online-Programm nicht wie Fernsehen selbstständig erneuert. Mit einem Klick auf ‚Aktualisieren‘ löst er das Aktualitätsproblem.“ (o. N. 2006a)
Zumindest beim „Focus“, der für das Netz nicht wie im Print wöchentlich, sondern täglich aktualisiert wurde, unterschieden sich die Arbeitsweisen der Redaktion in den ersten Jahren kaum von denen des Muttermediums. Wie in der Printredaktion wurde recherchiert und geschrieben. Die Texte illustrierte die Bildredaktion mit Fotos oder Grafiken. Dazu kamen die Techniker, die die HTMLSeiten programmierten2. Je nachdem, wie komplex die Geschichte war, konnte das bis zu einigen Tagen dauern. „Das war für uns Online-Journalisten der ersten Stunde die größte Überraschung: Die Geschichten für das schnelle Medium wurden kaum schneller fertig als vorher für das Printmedium.“ (Kuck 2006)
Bei den Angeboten der Tageszeitungen war das anders. Hier wurde seither tagesaktuell geschrieben, so dass die Texte für die Online-Tochter lediglich kopiert und für das Netz geringfügig angepasst werden mussten. Ähnliche Übergangsstrategien waren in der Vergangenheit bei der Entwicklung anderer neuer Medien zu beobachten. Die für die Produzenten gewohnten Inhalte und Darstel2
Die Einführung von Content Management Systemen in den Onlineredaktionen Ende der 1990er Jahre hat diese Arbeitsweise überflüssig gemacht.
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lungsformen wurden zunächst imitiert. So war die erste Zeitung „zerstückelte Buchchronik“ (Meier/Perrin 2000: 307), im Radio wurde Zeitung vorgelesen, das Kino orientierte sich an dem Nummernprogramm des Theaters und das Fernsehen wiederum kopierte das Kino (vgl. u. a. Bucher 1998, Hickethier 1991). Auch „ZEIT“-Redakteur Klemens Polatschek gab zu bedenken, dass das Trägermedium Internet noch nach seiner „gerechten Ausdrucksform“, seiner „Kerntätigkeit“ strebe – die elektronische Zeitung sei das aber nicht. In seinem Artikel forderte er den „Tod der elektronischen Zeitung“, denn die Webangebote der Pressemedien seien lediglich „verkappte Papiermagazine“ auf digitalen Seiten (vgl. Polatschek 1996). Im Jahr 1996 startete „Spiegel Online“ mit der aktuellen Berichterstattung. Mittlerweile gab es die ersten Unternehmen, die mit einfachen Grafiken auf der Online-Ausgabe warben, ohne allerdings verlinkt zu sein, denn Webseiten, auf die verwiesen werden konnte, gab es zu diesem Zeitpunkt nur wenige. Nach zweieinhalb Monaten verzeichnete „Spiegel Online“ 50.000 Mark Werbeeinnahmen (vgl. Foerster 2007). Im Vergleich zu den Ausgaben war das freilich ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotz des Zuschussgeschäftes, das ein OnlineAuftritt zu diesem Zeitpunkt war und in der Regel heute noch ist, zog es immer mehr traditionelle Medien ins World Wide Web, und bald fragten nicht nur Medienwissenschaftler nach dem Warum3. „Wer heute nicht auch online arbeitet, ist bald offline. Das wird unserem Nachrichtenmagazin nicht passieren“, sei der Glaubenssatz gewesen, mit dem der stellvertretende „Focus“-Chefredakteur Uli Baur die Zusammenarbeit vorantrieb (vgl. o. N. 2006a). Das Besetzen des Marktes gehörte zur wichtigsten Motivation. Zusätzlich bereitete die zunehmende Konkurrenz den Zeitungshäusern große Sorgen. Mediale und räumliche Marktgrenzen zwischen traditionellen Massenmedien wie dem Fernsehen und der Zeitung oder der lokalen und der überregionalen Presse verlieren im World Wide Web an Bedeutung. Hinzu kommen branchenfremde Internetanbieter. Umso mehr ist im Internet der Ausbau alter und die Entwicklung neuer Kernkompetenzen gefragt. Erste Versuche, sich mit zusätzlichen Web-Angeboten zu profilieren, startete u. a. die „ZEIT“, die am 6. März 1996 online ging. Das zu der Zeit einzigartige an ihrem Online-Angebot war eine Suchmaschine, die alle wichtigen deutschen Online-Stellenmärkte nach Anzeigen durchsuchen konnte. Entsprechend groß war die Anfrage: „Nie werde ich vergessen (…) wie wir zum Start des JobRobots (…) mit offenen Mündern und voller Stolz vor dem Computer saßen und anhand der Logfiles den 3
So zum Beispiel Christoph Neuberger, der in einer Redaktionsbefragung bei Presse, Rundfunk und Nur-Onlineanbietern u. a. die Internetstrategien etablierter Medien und deren Motive des Online-Engagements untersucht hat (vgl. Neuberger 2000b).
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Jessica Quick ersten Surfern dabei zusahen, wie sie unsere – auf Basis von Open Source-Software zusammengeschraubte Suchmaschine nach IT-Stellen in Hamburg fragten – um anderntags in helles Entsetzen zu verfallen, weil die Software unter der Last der Anfragen zusammengebrochen war.“ (Ankowitsch 2006)
Einen Marktplatz für Rubrikenanzeigen im Internet zu etablieren, schaffte die Presse allerdings nicht. Und die Konkurrenz ließ nicht lange auf sich warten: 1996 gründete sich „mobile.de“ – heute nach eigenen Angaben der größte Online-Fahrzeugmarkt. Mit diesem und anderen Angeboten wanderte nach und nach ein großer Teil der Printeinnahmen zu Fremdanbietern ins Internet. 1997 gab es die ersten repräsentativen Erhebungen zur Onlinenutzung in Deutschland. Nach der ARD-Online-Studie nutzten im März und April etwa 4,11 Millionen Menschen ab 14 Jahren, also 6,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, Onlinedienste in Deutschland (vgl. van Eimeren/Oehmichen/Schröter 1996). Im internationalen Vergleich nahm Deutschland damit einen hinteren Rang ein. Die Prognosen von 1997 belegten einen Aufwärtstrend. Welche Kraft aber tatsächlich in der Weiterentwicklung und Nutzung des Internets steht, ahnte damals kaum jemand: „Für das Jahr 2000 wird eine Steigerung des Anteils derjenigen, die den Computer mindestens einmal wöchentlich nutzen, auf 20 Prozent, für 2010 sogar auf 40 Prozent prognostiziert.“ (ARD-Forschungsdienst 1997: 457)
Solche und ähnliche Mutmaßungen wurden schon bald von der Realität eingeholt. Seit Oktober 1997 kontrolliert die „Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern“ (IVW) neben den Verlagen und Funkmedien nun auch die Online-Medien, sodass diese jetzt in der Lage waren, ihre Zugriffe von offizieller Stelle zählen zu lassen. Zum Start waren 55 Angebote gemeldet, die 20 Millionen Visits und 80 Millionen Pageimpressions erzeugten4 – im April 2009 sind es 892 (IVW 2009). Bis heute gibt es Diskussionen über Sinn und Unsinn dieser Auswertung, die vor allem Einfluss auf die Qualität des Onlinejournalismus zu nehmen scheint5. „Aus journalistischer Perspektive gesehen, bewertet IVW die Online-Inhalte auf absurde Art und Weise. Eine spannende, im besten Fall sogar Image bildende Story aus eigener Herstellung – ein Klick. Eine 28-teilige Bildergalerie über die ‚Arschbomben-WM‘ (zu bestaunen bei einem ehemals Grimme-prämierten Nachrichtenangebot) – 28 Klicks.“ (Mohr 2004) 4 5
Einen Überblick über die Entwicklung der Nutzung ausgewählter journalistischer OnlineAngebote in Deutschland ab 1998 gibt Robin Meyer-Lucht (vgl. 2004a). Die IVW überarbeitet derzeit das Messverfahren, um die Gewichtung von Unique Usern bzw. Visits und vor allem Verweildauer zu berücksichtigen.
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Fast die Hälfte aller Tageszeitungsverlage besaß 1997 eine Onlineredaktion, in der im Durchschnitt drei Journalisten arbeiteten (vgl. Neuberger 2000c). Der Vorteil des Printpendants liegt vor allem in seiner Schnelligkeit. Die Nutzer wussten das zu schätzen und bescherten den Onlinemedien vor allem bei brisanten Ereignissen erhebliche Reichweitensteigerung. Das bekam auch „Spiegel Online“ zu spüren. Ulrich Booms, bis Ende 2002 Projektleiter der „Spiegelnet AG“, berichtet vom 31. August 19976: „Als Prinzessin Diana morgens um 5 Uhr verunglückt ist, hatten wir damals um 10 Uhr schon eine Versammlung von wilden Gerüchten. Wir hatten all das ganz schnell. Das Fernsehen hatte kaum Bilder, und die Zeitungen waren sowieso aus dem Rennen. Das war einer der Momente, wo wir verstanden haben, was man mit diesem Medium machen kann.“ (Meyer-Lucht 2004b: 216)
Ein Jahr später, am 7. September 1998, ging die Suchmaschine „Google“ als Testversion online. Das war eine bahnbrechende Entwicklung vor allem für die User, die nun wesentlich leichter Informationen im weltweiten Datennetz finden konnten. Für die klassischen Medien gewinnt die Suchmaschine mit der Entwicklung von „Google News“ vier Jahre später an Bedeutung – zum einen als Multiplikator der eigenen Nachrichten und zum anderen als Konkurrent, der nach und nach eigene Verträge mit Nachrichtenagenturen abschließt. Ebenfalls im September 1998 erhob „Handelsblatt.com“ Nutzergebühren und galt damit als Vorreiter in Deutschland (vgl. Neuberger 2003). Die Experimentierphase von 1996, in der sich das neue Medium noch zu bewähren hatte, war beendet. Der Hype um das Internet, die stetig steigenden Nutzerzahlen und die wachsende Menge der konkurrierenden Angebote drängten die Verlage dazu, die Entwicklungen ernst zu nehmen. „Allerdings wird auch 1998 in einigen Redaktionen noch über ‚wohlwollendes Desinteresse‘ von Seiten der Verlagsleitung geklagt, so dass immer noch von einem Experimentstadium gesprochen werden kann.“ (Popp/Spachmann 2000: 145) 1999 waren fast alle gedruckten Medien im Internet vertreten (vgl. Neuberger 2000a). Unter anderem fehlten noch das „Neue Deutschland“, das als letzter überregionaler Titel erst im Mai 2001 online ging, und die „Mitteldeutsche Zeitung“, die seit Januar 2001 als eine der letzten regionalen Tagesszeitungen unter „www.mz-web.de“ zu erreichen ist. „Spiegel Online“ hatte indes den ersten deutschen Online-Korrespondenten eingestellt: Markus Deggerich berichtete seit November 1999 aktuell aus Berlin. 6
Einen enormen Anstieg verzeichnete „Spiegel Online“ auch bei den Anschlägen am 11. September 2001. Unter wenigen Websites blieb sie reduziert auf eine Textversion online erreichbar und konnte nach Meyer-Lucht damit den Ruf als Online-Nachrichtenquelle festigen (vgl. Meyer-Lucht 2004b).
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Generell war bei den Online-Angeboten der traditionellen Massenmedien ein Zuwachs an Exklusivinhalten zu beobachten. Vor allem die Nachrichtenmagazine, die sich zu Beginn größtenteils auf eine Zweitverwertung des Printangebotes beschränkt hatten, schienen sich zunehmend von ihrem Muttermedium zu entfernen. Bemühungen zum crossmedialen Arbeiten und zur besseren Nutzung des technischen Potenzials, wie u. a. Multimedialität, Interaktivität, Hypertextualität und Aktualität, waren laut Neuberger feststellbar (vgl. Neuberger 2000a). Im Frühjahr 2000 wurde die „Netzeitung“ gegründet. Als erste deutsche Tageszeitung, die ausschließlich für das Internet produziert wird, ging sie am 8. November 2000 online. Der damalige Chefredakteur Michael Maier richtete den Blick auf das Erfolgsmodell der „New York Times“, die sich unter anderem durch ein kostenpflichtiges Archiv finanzierte. Nur in Deutschland sei die Bereitschaft für Micropayment, also für die Bezahlung von Inhalten, noch zu gering (vgl. Mischel 2003). Trotz der Einführung kostenpflichtiger Inhalte, beispielsweise bei „Spiegel Online“ im Februar 2002, hat sich daran bis heute nichts geändert7. Im Gegenteil: Nachdem die „New York Times“ im Sommer 2007 alles, was sie je veröffentlichte, frei zugänglich gemacht hatte, begann auch ein Großteil der deutschen Online-Angebote, seine Artikel kostenlos anzubieten. Zu dem Zeitpunkt herrschte unter den Verlegern der Konsens, dass mit Anzeigen mehr Geld eingenommen werden konnte als mit Gebühren. Medienjournalist Stefan Niggemeier beschreibt die „Netzeitung“ als typisch für viele Internetprojekte dieser Zeit: „Gegründet Ende 2000 auf dem Höhepunkt des Booms, voller Ideale und naiver Hoffnungen, ist es eine Geschichte der kontinuierlichen Erosion von Ansprüchen und Ressourcen. Aber anders als andere wurde die Netzeitung nicht irgendwann eingestellt, als die Erlöse ausblieben. Sie schrumpfte, bis sie ein gewaltiges, leeres Versprechen war.“ (Niggemeier 2004)
Im Jahr 2001 folgte die erste große Krise der ‚New Economy‘, wodurch etliche Internetangebote zusammengeführt oder ganz eingestellt wurden. Den Rücklauf des Werbemarktes und die Einbußen bei den Stellenanzeigen bekamen – zeitlich verzögert – vor allem die überregionalen Tageszeitungen zu spüren (vgl. Neuberger 2003). Auch „Spiegel Online“ muss erstmals Redakteure entlassen. Zur selben Zeit hatten die Weblogs im Internet Einzug gehalten. Als so genannter Warblogger machte sich 2003 Salam Pax einen Namen, der aus Bagdad exklusiv über den Krieg im Irak berichtete. Aufgrund des hohen Userzuspruches 7
Das Allensbacher Institut für Demoskopie hat in einer repräsentativen Studie 2002 festgestellt, dass 70 Prozent der Befragten nicht bereit waren, für irgendeine Art von Informationen im Internet zu bezahlen (Schulz 2002: 99-110).
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bekam er später einen Vertrag als freier Mitarbeiter beim „Guardian“ (vgl. Dorner/Krämer/Warth 2004). Im Juni 2004 ging die Erstausgabe des Watchblogs „Bildblog“ online. Bis März 2009 blickten die Macher Stefan Niggemeier und Christoph Schultheis ganz besonders kritisch auf die Arbeit der Boulevardzeitung „Bild“8. Und auch bei „Zeit.de“ wurde schon seit längerem mit Blogs gearbeitet. In Deutschland war sie das erste Massenmedium, das das Format auch für journalistische Zwecke einsetzte (vgl. Dorner 2004). Noch immer war das Onlinegeschäft verlustbringend für die Verlage, aber zumindest bei „Spiegel Online“ zeichnete sich 2004 der Break Even, der finanzielle Umbruch, ab:9 Rund 3,5 Millionen Euro setzte der Online-Pionier, der mittlerweile als das deutsche Referenzmedium galt, laut eigenen Angaben um (vgl. Meyer-Lucht 2005). Lediglich fünf Prozent davon kamen aus bezahlten Inhalten, die restlichen 95 wurden aus Anzeigen generiert (vgl. Littger 2004). Parallel wurde 2004 der Begriff Web 2.0 erstmals verwendet. Die Medien reagierten allerdings erst nachdem Ende September 2005 Tim O’Reilly seinen Artikel „What is Web 2.0“ veröffentlichte (vgl. O’Reilly 2005). Demnach surft der Nutzer 2.0 nicht nur durchs Web, sondern verändert und bereichert es mit eigenen Beiträgen, Fotos, Videos. Diese von Usern produzierten Inhalte, so genannter ‚user generated content‘, machte sich Anfang 2005 die „Rheinische Post“ zu Nutzen. Im Portal „Opinio“ hatten Leser erstmals die Möglichkeit, eigene Artikel innerhalb eines journalistischen Mediums zu schreiben. Die besten Autoren-Beiträge wurden zunächst monatlich in einer eigenen gedruckten Version und später innerhalb der „Rheinischen Post“ veröffentlicht10. Den Begriff des Leser-Reporters prägte ein Jahr später die „Saarbrücker Zeitung“, die nach dem Vorbild des norwegischen Blattes „Verdens Gang“ so eine engere Leser-Blatt-Bindung herstellte: Per SMS, MMS oder E-Mail war es Lesern nun möglich, die Redaktion mit Hinweisen und Fotos für potenzielle Beiträge zu versorgen (vgl. Büffel 2006). Populär wurden die Leser-Reporter vor allem durch die Einführung eines Honorars von der „Bild“-Zeitung, die bis zu 500 Euro für ein veröffentlichtes Foto bezahlte und die Leser im August 2006 zusätzlich mit einem selbst erstellten Presseausweis ausstattete. Eine weitere Veränderung, die Web 2.0 für den Onlinejournalismus mit sich brachte, ist die Kommentarfunktion direkt unter journalistischen Beiträgen. „Focus Online“ führte diese 8 9
10
Mitgründer Christoph Schultheiß ist im März 2009 aus der Redaktion ausgeschieden. Zum Team gehören seit dem Stefan Niggemeier, Lucas Heinser und Christian Jakubetz, die künftig alle Medien beobachten, den Namen „Bildblog“ aber beibehalten. „Spiegel Online“ gelang 2005 der finanzielle Durchbruch mit einem Umsatz von zehn Millionen Euro (Bönisch 2006: 9). Laut „Elektronischem Bundesanzeiger“ erreicht die „Spiegel Online“ GmbH 2006 einen Jahresüberschuss von 1,8 Millionen Euro und musste erstmals Ertragssteuern bezahlen (vgl. Elektronischer Bundesanzeiger 2006). „Opinio“ erscheint derzeit einmal wöchentlich innerhalb der „Rheinischen Post“.
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im Sommer 2006 ein. Journalisten seien gut beraten, solche direkten Leseraktionen sehr ernst zu nehmen, erklärte Jochen Wegner, Chefredakteur „Focus Online“, in einem Interview mit Peter Turi im „Medium Magazin“. Er plane für das Nachrichtenportal drei Säulen: Klassischer Journalismus, Service-Tools und die Community sollten ab sofort Kern des Angebots sein. „Wer es nicht schaffte, User aktiv einzubinden, wird auf Dauer keinen Erfolg haben.“ (Turi 2006: 18) Neben dem Bürgerjournalismus war ‚Web first‘ – in Deutschland ‚Online first‘ – ein weiterer Schwerpunkt im Jahr 2006. Dass Nachrichten zuerst fürs Internet und erst im zweiten Schritt auf Zeile für das Printprodukt geschrieben werden, erhoben der „Guardian“ und die „Times“ im Juni zum Prinzip (vgl. Rusbridger 2006). Erforderlich für diese Arbeitsweise ist ein Raum, der Online- und Printredakteure11 vereint. Den so genannten ‚Newsroom‘, auch ‚Newsdesk‘, führte die „Welt“ Mitte November 2006 ein. Ebenfalls 2006 wurde der Microblogging-Dienst „Twitter“ gegründet, der aber erst gegen Anfang 2009 an Bedeutung gewinnt. Nachdem am 15. Januar die Nachricht über die Notwasserung eines Airbusses im Hudson River in New York schneller über „Twitter“ als über die professionellen Medien verbreitet wurde, konzentrierten sich immer mehr deutsche Verlage auf den Online-Kurznachrichtendienst. Beim Amoklauf in Winnenden am 11. März 2009 sendeten nicht nur involvierte User ihre Eindrücke via Handy oder im Web selbst, sondern auch klassische Medien berichteten per Mikroblogging über die aktuellen Ereignisse. Etwa 50 Meldungen pro Minute wurden auf „Twitter“ zum Thema Winnenden publiziert (vgl. Tretbar 2009). Die Gefahr bei diesem nutzergenerierten Echtzeitmedium korrespondiert mit anderen Internetdiensten: Sie ist ebenso ein Sammelplatz für Falschmeldungen. „Zu den Eigentümlichkeiten des Netzes gehört, dass es nie einen Zustand erreichen wird, den man mit dem Begriff ‚fertig‘ oder ‚vollendet‘ verbinden würde. Zu groß. Zu unendlich. Zu dynamisch“, schreibt Christian Ankowitsch 2006 auf „Zeit.de“. Eineinhalb Dezennien sind seit dem Online-Start der ersten deutschen Printverlage vergangen und noch immer sind es neben finanziellen Unzulänglichkeiten und fehlenden personellen Ressourcen in deutschen OnlineRedaktionen nicht zuletzt die Kollegen im Print, die mit Skepsis so manches Online-Projekt zu verhindern wissen. Dadurch bleiben die Publizisten aus den USA und anderen Ländern immer einen Schritt voraus – und das mit Erfolg: „In Deutschland blicken wir herab: Die schreibenden Kollegen aufeinander und auf das Fernsehen. Die Fernsehkollegen aufeinander und auf den Hörfunk. Die Radio11
Bis heute wird zwischen Online- und Printredakteuren unterschieden. Allerdings zeigt die Ausbildung im klassischen Journalismus, dass eine Aufhebung dieser Trennung nur noch eine Frage der Zeit sein wird.
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leute aufeinander – und alle zusammen auf das Internet. Bei der New York Times arbeiten Reporter gleichermaßen für die Print- und die Online-Ausgabe. Bei der BBC arbeiten die Fernseh- und Hörfunkkorrespondenten auch für die Website. Und das mit zunehmender Begeisterung. Zu Recht.“ (Lehmann 2007: 233)
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Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe. Wikis als eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft? Jürgen Beine
Die Edition von Quellen gehört zu den grundlegenden Aufgaben der Geschichtswissenschaft. Um ihnen im digitalen Zeitalter gerecht zu werden, erscheint es angesichts der Entwicklung und Nutzung „kollaborativer Systeme“1 sinnvoll und zweckmäßig, editionswissenschaftliche Vorgehensweisen und Standards so mit den technischen Möglichkeiten vor allem von „Wikis“ zu verschmelzen, dass synergetische Effekte sowohl in der Editionswissenschaft als auch in der historisch-kulturwissenschaftlichen Fachinformatik induziert werden. Dabei wäre es meines Erachtens verfehlt, gegenwärtig auf theoretischer Ebene eine Debatte über den Problemzusammenhang zwischen Wikis und Editionswissenschaft führen zu wollen, denn dazu fehlt es bislang, soweit erkennbar, an umfassenden empirischen Detailuntersuchungen. Deshalb scheint es aktuell zielführender zu sein, auf der Grundlage ausgewählter Thematiken, hier am Beispiel der Geschichte der Ritualmordvorwürfe, praktische Erfahrungen zu sammeln, um daraus zu einem späteren Zeitpunkt allgemeine Schlussfolgerungen über den Nutzen und Nachteil der Anwendung von Wikis für die wissenschaftliche Edition von Quellen zu ziehen. Wikis sind technische Plattformen zur gemeinsamen Arbeit an verbundenen Textseiten. Das besondere Merkmal von einem Wiki als einem „kollaborativen System“ ist dabei, dass prinzipiell jede Person Inhalte erstellen und bereits gespeicherte Inhalte diskutieren, ergänzen oder verändern kann.2 Das derzeit pro-
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Eine kurze Einführung in das Thema „Groupware“ resp. „Kollaborative Software“ in: http://de.wikipedia.org/wiki/Groupware. Im Rahmen dieses Beitrags wird lediglich eine spezielle Groupware, die Wikis, und innerhalb dieser nur eine spezielle Wiki-Software, Mediawiki, eingehender analysiert. http://de.wikipedia.org/wiki/Wiki. Zur Genese von Hypertexten allgemein siehe die kurze Einführung in: http://de.wikipedia.org/wiki/Projekt_Xanadu. Zweifelsohne wäre eine historische Untersuchung der Entwicklung von Hypertextkonzeptionen und –systemen, angefangen
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minenteste Beispiel eines Wiki dürfte die offene Enzyklopädie Wikipedia sein. Es ist mit dem Softwarepaket „Mediawiki“ programmiert worden.3 Die relativ einfache Syntax von Mediawiki4, die in dem Wikipedia-Schwesterprojekt Wikisource5 ebenso wie in allen anderen Wikimedia-Projekten Anwendung findet, hat dazu beigetragen, dass die Wikimedia-Produkte und insbesondere auch die für die Edition von Quellen konzipierte Wikisource in den letzten Jahren zu „Massenmedien“ avanciert sind.6 Über die Geschichte der Ritualmordvorwürfe ist in den letzten Jahren intensiv geforscht worden. Im Fokus standen dabei insbesondere kulturhistorische und rechtsgeschichtliche Fragestellungen, die in den letzten Jahren um medienhistorische Perspektiven ergänzt wurden. In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass die Geschichte der Ritualmordvorwürfe sich im Kern auf die „spektakulären Fälle“ konzentriert und in einer vergleichenden europäischen Perspektive ihren Stellenwert im Rahmen der Geschichte des Antisemitismus zu bestimmen versucht. 7 Mit diesem erkenntnistheoretischen Ankerpunkt verbinden sich politische und gesellschaftliche Diskurse. Dies dokumentiert beispielsweise eine Gedenkveranstaltung, die im November 2008 im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofes stattfand und Leopold Hilsner gewidmet war. Hilsner war im Jahre
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bei Ted Nelson (Xanadu) über Tim Berners- Lee (WWW) bis zu Ward Cunningham (Wiki), sehr reizvoll. Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Wiki. Im Folgenden werde ich mich ausschließlich mit der Wiki-Software „Mediawiki“ beschäftigen. Eine Liste mit sämtlichen „Engines“ und einer Kurzbeschreibung findet sich unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Wiki-Software. Zur Syntax von Mediawiki und den funktionsidentischen HTML-Kommandos siehe: http://www.medienspielwiese.de/wiki/index.php/3.6_Syntax:_Wiki_versus_HTML (30.3.2009). Im Kontext der Edition von Quellen ist Wikisource von herausragender Bedeutung. Zur Definition: „Wikisource ist eine Sammlung von Quellentexten, die entweder urheberrechtsfrei sind oder unter einer freien Lizenz stehen. Wikisource versteht sich als Qualitätsprojekt, das mit Scans einer jeweils zuverlässigen Textgrundlage arbeitet.“ Siehe: http://de.wikisource.org/ wiki/Hauptseite. http://de.wikipedia.org/wiki/Wiki. Siehe Buttaroni, Susanna/ Musiaá, Stanisá (Hg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien u.a 2003. Leider fehlen in diesem Sammelband detaillierte Erörterungen der Ritualmordvorwürfe von Xanten (1891), Polna (1899) und Konitz (1900). Außerdem wurde darauf verzichtet, eine vergleichende europäische Perspektive der national eingefärbten Ritualmordlegenden zu entwickeln. Zu Konitz vgl. insbesondere die kulturgeschichtlich argumentierenden Studien von Nonn, Christoph, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002 sowie Walser-Smith, Helmut, Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert, Göttingen 2002. Die spektakulären Ritualmordfälle aus der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs (Skurz, Xanten, Konitz) behandelt aus einer primär juristischen Perspektive Groß, Johannes T., Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871-1914), Berlin 2002.
Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe.
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1900 aufgrund eines Ritualmordvorwurfes zum Tode verurteilt worden. Nach massiven internationalen Protesten begnadigte ihn Kaiser Franz-Joseph zu lebenslanger Haft. Hilsner verbrachte 19 Jahre zu Unrecht in Haft und wurde 1918 als gebrochener Mann aus ihr entlassen.8 – Bei dieser Gedenkveranstaltung sagte die damalige österreichische Justizministerin Maria Berger: „Der Fall Leopold Hilsner ist ein markantes Beispiel für ein Versagen des Justizsystems. Betroffen macht nicht nur das Fehlurteil, betroffen macht das gesamte von Antisemitismus und Zynismus getragene Verfahren, das zum Urteil führte.“9 Zugespitzt formuliert: Der wissenschaftliche und der gesellschaftlich-politische Diskurs durchdringen sich auch bei dem Thema „Ritualmordvorwürfe“ derart, dass eine Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe eine sinnvolle Ergänzung für eine weitergehende thematische Auseinandersetzung zu bieten vermag. Und in diesem Kontext stellen Wikis, so meine These, eine ausgezeichnete technische Plattform zur Verfügung.
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Zur politischen Verortung der „Hilsneriade“ siehe das kurze Kompendium eines Radiobeitrags (T.G. Masaryk und die Hilsner-Affäre, 25.08.2007) in: http://www.radio.cz/print/de/94788, abgerufen am 30.3.2009. Interessant ist, wie die politische und staatliche Dimension des Polnaer Ritualmordvorwurfs im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre gebracht wird, also nicht das Faktum des Ritualmordvorwurfs im Vordergrund der Betrachtung steht, sondern das der politisch-staatlichen Affäre. – Einen ersten Versuch einer multimedialen Aufbereitung des Polaner Ritualmordvorwurfs von 1899 haben 2002/03 Benno Wagner und Manfred Kammer zusammen mit einer studentischen Arbeitsgruppe unternommen. Siehe http://www.hilsneriade. net/. Im Rahmen dieses Projektes wurden historische Dokumente und wissenschaftliche Texte zur Geschichte der „Hilsner-Affäre“ in ein eigens für dieses Projekt entworfenes Webdesign eingebunden. Wichtig ist, dass die Integration des literaturwissenschaftlichen Diskurses in der Konzeption der Website berücksichtigt worden ist. Die Site verfolgte also das Ziel, den Polnaer Ritualmordvorwurf umfassend zu dokumentieren und auch zu kontextualisieren. Soweit erkennbar ist die Site in den letzten Jahren nicht weiter gepflegt worden, ein Problem, das dieses Projekt vermutlich mit vielen anderen vergleichbaren Projekten teilt und das vielleicht durch den systematischen Einsatz von „kollaborativer Software“ vermindert werden kann. – Seit den Gesprächen mit Benno Wagner und Manfred Kammer (2002/03) habe ich mich mit der Geschichte der Ritualmordvorwürfe immer wieder beschäftigt. Ergebnisse dieser Auseinandersetzung sind zum einen zwei Artikel in der Wikipedia über die Ritualmordvorwürfe von Xanten und Konitz, die ebenfalls zusammen mit studentischen Arbeitsgruppen entstanden sind. http://de.wikipedia.org/wiki/Xantener_Ritualmordvorwurf, http://de.wikipedia.org/wiki/Konitzer_Mordaffäre. Zum anderen habe ich Quellen zu den Ritualmordfällen von Xanten und Konitz in Wikisource ediert, ebenfalls im Kontext von Seminaren. Siehe die Verweise auf die edierten Quellen in den beiden Artikeln der Wikipedia. Den Aspekt der antisemitischen Propaganda im Siegerland habe ich erörtert in: Beine, Jürgen, Ritualmordlegende und antisemitische Propaganda im Siegerland an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die „Konitzer Mordaffäre“ von 1900 im Spiegel der Stoeckerschen Parteizeitung „Das Volk“ und der Siegener Zeitung, , in: Siegener Beiträge, 10, 2005, S. 109-125. Der Redeauszug in: http://www.politikportal.at/schluessel=OTS_20081114_OTS0269, abgerufen am 30.3.2009.
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Jürgen Beine
Die grundsätzliche Frage, die sich mit der technischen Konzeption einer Quellenedition in einem Wiki verbindet, ist nicht primär, mit welcher WikiSoftware das Projekt gestaltet werden soll. Viel bedeutsamer ist es, eine Grundsatzentscheidung darüber zu treffen, ob ein bereits funktionsfähiges Wiki wie Wikisource für den eigenen zu bearbeitenden Quellencorpus verwendet oder ob ein eigenständiger Webserver mit entsprechenden Softwareerweiterungen und einer Wiki-Software aufgesetzt werden soll. Von dieser Grundsatzentscheidung hängt wesentlich die gesamte inhaltliche Strukturierung der Edition ab, denn mit den vorgegebenen Standards der Wikisource ist gleichsam die Einpassung der eigenen Quellen in die jeweils vorhandene Struktur vorgegeben. In einem ersten Abschnitt möchte ich die bisher gesammelten Erfahrungen, die ich im Zusammenhang mit der Edition von Quellen in dem Wiki „Wikisource“ gemacht habe, zusammenfassend schildern. In einem zweiten Abschnitt wird die Frage der Edition von Quellen aus der Perspektive der „Editionswissenschaft“ kurz erörtert. Abschließend werden einige allgemeine Überlegungen zum Problem der Nutzung von Wikis in der Geschichtswissenschaft formuliert. 1.
Edition von Quellen zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe in Wikisource
Die digitale Quellenedition Wikisource hat sich ähnlich wie die Enzyklopädie Wikipedia in den letzten Jahren rasant entwickelt. Aufgrund ihrer Nähe zu dem Schwesterprojekt Wikipedia und den damit vorhandenen Möglichkeiten der Kontextualisierung von Quelleninformationen war es vorteilhaft, dieses Wiki für die Edition von Quellen zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe zu verwenden.
Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe.
Abbildung 1:
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Transkription der Quelle: Betrachtungen zum Prozeß Buschhoff von Paul Nathan
Die Verwendung der Wikisource bedeutet, bereits vorgegebene Standards bei der Edition von Quellen zu berücksichtigen. Anhand von drei Quellen zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe möchte ich diese Standards vorstellen.10 Insbesondere sieben Standards sind in Wikisource bei der Edition einer Quelle zu berücksichtigen.
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http://de.wikisource.org/wiki/Betrachtungen_zum_Prozeß_Buschhof; http://de.wikisource.org/wiki/Enthüllungen_zur_Konitzer_Mordaffaire; http://de.wikisource.org/wiki/Der_Blutmord_in_Konitz. Im Folgenden geht es um die in der Wikisource etablierten Standards für die Edition einer Quelle. Inhaltliche Fragen wie die Relevanz der Quellen für die Geschichte des Xantener bzw. des Konitzer Ritualmordvorwurfs werden vollständig ausgeblendet.
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Jürgen Beine
Abbildung 2:
Wiki-Commons: Zusammenfassung der einzelnen Seiten einer Quelle in einer “Kategorie”
1.
Jede Quelle wird eingescannt und auf „Wiki-Commons“11 hinterlegt. Damit verbunden ist die Urheberrechtsfrage an dem „Bild“, das der GNU- Lizenz12 zu unterliegen hat. Gleichzeitig ist bei einer mehrere Seiten umfassenden
11
Zur Definition: “Wikimedia Commons is a media file repository making available public domain and freely-licensed educational media content (images, sound and video clips) to all.” http://commons.wikimedia.org/wiki/Commons:Welcome. Zu den rechtlichen Fragen siehe beispielsweise: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/archive/6/61/20061012021057!Wikisource-leaflet-de.pdf, 30.3.2009. „Alle in Wikisource verfügbaren Inhalte sind entweder gemeinfrei oder stehen unter einer freien Lizenz (GNU FDL, Creative Commons) zur Verfügung. Die von den Wikisource- Mitarbeitern erstellten redaktionellen Inhalte stehen ebenfalls unter einer freien Lizenz. Sie dürfen somit - bei Nennung der Herkunft bei nicht gemeinfreien Texten - uneingeschränkt verbreitet und verändert werden.“
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Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe.
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Quelle eine „Kategorie“ in „Wiki-Commons“13 anzulegen, in welcher die einzelnen Seiten als „Galerie“ dargestellt werden. Abbildung 3:
Enthüllungen zur Konitzer Mordaffäre: Metadaten (Textdaten) und Editionsrichtlinien sowie Bearbeitungsstand
2.
Zu jeder Quelle werden Metadaten hinterlegt. Dazu gehört, dass der Titel und die Herkunft der Quelle genau belegt werden. Außerdem wird häufig eine kurze Beschreibung der Quelle mitgeliefert. Wichtig ist in diesem Kontext noch, dass Links, insbesondere auch Links zwischen einzelnen WikimediaProjekten, eine erste Kontextualisierung der Quelle ermöglichen. Beispiel: Die in Wikisource transkribierte Quelle „Betrachtungen zum Prozeß
13
Zum Zweck von Wikimedia- Commons: Es „dient allen Wikimedia-Projekten als zentraler Aufbewahrungsort für Mediendateien wie Bilder, Videos, Musik und gesprochene Texte. Die Dateien werden dabei nicht nur gespeichert, sondern auch mit Kategorien strukturiert und in Galerien präsentiert.“ Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Hilfe:Wikimedia_Commons.
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3.
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6.
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Buschhof“ verweist auf den Wikipedia-Artikel zum Xantener Ritualmordvorwurf, der seinerseits einen Verweis auf die transkribierte Quelle hat. Jede Quelle sollte nach präzise festgelegten Editionsrichtlinien transkribiert werden. In der Praxis finden die so genannten „Wikisource-Editionsrichtlinien“14, die auch den transkribierten Quellen zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe zu Grunde gelegt wurden, häufig Anwendung. Abweichungen von bzw. Ergänzungen zu den Editionsrichtlinien sollten der transkribierten Quelle in einem gesondert markierten Abschnitt vorangestellt werden, ebenso eine kurze Einführung zur Quelle, falls erforderlich. Beispiel: Um die Schrift „Der Blutmord in Konitz“ angemessen zu kontextualisieren wurde der Edition ein kurzer Abschnitt über den verantwortlichen Herausgeber der Schrift, den antisemitischen Politiker Max Liebermann zu Sonnenberg, vorangestellt. Jede Quelle wird zweimal Korrektur gelesen. Danach wird der Bearbeitungsmodus von den verantwortlichen „Administratoren“ quasi gesperrt.15 Jede Quelle kann mit Vorlagen, einer Art Textbausteinen, einfach strukturiert werden.16 Um beispielsweise die Paginierung der Quelle im Rahmen der Transkription abzubilden, wird eine Vorlage verwendet: Die Syntax: „{{Seite Rand|1}}“. Diese Vorlage hat die Funktion, dass den transkribierten Seiten in Wikisource eine der Quelle entsprechende Paginierung hinzugefügt werden kann.17 Jede Quelle sollte in aussagekräftigen Kategorien verankert werden. Dies hat u. a. auch die Funktion, die „eigene“ Quelle mit „vergleichbaren“ Quellen thematisch zusammenzuführen. Das System der Kategorien kann dabei fortlaufend ergänzt und modifiziert werden. Somit ist es beispielsweise möglich, Quellen zum Thema Ritualmordvorwürfe bzw. zum Thema „Antisemitismus“ zusammenzufassen.
http://de.wikisource.org/wiki/Wikisource:Editionsrichtlinien. Zu den Benutzerrechten in Mediawiki siehe beispielsweise: http://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Benutzer. „Eine Vorlage ist eine Seite, die die Einbindung häufig verwendeter Elemente in andere Seiten erleichtert. Im einfachsten Fall handelt es sich dabei um einen vorformulierten Textbaustein, der auf einer anderen Seite eingefügt werden kann.“ Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/ Hilfe:Vorlagen. Die Menge der in einem Wikisource- Quelltext verwendeten Vorlagen ist unter der Registerkarte „Quelltext betrachten“ zusammengestellt.
Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe.
Abbildung 4:
171
Der Editor von Mediawiki, Anlegen von Vorlagen und Metadaten
7.
Ein systematischer Zugriff innerhalb von Wikisource auf einzelne Quellen besteht darin, „Projekte“ oder „Portale“ zu gründen resp. daran mitzuarbeiten. In der Wikisource sind diese beiden Möglichkeiten der Zusammenarbeit bislang nur in rudimentären Ansätzen vorhanden. Viel ausführlicher dagegen ist diese Form kollaborativen Arbeitens in der „Wikipedia“ realisiert.18
18
Siehe beispielsweise: http://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Imperialismus_und_Weltkriege sowie die Übersicht der Portale und die dort aufgeführten Bemerkungen zu Projekten. http://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Wikipedia_nach_Themen: „Portale sind von Wikipedianern redaktionell gepflegte Einstiegsseiten in die Enzyklopädie. Sie präsentieren eine Übersicht der wichtigsten Artikel zu einem Themengebiet und verraten, welche Artikel neu geschrieben wurden und welche gerade Hilfe benötigen, wenn du Lust hast, dich zu beteiligen. Diese Seite listet alle etwa 450 Portale der Wikipedia auf. Weitere Hinweise für die Mitarbeit bietet das Au-
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Abbildung 5:
Zuordnung einer Quelle zu einer resp. mehreren „Kategorien“
Neben diesen sieben allgemeinen Standards bei der Edition einer Quelle in Wikisource spielen wie in jedem Hypertextsystem die „internen und externen Links“ sowie die Möglichkeit, Fußnoten auch nach Gruppen generieren zu können, eine hervorragende Rolle. Durch die Gruppierung von Fußnoten ist es möglich, auch diejenigen Fußnoten, die in Quellen aufgeführt sind, ansprechend in Transkriptionen zu reproduzieren. Ein Beispiel: In dem Buch „Der Blutmord von Konitz“ arbeitet der Autor teilweise mit umfangreicheren Textpassagen in Fußnoten, die entsprechend in Wikisource aufbereitet werden können.19
19
torenportal. Hinweise und Informationen über die Gründung eines neuen Portals sind hier zu finden.“ (30.3.2009) Über Funktionalitäten der Mediawiki-Software, die allgemein in jedem Wiki verfügbar und nicht spezifisch für die Edition von Quellen von Relevanz sind, wie z. B. die Suche nach Zeichenfolgen, siehe insbesondere das Handbuch: http://meta.wikimedia.org/wiki/Hilfe: Handbuch.
Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe.
Abbildung 6:
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Der Blutmord in Konitz: Fußnotenverwaltung in Wikisource
Das Wiki „Wikisource“ hat Standards entwickelt, die eine (wissenschaftlich) fundierte Edition historischer Quellen ermöglichen. Dabei stellt die digitale Reproduktion des „Originals“ und seine „Kategorisierung“ in Wiki-Commons eine intersubjektive Überprüfung der Transkriptionen sicher. Nach einem zweifachen Korrekturdurchgang ist faktisch die endgültige Version einer transkribierten Quelle im Wiki verfügbar. In diesem Zusammenhang ist ein Aspekt von grundsätzlicher Relevanz. Der verantwortliche Bearbeiter und/oder Herausgeber einer Quelle tritt in Wikisource nahezu vollständig in den Hintergrund. Stattdessen tritt als regulative Instanz die „Community“ in den Vordergrund. Sie setzt die Standards und ist aufgrund der erarbeiteten und sich fortentwickelnden inhaltlichen und kommunikativen Regeln für das Gelingen des Gesamtprojektes verantwortlich.
174
2.
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Text Encoding Initiative (TEI): Zur Etablierung von editionswissenschaftlichen Standards in der Geschichtswissenschaft
Innerhalb der Geisteswissenschaften hat sich das Dokumentenformat, das von der Text Encoding Initiative (TEI) seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt entwickelt wurde, zu einem „De facto Standard“ ausgebreitet.20 Innerhalb geschichtswissenschaftlich ausgerichteter Projekte21 verdeutlicht dies eindrucksvoll das „Deutsche Textarchiv“22 und das an der Herzog-August Bibliothek in Wolfenbüttel verankerte Projekt MASTER, welches mittelalterliche Handschriften erschließt und mit der im November 2007 freigegebenen Version 5 von TEI erstellt wird. 23 Die Entscheidung für die Verwendung der philologischen Textbeschreibungssprache TEI leitet sich insbesondere aus der Tatsache ab, das TEI konforme Dokumente plattformunabhängig sind. Dies sichert insbesondere Nachhaltig-
20
21 22
23
http://de.wikipedia.org/wiki/Text_Encoding_Initiative. Zu der Initiative: http://www.teic.org/index.xml. Dort auch eine Liste mit den aktuellen Projekten: http://www.teic.org/Activieties/Projects/. –Mit dem XML- Standard TEI geht jedoch keineswegs eine exakt festgelegte Konzeption einer geschichtswissenschaftlichen Edition einher. Aus pragmatischen Gründen kann es zweckmäßiger sein, zunächst mit Textverarbeitungs- und Datenbanksystemen eine eigenständige Konzeption einer Edition zu entwickeln. Siehe beispielsweise die Konzeption „Integrierte Computergestützte Edition“ in: http://www.fcr-online.com/, dort die Seite Dokumentation bzw. Projektdokumentation, (12.4.2009). Skeptisch partiell auch: Jörg Ritter/Susanne Schütz/Stefan Teitge: Entwicklung und Einsatz einer TEI- konformen Arbeitsumgebung für die Edition der Dramen von Karl Ferdinand Gutzkow, in: Jahrbuch für Computerphilologie, 9, 2007, S. 181 ff., hier zitiert nach: http://computerphilologie.tu-darmstadt.de/ jg07/rischuetei.html (15.4.2009). Interessant in diesem Zusammenhang vor allem, dass mit „Kronos“ eine Software programmiert wurde, die XML/ Tei und andere Formate generiert. Siehe dazu den instruktiven Bericht über den Workshop „Digitale Editionen“, der im Oktober 2007 stattfand. http://www.akademienunion.de/digital/index.html (12.4.2009). „Ziel des Deutschen Text Archivs ist es, einen disziplinübergreifenden Kernbestand an Texten deutscher Sprache von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart zu digitalisieren und so aufzubereiten, dass er über das Internet in vielfältiger Weise nutzbar ist. – Das DTA soll in größtmöglicher Breite widerspiegeln, was seit dem Barock an bedeutenden Werken in deutscher Sprache veröffentlicht worden ist. Seine Texte sollen gleichzeitig repräsentativ für die Entwicklung der deutschen Sprache seit der frühen Neuzeit stehen. Das DTA ist nicht an eine bestimmte Disziplin gebunden: es soll sprachhistorische Forschungen möglich machen, ist aber nicht darauf beschränkt. Das Schwergewicht wird dabei sicherlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften liegen, es werden aber auch naturwissenschaftliche und medizinische Texte aufgenommen, die wissenschafts- oder sprachgeschichtlich eine wichtige Rolle gespielt haben.“ Eine Liste der bearbeiteten Schriften: http://www.deutsches-textarchiv.de/progress/ (13.4.2009). http://www.hab.de/forschung/projekte/master.htm (14.4.2009).
Edition von Materialien zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe.
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keit. Gleichzeitig verknüpft sich mit der Entscheidung für TEI die Vorstellung der Ausgestaltung eines „social network“.24 Auf der anderen Seite besteht der Nachteil der Verwendung von XML/ TEI gerade darin, dass eine umfangreichere Einarbeitungsphase in die komplexe Grammatik erforderlich ist. Dies dürfte der ausschlaggebende Hemmschuh dafür sein, dass jenseits von größeren Editionsprojekten auf die Verwendung von TEI eher verzichtet wird. Im Vergleich zu der einfachen Syntax der Wikisource ist die Grammatik von TEI so komplex, dass eine schnelle Einarbeitung trotz guter Einführungen nur schwer möglich ist. 25 3.
Wikis in der Geschichtswissenschaft – Wikisource und XML/TEI
Quelleneditionen, die auf der Grundlage der Standards der „Text Encoding Initiative“ erstellt wurden und werden, liegen in einem plattformunabhängigen Format vor. In diesem Zusammenhang ist von großer Bedeutung, dass die Generierung eines Quellenbestandes in dieses Formats nur dann zweckmäßig ist, wenn der Bestand eine entsprechende Größenordnung hat. Wie kann jedoch vorgegangen werden, wenn der Quellenbestand einen eher geringen Umfang hat, trotzdem aber die unbezweifelbaren Vorteile von TEI genutzt werden sollen? Eine Möglichkeit wäre, eine Art „kollaboratives Redaktionssystem“ zu entwickeln, das XML/TEI konforme Datenbestände zu generieren imstande ist und gleichzeitig eine Exportschnittstelle für Wikisource bereitstellen kann.26 Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Wikisource um solche Tools zu erweitern, dass ein Export nach XML/TEI möglich wird. Während sich also die Editions- und Geschichtswissenschaft eher darauf fokussiert, Quellenbestände mit XML/TEI für den wissenschaftlichen Diskurs zu erschließen, werden in der Wikisource Quellen resp. Quellenbestände durch „Kollaborationen“ aufgerollt27. In Bezug auf Quellen zur Geschichte der Ritualmordvorwürfe hat die Wikisource einen großen Vorteil: Sie ist ein Massenmedi24 25
26 27
“The TEI Consortium is a non-profit membership organization composed of academic institutions, research projects, and individual scholars from around the world. Members contribute financially to the Consortium and elect representatives to its Council and Board of Directors.” Neben der ausgezeichneten Einführung in TEI auf der Projekthomepage http://www.teic.org/Support/Learn/ siehe auch: http://computerphilologie.uni-muenchen.de/praxis/teiprax. html (15.4.2009). Erste instruktive Beispiele zu TEI in: Wikipedia (Text Encoding Initiative), 15.4.2009. Zur Export- und Importfunktion von Wikisource siehe: http://meta.wikimedia.org/wiki/ Hilfe_Diskussion:Export Siehe beispielsweise den Text über William von Norwich in der Katholischen Enzyklopädie: http://en.wikisource.org/wiki/Catholic_Encyclopedia_(1913)/St._William_of_Norwich.
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um, das sich in unterschiedlichen Sprachversionen bereits fest etabliert hat und eine Kontextualisierung auf kollaborativer Ebene zu realisieren vermag. Was bedeutet dieser Befund für die Nutzung von Wikis in der Geschichtswissenschaft? Es macht wenig Sinn, für die Edition von Quellen weitere eigenständige Wikis zu implementieren,28 zu sehr hat Wikisource bereits Standards und damit auch Fakten gesetzt. Wichtig ist vielmehr, die in Wikisource publizierten Quellen in Form von „Mash-Ups“29, beispielsweise in Open Street Map30, so in erweiterte Zusammenhänge zu stellen, beispielsweise in einer Karte der wichtigsten Ritualmordvorwürfe in Europa, dass daraus wiederum interessante transnationale Formen der Kollaboration entstehen. Literatur Literatur zum Thema „Wiki“ Blumauer, Andreas/ Pellegrini, Tassilo (2009): Social Semantic Web. Web 2.0 – Was nun?. Berlin: Springer Ebersbach, Anja/ Glaser, Markus/ Heigl, Richard (2008): Social Web. Konstanz: UVK Kantel, Jörg (2009): Per Anhalter durch das Mitmach-Web. Publizieren im Web 2.0: Von Social Networks über Weblogs und Wikis zum eigenen Internet-Fernsehsender. Heidelberg u. a.: Mitp-Verlag Ausgewählte Webseiten zum Thema „Wiki“ und Text Encoding Initiative (TEI) http://de.wikipedia.org/wiki/Groupware. http://de.wikipedia.org/wiki/Wiki http://de.wikipedia.org/wiki/Projekt_Xanadu http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Wiki-Software http://www.medienspielwiese.de/wiki/index.php/3.6_Syntax:_Wiki_versus_HTML http://de.wikisource.org/wiki/Hauptseite http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/archive/6/61/20061012021057!Wikisour ce-leaflet-de http://de.wikipedia.org/wiki/Hilfe:Wikimedia_Commons http://de.wikisource.org/wiki/Wikisource:Editionsrichtlinien http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Benutzer http://de.wikipedia.org/wiki/Hilfe:Vorlagen http://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Imperialismus_und_Weltkriege http://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Wikipedia_nach_Themen http://meta.wikimedia.org/wiki/Hilfe:Handbuch http://de.wikipedia.org/wiki/Text_Encoding_Initiative 28 29 30
Es sei denn für eigene Lehr- und Lernzwecke. http://de.wikipedia.org/wiki/Mashup_(Internet). http://www.openstreetmap.de/.
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http://www.tei-c.org/index.xml http://computerphilologie.tu-darmstadt.de/jg07/rischuetei.html http://www.akademienunion.de/digital/index.html http://www.deutsches-textarchiv.de/progress/ http://www.hab.de/forschung/projekte/master.htm http://www.tei-c.org/Support/Learn/ http://computerphilologie.uni-muenchen.de/praxis/teiprax.html http://meta.wikimedia.org/wiki/Hilfe_Diskussion:Export http://de.wikipedia.org/wiki/Mashup_(Internet) http://www.openstreetmap.de/ Literatur zum Thema „Ritualmordvorwürfe“ Beine, Jürgen (2005): Ritualmordlegende und antisemitische Propaganda im Siegerland an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die „Konitzer Mordaffäre“ von 1900 im Spiegel der Stoeckerschen Parteizeitung „Das Volk“ und der Siegener Zeitung. In: Siegener Beiträge, 10, 2005, S. 109-125 Buttaroni, Susanna/ Musiaá, Stanisá (2003) (Hg.): Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte. Wien u. a.: Böhlau Groß, Johannes T. (2002): Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871-1914). Berlin: Metropol Nonn, Christoph (2002): Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Walser-Smith, Helmut (2002): Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. Göttingen: Wallstein. Ausgewählte Webseiten zum Thema „Ritualmordvorwürfe“ http://www.radio.cz/print/de/94788 http://www.hilsneriade.net/ http://de.wikipedia.org/wiki/Xantener_Ritualmordvorwurf http://de.wikipedia.org/wiki/Konitzer_Mordaffäre http://www.politikportal.at/schluessel=OTS_20081114_OTS0269 http://de.wikisource.org/wiki/Betrachtungen_zum_Prozeß_Buschhof http://de.wikisource.org/wiki/Enthüllungen_zur_Konitzer_Mordaffaire http://de.wikisource.org/wiki/Der_Blutmord_in_Konitz. http://en.wikisource.org/wiki/Catholic_Encyclopedia_(1913)/St._William_of_Norwich
Abbildungen Abbildung 1: Transkription der Quelle: Betrachtungen zum Prozeß Buschhoff von Paul Nathan Abbildung 2: Wiki-Commons: Zusammenfassung der einzelnen Seiten einer Quelle in einer “Kategorie”
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Abbildung 3: Enthüllungen zur Konitzer Mordaffäre: Metadaten (Textdaten) und Editionsrichtlinien sowie Bearbeitungsstand Abbildung 4: Der Editor von Mediawiki, Anlegen von Vorlagen und Metadaten Abbildung 5: Zuordnung einer Quelle zu einer resp. mehreren „Kategorien“ Abbildung 6: Der Blutmord in Konitz: Fußnotenverwaltung in Wikisource
V.
Hören und Medien
Medium Ohr. Eine kurze Geschichte des Hörens1 Karl Karst „Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht, jenes schaut um, wohin es will, dieses nimmt auf, was ihm zugeführt wird.“ (Grimm 1963 [1863]: 58)
Der abendländische Mensch scheint ins Sehen geboren. Nicht erst die Einführung visueller Medien, die mit technologischer Omnipotenz das zwanzigste Jahrhundert prägten, hat dem Auge zur Vor-Macht verholfen. In ihren Ursprüngen ist es die klassische abendländische Philosophie, namentlich die „Phänomenologie“ der griechischen Visualkultur, die den ‚Glauben‘ an die Phänomene des Auges protegierte und die Auffassung verbreitete, die Welt sei vor allem durch ihre sichtbare Erscheinung zu erfassen. Platons „Wesens-Schau“ vollzog sich durch die Augen, für Parmenides war das Licht die Voraussetzung der Erkenntnis – und in ihrem Gefolge definierte die Philosophie der Neuzeit, wie Leibnitz es tat, das „Licht als das Prinzip des Seyns“, den Verstand als Summe von Ein-Sichten, das Wissen als ein „DurchSchaun“, während das Mittelalter, das nicht wenige der späteren Augen-Philosophen „dunkel“ nannten, sich auch dem Unsichtbaren und Unbeleuchteten nicht verschloss. „[D]as Ohr [ist] das schlechthin egoistische Organ (…), das nur nimmt, aber nicht gibt; seine äußere Formung scheint dies fast zu symbolisieren, indem es als ein etwas passives Anhängsel der menschlichen Erscheinung wirkt, das unbeweglichste aller Organe des Kopfes.“ (Simmel 1907: 122)
1
Der hier veröffentlichte Beitrag entstand auf der Grundlage der Recherchen für die Sendereihe „Schule des Hörens“ (Hessischer Rundfunk), die 1996 zur Gründung des gemeinnützigen Projektkreises Schule des Hörens beitrugen, dessen Vorsitzender heute Prof. Dr. Manfred Kammer ist. Die Arbeit der Schule des Hörens bildete ihrerseits wiederum die Basis für die Gründung des bundesweiten Netzwerks der „Initiative Hören“ durch den Westdeutschen Rundfunk, den Deutschen Kulturrat und 30 weitere Institutionen und Verbände der Bundesrepublik. Informationen zu beiden Institutionen finden sich hier: www.schule-des-hoerens.de und www. initiative-hoeren.de.
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Mit der Säkularisierung von Kunst und Kirche, die das Zeitalter der Moderne kennzeichnet, beginnt das Ohr, das hörende, horchende und auch gehorchende Organ, seinen letzten, namentlich religiös definierten Rang zu verlieren: Das Hinschauen, das ‚mit den eigenen Augen Erleben‘ wird Gewinn versprechender als das ehrfürchtige Lauschen auf die Stimme Gottes, der man schon so lange sein Gehör geschenkt hatte – ohne ‚sichtlichen‘ Gewinn. Materialismus ist ohne Augensinn nicht denkbar. „Das Hören bringt mehr herein, das Sehen hingegen weist draußen, wenigstens die Tätigkeit des Sehens an sich. Und deshalb werden wir im ewigen Leben viel seliger sein kraft des Hörens als kraft des Sehens. Denn der Vorgang des Hörens des ewigen Wortes ist in mir, der Akt des Sehens aber geht von mir weg; und das Hören erleide ich, das Sehen aber wirke ich.“ (Meister Eckehart o. J.)2
Mit allem, was die Moderne an ‚Helligkeit‘ in das sogenannte ‚Dunkel‘ des Mittelalters brachte, wurde das Auge zuallererst erfreut: Die Kleider wurden bunter, die Gemälde profan, die Sprache, namentlich der Aufklärung, steckte voller ‚Licht-Bilder‘, und die ‚Ein-Sichten‘ der Renaissance reichten bis in die perspektivischen Tiefen des Raums und in die innere ‚Anatomia‘ des menschlichen Körpers. Wie viel Geheimnisvolles, zuvor Verborgenes und Unsichtbares gab es nun zu ‚sehen‘: Der menschliche Körper wurde durchschaubar, war keine ‚black box‘ mehr, in die man nur hineinhorchen, nicht aber hineinsehen durfte, weil es die Religion verbot. Für Aristoteles, dessen Lehre bis über das Mittelalter hinaus Gültigkeit besaß, war das Gehör noch ein luftgefülltes Hohlraumsystem. Es galt als Luftsinn, so wie die Nase als Feuersinn erschien und das Auge als Wassersinn. Erst seit der Anatomie des Vesalius besitzen wir Kenntnis von jenen Organen des Hörens, die wir als die eigentlichen bezeichnen: Vom flüssigkeitsgefüllten Innenohr mit der Cochlea und dem Vestibularapparat, der uns aufrecht und in der Waage hält. Wie das Hören aber geschieht, wie die akustische Wahrnehmung in Wahrheit zustande kommt, das blieb auch mit Kenntnis der Anatomie ein Rätsel: „Ein Ohr hat zween Teile, einen äußerlichen und einen innerlichen. Jener ist eine ablange eingebogene Krospel, bei dem Menschen allein unbeweglich, allezeit eröffnet und zu beiden Teilen des Haupts angesetzt, allerseits zu hören (…) Die inwendigen Teile hat das Bein, welches steinig genennet wird, die Hörröhren mit ihrem Trommelhäutlein und Hämmerlein an einer Ader gehenket, und sind die Gebeine des Ohrs bei den Kindern so groß als bei alten Leuten. Hiebei ist auch ein Muschelrohr 2
Die exakte Datierung der Predigt ist unklar, da diese nicht überliefert wurde. Meister Eckehart lebte von 1260 bis 1328.
Medium Ohr. Eine kurze Geschichte des Hörens
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zu betrachten, und gehet ein Gang aus dem Ohr in den Mund und von dannen in das Ohr, weswegen die, so nicht wohl hören, den Mund aufreißen, und wann man giehnet und aus Schlafbegierde den Mund angelweit aufsperret, so höret man nicht (…) [Doch] scheinet es, als wann die Natur die Ursachen ihrer schönsten Wirkungen unsern Sinnen verbergen wolle. Welchergestalt das Gehör geschiehet, ist fast nicht bekannt.“ (Happel 1990 [1684])
Zur Ausübung der neuen Seh-Kunst, die mit dem 15. Jahrhundert zu florieren begann, entstanden Instrumente, mit deren Hilfe sich die Augen-Kraft des Menschen um ein Vielfaches vergrößerte: Mikroskope und Teleskope lieferten EinBlicke in Welten, die zuvor nicht einsichtig – größtenteils völlig unbekannt waren. Immer tiefer und immer entfernter gelegene Dinge kamen zum Vor-Schein – bis hin zu jenen ‚Erscheinungen‘, von denen sich nicht mehr mit Sicherheit sagen ließ, ob sie nun tatsächlich gesichtet oder nur imaginiert worden waren: Quarks – jene Strukturen des Mikrokosmos, die kleiner waren als alles Kleine, das bis dahin entdeckt zu sein schien. Quantenphysik und Molekularbiologie haben uns Dimensionen ‚vor Augen‘ geführt, die zuvor in die Sphären des Un-Sichtbaren gehörten – in jene Bereiche, die allein dem Hören bzw. dem Hörensagen sowie dem Horchen zugänglich waren. Mit dieser Öffnung des Unsichtbaren für die Organe des Sichtbaren scheint die Bereitschaft gestiegen zu sein, neben dem bereits entdeckten NichtSichtbaren auch weiteres Noch-Nicht-Sichtbares als vorhanden anzunehmen und an Weltzustände zu ‚glauben‘, die jenseits der phänomenologischen Erscheinung der Dinge liegen. Der Boom magischer Zirkel und radikaler Endzeit-Sekten belegt dies einmal mehr. „Mehr als sichtbare gilt unsichtbare Harmonie.“ (Heraklit 1995 [o. J.]: 21)3 Es ist ein vermeintliches Paradox, dass wir durch die visuell orientierte ‚nüchterne‘ Wissenschaft der Neuzeit zu einer größeren Bereitschaft gelangt sind, auch das vorgeblich Nicht- oder Noch-nicht-reale in unsere ‚Betrachtungen‘ einzubeziehen. Auch das Hören wird in diesem Zusammenhang als Mittel der Welt-Wahrnehmung von neuem relevant. Es mehren sich die Stimmen, dass das Ohr bedeutsamer sei, als die bisherige (und immer noch andauernde) Dominanz des Auges es vermuten lasse. Über vierhundert Jahre lang hatte man dem Auge die Fähigkeit der Welt-Erkenntnis zugesprochen und seinen Bildern ‚Glauben‘ geschenkt. Nun aber, mit Relativitätstheorie und Unschärferelation, ist die visuelle Welterkundung in Gefahr: Die Koordinaten der alltäglichen Raum-Wahrneh3
Die exakte Datierung des Fragmentes ist unklar, da das Werk Heraklits verschollen ist und sich nur die Fragmente etwa in Form von Zitaten erhalten haben. Heraklit wurde zwischen 540 und 535 v. Chr. geboren und starb zwischen 483 und 475 v. Chr.
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mung: Höhe, Länge, Breite – in der Renaissance zur neuen Kunst der Perspektive geformt – sind fragwürdig geworden, seit Einstein den Raum mit der Zeit gekrümmt und die theoretische Physik die n-Dimensionalität, die Viel-Dimensionalität der Welt errechnet hat. Maß-Stäbe des Auges – wer kann noch an sie noch glauben, im Zeitalter der Digital-Illusionen, die millionenfach auf die Gehirn-Screens der ‚Empfänger‘ blitzen? „Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie.“ (Adorno 1963: 508) In einer 1908 erschienenen Forschungsarbeit über „Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit“ (Cyon 1908a) konstatierte Elsie von Cyon, „dass das Ohr das wichtigste aller Sinnesorgane“ (Cyon 1908b: 535) sei. Ob es tatsächlich ein Organ des menschlichen Körpers gibt, das wichtiger ist als ein anderes, sei dahingestellt. Bedeutsam indessen ist die zunehmende Zahl physikalischer und anthropologischer Hinweise darauf, dass es ein Irrtum wäre zu meinen, wir ‚sähen‘ nur mit den Augen gut. „Es ist kein leeres Bild, keine Allegorie, wenn der Musiker sagt, daß ihm Farben, Düfte, Strahlen als Töne erscheinen und er in ihrer Verschlingung ein wundervolles Konzert erblickt. So wie, nach dem Ausspruch eines geistreichen Physikers, Hören ein Sehen von innen ist, so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen“ (Hoffmann 1814/15: 463)
Vom „Geistesauge“, mit dem sich die Dinge durchschauen ließen, wusste auch Goethe zu sprechen. Dabei sei zu beachten, dass „die Geistes-Augen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr geräth zu sehen und doch vorbeizusehen“ (Goethe o. J.)4. William S. Burroughs begann sein Nachdenken über „Die unsichtbare Generation“ mit dem Satz: „was wir sehen wird weitgehend bestimmt durch das was wir hören“ (Burroughs 1969: 166). Wie sehr das Hören ein Sehen ist – wie untrennbar die Sinne der optischen und akustischen Wahrnehmung miteinander verknüpft sind, zeigt die Alltagserfahrung der Fernseh-, Film- und Hörspielrezeption in Deutlichkeit: Das Ohr ist das Organ der Imagination, es liefert uns – in einer Buntheit und Lebendigkeit wie es das reale Bild nicht kann – jene Vorstellungen, die den Film ‚zum Laufen‘ bringen und das Hörspiel zum Leben. Wie langweilig wäre ein Film, der alles Zeigbare vor Augen führt? Je mehr ‚Leerstellen‘ er aufweist, desto lebendiger, gespannter, farbenreicher wird die innere Vorstellung, desto ‚phantastischer‘ erscheint das Bild, das wir zu ‚sehen‘ meinen, während wir es in Wahrheit ima4
Die exakte Datierung des Textes ist unklar, da sie nicht überliefert wurde. Johann Wolfgang von Goethe lebte von 1749 bis 1832.
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ginieren. „Das Imaginäre ist nicht das Illusorische, sondern ein anderes Reales“ (Juranville 1990) Im Gegensatz zur Illusion, die sich stets aus dem Sichtbaren ableitet und letztlich eine optische (oder im übertragenen Sinne) gedankliche Täuschung ist, bleibt die Imagination ein Phänomen des Nicht-Gesehenen, aber bildlich Vorgestellten. Der Traum lebt von dieser ‚anderen‘ Wirklichkeit – und ebenso das Hörspiel (das im Gegensatz zum Traum Bilder allein aus dem Hörbaren entstehen lässt, während der Traum sich auch in der optischen Welt aufzuhalten scheint). Mit welchem Sinnesorgan die Wahrnehmung dieser anderen Wirklichkeit geschieht, ist uns nicht bekannt. Wir wissen ebenso wenig zu benennen, welches ‚Organ‘ es ist, das uns (zum Beispiel) ohne Sicht-, Hör- oder Hautkontakt ‚spüren‘ lässt, wenn die Augen eines – durchaus fremden – Menschen sich ‚in unseren Rücken bohren‘, wenn uns also jemand, selbst über große Entfernung hinweg, von hinten anschaut. Was überträgt sich bei diesem Vorgang des fixierenden Sehens und über welchen Träger wird es transportiert, von welchem Instrument empfangen? Welcher Art ist der Impuls, den wir ganz offensichtlich wahrnehmen, wenn wir uns schließlich umdrehen, um zu schauen, was da ist? Wenn Wahrnehmung der Empfang von Schwingungen ist, für die unser Körper einen ‚Decoder‘ besitzt, dann sind unsere Sinnesorgane spezialisierte, auf einen Teilbereich der vorhandenen Schwingungen ausgerichtete Rezeptoren. Sie sind Außen-Öffnungen eines übergeordneten Systems, das die Struktur der Schwingungen ‚übersetzt‘ und durch Vernetzung zu ‚Wirklichkeits-Bildern‘ zusammenfügt. Bekanntermaßen (und zum Wohle unseres Körpers) empfangen die Rezeptoren Auge und Ohr nur einen begrenzten Teil der jeweils vorhandenen rhythmischen Strukturen ihrer Überträgersubstanzen. Wie Hören das Empfangen rhythmischer Strukturen der Luft (oder des Wassers) ist und Sehen ein Empfangen rhythmischer Strukturen des Lichts, sind auch Riechen, Schmecken, Tasten Wahrnehmungen rhythmischer Vorgänge, deren Zusammenhang dem analytischen Verständnis bislang jedoch verborgen geblieben ist. Immerhin hat die Forschung mit der technischen Erweiterung von Auge und Ohr Messinstrumente geschaffen, die Auskunft darüber geben, dass es oberhalb, unterhalb und auch außerhalb jener Schwingungen, die unsere Sinnesorgane erfassen, rhythmische Strukturen gibt, für die wir (bislang) keine Rezeptions-, d. h. keine Umsetzungsorgane beim Menschen gefunden haben: Elektromagnetische Wellen zum Beispiel, die mit zunehmender Zahl von Radio-, Fernseh-, Funk- und Telefon-Frequenzen den Äther überfluten. Dass sich das Prinzip des „Drahtlosen Telefonierens“, wie der Rund-Funk in seiner Gründerzeit einmal hieß, mit solchem Erfolg durchgesetzt und – nimmt
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man den historischen Ausdruck wörtlich – erst heute mit dem Mobil-Telefon buchstäblich verwirklicht hat, scheint nicht zuletzt das Verdienst seiner UnSichtbarkeit zu sein – von seiner Geschmack- und Geruchlosigkeit ganz zu schweigen. Wie folgenschwer die Gleichsetzung von Unsichtbarkeit und Unschädlichkeit jedoch ist, zeigen nicht nur die zunehmenden Fälle von Elektrosensibilität, die sich mit den schnell pulsigen Satellitenfrequenzen des Digital-Rundfunks noch vermehren werden, sondern auch die in den USA bereits zum Gegenstand von Gesetzesvorschriften geratene Erscheinung des „Radio-Smogs“. Wir riechen sie nicht, wir schmecken sie nicht – aber wir müssen sie dennoch ‚verdauen‘, die elektromagnetischen Wellen der D-, E-Mobiltelefon-Netze und der anderen Funk-Frequenzen, die uns ihre magnetischen Ströme ‚um die Ohren jagen‘. Es ist die Konsequenz eines mechanistischen Weltverständnisses, die Dividierbarkeit eines Ganzen in seine Teile als folgenlos für die Beschaffenheit des Ganzen zu betrachten. Der sezierende Blick der analytischen Forschung befördert das Verständnis, jedes Teil sei unabhängig vom anderen zu betrachten, zu verändern, zu ersetzen. Die Symptom-Therapie der westlichen Schulmedizin ist ebenso eine Folge dieses ‚Glaubens‘ wie der florierende Handel mit ‚Organspenden‘ und der genmanipulatorische Eingriff in die Beschaffenheit von Nahrungsmitteln und Lebewesen. Trotz einer kaum mehr kontrollierbaren Zunahme jener Erkrankungen, die mit dem Euphemismus „Allergien“ auf die Über-Empfindlichkeit des einzelnen Organismus abgewälzt und deren Zusammenhang mit dem Ganzen, das wir „Umwelt“ nennen, abgestritten wird, hat sich dieser ‚Glaube‘ an die Zusammenhanglosigkeit der Phänomene bis heute erhalten. Gegen die Beharrlichkeit des mechanistisch-analytischen Weltbildes ist auch die zunehmende Verbreitung östlicher Philosophie und Medizin – mitsamt ihrer modischen Untererscheinungen – wenig machtvoll. Der ‚ganzheitliche‘ Blick auf den Menschen hat für den ‚aufgeklärten‘ Zeitgenossen der westlichen Gesellschaft immer noch zuviel ‚Hokuspokus‘ an sich: Wie bei der Zauberei dominiert das Unsichtbare. Man kann nicht sehen, wie sich eins und eins zu zwei addieren. Man muss es ‚glauben‘ oder nicht – und ‚Glauben‘, sagt uns der moderne Menschenverstand, das ist so eine Sache im Zeitalter von Datenautobahn und Zentralbildschirm, der uns sichtbare Belege liefert für alles, was wir wollen: Bildschirmbelege, deren Fiktivität niemand mehr ernstlich interessiert. Geradezu absurd erschiene es dem Medienkunden unserer Tage, würde man ihm sagen, dass gerade er zu den willfährigsten ‚Gläubigen‘ aller Zeiten gehört. „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht.“ (Hebräer, 11, 1) Seit jeher ist religi-
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öser Glaube eine Folge der ‚inneren Schau‘, die weniger mit dem Sehen als mit dem Hören in Verbindung steht. Keine der bekannten Religionen propagiert ihren Gottes-Glauben als Konsequenz einer visuellen Erfahrung – im Gegenteil: Wer sichtbare Zeichen verlangt, wie der ‚ungläubige‘ Thomas es tat, der gilt gemeinhin als unwürdig. „Wer sein Ohr abwendet, das Gesetz zu hören, des Gebet ist ein Greuel.“ (Sprüche, 28, 9) Weltweit ist Religiosität eine Sache des Hörens (und des Gehorchens). Sowohl der christliche als auch der jüdische als auch der islamische Gott offenbart sich als (innere) Stimme. Mit ihr gewinnt er bestimmende Kraft. „Zuhören ist das evangelische Wort par excellence: Der Glaube läuft auf ein Hinhören auf das Wort Gottes hinaus, denn durch dieses Hinhören ist der Mensch mit Gott verbunden“ (Barthes 1976: 253; Hervorhebung im Original)
Das Auge gehört der Welt, das Ohr gehört Gott. Und vice versa: Die Welt gehört dem Auge, Gott gehört dem Ohr. Religiöse Darstellungen der mittelalterlichen Kunst zeichnen das Ohr als Ort der göttlichen Empfängnis. Der „Heilige Geist“ findet Zugang durch das Gehör, und auch Marias „unbefleckte Empfängnis“ geschieht durch ihr geneigtes Ohr: Da fährt eine pausbäckige Christusputte auf einem Strahl von Gottes Stirn, dem Sitz des Dritten Auges, direkt hinab in Mariens Ohr, das zwar ein äußerliches ist, aber schon aufgrund der Größenverhältnisse als Symbol gelten muss. Als ein Symbol vielleicht für jenes „Dritte Ohr“, das, weder in der Kunstgeschichte noch in der Philosophie seinen Ort bislang gefunden hat. „Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ (Lorenz Oken)5 ‚Östliche‘ und ‚westliche‘ Religionstraditionen – allesamt gründen sie auf dem Hören. Im Gegensatz zur Meditationspraxis der Buddhisten ist das Beten der Christen, Juden und Muslime jedoch eine vergleichsweise lautstarke Angelegenheit. Während die Meditation auf dem Stillsein beruht, ist das Beten mehrheitlich ein nach außen gerichteter ‚sprechender‘ Vorgang: Nicht nur die Ohren, der ganze Körper soll ‚hören‘, still werden und empfangen – das ist seine eigentliche Aufgabe im ZEN. „Dem Geist, der aufhört, zu unterschieden, sind alle Dinge eins.“ (Seng-ts´an o. J.)6 Bei näherer Betrachtung muss es überraschen, dass der japanische ZEN, der sich aus dem chinesischen „Ch'an“ entwickelte, in westlichen Kontinenten solche Verbreitung gefunden hat. Wörtlich genommen widerspricht er der Nutzung 5 6
Dieser Ausspruch des Philosophen Lorenz Oken (1779-1851) wird oft zitiert, allerdings ist die Originalquelle unklar. Die exakte Datierung des Textes ist unklar, da sie nicht überliefert wurde. Der dritte ZenPatriach Seng-ts´an starb 606, das Geburtsjahr ist unbekannt.
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seiner Praktiken für die individuelle Leistungssteigerung, für die sie allenthalben eingesetzt werden. ZEN betreibt die Kunst des Nicht-Tuns, des Nicht-Wissens, des Nicht-Urteilens, des Nicht-Unterscheidens. Er fordert die Identität mit dem Augenblick, des gelassenen Verweilens in dem, was ist. Eigenschaften, die jenen des analytisch erzogenen, zur Unterscheidung angehaltenen westlichen Verstandes entgegenstehen. Die Paradoxie des Zen – und jeder Reflexion über ihn – besteht darin, ein Wissen vom Nichtwissen zu vermitteln. Dies ist auch die Schwierigkeit jeder Reflexion über Zen: „Zen ist Zen“. ZEN – so übersetzt es der ZEN-Meister Taisen Deshimaru heute: ist wahre und tiefe Stille, ist Hinführung zu einer geistigen Ruhe, in der die Dinge und die Menschen als das erscheinen, was sie sind: als gleich-gültig und bewertungslos. In diesem Wortsinn steckt die Bedeutung des ZEN für eine Gesellschaft, in der Stille nurmehr als Phänomen des Krankseins, der Lebensferne, der Unproduktivität erscheint, nicht mehr als rhythmische Pause zwischen den Pulsen der Aktivität. „Es gibt (…) eine akustische Verschmutzung, bei der vom Hippie bis zum Pensionär jeder (vermittels naturalistischer Mythen) deutlich spürt, daß sie einen Anschlag auf die Intelligenz des Lebewesens schlechthin darstellt, die stricto sensu seine Fähigkeit zu einer guten Kommunikation mit seiner Umwelt ist: Die Verschmutzung verhindert das Hinhören.“ (Barthes 1976: 251; Hervorhebung im Original)
Das organische Sehen und Hören ist ein illusorisches, sagt der ZEN – und nicht nur er. Was wir mit unseren Sinnesorganen empfangen, erklärt die Wissenschaft, sind Resonanzen entfernter Schwingungen. Das eigentliche ‚Hören‘ und ‚Sehen‘ ist ein imaginatives, ein inneres, ein Wahr-Nehmen mit jenen ‚Organen‘, die wir mangels treffender Bezeichnungen als „Dritte“ bezeichnen – als „Drittes Auge“, als „Drittes Ohr“ – oder, bezogen auf alle Sinne des Menschen, als den „sechsten“ Sinn. In diesem dritten oder sechsten „Organ“ ist die Dualität von Sehen und Hören, auch jene von Außen und Innen, von Imagination und Realität aufgehoben. Dieses „Hören-Sehen“ registriert intuitiv, entscheidet impulsiv, sieht mit Goethes „Geistesauge“, hört mit Nietzsches „Drittem Ohr“ – und spricht mit der „eigenen inneren Stimme“. Es ist ein Hören und Sehen und Fühlen zugleich: Weder findet es allein mit den Augen noch allein mit den Ohren statt – noch ist es überhaupt an eines der Organe gebunden. Es scheint, nach allem, was sich sagen lässt, eine ‚Offenporigkeit‘ zu sein. Eine Offenporigkeit, an der alle ‚Sinne‘ des Organismus beteiligt sind – auch jene, die wir noch nicht kennen.
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Literatur Adorno, Theodor W. (1997): Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe – Stichworte – Anhang. Gesammelte Schriften. Band 10.2. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Adorno, Theodor W. (1963): Prolog zum Fernsehen. In: Adorno (1997): 507-517 Barthes, Roland (1990): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp Barthes, Roland (1976): Zuhören. In: Barthes (1990): 249-263 Brinkmann, Rolf-Dieter/Rygulla, Ralf-Rainer (Hrsg.) (1983): ACID. Neue amerikanische Szene. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Burroughs, William S. (1969): Die unsichtbare Generation. In: Brinkmann/Rygulla (1983): 166-174 Cyon, Elie von (1908a): Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit. Berlin: Springer Cyon, Elie von (1908b): Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum, Zeit und Zahl. In: Pflügers Archiv. European Journal of Physiology 118. H. 8-10. 525-535 Goethe, Johann Wolfgang von (1891): Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. II. Abtheilung. Goethes Naturwissenschaftliche Schriften. 6. Band. Zur Morphologie. 1. Teil. Weimar: Hermann Böhlau Goethe, Johann Wolfgang von (o. J.): Wenige Bemerkungen. In: Goethe (1891): 155-157 Grimm, Jakob (1963 [1863]): Rede auf Wilhelm Grimm. Rede über das Alter. Gehalten in der Königlichen Akademie der Wissenschaft zu Berlin. Hrsg. vor 100 Jahren von Hermann Grimm. Wortgetreu nach der Erstveröffentlichung. Kassel: Bärenreiter Happel, Eberhard Werner (1990 [1684]): Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder Sogenannte Relationes Curiosae. Reprint. Hrsg. von Uwe Hübner. Textrevision und Anmerkungen von Jürgen Westphal. Berlin: Rütten und Loening Heraklit (1995 [o. J.]): Fragmente. Griechisch und deutsch. Herausgegeben von Bruno Snell. 11. Auflage. Zürich: Artemis Hoffmann, E. T. A. (1814/15): Fantasiestücke in Callots Manier. In: Hoffmann (1958): 53465 Hoffmann, E. T. A. (1958): Poetische Werke. Erster Band. Kleine Schriften. Fantasiestücke in Callots Manier. Seltsame Leiden eines Theaterdirektors. Berlin: Aufbau Juranville, Alain (1990): Lacan und die Philosophie. München: Boer Meister Eckehart (1985): Deutsche Predigten und Traktate. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint. 6. Auflage. München: Carl Hanser Meister Eckehart (o. J.): Predigt 58. Ubi est, qui natus est rex Judaeorum? In: Meister Eckehart (1985): 425-431 Richard, Ursula/Waas, Wolfgang I. (Hrsg.) (2000): Zen. Ein Lesebuch. Berlin: Theseus Simmel, Georg (1907): Soziologie der Sinne. In: Simmel (2009): 115-128 Simmel, Georg (2009): Soziologische Ästhetik. Herausgegeben von Klaus Lichtblau. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Seng-ts´an (o. J.): Hsin-hsin-ming. (Einprägung des Vertrauens in den Geist). In: Richard/ Waas (2000): 97-102
Der Ton läuft. Zur Reproduzierbarkeit historischer Hörräume Thomas Wilke
Das Phänomen der Speicherung – insbesondere der akustischen Speicherung – verliert ob seiner banal anmutenden Alltäglichkeit in einer digitalisierten Welt seine Bedeutung. Was heißt es denn heute, eine Information aufzunehmen, aus dem Internet zu laden, zu speichern und damit reproduzierbar aufzubewahren? Umso nachhaltiger fällt hier die Beschäftigung mit den Anfängen der akustischen Echtzeitspeicherung Ende des 19. Jahrhunderts ins Auge und ins Ohr, wie es dieser Beitrag vornimmt. Denn diese Veränderungen durch die Echtzeitspeicherung sind aus kulturwissenschaftlicher Perspektive keinesfalls hinreichend thematisiert und diskutiert; der wissenschaftliche Diskurs der auditiven Forschung konzentriert sich überwiegend auf phänomenologische, technische und psychoakustische Aspekte.1 Wie nun gehen die Menschen ab welchem Zeitpunkt mit den zur Eigennutzung bestimmten Apparaten um? Welche Erwartungen werden an den Phonographen geknüpft und welche Bedeutungen finden aus dem 1878 von Edison aufgestellten Zehn-Punkte-Programm den Weg in die Praxis – wann, wo und in welcher Form?2 Welche Entwicklungen lassen sich bezüglich eines zunehmend massenindustriellen Angebots und einer selbst gewählten individuellen Nutzung nachvollziehen? Dieser nur kursorische Fragenkatalog skizziert einen weitaus umfangreicheren Themenkomplex, der hier nicht zu klären ist. In diesem Beitrag werden zwei – aus Sicht des Autors – prägnante Zeitpunkte der akustischen Speicherung näher beleuchtet. Sie sollen zu einem Verständnis der Veränderungen der akustischen Wahrnehmung beitragen und in ein Verhält1
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Vgl. hierzu Riess 1966, Jüttemann (2007 [1979]), Kittler 1986. Weitere neuere Ansätze unternehmen Max Ackermann 2003: Die Kultur des Hörens. Wahrnehmung und Fiktion. Texte vom Beginn des 20. Jahrhunderts, sowie Ursula Esterl und Edith Zeitlinger 2008: Kultur des Hörens. Informationen zur Deutschdidaktik. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule. Dies war ein im Juni 1878 in der North American Review veröffentlichter Artikel, in dem Edison in zehn Punkten die möglichen Funktionen und den Gebrauch des Phonographen beschrieb: Als erstes als Diktiergerät, dann als Sprach- und Unterrichtshilfsmittel, zur Musik- und Sprachkonservierung, als Musikbox, Spielzeug und schließlich in der Idee des Anrufbeantworters. Vgl. stellvertretend hierzu Fischer 2006: 13.
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Thomas Wilke
nis zu einzelnen Aspekten einer Mediengeschichte gesetzt werden. Der eine historische Moment betrifft den Beginn der Phonographie durch Thomas Alva Edison und der zweite seinen Besuch 1889 in Paris und Berlin. Eine vergleichende respektive einbeziehende Betrachtung des Grammophons von Emile Berliner wird hier nicht vorgenommen, da dieses in seiner Funktion dem Ansatz der Massenvervielfältigung sowie des Gebrauchs anders angelegt war als der Phonograph, der den Rezipienten der Walze zugleich als potentiellen Gestalter mit einbezog. Die Anfänge der Tonspeicherung Als Geburtsstunde der akustischen Speicherung und ihrer Wiedergabe gilt allgemein Edisons amerikanisches Phonographenpatent vom Dezember 1877, als ihm die Aufnahme und die Wiedergabe eines selbst eingesprochenen „Hullo!“ [sic!] und des Kinderreims „Mary had a little lamb“ auf einen mit Paraffin überzogenen Zylinder gelang.3 Dem ging eine erste Patentanmeldung am 30. Juli 1877 in Großbritannien voraus und die Umsetzung begann ab 10. August des Jahres in den USA. Mehr als 30 Jahre zuvor begannen physikalische Experimente zur optischen Fixierung von Schallwellen, unter anderem 1830 von Wilhelm Eduard Weber an der Universität Halle, deren Wiedergabe allerdings technisch noch nicht möglich war.4 Die zeitliche Fixierung der Tonspeicherung sowie deren Patentierung gehen nicht zwangsläufig einher mit einer öffentlichen Wahrnehmung mechanischer Klangspeicherung. Inwieweit sich beispielsweise der Franzose Charles Cros und Edison tatsächlich in einem Wettstreit befanden, in dem Cros auf Grund des fehlenden Geldes und der fehlenden Zeit unterlag, wie gern erzählt wird, verfügt zwar über einen gewissen Charme, lässt sich jedoch so nicht verifizieren.5 Den ersten Bericht über den Phonographen findet man am 30. März 1878 in der amerikanischen Harpers Weekly. In Deutschland berichtet die Leipziger Illustrierte Zeitung im Mai 1878 darüber und schrieb dazu: „Die Nachrichten über die neue Erfindung fließen sehr spärlich, doch steht soviel fest, daß wir es nicht mit einer Schwindelei, sondern mit einer wissenschaftlichen Tatsache zu tun haben“ (zit. nach www.sprechapparate.de). Unabhängig davon entstand zu-
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Vgl. Riess 1966: 28 f. Vgl. hierzu und zu den historischen Vorläufern und Versuchen der Tonspeicherung und -wiedergabe Riess 1966: 29 ff. Ebenso Jüttemann 1979, Sutter 1988, Große 1989, Hiebel 1998 und Fischer 2006 sowie die Carl-Lindström-Festschrift von 1929. Vgl. hierzu Riess 1966: 30; Große 1989: 9-22.
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gleich eine Begeisterung über Edisons neueste Erfindung und man ergoss sich in der Zeitschrift Gartenlaube Anfang 1878 in nahezu überschwänglichem Lob: „Was muß man nicht Alles von einer Maschine erwarten, die >...@ schon in den ersten Monaten ihres Daseins so viel leistet? Gedichte mit der Stimme des Dichters, Testamente mit derjenigen des Erblassers vorlesen zu lassen, wäre eine Kleinigkeit. Wichtige Thron- und Parlamentsreden können als Phonogramme versandt werden. >...@ Die Tage der rothen Theaterzettel scheinen gezählt, denn gesetzt, Helmerding würde plötzlich unpässlich, so ließe er seine Stimme gastiren und ein anderer Schauspieler schnitte seine freilich unnachahmlichen Gesichter dazu.“ (Sterne 1878: 172)
Im Vordergrund stand die Speicherung von politischen und kulturellen Inhalten aus bereits vorgegebenen gesellschaftlichen Kontexten. Interessanterweise ist die gedankliche Herangehensweise für eine audiovisuelle Verknüpfung genau umgekehrt: nicht weil sich Wirklichkeit auf einem Photo abbilden ließ, kam man auf den Gedanken, den Ton für die Szene zu konservieren, sondern weil sich jetzt der Ton – und insbesondere die menschliche Stimme – in seinem zeitlichen Verlauf linear und technisch reproduzieren ließ, wollte man das Bild hinzufügen. Neben der zitierten Stellvertreterkommunikation wurde der Gedanke noch weiter fortgeführt, indem Carus Sterne mit Verweis auf einen nicht näher benannten Engländer den Grundgedanken des Films reformulierte: „Ein Engländer hat vorgeschlagen, zu derartigen für die Nachwelt aufzuhebenden Reden und Dialogen das Mienenspiel in einer entsprechenden Folge zu photographiren und die Bilder zu einer sogenannten stroboskopischen Scheibe zu verbinden, sodaß man die Person in ihrem Mienenspiele vor sich sehen könnte, während man sie reden oder singen hörte >...@.“ (Sterne 1878: 172)
Trotz dieser panegyrischen Hymne auf die künftigen Möglichkeiten ließ sich bisher nicht eruieren, ob sich zu dieser Zeit auf dem europäischen Kontinent jemand der Erfindung annahm, sie weiterentwickelte und für sich ausnutzte. Denn Edisons Patent galt für Großbritannien und die USA, und nachdem er die Auswertung des Patents der sich im Januar 1878 gründenden Edison Speaking Phonograph Company überließ, kümmerte er sich wieder um andere Erfindungen.6 Kritische Stimmen ob der Leistungsfähigkeit des Phonographen finden sich gleichwohl im selben Jahr, und die aufgeführten Mängel bleiben zumindest bis zur weiteren Verbesserung des Apparates 1886 bestehen: 6
Die Gesellschaft zahlte Edison 10000 Dollar aus und garantierte ihm 20 Prozent des Bruttogewinns aller Einnahmen, musste allerdings im Folgejahr ihre Tätigkeit auf Grund der Verlustgeschäfte wieder einstellen. Die bereits hergestellten Phonographen, eine Lieferung von 500 Stück als Diktiergeräte für den obersten Gerichtshof, fanden ihre Anwendung als Attraktion auf Jahrmärkten. Vgl. Große 1989: 15.
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Thomas Wilke „So schön das alles klingt, dennoch wird sich Niemand dem Bedenken verschließen, daß diese Zinnblätter nicht als Documente dienen könnten. Denn abgesehen davon, daß die Maschine manche Buchstaben, namentlich die Zischlaute bisher nicht klar genug wiedergeben will, obwohl man ihr schon einen gezähnten Mund und ähnliche Nachhülfen gewährt hat, gestattet die weiche Zinnfolie nur wenige Male das Lesen. Die Nadel der Leseplatte verwischt >...@ und damit wird die Aussprache jedesmal etwas undeutlicher. Zwei-, dreimal versteht man ganz deutlich, dann wird die Aussprache immer verschwommener, und zuletzt bleibt in einem allgemeinen Summen nur noch ab und zu ein einzelnes Wort verständlich.“ (o. A. 1878: 464)7
Daraus lässt sich auch die Vermutung ableiten, warum aus der Anfangszeit der Phonographie keine Walzen überliefert sind: die gespeicherten Töne entmaterialisierten sich durch mehrmaliges Abhören.8 In Deutschland wird anfangs zwar recht ausführlich darüber berichtet, jedoch vergehen insgesamt gut zehn Jahre, bis man von einer öffentlichen Wahrnehmung der Schallspeicherung und der Wiedergabe sprechen kann, die über eine phänomenologisch-technische und punktuelle Berichterstattung hinausging. Denn auch wenn der Phonograph 1878 in Deutschland recht umfänglich thematisiert wurde, eine massenwirksame Verbreitung war in den ersten Jahren auf Grund technischer Mängel, hoher Kosten, bestehender Patentstreitigkeiten sowie fehlender Interessenten und Vertriebswege nicht denkbar und wurde auch nicht realisiert. Edison in Europa Die erfolgreiche Weiterentwicklung des Phonographen 1886 durch Alexander G. Bell, Chichester Bell und Charles S. Tainter veranlasste auch Edison, sich wieder mit seinem Phonographen zu beschäftigen. Sein Improved Phonograph hatte einen Elektromotor und die von Charles S. Tainter eingeführte Wachswalze. Deren Attraktivität bestand in der deutlich besseren Speicherung und Wiederga7
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Die Leipziger Illustrierte Zeitung hierzu im August 1878: „Mit voller Kraft der Lungen gesprochene Sätze lauten etwa wie die Sprache eines heiseren Menschen. Und die Wiedergabe längerer Reden ist wohl nur ein frommer Wunsch. Somit dürften zunächst alle die weitgehenden Hoffnungen und überschwänglichen Pläne sich noch ins Gebiet der Luftschlösser gehörig erachten lassen.“ Zit. nach Große 1989: 15. Walter Bruch berichtete von einer aus dem Jahr 1881 von Alexander Graham Bell besprochenen Walze, die in einem plombierten Kasten aufbewahrt und erst 1936 wieder geöffnet wurde, und als eine der wenigen ersten überlieferten Walzen gilt. Diese gab ein abgewandeltes Shakespeare-Zitat wieder: „There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamed of in your philosophy. I am a graphophone, and my mother was a phonograph.“ Zit. nach Bruch 1981: 50. Zu weiteren überlieferten Walzen der Anfangszeit vgl. den Katalog von Roller, Walter 1982: Tondokumente 1888-1945. Frankfurt/Main.
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be des Schalls durch das tiefere Eingraben der Nadel sowie der Wiederbeschreibbarkeit der Walze. Die täglich erscheinende Saalezeitung aus Halle/Saale berichtete am 24. August 18899, dass Edison bei seinem ersten Besuch Europas am 20. August von der französischen Akademie und von Präsident Carnot in Paris empfangen wurde und dort einige Tage anlässlich der Weltausstellung verweilte. Dieser Empfang geschah zu Ehren von André Ampère, dessen Statue man gemeinsam besichtigte: „Beim Anblick der Statue Amperes habe er bedauert, ihn nicht mehr reden hören zu können. Er schenke daher der Akademie einen Phonographen, um die Worte eines jeden Mitgliedes der Akademie für die Nachwelt zu fixieren, damit deren Nachfolger beim Anblick der Statuen der Akademiker auch den Klang ihrer Stimmen vernehmen könnten. Der Präsident dankte dem berühmten Erfinder für diese Aufmerksamkeit.“ (Saalezeitung 1889a)
Der Figaro gab Edison zu Ehren in Paris einen Abendempfang, während dessen sich Darbietungen von Sängern und Schauspielern abwechselten. Diese Darbietungen fanden ebenso viel Beifall „wie die des Edisonschen Phonographen, der sich in den Zwischenpausen vernehmen ließ“ (Ebd.). Hier lässt sich vermuten, dass die Attraktion Phonograph keineswegs als Pausenfüller diente, sondern selbst zu einem Programmpunkt wurde. Pausen im eigentlichen Sinne reduzierten sich, indem man dadurch das Unterhaltungsprogramm eher erweiterte. Edisons Aufenthalt war nur von kurzer Dauer, denn bereits am 15. September des Jahres meldete die Saalezeitung, dass Edison, „>d@er König der Elemente, der Weise vom Menlo-Park“ (Saalezeitung 1889b) samt Familie auf Einladung Werner von Siemens’ in Berlin eingetroffen sei. Edisons Besuch währte auch hier nur kurz, da er am darauf folgenden Montag nach Heidelberg fuhr, um dort Heinrich von Helmholtz zu treffen. In Berlin angekommen, widmete man sich in der Urania unter Beisein der Presse den Erfindungen Edisons, „wobei die Experimente mit dem verbesserten Phonographen eine bedeutende Rolle einnahmen“ (Ebd.). Ein Quartett, das die Kapelle des Kaiser-Franz-Garde-Regiments stellte, spielte verschiedene Stücke, die der Phonograph „mit überraschender Naturtreue kopirt“ (Ebd.). Dies ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits spricht der Berichterstatter von der „Naturtreue“, ein zugeschriebenes Merkmal, das später als charakteristisch für Phonographen und auch Grammophone in der Werbung wieder auftaucht. Andererseits ist die Rede von „kopiren“, ein Zeichen für das damalige Verständnis dieser Erfindung. Die Eigenständigkeit der Auf9
Im Folgenden werden die Zitate überwiegend der Halleschen Saalezeitung als Primärquelle entnommen, da für den zu beschreibenden Sachverhalt kaum Aufarbeitungen vorliegen. Nachfolgende Ausführungen sind zugleich Ausgangspunkt eines umfänglich ausgerichteten Forschungsvorhaben.
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nahme im Sinne einer materialisierten Speicherung, die man dem Zeitfluss entrissen hatte, war noch nicht in das Bewusstsein vorgedrungen. Insoweit konnte der Berichterstatter auch nur von einer Kopie des eben Gehörten sprechen, ohne dass deutlich wurde, dass mit der Speicherung des Gehörten das transitorische Moment des Hörens aufgehoben wurde. Es drängt sich der Vergleich zur Erfindung des Buchdrucks auf, als die Kopien der Druckvorlage mit Erstaunen, Unglauben, Zweifel und gleichzeitiger Begeisterung aufgenommen wurden: „Die Walzen, auf denen ein mikroskopisch kleines Messer die Schallwellen fixiert, gaben die Musik Takt für Takt getreulich wieder, entweder – für den ganzen Raum – durch eine auf den Apparat gesetzte Trompete, oder – für den einzelnen Zuhörer – durch Hörrohre, welche aus einem gezweigten Gummischlauche mit für die Ohren bestimmten Hornaufsätzen bestehen. >...@ Die von der Versammlung mit Begeisterung gesungene ‚Wacht am Rhein’ mit Klavier- und Kornetbegleitung wurde vom Phonographen mit erstaunlicher Treue wiedergegeben.“ (Saalezeitung, 1889b.)10
Neben dieser festgestellten Wiedergabetreue ergötzte man sich an der Leistungsfähigkeit des Apparates, denn durch die Verwendung des „großen Schallrohrs“ zur Wiedergabe sei „die Anzahl der mit dem Phonographen in Verbindung stehenden Hörer >...@ unbeschränkt“ (Ebd.). Der Vertreter Edisons, Theo Wangemann, gedachte nach dieser Vorführung im doch engeren Kreise, die Walzen dem Kaiser in einer Audienz vorzuführen, was der Berichterstatter als zweifellos und notwendig erachtete. Die Präsentation vor Wissenschaft und Presse schien nicht ausreichend, stärkeres Renommee gewann der Phonograph durch die Anerkennung der damals offiziell urteilenden Instanz des Kaisers. Zu dieser gewünschten Audienz kam es auch innerhalb kürzester Zeit, zehn Tage später am Abend des 25. September 1889 im Neuen Palais in Potsdam in Anwesenheit der Kaiserin. Edison hatte sich hierfür bereits im Vorfeld zur Verfügung gestellt, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Land weilte.11 Vertreter Wangemann erklärte bei dieser Audienz die technischen Einzelheiten und die Funktionsweise des Apparates und demonstrierte den Phonographen mittels bereits besprochener Walzen. Der Zeitungsbericht wechselt hierbei interessanterweise die Erzählperspektive, indem nun der Phonograph im Sinne eines eigen10
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Emile Berliner setzte das Prinzip der Schallgravur horizontal um und schuf damit die Voraussetzungen der industriellen Vervielfältigung. Edison konnte erst ab 1902 über das so genannte Goldgussverfahren, bei dem die Zylinder eine hauchdünne Goldsschicht übergezogen bekamen, die Matrizen massenhaft vervielfältigen. Indem über den Oberhofmarschall dem Kaiser ein derartiges Anerbieten gemacht wurde und nicht, wie Hiebler schrieb, dass es 1889 in Deutschland „einem Agenten Edisons >gelang@, bis zum Kaiser vorzudringen, der den betagten Reichskanzler Otto von Bismarck zu einer Aufnahme überredet haben soll...“ Hiebler 2003: 392.
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ständigen Erzählers davon sprach, dass Edison ihn nach Berlin geschickt hätte, um dem Kaiser vorgestellt zu werden und um Stimmen vom Kaiser, von Bismarck und Moltke aufzunehmen. Diese sollten dann den bei Edison arbeitenden Deutschen vorgespielt werden. Im Anschluss daran spielte Wangemann dem Kaiser einige Musikstücke vor: „Der Kaiser war erstaunt über die Klarheit und Deutlichkeit, mit welcher der Phonograph die ihm anvertrauten Töne wiedergab und erörterte eingehend den Werth der Erfindung für den geschäftlichen Verkehr. Besonderes Interesse verrieth der Kaiser bei der Mitteilung des Hrn. Wangemann, daß der Phonograph bestimmt sei, beim Sprachunterricht eine sehr wichtige Rolle zu spielen, indem durch ihn den Schülern leichter wie bisher die richtige Aussprache beigebracht werden könne. Daß durch den Phonograph eine bedeutende Vereinfachung des Bureau- und Kanzleidienstes erzielt würde, entging dem Kaiser nicht, der wiederholt auf diesen Punkt hinwies.“ (Saalezeitung 1889b)
Auffallend ist hierbei, dass Wangemann dem Kaiser laut Bericht Musikstücke vorspielte und dieser in der Diskussion „den Werth der Erfindung für den geschäftlichen Verkehr“ hervorhob, insbesondere die „bedeutende Vereinfachung des Bureau- und Kanzleidienstes“. Diese Überlegung lässt sich bereits 1878 bei Edison finden, der in der kommerziellen Auswertung seiner Erfindung in seinem 10-Punkte-Programm zuallererst an die Aufnahme von Briefen und Diktaten – eben die Reproduktion von Text – dachte. Dass dies scheiterte und der Phonograph seinen ersten kleineren Erfolg auf dem Rummelplatz feierte, schien dem Kaiser nicht zur Kenntnis gebracht worden zu sein. Diese erste Séance dauerte von 20.30 Uhr bis 22.15 Uhr. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Berichten wurde hier sehr detailliert darüber berichtet, was dem Kaiser zu Gehör gebracht wurde und wie er darauf reagierte. Dies ist im Zusammenhang mit der sozialen Stellung des Kaisers, seiner Autorität und den daraus folgenden Werturteilen zu betrachten. Dass der Kaiser vom Phonographen beeindruckt war, zeigt sich daran, dass bereits am folgenden Mittwochnachmittag im Schloss Friedrichskron eine weitere zweistündige Vorstellung stattfand, an der neben den Kindern des Kaisers weitere Mitglieder der kaiserlichen Familie anwesend waren. Auch hier beschrieb man sehr ausführlich die Aufnahme und Rezeption des Torgauer Marsches, Auszüge aus Goethes Faust und von Wildenbruchs Quitzow sowie die Begeisterung, über die „schauspielerischen Leistungen des Apparats“ (Saalezeitung 1889d). Der Kaiser ließ sich die Funktionsweise und die Einzelteile des Phonographen detailliert erklären und die Kaiserin begehrte Aufnahmen ihrer drei Söhne. Über Wangemann bedankte man sich bei Edison für die Aufmerksamkeit und der Kaiser wünschte, einen Phonographen für eigene Versuche zu besitzen. Aus diesem in die Öffentlichkeit getragenen Wunsch lässt sich eine
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diskursiv vermittelte Akzeptanz schlussfolgern. Wangemann erhielt vom Kaiser für seine Verdienste um die Bekanntmachung des Phonographen eine „kostbare Busennadel“. Am 8. Oktober 1889 schließlich begab sich Theo Wangemann nach Friedrichsruh zum Reichskanzler Bismarck, um ihn dort auf die Walzen sprechen zu lassen. Eine dort aufgenommene Walze sollte – so nahm man im guten Glauben an – später „[…] in unzähligen, wenn nöthig 10.000 Kopien hergestellt werden. Edison wird jedem nennenswerthen Institut in Deutschland, allen Behörden und Vereinigungen, die für die Dauer gegründet sind, je einen Abdruck zugängig machen, damit noch in Jahrhunderten überall in Deutschland neben dem Bilde des Kanzlers auch seine Stimme lebendig werden könne, ein Gedanke, der überall in Deutschland ein freudiges Verständnis hervorrufen wird.“ (Saalezeitung 1889e)
Bezeichnend für die obige Überlegung ist, dass man die Vervielfältigung Edison überließ und keineswegs daran dachte, dass die Kopien auch selbst hergestellt werden konnten. Am Abend des 9. Oktober gab es am Kaiserhof in Berlin eine Präsentation des Phonographen, die zum Besten der Ferienkolonie und des Pensionsfonds des Vereins der Berliner Presse, zwei Vereinigungen des gehobenen Berliner Bürgertums und des Adels, veranstaltet wurde. Als Eintrittspreis erhob man für einen guten Zweck 20 Mark, der Abend brachte insgesamt 1400 Mark ein. Dies weist darauf hin, dass nach des Kaisers erfolgten Urteils der Hof geeignet erschien, den Bekanntheitsgrad an prominenter Stelle auszudehnen. Dass dies erfolgreich war, zeigt der eingenommene Betrag. Am gleichen Tag wurde der Phonograph das erste Mal im Verständnis seiner Zeit in seiner praktischen Anwendung getestet, indem der Redaktion der National-Zeitung in der Mittagszeit ein Besuch abgestattet wurde: „Es sollte festgestellt werden, ob es in der That möglich sei, einen Artikel in den Phonographen hineinzusprechen und ihn nachher von dem Phonographen direkt absetzen zu lassen. Der Versuch gelang auf das glänzendste.“ (Ebd.) Man sprach also einige Worte in den Phonographen, brachte diesen dann dem Setzer, der mittels der Hörschläuche den Text abhörte. Jener konnte nun den Text, ohne ihn vorher zu kennen, nach Diktat absetzen. Begeistert registrierte man die Pedale als Blockiervorrichtung respektive Pausentaste. „Es waren also alle Bedingungen für das Ohr gegeben, die das Auge erfordert, wenn es ein Manuskript liest – die Möglichkeit, bei einem einzelnen Worte oder Satze je nach Belieben zu verweilen. Die betreffenden Typen sind dem Setzer als Andenken überlassen worden, beglaubigte Abzüge sind für das Archiv Edisons in Orange City erbeten worden.“ (Ebd.)
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Dieser ‚Praxistest’ zeigt, dass die akustische Wahrnehmung – bis dato auf Grund der Flüchtigkeit des Tons nachrangig behandelt – hier nun eine neue Qualität erfährt. Denn durch den technischen Apparat wird nun vorrangig Text reproduziert und diese Reproduktion bekommt eine hohe Authentizität zugesprochen. Deshalb benennt Edison 1878 den Phonographen in seiner ersten Funktion eben auch als Diktiergerät. Ohne konkreten Bezug zu Edisons Besuch bei Siemens und dem Vorspiel beim Kaiser berichtet die Gartenlaube ebenfalls im Jahr 1889 – elf Jahre nach ihren ersten Berichten über den Phonographen – über „jenen bewunderungswürdigen Apparat, welcher die Stimme des Menschen, wie überhaupt jedes Geräusch verzeichnet und hierauf, so oft man es begehrt, ‚phonographisch getreu’ wiedergibt (Munden 1889: 732). Von der Sinnhaftigkeit dieser Erfindung vollends und mit Euphorie überzeugt, offenbarten sich jedoch dem Autor nach wie vor einige Mängel des „Wunderapparates“ hinsichtlich des praktischen Gebrauchs, des Preises, des begrenzten Speicherplatzes sowie des eingeschränkten Aufnahmespektrums. Der aktuelle Preis wurde 1889 in Deutschland mit über 500 Mark angegeben. Eine beispielhaft durchgerechnete Briefkorrespondenz – signifikant für die Aneignungsweise des neuen Apparates – setzte im Vergleich zum herkömmlichen Briefverkehr eine enorme Summe voraus und wurde somit ad absurdum geführt. Längere Reden und Musikstücke konnten durch die begrenzte Spieldauer einer Walze ebenfalls nicht realisiert werden, ohne die Walze zu wechseln. Schließlich war die akustische Aufnahme dieser Zeit von der Schallstärke des Sprechers oder des Instruments abhängig, sodass also leisere Geräusche, Musik oder Sprache noch nicht adäquat gespeichert und somit wiedergegeben werden konnten. Hinzu kamen störende Nebengeräusche bei der Aufnahme und der Wiedergabe. Gerade für Laien- und HobbyGesangaufnahmen empfahl man noch 1913 Männerstimmen, die sich hierfür am besten eignen würden, „während Damenstimmen weniger dankbare Resultate geben. Von den Männerstimmen ist Bariton und Baß vorzuziehen, schwieriger ist es, gute Tenoraufnahmen zu erhalten. Von den Damenstimmen gibt die besten Resultate Alt und Mezzosopran, während Sopran schon einige Übung eines guten Record >d. i. eine bespielbare Walze, T.W.@ voraussetzt.“ (Parzer-Mühlbacher 1913: 30)
Gleichwohl war sich der Autor im Jahr 1889 ziemlich sicher, dass diese „Übelstände in absehbarer Zeit beseitigt“ und gerade bezüglich des dritten Punktes „dem Phonographen eine sehr wichtige Rolle als Ergänzung des Fernsprechers
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zufallen“ würden (Munden 1889: 733).12 Zumindest hinsichtlich des Preises war eine zunehmend verbraucherfreundliche Entwicklung zu konstatieren, da man zwar 1891 noch 200 Mark bezahlte, die Tendenz jedoch weiter fallend war. Und noch ein Aspekt der Reproduktion gespeicherter Sprache fiel bereits den Zeitgenossen auf: Das Erlebnis des Hörens einer phonographisch besprochenen oder besungenen Walze – und später natürlich einer hier nicht zu Wort gekommenen Schallplatte – stellt eine neue Hör- und Hörerqualität dar, indem durch die technische Vermittlung ein Abstraktionsgrad hergestellt wird, der so vordem nicht existierte. Hören war bis dato stets Bestandteil der zwischenmenschlichen Interaktion und das Gehörte verschwand, so wie es gehört wurde. Und mit der Wahrnehmung dieses Aspekts überwand man den status quo des „naturgetreuen kopiren(s)“ des Tons. Gerade die ersten zum Teil verzückten Berichte über die Erfindung des Phonographen und seiner Anwendungsgebiete betonen beharrlich die Möglichkeit, gehörte Fehler nachzuweisen, die in einer mündlichen Kommunikation sonst verschwanden: „Eine Verlangsamung in der Drehung der Walze – eine Verlegung der gesungenen Töne um zwei, drei Oktaven, bilden ein Experiment, welches ermöglicht, auch den kleinsten Gesangsfehler – karikirt – nachzuweisen.“ (Saalezeitung 1889b) In diesem Zusammenhang wird auf das Novum hingewiesen, dass es nun möglich sei, die eigene Stimme entfernt zu hören: „Zum Schluß fixirte der Phonograph den von der Opernsängerin Frl. Leisinger vorgetragen Schmuck-Walzer aus Gounod’s Faust >...@. Der praktische Werth des Phonographen trat dabei insofern deutlich hervor, daß bei der Wiederholung des Gesanges durch den Apparat der Sängerin Gelegenheit geboten war, ihre eigene Stimme als Zuhörerin aus der Ferne vernehmen, prüfen und kontrolliren zu können. Denn, wie aus dem Vorstehenden erhellt, es ist möglich, daß sich der Vortragende vielfach eine ganz andere Wirkung von den durch ihn hervorgebrachten Tönen auf den Hörer verspricht. >...@ Nach dieser Richtung hin scheint der Edison-Phonograph eine ganz bedeutende Zukunft zu haben.“ (Ebd.)
12
Hier wird die bereits von Edison 1878 formulierte Anwendung weiter ausgeführt: „Er >der Phonograph, T.W.@ könnte, mit diesem >dem Fernsprecher, T.W.@ in Verbindung gesetzt, die telefonischen Gespräche fixiren und damit einen Hauptfehler des Fernsprechers beseitigen, den nämlich, daß die Unterredungen keine Spur hinterlassen, es sei denn, daß man sie stenographiert.“ Zit. nach ebd.
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Resümee Diese Beschreibungen des Anfangs der Schallspeicherung und deren Wiedergabe, Edisons Europa-Besuch, der Präsentation seines neuen Phonographen und der vorgestellten bzw. aufgenommenen Walzen lassen sich aus den aktuellen Presseberichten der damaligen Zeit und wenigen Abbildungen respektive Kupferstichen rekonstruieren. Das Wissen um den Beginn der Echtzeitspeicherung ist durch nicht erhaltene Walzen und fehlende Katalogisierung respektive Archivierung der damals existierenden Firmen begrenzt und fragmentarisch. Erst ab dem Zeitpunkt von überlieferten Walzen – und auch ab ca. 1890 Schallplatten – können neben dem Kontext auch programmatische Aussagen über Inhalte und Entwicklungen getroffen werden, die nicht an zeitgenössische Beschreibungen gebunden sind. Spricht man also über Mediengeschichte, wie es hier in einem kleinen Ausschnitt geschehen ist, so spricht man stets auch über die verschiedenartig überlieferten Quellen und deren Kenntnis als Mindestvoraussetzung der Rekonstruktion. Damit werden zugleich die Grenzen skizziert. In einem operationalisierten Modus bleiben diese Grenzen zumeist fixe Konstanten und stehen historiographisch in enger Beziehung zu den Jahreszahlen. Diese Daten und die Grenzen unterliegen neben einer notwendigen zeitlichen Einordnung einer Funktionalisierung, indem sie nolens volens mit ihrer gesellschaftlichen Diffusion ex post eine Publizität und Öffentlichkeit inne haben, die ihrer jeweiligen Handlungszeit nicht zwangsläufig entspricht. Um aber einen Anfang, eine Entwicklung und relevante Kontexte zu markieren – und darum geht es ja in einer zunehmend interdisziplinär orientierten Mediengeschichte – sind derartige Orientierungen notwendig. 1889 ist nun ein Jahr, das neben der sehr publikumswirksamen Pariser Weltausstellung eben auch den Phonographen verstärkt in das Zentrum einer öffentlichen Wahrnehmung rückt. Neben dem Besuch Edisons in Europa werden in Amerika die ersten kommerziellen Phonographen aufgestellt, die gegen ein gewisses Entgelt gehört werden können. Edison und sein Vertreter Wangemann demonstrierten den Phonographen in Deutschland vor Wissenschaftlern, der Presse und auch dem Kaiser. Im gleichen Jahr entwickelte – aufbauend auf die patentierten Vorarbeiten von 1887, doch mit anderen Intentionen – Emile Berliner sein Grammophon. Dieses stellte er nach den ersten Präsentationen in Amerika am 2. November 1889 ebenfalls in Berlin der Wissenschaftswelt vor. Helmholtz und Siemens hörten und sahen sich das Grammophon an und waren davon angetan, hatten sie doch die Vergleichsmöglichkeit zum Phonographen. Berliner gelang es jedoch nicht, das Grammophon dem Kaiser vorzustellen. Gleichwohl verkaufte er noch im gleichen Jahr die Lizenz an die Puppenfabrik in Waltershausen in Thüringen, wo dann auch die ersten Grammophone in Deutschland
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produziert wurden.13 Die ausschließliche und zugleich anwenderfreundliche Konsumorientierung des Grammophons befreite den Rezipienten von der Selbstverantwortung für die besprochenen Tonträger, ein entscheidender Faktor in der späteren Entwicklung des Musikmarktes und der hegemonialen Entfaltung der Schallpatte in den Folgejahren. Die aufgeführten Phänomene der Schallspeicherung berühren ganz wesentlich einen hier nicht weiter berücksichtigten Aspekt. Mit der Schallspeicherung verändern sich technisch die Bedingungen des kommunikativen Gedächtnisses, und damit auch der relevante Erinnerungsrahmen. Dies kann für einen künftigen Forschungsansatz angeschnitten werden, mit dem zugleich auf einen Subtext verwiesen wird: Die differenzierte Partialität unserer sinnlichen Wahrnehmung ist trotz fortschreitender technischer Entwicklung nach wie vor existent, die imaginierte Symbiose audiovisueller Kommunikation simuliert nur eine mediale Wirklichkeit. Dieser artifizielle Charakter bedarf gerade in seiner Alltäglichkeit einer besonderen Aufmerksamkeit und sollte von daher in der Mediengeschichte seine Berücksichtigung finden. Literatur und Quellen Bruch, Walter (1981): Vom Glockenspiel zum Tonband. Die Entwicklung der Tonträger in Berlin. Schriftenreihe Berliner Forum 7/81 Brunner, Adolf (1891): Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Das Grammophon. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Leipzig. Nr. 12. 197-198 Fischer, Martin (2006): Faszination Schellack. Grammophone – Schellack – Nadeldosen. Regenstauf: Battenberg Große, Günter (1989): Von der Walze zur Stereoplatte. Berlin: Musikverlag Gunrem, Michael (2008): Die allerersten Schallplatten der Welt. Schalltrichter Nr. 32. (Stand: 19.01.2009) Hiebler, Heinz (2003): Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann Jüttemann, Herbert (2007 [1979]): Phonographen und Grammophone. 4. Auflage. Dessau-Roßlau: Funk Verlag Bernhard Hein e. K. Kittler, Friedrich (1986): Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bohse Meyer, Wilhelm (1892): Sprechendes Wachs und lebendes Papier. Edisons neueste Erfindungen. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Leipzig. Nr. 37. 621-623
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Zu den ersten Schallplatten, dem Grammophon und Emile Berliner in der Zeit um 1890 vgl. Gunrem 2008.
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Munden, G. von (1889): Edison und sein Phonograph. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Leipzig. Nr. 43. 732-734 o. A. (1878): Phonographische Überraschungen. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Leipzig. 26. Jg., Nr. 28. 464-466 Riess, Curt (1966): Das Jahrhundert der Schallplatte. München: Buchclub Ex Libris Zürich Saalezeitung (1889a): vom 24.08.1889, 2. Beilage zu Nr. 197 Saalezeitung (1889b): vom 15.09.1889, 4. Beilage zu Nr. 215 Saalezeitung (1889c): vom 17.09.1889, 1. Beilage zu Nr. 217 Saalezeitung (1889d): vom 27.09.1889, 3. Beilage zu Nr. 226 Saalezeitung (1889e): vom 11.10.1889, 3. Beilage zu Nr. 238 Sterne, Carus (1878): Sprechmaschinen. Edisons Phonograph. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Leipzig. 26. Jg., Nr. 10. 169-172. Sprechapparate: >Stand: 18.05.2008@
Vision, Utopie und Pragmatismus. Historische Positionen zum öffentlichen Raum in Musik und Audio Art Golo Föllmer
Einleitung Der öffentliche Raum hat für die Klangkunst eine besondere Bedeutung. Erstens ist die urbane Klangwelt eine ergiebige Quelle von Klangmaterial. Das war bereits in den 1920er Jahren vom Radio und anderen Reproduktionsmedien nahegelegt worden1 und manifestierte sich bald darauf in den Werken von John Cage und Pierre Schaeffer. Zweitens sind Bereiche des Öffentlichen auch das häufig gewählte Umfeld von Klangkunst, weil musikalische Revolutionen im Konzertsaal aus Sicht mancher Künstler im Skandal steckengeblieben waren. Als Teil einer nicht nur, aber auch musikalischen Kunst-im-öffentlichen-RaumBewegung seit den 1960er Jahren wurden konkrete sozialpolitische Ziele verfolgt: Demokratisierung des Zugangs zu Kunst und Verbesserung städtischer Lebensbedingungen. Was dabei überhaupt als öffentlicher Raum definiert wird, kann variieren, aber in den meisten Fällen ist mit öffentlicher Raum eigentlich öffentlicher Begegnungs- und Kommunikationsraum der Gesellschaft gemeint. Unter dem Begriff werden also Straßen, offene Plätze und Gebäude innerhalb eines vom Menschen kultivierten Gebietes – speziell der Stadtlandschaft – verstanden, die grundsätzlich jeder Person zugänglich sind, d. h. die keiner sozialen Gruppe beispielsweise durch hohes Eintrittsgeld oder durch die Notwendigkeit spezieller Bildung den Zutritt verwehren. (vgl. Bourdieu 1987: 766f.) Der öffentliche Raum grenzt sich damit zum einen sowohl vom privaten Raum als auch vom Arbeitsraum, zum zweiten auch vom Naturraum, zum dritten aber speziell vom institutionellen Kunstraum ab. Die Definition schließt hingegen schon längst 1
Rudolf Arnheim hebt diese medientechnisch bedingte Wahrnehmungsverschiebung 1936 hervor: „Im Rundfunk enthüllten die Geräusche und Stimmen der Wirklichkeit ihre sinnliche Verwandtschaft mit dem Wort des Dichters und den Tönen der Musik (...)“ (Arnheim 2001, S. 14).
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elektronische bzw. virtuelle Medienräume ein, die die Bedingung öffentlicher Zugänglichkeit erfüllen. Die Definition macht auch deutlich, wieso künstlerische Arbeit im öffentlichen Raum kaum ohne sozialpolitische Bezugnahme auskommt. Zur Elektronisierung öffentlicher Kommunikation schreibt Vilém Flusser: „Wo bisher der öffentliche Raum, der Stadtplatz, das Forum stand, werden in naher Zukunft strahlenförmig und netzförmig strukturierte Kanäle liegen. (…) Einerseits können sie zu einer ausstrahlenden Informationsverarbeitung führen (broadcasting), andererseits zu einem vernetzten Informationsaustausch (network). Im ersten Fall laufen die Kanäle diskursiv von den Sendern zu den Empfängern, im zweiten Fall sind sie reversibel. (…) Der erste Fall führt zu einer gleichgeschalteten (faschistischen) Gesellschaft, in der zentrale Sender die vereinzelt in ihre Privaträume gedrängten Empfänger zu spezifischem Verhalten programmieren. Der zweite Fall führt zu einer demokratischen Gesellschaft, in der jeder Beteiligte mit allen übrigen dialogisiert, um neue Informationen (Modelle und Entscheidungen) herzustellen. (…) Die grundlegende Frage, vor die wir angesichts der neuen Technologien gestellt sind, ist demnach die des Schaltplans der Kanäle.“ (Flusser 1996: 211f.)
Flusser stellt die Bedeutung der Struktur solcher Räume für sozialpolitische Machtverhältnisse sicherlich überspitzt dar, hebt die zentrale Rolle von Zugänglichkeit und Kommunikationsstruktur aber zu Recht hervor. In dieser Hinsicht unterlagen öffentliche Kommunikationsräume im 20. Jahrhundert enormen Veränderungen: Zum einen konkret physisch, d. h. in Bezug auf ihre Verbreitung oder Ausdehnung und auf ihre technisch-strukturelle Beschaffenheit, zum anderen in Bezug auf Wertigkeit und Zugänglichkeit. Daher wurden für öffentliche Räume immer wieder Szenarien zukünftiger Strukturierungsmöglichkeiten und Nutzungsformen entwickelt, und dabei haben sich neben vielen anderen auch Künstler und Musiker zu Wort gemeldet. Diese Szenarien sind in dem Sinne historisch, dass der Abstand heute groß genug erscheint, um sie entweder als visionär oder als utopisch einzuordnen – je nachdem, ob man sie heute für umgesetzt bzw. umsetzbar hält oder nicht. Ich möchte zeigen, dass diese Szenarien äußerst inspirierend gewirkt haben und trotz oder auch gerade wegen des meistens vorhandenen utopischen Anteils ausgesprochen einflussreich waren. Ich stelle im Folgenden drei Szenarien vor und nenne jeweils klangkünstlerische Beispiele, die daran anknüpfen – wobei nicht immer von einer bewussten Bezugnahme auszugehen ist, sondern eher davon, dass bestimmte Themen und Konzepte zu bestimmten Zeiten in der Luft liegen. Zwei der drei Szenarien beziehen sich auf öffentliche Medienräume, was im übrigen als Hinweis auf ein hohes Maß an Stringenz interpretiert werden kann, mit der sich die Gesellschaft von physischen zu elektronischen Kommunikationsräumen bewegt.
Vision, Utopie und Pragmatismus.
1.
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Szenario 1 – Nicolas Schöffers ästhetische Stadtvision
Mit seinen „spatiodynamischen“ Türmen (errichtet 1954/1955 auf der internationalen Ausstellung für Bauwesen und öffentliche Arbeiten in St. Cloud, Paris und 1961 am Palais des Congrés in Lüttich, Belgien) zielte Nicolas Schöffer auf eine funktionale künstlerische Gestaltung der zukünftigen, modernen Stadt. Sie sollten ein ästhetisches und zugleich soziales Regulativ bieten. Schöffer verstieg sich zu der Utopie öffentlich platzierter Kunstwerke, die gezielt und kalkulierbar auf die ästhetische Wahrnehmung einzuwirken hätten. Zentral in jeder Stadt würde ein „Elektronenhirn“ mit allen relevanten Informationen gefüttert und bei Bedarf „ausziehbare Plastikgruppen“ (Joray 1963: 125) in Bewegung versetzen, sobald „sensorielle Saturierungsphänomene“ (ebd.) (euphemistisch für Langeweile) bei den Bewohnern der Stadt aufträten. Beseelt vom Fortschrittsgedanken und vom Primat der schönen Künste über zweckrational bestimmte Zusammenhänge wie die Architektur, verfolgte er mit seiner Kunst das eine erlösende Ziel: „ein glückhaftes Aufblühen der menschlichen Gesellschaft“ (ebd.: 142). Abbildung 1:
Nicolas Schöffer: Stadtplanerischer Entwurf
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Abbildung 2:
Golo Föllmer
Nicholas Schöffer: Stadtplanerischer Entwurf
In aller Abstrusität der Gedanken nehmen Schöffers spatiodynamische Türme in bemerkenswerter Ausprägung spätere klangkünstlerische Gestaltungspraktiken vorweg. Zweck des Turms von St. Cloud war es gewesen, „einen Klanghintergrund für eine Stadt zu schaffen“ (Joray 1963: 125), der von der Öffentlichkeit beeinflusst werden könnte. Die Stadtgeräusche sollten transformiert werden, indem sie nämlich durch die Hinzufügung organisierter Geräusche selbst ästhetisiert werden. Dieser Ansatz ist zu einem großen Teil Schöffers erstem musikalischen Kooperationspartner Pierre Henry (einem der Vorreiter der ‚musique concrète‘) zuzuschreiben, der für den Turm in St. Cloud zwölf Tonbänder mit Kompositionen aus Klängen von Schöffers Skulpturen erstellte. Eine Steuereinrichtung schaltete die Bänder ein und aus, so dass sich Klangschichten in den unterschiedlichsten Konstellationen überlagerten. Die 52 Meter hohe Stahlkonstruktion, die sieben Jahre später in Lüttich gebaut wurde, trug 64 von Motoren bewegte Spiegelscheiben, Scheinwerfer und vermutlich die Lautsprecher. Das zentrale „Elektronenhirn“ führte die Messdaten von Lufttemperatur, Feuchtigkeit, Windstärke, Lichteinstrahlung und Geräuschpegel als Summenwert mit den Zufallszahlen einer „Indifferenzzelle“ zusammen. Ein kybernetisches Regelsystem setzte die resultierenden Zahlen in Steuerungswerte für die Motorbewegungen, die Lichtchoreographie und die Klangkombination um. Die Musik bzw. die Klänge für diese Lütticher Version stammten von dem belgischen Komponisten Henry Pousseur.
Vision, Utopie und Pragmatismus.
Abbildung 3:
Nicholas Schöffer: „Spatiodynamischer Turm“
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Abbildung 4:
Golo Föllmer
Nicholas Schöffer: „Spatiodynamischer Turm“
Vision, Utopie und Pragmatismus.
Abbildung 5:
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Nicholas Schöffer: „Spatiodynamischer Turm“
Gute zehn Jahre vor den ersten Klanginstallationen realisierte also ein Nichtmusiker auf der Basis einer Stadt-Utopie Projekte, die das Konzept der Klanginstallation vorwegnahmen, denn vier daran auffallende Elemente wurden Jahrzehnte später zu Spezifika der Klangkunst: die kybernetische Regelung, der Einfluss von Umweltwerten wie Helligkeit und Geräuschpegel, das Prinzip der sich überlagernden und gegeneinander verschiebenden Klangschichten und die Auffächerung in den Raum. Beispielhaft für den erläuterten Bezug zwischen Schöffer und heutigen Praktiken der Klanginstallation stehen die Installationen des Klangkunstpioniers Max Neuhaus. Schon Neuhaus’ erste Klanginstallation „Drive-In Music“ (196768 in Buffalo, New York) nahm die typische Bewegungsform der Stadtbewohner auf, indem die Klänge über kleine Radiosender in den Bäumen entlang einer Allee in die Radios vorbeifahrender Autos übertragen wurden – und damit auch
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nur bei Bedarf (sensorielle Saturierung?) gehört werden mussten, da man das Autoradio auf eine bestimmte Frequenz einzustellen hatte. Die in Echtzeit erzeugten Klänge wurden von Umweltdaten beeinflusst. „Times Square“, Neuhaus’ erste Dauerinstallation (1977-1992; seit 2002 wieder in Betrieb), hält sich sogar so weit zurück, dass auf eine Markierung des Kunstwerks verzichtet wird, damit Hörer die dezent eingesetzten Klangfelder auf einer Fußgängerinsel inmitten des Verkehrs als eine Kuriosität der Stadt begreifen, deren ästhetischen Wert sie eigenständig entdeckt haben. Abbildung 6:
Max Neuhaus: „Drive-In Music“
Abbildung 7:
Max Neuhaus: „Times Square“
Vision, Utopie und Pragmatismus.
2.
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Szenario 2 – Bertolt Brechts Radiotheorie
Mit dem „Lindberghflug“ realisierten Bertolt Brecht, Paul Hindemith und Kurt Weill 1929 ein musikdramatisches Werk für den Rundfunk, das die Zuhörer am Rundfunkempfänger zuhause aktiv einbeziehen sollte. Bei einer szenischen Aufführung in Baden-Baden begnügte sich Brecht damit, einen Stellvertreter der Zuhörer in Hemdsärmeln auf der Bühne zu platzieren, der Lindberghs Gesangspart übernahm. Für spätere Realisierungen sah Brecht vor, dass sich zum Beispiel Schulklassen mit dem Werk vertraut machen und dann eine ohne den Fliegerpart gesendete Version deklamierend vervollständigen sollten. Brechts eigene visionäre Vorlage für das Stück war seine sogenannte Radiotheorie. „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, (…) wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.“ (Brecht 1932: 134)
Brecht zielte mit dem „Lindberghflug“ nicht auf ästhetische Gestaltung, sondern auf gesellschaftlichen Lehrwert. Das Medium Radio, das seinen theoretischen Überlegungen zufolge neuartige didaktische Möglichkeiten bot, stellte Brechts pädagogischem Szenario aber strukturelle Hindernisse entgegen. Gerätetechnisch und programmlich hatte es sich nach den frühen Jahren einer mehr (USA) oder weniger (Europa) ausgeprägter Sendeanarchie zu einem zentralistisch gesteuerten Medium entwickelt (vgl. Daniels 2002: 135f.), bei dem kein effektiver Sendekanal für die Rezipienten existiert (vgl. Luhmann 1996: 10). So fand man auch in den nächsten Jahrzehnten weder für den „Lindberghflug“ noch für ein denkbares ähnlich geartetes Stück zu einer Darbietungs- oder Interaktionsform, die Brechts Vision hinreichend entsprochen hätte. In den 1960er Jahren knüpfte Hans Magnus Enzensberger an Brecht an, als er kritisierte, dass die Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten in den Massenmedien künstlich und gegen die Bedürfnisse der Rezipienten aufrecht erhalten würde und stattdessen jeder Empfänger ein potentieller Sender werden solle (vgl. Enzensberger 1999). Gerade um diese Zeit war es noch einmal Max Neuhaus, der mit einer Serie von Rundfunkarbeiten das Potenzial der Öffnung elektronischer Medien demonstrierte (vgl. Neuhaus 1994a). Bei „Public Supply I“, 1966 in New York auf WBAI realisiert, mischte Neuhaus live eingehende Telefonanrufe von zehn Leitungen und verstand sich dabei zwar als Gestalter der
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Golo Föllmer
technischen Konfiguration, aber nurmehr als Moderator des musikalischen Ereignisses. Sender waren die anrufenden Hörer. Abbildung 8:
Max Neuhaus: „Public Supply I“
Elf Jahre später, bei dem Folgeprojekt „Radio Net“, zog sich Neuhaus 1977 als Künstler noch weiter zurück, indem er die Gestaltung einer elektronischen Automatik überließ. Zugleich thematisierte er die Dimension und die immanente Ästhetik des technischen Systems ‚Radio‘: Die den Kontinent umspannende Ringleitung des US-amerikanischen Radionetzwerks NPR verschaltete er derart, dass Signale darin durch Rückkopplung klanglich transformiert wurden.2
2
Audioausschnitte aus beiden Rundfunkarbeiten finden sich erstmals auf der CD-ROM „Netzmusik“, erschienen als Beilage der Neuen Zeitschrift für Musik, 05/2004 (vgl. Föllmer 2004).
Vision, Utopie und Pragmatismus.
Abbildung 9:
Max Neuhaus: „Radio Net“ (Foto)
Abbildung 10: Max Neuhaus: „Radio Net“ (Postkarte)
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Vom Anspruch her noch radikaler in Brechts Sinne sollten in den 1990er Jahren die Projekte des Wiener Kunstradios sein. Die globale TelekommunikationsPerformance Horizontal Radio basierte 1994 auf dem Zusammenspiel möglichst heterogener Formen von Datenübertragung und elektronischer Kommunikation. Der Aufbau war explizit entgegen der hierarchischen (vertikalen) Struktur normaler Radiosender ‚horizontal‘: Jede Form der Mitarbeit (entlang einem gegebenen Thema) war möglich; alle beteiligten Sendestationen in 26 Städten hatten den gleichen Status; Mischung und Sendung geschah nicht zentralisiert, sondern von verteilten, selbstständigen Punkten aus; die kooperierenden Künstler und Institutionen waren aufgefordert, möglichst viele und unterschiedliche ‚Einstiegspunkte‘ für Radiohörer und Besucher der weltweit verteilten Performances zu schaffen, per Telefon, Internet oder live vor Ort über Mikrofone (vgl. auch Stocker 1999). „Basically a project like Horizontal Radio is orchestrated through the configuration of lines and channels, gateways and interfaces and by determining frequency ranges and access rights. (…) The strategy to ensure that participation is as simple and as widespread as possible is diversification.“ (Grundmann 2001: 240)
Abbildung 11: Kunstradio u. a.: „Horizontal Radio“ (Datenlaufstruktur)
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Auch wenn mit Hilfe neuer Verschaltungsweisen des Rundfunks und des damals noch relativ neuen Mediums Internet die technisch-strukturellen Beschränkungen des Rundfunks potenziell überwunden waren, bleibt die Aktivierung des Hörers als Sender relativ marginal. Man kann kritisieren, dass sich hier vor allem die Radiomacher gegenüber ihren Redaktionsleitern oder Intendanten emanzipierten, nicht die Hörer gegenüber den Radiomachern. Umgekehrt könnte man aber auch behaupten, dass eine künstlerische Arbeitsweise mit einem ähnlich pädagogischen Impetus wie bei Brecht in der Hoffnung vorexerziert wurde, dass es als Anstoß für ähnliche Praktiken in der breiten Öffentlichkeit dienen kann. Tatsächlich entstanden in der Folgezeit viele netzbasierte Grassroots-Projekte, bei denen Musiker und Künstler ohne institutionelle Rückbindung (z. B. an einen Radiosender) mit ähnlichen Strukturen Remixes von Samples und ganzen Musikstücken in offenen (horizontalen) Strukturen erstellten. Das Netz wird dabei vor allem zur Organisation der sozialen Interaktionsstrukturen bedeutsam, weil die einfache Möglichkeit des Publizierens von Konzepten und ästhetischen Produkten die dezentrale, horizontale Organisationsform ästhetischer Produktion im Kern unterstützt. 3.
Szenario 3 – Glenn Goulds Musikhörvision
Das dritte Szenario befasst sich eigentlich mit der Musikpraxis im privaten Raum. Doch wie wir sehen werden, wandelt sich diese Privatheit dann doch zur Öffentlichkeit. Glenn Gould gab seine Tätigkeit als Bühnen-Pianist zu dem Zeitpunkt auf – übrigens ähnlich wie die Beatles und manche andere Pop-Band –, als die Möglichkeiten der Nachbearbeitung und Montage einzelner eingespielter Versionen eines Werkes für ihn überzeugendere Ergebnisse erbrachte als die immer fehlerhafte und qualitativ schwankende Live-Interpretation. Gould schloss von sich als praktizierendem Musiker direkt auf die Hörer, als er sich 1966 vorstellte, dass in naher Zukunft jeder seinen eigenen Mix aus mehreren Beethoven-Einspielungen zuhause individuell zusammenstellen und hören würde, jeder Hörer verantwortlich für seine eigene Kunsterfahrung wäre und der Konzertbesuch aus der Mode käme (vgl. Gould 1966: 152f.). Produktionsseitig verwirklicht sich Goulds Prognose in der Popmusik teilweise, aber in der zeitgenössischen Kunstmusik geschah nach Nicolas Collins das Gegenteil: Pop-Bands kamen kaum noch aus den Studios heraus, während Avantgarde-Komponisten gerade die Einmaligkeit der Bühnen-Performance suchten. In Bezug auf klassische Musik ist diese Vision bis heute Utopie geblieben, obwohl die dafür notwendige Technologie der CD-ROM oder DVD mittlerweile da ist. Rezeptionsseitig ist interaktiver Mediengebrauch zuhause kaum
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signifikant im Vergleich zur passiv rezipierten Audio-CD bzw. MP3-Sammlung. Collins erklärt dies folgendermaßen: „(…) as Andy Warhol once said, people do not go to movies to see the film, but to stand in line. (…) Gould fails to recognize aspects of the concert that have nothing whatsoever to do with sound: the social element, the fundamental distinction between voyeur and practicioner, the desire to be entertained, the lure of the unexpected, etc.“ (Collins 1998: 30)
Nicolas Collins schlägt eine „Parlor Music“ vor, die ähnlich dem samstäglichen Bridge-Spiel eine private Musikpraxis werden könne, also eine neue Form, ein Aufleben der Hausmusik — basierend aber nicht auf mehr oder weniger reproduzierendem Partiturspiel, sondern auf interaktiver Medientechnik, die ggf. ohne musikpraktische Kompetenzen benutzt werden kann und sich daher potenziell der gesamten Bevölkerung öffnet. „(...) a task that sits somewhere between the passive appreciation of music, the active decision-making of channel surfing and the accessible (if competitive) satisfaction of games? (…) Performances could take place at many different levels of skill (…) The game-like competitiveness could provide the initial hook for pulling a listener off the couch (…) while the social factor would encourage the reintegration of musical performance into everyday life.“ (ebd.: 31)
Collins erprobte sein Konzept in installativen Situationen, praktizierbar nur im institutionellen Kunstkontext. Chris Brown dagegen schlug mit dem Konzept der „Eternal Network Music Site“ ein ähnliches Projekt vor, das aber tatsächlich vom Wohnzimmer aus gespielt werden und einen öffentlichen musikalischen Kommunikationsraum etablieren sollte. Prototypen dazu realisierte er zuerst mit der Autorensoftware „Supercollider“ und ließ sie in kleinen, meist lokal vernetzten Ensembles spielen.3
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Eine vernetzte Version findet sich (zusammen mit einem Projekt von John Bischoff) auf www.transjam.com/eternal mit der Java-basierten Autoren-Software „JSyn“ von Phil Burk.
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Abbildung 12: Chris Brown: „Eternal Network Music Site“ (Screenshot einer lokalen Version)
Brown stieß aber nach eigenen Angaben auf dieselben Schwierigkeiten, die Collins in Bezug auf Glenn Goulds Konzept diagnostiziert hatte. Brown schreibt: „Internet-Musik kämpft typischerweise mit dem Problem, dass nicht genügend Leute zur selben Zeit zur Teilnahme online sind, vielleicht weil die über Computer vermittelte Interaktion persönlich erheblich weniger einnehmend, ist als es unsere viel reicheren physischen Möglichkeiten sind. (…) Internet-Musik leidet unter der kurz bemessenen Aufmerksamkeitsspanne der Spieler, die eher durch Webseiten surfen, als sich irgendwo aufzuhalten und die nach interaktiven Erfahrungen mit Instrumenten suchen, die keinerlei Zeit zum Erlernen ihrer Kontrolle erfordern.“ (Brown 2004: 25f.)
Rezeptionsseitig am weitreichendsten umgesetzt wurde Goulds Idee im Bereich sogenannter Soundtoys, die sich meistens popmusikalischer Klangästhetik bedienen. Ein einfaches Beispiel ist das Software-Modul „SS7X7“, mit dessen Hilfe aus der Musik oder genauer aus Klangelementen bekannter Musiker (z. B.
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des Jazzers Bill Laswell) über ein simples, als Mischpult gestaltetes BildschirmInterface Remixe hergestellt werden können. Als anziehend für Fans des betreffenden Musikers vermutet man daran ein Gefühl des Kontakts zum Idol, wenn man dessen Klänge beeinflussen und dessen Musik nun weniger passiv, sondern zumindest mit dem Anschein der Nähe durch Interaktion erfahren kann.4 Abbildung 13: „SS7X7 – 7X7“ Studio (Screenshot)
Ein komplexeres Beispiel der Umsetzung von Glenn Goulds Idee ist Klaus Gasteiers „SMiLE • Dumb Angel“. Bei „SMiLE“ werden mehr als hundert Musikfragmente eines ominösen Albums der Beach Boys mit einem grafischen Interface in einen halb automatischen, halb vom Hörer steuerbaren Ablauf gebracht. Die gesamte Arbeitsweise der Beach Boys an diesem Album geschah genau genommen im Sinne von Glenn Goulds Rückzug in die technischen Produktionsmöglichkeiten des Studios. Wie die vorausgegangene Hitsingle „Good Vibrations“ sollten die Titel auf „SMiLE“ aus einzeln aufgenommenen, z. T. nur we4
Die Produktionsfirma von „SS7X7“ hat sich längst aufgelöst. Das Konzept wird in dieser Form nicht mehr weiterverfolgt.
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nige Sekunden langen Songschnipseln bestehen, die erst beim Abmischen in eine bestimmte Reihenfolge montiert würden. Die Platte wurde jahrzehntelang nicht fertiggestellt.5 Als in den 70er oder 80er Jahren über ungeklärte Kanäle die modularen Songteile auf Bootlegs (Raubkopien) auftauchten, begann das Rätseln über die möglichen Zusammenstellungen. Mögliche Verknüpfungen zwischen einzelnen Fragmenten wurden dabei aus musikalischen Ähnlichkeiten und aus Legenden, die um das Album kursieren, abgeleitet und von Gasteier in eine Datenbank eingegeben. Über Goulds Vorstellung vom Spielraum des Hörers hinausgehend, legt der Rezipient hier nun selbst den formalen Aufbau der Stücke fest und nimmt damit Teil am experimentellen Erproben, welche Abfolge denn nun die beste, die passendste, die eigentlichste gewesen sein könnte. Abbildung 14: Klaus Gasteier: „SMiLE • Dumb Angel“ (Screenshot)
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Fast 40 Jahre nach Beginn der Arbeit an „SMiLE“ wurde sie im Sommer 2004 dann doch vorgestellt.
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Gasteiers interaktive Version beeindruckte Experten, konnte aber aus urheberrechtlichen Gründen nicht veröffentlicht werden und damit auch seine Praktikabilität als adäquate Hörform für den speziellen Zusammenhang nicht unter Beweis stellen. An vergleichbaren Ideen wird aber im Zuge der Mobilisierung der Wiedergabemedien weiter gearbeitet. Dabei zeichnet sich eine wesentliche Veränderung ab: Die Experimente erfolgen nicht mehr nur im Bereich der künstlichen Laborsituation des medienkünstlerischen Experiments oder der klangkünstlerischen Kontemplation. Zunehmend sind es Projekte, deren neue Form der Musikrezeption einen alltagstauglichen Gebrauchswert haben soll. Ein Beispiel dafür ist das „iKlax“-Audioformat, bei dem eine Audiodatei – ein Stück – verschiedene Fassungen enthält. Die enthaltenen Instrumente liegen als separate Spuren vor, die erst im Player zu einem Stereosignal abgemischt werden. Dadurch wird es möglich, auf einzelnen Instrumentenspuren zwischen verschiedenen Stilen oder Takes umzuschalten. Der Bass spielt zum selben Stück z. B. einmal einen jazzigen und einmal einen rockigen Riff. Abbildung 15: Spuralternativen in einem Fenster des „iKlax“-Player 3.2 (Screenshot)
Ein anderes Beispiel ist „RjDj“ für das Apple iPhone. Die Software bietet eine ungewöhnliche Walkman-Funktion. „RjDj“ nimmt Klänge über das eingebaute Mikrofon aus der aktuellen Umgebung des Hörers auf und rhythmisiert, harmonisiert und modifiziert sie nach einer Reihe sehr verschieden klingender Algorithmen, aus denen man sich einen aussuchen kann. Die Kontrolle über das ein-
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gehende Klangmaterial liegt beim Nutzer. Die Algorithmen aber sind unveränderbar. Jeder Algorithmus ist eine autonome Komposition, die der flanierende Hörer mit Klängen füttert, die ihm begegnen: Klangkunst-to-go. Im Gegensatz zum herkömmlichen Walkman, der die beobachtete Umwelt zur atmosphärischen Kulisse hinter einer musikalischen Handlung macht, speisen hier die Akteure auf der Kulisse die Musik. 4.
Utopopragmatismus
Alle diese Utopien sind nicht nur künstlerisch-ästhetische Zukunftsszenarien, sondern zielen im Kern tatsächlich – im engen Sinn von Utopie – auf gesellschaftlich-moralische Veränderungen. Sie haben allesamt utopischen Charakter:
Schöffers Utopie einer durchgeplant ästhetisierten Stadt ist widersprüchlich. Überraschenderweise münden aber viele Komponenten seines Konzepts in die heutige intermediale Kunstpraxis der Klanginstallation. Brechts Idee blieb lange unrealisiert (bzw. unrealisierbar) und damit Utopie. Sie scheiterte vorerst an den technisch-organisatorischen Unmöglichkeiten des Radios, hing aber auch (wie Brecht selber betont) von der Realisierung der politischen Utopie eines sozialistischen Umbaus der Gesellschaft ab. Mit der Entwicklung der neuen Medienstruktur des Internets war das technische Problem beseitigt, wenn auch nicht das politische. Dass die Medientechnik des Internets sich zur gegenwärtigen Form entwickelte, kann aber umgekehrt auch direkt mit Impulsen aus Utopien wie der von Brecht in Verbindung gebracht werden: Horizontale Strukturen etc. waren von Beginn an Teil des kollektiven innovativen Geistes, aus dem zumindest in den ersten, prägenden Jahren und Jahrzehnten eine große Schar weitgehend gleichgestellter Nutzer das Netz entwickelte. Goulds Vorstellung einer zukünftigen Musikpraxis, bei der die Hörer bewusst, aktiv und verantwortlich ihre individuelle Variante musikalischer Wirklichkeit zusammenstellen, kann aus heutiger Sicht als Überschätzung des Bedürfnisses nach Verantwortung und Gestaltungswillen beurteilt werden. Zumindest rezeptionsseitig ist sein Szenario noch weitgehend Utopie. Aber auch hier ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Wie die Beispiele nahelegen, mag das Konzept nicht zum generellen Trend werden, hat aber in bestimmten Zusammenhängen eine ausgesprochene Berechtigung und könnte sich über die Zeit für spezifische Zusammenhänge als Rezeptionsform in ihrem eigenen Recht etablieren.
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Golo Föllmer
Für alle drei Beispiele gilt, dass einem hochfliegenden (oder zumindest mit Getöse vorgetragenen) Szenario schließlich Umsetzungen folgen, die im Vergleich zur sie inspirierenden Idee ausgesprochen bescheiden wirken und offenbar vor allem eines sein müssen: pragmatisch. Neuhaus’ Klanginstallationen gehen mit äußerster Pragmatik auf die Bedürfnisse der ‚Eigentümer‘ des öffentlichen Raums ein, wenn er alle Gestaltungskriterien auf die üblichen Nutzungsformen eines gewählten Raums abstimmt. Ebenso sind seine Rundfunkarbeiten ganz auf die Möglichkeiten der Hörer zugeschnitten. Gleiches gilt für Browns Netzwerkmusik oder für „RjDj“, die auf simple Interaktionsaspekte reduziert sind, damit musikalisch ungebildete Spieler sowohl das Bedienungskonzept als auch das hörbare Ergebnis verstehen. Ähnlich lässt es sich auch für die anderen Beispiele sagen. Die pragmatischen Zwänge, die die Umsetzung einer Vision prägen, sind nicht nur eine Pflichtübung, sondern verleihen der Vision überhaupt erst eine Form. Igor Strawinsky fasst das in optimistische Worte: „(…) meine Freiheit wird um so größer und umfassender, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte. Wer mich eines Widerstandes beraubt, beraubt mich einer Kraft.“ (Strawinsky 1949: 41f.)
Literatur Arnheim, Rudolf (2001): Rundfunk als Hörkunst: Und weitere Aufsätze zum Hörfunk. Frankfurt am Main: Suhrkamp Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Brecht, Bertolt (1932): Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Brecht (1967): 127-134 Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke. Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Brown, Chris (2004): Wieso Netzmusik? In: Neue Zeitschrift für Musik. Jg. 165 (2004). H. 5. 25-26 Collins, Nicolas (1998): Ubiquitous Electronics – Technology and Live Perfomance 1966-1996. In: Leonardo Music Journal. Jg. 8 (1998). 27-32 Daniels, Dieter (2002): Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet. München: C. H. Beck Druckrey, Timothy (Hrsg.) (1999): Ars Electronica. Facing the Future. Cambridge: MIT Press Enzensberger, Hans M. (1999): Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Pias et. al. (1999): 264-278 Flusser, Vilém (1996): Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim: Bollmann
Vision, Utopie und Pragmatismus.
225
Föllmer, Golo (2004): Die CD-ROM „Netzmusik“. In: Neue Zeitschrift für Musik. Jg. 165 (2004). H. 5. 14-15 Föllmer, Golo (2005): Netzmusik. Elektronische, ästhetisch und soziale Strukturen einer partizipativen Musik. Hofheim: Wolke Gould, Glenn (1966): Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung. In: Gould (1987): 129-160 Gould, Glenn (1987): Schriften zur Musik II. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Herausgegeben und eingeleitet von Tim Page. München: Piper Grundmann, Heidi (2001): Radio as Medium and Metaphor. In: Weibel/Druckery (2001): 236-243 Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. 2. Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag Joray, Marcel (1963) (Hrsg.): Nicolas Schöffer. Neuchâtel: Editions du Griffon Neuhaus, Max (1994a): Rundfunkarbeiten und Audium. In: Transit (1994): 19-32 Neuhaus, Max (1994b): sound works. Volume II. Drawings. Ostfildern-Stuttgart: Cantz Pias, Claus/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Vogl, Joseph (Hrsg.) (1999): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt Stocker, Gerfried (1999): Horizontal Radio – 24 Hours Live. In: Druckrey (1999): 397402 Strawinsky, Igor (1949): Musikalische Poetik. Mainz: B. Schott’s & Söhne Transit (Hrsg.) (1994): Zeitgleich. Wien: Triton Weibel, Peter/Druckrey, Timothy (Hrsg.) (2001): net_condition. art and global media. Cambridge: MIT Press
Abbildungen Abb. 1-2: Nicholas Schöffer: Stadtplanerische Entwürfe. In: Joray (1963): 124. Abb. 3-5: Nicholas Schöffer: „Spatiodynamischer Turm“. In: Joray (1963): 115, 112, 118 Abb. 6: Max Neuhaus: „Drive-In Music“. In: Neuhaus (1994b): 17 Abb. 7: Max Neuhaus: „Times Square“. In: Neuhaus (1994b): 25 Abb. 8-10: Mit freundlicher Genehmigung von Max Neuhaus. Abb. 8: Max Neuhaus: „Public Supply I Abb. 9-10: Max Neuhaus: „Radio Net“ (Foto, Postkarte) Abb. 11: Kunstradio u. a.: „Horizontal Radio“ (Datenlaufstruktur). In: Föllmer (2005): 161 Abb. 12: Chris Brown: „Eternal Network Music Site“ (Screenshot einer lokalen Version). Mit freundlicher Genehmigung von Chris Brown Abb. 13: „SS7X7 – 7X7“ Studio (Screenshot). . Abb. 14: Klaus Gasteier: „SMiLE • Dumb Angel“ (Screenshot). Mit freundlicher Genehmigung von Klaus Gasteier Abb. 15: Spuralternativen in einem Fenster des „iKlax“-Players 3.2 (Screenshot)
VI.
Medien und Öffentlichkeit
Melancholie und Medien. Aspekte der Gesundheitskommunikation in der Epoche der Aufklärung Cornelia Bogen
Voraussetzungen der zeitgenössischen Gesundheitskommunikation Bereits im 17. und im frühen 18. Jahrhundert entstehen neue Gattungen, Genres und Medien aktueller Berichterstattung wie die politischen Nachrichtenblätter, Moralische Wochenschriften, Journale etc., die periodisch, preisgünstig und in hoher Auflagenzahl gedruckt werden. Die Träger der Aufklärungsbewegung, die publizistisch aktiven Gelehrten, nutzen diesen neu entstandenen Öffentlichkeitsraum und die Potenziale einer sich transformierenden Lesekultur gezielt, um ihr Anliegen – die mediale Aufklärung breiterer Bevölkerungsschichten – zu verwirklichen. In diesen öffentlichen Foren denken sie darüber nach, mit welchen literarischen Strategien sie den nützlichen Unterricht lehrhaft und unterhaltsam zugleich an die Leserschaft vermitteln können. In der Epoche der Aufklärung erfolgt ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der fürstlichen absolutistischen Herrscher in Westeuropa1, die die Gesundheitserhaltung der Bevölkerung erstmalig zum öffentlichen staatlichen Interesse erklären. Damit einher geht die Aufwertung der Expertenrolle der gelehrten Ärzte, die eine Standardisierung und Kanonisierung medizinischen Wissens forcieren und die Institutionalisierung sowie Professionalisierung des medizinischen Unterrichts für das nicht akademisch ausgebildete Heilpersonal vorantreiben. Gleichzeitig steigt im Zuge der damals propagierten zunehmenden Autonomie des Individuums der gesellschaftliche Anspruch an den Einzelnen, eigenverantwortlich mit seiner Gesundheit umzugehen.
1
Vgl. Wimmer (1991): Gesundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. S. 203
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Cornelia Bogen
Abbildung 1:
Lonitzer, Adam (1609). Kreuterbuch. F.a.M.
Neu in der Epoche der Aufklärung ist, dass nur dasjenige schulmedizinische und volksmedizinische Wissen in den Medien der medizinischen Volksaufklärung Einzug halten sollte, das zuvor einer naturwissenschaftlich-empirischen Überprüfung standhielt (z. B. Kräuterbücher2, Hausväterliteratur, medizinische Wochen- und Monatsschriften, Gesundheitskatechismen).3 Damit sollen die von den empirisch arbeitenden Ärzten neu gewonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse im Haus-, Landwirtschafts- und Gesundheitsbereich der Landbevölkerung medial zugänglich gemacht und der Verbrei2
3
Siehe dazu in der Abb.1 das frühe Beispiel eines Kräuterbuches, dessen Umschlaggestaltung äußerst aufwendig ist. Im Laufe der Epoche der Aufklärung werden solche kunstvollen Drucke unter veränderten Medienbedingungen und ökonomischen Zwängen zunehmend verdrängt. Das erste gedruckte Kräuterbuch mit dem Titel „Gart der Gesundheit“ erscheint in Mainz 1485. Vgl. Auge (2006). Die Natur verstehen und nutzen: Kräuterbücher und Enzyklopädien. S. 60 Dem Gebrauch traditioneller Hausmittel standen die medizinischen Aufklärer nicht feindlich gegenüber. Sie versuchten aber, dasjenige volksmedizinische Wissen diskursiv zu bekämpfen, das auf dem Aberglauben beruhte.
Melancholie und Medien. Aspekte der Gesundheitskommunikation
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tung gesundheitswidriger Vorurteile vorgebeugt werden. So werden traditionell volkstümliche Auffassungen in den sogenannten Anleitungen zur Rettung von Ertrunkenen, Erfrorenen und Erhängten aufgegriffen, um die Gesundheitsgefahr abergläubischer Praktiken aufzuzeigen.4 Darüber hinaus bemühen sich die Ärzte als offizielle Verfasser der meisten dieser volksmedizinischen Schriften5 ab 1750, publizistisch-literarische Strategien zu entwickeln, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu wecken. Dazu gehören Unterricht in Gesprächs- sowie Frage- und Antwortform, in Lied- und Briefform oder Erzählungen, um Lesebedürfnisse zu bedienen. Gesundheitswörterbücher und Erläuterungen in den Intelligenzblättern sollen dem medizinischen Laien Lektürehilfen geben. Zudem überschwemmen zahlreiche Handbücher zur Volkshygiene sowie die so genannten ‚Noth- und Hülfsbüchlein‘ den Markt.6 Um die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit zu minimieren, werden nun direkt spezielle Bevölkerungsgruppen adressiert, wie beispielsweise die an die Mütter gerichteten Schriften zur Säuglings- und Kindespflege und zum Impfschutz. Gelehrte Ärzte studieren klassische Beschreibungen epidemischer Infektionskrankheiten sowie Universitätslehrbücher und verfassen Schriften für das `niedere Heilpersonal´, um die Qualität der medizinischen Versorgungsleistung zu verbessern und sich selbst als Experten für Gesundheitsfragen zu qualifizieren. Der Laie sucht in diätetischen Werken nach Ratschlägen für Selbstmedikationen und für eine gesunde Lebensführung.7 Sowohl das ärztliche Fachpublikum als auch der gesundheitsinteressierte Bürger liest Wochen- und Monatsschriften zur Anthropologie, Psychologie und Arzneiwissenschaft. Die aufklärerischen Ärzte adressieren ihre Publikationen an den Staat in Form von Medizinalordnungen, Beschreibungen des Gesundheitszustandes der Bevölkerung und Verbesserungsvorschlägen zur Reform der Institutionen und Strukturen des Gesundheitswesens.8 Der öffentliche Gesundheitsdiskurs wird von den publizistischen Selbstzeugnissen bzw. autobiografischen Schriften medizinischer Laien mitgestaltet.9 Die Medialität des öffentlichen Gesundheitsdiskurses und ihre Konsequenzen werden im Folgenden am Beispiel der zeitgenössischen Melancholiediskussion untersucht. Melancholie ist nicht nur ein prominentes Thema in der 4 5 6 7 8 9
Vgl. Niemeyer (1783): Ueber den Aberglauben bey Ertrunkenen Eine Zuschrift an die Halloren und Fischer zu Halle. Vgl. Böning (1990): Medizinische Volksaufklärung und Öffentlichkeit. S. 42 Struve, Christian August (1796): Doktor Christian August Struve`s Noth- und Hülfsbüchlein. Hufeland, Christoph Wilhelm (1826): Makrobiotik. 6. Aufl. Frank, Johann Peter (1779-1819): System einer vollständigen medizinischen Polizey. Bernd, Adam (1739): Eigene Lebens=Beschreibung. Reprint: Hoffmann (Hg.) (1973).
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Cornelia Bogen
schönen Literatur,10 Empfindsamkeitsdebatte, im literatur-ästhetischen Diskurs11 oder Genieästhetik der Zeit, sondern auch im öffentlichen medizinischen und theologischen Diskurs. „Erwähnungen von Melancholie fließen im medizinischen Schrifttum des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts so umstandslos mit ein, dass das Leiden seinerzeit keine Seltenheit gewesen sein kann“.12 Das Krankheitsbild stellt eines der beliebtesten Forschungsobjekte der entstehenden Anthropologie und Erfahrungsseelenkunde dar, da so der Zusammenhang von Leib und Seele untersucht werden kann. Gleichzeitig gilt Melancholie im medizinischen Diskurs als Form des Wahnsinns, der die Primate des Aufklärungsprogramms – Rationalität, Vernunftreligion, Philanthropie, eigenverantwortliches Handeln, Glückseligkeitsstreben, Geselligkeit – zu unterlaufen droht. Aus den Medialitätsbedingungen moderner Gesellschaften werden drei Aspekte hervorgehoben: Das Motiv des Widerspruchs rekurriert auf den Umstand, dass es seit der Entwicklung der Buchkultur zu jeder Information auch mindestens eine gegenteilige medial präsente Behauptung gibt. Ein Topos der zeitgenössischen Kulturkritik ist daher, von der Unüberschaubarkeit und Widersprüchlichkeit des publizierten Wissens zu sprechen. Mediale Aufklärung bedeutet schon damals nicht nur die bloße Wissensvermittlung, sondern strebt eine Mentalitätsveränderung bei den Adressaten an: „Aufklärerisch […] sind Texte, die erkennen lassen, dass es angesichts eines Problems mehrere mögliche Einstellungen gibt, von denen dann eine aus den von der Aufklärung einzig akzeptierten Gründen der Vernunft oder der Erfahrung [ ] vorzuziehen sei, Texte also, die in diesem Sinne argumentieren oder räsonieren.“13
In der Aufklärungsepoche erfindet man bereits Krankheitsbilder oder stellt diese überzeichnet dar, um mit dem Motiv des Sensationalismus öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und die Informationsinteressen der Nutzer in eine nichtmedizinische Richtung zu lenken. 10 11
12 13
Siehe die komödiantischen Medizindiskurse über Melancholie bzw. Hypochondrie in den Lustspielen von Molière, Mylius oder Quistorb. So hat beispielsweise Klopstock Melancholie als konstitutives Element im lyrischen Rezeptions- und Erkenntnisprozess des Lesers hervorgehoben, in dem er sie als ästhetisiertes Leiden auf der Seite des Lesers und als religiös-literarische Emotionalisierungsstrategie des Autors beschrieben hat, welche den Leser zur gemischten Empfindung des Religiös-Erhabenen und zur Gotteserkenntnis befähigen soll. Vgl.: Friedrich Gottlieb Klopstock (1755). Von der heiligen Poesie. In: (Ders.). Der Messias & Vgl. Klopstock (1823). Von der besten Art über Gott zu denken. In: Margareta Klopstock (Hrsg.) Hinterlaßne Schriften. Ich danke Katja Battenfeld aus der AG Aufklärung der Empfindung (Graduiertenkolleg Aufklärung – Religion – Wissen, Halle) für diesen Hinweis. Shorter, Edward (1999): Von der Seele in den Körper. S. 204. Böning, Holger & Reinhart Siegert (1990): Volksaufklärung. Bd. 1. S. X.
Melancholie und Medien. Aspekte der Gesundheitskommunikation
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Eines der zentralen Kommunikationsprobleme seit der Entwicklung moderner Medien ist die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit von Informationen. Da mit der Einführung medialer Kommunikation auch eine Bestätigung von Glaubwürdigkeit immer wieder medial erfolgt, ist die Glaubwürdigkeit in der Medienkultur immer Ergebnis eines medialen selbstreferentiellen Prozesses (Motiv der Selbstreferentialität). Der zeitgenössische Melancholiediskurs Sensationalismus Melancholie bzw. Hypochondrie14 wird im 17. und 18. Jahrhundert von einigen publizierenden Ärzten als Gelehrtenkrankheit bezeichnet, weil sie angeblich all diejenigen Personengruppen heimsuche, die kontinuierlich geistige Arbeit am Schreibtisch verrichten und sich deshalb nicht viel bewegen.15 Die sitzende Lebensweise wird als gefährlich für die Oberbauchorgane eingestuft, was in der Konsequenz zu einer schlechten Verdauung und zur Melancholie beziehungsweise Hypochondrie führe. Durch die damit hergestellte Referenz zwischen einer Krankheit und der Gruppe der prominenten Gelehrten als Träger der Aufklärungsbewegung wird die Gesundheitskommunikation aufgewertet. Johann August Unzer, der Verfasser der Wochenschrift Der Arzt, schließt sich dieser medialen Strategie an und steigert sie durch satirische Elemente. „Denn weil man diese Krankheit gemeiniglich bey Gelehrten findet, so geben die dümmsten Leute am meisten vor, dass sie hypochondrisch wären“.16 Unzer will die Aufmerksamkeit nicht auf falsche Tatsachen lenken, sondern einen höheren Aufklärungseffekt auf Seiten des vernünftigen Lesers erzielen. Nicht nur die publizierenden Ärzte, sondern auch Theologen referieren im Melancholiediskurs auf Bereiche, die eigentlich nicht unmittelbar mit dem Bereich Gesundheit/Krankheit zusammenhängen. Die Geistlichen instrumentalisieren den fachspezifischen Medizindiskurs für politisch-religiöse Zwecke, um 14
15 16
Analog zur antiken Galenischen Humoralpathologie, die die Hypochondrie als Unterart der Melancholie betrachtete, wurden im 18. Jahrhundert Melancholie und Hypochondrie weitestgehend synonym gebraucht im Sinne von Verdauungsstörungen, die mit einer traurigen Verstimmtheit und Ängsten einhergehen. Deshalb sprach man im 18. Jahrhundert zuweilen vom „hypochondrisch-melancholischem Übel“. Vgl. Fischer-Homberger, Esther (1970). Hypochondrie. Melancholie bis Neurose: Krankheiten und Zustandsbilder. ab S. 20. Vgl. auch Schott, Heinz (Hrsg.) (1998): Der sympathetische Arzt. S. 126. Tissot, Simon André (1791): Belehrung an Gelehrte über deren Gesundheit. Bd. 2. 2. Theil, 3. Aufl. S. 23. Unzer, Johann August (1760): Beschreibung der Hypochondrie. , in: Ders. Der Arzt. 2. Aufl. 1. Th. 25. St. S. 385-398. hier: S. 389
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religiös Andersdenkende mit dem Melancholievorwurf im öffentlichen Mediendiskurs zu stigmatisieren. Mohr zeigt in ihrer Studie über den zeitgenössischen Melancholiediskurs in England, dass die publizierenden Theologen ab 1650 das aristotelische Erklärungsmodell für die nahe Verwandtschaft von Traurigkeit, Manie und Euphorie (heute: manisch-depressiv) aufgreifen, diese jedoch durch die Begriffe Melancholie und Enthusiasmus ersetzen. Religiöser Fanatismus, Sektierertum oder Schwärmerei werden nicht mehr als Betrug oder Teufelswerk, sondern vielmehr als Resultat einer krankhaft überspannten Einbildungskraft betrachtet. Das, was der Staatsfeind und Enthusiast – also Puritaner, Quäker, Methodisten, Hermetiker, Mystiker, etc. – als Offenbarung wahrnehme, sei in Wirklichkeit eine entzündete melancholische Fantasie.17 Die publizierenden Theologen als Vertreter monotheistischer Religionen stellen eine Referenz zwischen der Krankheit Melancholie und den Enthusiasten oder Fanatikern her, als Opponenten der `Vernunftreligionen´. Sie beabsichtigen damit, die allgemeine Bevölkerung davon abzuhalten, sich bestimmten Frömmigkeitsbewegungen oder religiösen Heilslehren anzuschließen. Gleichzeitig wollen sie den Trägern der Aufklärungsbewegung vermitteln, dass solche religiösen Strömungen die öffentliche Sicherheit und staatliche Ordnung bedrohen, weil sie die Bevölkerung verstandesverwirrt und unzurechnungsfähig mache.18 Diejenigen religiösen Gruppen, die vom Enthusiasmusvorwurf betroffen sind, müssen nun öffentlich zu dem Vorwurf Stellung nehmen, wie beispielsweise Shaftesbury, der den an die Cambridge Platonists gerichteten Melancholievorwurf abwendet.19 Die an den Pietismus gerichtete Kritik, das Trauergebot mache die Anhänger kopfhängerisch, wird von den Pietisten dadurch abgewehrt, indem sie die religiöse Melancholie als gottesfürchtige Traurigkeit oder als Prüfung Gottes zur Glaubensfestigkeit auffassen.20 Schings stellt fest, dass im Diskurs zur Schwärmerei sichtbar werde, wie sich Gesundheit zum Maßstab gesellschaftskonformen Verhaltens diskursiv entwickelt, der alle anderen Phänomene, die nicht der Norm entsprechen, als Krankheit auffasst.21 17 18
19 20 21
Vgl. Mohr, Ute (1990): Melancholie und Melancholiekritik im England des 18. Jahrhunderts. S. 108 - 128f „Unglückseliger Weise scheint auf unsere Zeiten eine solche Periode vorbehalten zu seyn, welche die Schwärmerei auf eine Art begünstigt, die den Staat zur angestrengtesten Aufmerksamkeit auffordert“. Vgl.: Henke, Adolph (Hrsg.) (1823): Notizen und Reflexionen über die vorwaltende Neigung zur Gemüthszerrüttung in gewissen Zeitperioden. in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. Bd. 6, 1823, 3. Jg., 4. Vierteljahresheft. S. 429-442. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper (1711): A letter concerning Enthusiasm. Vol. 1. Vgl. Scherertzius, Sigismundus (1715): Fuga Melancholie oder: Drey geistreiche Bücher. Vgl. auch: Harmer, Thomas (1779). The Good Liable to Intellectual Disorders of the Melancholy Kind. S. 18f Schings, Hans-Jürgen (1977): Melancholie und Aufklärung. S. 23
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Für den kulturkritischen Chirurg Bilguer ist die seiner Wahrnehmung zufolge epidemisch verbreitete Melancholie bzw. Hypochondrie Ausdruck der Verschlechterung gesellschaftlicher Zustände. „Daß die Hypochondrie eine fast allgemeine Krankheit sey, ist als eine Wahrheit zu erkennen gegeben. Eine unglückliche Notwendigkeit, die ihren Grund hat, entweder in dem itzt herrschenden Modegeist des unordentlichen gesellschaftlichen Lebens, der Pracht, der Verschwendung, der Schwelgerey, der übertriebenen Begierde, sich immer zu vergrößern und sich immer vornehmer und ansehnlicher zu machen; eine daher entstehende Nothwendigkeit des Stadtlebens, des Müßiggangs, der Affectation, der übertriebenen Begierde, Künste und Wissenschaften zu treiben, des zu frühzeitigen Verheyrratens und der unglücklichen Ehen; eine unglückliche Nothwendigkeit, die ihren Grund hat in der ungesunden Fortpflanzung, in der schlechten Erziehung der Kinder, in mancherley weibischen Aberglauben und Vorurtheilen, im Mangel der Liebe zu Tugenden; und in der so äußerst Mode gewordenen Verachtung aller üblen und doch unausbleiblichen Folgen, die auf die Thaten aller bösen sinnlichen Lüste entstehen: all dieses setzt die allermeisten Menschen in die Gefahr, hypochondrisch zu werden.“22
Indem Melancholie als bedrohliches Allgegenwartsübel dargestellt wird, bedroht sie nicht nur eine bestimmte Gruppe, sondern alle und jeden. Zu dieser sensationalistischen Inszenierung der Melancholie passt, dass diese von den Publizisten als eine der schlimmsten und schwerwiegendsten Krankheiten dargestellt wird. Robert Burton, Theologe und Verfasser der populärsten monografischen Abhandlung zur Melancholie im 17. Jahrhundert, zufolge sei der Melancholiker aufgrund seiner Todessehnsucht und wegen der Unheilbarkeit der Krankheit als „Endprodukt und [ ] Gipfel menschlichen Missgeschicks“ zu betrachten.23
22 23
Bilguer, Johann Ulrich (1767): Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie. S. 312 Burton, Robert (1621): Die Anatomie der Schwermut. Übers. 2003. Folgt 6. Aufl. von 1651. S. 393f
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Abbildung 2:
Titelblatt Burton Anatomie der Melancholie (1621)
Vor diesem Hintergrund ist es ein naher Schritt – so suggerieren es die Autoren – dass mancher Melancholiker seinem Leben ein Ende setzen wolle, weil er seiner jammervollen Existenz – die ständigen Sorgen, Ängste, seine Verzweiflung und sein gefühltes Elend – entfliehen wolle. Melancholie und Selbstmord werden in der Literatur des 18. Jahrhunderts oftmals in einem Atemzug genannt.24 Eine melancholische Gemütsstimmung könne die Betroffenen jedoch nicht nur in den Selbstmord treiben, sondern sie sogar dazu veranlassen, andere anstelle sich selbst zu töten. Weil die Prediger und Theologen öffentlich den Selbstmord als Todsünde verurteilen, würden besonders fromme Menschen – die des Lebens überdrüssig seien, weil sie überspannte Vorstellungen von der Glückseligkeit im Jenseits hätten – vom Selbstmord abgeschreckt, weil sie mit einem Freitod die Hoffnung auf ewige Seligkeit verlieren würden. Deshalb würden sie lieber einen unschuldigen Menschen umbringen, um sich – ihrer falschen religiö24
Vgl. Lorry, Anne-Charles (1770): Von der Melancholie und den melancholischen Krankheiten. Zur Warnung der Leser im zeitgenössischen Rezeptionsdiskurs vor der Imitatio-Lektüre von Goethes „Werther“ siehe die Studie von Andree. Vgl. Andree (2006). Wenn Texte töten: über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt.
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sen Vorstellung zufolge – nach der vollbrachten Tat vor ihrer Hinrichtung zu bekehren, die Gnade zu erhalten und so schnell wie möglich das bessere Leben im Jenseits zu erreichen.25 Die Halleschen Irrenärzte Reil und Hoffbauer entwickeln in ihren gerichtlichen psychologischen Gutachten einen Zusammenhang zwischen Melancholie und Mord, wenn sie die Geschichte einer melancholischen Mutter erzählen, die – in Erwartung, dass sie die neunte Geburt nicht überleben werde – ihre Kinder tötet, damit diese nach ihrem Ableben nicht dem grausamen Schicksal dieser schlechten Welt überlassen werden.26 Die Referenz der zeitgenössischen Autoren auf den Zusammenhang zwischen Melancholie, Mord oder Selbstmord bringt eine Krankheit bzw. ein öffentliches Krankheitsbild mit kriminellen Handlungen in Verbindung, sodass der Eindruck entsteht, dass die Krankheit die Betroffenen zu Mördern machen könne. Dieses fürchterliche Schauerbild ist so sensationalistisch, dass es die zeitgenössischen Leser erschüttert und beeindruckt. Widerspruch Tissots Einschätzung, dass die Melancholie bzw. Hypochondrie eine Gelehrtenkrankheit sei, widerspricht Johann Ulrich Bilguer, Leibarzt des preußischen Königs. Ähnlich wie der französische Irrenarzt Pinel betrachtet er die Melancholie bzw. Hypochondrie als allgemeine Krankheit, die nicht nur die gelehrten Männer, sondern auch Frauen treffen könne.27 Dieser Disput und die widersprüchliche Darstellungsweise steigert die öffentliche Aufmerksamkeit. Der als praktischer Irrenarzt tätige Engländer George Man Burrows wendet sich gegen die sensationalistische Behauptung vieler westeuropäischer Gelehrter, dass Melancholie eine Krankheit vornehmlich der Engländer sei.28 Die Auffassung der Melancholie als ‚English Malady‘ assoziiert eine der fortschrittlichsten Nationen in Europa mit einem besonders hohen Krankheitsrisiko für geistige 25
26 27 28
Vgl. Frölich (1783): Geschichte des Inquisiten Daniel Völkners. In: Moritz (Hrsg.) Gnothi Seauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Herausgegeben von Nettelbeck (Hrsg.) (1986). 1. Bd. 2. St. S. 97-103. hier: S. 98. Vgl. dazu auch: Moritz (1783): Revision der ersten drei Bände dieses Magazins, in: Ders. (Hg.): Gnothi Seauton. 4. Bd. 1. St. S. 23ff Reil, Johann Christian & Johann Christian Hoffbauer (1812): Psychologisch-merkwürdiger Fall. In: Dies. (Hrsg.): Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege. 2. Bd. 4. St. S. 485-518. Bilguer (1767), S. 6 Vgl. Cheyne, George (1734): The English malady. 2nd ed. Siehe auch: Vgl. Bartholdy, Georg Wilhelm & Johann Friedrich Zöllner (Hrsg.) (1790): Melancholie der Engländer, deren Ursache. In: (Ders.) (1789-91): Wöchentliche Unterhaltungen über die Charakteristik der Menschheit. 3. Band, 1790, S. 346-412. hier: S. 378ff.
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Störungen. Burrows widerspricht dieser Behauptung mit dem Argument, dass die Melancholie ein Allgegenwartsübel in allen Ländern des zivilisierten Europas sei.29 In der Epoche der Aufklärung konkurrieren verschiedene Medizinkonzepte zur Ätiologie der Melancholie miteinander. Im 17. Jahrhundert wird die jahrhundertelang gültige humoralpathologische Erklärung der Melancholieursache durch die aufblühende anatomische Forschung erschüttert,30 was zu einem öffentlichen Streit führt. Nach wie vor gibt es im 18. Jahrhundert Ärzte, die eine säftepathologische Auffassung vertreten, darunter der niederländische Arzt Boerhaave. Mit der zunehmenden Popularität nervenphysiologischer Medizinkonzepte wächst jedoch die Zahl derjenigen, die wie die Ärzte Willis, Sydenham oder Platner die Melancholie bzw. Hypochondrie als Störung des Nervensystems, das mit dem Gehirn und den Organen vegetativ vernetzt sei (Sympathie), betrachten. Hinzu kommen Ärzte wie der Edinburgher Medizinprofessor Robert Whytt, der sowohl nervenphysiologische, organpathologische und humoralpathologische Erklärungen als Krankheitsursache in Betracht zieht und dementsprechend unterschiedliche therapeutische Anweisungen vorschlägt. Das Potpourri unterschiedlicher Medizinkonzepte zur Erklärung der Melancholieursachen wird ergänzt durch iatrotheologische und iatrochemische Krankheitsauffassungen. Ausgehend von dem Hallenser Psychomediziner Stahl, der die pathogene, aber auch die heilende Wirkung der Gemütsverfassung zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theorie macht,31 spielt der Einfluss der Leidenschaften, Affekte, Empfindungen und der Einbildungskraft eine starke Rolle bei der Krankheitsentstehung.32 Der Streit um die Ätiologie der Melancholie lässt aufklärerische Tendenzen erkennen, weil in der öffentlichen Diskussion verschiedene Krankheitsursachen und Therapien medial und rational kommuniziert werden. Gleichwohl wird sich der medizinische Laie angesichts der vielen sich widersprechenden Meinungen zum Krankheitsbild kein abschließendes Bild machen können, es sei denn, es werden ihm ‚Lektürehilfen‘ bereitgestellt. Selbstreferentialität Aufgeklärte Ärzte nehmen auf die widersprüchliche Darstellung der Ätiologie des Krankheitsbildes Bezug, wenn sie öffentlich über die Rahmenbedingungen 29 30 31 32
Burrows, George Man (1822): Untersuchungen über gewisse die Geisteszerrüttung betreffende Irrthümer. S. 24, S. 38ff Vgl. Kutzer, Michael: Anatomie des Wahnsinns. S. 100f, S. 105f Stahl, Georg Ernst (1695): Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper. Sudhoffs Klassiker der Medizin. Bd. 36. S. 24-37 Der Konflikt zwischen den Ärzten im Leib-Seele-Diskurs, die sich dem Mechanismus oder dem Psychodynamismus verpflichtet fühlen, muss an dieser Stelle ausgespart werden.
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der medialen zeitgenössischen Melancholiediskussion nachdenken. Zu dieser Publizistengruppe zählt der Herausgeber der erfolgreichsten deutschsprachigen populärmedizinischen Wochenschrift Der Arzt, Johann August Unzer.33 Er macht die Leserschaft auf die Charakteristik des öffentlichen Melancholie- und Hypochondriediskurses aufmerksam, in dem er ironisch bemerkt, dass er hoffe, seinen Lesern „die Hypochondrie nicht so verworren und unbegreiflich abgeschildert [zu] habe[n], als es in den Schriften der meisten Arzneigelehrten geschehen ist“.34 Unzer stellt fest, dass die zeitgenössischen Ärzte unter dem Krankheitsbild der Hypochondrie die facettenreichsten (auch melancholischen) Symptome und weitere Krankheitsbilder subsumieren, weil sie die eigentliche Ursache nicht kennen. Folglich würden die Ärzte für die Vielzahl an Symptomen eine Vielzahl an Ursachen erfinden, je nachdem, welches Medizinkonzept sie vertreten. Unzer propagiert eine unentschiedene, abwartende Haltung (Skeptizismus35) gegenüber allen medial kommunizierten Meinungen zu diesem Krankheitsbild.36 Der Gesundheitsdiskurs über die Ätiologie der Melancholie wird nicht durch einen Konsens unterbrochen, da die Experten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu keiner abschließenden Meinung gelangen. Während Unzer bei seinen selbstreferentiellen Überlegungen das Motiv des Widerspruchs als charakteristischen Moment des Hypochondriediskurses mit Hilfe bestimmter literarischer Strategien wie der Satire – sprich sensationalistischen Elementen – beschreibt, wird in der ersten psychologischen Zeitschrift vom Herausgeber Karl Philipp Moritz der Sensationalismus entlarvt, der den bei ihm eingereichten Fallgeschichten der (Laien-)Autoren zugrunde liegt.37 In der Revision der ersten Bände seines erfahrungsseelenkundlichen Magazins stellt Moritz fest, dass bislang hauptsächlich Geschichten zu Seelenkrankheiten, kaum aber Beiträge zur Rubrik der Seelenheilkunde und Seelenzeichenkunde eingegangen seien. Er vermutet folgende Ursache: „Es scheinet, als ob die Krankheiten der Seele schon an und für sich selbst, so wie alles Fürchterliche und Grauenvolle, am meisten die Aufmerksamkeit erregen, und sogar bei dem Schauder, den sie oft erwecken, ein gewisses geheimes Vergnügen
33 34 35 36 37
Reiber, Matthias (1999): Anatomie eines Bestsellers. Unzer, Johann August (1760): Beschreibung der Hypochondrie. In: Ders. (Hrsg.): Wochenzeitschrift Der Arzt. Bd.1. 2. Aufl. Hamburg. S. 385-398. hier: S. 393 Skeptizismus ist hier im heutigen Sinne gemeint. Im zeitgenöss. Diskurs der Frühen Neuzeit wurde darunter auch eine kritische Haltung gegenüber allen religiösen Glaubensformen verstanden. Bilger, Stefan (1990): Üble Verdauung und Unarten des Herzens. S. 73ff Das Magazin sammelt Fallgeschichten zum an sich selbst oder an anderen beobachteten abnormen Vorstellungen, Empfindungen und Handlungen, die von der bürgerlichen Öffentlichkeit an die Redaktion gesandt werden. Dieses Material wird in einem 2. Schritt von der Redaktion in ein theoretisches Gerüst der empirischen Psychologie eingebunden.
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Cornelia Bogen mit einfließen lassen, das in dem Wunsche, heftig erschüttert zu werden, seinen Grund hat.“38
Abbildung 3:
Moritz: Gnothi Seauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1786-96)
Moritz kritisiert, dass die Autoren der Fallgeschichten vor allem seelische Krankheiten in ihren schrecklichsten Dimensionen skizzieren würden. Er spricht damit die Sensationsgier der Autoren und Leser für alles Abweichende und Erschreckende an, die sich in der sensationalistischen Darstellung spiegelt. In erster Linie, so der Herausgeber, komme es dem Magazin und dem Seelenstudium aber darauf an, den Krankheiten abzuhelfen. Moritz kommt zu dem Schluss, dass der den Fallgeschichten zugrunde liegende Sensationalismus eine rationale Aufklärung verhindert. Deshalb soll in den nächsten Ausgaben nicht mehr nur die Wir38
Moritz (1786): Revision der drei ersten Bände dieses Magazins, In: Ders. (Hg.): Gnothi Seauton. Ausgabe Nettelbeck 1986. 4. Bd. 1. St. S. 7
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kung von Seelenkrankheiten im Mittelpunkt stehen, sondern es sollen vielmehr die Quellen und Ursachen dieser Wirkungen erforscht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, möchte er das empirische Material in theoretisch-psychologische Reflexionen einbinden, um den Ursachen des in den Fallgeschichten porträtierten Verhaltens eines Individuums nachzugehen. Medial ‚infiziert‘ mit der Vorstellung, dass alle möglichen Ursachen zur Melancholie führen und dass alle psychisch bedingten Verhaltensauffälligkeiten dem Begriff der Melancholie und des Wahnwitzes zugeordnet werden können, subsumiere – so Moritz – das schreibende Publikum alle Formen von seelischer Verirrung unter dem Melancholiebegriff.39 Diese Auffassung der Öffentlichkeit ist eine Folge der Widersprüchlichkeit des zeitgenössischen Melancholiediskurses, der einen ebenso bunten Katalog an verschiedenen Krankheitsursachen, -symptomen und -therapien aufbietet. Hier lässt sich exemplarisch die Wirkung der Widersprüchlichkeit des publizierten Wissens zur Melancholie auf das öffentliche Bewusstsein, das sich in den Artikeln der erfahrungsseelenkundlichen Magazine mitteilt, rekonstruieren. Dieser falschen Begriffsauffassung von Seelenkrankheiten der gesundheitsinteressierten Leser und Autoren möchte Moritz mit verschiedenen wissenschaftlichen Strategien entgegenwirken. Um die Gesundheitskommunikation im Magazin und damit die Gesundheitsaufklärung des Lesers zu optimieren, soll das Publikum Therapieerfolge und den Sozialisationsprozess Geisteskranker schildern und die diagnostische Zuordnung der in den Fallgeschichten porträtierten Verhaltensauffälligkeiten den Experten überlassen. An den eben aufgeführten Beispielen von Moritz und Unzer zeigt sich, dass der zeitgenössische Gesundheitsdiskurs sich so stark kritisch auf sich selbst bezieht, dass die Selbstreflexion dieser beiden Autoren zu einem anderen Gesundheitsdiskurs führt, der eher dem Aufklärungsprogramm der wissenschaftlichen Publizistik entspricht. Diese Überlegungen zum zeitgenössischen Gesundheitsdiskurs zur Melancholie zeigen, dass dieser nicht a priori rational und vernunftorientiert ist, sondern eine Richtung annimmt, die nur mit Hilfe seiner medialen Bedingtheit zu erklären ist.
39
Moritz, ebd., S. 8.
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Cornelia Bogen
Literatur Andree, Martin (2006): Wenn Texte töten: über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München: Fink. Auge, Oliver (2006). Die Natur verstehen und nutzen: Kräuterbücher und Enzyklopädien. In: Auge, Oliver & Maricarla Gadebusch Bondio (Hrsg.). Gesundheit im Buch: Gedruckte medizinhistorische Kostbarkeiten der Greifswalder Universitätsbibliothek (15.-18. Jh.). Greifswald: Universität Greifswald. S. 59-60 Bartholdy, Georg Wilhelm & Johann Friedrich Zöllner (Hrsg.) (1790): Melancholie der Engländer, deren Ursache, In: Ders. (1789-91): Wöchentliche Unterhaltungen über die Charakteristik der Menschheit. Als eine Fortsetzung der Wöchentlichen Unterhaltungen über die Erde und ihre Bewohner. Maurer: Berlin. Bd. 3. S. 346-412. Bernd, Adam (1739): Adam Bernds, Evangel. Pred. Eigene Lebens=Beschreibung.Samt einer Aufrichtigen Entdeckung, und deutlichen Beschreibung einer der größten, obwol großen Theils noch unbekannten Leibes= und Gemüts=Plage, (…). Leipzig: Johann Samuel Heinsius. Reprint: Volker Hoffmann (Hrsg.) (1973). München: Winkler Verlag. Die Fundgrube. Bilger, Stefan (1990): Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727-1799). Würzburg: Königshausen & Neumann. Bilguer, Johann Ulrich (1767): Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie: Oder Sammlung verschiedener, und nicht sowohl für die Ärzte als vielmehr für das ganze Publicum gehörige die Hypochondrie, ihre Ursachen und Folgen betreffenden medizinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, dass die Hypochondrie heutiges Tages eine fast allgemeine Krankheit ist. Kopenhagen: Rothe. Böning, Holger (1990): Medizinische Volksaufklärung und Öffentlichkeit. In: Frühwald, Wolfgang u. a. (Hrsg.) (1990): Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Tübingen. Bd. 15. H. 1. S. 1-92. Böning, Holger & Reinhart Siegert (1990): Volksaufklärung. Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Stuttgart. Bd. 1. Burrows, George Man (1822): Untersuchungen über gewisse die Geisteszerrüttung betreffende Irrthümer und ihre Einflüsse auf die physischen, moralischen und bürgerlichen Verhältnisse des Menschen. Uebersetzt von Heinroth. Leipzig: Weidmann Burton, Robert (1621): Die Anatomie der Schwermut. Über die Allgegenwart der Melancholie, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten. Übers. 2003. Folgt 6. Aufl. von 1651. Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag Cheyne, George (1734): The English malady or a treatise of nervous diseases of all kinds, as Spleen, Vapours, Lowness of Spirits, Hypochondriacal and Hysterical Distempers. 2nd ed. London: Straham. Fischer, Alfons (1933): Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Bd. 1. Reprografischer Nachdruck des Ausgabe Berlin. 1965. Hildesheim: Olms. Fischer-Homberger, Esther (1970): Hypochondrie. Melancholie bis Neurose: Krankheiten und Zustandsbilder. Bern, Stuttgart, Wien: Hans Huber.
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mit seltsamen und wunderlichen Gedanken geplagte Christen. Lüneburg: Sternische Druckerey. Schings, Hans-Jürgen (1977): Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler. Schott, Heinz (Hg.) (1998): Der sympathetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert. München: C.H.Beck. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper (1711): I. A letter concerning Enthusiasm. II. Sensus Communis, or an Essey on the Freedom of Wit And Humour. III. Soliloquy, or Advice to an Author, in: Characteristics. Vol. 1. London: Darby. Shorter, Edward (1999): Von der Seele in den Körper. Die kulturellen Ursprünge psychosomatischer Krankheiten. Orig. Ausg. 1994. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Stahl, Georg Ernst (1695): Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper. In: Johannes Steudel und Rudolph Zaunick, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina (Hrsg.) (1961): Sudhoffs Klassiker der Medizin. Bd. 36. Georg Ernst Stahl. Leipzig: Johann Ambrosius Barth. S. 24-37. Struve, Christian August (1796): Doktor Christian August Struve`s Noth- und Hülfsbüchlein. Stendal: o.A. Tissot, Simon André (1791): Belehrung an Gelehrte über deren Gesundheit, oder Von der Gesundheit der Gelehrten. In: Herrn S.N.D. Tissot sämtliche zur Arzneykunst gehörige Schriften nach den neuesten Originalausgaben. Übersetzg. Johann Christian Kerstens. Leipzig: Friedrich Gotthold Jacobaer. Bd. 2. Zwenter Theil, 3. Aufl. Unzer, Johann August (1760): Beschreibung der Hypochondrie. In: Ders.: Der Arzt. Eine Wochenschrift, Erster Theil. 2. Aufl., Hamburg: Grunds Witwe. 25. St. S. 385-398. Wimmer, Johannes (1991): Gesundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Wien, Köln: Böhlau Verlag
Abbildungen Abb. 1 Lonitzer, Adam (1609). Das Kreuterbuch, F.a.M. In: Hartmann, Katja (2006). Das Kreuterbuch des Adam Lonitzer. In: Auge, Oliver & Maricarla Gadebusch Bondio (Hrsg.). Gesundheit im Buch: Gedruckte medizinhistorische Kostbarkeiten der Greifswalder Universitätsbibliothek (15.-18. Jh.). Greifswald: Universität Greifswald. S. 69-73. S. 69 Abb. 2 Fotograf. Repr. Titelblatt: Burton, Robert (1651). The Anatomy of Melancholy. Oxford: Henry Cripps. 6th ed. (Erstausgabe 1621) URL: 26.05.2009 Abb. 3 Titelblatt: Moritz, Karl Philipp (1783) (Hrsg.). Gnothi Seauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Bd. 1. „Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum, Universitätsbibliothek Bielefeld. URL: 06.01.2009
Sinn und Form – „personality“ … „private homepage“ … „under construction“. Überlegungen zu kommunikativen Selbstdarstellungen im Internet Reinhold Viehoff
1.
Schon (verlorene) Geschichte? – die private Homepage im Internet
Der Android Roy aus der „Nexus“-Baureihe, der den endgültigen Verlust seiner digital gespeicherten Erinnerungen bei seinem nahen Ende betrauert, kauert sich schließlich wie der Denker von Rodin hin und stirbt stumm im Regen. Sein Wissen ist verloren. Seine Adresse gibt es nicht mehr. Im Film „Blade Runner“ wird so mit dramatischer Hollywood-Geste (vgl. Sierek 1993b) inszeniert, was gegenwärtig immer noch Alltag in der Internet-Kommunikation ist: „Error 404“. „Error 404“ zeigt jedem Internet-Nutzer, dass das Internet zwar so etwas wie ein ‚Speicher des Weltwissens‘ ist, aber ein Speicherbehältnis mit vielen Löchern, aus denen täglich Informationen immer wieder abfließen, verschwinden, nicht mehr greifbar sind. Die Adresse ist nicht mehr vorhanden, die URL wurde verschoben oder – man weiß es nicht. Unter diesen und anderen Merkwürdigkeiten des Internets ist eine Kommunikationsform, die hier im Folgenden näher diskutiert werden soll. Es handelt sich um eine Form, die irgendwo zwischen der traditionell eher privaten, meist in Face-to-Face-Situationen praktizierten Form der Kontaktaufnahme, dem Familienfotoalbum, dem sehr privaten Tagebuch und eher professionellen, öffentlichen Formen der Initiativbewerbung und der Selbstpräsentation angesiedelt ist. Angesprochen sind die sogenannten „privaten Homepages“. Unter dem Stichwort „private Homepage“ listet im Januar 2001 die Suchmaschine Lycos 144.616 deutsche Internetseiten auf, Yahoo! 655.900 Einträge beim Webindex, und Allesklar 9.992 private Homepages. Bei anderen Suchmaschinen findet man mehrere 100.000 Treffer, besonders dann, wenn damit eine Volltextsuche nach dem Begriff „private Homepage“ verbunden ist und der Autor einer Seite erlaubt, dass die Suchmaschine die Texte durchsuchen darf. Eine genaue Zahl privater Homepages im deutschsprachigen Raum lässt sich schwer
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präzisieren. Ihre Zahl dürfte um 2001 zwischen 10.000 (untere Grenze) und 200.000 (obere Grenze) gelegen haben. Zehn Jahre später sieht das Feld solcher Kommunikationsformen völlig anders aus. Inzwischen haben sogenannte soziale Netzwerke viele Funktionen übernommen, die in der ‚Probierphase‘ des Netzes den privaten Homepages zugeordnet waren; prominentes Beispiel ist etwa die Verlinkung mit ‚Freunden‘. Dennoch gibt es weiterhin sehr viele private Homepages. 2009 listet Lycos immerhin noch 190.000 deutschsprachige Internetseiten auf, Yahoo! sogar 3.920.000 entsprechende Webseiten und Allesklar unter der Rubrik „Menschen & Gruppen: Persönliche Homepages“ 203.179 Einträge. Wenn man diesen Einträgen Glauben schenkt, dann sind private Homepages also in den letzten zehn Jahren ein relativ stabiles, sogar eher ausgeweitetes Kommunikationsformat im Internet (vgl. dazu auch Döring 2002; Machilek 2008). Das macht neugierig. Warum machen sich so viele Leute die Mühe, eine private Homepage ins Netz zu stellen? Warum sitzen offenbar tausende von Menschen in ihrer freien Zeit am PC, scannen private Bilder ein, modellieren mit Homepage-Programmen, basteln so gut sie es können mit Farben und Formen, formulieren Lebensläufe, berichten über ihr Familienleben, setzen ihre lyrischen oder epischen Versuche den Blicken der Netzöffentlichkeit aus, oder schreiben im Rahmen ihrer privaten Homepage sogar öffentlich ein intimes privates Tagebuch? Und wie machen sie das? Welchen Sinn hat das, und welche Form? 2.
Das World Wide Web als Handlungsrahmen für „private“ Kommunikationen
Die Selbstdarstellungen im World Wide Web sind zweifellos deshalb ein besonders interessanter Beobachtungsbereich für die Medienkulturwissenschaften, weil – wie Rheingold, Turkle, Stone und andere von Beginn an nicht müde wurden zu betonen – die Formen des Gebrauchs von Kommunikation, die kommunikativen Praxen, durch das Internet in allen Bereichen verändert werden (vgl. etwa Turkle 1995: 9ff.). Das stimmt, auch wenn man nicht alle Konsequenzen eintreten sieht, die behauptet wurden1. Man kann aber mit relativ breiter Zustimmung rechnen, wenn man feststellt, dass der digitale Modus im World Wide Web für seine Nutzer einen neuen Handlungsrahmen für Kommunikation modelliert. Neben der nicht zu unterschätzenden Rahmenbedingung, dass alles Handeln im Internet prozessuales2 kommunikatives Handeln ist, wird dieser Hand-
1 2
Das gilt besonders für die frühen Spekulationen über die „Auflösung“ der personalen und sozialen Identität in der Internetkommunikation, vgl. Wynn/Katz 1997. Prozessual im grundsätzlich sozialkonstruktiven Verständnis von Siegfried J. Schmidt (2009).
Sinn und Form – „personality“ … „private homepage“
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lungsrahmen bestimmt durch eine zunehmende, in die Paradoxien der Moderne eingebundene3
Interaktionszeit (der einzelne verbringt immer mehr persönliche Handlungszeit mit der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Kommunikationsakten im Internet), Interaktionsdichte (der einzelne kommuniziert in immer weniger Zeit mit immer mehr anderen, die das gleiche tun), Interaktionsrichtung (der einzelne kommuniziert immer häufiger in unterschiedlichen Kommunikationsräumen mit unterschiedlichen Partnern und unterschiedlichen Intentionen), Interaktionsrealität (der einzelne kommuniziert immer häufiger im Modus von Referentialisierungen, die in der Kommunikationssituation weder von ihm noch von seinen Kommunikationspartnern zu überprüfen sind) und Interaktionstechnikfrequenz (der einzelne kommuniziert immer häufiger und immer technischer mit Hilfe unterschiedlicher Medien)4.
Internetkommunikation ist in diesem Rahmen für die hier in den Blick genommene Thematik der privaten Homepage in besonderer Weise paradox. Diese Paradoxie bezieht sich auf die Verschränkung von Funktionen, die bisher Massenkommunikation und personale Kommunikation unterschieden haben. Sie drückt sich schon im Begriff home-page aus. „Homepage“ ist ein Mix aus zwei unterschiedlichen Bildbereichen: home als Bezug auf das Heim, die Wohnung, den abgeschlossenen Raum des eigenen personalen Lebens; page als Bezug auf das allen zugängliche Universum der gedruckten Medien – Bücher, Zeitungen, Zeitschriften – und damit auf die Welt jenseits und außerhalb des Heims, des home. Home steht für personale Kommunikation im ganz direkten Sinne: für die Integration impliziter und expliziter Botschaften, für vielfältige – nicht nur verbale – Ausdrucksmöglichkeiten, für Identitäts- und Persönlichkeitsbildung, für Inhalts- und Beziehungsaspekte von Kommunikation, für soziale Bindung und Sicherheit und 3 4
Siehe zu solchen Paradoxien der Moderne: Münch 1986. Für die Fragen der personalen Identität im Kontext solcher Paradoxien vergleiche zum Beispiel: Beck 1986: 211ff. Fassler spricht in diesem Zusammenhang vom „persönlichen Universum“, das nach Kommunikationstendenz und -frequenz an die Stelle herkömmlicher öffentlicher Universen der Kommunikation tritt. Es wird getragen durch „die allgemeine Kulturform des Individual Computing – segeln in der Fülle von Software-Angeboten, ergänzt durch Netzwerkkompetenz“ (Fassler 1994: 265)
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für Intimität und emotionale Offenheit.
Dagegen steht page für Massenkommunikation mit den typischen kommunikativen Funktionen und Merkmalen von Unpersönlichkeit, Einseitigkeit, abstrakten Selektionskriterien, identischen Informationen für alle, Etablierung einer gemeinsamen Referenz durch universell akzeptierte Themen und Teilhabe an einer von persönlichen Entscheidungen unabhängigen ‚objektiven‘ Welt. Die private Homepage als Modus der Internetkommunikation ist so etwas – eben paradoxes – wie „interpersonale Massenkommunikation“5. Sie enthält Elemente der Massenkommunikation wie der interpersonalen Kommunikation. Genau daraus folgen zahlreiche Probleme der gegenwärtigen Handhabung und Nutzung der Internetkommunikation mit privaten Homepages. Für die Homepage bedeuten diese Probleme vor allem, dass Homepage-Autoren (Kreatoren) und Homepage-Rezipienten sich funktional auf eine personale Beziehung einlassen, die in wesentlichen Punkten strukturell nicht-personal, sondern massenkommunikativ im traditionellen Sinne ist. Kreatoren konstruieren zum Beispiel ein privates Image ihrer personality mit kommunikativen Mitteln sowie nach Konventionen einer direkten und persönlichen Ansprache, die – bisher jedenfalls – so nicht für ein anonymes Publikum vorgesehen sind. Dies geschieht etwa im Stil eines privaten, intimen und mit den emotionalen Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse beladenen Fotoalbums. Durch Privatsphäre geschützte, möglicherweise peinliche Fotos von Prominenten einfach zu veröffentlichen, kann bekanntlich sehr teuer werden, weil sie in diesem Rahmen nicht gerne von einem Millionenpublikum wahrgenommen werden wollen. Tausende von privaten Homepage-Bastlern wollen, dass sie selbst gerade so – nämlich sehr privat – betrachtet werden. Der sozial sensible Kreator der Homepage muss deshalb beispielsweise beachten, dass die Inszenierung des Privaten leicht in Formen des sozial negativ bewerteten Exhibitionismus abgleiten kann, weil er z. B. die Rezeptionssituation – anders 5
Dieses Problem ist schon früh für Kommunikationen im Netz insgesamt gesehen worden. Höflich bildete zu seiner Beschreibung ein ähnliches Begriffspaar – interaktive oder partizipative Massenkommunikation (vgl. Höflich 1994), dagegen schlugen Rafaeli und LaRose den Begriff der kollaborativen Massenkommunikation vor (vgl. Rafaeli/LaRose 1993), andere anderes. Gemeinsam war allen aber die Beobachtung dieses – paradoxen – Auseinanderfallens traditioneller Individual- und Massenkommunikationsmuster (vgl. Rössler 1998b: 19ff.).
Sinn und Form – „personality“ … „private homepage“
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als in personaler Kommunikation – nicht direkt einschätzen, regulieren und kontrollieren kann. Die häufig zu beobachtende Reaktion auf diese riskante Kommunikationssituation ist eine ironisch geprägte Selbstdarstellung. Paradoxerweise bildet die Kommunikationssituation für den individuellen Akteur im Internet eine dominant einsame Angelegenheit. In dieser vereinzelten Handlungssituation – so ist anzunehmen – lassen sich seine Handlungs-Entscheidungen im Sinne eines Abwägens von Alternativen modellieren, als decision making. Dabei zeigt sich – neben der primären Motivation der Selbstdarstellung als Privatperson – als bedeutendste intervenierende Variable, dass jeder und jede, der/die das Internet mit einer privaten Homepage bestückt, weiß, dass es schon zehntausende andere Homepages im Netz gibt. Jeder, der eine private Homepage ins Netz stellt, weiß also, dass er unter dem Konkurrenzdruck eines massenhaften Angebotes von ähnlichen Kommunikationen im Netz steht. Das setzt jeden Kreator einem starken Reflexions- und Entscheidungsdruck aus. Er muss sehr unterschiedliche Kommunikationssituationen ausbalancieren. Da niemand die Konkurrenz anderer ähnlicher Selbstpräsentationen tatsächlich wahrnehmen und berücksichtigen kann, ist die sozialpsychologisch wahrscheinlichste Lösung, dass die unendlich vielen anderen privaten Homepages ignoriert werden. Das bedeutet dann aber zugleich, dass jeder Kreator einer privaten Homepage generell von rein zufälligen Besuchern seiner Homepage ausgehen muss. Dann ist es zwingend, dass er Strategien entwickelt, diesen zufälligen, interesselosen Besucher für seine Homepage zu interessieren. Bei dieser Motivations- und Handlungslage muss er also nichts anderes zuvorderst betreiben als Aufmerksamkeitsmanagement. Das World Wide Web befördert deshalb ein Kommunikationsverhalten, das die formal-ästhetische Präsentation der Kommunikation betont; denn nur so kann die entsprechende Aufmerksamkeit auf das Angebot gelenkt werden. Dass die Kreatoren dabei sehr unterschiedliche ästhetische und gestalterische Auffassungen davon haben, was wessen Aufmerksamkeit wie bindet, ob eine wilde ‚Flish-Flash-Flush‘ animierte Seite oder eher ein kühles, klares Design, macht auch darauf aufmerksam, dass hier noch wenig stabile Konventionen entwickelt worden sind. Der Kreator kann sich aber auch entschließen, die Vielzahl konkurrierender privater Homepages dadurch auszublenden, dass er seine Seite sozial und psychisch einbettet in einen wohl definierten Kreis von Freunden und Bekannten als den eigentlichen Adressaten. Dies führt zu Kommunikationsstilen, die durch Verlinkung mit den Homepages anderer Bekannter und Freunde die Fiktion einer sozialen Insel im Netz zu etablieren versuchen, auf der sich jeder kennt. Hier liegt vermutlich auch die Ursprungsidee der meisten gegenwärtig prominenten sozialen Netzwerke.
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Eine andere, gerade bei privaten Homepages anzunehmende, wichtige Entscheidungsbedingung6 soll auch noch angeführt werden: Internetkommunikation ist gerade bei Angeboten im Netz, die nicht auf professionelles Interesse stoßen, für die es also kein klares zielorientiertes Publikum und keine klare informierende Botschaft gibt, tendenziell immer unterhaltsame Kommunikation (Entertainment). Unter den für das Internet schon mehrfach beschriebenen Kommunikationsstilen des Infotainment (unterhaltsame Kommunikation mit Schwerpunkt auf Information), des Edutainment (unterhaltsame Kommunikation mit Schwerpunkt auf Wissenserwerb) und Adutainment (unterhaltsame Kommunikation mit Schwerpunkt auf Werbung für Produkte) scheint es mir deshalb sinnvoll zu sein, als vierte Kategorie das Egotainment vorzusehen. Damit sind die besonders in Homepages zu beobachtenden Mischungen von dokumentierenden, informierenden und unterhaltenden Kommunikationsstilen gemeint, die durch die unterhaltende Präsentation (der Privatheit) einer personalen Identität fokussiert sind. 3.
Literar-ästhetische Traditionen in der post-traditionalen Internetkommunikation7
Es gibt also verschiedene Regulationsoptionen für den Homepage-Kreator, durch die er versuchen kann, den Kommunikationsraum durch soziale Kontexte zu strukturieren und in seiner Komplexität zu reduzieren, also ‚Sinn zu machen‘. Daneben gibt es aber vor allem auch solche Optionen, die eine ästhetische Gestaltung der Homepage bestimmen, also ‚Form zu machen‘. Für Textgestaltungen, die im World Wide Web noch dominant vor Bildgestaltungen vertreten sind, ist deshalb zu erwarten, dass in erster Linie eine im weiten Sinne literarische, rhetorische Ästhetik gewählt wird. Dadurch kann einerseits gezielt Aufmerksamkeit erregt werden, zugleich aber auch kommunikativer Anschluss an das Wissen anderer ermöglicht werden. Literarische Formen etwa für expressiven Selbstausdruck oder für die exemplarische Hervorhebung und Sinnstiftung von personaler und sozialer Identität sind Ausdrucksformen, die in der Gutenberg-Ära zu traditionsreichen Stilen und Genres geworden sind. Sie haben deshalb eine hohe – durch literar-ästhetische Sozialisation stabil vermittelte – gesellschaftliche Verbreitung gefunden und stehen vermutlich gerade den dominierenden Gruppen der 6
7
Jedenfalls gilt dies bis jetzt noch, auch wenn seit einiger Zeit die Diskussion darüber verstärkt geführt wird, ob es eigentlich nicht sozial gefährlich sei, so viele private Details einer – womöglich auch feindlich gesinnten – Öffentlichkeit offen anzubieten. Siehe dazu den sehr instruktiven Artikel „The Reinvention of Privacy“ von Toby Lester (2001). Ich nehme hier – nicht nur spielerisch – einen Begriff von Antony Giddens auf, vgl. Giddens 1993.
Sinn und Form – „personality“ … „private homepage“
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Internet-Nutzer zur Verfügung, die eine private Homepage bauen. Basale Merkmale solcher literarischer Aufmerksamkeitsstrategien sind traditionell – und auch post-traditionell im Internet:
uneigentliche Sprechweisen, Ironie oder Metaphorik, komplexe Präsentation mit Zeitsprüngen und Rückblenden, Originalität und Innovation, Dramaturgie der Orte und Handlungen, Identifikationsangebote, Fiktionalisierung, Offenheit für Interpretationen sowie Hervorhebung bestimmter Themenkonstellationen („Liebe - Hass“, „Leben - Tod“, „Glück - Unglück“, „Zufall - Schicksal“, usw.).
Wenn man diese Annahmen macht, ist es plausibel anzunehmen, dass sich Formen der strukturellen Kopplung von Produktion und Rezeption, für die in der Buchkultur starke Genre-Traditionen entwickelt wurden, in der digitalen Kultur des World Wide Web modifiziert fortsetzen. Es ist anzunehmen, dass solche Traditionen revitalisiert werden. Dies gilt besonders dann, wenn das „neue Medium“ des World Wide Web insgesamt „günstige Bedingungen“ für eine solche Revitalisierung bereit stellt, wie sein Mythos behauptet. Unter anderem wird als eine sehr günstige Bedingung der Internetkommunikation für die Modifizierung im weitesten Sinne literar-ästhetischer Ausdrucksformen angenommen, dass das World Wide Web tendenziell alle – in der Gutenberg-Ära institutionell getrennten – Handlungsrollen der Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung den Kreatoren in einem Interaktionsmodus verfügbar und ausgestaltbar macht.8 Mit der Übernahme literarischer Traditionen und ihrer Modifizierung für den Gebrauch in der Internet-Selbstdarstellung sind Konsequenzen verbunden. Eine Folge dieser Entwicklung ist generell, dass Kommunikation im World Wide Web verstärkt unter der Differenz fact versus fiction beobachtet wird. Dies gilt auch für private Homepages im Modus des Egotainment. Für die Nutzer von digitalen Medienprodukten, seien es nun die Kreatoren oder die Besucher, wird es deshalb von Beginn an wichtig, diese Differenz anhand von kommunikativen Konventionen einordnen und sicher handhaben zu können. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil bekanntlich die Internetkommunikation durch die dispositiven Bedingungen des Interface viele traditionellen Referentialisierungen und Zurechnungen außer Kraft setzt, die ansonsten einen Sprecher moralisch und faktisch legitimieren. Sie lässt erst durch den Rückgriff auf Konventionen einen 8
Vgl. dazu insgesamt die herausragende Studie von Florian Hartling (2009).
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stabilen und sicheren Rahmen für personale Verständigungen im Internet zu. Ein Bezug auf Standards, die die Differenz literarisch/nicht-literarisch bearbeiten, scheint unter diesen Bedingungen sozial besonders sinnvoll zu sein, weil solche Konventionen (Lebenslauf, Autobiografie, Alltagserzählung, Bericht, Dokumentation etc.) einen gemeinsamen traditionalen Bezugspunkt innerhalb kohärenter Kommunikationsgruppen darstellen bzw. eine kommunikative Kohärenz für Gruppen auch in der Internetkommunikation etablieren können. 4.
Selbstdarstellungen: Traditionen in der post-traditionalen Internetkommunikation
Internet-Kommunikation auf der privaten Homepage als Kommunikation über sich selbst als Person schließt einen Bezug auf die sozial relevanten Rollen und Statusgesichtspunkte mit ein. Wie weit auch immer der Bogen gespannt wird bei den Beziehungen, die in die Homepage aufgenommen werden, gilt es immer, dass alle Beziehungen als bewusst vom Autor ausgewählte Bezüge zu gelten haben. Meist werden sie auch so präsentiert und zu einer erkennbaren Identität des Kreators integriert. Wie in einem literar-ästhetischen Text der klassischen Literatur ist deshalb nichts an einer privaten Homepage bedeutungslos: kultürlich hat selbst all das Bedeutung, was nicht gesagt wird. Dies gilt, weil die gesamte Homepage in ihrem Design, ihrer Gestaltungstiefe und -breite, ihren Inhalten und ihren Bezügen auf andere ein Moment einer kommunikativen Identitätsprofilierung des-/derjenigen ist, der/die als soziale Person durch diese Homepage bezeugt wird. Sie wird allerdings vor unbekanntem Publikum inszeniert, was wiederum weder im literarischen noch im sonstigen Leben etwas wirklich Neues ist. Diese quasi literar-ästhetische Struktur des elektronischen Textes einer privaten Homepage kann man deshalb auf der Handlungsebene analog der Goffmannschen, am Theatralischen orientierten Selbstdarstellungstheorie, rekonstruieren. „Creating a personal home page can be seen as building a virtual identity insofar as it flags topics, stances and people regarded by the author as significant (as well as what may sometimes either be ‚notable by its absence‘ or ‚go without saying‘“ (Chandler 1998). In einer Welt elektronischer Kommunikation muss, so ist oben argumentiert worden, Relevanz durch Aufmerksamkeitssteuerung geregelt werden. Ähnliche Regelungen sind für andere zentrale Konzepte notwendig. In einer kommunikativen Welt elektronischer Texte können auch digitale Bilder, wie z. B. Fotografien, keine Authentizität oder Faktizität an sich sichern, sondern gelten nur als Ensemble einer spezifischen kommunikativen Inszenierung von Personalität. Deshalb ist es für die Internet-Nutzer notwendig, spezifische Faktizitäts-Signale
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beziehungsweise Signale für die Überschreitung der Differenz fact/fiction in ihre Homepage einzubauen, wenn sie als identifizierbare Subjekte, als Kreatoren mit einer eigenen sozialen, kommunikativen und personalen Identität betrachtet werden wollen. Dies geschieht typischerweise: durch Thematisierung der Differenz fact/fiction, indem traditionell nichtfiktionale Textgenres wie Lebenslauf, Bericht, Dokumentation, Stammbuch etc. übernommen werden oder Überschreitungen in Richtung auf Genres einer fiktionalen Narrativik entsprechend konnotiert werden (durch Benennung als „Kurzgeschichte“, „eigenes Gedicht“ u. ä.). durch Thematisierung der Differenz Autor/Erzähler, indem auf die ‚hinter der Homepage‘ stehende soziale Person als Kreator durch Angabe einer funktionsfähigen E-Mail-Adresse verwiesen wird. Indem diese Differenz eröffnet wird, wird soziale Aufmerksamkeit darauf gelenkt und eine soziale Beziehung über den kommunikativen Rahmen hinaus möglich. durch Hinweis auf die Offenheit der Homepage, ihre Unabgeschlossenheit und die Möglichkeit ihrer Interpretation, in der Regel aufgerufen durch die Differenz „last updated / under construction“, was zugleich auf das Interesse des Kreators verweist, seine Homepage andauernd zu verbessern und an seiner Identität zu arbeiten. durch Thematisierung eines sozial-psychischen Erwartungshorizontes für den Rezipienten, indem Referenzen auf eine gemeinsam geteilte soziale Welt der Internet-Kommunikation präsentiert werden. Dadurch wird die Differenz angemessenes/unangemessenes Verstehen aufgerufen, und es können Missverständnisse sowie ‚Kommunikationskatastrophen‘ vermieden werden. Die soziale Identität des Kreators wird durch die Beziehung zu signifikanten Gruppen erkennbar. durch Etablierung einer Art story grammar für die Homepage mit den handlungsorientierenden Elementen: Einleitung und Willkommensgruß, Lebenslauf als Introitus, Inszenierung von personality, soziale Beziehungen im nahen Lebensraum, kommunikative Beziehungen im Netz, Abschied und Eintrag ins Gästebuch. durch ausdrückliche und thematisierte Reflexion der kommunikativen Bedingungen des World Wide Web für die Inszenierung einer privaten Homepage und für deren Rezeption, wodurch kommunikative Kompetenzen einander angeglichen werden. Das gilt sowohl für technische Hinweise, etwa für die Optimierung der Bildschirmeinstellungen, das gilt aber auch für soziale Hinweise, etwas: ‚hier findest du – fremder Besucher – nichts von mir, was dich nichts angeht‘.
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durch Referentialisierung und Thematisierung einer gemeinsam geteilten Realität außerhalb der Virtualität der Internet-Kommunikation, wodurch erst Überschreitungen in Richtung fiction möglich und dem Besucher nachvollziehbar werden.
5.
Konventionen und Orientierungen
Internetkommunikation im hier verstandenen Sinne ist noch sehr jung. Sie wird in nennenswertem Umfang in der Bundesrepublik Deutschland erst seit knapp zwanzig Jahren praktiziert. Das bedeutet, dass gegenwärtig noch eine erhebliche Unsicherheit darüber besteht, wie bestimmte Formen der Aufmerksamkeitserregung zu verstehen sind und wie ihr üblicher Gebrauch ist. In solchen Situationen von Umbrüchen des Mediengebrauchs ist es in der Regel so, dass schon etablierte Formen der Verständigung den neuen Medienbedingungen angepasst werden. Dabei entstehen auch neue Funktionsweisen von Kommunikation. So ist die Internetkommunikation über private Homepages in der Regel mit persönlichen Anspracheritualen verbunden, obgleich die Rezipienten dem Autor und Erzähler unbekannt sind. So werden – anonyme – Besucher einer privaten Homepage vom Erzähler integriert, als ob sie persönlich bekannte Akteure des HomepageKreators seien. Hier werden ganz offensichtlich Konzepte wie das vom impliziten Leser aus der literarischen Kultur übernommen und modifiziert. Damit eine Homepage als ‚private‘ bewertet werden kann, muss eine erkennbare und explizite Handlungsmotivation des Autors aus seinen Äußerungen rekonstruierbar sein, ein leitendes privates Interesse, das ihn zum Bau der Homepage getrieben hat. Gleichwohl sind diese Grundorientierungen so unterschiedlich, dass es heuristisch sinnvoll erscheint, sie abschließend nach mindestens vier thematischen Dimensionen typisierend zu gliedern. Die Dimensionen sind:
der Bezug auf das Ich, die eigene Person, Identität zur Etablierung eines personal image. Dies geschieht z. B. durch private Fotos, Hinweise auf die Biografie, den Lebenslauf, die aktuelle Lebenssituation, HypermediaKonstruktionen durch ausschnitthafte Einblendung von Lieblingsmusik oder Lieblingsfilmen, usw. der Bezug auf die nahe soziale Gruppe, besonders die Familie, Freunde, peers, zur Etablierung eines social image. Dies geschieht z. B. durch Einbettung der eigenen Lebensgeschichte in die der Familie, durch Präsentation von Familienfotos, durch „Home“ oder „Heimat“, durch Integration anderer
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‚naher‘ personalities, durch soziale interne Links auf Freunde, Vereine, Hobbies. der Bezug auf die kommunikativen Bedingungen dieser Inszenierungen zur Etablierung eines communicative image. Dies geschieht z. B. durch Reflexion auf die Mühen beim Erstellen einer Homepage, durch Hinweise auf Vorläufigkeit (under construction), durch Ausprobieren der Möglichkeiten von tools für die Konstruktion von Homepages, durch Distanzierungen von den Paradoxien der Situation. Dabei spielen besonders die Differenzen: „Privatheit - Öffentlichkeit“, „Bekanntheit - Anonymität“, „Kohärenz - Bricolage“ sowie „Vollständigkeit - Unvollständigkeit“ eine Rolle. der Bezug auf die Handlungsbedingungen im World Wide Web zur Etablierung eines internet image. Dies geschieht durch Referenz auf die Zufälligkeiten der Begegnung auf einer Homepage; durch explizite Bewertung verschiedener tools für den Bau von Homepages, die bei der Bewältigung der Internetkommunikation helfen sollen; durch zahlreiche externe Links, die auf Sachverhalte und Probleme des Internets Bezug nehmen; durch Präsentation von technischem Wissen über das Internet; durch Handhabung und Erklärung schwieriger Programmierungen.
Es scheint so, dass gegenwärtig nur wenige Kreatoren in der Lage und Willens sind, all diese thematischen Dimensionen kompetent und komplex darzustellen. Je mehr Kompetenzen Kreatoren bei der Präsentation ihrer Identität ins Spiel bringen können, umso komplexer wird die jeweilige private Homepage in ihrer gesamten und in ihrer je ‚letzten‘ Präsentation. Wenn man nun akteurstheoretisch plausibel zu rekonstruierende Korrespondenzen zwischen den oben beschriebenen zugrundeliegenden Interessen, der Komplexität einer Seite und den Kompetenzen der Autoren systematisiert, ergeben sich zwei zentrale Unterscheidungen. Zu unterscheiden wären dann mindestens:
kognitiv-ästhetische Kompetenz: darin drückt sich das Wissen über die eigene personality, die eigene Identität und ihre soziale Bedingtheit aus, ebenso der Einblick in die Genres, in denen sich dieses Wissen konventionsgemäß ausdrückt oder ausdrücken lässt. Dieses Wissen ist Voraussetzung der Möglichkeit, solche Merkmale der eigenen Identität als relevante Merkmale zu präsentieren und in passenden Genres miteinander zu verbinden, z. B. durch Reproduktion oder Erweiterung von Lebenslauf, Fotoalbum, Familienstammbuch, Psychogramm, Steckbrief, Entwicklungsgeschichte, Charakteristik, Reisebericht usw. kommunikativ-ästhetische Kompetenz: darin drückt sich die Fähigkeit aus, diese kommunikative Intention medienadäquat, also multimedial, auszudrü-
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cken und zu gestalten. Dies geschieht z. B. durch Einbindung von animierten Grafiken, Audiodateien, Screenshots und Videosequenzen. Dazu gehört allerdings auch eine Reflexion auf die Dynamik und Zufälligkeit der Netzkommunikation, denn vor allem diese Reflexion führt zu einem Imagemanagement auf der Homepage, das durch Ästhetisierung und Innovation Aufmerksamkeit zu lenken versucht. 6.
Die Zukunft als Geschichte: Verschwindet die private Homepage?
Ausgangspunkt des Artikels war die Frage nach Motivation, Situation und Handlung, also: warum sich jemand unter den Bedingungen der Internetkommunikation die Mühe macht, sich selbst als private Person öffentlich zu präsentieren und welche Mittel er dazu einsetzt. Danach wurden einige Bedingungen für Kommunikation im Internet skizziert, und insgesamt abgeleitet, dass private Homepages im Modus des Egotainment verschiedene Kommunikationsstile verbinden, um eine Selbstdarstellung zu inszenieren. Diese Kommunikationsstile nehmen Gestaltungstraditionen auf, die in ästhetischen Genres vorgängiger Kommunikationsverhältnisse entwickelt worden sind. Dazu ist vorgeschlagen worden, diese Gestaltungsmodalitäten privater Homepages nach vier kommunikativen Dimensionen der Selbstdarstellung zu unterscheiden, in denen sich je unterschiedliche Konstellationen von Sinn und Form ausmachen lassen. Abschließend sind die Gestaltungsvoraussetzungen und -kompetenzen typisiert worden, die der Kreator einer privaten Homepage dazu braucht. Solche Selbstdarstellungen im Internet werden von einigen Autoren spekulativ damit verbunden, dass sich darin ein starker sozialer Wandel verbinde, der Individualität und Identität betrifft. Diese Spekulation über Internet und Identität ist facettenreich, sie sei hier mit dem Zitat einer frühen Wortführerin dennoch kurz aufgerufen. Sherry Turkle bemerkte mit Blick auf die neuen Dimensionen des Internet: „We are moving from modernist calculation to postmodernist simulation, where the self is a multiple, distributed system“ (Turkle 1995: 148). Eine solche Position ist explizit mit der Erwartung verbunden, dass sich der gesellschaftliche Wandel und die Funktionalität des Netzes zu einem evolutionären Schub verbinden, der zu einer neuen Art von Leben, von Leben in der Virtualität oder gar eines virtual life führt (wie es sich ja in den letzten Jahren auch durch Modelle wie „Second Life“ entwickelt hat). Mit diesem Argument sind im Kontext solcher meist kulturoptimistischer Szenarien Beschreibungen verbunden, in denen das in der Moderne hervorgebrachte bürgerliche Subjekt, oder seine soziologische Façon – der rational handelnde, selbstreflexive Akteur – als ‚gefangen‘ in einer zwanghaften, einfältig einfachen Realität und dauerhaften personalen Identität erscheinen. Das postmodern fragmentierte Subjekt der Inter-
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netkommunikation dagegen flottiert frei zwischen den Zeiten und Orten seiner Erscheinung. Es hat sich in der Performanz multipler Identitäten des Netzes von den früheren sozialen und biologischen Zwängen einer situationsüberdauernden Identität gelöst, kann so jenseits alteuropäischer Verbindlichkeiten und Verantwortlichkeiten ohne identifizierbaren Namen – anonym – seine (sozial entfesselten) Wünsche frei und unbeschwert verwirklichen. Wenn man auf die jährlich anwachsende Zahl von all den gebeugten, durch Schreib-Arbeit an der Tastatur und der Maus vor dem Bildschirm ruinierten Wirbelsäulen, Bandscheiben und Schultergelenke schaut, könnte man solche Körperbefreiungsphantasien ironisch auch als Wunschvorstellungen der Rückenproblemgruppe abtun. Besser ist es aber, den mit der Internetkommunikation postulierten Wandel der personalen und sozialen Identität zumindest mit zwei Argumenten zurückzuweisen. Das eine Argument wäre, dass es falsch ist anzunehmen, durch Netzkommunikation könnten bisherige Regelhaftigkeiten, etwa die der Situation überdauernden und selbstbeschreibenden Identität von Körper und Geist, aufgelöst werden, weil jetzt die multiplen Identitätsspiele in der performativen Welt des Internets das erlaubten. Mit fast peinigender Genauigkeit und Nachhaltigkeit wird in der Ethnomethodologie, der Sozialpsychologie, dem symbolischen Interaktionismus und der Handlungstheorie sowie der soziologischen Kulturkritik argumentiert, dass die soziale und die personale Identität allemal dynamische, auf Gruppenbeziehungen und Situationen hin offene Konstrukte sind. Dies gilt auch im real life. Das andere Argument ist hier ebenfalls mit dem Thema Identität verbunden: In der Moderne offenbart und entdeckt sich Identität als Bewusstsein von „Ich“ vor allem im Modus von Intimität und Privatheit. Private Homepages drücken das gerade aus, weit mehr als sie es negieren: Sie versuchen mit allen Mitteln der Kommunikation und der sozialen Konventionalität, Glaubwürdigkeit und Authentizität zu konstituieren. Sie schaffen eine Identität, die auf reale Welt verweist, durch Adresse, Name, soziale Beziehungen usw., die als integrierte Einheiten einer realen Identität vorgestellt und der sozialen Prüfung im real life geöffnet werden. Die hier vorgestellten Überlegungen stützen sich auf eine Sammlung von Homepages, die 2001 begonnen wurde. Die meisten dieser frühen privaten Homepages haben das Schicksal des Androiden Roy erlitten, sie sind heute nicht mehr unter der angegebenen Adresse aufzufinden. Umso wichtiger scheint es deshalb zu sein, die Geschichte der Internetnutzung im Sinne des hier vorgeschlagen Rahmens systematisch und empirisch zu untersuchen und auf die Nutzung sozialer Netzwerke zu beziehen. Dann wären Sinn und Form dieser Selbstdarstellungen im Internet jedenfalls ein Teil seiner Geschichte, die andauert.
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Am Rande des guten Geschmacks?! Eine kleine Medienkulturgeschichte der veröffentlichten Privatheit Daniela Pscheida und Sascha Trültzsch
Einleitung Es mag geradezu paradox erscheinen: Auf der einen Seite tobt – besonders auf politischem Terrain – ein heftiger Streit hinsichtlich der ethischen Vertretbarkeit der Lockerung rigider Datenschutzbestimmungen. Aktuelle Stichworte sind hier etwa die Installation von Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen, die Speicherung privater Kommunikationsdaten, die biometrische Vollerfassung der Bürger durch elektronisch aufgerüstete Personalausweise sowie die Diskussion um den Einsatz sogenannter ‚Nacktscanner’ auf Flughäfen. Auf der anderen Seite entblößen sich Millionen meist junger Menschen bedenkenlos und freiwillig in den immer beliebter werdenden sozialen Kontaktnetzwerken im Internet. Dort werden nicht nur teilweise intime Informationen zu persönlichen Interessen und Beziehungen preisgegeben, sondern häufig auch bildliche Einblicke in das eigene Privatleben gewährt. Inzwischen verfügen mehr als neun Millionen Deutsche über ein entsprechendes Online-Profil1. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2008 haben bereits 10 Prozent der InternetnutzerInnen mit eigenem Profil den Besuch eines oder mehrerer sozialer Netzwerke fest in ihre tägliche Surfroutine integriert (vgl. Fisch/ Gscheidle 2008: 363). Es wird daher vielfach argumentiert, dass sich unter dem Einfluss der unter dem Begriff ‚Web 2.0’ zusammengefassten Angebote interaktiver und partizipativer Internetnutzung das Konzept Privatheit in seiner bisherigen Ausprägung nachhaltig wandelt, dass also die Wahrnehmung von und der Umgang mit Privatheit eine deutliche Modifikation erfahren, in deren Resultat die gesellschaftlich fest verankerte Sphärentrennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gewissermaßen obsolet wird (vgl. Capurro zitiert nach Eschenbach 2007: 10).
1
Angabe des Branchenverbands BITKOM im Juni 2008 unter Berufung auf eine exklusive Forsa-Erhebung: http://www.bitkom.org/52795_52791.aspx (08.01.2009)
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Dabei ist dieser gegenwärtig zu beobachtende Trend zur ‚Veröffentlichung von Privatheit’ medienhistorisch betrachtet keineswegs ein neues Phänomen. Spätestens seit der Etablierung des Buchdrucks in Europa wurden Informationen über das Privatleben bestimmter Personen gezielt massenmedial und damit öffentlich inszeniert. Typischerweise standen dabei jedoch solche Personen im Mittelpunkt, die aufgrund ihres sozialen Status, Amtes oder eines besonderen Ereignisses ohnehin von öffentlichem Interesse waren. Die massenmediale Inszenierung von Privatpersonen blieb hingegen lange Zeit ein Randphänomen. Unter den neuen Bedingungen und Möglichkeiten des Web 2.0 lassen sich diesbezüglich nun Veränderungen von großer Dynamik ausmachen. Ergänzend zu den vor allem im Privatfernsehen etablierten Reality-Shows und Trash-Talks entwickelt sich die öffentliche Selbstinszenierung von Privatpersonen, die eben nicht per se im allgemeinen Interesse der Öffentlichkeit stehen, zu einem zentralen Aspekt der Medienkultur. Die nachfolgenden Ausführungen verfolgen daher drei Ziele. Nach einer einführenden Klärung der begrifflichen Grundlagen soll erstens das Phänomen der veröffentlichten Privatheit medienhistorisch als eines nachgezeichnet werden, das sich auf thematischer wie inszenatorischer Ebene häufig an den Grenzen des historisch jeweils Vertretbaren – ‚am Rande des guten Geschmacks’ – bewegte, das aber gerade daraus seine Popularität und Attraktivität zog und zieht. Dabei spielten insbesondere Bilder als Darstellungsmodus immer schon eine besondere Rolle. Vor diesem Hintergrund soll zweitens das neue Phänomen einer massenhaft freiwillig veröffentlichten Privatheit alltäglicher Privatpersonen im Kontext der sozialen Kontaktnetzwerke des Web 2.0 verortet und das Verhältnis von Bildlichkeit und Privatheit anhand erster empirischer Ergebnisse zum besonders in Deutschland beliebten Netzwerk StudiVZ verdeutlicht werden. Schließlich gilt es drittens, zusammenfassend die Bedeutung dieser Entwicklungen im Sinne eines etwaigen ‚Strukturwandels der Privatheit’2 zu diskutieren. Zum Begriff der veröffentlichten Privatheit Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, um das es im Kontext der ‚veröffentlichten Privatheit’ letztendlich geht, ist sinnvoll nur differenztheoretisch zu bestimmen. Laut Weintraub (1997: 1) stellt diese Unterscheidung eine Dichotomie dar, welche, wie wiederum Weiß es ausdrückt, „zu den beherrschenden Grundfiguren abendländischen Denkens zählt“ (Weiß 2002: 29). Sie kann demnach auch als so etwas wie eine kulturell verbürgte Grundkonstante betrachtet 2
Die Thematik des Strukturwandels der Öffentlichkeit wurde bereits ausgiebig diskutiert (vgl. dazu ganz prominent Habermas 1990 [1962].
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werden, die in ihrer gesellschaftlichen Verankerung geradezu anthropologisch erscheint. In seiner aus der Zeit der Aufklärung stammenden Bedeutung meint der Begriff Öffentlichkeit zunächst nichts anderes als Publizität: Zum Öffentlichen gehört all jenes, was der allgemeinen Kommunikation uneingeschränkt zugänglich gemacht wird bzw. was uneingeschränkt zugänglich ist (vgl. Pöttker 2006: 205). Von wirklicher Öffentlichkeit im engeren Sinne, kann man dabei erst sprechen wenn ein Thema tatsächlich Aufmerksamkeit bindet, d. h. ein spezifisches Publikum findet. Die Massenmedien waren und sind daher die Basis einer so verstandenen Publizität. Mit der Entstehung der Massenmedialität wurde die Öffentlichkeit auch immer mehr zum politischen Faktum. Man unterscheidet heute meist eine normative und eine empirisch-deskriptive Komponente, zwischen denen gewöhnlich eine Spannung auszumachen ist (vgl. Hohendahl 2000: 2). Vor allem die erste ist dabei mit dem Anspruch verbunden, dass die Dinge des Staates für jedermann offen zugänglich und einsichtig sein sollen und darüber hinaus demokratisch an die Meinung der Bürger zurückgebunden werden (vgl. Gerhards 1998: 25). Der Begriff Privatheit bildet den im differenztheoretischen Sinne notwendigen Gegenpart zur Öffentlichkeit. Der jeweilige Fokus unter welchem die Abgrenzung erfolgt, ist dabei entscheidend für das Verständnis und die Funktionalität beider Konzepte. Im Allgemeinen kann man vier Argumentationskontexte unterscheiden: Im liberalistisch ausgerichteten Modell erfolgt die Unterscheidung vordergründig über die Sektoren Staat und Markt. Während ersterer einer administrativen Lenkung durch offizielle Regierungsinstitutionen unterliegt, gilt in letzterem das freie Spiel der Ökonomie (vgl. ebd.: 8-10). Der republikanische Ansatz betont demgegenüber den Aspekt der Bürgerschaft: Öffentlichkeit meint hier den öffentlichen Raum der politischen Gemeinschaft. Wer oder was diesem Raum der Zivilgesellschaft nicht angehört, wird dem Bereich des Privaten zugeordnet (vgl. ebd.: 10-16). Ein dritter Ansatz vollzieht die Trennung unter dem Aspekt der Sozialität. Das soziale Leben in der Gesellschaft wird z. B. dem persönlichen Leben in der Familie gegenübergestellt (vgl. ebd.: 16-22.) Der vierte Ansatz verkörpert eine Kombination vor allem des zweiten und dritten und wurde auf diese Weise auch zum Kern der feministischen Analyse und Kritik3: Privatheit wird hier mit Haushalt und Familie gleichgesetzt, der Begriff der Öffent-
3
Die feministische Kritik geht davon aus, dass in dieser Form der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, ganz besonders in den Hoffnungen und Erwartungen, die an die Sphäre der Privatheit in diesem Verständnis geknüpft sind, die bis heute geltende Ursache asymmetrischer Geschlechterrollen zu suchen sei (vgl. dazu u. a. Klaus 2001: 16; Weiß 2002: 34f.).
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lichkeit steht hingegen für die größere ökonomische und politische Ordnung (vgl. ebd.: 27-34). Betrachtet man diese Dichotomien zusammenfassend eröffnen sie auch den Blick auf die spezifischen Funktionen von Privatheit. Zunächst erscheint Privatheit dabei ebenso wie Öffentlichkeit als ein „konstitutives Moment einer gesellschaftlichen Ordnung“ (Weiß 2002: 30). Sie stellt aber zudem auch eine überaus voraussetzungsvolle soziale Institution dar, deren Bedeutung sich in der modernen Gesellschaft im Hinblick auf drei zentrale Absetzungen bestimmen lässt (vgl. ebd.: 29-35): Erstens ein individuelles Verfügungsrecht über Privatsachen, d. h. bestimmte Güter und Dienstleistungen werden Einzelnen exklusiv als Eigentum zugerechnet und externem Zugriff entzogen. Bei Rössler (2001) zählen dazu neben dem Privatvermögen auch religiöse Überzeugung und ästhetische Vorlieben im Sinne der freien individuellen Wahl der eigenen Lebensführung. Zweitens die Freiheit des Staatsbürgers durch Abgrenzung gegenüber öffentlicher Gewalt. Drittens schließlich ist Privatheit als Sphäre der Häuslichkeit gegenüber dem öffentlichen Leben abzugrenzen. Während letzteres nach dem Grundmuster der Gleichzeitigkeit im Nebeneinander von Lebensformen organisiert und durch die Einhaltung von Konventionen stabilisiert ist, schafft erst das besondere räumliche und soziale Arrangement der Privatheit die Basis für individuelle Selbstverwirklichung und den Aufbau von Intimität. Verbindet man alle drei Dimensionen, lässt sich als zentrale Funktion der Privatheit in modernen Gesellschaften der Schutz des Persönlichen im Sinne von Individualität zum Zwecke von dessen Entfaltung und Erhalt herausarbeiten. Bestimmte Bereiche des Lebens bleiben dem direkten Zugang und Einfluss des Staates, der Gesellschaft oder anderer Personen (mit gewählten Ausnahmen) entzogen. Im ‚Schutzraum‘ der Privatheit gelten eigene Regeln der Interaktion und Kommunikation – eine eigene Handlungsrationalität. Die Präsentation derartig privater Lebensäußerungen eines Individuums in der Öffentlichkeit, d. h. die Übertragung von Informationen aus dem Schutzraum der Privatheit in jenen der öffentlichen, massenmedialen Kommunikation, stellt folglich eine Grenzüberschreitung dar. Keppler hat jedoch darauf hingewiesen, dass sich die Grenzen zwischen den Sphären nicht einfach verschieben oder auflösen, sondern „sie verändern sich in ihrem Charakter als Grenzen“ (Keppler 1999: 707). Beide Bereiche werden so konzipiert, dass sie vom Individuum in Interaktionen definiert werden können (vgl. ebd.: 711f.). Dieser Argumentation folgend, soll ‚veröffentlichten Privatheit’ hier als die kommunikative Übertragung privater Inhalte in die öffentliche Sphäre verstanden werden, wobei im Einzelfall jeweils zu fragen ist, welchen Inszenierungsstrategien sich die Darstellung dabei bedient.
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Veröffentlichte Privatheit in den Massenmedien – ein historischer Abriss Bereits Habermas (1990 [1962]) hat im Rahmen der Diskussion und Entfaltung seines Öffentlichkeitsverständnisses darauf hingewiesen, dass sich die Muster der Präsentation und Repräsentation von Öffentlichem und Privatem kontinuierlich wandeln. Während in der frühen Phase der bürgerlichen Öffentlichkeit das Argument der Privatperson stark auf die Öffentlichkeit Einfluss haben konnte, wirkten später die Argumente aus Parlament und Zeitung auf die Privatsphäre zurück – in Form der öffentlichen Meinung (vgl. dazu neben Habermas 1983: 562-5834 und 1990: 225-274 auch Gerhards/Neidhardt 1998: 63f.). In dieser Lesart kann man Habermas‘ Konzept als eine Veränderung nicht nur der Sphären, sondern vielmehr als Übertragung von Inhalten und dazugehörigen Darstellungsmodi von einer Sphäre zur anderen verstehen. Im Zuge der Etablierung der elektronischen Massenmedien und vor allem des Fernsehens trat diese Tendenz zur wechselseitigen Durchdringung besonders deutlich hervor.5 Die öffentliche Sphäre drang nun tiefgreifender denn je in die private ein: Im Fernsehen wurden Themen und Bilder, die traditionell eher der öffentlichen Sphäre zugeordnet werden, im Rahmen tendenziell ‚privater‘ Darstellungsmodi inszeniert, die so hergestellte Öffentlichkeit war nicht länger diskursiv, sondern distributiv. War in der bürgerlichen ‚Lesegesellschaft’ (Postman 1989) das Argument das entscheidende Mittel privater und öffentlicher Diskussion, gewannen nun zunehmend Bilder an Bedeutung.6 Während aber bereits das Kino bewegte Bilder präsentierte, blieb es als Veranstaltungsmedium an öffentliche Orte gebunden. Erst das Fernsehen lieferte die Bilder direkt ins Wohnzimmer und damit in den privaten Raum (vgl. u. a. Hickethier 1998: 3f.). Darüber hinaus verbanden sich die bereits durch die (statischen) Bilder etablierten Bedeutungen nun mit denen des Fernsehens (vgl. ebd.: 1f.). So konnten die vormals vor allem in der öffentlichen Sphäre etablierten ikonographisch aufgeladenen Bilder im Fernsehen zitiert und so direkt in die private Sphäre transportiert und integriert werden (vgl. Viehoff/ Fahlenbrach 2003). Das Argument als entscheidender Modus der öffentlichen Sphäre trat massenmedial hinter die Bedeutung des Bildes zurück. Das zunehmende Vordringen öffentlicher Themen und Darstellungsmodi in die Sphäre des Privaten besitzt demnach eine lange kulturelle Tradition. Parallel dazu lässt sich im historischen Rückblick aber auch eine zunehmende Durchdringung der Öffentlichkeit mit privaten Themen und Inszenierungsmustern 4 5 6
Wobei er hier konkret auch auf die Bedeutung der Massenmedien referiert. Habermas hatte ihn für Zeitungen und das Parlament beschrieben. Die davor entstandenen Techniken wie Holzschnitt oder wichtiger Lithographie wären als Innovationen sicher auch zu nennen, hatten aber nicht, wie die Fotografie den Nimbus der Authentizität.
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ausmachen. Folgende vier Entwicklungsstufen können dabei unterschieden werden: (1) Die gezielte Inszenierung des Privatlebens öffentlich relevanter Personen in der Öffentlichkeit gehörte schon früh – etwa in Form von Gemälden, Holzschnitten etc., später primär durch Fotos politisch wichtiger Personen – zum festen Bestandteil der massenmedialen Kommunikation und war stets ein Magnet der Aufmerksamkeit. Erinnert sei hier beispielsweise an die deutsche Kaiserfamilie auf Postkarten. Die Abbildungen gleichen den damals üblichen Codes privater Familienaufnahmen. Privates wurde gezielt genutzt, um eine ‚Vor-bildwirkung‘ der ‚privat‘ abgebildeten öffentlichen Person zu propagieren. Tatsächliche private, gar intime Details des ‚Vorbildes‘ spielten hingegen (noch) keine Rolle. (2) Exemplarisch in der Boulevardpresse wird hingegen das ungeschönte Privatleben, wirklich intime Details privater Handlungen und vor allem die Skandalisierung öffentlicher Personen aufgrund privater Handlungen zum Thema. Die darin enthaltene Tendenz zur Indienstnahme des ‚Privaten‘ als Medium der Verleumdung der ‚öffentlichen‘ Person ist ein altbewährtes Mittel,7 erhält jetzt aber durch cross-mediale Verlinkungen eine neue Intensität, indem sie verstärkt Aufmerksamkeit bindet. Als besonders prominentes Beispiel der jüngeren Geschichte sei hier etwa die Rolle des Drudge-Reports bei der ClintonLewinsky-Affäre genannt. Das Privatleben von ‚gewöhnlichen’ Privatpersonen war hingegen für die Massenmedien lange Zeit nur dann von Relevanz, wenn sich damit etwas Skandalöses oder Spektakuläres verbinden ließ, das aufgrund seiner selbst – nicht aufgrund der Person – ein öffentliches Interesse zu erzeugen vermochte. (3) Mit der Einführung des privat-kommerziellen Fernsehens in der Bundesrepublik wurde schließlich auch das mehr oder weniger alltägliche private Leben ganz durchschnittlicher Personen zunehmend massenmedial inszeniert und vorgeführt. Die Offenlegung privater Belange nicht-öffentlicher Personen in Fernsehsendungen gehörte dort rasch zum Standardprogramm, wie in der einschlägigen Literatur immer wieder betont wird (vgl. die Beiträge in Imhof/ Schulz 1998; Bleicher 2002). Besonders aufmerksamkeitsbindend wirkte und wirkt dabei bis heute die gezielte Präsentation peripherer oder normabweichender Verhaltensweisen wie sie z. B. in Talkshows oder Reality-TV-Shows stattfinden. Es erscheint nicht verwunderlich, dass sich gerade im Fernsehen eine solche Kultur der – wenn auch redaktionell gelenkten und damit letztendlich immer im Sinne einer allgemeinen öffentlichen und nicht privaten Handlungsrationalität insze7
In gewisser Weise entsprechen bereits einige Schmäh-Flugblätter der Reformationszeit (PapstEsel, Martin-Luther-Siebenkopf) diese Muster. Sie diskreditieren aber eher die Institution oder die Position an sich, nicht unbedingt den privaten Lebenswandel der Person selbst.
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nierten – Veröffentlichung von Privatheit entwickelt hat.8 Wie bereits erwähnt, besaßen Bilder als Modus der Darstellung des Privaten in der Öffentlichkeit immer schon eine zentrale Funktion – das Fernsehen als visuelles Leitmedium hat diese nur noch gesteigert. Der Vorteil der Bilder bei der Inszenierung von Privatheit liegt dabei in deren besonderer Eignung zur Betonung emotionaler Aspekte, die inhaltlich primär dem Privaten zuzuordnen sind (vgl. Viehoff/ Fahlenbrach 2003: 46). Die Mechanismen der medialen Konkurrenz haben überdies gezeigt, dass ‚Privates’ im bildlichen Modus besser und glaubhafter skandalisierbar ist. Unter den Marktbedingungen moderner Mediengesellschaften intensiviert sich dieser Trend zur medial ermöglichten Augenzeugenschaft daher zusehends.9 Im Kampf um die Währung Aufmerksamkeit müssen dabei immer neue und immer deutlichere Skandalisierungen des Privaten folgen.10 (4) Im Kontext des Internet zeichnet sich nun gegenwärtig eine weitere Entwicklungsstufe innerhalb einer Mediengeschichte ‚veröffentlichter Privatheit’ ab, die eine neue Qualität besitzt und das Bild als zentralen Darstellungsmodus noch weiter in den Vordergrund rückt. Gemeint ist die massenmediale Präsentation des Privatlebens privater Personen durch diese selbst. In der ersten ‚Generation’ der Internetnutzung (etwa 1993-2000) stellten zunächst vor allem private Homepages neue Formen der Selbstdarstellung und -inszenierung dar. Erstmals war es nun auch ‚gewöhnlichen‘ Privatpersonen möglich, selbständig, ohne den Einfluss redaktioneller Lenkung und damit ohne die Notwendigkeit von Prominenz oder Skandal, persönliche Informationen öffentlich zu kommunizieren. Von Anfang an hafteten den privaten Homepages jedoch zwei Besonderheiten an: Einerseits verkörpern private Homepages die paradoxe Situation einer ‚interpersonalen Massenkommunikation’, d. h. es wird der Eindruck einer personalen Beziehung von Privatheit (Home/Heim) erzeugt, obwohl es sich klar um ein öffentliches Angebot der Massenkommunikation (Page/Seite) handelt. Andererseits ist dies stets eine Form der Kommunikation, die trotz ihres allgemein öffentlichen Charakters für den handelnden Akteur zunächst eine einseitige und individuelle Angelegenheit darstellt, dabei aber zugleich unter dem Druck der 8 9
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Beispielsweise früh in Familienserien: Für den Zusammenhang zwischen System und Lebenswelt in Hinblick auf die Inszenierungsmuster von Familienserien Vgl. Trültzsch 2009. Das führt zu den bekannten Paradoxien der Paparazzi-Fotografie: Ein Bild, das ästhetischprofessionell als Schnappschuss des privaten Lebens inszeniert wird, umgibt die Aura besonderer Authentizität, die professionellen Photographien nicht mehr innezuwohnen scheint (vgl. Fahlenbrach 2008 und in diesem Band). Die lässt sich besonders eindrucksvoll anhand der inhaltlichen Entwicklung der verschiedenen BigBrother-Staffeln in Deutschland beobachten. Die räumliche Strukturierung des Wohnbereichs sowie die vorgegebenen Spielregeln drängten die KandidatInnen mehr und mehr dazu, immer intimere Einblicke in ihre Privatsphäre zu gewähren.
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Konkurrenz zahlreicher ebenfalls individueller Angebote steht. (Vgl. dazu Viehoff 2001 und in diesem Band) Unter den Bedingungen der bereits erwähnten neuen Generation einer interaktiven und partizipativen Internetnutzung (Web 2.0) werden diese strukturellen Eigenschaften der Internetkommunikation nun vollends dominant: Vor allem innerhalb der bereits erwähnten onlinebasierten sozialen Kontaktnetzwerke gewinnt die öffentliche Selbstdarstellung und -inszenierung von Privatpersonen deutlich an Dynamik.11 Dank neuer Technologien und intuitiver Benutzeroberflächen können NutzerInnen dort unkompliziert und schnell Informationen über sich selbst einstellen und massenmedial verbreiten. Programmiertechnische Vorkenntnisse (HTML) sind nicht mehr notwendig. Zudem ist der eigene ‚Webauftritt’ mit denen Anderer verknüpft und kann daher leichter entdeckt werden, d. h. Aufmerksamkeit binden. Aktuelle Entwicklungen – das Beispiel StudiVZ Es sind also vor allem die internetbasierten Kontaktnetzwerke des Web 2.0, die aktuell besonders in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, wenn es um ‚veröffentlichte Privatheit’ geht. In Deutschland erfreut sich neben dem internationalen Marktführer Facebook insbesondere das Studentennetzwerk StudiVZ (mitsamt seiner jüngeren Ableger MeinVZ und SchülerVZ) großer Beliebtheit12: Die NutzerInnen legen dort zunächst eine persönliche Profilseite an, die bereits von ihrem inhaltlichen Aufbau her (vorgegebene Kategorien, ähnlich eines Steckbriefs) per se auf die (hier zunächst schriftliche) Preisgabe privater Informationen abzielt. Neben Angaben zu Geburtstag, Herkunft, Schul- bzw. Ausbildung, dem derzeitige Arbeitsverhältnis und Hobbys werden beispielsweise auch Informationen zu persönlichen Vorlieben, politischen Einstellungen und dem aktuellen ‚Beziehungsstatus‘ abgefragt und auch bereitwillig preisgegeben – und das, obwohl StudiVZ, wie auch alle anderen sozialen Kontaktnetzwerke, seinen
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Das kann bisweilen auch so weit gehen, dass die eigene Persönlichkeit – wie etwa im Falle von Second Life – virtuell vollkommen neu erfunden wird (vgl. Kammer 2008). Weltweit verzeichnet die studivz Ltd. nach eigenen Angaben über 12 Millionen NutzerInnen (vgl. http://www.studivz.net/l/about_us/1/, 12.01.2009). In Deutschland verfügte StudiVZ im vierten Quartal 2008 über knapp 6 Millionen angemeldete NutzerInnen (vgl. http:// de.statista.org/statistik/daten/studie/1553/umfrage/ranking-der-goe%DFten-online-medien/, 12.01.2009). Der Online-Ranking-Dienst Alexa listet StudiVZ aktuell an neunter Stelle der meistbesuchten Websites in Deutschland (vgl. http://www.alexa.com/site/ds/ top_sites?cc=DE&ts_mode=country&lang=none, 12.01.2009).
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NutzerInnen durchaus die Möglichkeit zur abgestuften13 Beschränkung der Sichtbarkeit der eingestellten Informationen einräumt. Besonders interessante Einblicke in die persönliche Gedanken- und Interessenwelt gewähren auf der sprachlichen Ebene nicht zuletzt auch die Gruppen, zu denen die jeweilige Person sich auf ihrer Profilseite zugehörig erklärt (siehe Abbildung 2). Diese besitzen trotz oder gerade wegen ihrer betont humoristischen Funktion im Allgemeinen einen hohen Selbstoffenbarungscharakter und sind daher im Sinne der Außenwirkung häufig als nicht unproblematisch einzuschätzen.14 Gleiches gilt für die oftmals sehr privaten Notizen auf der sogenannten ‚Pinnwand’, die ebenfalls Teil jeder Profilseite ist. Über die Ebene sprachlicher Kommunikation hinaus werden im Kontext sozialer Kontaktnetzwerke zudem besonders gern und häufig Fotos eingestellt – neben dem gewissermaßen als ‚Aushängeschild’ fungierenden Profilfoto auch ganze elektronische Alben. Dabei werden nicht nur das private Umfeld oder die subjektive Erlebniswelt zum Thema der Präsentation, sondern nicht selten und in bisweilen erstaunlicher Intimität auch der Körper selbst.
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Abgestuft meint hier, dass die Sichtbarkeit für verschiedene Kreise anderer NutzerInnen unterschiedlich deklariert werden kann. So lässt sich beispielsweise differenzieren, ob Informationen für alle NutzerInnen, nur für Freunde oder auch die Freunde der eigenen Freunde sichtbar sind. Beispiele derartige Gruppen mit explizitem Selbstoffenbarungscharakter wären hier etwa: „Ich trete nicht ins Fettnäpfchen, ich springe mit Anlauf hinein!“, „Immer alles auf den letzten Drücker Macher und zu spät Kommer!!!“, „Wir trinken Bier nur an Tagen die mit ‚g’ enden. Und Mittwochs.“
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Abbildung 1:
Profilseite in StudiVZ. Oberer Teil mit Angaben zur Person.
Zum Verhältnis von Bildlichkeit und Privatheit in internetbasierten sozialen Kontaktnetzwerken wie StudiVZ wurde 2008 von Pscheida/ Ruttkowski eine erste explorative Studie durchgeführt. Die gewonnenen Erkenntnisse erhärten die Vermutung einer Modifikation des Umgangs mit Privatheit im Kontext der öffentlichen Zurschaustellung privater Fotografien im Web 2.0.15 Die Vorstellung einer schützenswerten Privatsphäre, welche den Blicken der Öffentlichkeit grundsätzlich entzogen ist und bleiben soll, scheint – zumindest bei der jüngeren Generation – partiell zu erodieren. Von den 100 zufällig ausgewählten16 und 15 16
Insbesondere in den Feuilletons wird dies immer wieder beschrieben (vgl. hierzu u. a. den Beitrag von Kutter 2008). Diese Auswahl basiert auf einer Zufallsstichprobe. Dazu wurde systemintern (StudiVZ) zunächst für insgesamt 5 Hochschulen eine Auflistung aller jeweils registrierten Nutzer erzeugt. Von jeder aufgeführten Bildschirmseite wurde darauf das erste Profil ausgewählt.
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analysierten Profilseiten im StudiVZ besaßen 70 mindestens ein umfangreiches Fotoalbum. Der überwiegende Teil dieser Alben wies dabei Fotos mit privaten Inhalten auf. Ganze 90 Prozent der NutzerInnen waren außerdem mit ihrem Profilnamen auf eigenen oder fremden Abbildungen verlinkt (vgl. Pscheida/Ruttkowski 2008: 10-12). Eine an die quantitative Analyse angeschlossene qualitative Befragung (halbstandardisierte Leitfadeninterviews) von insgesamt zehn Personen kam weiterhin zu dem Ergebnis, dass die NutzerInnen zwar bereitwillig Bilder mit privaten Inhalten veröffentlichen, dabei jedoch mit Blick auf das einzelne Bild sehr konkret zwischen privaten und öffentlichen Inhalten unterscheiden, die Differenz also durchaus wahrnehmen und – zumindest theoretisch – nicht aufgeben (vgl. ebd.: 13-18). So gaben sie einerseits an, ihre Bilder als privat zu klassifizieren, zugleich aber verstanden sie deren Veröffentlichung nicht als Preisgabe privater Informationen.17 Abbildung 2:
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Profilseite StudiVZ. Unterer Teil mit Pinnwand und Gruppen
Eine ähnliche Untersuchung von fast 500 Profilseiten des Netzwerks StudiVZ im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz), die im Februar/ März 2009 am Department Medien- und Kommunikationswissenschaft der MLU durchgeführt wurde, zeigt, dass diese Offenheit inzwischen teilweise zurückgeht. Dennoch ist es nachweislich immernoch jedes 2. bis 3. Profil, das etwa private Fotografien uneingeschränkt einer diffusen Öffentlichkeit zugänglich macht (vgl. Pscheida/ Trültzsch 2009).
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Diese Befunde lassen auf eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des privaten Charakters des Bildinhalts einerseits und der Bedeutung von dessen potentiell öffentlicher Zugänglichkeit andererseits schließen – eine Diskrepanz, die im Hinblick auf die schriftlichen Angaben auf der Profilseite nicht vergleichbar ausgeprägt ist und daher vermutlich unter anderem auf den Modus der bildlichen Darstellung zurückzuführen ist.18 Die Sensibilität bei der Preisgabe von privaten Informationen in Textform scheint offensichtlich größer zu sein als bei solchen Privatinformationen, die in den Bildern repräsentiert sind. Diesen Eindruck stützt auch die Beobachtung einer größeren Zahl von unvollständig ausgefüllten Profilen bzw. von Profilen, die für den allgemeinen Zugriff nicht oder nur eingeschränkt sichtbar sind – wobei Name, Hochschule und Profilbild zwangsläufig, aber häufig auch Verlinkungen auf Fotos weiterhin sichtbar bleiben. Auch der Zugang zu Fotoalben wird seltener verwehrt oder eingeschränkt als jener zu den schriftlichen Informationen des Profils – und das selbst auf solchen Seiten, die entsprechende Einschränkungen für die Profilinformationen haben (vgl. Pscheida/ Trültzsch 2009). Insgesamt existiert damit auch im Kontext sozialer Kontaktnetzwerke im Internet noch ein ausgeprägtes, wenn auch bisweilen etwas diffuses Bewusstsein für Privatheit. Die Sphärentrennung ist auch dort folglich keineswegs obsolet geworden. Sie wird vielmehr sogar innerhalb der Plattform selbst diskutiert. Denn neben der technischen Möglichkeit, Profile oder Bilder vor allgemeinem Zugriff zu schützen, gibt es Gruppen, die auf Gefahren der Veröffentlichung allzu privater Informationen hinweisen.19 Dennoch wird anhand der oben genannten Ergebnisse deutlich, dass hier zweifellos etwas in Bewegung geraten ist. So manifestiert sich wohl gerade in diesem zeitweilig widersprüchlich wirkenden Vorgehen der NutzerInnen ein veränderter gesellschaftlicher Umgang mit Privatheit und deren öffentlicher Darstellung, der maßgeblich an das Bild und seine Präsentation gekoppelt scheint. Dem medialen Gebot des Aufmerksamkeitswettbewerbs folgend und mediensozialisatorisch verinnerlichte Muster der öffentlichen Inszenierung von Fotos mit privatem Charakter als besondere, weil emotional konnotierte Elemente reproduzierend, präsentieren die NutzerInnen nun selbst entsprechende private Fotografien einer diffusen Öffentlichkeit. Die textlichen Angaben treten dabei in den Hintergrund, da sie aufgrund ihres geringeren emotionalen Werts tendenziell weniger Aufmerksamkeit binden und Bilder zudem, wie vermutet wird, einen 18 19
Es ist anzunehmen, dass auch die besondere Situation der Netzwerkinteraktion sowie der Aspekt der ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit’ hier eine entscheidende Rolle spielen. Sie sollen aber nicht eingehender diskutiert werden. Beispielhaft hierfür können etwa die Gruppen „STASIVZ Wir bespitzeln ihre Kommilitonen seit Oktober 2005“ oder „Privatsphäre vs. StudiVZ“ genannt werden.
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stärkeren Eindruck von Authentizität erwecken. Zwar können auch Fotografien heute vergleichsweise einfach manipuliert werden, doch scheint ein derartiger Eingriff auf der visuellen Ebene rascher erkennbar. Fazit Die sozio-kulturell fest verankerten Konzepte von Öffentlichkeit und Privatheit werden auch angesichts der sich gegenwärtig ereignenden medienhistorischen Veränderungen der ‚veröffentlichten Privatheit’ im Web 2.0 nicht obsolet. Gleichwohl sind im Hinblick auf die dort zunehmende Präsenz privater Informationen Veränderung der Wahrnehmung von sowie des Umgangs mit Privatheit zu konstatieren. Es ist davon auszugehen, dass diese in einem engen Zusammenhang mit dem bildlichen Darstellungsmodus stehen. So lassen sich etwa anhand der Betrachtungen zum internetbasierten sozialen Netzwerk StudiVZ deutliche Differenzen zwischen schriftlichen und bildlichen Darstellungen privater Inhalte ausmachen. Während textlich fixierte Informationen privater Art von den NutzerInnen durchaus häufig als sensibel und schützenswert angesehen werden – die Nutzung von Sichtbarkeitsbeschränkungen für die entsprechenden Bereiche des Profils oder unvollständige Eintragungen auf Profilseiten könnten so erklärt werden –, folgt die Kommunikation privater Inhalte auf der bildlichen Ebene (Profilfotos, Fotoalben) hingegen anderen Prämissen. Hier werden (Selbst-)Inszenierungsstrategien aufgegriffen, die den NutzerInnen bereits aus anderen Massenmedien bekannt sind und deren aufmerksamkeitsbindende Wirkung aus der besonderen Eignung bildlicher Darstellungen zur Erzeugung von Emotionalität einerseits sowie der vorgeblichen Authentizität privater Fotografien andererseits resultiert. So gesehen wird Privates im Modus des Bildlichen vermutlich gerade deswegen so bereitwillig preisgegeben, weil sich damit eine hohe Aussicht auf Aufmerksamkeit und Anerkennung verbindet – ein Aspekt, der in abgeschwächter Form auch für die weiter oben kurz erwähnten Gruppen gilt. Gleichzeitig wirkt der bildliche Darstellungsmodus trotz seiner stärkeren Authentizität weniger eindeutig und konkret, so dass Details eher vage und interpretativ erschlossen werden können – ganz im Gegensatz zum Text, der demgegenüber einen manifesteren Charakter aufweist. Gekoppelt mit dem Moment mediensozialisatorischer Gewöhnung und der verinnerlichten Übernahme bekannter massenmedialer Inszenierungsstrategien ist daher weiterhin anzunehmen, dass die öffentliche Preisgabe privater oder gar intimer Informationen über Fotografien den NutzerInnen sozialer Kontaktnetzwerke nicht im selben Maße greifbar erscheint, wie dies bei schriftlichen Ausführungen der Fall ist. Gerade
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Fotos in Schnappschuss-Ästhetik bleiben in ihrer Deutung in weiten Teilen offen, obschon ihnen zugleich eine hohe Authentizität unterstellt wird. Nicht zuletzt diese Mischung macht es wohl besonders für junge NutzerInnen ebenso einfach wie attraktiv, das eigene Privatleben über Bilder öffentlich zu inszenieren und sich damit bisweilen gern auch mal ‚am Rande des guten Geschmacks’ zu bewegen. Literatur Barsch, Achim/Scheuer, Helmut/Schulz, Georg-Michael (Hrsg.) (2008): Literatur – Kunst – Medien: Festschrift für Peter Seibert zum 60. Geburtstag. München: Meidenbauer Bentele, Günter/Brosius, Hans-Bernd/Jarren, Otfried (Hrsg.) (2006): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. 1. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften Beuthner, Michael/Buttler, Joachim/Fröhlich, Sandra/Neverla, Irene/Weichert, Stephan A. (Hrsg.) (2003): Bilder des Terrors - Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September. Köln: Herbert-von-Halem-Verlag Bleicher, Joan Kristin (2002): Formatiertes Privatleben: Muster der Inszenierung von Privatem in der Programmgeschichte des deutschen Fernsehen. In: Weiß/Groebel (2002): 207-246 Eschenbach, Sandra (2007): »Der Code ›Öffentlich/Privat‹ erfährt einen gesellschaftlichen Wandel globalen Ausmaßes«. Der Informationsethiker Rafael Capurro über gesellschaftliche, journalistische und politische Auswirkungen des Web 2.0. In: Tendenz. 3/2007: 10-11 Fahlenbrach, Kathrin (2008): Ikonen in der Geschichte der technischen Massenmedien. Veränderungen und Kontinuität medienhistorischer Ikonisierungsprozesse. Öffentlicher Habilitationsvortrag am 16.7.2008. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Fisch, Martin/Gscheidle, Christoph (2008): Mitmachnetz Web 2.0: Rege Beteiligung nur in Communitys. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2008. In: Media Perspektiven. 7/2008: 356-364 Gerhards, Jürgen (1998): Konzeptionen von Öffentlichkeit unter heutigen Medienbedingungen. In: Jarren/Krotz (1998): 25-48 Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm (1991): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. In: Müller-Dohm/Neumann-Braun (1991): 31-89 Habermas, Jürgen (1983): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Habermas, Jürgen (1990 [1962]): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp Herrmann, Friederike/Lünenborg, Margret (Hrsg.) (2001): Tabubruch als Programm. Privates und Intimes in den Medien. Opladen: Leske+Budrich Hickethier, Knut/ Unter Mitarbeit von Hoff, Peter (1998): Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart
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Abbildungen Abbildung 1 und 2: Pressematerial von StudiVZ. http://static.pe.studivz.net/20090708238957/lp/Svz//de/press/img/screenshots/sVZ_Profil_790px01.jpg Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von StudiVZ.
Der Computer als Medium: Paradoxien der Computersicherheit Helmut Schanze
Neues Medium – Möglichkeiten und Restriktionen Während in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts der „Computer“ als umfassende Möglichkeitsmaschine begriffen wurde, stehen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts seine Grenzen und Beschränkungen im Vordergrund der Diskussionen. Die (übergroßen) Erwartungen, „Hype“, die „Blase“ und mit ihnen das „Hypermedium“ sind Vergangenheit. Die Fragen der Gegenwart weisen auf Gefahren, Sicherheit, Rechte und Regulierung. Der eingebildeten Macht des Nutzers, der zum „Programmdirektor“ geworden sei, folgt eine schale Angst vor Datenklau und Missbrauch von persönlichen Informationen. Was in den 60er und 70er Jahren noch eine unpersönliche „Datenverarbeitungsanlage“ war, eine „Maschine“, gut gesichert und nur wenigen zugänglich, mutierte in den 1980er Jahren bis zur Jahrhundertwende zum „Persönlichen Computer“ im Netz für alle. Nun soll „er“ oder „sie“ wieder zurück in den sicheren Bunker der Geheimnisse. Die Legende vom Ursprung des Netzes bei der amerikanischen Armee zur Erhöhung der Sicherheit des Atomstaats, die durch seine Öffnung als Medium für alle, als Agentur der Öffentlichkeit, widerlegt war, kehrt durch die Hintertür einer mit einem Aufwand sonder Gleichen betriebenen „Datensicherheit“ zurück. Parallel zur Mediengeschichte des Computers hat sich eine kritische Medienwissenschaft als Kulturwissenschaft entwickelt. Sie konnte durchaus an die alte „Kommunikationswissenschaft“ der 60er und 70er Jahre und an ihre „Theorie der Massenmedien“ anknüpfen. Diese wiederum hatte ihren Ausgangspunkt im Medienumbruch um 1900. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde sie ausgearbeitet im Lichte der Erfahrungen mit der Ermächtigung von gewissenslosen „Führern“. Parallel vollzog sich die Entwicklung der „Großrechner“, die in den 60er Jahren durchaus auch schon aus ökonomischem Interesse heraus weltweit vernetzt wurden. Aber erst mit dem personalisierten Rechner im Netz, mit dem World Wide Web, wurde aus der „Maschine“ dem „Instrument“ ein „Medium“, das mit steigender Nutzerzahl als Individual- wie auch als Massenmedium gebraucht werden konnte. Es entstand eine „Digitale Plattform“, auf
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der alle bisherigen Medien aufsetzen konnten. Neu war das utopisch-interaktive Potential, ein Universalmedium, das von einem, vielen und allen zu gebrauchen war. Neu ist die Ermächtigung des Nutzers, der seine virtuellen Welten selbst gestalten und vermitteln kann. Dem hat sich auch die Medienkritik, konzipiert als Kritik der Massenmedien und ihrer Ideologieproduktion, zu stellen. Medienkritik meint vor allem Unterscheidung. Stehen auf der einen Seite die Möglichkeiten des Computers im Netz, so stehen auf der anderen Seite die ebenso notwendigen, nicht nur technisch-naturwissenschaftlich zu beschreibenden Restriktionen. Medien sind Techniken, von Menschen für Menschen gemacht, mit anderen Worten auch und vor allem kulturelle Dispositive. Das neue Medium eröffnete ebenso neue mediale Möglichkeiten. Werden diese Möglichkeiten nur im Sinne der Mächtigen genutzt, so ist Möglichkeitskritik zu leisten; der Bürger ist vor Missbrauch persönlicher Daten zu schützen; Regulierungen sind zu fordern. In Medien konfligiert notwendigerweise der Anspruch auf Privatsphäre mit den Interessen der öffentlichen Sphäre. Dieser manifeste Widerspruch ist der zentrale Gegenstand einer kritischen Medienwissenschaft als Medienkulturwissenschaft, die sich nicht mehr nur als „Massenkommunikationswissenschaft“ begreifen kann, sondern in umfassender Weise alle „Medien“ betrifft, vom intimen Gespräch bis hin zur umfassenden Information aller, schlagwortartig, „one to one“ über „many to many“ bis „one to all“ und diese unter das Gesetz der Aufklärung stellt: „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant). Medien – Agenturen der Öffentlichkeit Die Aufgabe einer Medienkulturwissenschaft ist nicht zuletzt die einer einlässlichen „Theorie der Medien“. (Rusch/Schanze/Schwering 2008). Gerade weil sich der „Computer im Netz“ umfassend auch als Agent des Wandels erweist wie zuvor der Druck und die analoge Audiovision, ist einlässlich die Frage nach seiner Definition zu stellen. Sie muss Unterscheidungen treffen und Grenzen aufzeigen. Aus Erwartungen und Enttäuschungen kann eine ruhige aufklärende Betrachtung auch des „Neuen Mediums“ resultieren. Zu konstatieren aber ist, dass gegenwärtig eher eine aufgeregte Pluralität von Theorieangeboten auf das Publikum einströmt, die kritische Unterscheidungen eher erschwert als ermöglicht. Die neue Mediensituation einer Konstellation von unendlich vielen Medien auf „einer“ kulturell-technischen „Plattform“ wiederholt sich im Theoriebereich. Insofern aber ist eine einheitliche Theorie der Medien eher sachfremd: Gerade die Vielzahl der Medien ist es, die emanzipatives Potential generiert, aber wie-
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derum auf der anderen Seite auch „Medienketten“ mit katastrophalem Ausgang. (Schanze 2008) Aus diesem kritischen Medienensemble, welches immer wieder neue Medien generiert, neue Möglichkeiten bietet und bisweilen auch nur suggeriert, ist nicht nur das technische Dispositiv (die „Plattform“) von Interesse, deren Erfindungs- und Perfektionsgeschichte, sondern auch deren hoch ausdifferenzierte Nutzungsgeschichte. Zu prüfen ist eben jene Ermächtigung des Nutzers, die nicht nur gelegentlich in Ohnmacht umschlägt angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten und Restriktionen. Unhintergehbar jedoch bleibt die einfache Bestimmung des Mediums als „Übergang“ und seine gesellschaftliche Bedeutung als Agentur der Öffentlichkeit. Rainer Werner Fassbinder hat in schlagender Weise die „Medialität“ bereits des persönlichen Gesprächs in der zentralen Szene seines Films „Fontane Effi Briest“ ins Bild gesetzt. Was als Gespräch unter vier Augen beginnt, ist vom genialen Filmemacher optisch zwischen zwei Spiegel gesetzt. In ihnen vervielfachen sich die beiden Gesprächspartner bis in eine virtuelle falsche Unendlichkeit. Fassbinder zeigt die gestörte Zweisamkeit offizieller Gesprächspartner als Mitspieler und Opfer der Öffentlichkeit, so privat sie sich dabei aufführen mögen. Wo Medien – hier die Anordnung der Spiegel – ins Spiel kommen, ist tendenziell immer das „Gesellschafts-Etwas“, sind immer „Alle“ dabei. Schützenswert ist fraglos der Dialog zwischen zweien, von deren „Liebe niemand nichts weiß“, wie es das Volkslied so unnachahmlich formuliert. Aber selbst dieses Geheimnis, das Romantische schlechthin, ist nicht zu schützen vor den Neugierigen, dem „Umstand“, der es ja aus rechtlichen Gründen wissen muss: Wenn zwei unter einer Decke sind, sind sie gleich reich, also nach uraltem (germanischen) Recht „Eheleute“. Und wenn es gut oder schief gehen sollte, ist das breite Publikum erst recht interessiert, will es nicht nur im Wochenblättchen lesen, sondern auch im „romantischen Buch“, dem Roman, dem „polizeywidrigen“ Kind der Aufklärung. Film, Rundfunk und Fernsehen sind die täglichen, hoch technisierten und effizienten Verbreiter dieser Nachrichten und Pseudonachrichten „an Alle“. Die Paradoxie der medialen Sicherheit Simuliert das „Neue Medium“ Medien ins Unendliche, so geht es auch bei ihm immer um Geheimnis und Bruch des Geheimnisses. Wissen beseitigt Unsicherheit, die zugleich die Sicherheit des Geheimnisses war. Was einst die Presse und das Buch leisteten, den aufklärenden Geheimnisbruch, erbt auch das „Neue Medium“ in seiner Vielfalt von generischen Dispositiven. So erscheint auch die Forderung nach umfassender Datensicherheit letztlich als eine Chimäre: Sie
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widerspricht der Definition des Mediums selber, das Übergange organisiert und als Agentur der Öffentlichkeit fungiert. Zynisch kann man sagen: Wer seine Kontonummer und seinen Kontostand oder gar seine intimen Daten beim Arzt einem „Medium“ wie dem „Computer im Netz“ anvertraut, ist selbst Schuld daran, wenn sie in die Öffentlichkeit geraten. Die uferlose Sammlung von Daten bei der „Staatssicherheit“ und ihre Geheimniskrämerei hat alles andere als Sicherheit produziert. In der Masse der Daten verschwindet die Information. Was alle nicht wissen sollen, weiß schließlich keiner mehr. Nimmt man den einfachen Begriff des Mediums als Übergang und den erweiterten als Agentur der Öffentlichkeit beim Wort, so werden beide, die Sicherheit und die Information, zweifelhaft. Die oft angeführte Definition des Mediums von der Störung des Kanals her suggeriert eine Lösung des Problems: Hier müsste nur die Störung so klein wie möglich gehalten werden, um zur utopischen Intimität zurück zu finden. Mit der Störung aber verschwindet das Medium, denn das Medium, so die These, wird nur über die Störung wahrgenommen. Die Definition des Mediums als Übergang dagegen hält beide Seiten fest. Das Medium als ein „Dazwischen“ ermöglicht und restringiert menschliche Kommunikation. Die entwickelten Kommunikationsorganisationen als Agenturen der Öffentlichkeit „stellen Öffentlichkeit her“; sie nutzen den Übergang produktiv. Als Massenmedien degenerieren sie zum Sprachrohr der Interessen weniger. Die heute schon klassischen Massenmedien sind an ihrer „Ein-Seitigkeit“ zu erkennen. Sie sind im Blick auf ihre medialen Möglichkeiten zu kritisieren. Wird der Empfänger und nicht nur der Sender ermächtigt, wie dies Bertolt Brecht gefordert hat, so entsteht emanzipativer Mediengebrauch. Die „Neuen Medien“ mit ihrer umfassenden Nutzerermächtigung haben diese Utopie (scheinbar) ermöglicht. „Alle“ kommen an die „politischen Prozesse“ heran und könnten sie mit gestalten. Unberührt von dieser Utopie der Emanzipation der Nutzer aber ist das Grundgesetz des Geheimnisbruchs. Es wäre keineswegs ineffizient, wenn sich eine aufgeregte Öffentlichkeit gelegentlich auch einmal dieser medienwissenschaftlichen Grund(er)kenntnis bedienen würde. Sind Medien Agenturen der Öffentlichkeit, so können sie letztlich nicht gesichert werden – es sei denn, man schaffe sie als Störung und damit zugleich auch das ganze Publikum ab. Will man die aufklärende Funktion der Medien, so wird man mit Geheimnisbrüchen und ihrem romantischen Flair leben müssen. Sie sind das Programm der Medien. Noch so gut gesicherte Codes werden geknackt. Filme über die Geheimnisse der Marinecodes in den 40er Jahre finden bis heute ihr Millionenpublikum. Dies rechtfertigt aber keineswegs den ‚Datenklau’. Im Buchbereich, der noch einigermaßen zu regulieren war, gibt es das Urheberrecht, aber auch die Abschaffung der Zensur. Die Audiovisionen lebten lang und gut damit, dass
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bewegte Bilder etwas schwerer zu kopieren waren. Aber diese Zeiten sind vorbei und die Regelungen des schriftbezogenen Urheberrechts und seiner hybriden Erweiterungen in den „Nebenrechten“ im audiovisuellen Zeitalter treffen auf die Ermächtigung des Nutzers, der nun ernsthaft den Programmdirektor spielen will. Wissen soll, so die durchaus berechtigte Forderung der „Nutzer“ auf beiden Seiten, dem Lizenztyp der grünen Wiese inmitten der englischen (und amerikanischen) Dörfer und Städte, der „Commons“, unterliegen. Dort aber kann schließlich jeder herumtollen, sich ein Leiterchen aufstellen und eine Rede an alle halten, bei der nur gelegentlich jemand zuhört. Zu unterschätzen sind diese neuen Formen des Wissensbesitzes und der Wissensverbreitung aber nicht. Immer brechen sie ein „Geheimnis“, sei es das des „Digital Divide“ zwischen Arm und Reich, sei es das der Veröffentlichung unangenehmer (oder privater) Sachverhalte, welche zu Recht (oder zu Unrecht) in die Öffentlichkeit gehören. Gerade die böse Tat interessiert und wird so zum „Content“ der Medien. Medien nutzen Unsicherheiten. Wissen kann nur in offenen Prozessen generiert und verbreitet werden. Eine kritische Medienwissenschaft lehrt Unterscheidungen. Es ist nicht die technische Sicherung von Kommunikationsprozessen allein, die zu fordern ist, sondern auch die Erweiterung des kulturellen Wissens. Die viel zitierten Aufgaben der Medien, „Bildung“, „Unterhaltung“ „Information“ sind einem umfassenden Umbruch unterworfen. Wenn Medien Öffentlichkeit herstellen, dies ist ihre basale Funktion, so bedienen sie sich nicht nur des technischen Fortschritts, sondern sind auch von einer Sicherungsphilosophie betroffen, die sie als Störer ausmacht und sie an der Erfüllung ihrer Aufgaben hindert. Herstellung von Öffentlichkeit meint aber auch, dass der heimliche Gebrauch der Medien, ihr Missbrauch außerhalb der Grundaufgaben der „Bildung“, „Unterhaltung“ und „Information“, die a-mediale Nutzung der Medien, eingegrenzt werden muss. Je universeller und zugleich lokaler die neuen Medien aufgestellt sind, desto aufwändiger wird deren Regulierung. Diese jedoch muss stets im Blick auf die basale Aufgabe selber, die der Herstellung einer aufgeklärten Öffentlichkeit, erfolgen. Sie ist die Grenze auch für alle Maßnahmen der Sicherung. Wenn der Computer als Medium definiert wird, so ist absolute Computersicherheit dysfunktional. Wer sich vor der Öffentlichkeit schützt, dem ist zu unterstellen, dass er einiges zu verbergen hat. Die Grenze aller Medienregulierungen ist der Begriff des Mediums selber.
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Skalierung von Computersicherheit? Geht man von der Feststellung aus, dass sich alle bisherigen Medien auf einer Digitalen Plattform simulieren lassen und dass der Computer im Netz, das „Neue Medium“, diese Plattform darstellt, so lassen sich die Nutzungsformen des Neuen Mediums auf Skalen der Personalität, der Mobilität, der Temporalität und der Interaktivität anordnen. Auf der einen Seite steht das Gespräch zwischen zwei Beteiligten, „one to one“, auf der anderen Seite die Massenmedien, „one to all“, dazwischen eine Vielfalt von Anordnungen, welche die Kommunikation zwischen Einzelnen und Gruppen, zwischen Gruppen und Gruppen u. s. f. organisieren. Alle Anordnungen stellen, der Natur des Mediums entsprechend, Öffentlichkeiten her. Sie unterscheiden sich zunächst quantitativ, in einem Mehr oder Minder an Individualisierung, an Ortsunabhängigkeit, an Geschwindigkeit und Speichermöglichkeiten sowie Gegenseitigkeit der Nutzung (Interaktivität). Jeder Empfänger ist auch möglicher Sender. Im Blick auf die Paradoxie der medialen Sicherheit ergibt sich aber auch eine grundsätzlich qualitative Perspektive. Sie ereignet sich auf der Digitalen Plattform selber. Was auf der Seite der Massenmedien an Geheimnisbruch erwünscht ist, ist auf der Seite des Gesprächs unerwünscht. Jede (De-)Regulierung der Medien muss dieser Paradoxie des Neuen Mediums und seinen Möglichkeiten gerecht werden. Bei definierten Dispositiven ist diese Aufgabe zwar nicht trivial, erscheint aber mediengesetzlich lösbar. Kommen jedoch ständig neue, oft nur geringfügig abgewandelte Dispositive hinzu, so gerät eine statische Regulierung der Medien, mit anderen Worten das Mediengesetz selber, an seine Grenze. Die Regulierung Neuer Medien kann nicht mehr statisch angelegt werden, mit klassischen Definitionsansätzen; sie muss dynamisch gestaltet werden. Hierzu bedarf es einer ausgearbeiteten medienwissenschaftlichen Begrifflichkeit, die weder aus der empirischen Sozialforschung, noch aus den Wirtschaftswissenschaften, den Rechtswissenschaften, noch aus den politischen Interessen hergeleitet werden kann. Diese aber arbeiten bereits mit eigenen, traditionellen Begrifflichkeiten, haben implizite Medienbegriffe, die selber wiederum der medienwissenschaftlichen Aufklärung bedürfen. So enthalten – um ein zentrales Beispiel zu nennen – die Medienurteile des Bundesverfassungsgerichts eine ganze implizite Mediengeschichte; sie reagieren auf Medienumbrüche und den „technischen Fortschritt“. Hier bietet sich der medienwissenschaftliche Begriff der Digitalen Plattform in seiner weiten Fassung an. Sie erlaubt, so hier die These, einen Ansatz der Skalierung auch von Sicherheit. Wird das Gespräch extrem geschützt, so muss dies nicht ganze Computersysteme betreffen. Der Schutz von Zahlungsvorgängen, in denen Computer mit Computern „reden“, muss wiederum anderen Krite-
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rien genügen als der Schutz von Urheberrechten. Im Prozess der Veröffentlichung selber sind schützenswerte Güter zu beachten. Ordnet man Medien auf einer Skala zwischen Privatheit und Öffentlichkeit an, so kann man jeweils fallweise eine Angabe über Sicherheitsstandards machen, in denen zugleich aber auch die Interessen der Beteiligten offengelegt werden müssen. Veröffentlichung – ein Skandal? Hier ist die Aufgabe der Medienkritik. Sie deckt als Kritik der Medien die Interessen auf. Ist das Interesse des einen Nutzers das der Veröffentlichung bzw. einer umfassenden Öffentlichkeit, so kann es in gleicher Person als Sender auch ein ebenso umfassendes Interesse an Geheimhaltung geben. Das Modell der Skalierung von Sicherheit erlaubt die Formulierung dieser Interessen und ihre Offenlegung. Die basale Funktion der Medien als Agenturen der Öffentlichkeit ist auch auf diese selber anzuwenden. Eine nicht angepasste Sicherheitsforderung führt zu einer Entmedialisierung der Neuen Medien. Wenn es richtig ist, dass das Werkzeug stets auch am Gedanken mitarbeitet - so führt eine solche Entmedialisierung zu einer Einschränkung unserer Wahrnehmung. Von einem höchstgesicherten Rechner hat keiner einen Nutzen mehr; als Rechenautomat redet er im Netzwerk nur noch mit sich selber. Als Medium aber dient er Nutzern in unterschiedlichen Rollen, mindestens zweien, regelmäßig vielen und im besten Falle allen, eben der Öffentlichkeit. Die Reduktion des neuen Mediums auf seinen reinen Instrumentalcharakter, auf die „Maschine“, mag zwar der Wunschtraum der Sicherheitstechnik sein, für die Öffentlichkeit ist sie eher ein Albtraum. Die gegenwärtigen Datenskandale, über die in der Presse weinerlich und aufgebracht berichtet wird, haben insofern auch einen Nutzen, als sie in der breiten Öffentlichkeit ein vages Bewusstsein dafür schaffen, was ein Medium ist: Es soll Öffentlichkeit herstellen, ist also konstitutiv für die Frage nach der Computersicherheit selber. Werden Skandale durch die Presse aufgedeckt, Sicherheitslücken öffentlich gemacht, so ist dies das gute alte Recht der Medien. Das alte Medium entdeckt sich selbst im neuen Medium. Nicht selten erlebt man dabei den Plot eines uralten Chaplin-Films: Sein Titel ist „The Kid“. Hier schmeißt der kleine Taugenichts die Fenster ein, die der ihm folgende Tramp dann gleich wieder in zweifelhafter Weise repariert. Solche Medienbilder prägen sich ein; sie sind aufklärend und zeigen in romantisierender Weise ein manifestes Sicherheitsrisiko an. Sie können aber auch durchaus mehr sagen über die Natur des Mediums als tausend wissenschaftliche Untersuchungen.
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Literatur Hermann, Iris/ Jäger-Gogoll, Anne Maximiliane (Hrsg.) (2008): Durchquerungen. Für Ralf Schnell zum 65. Geburtstag. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Rusch, Gebhard/Schanze, Helmut/Schwering, Gregor (2008): Theorien der Neuen Medien. Kino – Fernsehen – Radio – Computer. München: Fink-Verlag. Schanze, Helmut (2008): Mediale Ketten-Reaktionen. Anmerkungen zum Thema „Medientheorien im Umbruch“. In: Hermann 2008, S. 245-256.
VII. Medienanalyse
Mediengeschichte fängt bei Adam und Eva an Cordula Günther „Die Historiker und Archäologen werden eines Tages entdecken, dass die Werbung unserer Zeit die einfallsreichsten und tiefsten täglichen Betrachtungen darstellt, die eine Kultur je über ihr ganzes Tun und Lassen angestellt hat.“ (McLuhan 1994: 355)
In diesem Beitrag zur Mediengeschichte geht es nicht darum, die mündliche Kommunikation zwischen Gott und Adam oder zwischen der Schlange und Eva im Kapitel „Der Sündenfall“ des Ersten Buches Mose zu untersuchen, obwohl dies nicht ohne Reiz wäre. Der Gegenstand dieses Beitrags sind Medieninhalte 1 und ihre Überlieferung, die neben den Medien selbst einen ganz wesentlichen Teil der Mediengeschichte ausmachen. Mediengeschichte ist immer auch Programm- und Produktgeschichte und damit eine Geschichte von Inhalten (Hickethier 2003: 353-355). Die Tradierung von Medieninhalten und ihre Adaption in aktuellen Medienproduktionen soll an Beispielen aus der Werbung und ihrem Rückgriff auf überlieferte Stoffe und Themen, vor allem aus der Bildgeschichte, exemplarisch thematisiert werden. Dazu ist zunächst ein kleiner Exkurs in Sachen Medium versus Botschaft bzw. Medium versus Inhalt nötig. In den letzten Jahren wurde dem Aspekt der Medialität (Hickethier)2 auch im Rahmen der Mediengeschichtsschreibung besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil der Gedanke, dass Inhalte an Medien gebunden sind und in unterschiedlicher Medialität überliefert werden können, in einigen Disziplinen erst etabliert werden musste. Seit McLuhans vielzitiertem Satz „Das Medium ist die 1
2
Vgl. den Begriff „Inhalt (content)“ im Metzler Lexikon „Medientheorie, Medienwissenschaft“, der einmal auf die herkömmliche Trennung zwischen Inhalt und Form eingeht, gleichzeitig aber die content-Produktion für Online- Medien umfasst und deshalb „seine gegenwärtige Karriere“ erlebt (Schanze 2002: 149-150). Der Begriff „Medialität“ wird von Knut Hickethier verwendet, um die „spezifischen medialen (ästhetischen) Eigenschaften“ von Medien zu charakterisieren (Hickethier 2003: 25) bzw. „als das typisch genommenen Set von Eigenschaften, das für einzelne Medien als konstitutiv angesehen wird“. (ebd: 26) Medialität existiert auch medienübergreifend, z. B. als Oralität, Audiovisualität usw. Die jeweiligen typischen medialen Eigenschaften werden „durch die Technik des Mediums erzeugt“ (ebd: 29).
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Botschaft.“ (McLuhan 1994: S. 21) war dieser Gedanke zwar in der Welt, aber in geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie der Germanistik und anderen Literaturwissenschaften durchaus nicht selbstverständlich. Hier dominierten und dominieren Stoffe, Themen, Motive, eben „Inhalte“ gegenüber der Frage, in welchem Medium diese überliefert werden (vgl. Schöttker 1999: 15). Eine starke Konzentration auf die Überlieferung von Inhalten praktiziert die Ikonographie und Ikonologie3 in der Tradition von Aby Warburg und Erwin Panofsky, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts von der damals dominierenden Stilgeschichte absetzen wollte (vgl. Büttner/Gottdang 2006: 20, Müller 2003: 249-259). Die sich Ende des 20. Jahrhunderts etablierende medienübergreifende Bildwissenschaft knüpfte bewusst an die Traditionen von Warburg und Panofsky an, vor allem an Warburgs weitem Bildbegriff, der nicht nur künstlerische Bilder umfasste (vgl. Müller 2003: 249 und 259). Es kam zu einer Wiederentdeckung bzw. verspäteten (bedingt durch Emigration und Exil) Rezeption der Werke Panofskys und der von ihm begründeten Ikonologie. Sein Buch „Studies in Iconology“ (1939) hatte in den USA bereits zu einer weitreichenden Rezeption seines dreistufigen Interpretationsmodells für Werke der Bildenden Kunst geführt. Seine beiden Aufsätze „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der Bildenden Kunst“ (1932) sowie dessen Überarbeitung „Ikonographie und Ikonologie“ (1955) wurden auch im deutschsprachigen Raum seit den achtziger Jahren wieder gedruckt und verstärkt rezipiert und führten hier ebenfalls zu einer großen Popularität seiner Methode der Bildanalyse, auch außerhalb der Bildenden Kunst (vgl. Panofsky 2006: 62; Büttner/Gottdang 2006: 20). Das Dreistufen-Modell der Bildanalyse wird auch für die Analyse von Werbung erfolgreich angewendet (vgl. Müller 2003: 33-34; Buschmann/Pirner 2003: 255-58). Das Vorgehen in den drei bekannten Analyseschritten (vor-ikonographische Beschreibung, ikonographische Analyse und ikonologische Interpretation) kann mittlerweile als Konsens der Bildinterpretation angesehen werden (vgl. auch Büttner/Gottdang 2006: 20-22). Die Orientierung an Panofsky bringt es mit sich, 3
In ihren „Grundlagen der visuellen Kommunikation“ versteht Marion Müller „Ikonografie“ als „Lehre von den Bildgehalten“ und sieht ihre Stärke im „universellen Motivvergleich“ (Müller 2003: 249 und 252) und „Ikonologie“ – in Bezug auf Panofsky - als Interpretationslehre im Unterschied zur rein beschreibenden „Ikonografie“ (ebd: 257). Bei Büttner/Gottdang 2006 wird „Ikonographie“ als „Lehre von den Bildinhalten“ bezeichnet, „Ikonologie“ als Methode, „das Kunstwerk als Symbol weltanschaulicher Vorstellungen zu interpretieren“ (Büttner/Gottdang 2006: 13). Aufschlussreich ist auch die Bestimmung von Martin Warnke auf den Internetseiten des Warburgarchivs: „Ikonographie", ursprünglich ein Begriff der Altertumswissenschaften für die vergleichende Beschreibung von Bildnissen, meint heute in der Regel die Aufzeichnung von Themen- oder Motivtraditionen.“ (Stand 1.4.2009)
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bei der Interpretation von Bildern jeglicher Art auf die Typen- und Motivgeschichte zurückzugreifen (vgl. die 2. Stufe in Panowskys Analysemodell, die den „Bedeutungssinn“ aufdecken will und dazu auf „literarisches Wissen“ zurückgreifen muss). Es geht hier um eine „Überlieferungsgeschichte“ als „Typengeschichte“ (Vgl. Panowsky 2006: 24-25, 29; Müller 2003: 34, 42-43; Büttner/Gottdang 2006: 21-22). Hier steht jedoch nicht der mediale Aspekt der Überlieferung im Vordergrund, sondern die Tradierung von Stoffen, Themen und Motiven. Die Rezeptionsgeschichte eines Stoffes oder Motivs wird mit in den Horizont möglicher Bedeutungszuweisungen aufgenommen. „Die Ikonographie fragt deswegen immer auch nach dem Stoff und seiner Überlieferungsgeschichte, nach den literarischen Quellen.“ (Büttner/Gottdang 2006: 19) Bei der Produktion von aktuellen Medieninhalten wird gern und häufig auf bereits vorhandene Medienprodukte bzw. auf überlieferte Inhalte und Motive zurück gegriffen. Für den Bereich der Werbung ist dies mehrfach untersucht und nachgewiesen worden. Werbebilder leben von Anleihen in der Bildenden Kunst, gleichgültig ob sie als Print-, Fernseh- oder Online-Werbung daherkommen (vgl. Bickelhaupt 2005). Sie bedienen sich tradierter Inhalte, Motive oder Stilmittel. Für die Verwendung von religiösen Motiven in der Werbung existiert mittlerweile eine ganze Forschungsdisziplin, die allerdings nicht von medienwissenschaftlicher, sondern von religionswissenschaftlicher bzw. religionspädagogischer Seite betrieben wird.4 Natürlich ist der Gedanke nicht neu, dass die gesamte europäische Kultur vielfältige Bezüge zur christlichen Religion aufweist und ohne diese nicht denkbar wäre. Neu ist, dass es für Teilbereiche der gegenwärtigen Medienproduktion wie der Werbung detaillierte Untersuchungen dazu gibt. Mehr noch als bei der Begegnung von Werbung und Bildender Kunst, treten bei der Synthese von Werbung und Religion Sphären miteinander in Beziehung, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Religiöses und Weltliches, Heiliges und Profanes, Glaube und Konsum – „Glauben & Kaufen“ wie die Online-Sammlung religiöser Motive in der Werbung benannt ist, die von den Religionspädagogen Andreas Fuchs und Hagen Horoba unterhalten wird (Fuchs/Horoba 2008).
4
Stellvertretend seien hier die Publikationen von Gerd Buschmann genannt: (Stand 1.4.2009), die Datenbank zu religiösen Motiven in der Werbung glauben + kaufen (Stand: 1.4.2009) sowie die Vereinigung Akpop (Stand: 1.4 2009).
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„BILD“ im Paradies Im Frühjahr 2008 verwendete die „BILD“ ein Adam und Eva - Motiv im Rahmen einer Werbekampagne, die Teil der Imagekampagnen „BILD Dir Deine Meinung“ ist. Insgesamt wurden fünf Bildmotive für eine Plakatserie verwendet, die alle mit dem Slogan? „BILD informiert. Leider erst seit 1952“. warben.5 Alle Plakat-Motive basieren auf historischen überlieferten (Bild)-Motiven bzw. ihnen zugrunde liegenden wirklichen oder fiktiven Ereignissen und folgen einem gemeinsamen, allerdings vom Betrachter zu vollendenden Skript: „BILD“ hätte Unheil verhindern und damit den Gang der Weltgeschichte beeinflussen, ja verändern können, hätte „BILD“ schon damals informiert (und nicht erst seit 1952). Jedes Skript gipfelt in einer Pointe, die zunächst auf der einfachen Kombination von „BILD“ und entsprechendem historischem Ereignis funktioniert („BILD“ bei den Dinosauriern, „BILD“ bei Adam und Eva im Paradies usw.) und damit nahelegt, dass der Anspruch, „BILD“ hätte den Lauf der Weltgeschichte ändern können, nicht ganz ernst gemeint ist. Die Plakat-Motive sorgen so für Aufmerksamkeit, Überraschung und eine Pointe, die zum Lachen bringt. Die originelle Idee und Umsetzung der Kampagne stammt von der Werbeagentur Jung von Matt, die die Kampagnen für „BILD“ betreut (Jung von Matt 2009). Abbildung 1:
5
Plakatmotiv der BILD-Werbekagnagne 2008.
Die anderen Motive: „Meteorit kommt!“ (Saurier), „Vorsicht Falle!“ (Trojanisches Pferd), „Das ist nicht Indien!“ (Landung von Columbus), „Achtung, Eisberg!“ (Titanic) (Stand: 1.4.2009)
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Auf die ausführliche Analyse des Werbeplakates nach Panofsky bzw. Marion Müller in drei Schritten muss an dieser Stelle verzichtet werden. Alle folgenden Aussagen gehören bereits in die Phasen zwei und drei (ikonographische Analyse und ikonologische Interpretation).6 Dadurch sind bereits Bedeutungszuweisungen aufgrund von motivgeschichtlichen Recherchen möglich und das Motiv kann nicht mehr als die Darstellung zweier nackter Menschen angesehen werden. Das Plakat greift auf eine historische Gemäldevorlage zurück. Dies ist bereits auf der Beschreibungsebene an den in der Reproduktion deutlich sichtbaren Farbrissen zu erkennen, bevor das verwendete Gemälde identifiziert wird. Das Plakat verwendet einen Gemäldeausschnitt von Lucas Cranach d.Ä. Dabei handelt es sich um eine der zahlreichen künstlerischen Darstellungen des „Sündenfalls“ aus der biblischen Geschichte. Um das Bedeutungs- und Wirkungspotential des Werbemotivs der Bildzeitung auszuloten, ist eine Einbeziehung der bild- und der textgeschichtlichen Quellen nötig. Das Kapitel 3 aus dem 1. Buch Mose (Genesis) mit der Überschrift „Der Sündenfall“ bzw. „Der Sündenfall und seine Folgen“ umfasst die Geschichte der Verführung Evas durch die Schlange, das Kosten der verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis, den Zorn Gottes mit der Konsequenz der Vertreibung Adams und Evas aus dem Garten Eden 1. Buch Mose, Kapitel 3). Die Verwendung dieses Stoffes sowie des konkreten Bildmotivs lässt eine Vielzahl von Bedeutungen zu: Die Verführung, den Verstoß gegen das Gebot Gottes, die Deutung als erotisches Motiv7, die Vertreibung aus dem Garten Eden u. a. Welche Bedeutungskomponenten sich im konkreten Fall der Adaption des „Sündenfall“ - Motivs anbieten, kann nur die Gesamtanalyse des Werbeplakates erbringen. Dazu sind die Bild- und Textteile und das konkrete Text-BildVerhältnis einzubeziehen. Texte in Werbebildern haben die Funktion, die Bildbedeutungen zu konkretisieren (Schierl 2001: 240). Schierl spricht von einem „Schnelldialog HeadlineBild“ (ebd: 250). Die Headline „Nicht essen!“ richtet die Aufmerksamkeit auf die Übergabe des Apfels und hebt somit einen bestimmten Aspekt des Bildes hervor. Dadurch wird die Wahrnehmung gelenkt (vgl. die „selegierende Funktion von Text“ ebd: 240-41). Eine andere Headline hätte die Wahrnehmung in andere Bahnen gelenkt, etwa auf die Schlange, die bedeckte Scham oder andere Aspekte des Bildes). Der Text übernimmt hier aber auch die Funktion, die Wahrnehmung von vornherein in strukturierte, das heißt hypothesengeleitete Bahnen zu lenken. Es erfolgt eine aktive Wahrnehmung des Bildes bzw. des 6 7
Die ausführlich Beschreibungs-, Analyse- und Interpretationsarbeit wurde im BA-Seminar Medienanalyse im SS 2008 mit Studierenden durchgeführt. Diese Vorarbeiten liegen den folgenden Aussagen zur Interpretation zugrunde. Die Deutung des „Sündenfalls“ als erotisches Motiv tauchte in der Bildenden Kunst erst in der Renaissance auf nach 1500. Kirschbaum 1994, S. 61.
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gesamten Plakates unter einer bestimmten Auslegungshypothese (ebd: 242-246). Dazu ist im vorliegenden Beispiel das Text-Bild-Verhältnis weiter zu konkretisieren. Die Headline ist hier als eine (fiktive) Information für Adam und Eva zu verstehen, die sie vor dem Genuss des Apfels warnt. Diese Bedeutung ergibt sich durch die Kombination mit dem Fließtext, der das Produkt „BILD“ als Informationsmedium vorstellt: „BILD informiert. Leider erst seit 1952“. Aus dem konkreten Text- Bild-Verhältnis entsteht so eine Kombination aus Gegenwart und Vergangenheit, realer und fiktiver Warnung, Überlieferungsgeschichte und fiktiver Änderung der Überlieferungsgeschichte. Das Text-Bild-Verhältnis ist wie ein Rätsel gestaltet (vgl. ebd: 251-253). Der Betrachter muss sich die Frage stellen: „Wieso?“ Wieso sollen die beiden den Apfel nicht essen und wieso warnt „BILD“ leider erst seit 1952? Hier ist eine aktive Rezeption und Verarbeitung nötig, um dieses Rätsel zu lösen. Der Betrachter muss sich auf ein Gedankenexperiment einlassen, er muss eine „Was –wäre – wenn – Geschichte“ konstruieren, wenn er das „Rätsel“ lösen und das Plakat verstehen will. Er muss die Geschichte vollenden. Wenn BILD Adam & Eva damals informiert hätte, hätten sie den Apfel nicht gegessen.Wenn Adam und Eva damals BILD gelesen hätten, hätten sie den Apfel nicht gegessen. So oder ähnlich muss der Betrachter das Gedankenexperiment vollenden. Diese Lösung ist eng an die Aufforderung „Nicht essen!“ angelehnt. Es wird schnell klar, dass diese Auflösung „Sie hätten den Apfel nicht gegessen“ nicht ausreicht, um das „Rätsel“ wirklich zu lösen und das Plakatmotiv zu verstehen. „Ja, und?“, könnte man fragen. Was wäre dann gewesen oder was wäre anders gewesen, wenn sie den Apfel nicht gegessen hätten? Um zu verstehen, warum sie den Apfel nicht hätten essen sollen, müssen dem Betrachter die Konsequenzen dieser Handlung oder zumindest eine Konsequenz wenigstens vage bekannt sein. Von einem hohen Bekanntheitsgrad der Geschichte von Adam und Eva kann ausgegangen werden aufgrund zahlreicher künstlerischer, populärer oder religionspädagogischer Überlieferungen des Stoffes.8 Der Sündenfall ist das bedeutendste Bildthema des Adam und Eva-Zyklus (vgl. Kirschbaum 1994/2004: 54). Das Text-Bild-Verhältnis leistet eine weitere Aktivierung des Rezipienten: Er muss das Gedankenexperiment und die „Was – wäre – gewesen – wenn – Geschichte“ fortsetzen. Dazu benötigt er ein Minimum an Wissen über die Geschichte von Adam und Eva.
8
„Die Geschichte von den Ureltern und ihrem Sündenfall ist so bekannt, dass selbst ein Betrachter, der keine religiöse Erziehung erhalten hat, die beiden Menschen …. Als Adam und Eva erkennt. … Gemessen an der Fülle des in der bildenden Kunst jemals Dargestellten, gelingt die einfache, scheinbar unmittelbare Bestimmung nur noch bei wenigen Themen.“ (Büttner/Gottdang 2006: 15)
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„Der Bildtitel ‚Sündenfall‘ lässt sich noch schnell vergeben, aber zur weiteren Interpretation müssten die Vorgeschichte, der genaue Tathergang und die Chronologie der Ereignisse berücksichtigt werden.“ (Büttner/Gottdang 2003: 16)
Die Biblische Erzählung von Adam und Eva umfasst eine Vielzahl von Konsequenzen des Essens vom Baum der Erkenntnis und damit ein breites Spektrum möglicher Bedeutungen für den Fall, Adam und Eva hätten nicht die verbotenen Früchte gekostet. Bedenkt man, welche Konsequenzen nicht eingetreten wären, ergibt sich folgende Auflistung und Fortsetzung: Wenn Adam & Eva BILD gelesen hätten, hätte Eva nicht auf die Schlange gehört hätten sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis nicht gegessen hätten sie nicht gegen das Gebot Gottes verstoßen hätten sie nicht ihre Nacktheit bemerkt hätten sie ihre Nacktheit nicht mit Blättern bedeckt hätten sie nicht zwischen gut und böse unterscheiden können wären sie nicht gottgleich geworden hätten sie sich nicht den Zorn Gottes zugezogen wären sie nicht von Gott bestraft worden (müsste Eva nicht unter Schmerzen gebären und Adam nicht im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen) müsste Adam nicht das Feld bebauen wären sie nicht sterblich geworden müssten sie nicht wieder zu Erde werden wären sie nicht aus dem Garten Eden verwiesen worden. Welche dieser Bedeutungskomponenten zur Vollendung der „Was – wäre –wenn – Geschichte“ vom Rezipienten herangezogen wird, kann letztlich nur eine Rezeptions- und Wirkungsstudie erbringen. Eine solche Untersuchung liegt für das Plakatmotiv nicht vor. Unter den Konsequenzen der Handlung gibt es bekanntere und unbekanntere Sachverhalte. Dies hängt u. a. zusammen mit der Vorliebe der bildenden Kunst für bestimmte Motive aus der Adam und Eva-Geschichte und ihrem unterschiedlichen Popularisierungsgrad (die Erschaffung Evas und der „Sündenfall“ gehören zu den meistdargestellten Motiven, die Vorgänge danach sowie die Vertreibung aus dem Paradies wurden weniger häufig dargestellt (vgl. Kirschbaum 1994/2004: 51, 54). Das konkrete Text-Bildverhältnis im Plakatmotiv lässt außerdem Aussagen darüber zu, welche Konsequenzen wahrscheinlicher aufgerufen werden als andere. Die Warnung „Nicht essen!“ legt nahe, dass es sich hier um eine Warnung vor ausgesprochen negativen Konsequenzen handeln muss. Dadurch scheiden
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alle Erkenntniskomponenten eigentlich aus, denn sie sind nicht eindeutig negativ. Andere sind für sich allein genommen zu schwach und würden eine solche Warnung ebenfalls nicht ausreichend rechtfertigen (z. B. das Bemerken der Nacktheit und das Bedecken mit Blättern). Als letzte und gleichzeitig negativste Konsequenz (die auch einen hohen Popularisierungsgrad erlangt hat) muss die Vertreibung aus dem Garten Eden bzw. dem Paradies gelten. Sie rechtfertigt die Warnung vor einer Katastrophe. So ergibt sich eine Auflösung des Rätsels bzw. eine Fortsetzung der „Was wäre wenn – Geschichte“, die wie folgt umschrieben werden kann: „Hätten Adam und Eva ‚BILD‘ gelesen, hätten sie den Apfel nicht gegessen und wären nicht aus dem Paradies vertrieben worden.“ Oder: „Hätte die ‚BILD‘ Adam und Eva informiert, hätten sie den Apfel nicht gegessen und würden heute noch im Paradies leben.“ Da Adam und Eva die Stammeltern der Menschheit sind, könnte der Satz auch lauten: „Hätte die ‚BILD‘ Adam und Eva informiert, hätten sie den Apfel nicht gegessen und die Menschheit würde heute noch im Paradies leben.“Hier schwingen weitere Bedeutungskomponenten mit. Die Vertreibung aus dem Paradies bedeutet auch lebenslange Arbeit, Gebären unter Schmerz und Sterblichkeit. Für (unfreiwillige?) Komik sorgt eine subversive Lesart des Plakat-Motivs: „Hätten Adam und Eva ‚BILD‘ gelesen und den Apfel nicht gegessen, wären ihnen nicht ‚die Augen aufgetan‘ worden, sie wären nicht geworden wie Gott und hätten auch nicht gewusst, was gut und böse ist. Es wäre also verhindert worden, dass Erkenntnis in der Welt ist.“ Damit warnt die „BILD“-Zeitung quasi vor sich selbst: Wenn man „BILD“ liest, kommt auch keine Erkenntnis in die Welt. Adam und Eva „underdressed“ Während das Plakatmotiv der „BILD“-Kampagne mit den Folgen des „Sündenfalls“ und seiner fiktiven Verhinderung spielt, geht das Werbemotiv für „Otto Kern Fragrances“ von 2007 ganz anders vor. Auch hier wird der Adam und EvaStoff und das „Sündenfall“-Motiv verwendet, allerdings in einer Version, in der für die Bild-Inszenierung moderne Menschen posieren. Das Werbemotiv irritiert dadurch, dass die Bildtechnik nicht schnell und eindeutig festlegbar ist: Handelt es sich um ein Werbefoto im Stil eines alten Gemäldes mit einem zeitgenössischen Menschenpaar oder handelt es sich um eine fotografierte Malerei im Stil des Fotorealismus? Die beiden nackten Körper sind so makellos, dass sie künstlich und „wie gemalt“ wirken. Vor dem Hintergrund in verwaschenen Farben heben sie sich scharf und deutlich ab, sodass der Eindruck entsteht, sie seien in die Landschaft hineingestellt bzw. sie posieren vor einer Landschaftskulisse.
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Abbildung 2:
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Werbemotiv für „Otto Kern Fragrances“ von 2007.
Die Übergabe des Apfels stellt den zentralen Punkt des Bildes dar und weist gleichzeitig die größte Dynamik der an sich sehr statisch wirkenden Bildkomposition auf. Auch dieses Bildmotiv ist vom Betrachter leicht als Adam und EvaMotiv bzw. „Sündenfall“-Motiv identifizierbar. Obwohl das Foto im Stil eines alten Gemäldes arrangiert ist, ist es für den Betrachter des Werbemotivs nicht zwingend herauszufinden, ob ein wirkliches Gemälde „Pate“ gestanden hat für diese Bildidee. Der Gemäldeeindruck dürfte bereits aufgrund der Komposition und des perspektivischen Hintergrunds im Stil einer Landschaftsmalerei der Renaissance entstehen. Auch hier wurde auf Darstellungen von Adam und Eva in der bildenden Kunst zurückgegriffen. Die Werbeinszenierung folgt Gemälden von Lucas Cranach d. Ä. in der Gesamtkomposition und in Details wie beispielsweise Körperhaltung und wehende Haare.9 Auch in diesem Werbemotiv kann die Bedeutungszuweisung und Interpretation nur im Zusammenwirken der Bild- und Textelemente erfolgen. Die Konkretisierung der Bildbedeutung erfolgt durch den 9
Von den drei in Frage kommenden Umsetzungen des Themas bei Cranach d. Ä. sind die stärksten Anlehnungen an das Gemälde von 1531 sowie an eine Darstellung von Adam und Evas ohne Jahresangabe auszumachen (vgl. Maser 2006: 82-83).
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Slogan „Never underdressed.“, der als Kommentierung aufgefasst werden kann und gleichzeitig als Behauptung die Bildrezeption strukturiert und eine Auffassung vorgibt, wie das Bild wahrzunehmen ist. „Never underdressed.“ ist auch Teil der Produktvorstellung „Otto Kern Fragrances“. Mit diesem Duft ist man „Never underdressed.“ Damit werden Wahrnehmung und Interpretation sehr stark auf die Nacktheit bzw. auf das Beheben der Nacktheit orientiert. Eine zweite Bedeutungsebene kommt dadurch ins Spiel, dass die Apfelübergabe von der Linienführung her Zentrum des Bildes ist. Die Apfelübergabe wird in der Regel gedeutet als zentrales Element der Verführung. In diesem „Verführungsskript“ fehlt auffälligerweise die Schlange. Bei den Studierenden, die sich mit dieser Bildinterpretation beschäftigt haben, herrschte Einigkeit darüber, dass das Parfum – mit Hilfe der beiden Flakons vor dem Baumstamm ins Bild gesetzt – die Funktion der Schlange und damit der Verführung übernimmt. Das Skript „Nacktheit – Bedecken bzw. Beheben von Nacktheit“ wurde trotzdem als stärker angesehen als das „Verführungsskript“. Diese Auffassung wird gestützt durch die Pressemitteilung der verantwortlichen Agentur „permanent Wirtschaftsförderung“: „Das Motiv basiert auf einem Grundversprechen eines Parfums: Stil zu tragen auch wenn man keinen Faden Stoff am Leibe hat: Never underdressed. Als Motiv wählte die Agentur das Urbild der Nacktheit, Adam und Eva. Für die Idee konnte der in Paris arbeitende Fotograf Thomas Rusch gewonnen werden.“ (openPR 2007)
Es liegt auf der Hand, dass bei der Wahrnehmung und dem Verstehen dieses Werbemotivs ganz andere Elemente des Adam und Eva-Stoffes bzw. des „Sündenfall“-Motivs vom Betrachter aktiviert werden müssen als beim Werbeplakat der „BILD“-Zeitung. Im Werbemotiv gibt es wieder zahlreiche Skriptoppositionen, z. B. von Gegenwart und Vergangenheit, heutigen Akteuren und Akteuren einer Überlieferungsgeschichte, weltlichen und religiösen Bedeutungskomponenten. Bleibt man auf einer Oberflächenebene der Bedeutung und bei einer gegenwartsbezogenen Lesart, dann sind Adam und Eva 2007 nicht nackt – nicht „underdressed“ – dank des Parfums von Otto Kern – ganz im Sinne der Agenturerklärung. Da es sich hier aber nicht nur um ein gegenwärtiges Menschenpaar handelt, sondern dieses Paar auch Referenzobjekt für die biblischen Figuren Adam und Eva darstellt, ergibt sich noch eine tiefere Bedeutungsebene: Es wird quasi unterstellt, dass auch Adam und Eva im Paradies „underdressed“ waren. Für die Nacktheit der Stammeltern den heutigen und weltlichen Begriff „underdressed“ zu wählen, ist eine Pointe, die wiederum auf einer Skriptopposition basiert und für Heiterkeit
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sorgt.10 Dieses Fluktuieren zwischen gegenwärtigen und vergangenen Bedeutungsschichten erzeugt Doppeldeutigkeiten für das gesamte Werbemotiv. Die Verschränkung der gegenwärtigen und vergangenen Bedeutungsebene erfolgt wie bereits dargestellt, über das Paar, das sowohl in die Gegenwart als auch in die biblische Geschichte gehört. Eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit entsteht weiterhin über den Transfer des Begriffes „underdressed“ und seine Anwendung auf die Nacktheit von Adam und Eva. Auch die „Aufhebung“ der Nacktheit ist ein Verbindungsstück zwischen Gegenwart und Überlieferungsgeschichte: In der Gegenwart durch das Parfum, das den scheinbar absurden Zustand herbeiführt, nackt und trotzdem „angezogen“ zu sein, in der biblischen Überlieferung durch das Bedecken der Scham mit Blättern, das einen ebenso doppeldeutigen Zustand von Nackt-Sein und Nicht-Nackt-Sein herbeiführt. Schließlich kommen noch die emotionalen Reaktionen ins Spiel, die der Zustand „underdressed“ zu sein bzw. die Nacktheit hervorrufen können und die überhaupt erst zu einem „Vermeidungsverhalten“ führen. Peinlichkeit, Scham und eventuell sogar Furcht vor sozialer Ausgrenzung sind Gefühle, die mit der sozialen Unangemessenheit, „underdressed“ zu sein, einhergehen können. Das dargestellte Paar lässt keine Peinlichkeit und Scham erkennen. Das muss es auch nicht, denn dank des Parfums ist es ja nicht „underdressed“. Über das Gefühl der Scham wird deutlich, welches Handlungsskript aus der komplexen „Sündenfall“ - Geschichte in diesem Werbemotiv aktiviert wird: Adam und Eva bemerken, dass sie nackt sind (nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben) und sie „flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürze“ (1. Mose.2,25) 2,25). Das Gefühl der Scham wird in den textlichen Überlieferungen zwar nicht wörtlich benannt, es ist aber die Voraussetzung für die Handlung, sich mit Blättern zu bedecken und sich vor Gott zu verbergen.11 Die Rezeption und das Verstehen dieses Werbemotivs erfordert – trotz seiner Raffiniertheit in der Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit – vom Betrachter weniger Aktivierung der Überlieferungsgeschichte als das „BILD“Motiv. Beim „BILD“-Motiv mussten Konsequenzen des „Sündenfalls“ bekannt 10 11
Pointen und Komik entstehen bei der Verwendung religiöser Motive in der Werbung in der Regel durch die sogenannte Skriptopposition in der Konfrontation religiöser und weltlicher Sachverhalte (vgl. Buschmann/Pirner 2003: 56). Dass Scham die Voraussetzung für das Bedecken mit Blättern ist, liegt auch den kunstgeschichtlichen Interpretationen zugrunde, die in der Regel vom „Bedecken der Scham“ sprechen. Das Bedecken der Scham erfolgt nach den textlichen Überlieferungen erst nach dem Essen der Frucht, in vielen Bildmotiven wird es aber bereits bei der Übergabe des Apfels verwendet. Kirschbaum begründet dies damit, dass in zahlreichen bildlichen Umsetzungen des „Sündenfalls“ diese Handlungsabfolgen zu einer zusammen gezogen werden (Kirschbaum 1994/2004: 63 ebenso Büttner/Gottdang 2006: 16). Die textlichen Überlieferungen des „Sündenfalls“ sprechen außerdem von der Furcht vor den Reaktionen Gottes auf die Nacktheit bzw. das Verbergen der Nacktheit. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden.
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sein, die im konkreten Werbebild gar nicht dargestellt sind. Das Motiv von Otto Kern liefert jedoch mit dem „Urbild der Nacktheit“ in der bildlichen Darstellung die Hauptbedeutungslinie oder die gegenwartsbezogene Lesart wie sie oben beschrieben wurde gleich mit. Selbst für ein tieferes Ausloten von Bedeutungen durch das Einbeziehen der Überlieferungsgeschichte wird das Inventar bildlich dargestellt durch das sprichwörtlich gewordene „Feigenblatt“ (auch wen es im konkreten Werbemotiv Blätter des Apfelbaumes sind, mit denen sich Adam und Eva bedecken). Dass Adam und Eva ihre Nacktheit mit Feigenblättern bedeckt haben, gehört zu den am häufigsten dargestellten sowie sprichwörtlich bekannt gewordenen Handlungsdetails des Adam und Eva-Stoffes. Selbst die Assoziationen zum Gefühl der Scham in der gegenwärtigen und der überlieferten Bedeutungsebene des Werbemotivs können auf alltagsweltliche Bedeutungen zurückgreifen. Dass Scham sowohl das Gefühl als auch den „Schambereich“ meinen kann, geht schließlich auch auf Adam und Eva zurück. Die Vertreibung aus dem Paradies ist nicht weniger sprichwörtlich bekannt, trotzdem erfordert das Motiv der „BILD“ eine stärkere Aktivierung des Betrachters, der die Geschichte mit Hilfe unterschiedlicher und im Werbemotiv nicht dargestellter Konsequenzen des „Sündenfalls“ vollenden muss. Es fällt auf, dass die aktuellen Werbemotive natürlich an die bekanntesten Bedeutungskomponenten des Adam und Eva-Stoffes und des „Sündenfalls“ anknüpfen. Gleichzeitig tragen sie damit zu ihrer weiteren Tradierung und somit wiederum zu einer Popularitätssteigerung der bekanntesten Skripts bei. „Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg!“ (Günther 2003). Dieser Satz gilt auch für die Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte des „Sündenfalls“. Medienangebote aus der aktuellen Werbegeschichte kommen nicht ohne überlieferte Stoffe und Motive aus, wie hier anhand des Adam und Eva-Stoffes und des „Sündenfalls“ gezeigt werden sollte. Zugleich wird die Überlieferungsgeschichte durch die modernen Adaptionen des Stoffes und des Motivs fortgeschrieben. Von theologischer und religionspädagogischer Seite wird dies durchaus begrüßt und nur in wenigen Fällen als „Trivialisierung und Entleerung“ religiöser Symbole oder unter dem Aspekt Konsum als „Ersatzreligion“ gesehen (Pirner 2003: 61). „Religiöse Symbole behalten auch in der Werbung häufig eine gewisse Eigenständigkeit. In diesem Fall wirbt Werbung nicht nur für ein Produkt sondern zugleich auch für religiöse oder humane Werte und trägt so zu deren Weitertradierung bei (Dialektik der Werbung)“ bei. (ebd: 66) Pirner spricht sogar von einer „Verlagerung der religiösen Sozialisation“ (ebd: 60) bzw. von einer „religionspädagogische Vermittlungsarbeit“ durch Werbung (ebd: 61). Nicht nur die Werbung generiert Aufmerksamkeit durch religiöse Motive, sondern auch religiöse Inhalte und Themen erlangen neue Aufmerksamkeit
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durch Werbung. Dies wird nach Pirner durch „Verfremdung“ im Brechtschen Sinne geleistet: „Gerade die Herauslösung religiöser Symbole aus ihrem ursprünglichen religiösen, traditionellen oder kirchlichen Zusammenhang und ihre Aufnahme in den ‚fremden‘ unerwarteten Bereich der Werbung könnte neue Aufmerksamkeit für sie wecken, könnte vielleicht auch neue Bedeutungsaspekte freilegen.“ (ebd: 68) Ein Fazit aus medienwissenschaftlicher Perspektive: Auch wenn bei der Tradierung von Stoffen und Motiven (scheinbar) nicht das Medium die Botschaft ist, bewahrheitet sich doch die Weiterführung dieses Gedankens von McLuhan: „ … dass der ‚Inhalt‘ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist.“ (McLuhan 1994, S. 22) Literatur Bickelhaupt, Thomas (2005): Kunst für’s Volk. Kunstgeschichtliche Zitate in der Werbung der Printmedien. München: Verlag C. H. Beck Bickelhaupt, Thomas/Gerd Buschmann (2003): Die verzückte Nonne. Religiöse Symbolik in Werbung und Kunstgeschichte. In: Buschmann/Pirner (2003): 97-109 Büttner, Frank/Gottdang, Andrea (2006): Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten. München: Verlag C. H. Beck Buschmann, Gerd/Pirner, Manfred L. (2003): Werbung, Religion, Bildung. Kulturhermeneutische, theologische, medienpädagogische und religionspädagogische Perspektiven. Frankfurt a. M.: Verlag Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik Günther, Cordula (2003): Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg“ – Literarischer Erfolg und Mediensystem. In: Binas, Susanne (2003): Erfolgreiche Künstlerinnen. Essen: Klartext Verlag Hickethier, Knut (2003): Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler Kirschbaum, Engelbert (1994/2004: Lexikon der christlichen Ikonographie. Freiburg: Herder-Verlag McLuhan, Marshall (1994): Die magischen Kanäle. Understanding media. Dresden: Verlag der Kunst Müller, Marion (2003): Grundlagen der visuellen Kommunikation. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH (UTB) Panofsky, Erwin (2006): Ikonographie & Ikonologie. Köln: DuMont Literatur und KunstVerlag Panofsky, Erwin (1932/2006): Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung vonWerken der bildenden Kunst. In: Panofsky 2006,: 5-32 Pirner, Manfred L. (2003): „Nie waren sie so wertvoll wie heute“. Religiöse Symbole in der Werbung als religionspädagogische Herausforderung. Sieben Thesen. In: Buschmann/Pirner 2003: 55- 70
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Cordula Günther
Schanze, Helmut (2002) (Hrsg): Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft. Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler Schierl, Thomas (2001): Text und Bild in der Werbung. Bedingungen, Wirkungen und Anwendungen bei Anzeigen und Plakaten. Köln: Herbert von Halem Verlag Schöttker, Detlev (Hrsg.) (1999): Von der Stimme zum Internet. Texte aus der Geschichte der Medienanalyse. Göttingen. Vandenhoeck &Ruprecht. Schöttker, Detlev: Zur Geschichte der Medienanalyse. In: Ders. (Hrsg.) (1999): 11-32.
Online-Quellen: Arbeitskreis Populäre Kultur und Religion (Stand 30.1.2009) BILDblog. Notizen über eine große deutsche Boulevardzeitung (Stand 30.1.2009) Buschmann, Gerd: Veröffentlichungen (Stand 2.2.2009) Die Bibel. Lutherbibel von 1912. 1. Buch Mose, Kapitel 3. Der Sündenfall und dessen Folgen: (Stand 30.1.2009) Glauben + Kaufen. Religiöse Elemente in der Werbung. Fuchs, Andres/Horoba, Hagen: (Stand 30.1.2009) Maser, Larissa: Das käufliche Paradies <(http://www.gestaltung.hs-mannheim.de/ designwiki/files/322/paradies_teil2_larissamaser-1.pdf)> (Stand 2.2.2009) openPR Das offene PR-Portal <(http://openpr.de/news/80861/permanent-Wirtschafts foerderung-vergroessert-den-Verantwortungsbereich - Stand vom 17.01. 2008> (Stand 2.2.2009) SevenOne Intermedia GmbH 2009 (Stand 30.1.2009)
Abbildungen Abbildung 1: Plakatmotiv der BILD-Werbekagnagne 2008. Quelle: abfotografiertes Plakat, Foto: Sebastian Pfau Abbildung 2: Werbemotiv für „Otto Kern Fragrances“ von 2007. Quelle: http://www. cosmoty.de/news/856/ (Stand 2009-02-02)
Die alten Geschichten sind die Besten. Eine evolutionstheoretisch-inhaltsanalytisch vergleichende Untersuchung westlicher und indischer Erfolgsfilme. Matthias Uhl und Peter Hejl
Eine Inhaltsanalyse der erfolgreichsten westlichen und indischen Filme belegt, dass deren Handlungen nicht nur Resultate kultureller Entwicklungen und Wirkmechanismen sind, sondern ebenso evolutionär entstandene Stimuluspräferenzen bedienen. 100 Hollywood- und 50 Bollywoodfilme wurden mit Hilfe eines an evolutionspsychologischen Überlegungen ausgerichteten Analyserasters untersucht. Das Erfassen der handlungstreibenden strategischen Konflikte und Probleme, mit denen die Protagonisten umzugehen haben, zeigt, dass trotz der unterschiedlichen Dramaturgie und Inszenierung in beiden Filmkulturen die Rezipienten mit grundsätzlich gleichen Inhalten konfrontiert werden. Die anzutreffenden Unterschiede in der Häufigkeit und Gewichtung verschiedener Handlungselemente spiegeln dabei den kulturellen und sozialen Entstehungskontext wider. Das indische Kino zeigt dabei die Spuren einer stark auf die Familie ausgerichteten Gesellschaft, während Hollywoodproduktionen tendenziell individualistischere Interaktionsmuster bieten. Einleitung Dass der menschliche Umgang mit Medien inhaltlich durch evolutionär entstandene Mechanismen beeinflusst wird, ist ein relativ junger Gedanke. Die Evolution wird zumeist nur mit der körperlichen Beschaffenheit von Lebensformen in Zusammenhang gebracht und weniger mit deren kognitiver Ausstattung. Der evolutionären Psychologie gebührt der Verdienst, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Wirken biologischer Wurzeln im Verhalten heutiger Menschen in den letzten knapp zwei Jahrzehnten entscheidend vorangebracht zu haben (Barkow u. a. 1992; Buss, 2004 und 2005).
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Matthias Uhl und Peter Hejl
Eine evolutionäre Auseinandersetzung mit Medien schließt an die Untersuchung sprachlicher und nonverbaler Kommunikation an (Pinker 1998; Frey 1999; Ekmann 2004). Wie das gesprochene Wort erlauben technische Gerätschaften zur Konservierung und Distribution repräsentationaler Inhalte eine Weitergabe oder einen Austausch von Wissen und narrativen Strukturen. Jerome Barkow sprach im Buch „The adapted mind“, das gewissermaßen als Gründungsdokument der evolutionären Psychologie betrachtet werden kann, vom Klatsch als einer Inhaltskategorie, die überall und zu allen Zeiten die interpersonelle Kommunikation geprägt hat (Barkow 1992). Der Literaturwissenschaftler Joseph Carroll stellte nur wenige Jahre später fest „literatur itself is a biological phenomenon“ (Carroll 1995: 1; vgl. auch Eibl 2004; Gottschall/ Wilson 2005). Diese Aussage ist von besonderem Interesse, da es sich um eine Gattung von Kulturprodukten handelt, deren Inhalte fiktionaler Natur sind. Ein klassischer Homo ökonomikus, wie er dem Menschenbild nicht nur in der traditionellen Ökonomie entspricht, dürfte an derartigem stimulatorischen Input kein Interesse haben – der objektiv aufgewendeten Zeit und der damit nicht erbrachten anderweitigen Leistungen steht kein konkret zu benennender Nutzen entgegen. Untersuchungen unterschiedlichster Medienprodukte mit fiktionalen Inhalten zeigen jedoch, dass Menschen Geschichten in fast jeder Form schätzen, was bis zu suchtartigen Zuständen führen kann (Vorderer 1996, Zillmann/ Vorderer 2000). Eine Erklärung für diese Verhaltensweisen findet sich in dem von Clemens Schwender in seiner Untersuchung zum Zusammenhang von Medien und Emotionen entwickelten Konzept, demzufolge Medien als Attrappen wirken (Schwender, 2001; vgl. auch Schwab, 2004). Repräsentationale Stimuli aktivieren Verarbeitungs- und Bewertungsmechanismen, die für den Umgang mit realen d. h. handlungsrelevanten Stimuli ausgelegt sind (Hoffman 2003; Gregory 2001). Auch wenn es bewusst zu einer Unterscheidung von „natürlichen“ und „artifiziellen“ Reizen kommt, leiten die kognitiven Mechanismen des Menschen in beiden Fällen analoge Reaktionen ein (Reeves/ Nass 1996). Die emotionale Kraft, die von unterschiedlichsten medialen Angeboten ausgeht, ist ohne diese unbewusste Gleichbehandlung auf Grund automatischer Verarbeitungsmechanismen nicht zu erklären (Damasio 2004; Spitzer 2005). Die Konsequenz dieser Untersuchungen zum menschlichen Umgang mit medialen und nichtmedialen Stimuli ist, dass Homo sapiens wie seine nichthumanen Verwandten evolvierte Präferenzen bei der Stimulusselektion besitzt. So wie nicht alles, was Menschen kauen können, von Nutzen für den Stoffwechsel ist, so sind nicht alle Stimuli, die eine Umwelt bietet, gleichwertig in Bezug auf ihren potentiellen Nutzen für die Handlungsplanung. Die Aufnahme von Stimuli aus der Umwelt erfolgt – gleich der Nahrungsauswahl – nach strategischen Gesichtspunkten.
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Da es sich beim Menschen um eine hochsoziale Spezies handelt, in der das Individuum in einem komplizierten Kontext von Kooperation und Wettbewerb eingebunden ist, sind es vor allem unterschiedliche soziale Interaktionen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Einige der zentralen Probleme, die Menschen in ihrer wichtigsten Umwelt, der für sie sie relevanten Gruppe, lösen müssen, bestehen darin, Fragen zu beantworten wie: Mit wem kann ich kooperieren? Welche für mich relevanten Konkurrenzen, Feindschaften oder Allianzen bestehen in meiner Gruppe? Wer kann sich unter welchen Umständen auf die Hilfe von wem verlassen? Wer verfügt über welche Ressourcen? Wer ist bereit, Ressourcen für die Gruppe einzusetzen? Welche sexuellen Beziehungen bestehen innerhalb einer Gruppe? Derartige Informationen sind innerhalb einer Gruppe, die in einer Umwelt mit beschränkten Ressourcen lebt, von entscheidender Wichtigkeit für die Handlungsplanung und nicht zuletzt für die Reproduktionsmöglichkeiten eines Individuums (Dunbar 2000/ Waal 2006). Die beim Menschen zu beobachtende Stimulusselektion hat somit zumindest zum Teil ihre Wurzeln in informationellen Präferenzen. Diese Anpassungen sind darauf angelegt, die in ihrer Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit begrenzte kognitive Ressource Aufmerksamkeit vorrangig für strategisch relevante Vorgänge und Interaktionen in der Umwelt einzusetzen. Stammesgeschichtlich alte Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung wirken somit auch in heutigen Medienkulturen. Einen Actionfilm oder eine Seifenoper zu verfolgen geht nur in den seltensten Fällen mit einem klar definierbaren Nutzen einher. Das emotional positive Erleben dieser Medienprodukte ist der bewusst werdende Output phylogenetisch alter Urteilsmechanismen, die medial präsentierte Interaktionen als potentiell handlungsrelevant und deshalb als aufmerksamkeitswürdig klassifizieren. Die hierfür verantwortlichen Verarbeitungsvorgänge im Gehirn sind subkortikal angesiedelt und greifen durch die von ihnen generierte „gefühlte Wichtigkeit“ in Form von Spannung, Spaß oder Unterhaltung – aber auch Langeweile – massiv in das bewusste Erleben der Welt ein (Ramachandran 2002). Bezeichnend für die Verhaltensrelevanz dieser Mechanismen, die insgesamt im limbischen System lokalisiert sind, ist, dass diese mehr auf das bewussten Denken wirken als umgekehrt (Roth 2001). Der beste Beweis hierfür ist, dass Menschen nicht nach Belieben die emotional-involvierende Wirkung von Filmen an- oder abschalten können. Die Angst oder das ‚mulmige Gefühl‘ angesichts eines perversen Mörders auf der Leinwand verschwindet nicht durch die Einsicht, dass es sich lediglich um ein akustisch untermaltes Arrangement von bunten Lichtflecken auf einer weißen Oberfläche handelt (Schwab 2003). Weil derartige bedrohliche Taten bereits in der Umwelt unserer Vorfahren zu wichtig waren um sie zu ignorieren, lässt uns unser Gehirn keine Wahl. Im Kontext, in dem der Mensch und sein Gehirn zu dem wurden, was sie heute sind, gab es
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keine Stimuli, die von Kooperationen oder Konflikten ausgingen, die nicht Bestandteil der relevanten und damit realen Umwelt waren. (Auf den sozialen Umgang mit Träumen, Wahnvorstellungen etc., die in der menschlichen Evolution immer wichtig waren, wird hier nicht eingegangen, vgl. etwa auch Boyer 2001; Wilson 2003) Im Folgenden soll dieser Zusammenhang anhand eines Vergleichs von westlichen und indischen Erfolgsfilmen dargestellt werden. Es geht bei unserer Untersuchung also nicht um eine Beschäftigung mit der künstlerischen Qualität der verwendeten Filme, allerdings schon um ihre Ästhetik – wenn man ein breites Ästhetikverständnis voraussetzt. Da unseres Wissens ein vergleichbar umfangreiches Corpus nie analysiert worden ist und sowohl die Fragestellung als auch die quantitative Anlage sich nur teilweise auf Vorgängerarbeiten etwa aus dem Bereich der Inhaltsanalyse (vgl. z. B. Früh 2004) stützen kann, kommt unserer Untersuchung sicher Pioniercharakter zu; sie weist aber auch damit einhergehende Unzulänglichkeiten auf. Im Folgenden wird zunächst auf die Auswahl des Untersuchungsmaterials und auf das dafür entwickelte Analyseverfahren eingegangen. Im nächsten Schritt werden exemplarische Ergebnisse der noch nicht abgeschlossenen Auswertung vorgestellt. Abschließend werden diese Resultate im Kontext sowohl evolutionärer als auch medientheoretischer Überlegungen erörtert. Material und Untersuchungsmethode Aus wissenschaftlicher Sicht kann das Filmgeschäft als großes Experiment betrachtet werden. Einem heterogenen Publikum werden unterschiedliche audiovisuell aufbereitete Handlungen angeboten. Der resultierende wirtschaftliche Erfolg oder Misserfolg kann als Maß für die Attraktivität eines Films genommen werden. Selbstverständlich gibt es Faktoren, die modifizierend auf diesen Zusammenhang einwirken, wie zum Beispiel die Werbung. Die Vergangenheit hat allerdings gezeigt, dass auch der Einfluss von Marketingmaßnahmen begrenzt ist. Filme, die über ihre Veröffentlichung hinaus im Gespräch bleiben oder sogar zu Klassikern oder Kultfilmen aufsteigen, müssen als solche überzeugen. Um für eine Untersuchung die Effekte kurzzeitiger Moden und Trends zu minimieren bietet es sich an, Samples zu verwenden, die einen möglichst großen Zeitraum abdecken. Ideal hierfür sind Rankings der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, wobei diese Listen – um die neueren Filme nicht zu bevorzugen – inflationsbereinigt erstellt sein müssen. Um der Frage nach evolutionär bedingten Gemeinsamkeiten und kulturellen Unterschieden im Medium des Kinofilms nachzugehen, sollten die Vergleichs-
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samples von großen und voneinander möglichst unabhängigen Filmkulturen stammen. Sie sollten überdies weitgehend unter Marktbedingungen produzieren, da nur so, eine Orientierung an den Nutzerinteressen unterstellt werden kann. Die beiden größten Filmkulturen der Welt sind zum einen – was praktisch jedermann bekannt ist – Hollywood und zum anderen Bollywood, als Synonym für den auf den Massenmarkt zielenden indischen Hindifilm mit seiner Produktionsmetropole Mumbay (früher Bombay) (Uhl/ Kumar, 2004). Für unsere Untersuchung wählten wir die 100 erfolgreichsten Filme (mit zwei Ausnahmen) aus amerikanischer Produktion und 50 der erfolgreichsten indischen Filme aus im Internet zugänglichen Listen aus, die wir in Kooperation mit unserem indischen Kollegen Keval Kumar (Pune University) auf Adäquatheit bezüglich der genannten Kriterien prüften. Es sei angemerkt, dass dieses Forschungsprojekt begonnen wurde, bevor der erste Bollywoodfilm das deutsche Kino oder Fernsehen erreichte, was zu Beschaffungsproblemen führte. Hinzu kam die von den westlichen Filmen stark abweichende Länge der indischen Filme von drei bis dreieinhalb Stunden. Beide Faktoren erzwangen eine Limitierung dieses Teilsamples auf 50 Werke. Die Zusammenstellung der verwendeten Samples unterscheidet sich damit grundlegend von den in den Medien- und Filmwissenschaften gängigen Ansätzen, die zumeist Werke gleicher Regisseure, Schauspieler oder Genre betrachten oder Differenzen aus eben diesen Perspektiven herausarbeiten. Das Analyseraster entstand theoriegeleitet durch die Aufarbeitung von evolutionspsychologischen Standardwerken (Buss 2004 und 2005; Campbell 2002; Barett u. a. 2002) und Arbeiten zur Film- beziehungsweise Narrationsanalyse (Campbell 1999; Vogler 1999). Nach Probeanalysen entstand ein Fragebogen, der auf der obersten Ebene acht Handlungsfelder oder -elemente (Issues) unterscheidet: kinship, mate selection, friendship, status, group conflict, resources, danger und revenge. Durch die Kooperation mit unserem indischen Partner, K. Kumar (Pune University), aber auch mit J. Barkow (Dalhousie University) und G. Chapman (Lancaster University) wurde dieses Analysewerkzeug in englischer Sprache erstellt. Wir verwenden im Weiteren überwiegend die englischen Namen dieser narrativen Großbereiche. Zu jedem dieser Punkte wurde ein detaillierter Fragenkatalog mit bis zu vier hierarchischen Ebenen erarbeitet, dessen Einzelfragen jeweils mit ja oder nein zu beantworten waren. Insgesamt handelt es sich um 615 Fragen.
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Tabelle 1: Kurzdefinitionen der Issues (Handlungsfelder auf der obersten Analyseebene) Issue Kinship Mate selection Friendship Status Group conflict
Resources Danger Revenge
Definition Biologische Verwandtschaft – Vorhandensein von Menschen, die der gleichen Erblinie angehören Partnerwahl – das Finden eines Partners zum Eingehen einer implizit oder explizit langfristigen Bindung Freundschaft – nichtsexuelle positive emotionale Beziehungen zu nichtverwandten Menschen Der gesellschaftliche Status eines Menschen als Position in einem sozialen Gefüge, die er implizit oder explizit inne hat Das vom verbalen bis zum gewalttätigen Aufeinandertreffen reichende Spektrum von Auseinandersetzungen von Gruppen mit unterschiedlichen Angehörigen und unterschiedlichen Zielsetzungen, oft in Form von ethnisch-religiösen, sozio-ökonomischen oder nationalistischen Konflikten ausgetragen Erwerb, Verteilung oder Verteidigung von wichtigen „Gütern“ mit den Dimensionen „kognitive Ressourcen“, „materielle Ressourcen“ und „soziale Ressourcen“ Gefahr für Leib und Leben, sowohl der eigenen Personen als auch von weiteren Protagonisten oder Dritten Rache – das Reagieren auf menschliche oder materielle Verluste durch Handlungen, die darauf zielen, dem Verursacher dieser Verluste Gleiches oder Ähnliches zuzufügen
Auf der Ebene dieser acht Oberkategorien wurde je nach deren Bedeutung für die Handlung des Films zwischen main-, necessary- und other-issue unterschieden. Wie im Rahmen von Inhaltsanalysen unausweichlich, beinhalten derartige Kategorisierungen qualitative Zuordnungen, die nicht auf Grund quantitativer Kriterien getroffen werden können, sondern eine Zuordnung nach semantischem Gehalt notwendig machen. Die Analysen wurden von Dreiergruppen speziell geschulter Medienstudenten durchgeführt, die zum Teil an der Entwicklung des Analyserasters beteiligt waren. Zuordnungsprobleme wurden bei Treffen der Analysegruppen mit den Projektleitern gelöst und in das Analysinstrument eingearbeitet. Durch solche
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Veränderungen wurden in einigen wenigen Fällen auch Neuanalysen von Teilsamplen notwendig. Ergebnisse Eine Korrelation nach Russel und Rao auf der Issue-Ebene bei der Gesamtheit der 150 Filme zeigt, welche Bedeutung die einzelnen Issues haben. Hierbei wurden Issues immer dann erfasst, wenn sie als Handlungselement – gleich welcher Wichtigkeit – auftraten. Spitzenreiter ist Danger, also Gefahr, die bei 78 Prozent der Filme von Bedeutung für die Handlung war. Mate selection spielte in knapp 69 Prozent der Werke eine Rolle. Mit abfallender Häufigkeit folgen Resources, Friendship, Kinship, Group Conflict, Status und Revenge. Dies entspricht in etwa der flapsigen Kurzformel für erfolgreiche Filme: „kiss, kiss, bang, bang“. Die Zahlen in der abgebildeten Tabelle geben an, mit welcher prozentualen Häufigkeit Issues gemeinsam in Filmen erscheinen. In der Diagonale, wo gleiche Issues in Zeile und Spalte auftreten, kann eben diese Häufigkeit für die einzelnen Issues abgelesen werden. Tabelle 2: Korrelationen der Issues nach Russel/Rao für alle Filme der Untersuchung (n=150) Cor. Russel+Rao Kinship Mate selection Friendship Status Group conflict Resources
Kinship
Mate selection
Friendship
Status
Group conflict
Resources
Danger
Revenge
,453 ,340
,687
,200
,300
,460
,153
,240
,147
,273
,160
,227
,200
,107
,380
,247
,367
,213
,147
,200
,547
Danger
,353
,493
,367
,200
,353
,400
,780
Revenge
,127
,133
,113
,087
,093
,120
,213
,227
Ein getrenntes Auftragen von westlichen und indischen Filmen zeigt die in der Gesamtschau nicht sichtbaren Unterschiede der beiden Filmkulturen.
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Tabelle 3: Korrelationen der Issues nach Russel/Rao für die Hollywood-Filme (n=100) Cor. Russel+Rao Kinship Mate selection Friendship Status Group conflict Resources
Kinship
Mate selection
Friendship
Status
Group conflict
Resources
Danger
Revenge
,370 ,240
,590
,180
,300
,510
,100
,190
,130
,230
,190
,250
,260
,110
,460
,190
,330
,250
,130
,240
,580
Danger
,300
,440
,400
,160
,430
,450
,820
Revenge
,080
,100
,120
,080
,100
,100
,180
,200
Tabelle 4: Korrelationen der Issues nach Russel/Rao für die Bollywood-Filme (n=50) Cor. Russel+Rao Kinship Mate selection Friendship Status Group conflict Resources
Kinship
Mate selection
Friendship
Status
Group conflict
Resources
Danger
Revenge
,620 ,540
,880
,240
,300
,360
,260
,340
,180
,360
,100
,180
,080
,100
,220
,360
,440
,140
,180
,120
,480
Danger
,460
,600
,300
,280
,200
,300
,700
Revenge
,220
,200
,100
,100
,080
,160
,280
,280
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Ein Balkendiagramm macht die Bedeutung der unterschiedlichen Issues für die verschiedenen Filmkulturen deutlicher. Abbildung 1:
Vergleich Hollywood/ Bollywood1
ɷ
Hollywood
ɶ
re ve ng e
da ng er
ce s ur
re so
co nf lic t
st at us
gr ou p
se le ct io n fri en ds hi p
m at e
ki ns hi p
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
Bollywood
Verwendet man die Daten der Filme für eine Clusterung nach Ähnlichkeit, so lassen sich auf dem Dendrogramm Filmgruppen unterschiedlicher Zusammensetzung ausmachen – was im Anschluss an schon sichtbar gewordenen Unterschiede zwischen den Filmkulturen nicht überraschend ist. So findet sich eine Gruppe von 17 sehr ähnlichen Filmen, von denen nur zwei aus dem indischen Sample stammen. Typisch für dieses sehr westliche Cluster sind Handlungen die auf Group Conflict, Resources, Danger und Friendship bauen. Parallel hierzu existiert ein Cluster, das sich fast ausschließlich aus indischen Filmen rekrutiert. Auf 11 Bollywoodwerke kommen nur zwei westliche Produktionen. Gemeinsam ist allen, dass die Handlung in den Bereichen Mate Selection und Kinship angesiedelt ist. In einem dritten Cluster findet sich eine nahezu perfekte Mischung der Erzeugnisse beider Kulturkreise. 22 westliche Filme setzen hier, genau wie 12 1
Bedeutung der Issues (Handlungsfelder) für den Handlungsaufbau in Hollywood- und Bollywood-Filmen in Prozent. Die Balken geben an, in wie viel Prozent der Werke eines Samples ein Issue auftritt. Für die Definitionen der Issues siehe Tabelle 1.
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indische Filme – prozentual fast der gleiche Anteil im jeweiligen Sample – auf eine Kombination von Mate Selection, Danger und Resources. Diskussion Auffällig an den vorgestellten Ergebnissen ist zweierlei: zum einen verwenden die beiden größten Filmkulturen der Welt für den strategischen Aufbau ihrer Handlungen prinzipiell die gleichen Elemente, zum anderen lassen sich aber Unterschiede in deren Häufigkeit feststellen, die in offensichtlicht nicht zufälligem Zusammenhang mit dem jeweiligen kulturellen Kontext stehen. Die kulturübergreifend wichtigsten Issues sind Mate Selection und Danger, was aus evolutionärer Perspektive nicht überraschend ist. Reproduktion ist das zentrale Ereignis im Lebenszyklus aller Organismen und der Umgang mit Gefahren bei der Verfolgung dieses Ziels ist mehr oder weniger unumgänglich. Erfolgreiche Filme bedienen sich also stammesgeschichtlich alter Interessenspräferenzen um Aufmerksamkeit zu generieren. Bei dieser inhaltlichen Vorliebe, die in erfolgreichen Filmen zum Ausdruck kommt – so könnte man an dieser Stelle einwenden – müsste sich da nicht ein signifikanter Unterschied zu erfolglosen Filmen feststellen lassen. Abgesehen davon, dass es keine derartige Untersuchung gibt und somit keine Zahlen zur Verfügung stehen, greift dieser Einwand zu kurz. Erfolgreiche Filme sind nicht nur erfolgreich, weil sie evolutionär entstandene Inhaltspräferenzen bedienen, sondern auch, weil sie kulturell bedingte Präferenzen berücksichtigen. Eine Auswahl der schlechtesten oder erfolglosesten Filme der Kinogeschichte ist deshalb kein Sample, das als erhellender Kontrast zu den von uns verwendeten Werken dienen kann. Überdies ist kein inhaltsneutrales Kriterium bekannt, dass praktisch gestatten würde, ein sample der „schlechtesten“ oder „erfolglosesten“ Filme zu bestimmen. Eine vergleichbare Untersuchung erfolgloser Filme, etwa solcher, die nach kurzer Zeit wieder aus den Kinos genommen wurden oder gar nicht erst den Weg in die Kinos fanden, würde nach unserer Seherfahrung zeigen, dass diese die gleichen Handlungsmuster benutzen. Die Attraktivität eines Films speist sich jedoch nicht nur aus den angeführten basalen Handlungselementen sondern auch aus der narrativen Kunstfertigkeit, mit der diese verknüpft sind und der Inszenierung der Gesamthandlung. Auch die schlechtesten Filme sind deshalb gemacht worden, weil ihnen von Produktionsseite ein Erfolg zugetraut wurde. Das Material mit dem man Erfolgsfilme kontrastieren muss, wenn es um das Aufzeigen von aufmerksamkeitsgenerierenden Inhalten geht, sind die fast höhepunktlosen Aufzeichnungen von Überwachungskameras oder auch Kunst-
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filme wie Andy Warhols „Empire“, der sieben kontinuierliche Stunden lang das Empire State Building in New York zeigt. Vor dieser Folie wird deutlich, dass Filme, die das Potential haben, die Aufmerksamkeit von Menschen auf sich zu ziehen, hochselektive Interaktionen darstellen, die, wenn sie in der direkten Umwelt des Betrachters stattfänden, von strategischer Bedeutung wären. Interessant sind jedoch auch die Unterschiede zwischen Hollywood- und Bollywoodproduktionen. Bollywood bietet mehr zu den Themen Verwandtschaft, Partnersuche, Status und Rache. Hollywood hingegen zeigt vergleichsweise mehr Freundschaft, Gruppenkonflikte, Auseinandersetzungen um Ressourcen und Gefahren. Wie schon angeführt, sind wir der Meinung, dass ein Zusammenhang zwischen diesen filmischen Prioritäten und den Spezifika der sie hervorbringenden Gesellschaften besteht. Die indische Gesellschaft ist zur Zeit (noch?) familienzentrierter als ihr westliches Pendant. Die Familie ist dabei nicht nur soziales Umfeld sondern stellt angesichts geringer staatlicher Transferleistungen die Basis für den ökonomischen Lebenserfolg dar. Durch die Globalisierung schwindet zwar in der jüngeren Vergangenheit die Macht des Kastensystems, jener sozialen Stratigrafie mit zirka 3000 Untergruppen. Die individuelle soziale Mobilität ist jedoch noch immer vergleichsweise gering. Dieser existenziellen Bedeutung der Familie wird auch im indischen Kino Rechnung getragen. Nicht selten entspringt der zentrale Konflikt einer dreieinhalbstündigen Handlung unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem passenden Ehepartner – die traditionelle „arranged marriage“ aus Elternsicht gegen die „love-marriage“ aus der Perspektive der Betroffenen. Dieser an das wahre Leben anknüpfenden Problemkonstellation entsprechend ist auch die Bedeutung der Partnerwahl im indischen Kino zu sehen. Auf Grund der Tatsache, dass Scheidung eine im indischen Kulturkreis nicht oder nur sehr selten praktizierte Option ist, um eine zweite Chance bei der Wahl des Lebenspartners zu erhalten, ist die Bedeutung der Wahl des richtigen Partners hier höher als im westlichen Kontext, und zwar für alle an der Wahl Beteiligten. Der Wert, der damit einhergehend auf Status gelegt wird, spiegelt die traditionelle Wichtigkeit und Rigidität der gesellschaftlichen Hierarchie. Vergleicht man westliche Filme in dieser Hinsicht mit indischen Werken, dann fällt als erstes auf, dass die Protagonisten sehr oft ohne oder nur mit einem minimalen familiären Kontext dargestellt werden. Dieser vergleichsweise geringere Rückgriff der Narrationen auf biologische Verwandtschaft kann als kultureller Ausdruck einer individualisierten Gesellschaft gesehen werden. Partnerwahl ist in diesem Kontext nicht mehr der Konflikt zwischen dem Wunsch nach individuellem Glück und den Interessen und Verhaltenserwartungen sozialer Verbände wie Familien, wie man es etwa auch in der europäischen Literatur des 18./19. Jahrhunderts findet, sondern von der Suche nach individuellem Glück in
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der oft nicht einmal institutionell gesicherten Zweisamkeit geprägt. Dass auch in diesem Kontext evolvierte Präferenzen bezüglich Aussehen und Verhalten wichtig geblieben sind, ist durch die einschlägigen empirischen Untersuchungen der evolutionären Psychologie der letzten Jahre nachhaltig belegt worden (Sugiyama 2005). Wichtigstes Handlungselement westlicher Filme ist dagegen Danger, also die Gefahr für Leib und Leben, die in ihrer Ausprägung von der individuellen Bedrohung bis zum drohenden Weltuntergang reichen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich hier, zumindest zum Teil, um eine Konsequenz der schon angeführten Individualisierung westlicher Gesellschaften handelt. Mit dem Schwinden sozialer Sicherungsnetze familiärer Natur treffen Risiken den Einzelnen direkter. Mate Selection folgt in der Wichtigkeit von Handlungselementen in westlichen Filmen auf dem zweiten Platz, wenn auch mit deutlichem Abstand und wird direkt gefolgt von Resources in ihren verschiedenen Ausprägungen. Schlussfolgerung So unterschiedlich westliche und indische Filme auf den ersten Blick wirken mögen, so ähneln sie einander doch in der grundlegenden Komposition und Konstruktion ihrer Handlungen. Die vorgestellte Analyse zeigt für diese sehr komplexen und aufwendigen Medienprodukte ein Ineinandergreifen von Natur und Kultur. Die Gemeinsamkeiten von Holly- und Bollywood belegen, dass die Aufmerksamkeit für fiktionale Narrationen sich in erheblichem Maße aus evolutionär entstandenen informationellen Präferenzen speist. Die Unterschiede, die bei jeder vergleichenden Betrachtung offensichtlich sind, belegen, dass Kulturen unterschiedliche Wege finden, wie sie diese Präferenzen bedienen. Dabei fällt auf, dass die Filme der verschiedenen Kulturräume Handlungen präsentieren, die sich tendenziell an den realen existenziellen Problemen orientieren. Auch wenn man vor diesem Hintergrund mit gutem Recht sagen kann, dass die guten Geschichten die alten sind, sollte man sich darüber im klaren sein, dass die menschliche Empfänglichkeit für Geschichten dem Auftauchen der ersten fiktionalen Narration zeitlich weit voraus geht. Eine gute Story, ein guter Plot – und hier, glauben wir, trifft Steven Pinkers Vergleich nachweisbar zu – ist wie „cheesecake“ (Pinker 1999: 534) für unsere Psyche, reich an seit alters her wertvollen Inhaltsstoffen und nahezu unwiderstehlich.
Die alten Geschichten sind die Besten.
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Der Kriegsfilm: Historisch-kritische Reflexionen zur Bestimmung eines Genres Ulrike Schwab
Allgemein gesprochen, dient der Begriff Kriegsfilm zur Bezeichnung einer fiktionalen Filmgattung, die mit Bezug auf historische Ereignisse die auf moderne Waffentechnik gegründete Auseinandersetzung zwischen Militärvertretern nationaler und übernationaler Kollektive zur Darstellung bringt. Das mag einleuchtend klingen. Demgegenüber wird beim Blick auf die aktuelle Fachliteratur zum Thema Kriegsfilm aber deutlich, dass in der einschlägigen Diskussion nach wie vor kein einheitliches Verständnis vom Begriff Kriegsfilm erreicht worden ist und die Grundfragen der Bestimmung stets aufs Neue gestellt werden.1 Ein produktives Erschließen dieses Filmgenres wird dadurch behindert. Reibepunkte, welche die definitorische Unsicherheit bzw. Uneinigkeit immer wieder auslösen, sind solche der kategorialen Abgrenzung bzw. Eingrenzung: die Überschneidung mit dem Historienfilm, das Ineinandergreifen von fiktionalen und dokumentarischen Genreanteilen, die ‚gefühlte‘ Diskrepanz zwischen dem Unterhaltungseffekt und der dargebotenen Gewalt sowie die zur Routine gewordene eigenständige Klassifikation des sogenannten Anti-Kriegsfilms. In dieser Forschungslage kann eine Besinnung auf die Entstehungsgeschichte des Genres Kriegsfilm hilfreich sein. Dort gibt es Aufschluss zur Begriffsbildung und womöglich Anregung zur Begriffsklärung. Die nachfolgenden Ausführungen prüfen im ersten Schritt die Genregeschichte als Weg zur Erkenntnis und entwerfen im zweiten Schritt einen Katalog von Definitionsmerkmalen, der ein erneuertes Begriffsverständnis fördern soll.
1
Vgl. dazu: Paul 2003: 3-76; Bürger 2005b: 237-260; Klein, et.al. 2006: 9-29; Heller, et.al. 2007: 7-13.
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Begriffskonnotationen in der Frühphase der Genreentwicklung Der Krieg, der 1914 mitten in Europa ausbrach und am Ende 25 Staaten und ihre Kolonien einbezogen hatte, wurde als erster „totaler“ Krieg wahrgenommen. Diese unheimliche Vorstellung verband sich nicht nur mit den weltweiten Aktivitäten der Kriegsgegner, sondern auch mit dem Technikpotenzial, das entfesselt war, um die zügige Massenvernichtung von Soldaten zu bewirken, dem Aufgebot an Staatsressourcen gegenüber den Lebensbeschränkungen der Bevölkerung sowie dem Ausmaß des physischen Leidens und den mentalen Schocks an den Fronten und Heimatfronten. An diese komplexe Erfahrung schloss der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan an, als er den Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete (vgl. Burgdorff / Wiegrefe 2004). „Total“ erfasste aber auch den Aufschwung von Medien zu Massenmedien, denn parallel zum Kampf der Armeen fand die „größte Propagandaschlacht“ statt, durch die auf das Wissen, Denken und Empfinden von Freund und Feind gezielt eingewirkt wurde. Im Ausnahmezustand des Krieges, dieses Krieges, vollzogen bestehende Medien einen Funktionswandel, entfalteten sich neue Medien und neue Genres. Neben den Wortkampagnen der Presse rückte vor allem die Visualisierung des Kriegsgeschehens in den Vordergrund, aktuell zur Ereignisdokumentation und Berichterstattung sowie rückblickend zur Verarbeitung des Kriegserlebens. Dabei kam der Kriegsfilm auf. Nach seiner Beendigung wurde der Erste Weltkrieg von allen Völkern einhellig als sinnloser Krieg, als Verbrechen eingeordnet. Während die Mobilisierungsfilme Hollywoods ein klares anti-deutsches Feindbild aufgewiesen hatten, büßte der Kreuzzugsgedanke, den der amerikanische Präsident Wilson für den Kriegseintritt der USA popularisiert hatte, nach dem Waffenstillstand seine Geltung ein. Stattdessen fand international ein pazifistischer Tenor Verbreitung, nicht zuletzt aufgrund des Kriegsfilms, der in diesem Entwicklungsstadium unter der Bezeichnung „Weltkriegsfilm“ („world war film“) firmierte.2 Um der allgemeinen Erschütterung und Desillusionierung Ausdruck zu geben, enthielten sich die betreffenden Produktionen der späten 20er und frühen 30er Jahre der Pointierung von Gewalt und der Polarisierung nach Gut und Böse. Folgerichtig konnte der Kriegsroman eines deutschen Autors (Im Westen nichts Neues, Erich Maria Remarque, 1928/29), als Kriegsfilm von einem amerikanischen Regisseur adaptiert (All Quiet on the Western Front, Lewis Milestone, 1930), weltweit die Ge2
Amerikanische und deutsche Beispiele: The Big Parade, Regie: King Vidor, USA 1925; Four Sons, Regie: John Ford USA 1928; Seas Beneath, Regie: John Ford, USA 1931; Kreuzer Emden, Regie: Louis Ralph, Deutschland 1926; Westfront 1918 (Vier von der Infanterie), Regie: Georg Wilhelm Pabst, Deutschland 1930; Douaumont – Die Hölle von Verdun, Regie: Heinz Paul, Deutschland 1931.
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müter bewegen. Amerika schien das menschlich gezeichnete Gesicht des Feindes als das eigene angenommen zu haben (Doherty 1999: 94). Die Friedensbotschaft der Leinwand hatte nur so lange Bestand, bis die nächste globale Konfliktlage veränderte politische Standpunkte bedingte und festigte. Erneut hatte die Regierung der USA für ein militärisches Vorgehen gegen Deutschland und seine Verbündeten ein öffentliches Klima der Akzeptanz zu schaffen. Hollywood strukturierte mit der Produktion Sergeant York vom Juli 1941 paradigmatisch das legitimierende Umdenken vor.3 Dieser Kriegsfilm inszenierte zwar den Ersten Weltkrieg, meinte aber den Zweiten und versah den Kriegshelden mit einem neuen Handlungsmuster, das den bisher gültigen Friedenswillen mit der nun erforderlichen Wehrbereitschaft vereinbarte: York, ein christlich bekehrter junger Pazifist vom Lande (Gary Cooper), dessen Schießkunst im Krieg gebraucht wird, opponiert entschieden, aber vergeblich gegen den Gestellungsbefehl, gelangt aber gerade durch das Bibelwort in innerem Ringen zu der Einsicht, dass er Gott zu geben habe, was das Seine, und der weltlichen Macht, was das Ihre sei; erschießt seine Feinde nur, um sie an noch ärgerer Gewalt zu hindern, und sieht sich bei der Rückkehr in die Berge von Tennessee in den Status eines Volkshelden gehoben (Schäfli 2003: 19-21). Diese Kinoproduktion nahm den Kreuzzugsgedanken wieder auf und war damit beim einheimischen Publikum höchst erfolgreich. Damit formte sich das (wieder) zulässige und als höhere Mission sanktionierte Offensivhandeln der Hauptfigur – und zunehmend des Teams – zum Grundnarrativ des Kriegsfilms aus. Es wurde durch den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg nochmals stabilisiert und hat langfristig und weltweit die allgemeine Vorstellung vom Prototyp des Kriegsfilms geprägt. Diese Sachverhalte der frühen Genre-Geschichte zeitigen folgenden Denkansatz, mit dem sich die Definitionsproblematik des Kriegsfilm-Begriffs in einem zentralen Punkt auflösen lässt: Der Kriegsfilm nahm seinen Ausgang mit der Negation des Krieges, vollzog (metaphorisch analog zum Sündenfall) den Wechsel zur Rehabilitierung des Krieges und verblieb auf dieser Position. Das Genre aktualisierte also bereits in seiner Frühphase sowohl das kritische als auch das affirmative Paradigma, in ebendieser Reihenfolge.4 Folglich kann der AntiKriegsfilm oder Antikriegsfilm nicht als eine eigenständige Genrebildung gelten, die sich als ethisch begründete Folgeerscheinung des Kriegsfilms herausgebildet hat, sondern lediglich verstanden werden als eine kritische Spielart des prototypischen Kriegsfilms, die zu jeder Produktionszeit auf dessen historisch gegebene 3 4
Sergeant York (Skript: Abem Finkel, Harry Chandlee; Regie: Howard Hawks; Warner Bros. Pictures 1941). Ausführliche Synopsis: www.imdb.com/title/tt0034167/. Die Unterteilung ‚kritisch‘ und ‚affirmativ‘ verwendete zuvor Peter Bürger; siehe ders. (2005b): 237-260. Das Begriffspaar wurde dort lediglich pragmatisch gesetzt, nicht historisch begründet.
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ideelle Ursprünge verweist. Mit dieser genregeschichtlichen Grundlegung entfiele bei der Fachdiskussion von Kriegsfilmen prinzipiell die strapaziöse und nie gelingende Abgrenzungspraxis, den Anti-Kriegsfilm betreffend. Der vorgeschlagene Denkansatz wird auch in der mediengeschichtlichen Langzeitperspektive plausibel, denn schon in vor-industrieller Zeit ist im Rückblick auf Kriege große epische und große bildende Kunst entworfen worden. Gerade Kriege bilden von jeher das Grundmaterial der populären Historiografie von Nationen und übernationalen Verbänden und wurden in Partei nehmender, glorifizierender, dokumentierender, be- oder anklagender Absicht der Nachwelt überliefert. Dagegen zeigt sich nun, dass nur bei medialen Darstellungen der vormodernen Kriegsführung die Voreingenommenheit des Produzenten und damit die Verschiedenheit der möglichen Einstellungen zum Krieg als sachliche Gegebenheiten angenommen werden. Seitdem sich im 20. Jahrhundert der Kriegsfilm als Leitmedium der Verarbeitung bewaffneter Großkonflikte der Zeitgeschichte etabliert hat, wird generisch ein mehr oder minder deutlich gefasstes ProKonzept (Kriegsfilm) von einem hehren Gegenkonzept (Anti-Kriegsfilm) geschieden. Im Sinne mediengeschichtlicher Kontinuität aber müssten für den Kriegsfilm die Voreingenommenheit des Filmschaffenden und die Verschiedenheit möglicher Standpunkte als theoretische Prämisse eines Genres genauso gelten. Bestimmungsvorgaben für einen praktikablen Kriegsfilm-Begriff gibt es auch zur Frage des Inhalts. In einem Fall gehören zu den Inhaltsaspekten des Kriegsfilms: Kriegspolitik, Kriegursachen, Kriegsgeschehen, Kriegsfolgen, Kriegstechnologie und Militärwesen (Paul 2003: 3ff.). Diese Bestimmung führte aber dazu, dass ein (deutscher) Kriegsfilm zum Zweiten Weltkrieg in puncto Kriegspolitik bzw. Kriegsursachen z. B. das Münchner Abkommen bzw. die Rassentheorie der NS-Bewegung zu behandeln hätte, ein Vietnamfilm in puncto Kriegsfolgen die Napalm-Opfer der dritten Generation. Es leuchtet ein, dass ein derart umfassender Themenradius lediglich viel über den Krieg, aber wenig über den Kriegsfilm aussagen kann, vor allem wenn er nicht auf das Medium bezogen wird. Im Gegenzug könnte formuliert werden, dass dieses Genre thematischstrukturell auf das Primärgeschehen des Krieges eingeengt sein sollte: die militärische Auseinandersetzung an der Front, dargeboten in einer Spielhandlung aus Anfang, Mitte und Ende, als Ereignisausschnitt eines authentischen Krieges, der im kommunikativen Gedächtnis eines Publikums präsent ist und in dessen kulturelles Gedächtnis übergeht. Dann würde ‚Genre‘ – angemessener – als thematisch-motivischer Komplex im Medium Spielfilm verstanden. Auch unter formalem Aspekt werden Empfehlungen zur Abgrenzung bzw. Eingrenzung gegeben. In einem Fall umfasst der Begriff Kriegsfilm alle fiktionalen und dokumentarischen Formtypen der Audiovision, die im obigen Umriss
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Krieg thematisieren (Paul 2003: 6). Als Begründung wird angeführt, dass die Grenze zwischen fiktionalem und dokumentarischem Darstellungsmodus fließend sei. Obwohl dem prinzipiell zuzustimmen ist, stehen dieser formalen Einebnung bei der Begriffsverwendung doch die Tatsachen der Gattungskonventionen entgegen – das Regelwissen, mit dem Produzenten und Rezipienten ein Jahrhundert lang umgegangen sind. Zwar sind Dokumentarfilme wie Spielfilme gleichsam mediale Konstruktionen, doch strebt der Dokumentarfilm anerkanntermaßen über Bilder und Aussagen eine möglichst faktengetreue Präsentation der Ereignisse an, die der Zuschauer im Sinne einer rationalen Argumentation nachvollzieht, während die Spielhandlung des Kriegsfilms weitreichend fiktiv anlegt sein kann und nur der Glaubwürdigkeit halber im weiteren Rahmen eines historisch vorgegebenen Kontextes verbleiben muss. Auch wenn sich beim ReInszenieren dokumentarische und fiktionale Gestaltungsstrategien punktuell überschneiden, nimmt der Zuschauer beide Modi den Gattungskonventionen entsprechend wahr und an. Daher sollte eine kritische Aufmerksamkeit gegenüber dem Kriegsfilm eher mit der Beobachtung verbunden sein, wie sich die Primärbedingung der Fiktionalität im Kriegsfilm auf die Darstellung der historischen Ereignisse auswirkt. Abschließend sei noch eine Anmerkung gemacht zum ethisch begründeten Bedenken gegenüber der Visualisierung von Gewalt im Kriegsfilm, da hier eine Medienproblematik angesprochen wird, die sich nicht auf dieses eine Genre begrenzen lässt. Gewiss nähert sich die Kampfdarstellung im Kriegsfilm durch die Masse der Beteiligten und die Wucht der Waffen dem Limit des Tolerierbaren, dennoch unterscheiden sich die dargebotene Aggression und ihre Folgen nicht qualitativ vom heimtückischen tagtäglichen zivilen Morden im Fernsehkrimi. Es ließe sich sogar relativieren, dass es sich im Kriegsfall um eine gesellschaftliche Ausnahmesituation handelt. Sondierung von Definitionsmerkmalen für einen erneuerten KriegsfilmBegriff Die bisherigen Ausführungen geben zu erkennen, dass unserer Rezeptionshaltung zu Kriegsfilmen ein widersprüchliches Verhältnis zum Krieg zugrunde liegt. In der Opposition Kriegsfilm – Anti-Kriegsfilm kommt diese Gespaltenheit klar zum Ausdruck. Wie anhand des fachwissenschaftlichen Diskurses aufgezeigt wurde, beruht diese konzeptuelle Trennung auf dem wertenden Vorurteil, dass der Kriegsfilm legitimatorisch, kriegsbefürwortend und unkritisch sei, der Anti-Kriegsfilm die Unzulässigkeit des Krieges verficht. Mit dieser Trennung aber kompensieren wir nur ein uneingestandenes kulturelles Unbehagen am
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Kriegsfilm, der uns in der audiovisuellen Medienform einer ernsten Sache wie Krieg mit Genuss beiwohnen lässt. Der französische Regisseur Francois Truffaut konstatierte schon in den 60er Jahren, dass jede kinematografisch inszenierte Kriegsaktion von sich aus ein erregendes Spektakel sei. Mit diesem so gegebenen Mangel an Neutralität und seinen problematischen Abgrenzungen ist der Begriff Kriegsfilm kaum verwendungstauglich, sodass die Konturen des Genres neu abzustecken sind. Der Begriff braucht eine heuristische Modellierung, die elementar ansetzt und Truffauts Verweis auf den Zuschauer aufgreift. Bedenkt man die Tatsache, dass der Kriegsfilm seit jeher eines der produktivsten Filmgenres gewesen ist und sich vonseiten des Publikums eines ungebrochenen Zuspruchs erfreut hat, kann sich die Frage anschließen, worin die Anziehungskraft von Kriegsfilmen besteht oder was Kriegsfilme für die Mediennutzer leisten und geleistet haben. Die nachfolgenden Überlegungen zu Definitionsmerkmalen berücksichtigen vor allem die historische Dimension des Kriegsfilm-Begriffs. Kriegsfilm und Anthropologie Dieser Aspekt hat sich in der Kriegsfilm-Forschung bisher noch nicht etabliert. Dabei ließe sich durchaus mutmaßen, dass der Kriegsfilm für uns eine assoziative Brücke zur Horde der Steppe schlägt, zur archaischen Situation der Selbstverteidigung und des Lebenserhalts der Gruppe; zur einst täglich gegebenen Grenzerfahrung vom Einsatz des Lebens für Nahrung und Nachwuchs; zur Gegenseitigkeit in der Gruppe auf der Basis von Instinkten; zur natürlich notwendigen Aggression des Kampfes. Diese Assoziation beruhte auf der Annahme, dass der Mensch für den Extremfall über ein Residuum stammesgeschichtlicher Langzeiterinnerung verfügt, die die zivilisatorisch entstandene Zügelung und Steuerung des Triebverhaltens überspringen kann. Von dieser Warte aus verstünde der moderne Zuschauer den Kämpfer und Krieger intuitiv und übernähme dessen Impulse. Eben deshalb werden Kriegsfilme vom Publikum im ersten Ansatz positiv besetzt. Als ein kultürliches Relikt dieses affirmativ gesehenen Kampfes können der Notwehr-Gedanke und das Widerstandsrecht (die als Naturrechte gelten) bezeichnet werden. Darauf zugreifend realisierte der Zuschauer seinen latent empfundenen Wunsch nach ursprünglichen, sanktionsfreien Handlungsmustern. Ein analoges Argument ist bereits in einem anderen Medienkontext angeführt worden: So hat Christian Doelker 1979 das Fernsehen als „modernes Lagerfeuer“ eingeordnet, die Korrespondenten der Tagesschau als die Späher der Steppe, welche die Horde beruhigt in die Nacht entlassen. Wissenschaftlich sind solche Mutmaßungen am ehesten mit der Tiefenpsychologie in Verbindung zu bringen, der Theorie vom „kollektiven Unbewussten“ (Carl Gustav Jung), nach
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der sich menschheitliche Urerfahrungen in sogenannte Archetypen eingeschrieben und unbewusst als arttypisches Programm weitervererbt haben, um dann in symbolischen Bildern in Träumen, Märchen, der bildenden Kunst und eben den Medien erfahrbar zu werden. Kriegsfilm und Geschichte Kriegsfilme sind in der Regel historische Filme, indem sie vergangene Kriegstatbestände rekonstruieren und an das Erfahrungs- und Bildungswissen der Zuschauer anknüpfen. Durch den ethnisch und politisch gewachsenen Verband der Nation besteht für den bzw. die Zuschauer ein unabweisbarer identifikatorischer Bezug. Der so involvierte Zuschauer wertet zwangsläufig, und die Referentialität sorgt für das besondere Interesse des Zuschauers. Der Intention der Produzenten oder dem Stand der öffentlichen Verarbeitung eines Krieges folgend, zeigt seine filmische Darstellung eine affirmative bzw. eine kritische Tendenz. Kriegsfilme nehmen Stellung zum Krieg. Zugleich unterlaufen bzw. überschreiten Kriegsfilme das nationale Konzept durch ihre transnationale Distribution, d.h. sie wirken transnational affirmativ bzw. werden transnational hinterfragbar. Das funktioniert unter anderem deshalb, weil neben dem historischen Grundmuster das oben angesprochene anthropologische Grundmuster wirksam ist. Als referentielle Fiktionen beziehen sich Kriegsfilme in besonderem Maße auf thematische Vorläufer und bilden damit starke Erzähltraditionen zu Kriegen aus. Für die meisten Zuschauer ist ‚die Front‘ der unbekannte, Ehrfurcht gebietende Erfahrungsraum eines Krieges, den sie entsprechend als national- bzw. weltgeschichtlichen Entscheidungsraum auffassen. Kriegsfilme historisieren noch in anderer Weise, indem sie mehrheitlich das traditionelle Bild vom ‚Kriegshandwerk‘ kultivieren: mit Kämpfern, die ihre Physis einsetzen und ihre Waffen beherrschen. Durch die Wertung der Realereignisse und durch die Traditionalität der Kriegsdarstellung werden Mythen geschaffen. So assoziiert der Zuschauer sein ganzes Rezeptionsinventar an ‚Kriegshelden‘ mit. In diesem Zusammenhang kann auf Befunde verwiesen werden, die Historiker schon zur Rolle des Krieges in Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA vorgelegt haben (siehe Buschmann / Langewiesche 2003). In Fortführung dessen wäre für den Kinofilm des 20. Jahrhunderts und nachfolgend zu untersuchen, wie die Kriegsfilme neue politische Mythen geschaffen und dabei das Bild vom Krieg immer wieder neu mythisch eingefärbt haben. Damit geht die Beobachtung einher, dass diese audiovisuellen Fiktionen vom Publikum zunehmend als Dokumente des Krieges angenommen und erinnert werden.
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Kriegsfilm und Sozialerfahrung Das Militär ebnet (weitreichend) soziale und ethnische Unterschiede ein. Darin besteht faktisch ein wichtiger Anziehungspunkt bei der Rekrutierung, der ebenso in das differente Publikum des Kriegsfilms hineinwirkt. Kriegsfilme sind vom anheimelnden Milieu der Mannschaft bestimmt. Ferner kommt der Armee ein hohes Sozialprestige zu, weil sie – so ihr Idealbild – die tüchtigsten Gesellschaftsmitglieder (Auswahl) in sich versammelt, um den äußeren Schutz einer Gesellschaft zu gewährleisten. Um für diesen Zweck wehrfähig zu sein, unterziehen sich die Armeeangehörigen einem harten Training, unterwerfen sich eiserner Disziplin und strenger Autorität. Das militärische ‚Ethos‘ gründet sich auf die Bereitschaft, im Kollektiv der Kämpfer diese persönliche Selbstbeschränkung zu üben und das eigene Leben einzusetzen. Auch wenn die Wertkategorien ‚Ehre‘ und ‚Heldentum‘ veraltet erscheinen, betrachtet der naive zivile Zuschauer die so agierenden Soldaten auf der Leinwand doch mit Bewunderung. Allerdings werden das filmische und das reale Militär daran gemessen, ob sie den hohen Selbstanspruch (historisch) eingelöst haben. Im Ernstfall des Krieges delegiert der Staat sein Gewaltmonopol ans Militär und hebt für die Handlungsfähigkeit des Militärs das Reglement ziviler Rechtsgrundsätze auf. In der Ausnahmesituation des Krieges ist das Töten des Gegners gefordert und sanktioniert. Ebendiese enge Konfrontation von ‚Ehrenhaftigkeit‘ einerseits und ‚Tötungslizenz‘ andererseits (das Eine resultiert aus dem Anderen und umgekehrt) fasziniert den Zuschauer, dessen Leben sich nach dem zivilen Verhaltenskodex regelt. Zugleich liegt an diesem Punkt auch das kritische Konfliktpotenzial beschlossen, das sich im oder gegen den Kriegsfilm artikulieren mag. Es kann sich entzünden, wenn die (politökonomischen) Hintergrundinteressen eines Krieges oder Kriegsfilms beleuchtet werden. Diese Zusammenhänge hat Peter Bürger in mehreren Büchern eingehend behandelt (Bürger 2004, 2005, 2007). Kriegsfilm und Gender Auch Kriegsfilme staffeln ihr Personal nach dem Starprinzip und stellen die männliche Physis aus: schlanke jugendliche und kampfgegerbte ältere Protagonisten, eindrucksvoll in Close-up, in großer Gruppenformation, im Chaos der Schlacht. Vor dem feminin geprägten Gegentypus dominiert die extrem geforderte, mit Blut und Schweiß gezierte Männlichkeit. Diese weitgehend ohne Präsenz und Einwirken des unwägbaren Faktors Frau funktionierenden militärischen Gemeinschaften erwecken den Anschein, als sei das ‚Zwischenmenschliche‘ eine Erfindung der männlichen Spezies. Den Kriegsalltag bestimmt das unaufdringli-
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che Sozialideal der Männerbündelei. Die Gefühlspalette schließt auch die Homoerotik ein, die aber das allseits verbindliche Männlichkeitsgebot nicht untergraben darf. In markigen Flüchen und im aggressiven Tötungsakt entladen sich die stoisch ertragenen Zwänge des Soldatendaseins. Diese Mischung aus Triebunterdrückung und Bewegungseuphorie, die die wohlgestalteten oder sympathischen Filmfiguren dirigiert, wirkt stimulierend auf die Zuschauer beiderlei Geschlechts (vgl. Eberwein 2007). Der Aspekt des Leidens durch Verwundung oder Sterben kommt als empathische Verstärkung hinzu. Im Rahmen des Gesellschaftslebens sind der Fußball und der Kriegsfilm als die einzigen noch verbliebenen Projektionsflächen für Männergemeinschaft anzusehen. Kriegsfilm und Dramaturgie Der Krieg selbst ist die Ur-Form des Dramas. Da es im Kriegsfilm stets um Sieg oder Niederlage geht, sind die dramaturgischen Hauptelemente ‚Spannung‘ und ‚Konflikt‘ genuin gegeben. Die Bekanntheit des historischen Kriegsverlaufs tut dem keinen Abbruch. Da sich die Handlung konstant um Lebensbedrohung, um den Einsatz des Lebens dreht, jeder Kämpfer ein potenzielles Opfer ist, herrscht nicht nur eine mehr oder minder starke Dauerspannung, sondern auch eine milde Grundatmosphäre der Tragik, die das ‚Heldentum‘ als ihre quasi-natürliche Begleiterscheinung hat. Nicht von ungefähr ist ja der Protagonist des Dramas als ‚Held‘ normiert worden. Die Historizität der Ereignisse gibt dem Aktionsgeschehen (öffentliches) Gewicht. Die Interaktionsmuster können durch Verlagerung zwischen Einzelnem, Kleingruppe (Team) und Großgruppe (Verband) dicht gestaltet werden. Im fiktionalen Geschehen des Krieges lassen sich choreographische Konzepte sowie reichlich Geräuscheffekte und Musikelemente gut entfalten. Vor dem Zuschauer erstreckt sich das fremde Front-Szenario in ästhetischer und psychologischer Ausgestaltung: das Niemandsland (apokalyptisches ‚wasteland‘) oder ein albtraumartiger Märchenraum. Der Handlungsverlauf zahlreicher Kriegsfilme basiert auf der volkstümlichen Formel: Von Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Aktualisiert wird das Reisemotiv, die Heldenreise, wie sie Christopher Vogler als mythische Strukturen im Hollywood-Erzählkino ermittelt hat (Vogler 1992). Damit schließt der Kreis der Definitionsmerkmale wieder an die archaischen Impulse der Steppenbewohner an.
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Ulrike Schwab
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