Rassismus, Faschismus, Antifaschismus Forschungen und Betrachtungen Gewidmet Kurt Pätzold zum 70. Geburtstag Hrsg. von ...
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Rassismus, Faschismus, Antifaschismus Forschungen und Betrachtungen Gewidmet Kurt Pätzold zum 70. Geburtstag Hrsg. von Manfred Weißbecker und Reinhard Kühnl unter Mitwirkung von Erika Schwarz
PapyRossa Verlag
© 2000 by PapyRossa Verlags G m b H & C o . KG, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Marco Korf Satz: Marco Korf Herstellung: Interpress Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Rassismus, Faschismus, Antifaschismus : Forschungen und Betrachtungen gewidmet Kurt Pätzold zum 70. Geburtstag / hrsg. von Manfred Weißbecker und Reinhard Kühnl unter Mitw. von Erika Schwarz. - Köln : PapyRossa-Verl., 2000 (PapyRossa-Hochschulschriften ; 32) ISBN 3-89438-199-X
Inhalt
Unser Wort zuvor
9
Teil I: Rassismus - Erscheinungen und Erklärungen Wolfgang Benz Revisionismus als Antisemitismus. Motive der Realitätsverleugnung nach dem Holocaust
14
Gudrun Hentges Grenzen der Gleichheit: Antijudaismus/Antisemitismus und Rassenkonstruktion in den Schriften des Deutschen Idealismus
25
Robert G. Waite »Judentum und Kriminalität« - Rassistische Deutungen in kriminologischen Publikationen 1933 - 1945
46
Wolf Gruner Die NS-Führung und die Zwangsarbeit für sogenannte jüdische Mischlinge. Ein Einblick in Planung und Praxis antijüdischer Politik in den Jahren 1942
Christa
bis
1944
63
Olschewski
»Odins Vetter lebt am Fujiyama« - Nichtarische Verbündete in der NS-Propaganda
80
Eva Seeber Flüchtlinge oder Deserteure? Zur Unterhaus-Debatte über Antisemitismus in der polnischen Armee in England im Frühjahr 1944
Sonja
84
Striegnitz
»...eine der brennendsten Fragen unseres Lebens«. Die Zeitschrift »Russkoe Bogatstvo« über den Judenpogrom von Kisinev 1903
102
Teil II: Faschismus - Erkundungen und Deutungen Dietrich
Eichholtz
Der Weg nach Auschwitz. Stationen der Nazifizierung des deutschen Großkapitals
Georg
112
Fülberth
Operative Deutsche Ideologie. Zur Leistung und Grenze der theoretischen Arbeit von Reinhard Opitz
Arnold
129
Schölzel
Kritische Theorie und Faschismus. Reflexionen Max Horkheimers vor 1933
137
Werner Röhr Leviathan oder Behemoth? Spezifik und Widersprüchlichkeit des nazistischen Führerprinzips
146
Manfred Weißbecker »Wir können alle Lust unterdrücken ...«. Briefe aus dem Alltag brauner Schwestern im Zweiten Weltkrieg
164
Werner Fischer Zur Entwicklung des Gaues Berlin der N S D A P und seiner Politischen Leiter 1933 bis 1939
178
Richard Lakowski Kriegsbeendigung als Problem. Die deutschen Operationsplanungen am Ende des Zweiten Weltkrieges
203
Günter Rosenfeld Die Initiative Rudolf Nadolnys zur Entspannung der deutsch-sowjetischen Beziehungen im Frühjahr 1934 und das Scheitern seiner diplomatischen Mission
215
Horst Schützler Faschismus - ein Thema in der russischen Historiographie der 90er Jahre?
231
Teil III: Antifaschismus in deutschen Nachkriegszeiten Hans
Coppi
Der Mythos »Rote Kapelle« oder wie die Politik sich der Geschichte bemächtigte
244
Luitwin Bies Verordnet - verinnerlicht - verdrängt. Antifaschismus an der Saar in den Nachkriegsjahrzehnten
260
Elke Reuter Erfahrung Antifaschismus. Die VVN in Ostdeutschland (1947 - 1953)
278
Siegfried Prokop Alltag und Widerstand gegen das NS-Regime - Interviews mit Berliner Antifaschisten (1996 - 1998)
Günther
285
Wieland
Verdienst und Defizit der DDR-Justiz beim Verfolgen von Naziverbrechen
299
Walter Schmidt Jüdisches Erbe in der D D R
311
Angelika Timm Der Eichmann-Prozeß - eine Zäsur für den Umgang mit der Schoah in der D D R
340
Irene Runge Sind Einsichten Ansichtssache? Oder: Das Verkennen der jüdischen Frage
357
Rolf Richter Versöhnungsarbeit mit Polen - Zu einer vom Vergessen bedrohten Leistung der Evangelischen Kirchen in der D D R
365
Teil IV: Lebenswege und Spurensuche Mario Keßler Vom KPD-Apparat zum stillen Weggang aus der D D R . Der Wirtschaftswissenschaftler und Historiker J o s e f Winternitz (1896 - 1952)
Svoboda
394
Jähne
Boris Angeluschev alias Bruno Fuck. Ein bulgarischer Internationalist und Antifaschist in Deutschland (1924 - 1933)
Armin
414
Jahne
Ulrich Wilcken in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft 1933 - 1943
422
Erika Schwarz Das nahezu vergessene, aber denkwürdige Leben der Fanny Mütze-Specht (1896 - 1979)
437
Almuth Püschel »Es gibt verschiedene Erinnerungen, meistens sehr schwere...« Fremdarbeiter in Potsdam-Babelsberg
448
Kurt
Gossweiler
Rückschau auf Begegnungen und Debatten
461
Teil V: Spannungsfeld Geschichtspolitik Reinhard
Kühnl
Die FAZ erklärt den deutschen Faschismus
476
Ludwig Elm Konservatismus und Faschismus. Anmerkungen im Kontext der Jahrhundertbilanz
Heinrich
498
Fink
Antifaschistische Gedenkstätten im Spannungsfeld der Bundespolitik
511
Jouko Jokisalo Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Die extreme Rechte als neue Friedensbewegung?
521
Hans See Rechter Sozialismus und neue Weltordnung
533
Bibliographie zum 70. Geburtstag von Professor Dr. Kurt Pätzold Zusammengestellt von Margarete Piesche
551
Über die Autoren
565
Unser Wort zuvor
Ausgewählte Themen werden hier vorgestellt. Sie hängen in vielfältiger Weise mit jener Periode deutscher Geschichte zusammen, die von zwei Weltkriegen und den Revolutionen der Jahre 1917/18, von den Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Hauptgruppen der Gesellschaft, von den Konflikten zwischen den politischen Parteien konservativer, liberaler, sozialdemokratischer oder kommunistischer Richtung, insbesondere aber von den Kämpfen zwischen Faschismus und Antifaschismus geprägt worden ist. Wer auf das »Dritte Reich« und den am 1. September 1939 entfesselten furchtbaren Krieg schaut, fragt sich, wann jemals die Führung eines Landes die Welt so in Flammen zu setzen vermocht hat, wann so systematisch industrialisierte Massenverbrechen organisiert werden konnten, wann den Menschen - auch den Deutschen selbst - solch unermeßliches Leid und Unheil aufzubürden möglich war. Seinen 1964 geschaffenen Film »Der gewöhnliche Faschismus« ließ der russische Dokumentarist Michael R o m m mit dem bekannten Bild beginnen, das von der Ermordung einer Mutter und ihres Kindes durch einen SS-Mann Kunde gibt. Angesichts der unglaublich erscheinenden und dennoch systematisch organisierten Genozids bewegte ihn die Frage: Wieviele Hände waren eigentlich nötig, um das weit greifende nationalsozialistische Mordprogramm an Juden, Polen, Russen und anderen Völkern realisieren zu können? Wie konnten Menschen dazu gebracht werden, Völkermord nicht nur zu dulden, sondern ihn zu begehen? Nach wie vor wühlt dieses Problem wohl alle auf, denen Menschlichkeit noch nicht zu hohler Phrase oder demagogischem Argument verkommen ist. Überzeugende Antworten zu finden, fällt gewiß nicht leicht - allzu viele strukturelle Ursachenbündel, politische Motivationsstränge und individuelle Faktoren spielten eine gewichtige Rolle. Dennoch sind erhellende und aufklärende Aussagen verlangt, um auch mit ihrer Hilfe Wirklichkeit werden zu lassen, was unmittelbar nach dem furchtbaren Zweiten Weltkrieg Opfer und Gegner des deutschen Faschismus schworen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg und nie wieder Auschwitz ... Mehr als ein halbes Jahrhundert verging seither. Je weiter wir uns von diesem Zeitpunkt entfernen, desto stärkeres Bemühen ist zu verspüren, die notwendige Erinnerung an diesen Teil deutscher Geschichte zu verdrängen oder das Geschehene zu relativieren. Mehr denn je bleibt es daher eine Aufgabe, über den gewöhnlichen Faschismus einschließlich der alltäglichen Erscheinungsformen rassistischer Frem-
Vorwort
10
denfeindlichkeit zu forschen und seine Ursachen darzustellen. Zu lebens-, ja überlebenswichtig mag die Erfahrung sein, daß, wer den Demagogen einer »rassereinen« deutschen Volksgemeinschaft nach dem Munde redete, auch deren undemokratische Geschäfte besorgte. Zu belangvoll auch das Wissen, daß jede absichtsvolle Duldung, erst recht die ideelle und zunehmend auch die materielle Unterstützung chauvinistischer und rassistischer Forderungen sowie der Versuch, die Partei der Nationalsozialisten - je nach Möglichkeit und Erfordernis - für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, es dieser überhaupt erst ermöglichten, einen Status von »Normalität« zu erlangen. Indem damals die vielgerühmte »Mitte« der Gesellschaft das Prinzip tagespolitischer Einträglichkeit in den obersten Rang ihrer Politik-Kriterien erhob, machte sie sich selbst schließlich zum opferwilligen Spielball selbstzerstörerischer Absagen an jegliche Form von Demokratie. Alte und neue Rechtsextremisten bedienen sich vorwiegend geschichtlicher Themen. Bedrückend wirkt die zunehmende Tendenz einer Verharmlosung der Untaten, aber ebenso die Tatsache, daß allzu viele Menschen bereits sich daran gewöhnt zu haben scheinen. Wie in den überwunden geglaubten Zeiten werden in heutigen Zeiten erneut Gedankenkonstrukte verbreitet, die sich vehement gegen »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« wenden und die großen Ideale der französischen Revolution vom Ende des 18. Jahrhunderts völlig aufzuheben trachten. D e m Bemühen, Gerechtigkeit und Solidarität als humanistische Werte menschlicher Gesellschaften in den Orkus zu versenken, liegt auch die Behauptung von einer unaufhebbaren Ungleichheit der Menschen zugrunde. So irrational solche Auslassungen auch sein mögen - wer ihnen widerstehen und sachkundig entgegenwirken will, muß nach ihren Inhalten, Funktionen und Wirkungen fragen. Es waren folgen- und opferreiche Handlungsantriebe, die unsere Vergangenheit weitgehend zu prägen vermochten. Das 20. Jahrhundert wird - auch wenn in Europa zwischen 1945 und 1999 keine Armeen auf die Schlachtfelder zogen und keine Bomben fielen - als ein Säkulum ständigen Waffengeklirrs, imperialistischen Machtgebarens und mißlungener Friedenszeiten in die Geschichte eingehen: Zwei Weltkriege liegen hinter uns, ihnen folgte ein Kalter Krieg, der mehr als die Zeit des staatlich legitimierten Mordens von 1914/18 und 1939/45 in Anspruch nahm und sich über ein reichliches Drittel des Jahrhunderts erstreckte. Mörderische Massenverbrechen fanden statt. Kämpfe tobten zwischen Reichen und Armen, Herren und Knechten, Besitzenden und Nichtbesitzenden, Kriegswilligen und Friedliebenden, Kapitaleignern und Verfechtern einer Gesellschaftsidee, die soziale Gerechtigkeit verspricht. Gegen Rassismus und Faschismus, die unzählige Katastrophen herauf beschworen, erhob sich eine breite antifaschistische Bewegung. Sie trug wesentlich zu den gravierenden politischen und geistigen Veränderungen bei, die nach dem Zweiten
Vorwort
11
Weltkrieg in vielen Ländern erfolgten. Dennoch gilt es, auch den Widerstand gegen die Barbarei und die in seinem Namen betriebene Politik kritisch zu befragen. Zu den bitteren geschichtlichen Erfahrungen gehört leider, daß der Antifaschismus in seiner Gesamtheit versagt hat: Trennendes stand zwischen seinen Verfechtern in größerem Maße als das gemeinsame Anliegen. Um künftige Wegstrecken humanistischen Wirkens richtig bestimmen zu können, muß nicht zuletzt tiefschürfende Kritik am Antifaschismus der D D R geübt werden, soweit dieser mißbraucht und sinnentstellend legitimatorischen Zwecken untergeordnet worden ist. Kritisch-konstruktiv mit seinen Ergebnissen umzugehen, kann allein seinem berechtigten Anliegen wieder zu Ansehen und Geltung verhelfen und eine (von so manchem »Anti-Antifaschisten« heiß ersehnte!) Preisgabe seines legitimen Erbes verhindern. Die moralische Kraft des Widerstandes - von den Befreiungskämpfen der Völker bis zum Widerstehen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern - kann nicht dadurch als überholt betrachtet werden, daß der Stalinismus im Namen des Sozialismus riesige Verbrechen begangen hat, das sozialistische Staatensystem zusammengebrochen ist und die hehre Utopie einer besseren, gerechteren und demokratischeren Welt schwer beschädigt wurde. Naturgemäß spiegeln sich die geschichtlichen Konflikte in den unterschiedlichsten Auffassungen der Historiker und ihrer Kontroversen wider. Wer vermag sich schon seinem Platz in der Gesellschaft zu entziehen? Nein, es müßte geradezu verwundern, geriete ausgerechnet die Geschichtsschreibung nicht zu einem Feld geistig-politischer Fehden, auf dem bevorzugt alte Schlachten neu geschlagen und weitere Gefechte vorbereitet werden. All dies trifft in besonderer Weise auf jene Auseinandersetzungen zu, die zwischen den großen Antipoden des Jahrhunderts - verkörpert in den Bewegungen Faschismus und Antifaschismus - stattgefunden haben. Daß es diese heute noch immer gibt, stärker sogar als in früheren Jahrzehnten, verlangt für sie breiten Raum in jeder Rückschau auf das 20. Jahrhundert. Niemand kommt an dem vorbei, was vorliegendem Band als Titel dient. Herausgeber und Autoren dieses Bandes sind in unterschiedlicher Weise selbst an Vergangenem beteiligt gewesen und in Gegenwärtiges eingebunden. Jedoch verknüpfen alle - auch die sie unterstützende Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V. und der PapyRossa Verlag - ihre hier dargebotene wissenschaftliche und persönliche Rückschau mit dem Wunsch, einen dem menschlichen Fortschritt in besonderer Weise verpflichteten deutschen Historiker zu ehren: Kurt Pätzold, der am 3. Mai 2000 seinen 70. Geburtstag begeht. Ihm fühlen sie sich vielfach verbunden, und dies nicht allein dank übereinstimmender Forschungsfelder und der Gemeinsamkeit von Fragestellungen - sie sagen zu-
Vorwort
12
gleich Dank für gewichtige Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Untersuchungen, für zahlreiche problemorientierte Forschungsansätze und ebenso für ein unermüdliches Engagement, das den Opfern barbarischer Herrschaft gewidmet ist. Alle Teile des ihm zugedachten Werkes berühren seine umfangreichen, breit gefächerten Arbeitsgebiete, aus denen eine beachtens- und anerkennenswerte Lebensbilanz erwuchs. Mögen Kurt Pätzold, unserem Kollegen, Weggefahrten und Freund, noch viele Jahre in geistiger Frische und produktivem Denken vergönnt sein ...
Die Herausgeber
Jena und Marburg, April 2000
Teil I Rassismus - Erscheinungen und Erklärungen
Wolfgang
Benz
Revisionismus als Antisemitismus Motive der Realitätsverleugnung nach dem Holocaust
Die Leugnung oder mindestens Verharmlosung historischer Tatsachen im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft hat eine Tradition, die bald nach dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands einsetzt. Die unbelehrbaren (zugleich enttäuschten) Nationalsozialisten hatten existentielle Interessen an der Bagatellisierung der deutschen Kriegsschuld, an der Rechtfertigung der Überfälle auf Polen und die Sowjetunion (die als Präventivkriege interpretiert wurden), an der Versklavung und Beraubung ganzer Völker (was als nationale oder militärische Notwendigkeit gerechtfertigt wurde), und der Verleugnung des Judenmords (für den es allerdings keine Rechtfertigungsmöglichkeit gab). Auch diejenigen, die nicht an den Verbrechen selbst beteiligt waren, wollten sich vielfach auf den Zustand der Unschuld durch Nichtsgewußthaben, durch Unbeteiligtsein, wenigstens durch inneren Widerstand gegen Augenschein und Wissen, zurückziehen. Die Leugnung der Realität des Holocaust, das Nichtwahrhabenwollen von sechs Millionen ermordeter Juden, das Fortargumentieren nationalsozialistischer Verbrechen war und ist freilich einem kleinen Kreis von ideologisch festgelegten Apologeten des NS-Regimes vorbehalten, den »Revisionisten«. Das Bemühen, die Historie entgegen den Tatsachen zu korrigieren und ein neonazistisches Geschichtsbild zu etablieren isolierte das internationale revisionistische Kartell der Holocaust-Leugner nicht nur gegenüber der Mehrheit sondern auch gegenüber vielen Rechtsextremisten, die nicht als Neonazis definiert sein wollten. Spätestens in den 80er Jahren hat sich das geändert. Obwohl kein ernsthafter Historiker den revisionistischen Zirkeln angehört und obwohl in Deutschland die Leugnung des nationalsozialistischen Völkermords kriminalisiert ist, gab es in den 80er Jahren erste Versuche, den »Revisionisten« des Entreebillet in die seriöse Wissenschaft zu verschaffen. Ernst Nolte etwa hat durch vage Formulierungen den Anschein zu erwecken versucht, es lohne sich, die Argumente der Revisionisten zu prüfen und er verstieg sich, die in den USA und Frankreich tätigen Ideologie-Produzenten des »radikalen Revisionismus«, die Auschwitzleugner also, zu charakterisieren als »nach Beherrschung des Quellenmaterials und zumal in der Quellenkritik« den »etablierten Historikern in Deutschland« überlegen. 1 Es gelang zwar nicht, die »Revisionisten« seriös zu machen, wie der Historiker-
Revisionismus als Antisemitismus
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streit gezeigt hatte, bei dem es darum gegangen war, ob Auschwitz nur ein Reflex auf originäre Verbrechen Stalins gewesen und damit nicht singulär und weniger gravierend gewesen wäre. Die Debatte hat aber Spuren hinterlassen und im Publikum eine gewisse Ratlosigkeit erzeugt, die sich in wachsender Unlust zu weiterer Auseinandersetzung zeigte. Ein deutscher Schriftsteller hat öffentlich gemacht, was viele empfinden, er hat damit spontanen Beifall gefunden und anhaltenden Streit ausgelöst: Überdruß an einem Thema, das alle peinlich berührt, das ratlos und verlegen macht, demgegenüber »normale Verhaltensweisen« nicht möglich sind. Das Plädoyer des Schriftstellers Martin Walser im Herbst 1998 für die Privatisierung der Erinnerung und den Holocaust hat eine Diskussion in Gang gesetzt, in der die Emotionen vieler deutscher Bürger öffentlich artikuliert wurden als Motive zur Abwehr kollektiver Erinnerung an Auschwitz, keineswegs zur Leugnung des Geschehens oder zur Abwertung von Schuld, wohl aber zur Ausgrenzung des Themas aus dem öffentlichen Diskurs und damit zur Relativierung des Sachverhalts: Es gebe andere Probleme, die aktueller und bewegender seien. 2 Für das Nachlassen der Aufmerksamkeit gegenüber dem Holocaust gibt es mehrere Gründe. Der wachsende zeitliche Abstand macht das Ereignis für neue Generationen immer abstrakter und schwerer faßbar. Ohne Holocaust-Überlebende, die durch ihren Auftritt in den Schulen und vor einer interessierten Öffentlichkeit Empathie mit dem Schicksal der Opfer stiften, wie das für eine kurze Weile immer noch geschieht, wird die Vermittlung von anschaulichen Kenntnissen über den Völkermord künftig ausschließlich vom pädagogischen Engagement des Lehrers, den narrativen und interpretatorischen Talenten der Historiker und von den Medienangeboten abhängen. Das Interesse nimmt natürlicherweise ab, weil es mit immer zahlreicher werdenden Gegenständen von meist größerer Attraktivität geteilt werden muß. Dazu kommt die natürliche Abwehr in den Folgegenerationen gegenüber jedem Thema, das die Väter bewegte. Im moralisch und emotional besonders besetzten Themenkomplex Holocaust gibt es aber auch gleichzeitig wirkende unbewußte Delegationsaufträge im Diskurs der Generationen, und zwar in der Tätergesellschaft wie bei den Nachkommen der Opfer. Auf der einen Seite ist es die Suche nach brauchbaren Traditionen deutscher Vergangenheit, die Suche nach positiven Elementen in der deutschen Geschichte, möglichst auch im Nationalsozialismus. Der Delegationsauftrag lautet, es dürfe und könne doch nicht alles negativ sein, was die Väter taten. Auf der Suche nach einer positiven nationalen, kollektiven Identität sind die Verbrechen der Nationalsozialisten auch für Nachgeborene unangenehm, weil sie eine Schulddiskussion aufrecht erhalten, und lästig, weil so oft in einem moralischen Sinne davon die Rede ist.
Wolfgang Benz
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Auf der anderen, der jüdischen, Seite besteht der unbewußte Auftrag, Wachsamkeit und Argwohn zu institutionalisieren, die Erinnerung zu provozieren, die Verbrechen an den eigenen Vorfahren nicht Geschichte werden zu lassen, sondern im Bewußtsein aller Deutschen lebendig zu halten. Der intergenerative Delegationsauftrag, Mahner zu sein, kontrastiert mit dem Wunsch der Gegenseite, nichts mehr von den Untaten der eigenen Vorfahren hören zu müssen und stärkt Ressentiments wie die von den »nicht versöhnungsbereiten Juden«. Der Bombenkrieg der N A T O gegen Serbien bot die Gelegenheit, Paradigmen zu wechseln. Der Pazifismus, der sich jahrzehntelang auf die Verbrechen des NS-Staats berief, verstummte und Politiker wie Intellektuelle wetteiferten in der Rechtfertigung der militärischen Aktionen, die dazu dienen sollen, »ein zweites Auschwitz« zu verhindern. 3 Daß Deutschland zum ersten Mal seit 1945 an kriegerischen Handlungen teilnimmt, stimuliert solche Begründungen, da eine längst erhoffte »Normalisierung« im internationalen Umgang mit Deutschland erreicht scheint, weil Deutschland - in seltener Einmütigkeit der öffentlichen Meinung wird dies konstatiert - jetzt auf der moralisch richtigen Seite engagiert ist. Eine neue und künftig wohl noch verstärkt auftretende Form der Relativierung ist die inflationäre Beschwörung des Holocaust, um aktuelle politische, moralische oder sonstige Zielsetzungen zu motivieren. Zur Rechtfertigung der Bomben im Krieg der N A T O gegen Jugoslawien bemühen Politiker, Philosophen, Dichter im Namen von Ethik, Demokratie und Humanität historische Vergleiche, die allerdings trotz der guten Absicht das historische Geschehen relativieren und banalisieren. Der Schriftsteller Peter Handke beklagt, daß für ihn das erste Opfer des Krieges immer die Sprache sei und will damit die Apologeten der Gewalt und ihren undifferenzierten Gebrauch von Schlagworten treffen, will Propaganda entlarven. Er bietet allerdings im gleichen Atemzug ein drastisches Exempel für das, was er bekämpft: Die N A T O habe »ein neues Auschwitz erreicht«, als sie behauptete, es verhindern zu wollen. Auf den Einwand, Auschwitz sei aber doch etwas anderes, entgegnete er im Mai 1999 in einer großen deutschen Tageszeitung: »Der Horror der Geschichte wiederholt sich nicht seitengleich oder spiegelbildlich. Dieser Krieg zeigt auf fürchterlich unvermutete Weise die ewige Barbarei: Nur bricht die im Jugoslawien-Krieg in grundanderer Gestalt aus als in der planen Wiederholung. Damals waren es Gashähne und Genickschußkammern; heute sind es Computer-Killer aus 5.000 Meter Höhe.« 4 Wenn alles mit allem verglichen wird, wenn die Tragödie des Völkermords nur noch als historische Sensation wahrgenommen und beliebig in die Argumentation eingefügt wird, ist der Weg zu ihrer endgültigen Relativierung beschritten. Es gibt bereits eine fatale unreflektierte Verwendung des Begriffs »Holocaust«, die nur dazu dient, Aufmerksamkeit zu verstärken im Sinne bekannter public relations-Strategien,
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die Aufregung als Stimulanz herbeiführen wollen. Wenn jeder, der über irgend etwas besonders empört ist, den Terminus »Holocaust« als rhetorisches Mittel verwendet wenn Tierschützer vom Holocaust an den Rindern sprechen, oder wenn vom »roten Holocaust« die Rede ist, um eine griffige Formel zu haben, um Untaten unter kommunistischer Ideologie zu brandmarken -, dann ist der Völkermord an den Juden als ideologisch motivierte, systematisch geplante, bürokratisch perfektionierte und konsequent durchgeführte Tat der Einmaligkeit entkleidet und marginalisiert. Der britische Außenminister Robin C o o k hat, um den serbischen Diktator Milosevic zu stigmatisieren, von dessen »Endlösung« gesprochen und damit die demokratische Seite profilieren wollen, in Wirklichkeit aber durch die Instrumentalisierung eines singulären historischen Begriffs diesen entwertet. Wesentlicher als solche äußeren Mechanismen der Relativierung des Holocaust bei denen immer auch das Argument des wachsenden Abstandes zum Ereignis eine Rolle spielt - sind Erscheinungen wie die Erosion des Konsens über die historische Wahrheit aus Desinteresse und Unkenntnis sowie die versuchte Konstruktion von sekundären Geschichtsbildern bei gleichzeitiger Dekonstruktion einer Geschichtskultur, die als Erfahrung aus nationalsozialistischer Vergangenheit (mit unterschiedlichen Akzenten in B R D und D D R ) gepflegt wurde. Dafür ist das folgende ein repräsentatives Beispiel. Im Juni 1998 wurde ein Buch mit dem Titel »Politisch nicht korrekt - eine Streitschrift für Deutschland« an »kompetente Meinungsführer« verschickt; es kann als Prototyp für den Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit gelten, wie er von rechtskonservativen bis rechtsextremen Vertretern der zweiten oder dritten Generation in Deutschland gepflegt wird. Verfasser der Schrift ist ein Zahnarzt in Berchtesgaden, die Gedankengänge gehören in das Spektrum deutschnationaler Agitation, wie sie parteipolitisch und publizistisch auch Republikaner, N P D , Deutsche Volksunion, Deutsche National-Zeitung und andere charakterisieren. 5 Ausgangspunkt ist möglicherweise die Diskussion um ein Mahnmal für die Opfer des Holocaust in Deutschland. Moderater vorgetragen und argumentativ nicht auf den ersten Blick und auch nicht durchgängig als rechtsextrem/nationalistisch einzuordnen, lautet die zentrale These des Buches: »Die meisten Probleme, die uns heute beschäftigen, haben ihren Ursprung in unserem Umgang mit unserer jüngeren Geschichte. Fast unbemerkt und unbewußt steht in Deutschland das politische Empfinden, Denken und Handeln unter dem Schock, den vor allem wir Nachgeborenen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus empfinden. Wir erkennen die Zusammenhänge kaum noch, die zwischen den aktuellen politischen und sozialpolitischen Entscheidungen und jenem tiefen Schock bestehen.« 6 Das Pamphlet ist eine Facette des Verweigerungsdiskurses, in den auch Martin
Wolfgang Benz
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Walsers Frankfurter Rede und die anschließende Debatte gehören, es ist als Montage gängiger Klischees und stereotyper Vorstellungen bemerkenswert, widersteht in seiner Banalität aber jeder ernsthaften Analyse. Die Addition von Abwehrreaktionen und Aversionen operiert mit der Kollektivschuldthese, konstatiert Selbstgerechtigkeit und Flagellantentum der Deutschen, Selbsthaß bis zum schleichenden Selbstmord durch Überfremdung in einer unerwünschten multikulturellen Gesellschaft und kommt zu dem Schluß, es mangele der deutschen Nation an Identität, also an Selbstbewußtsein. Der Sehnsucht nach dem »weltoffenen Nationalstaat« steht die »einseitige Fixierung auf den deutschen Nationalsozialismus« im Wege. Als Kernaussage sind die »Folgen der deutschen Schuldkultur« zusammengefaßt in tabellarischer Form unter dem Motto »andauernde Schuldzuweisungen (auch besondere Verpflichtungen genannt) lösen viele Gefühle und Reaktionen aus, die sich wiederum auf das jeweilige Verhalten auswirken.« Die Liste der Gefühle besteht aus Angst, Scham, Wut, Trauer, Melancholie und Minderwertigkeitsgefühl, die Reaktionen darauf enthalten u.a. »Unsicherheit, Überreaktionen, Zwangsvorstellungen, unsicheres Verhalten, Willfährigkeit, Aggression, Selbstverachtung«. Und folgende Auswirkungen resultieren daraus wie »Besuche von KZs als pädagogisches Instrument (Erziehungsprinzip Angst)« als Beispiel für Überreaktion, »undifferenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches« als Zwangsvorstellung, »verkrampftes Verhalten gegenüber jüdischen Mitbürgern und Ausländern« als Merkmal unsicheren Verhaltens, »Akzeptanz klassischer Schuldtheorien der Nachkriegszeit (Sippenhaft, Perpetuierung der Schuld in die Zukunft)« als Reaktion der Willfährigkeit oder »Schändung jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten« als Form der Aggression, die wiederum als Reflex von Wut als »Folge der deutschen Schuldkultur« ausgemacht wird. 7 Das Pamphlet ist auch dafür als Symptom zu werten, daß es Wirkung hat, weil es in der Machart seriöser wirkt als übliche rechtsextreme Publizistik. So fand es sogar einen Rezensenten im seriösen Berliner »Tagesspiegel«, dessen Spalten solcher Art von Druckerzeugnissen normalerweise nicht zur Verfügung stehen. Mit einigem Verständnis werden die Positionen des Autors referiert, die These vom »allgegenwärtigen Schuldkomplex«, die Vorstellung eines »Superlativs der Reue«, der zur typisch deutschen »Maximalmoral« führe, die völlig überdimensional dort alles wieder gut zu machen versuche, wo es eigentlich gar nicht hinpaßt. Asylpolitik und die Vision einer multikulturellen Gesellschaft stünden im Gegensatz zu nationalen Interessen und Bedürfnissen, so wird die Botschaft verstanden und ein Stück weiter transportiert. 8 Hier wird eine Nahtstelle zwischen verbreiteten Bedrohungsängsten und ihrer Instrumentalisierung durch rechtsextreme Propaganda deutlich. Die durch Kioske, in Bahnhöfen und im Abonnement verbreiteten Agitations-
Revisionismus als Antisemitismus
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blätter des Münchner Propaganda-Unternehmers Gerhard Frey sind in ihrer abgefeimten Machart als Vehikel judenfeindlicher Ressentiments ebenso wirkungsvoll, wie die einzelnen Aussagen juristisch geschickt konstruiert sind. Beispiele aus einer Novembernummer des Jahres 1998 der »National-Zeitung«: Über dem Titel wird in roter Balkenüberschrift »Auschwitz: Was stimmt eigentlich? Wie die Wahrheit unterdrückt wird« gelärmt und auf Seite 3 verwiesen, wo die Wahrheit zu erfahren sei. Ebenfalls auf der ersten Seite ist ein Beitrag placiert, der den Tenor hat, der Zentralrat der Juden in Deutschland beherrsche »virtuos das Vokabular antideutscher Kollektivanklagen, nach denen ein Großteil der Meinungsindustrie geradezu lechzt«. 9 Daß damit das Klischee vom undeutschen, unversöhnlichen, feindlichen Juden bedient wird, ist augenfällig. Persönliche Verunglimpfung dient der Anreicherung des Bildes und folgt gängigen Mustern eines anspruchslosen Agitationsjournalismus. Auf der dritten Seite wird unter der Rubrik »Leser fragen, unsere Redaktion antwortet« ein Gebräu zusammengerührt, das Zeitungsmeldungen als Belege anführt, um zu bestätigen, wie recht Martin Walser mit seiner Vermutung habe, Auschwitz diene als »Moralkeule«. Weil die BILD-Zeitung in einem Artikel zum Novemberpogrom im Übereifer geschrieben hatte, tausende Juden seien im November 1938 ermordet worden, weil sich Zahlenangaben über die Opfer des KZ Maidanek in einer Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom November 1998 mit einem Bericht des SED-Zentralorgans »Neues Deutschland« von 1979 widersprachen, wird dem Leser der Schluß nahegelegt, alle Zahlenangaben über die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus seien falsch, aber heutige und kommende Generationen von Deutschen seien unerträglich belastet, und der sechs Millionen (!) ermordeter Deutscher (die durch »Sieger-Massenmorde des Luftterrors, der Vertreibung und in den alliierten Lagern umgebracht wurden«) würde nicht einmal mehr am Volkstrauertag gedacht. 1 0 Wenn es der Beweise bedürfe, wie notwendig Aufklärung statt Wegsehen über historische Sachverhalte ist, die Redaktion liefert sie aufs schlichteste Woche für Woche und stereotyp Jahr für Jahr. Das Wesentliche steht zwischen den Zeilen und im Anzeigenteil, in dem Bücher mit Titeln wie »KZ-Lüge« oder »Wer ist wer im Judentum?« feilgeboten werden. Das erfolgreichste, am weitesten verbreitete und langlebigste Wochenblatt der rechtsextremen Szene in Deutschland, die »Deutsche Nationalzeitung«, ist charakterisiert durch den eintönigen Appell an deutschnationalen Patriotismus, an Gefühle des Selbstmitleids, der Bedrohung durch Fremde. Die Beschwörung traditionell nationalistischer Wertvorstellungen kristallisiert sich thematisch am Zweiten Weltkrieg, an der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa nach 1945, an Besatzungsherrschaft und behaupteter andauernder deutscher Ohnmacht. Leitmotiv der Agitation ist ein aggressiver Revisionismus, der von der »Kriegsschuldfrage« bis zur Anzweife-
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lung der Dimensionen des Holocaust reicht, den Völkermord relativiert und Antisemitismus artikuliert. Verbrämt durch stereotypes Bedauern über die Verfehlungen einer kleinen Minderheit von Tätern werden antijüdische Ressentiments bedient und an Gegenständen wie der Debatte um ein Holocaust-Mahnmal, um die Entschädigung von Holocaust-Opfern, um den vermuteten jüdischen Einfluß in Deutschland und in der Welt thematisiert. Das Konstrukt jüdischer Aggression - ausgedrückt in der Unterstellung einer Perpetuierung des Schuldvorwurfs, unangemessener oder erschlichener Entschädigungsleistungen und Wiedergutmachungszahlungen - ist wirksam, weil es mit Ängsten und Ressentiments korrespondiert, die keineswegs auf rechtsextreme Kreise beschränkt sind, die in der gesamten Gesellschaft existieren und bei einer Minderheit einen sekundären Antisemitismus stimulieren, der aus der Abwehr von Schuldgefühl und Scham wegen des historischen Judenmords entsteht. Dieses Konstrukt wird in die Geschichte zurückverlängert in der oft widerlegten aber ebenso eifrig reanimierten Behauptung einer »jüdischen Kriegserklärung«, an Deutschland. 1 1 Gestützt auf »Beweise« wie die Schlagzeile der britischen Boulevardzeitung »Daily Express« vom 24.März 1933 »Judea declares war on Germany« und den Brief Chaim Weizmanns Ende August 1939 an den britischen Premierminister (in dem erklärt war, daß die Juden ihren Beitrag zur Verteidigung der Demokratie leisten würden) wird eine Argumentation aus Geschichtsklitterungen und »Dokumenten« aufgebaut, die den Zweck hat, zu beweisen, daß der nationalsozialistische Staat quasi aus Notwehr die Juden verfolgen mußte. 1 2 Das Bild vom feindseligen, rachsüchtigen und mächtigen Juden wird propagiert, um tradierte Vorurteile wachzuhalten, es ist Bestandteil einer Inszenierung, die den historischen Judenmord und seine Folgen im kollektiven Gedächtnis und Bewußtsein manipuliert. Jüdische Prominente wie der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland sind im Rahmen dieser Inszenierung regelmäßig die Zielscheibe aggressiver Attacken der National-Zeitung. Ein Artikel auf der Titelseite mit der Überschrift »Was Bubis mit den Deutschen vorhat« unterstellt ihm, er indoktriniere »systematisch Millionen junge Menschen in der Bundesrepublik mit seinen Vorstellungen einer bleibenden Kollektivverantwortung und Kollektivhaftung kommender Generationen der Deutschen für das schwere Unrecht der NS-Judenverfolgung. Bubis stellt die Deutschen als >Volk der Täter« hin, obgleich auch von der damals lebenden Generation unseres Volkes nur wenige Tausend in Unrechtstaten verstrickt waren.« 1 3 Über diesem jüdischen Schuldvorwurf wurde vergessen, welches Leid anderen Völkern wie beispielsweise »Kurden, Libanesen, Palästinensern und allen entrechteten Nationen« in viel größerem Ausmaß zugefügt wurde. 1 4 Die Brückenfunktion beim Transport von ahistorischen Konstrukten - deren
Revisionismus als Antisemitismus
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übelstes die »Auschwitzlüge« ist - vom rechtsextremen Spektrum über das konservative Lager in die Gesamtgesellschaft ist unübersehbar. Anteil an der Verankerung von Ressentiments im öffentlichen Diskurs haben neben Revisionisten und Rechtsradikalen rechtskonservative Zirkel, die aufklärerische Absichten für sich beanspruchen, die Bedrohung der Meinungsfreiheit durch »Denkverbote«, Sprachregelungen und die vermeintlich publizistische Übermacht linker Medien argwöhnen und gegenaufklärerische Bastionen zur Überwindung »neototalitärer Methoden und Strategien« aufrichten wollen. Hauptziel des Kreuzzugs gegen vermuteten Gesinnungsdruck und behaupteten verordneten Gesinnungskonformismus ist in der Nachfolge älterer Feindbildkonstrukte (»Kollektivschuld«, »Umerziehung«) die "political correctness". Mit verschwörungstheoretischer Ambition wird der Begriff als eine mächtig wirkende allgegenwärtige Gesinnungsmaschinerie verstanden, die von feindlichen Kräften (vor allem »den Linken«) bedient wird, der Widerstand zu leisten ist, um Gefahren für Nation, Vaterland und andere Werte abzuwenden. Ein ultrakonservatives »Professorenforum« hat sich zum K a m p f für christliche Wertvorstellungen etabliert und bietet dabei auch dem Kampf gegen »political correctness« eine Plattform. Verstanden wird unter diesem Begriff offensichtlich der liberaldemokratische Konsens der Gesellschaft der Bundesrepublik, die Verbrechen des Nationalsozialismus in kollektiver Erinnerung zu halten und moralische Konsequenzen aus dieser Erinnerung zu ziehen. Auf einem Symposium des »Professorenforums« vorgetragen und dann in beträchtlicher Auflage gedruckt wurden Ausführungen über die Gefahren einer angeblich herrschenden »neototalitären Gesinnungsdiktatur«, in der selbstgerechter Tugendterror der öffentlichen Verurteilungskultur herrsche und »Gewissensprüfüngen durch straflüsterne Moralgiganten« veranstaltet würden - das sei eine political correctness, deren Methode auf Goebbels zurückgehe. Die Stichworte hatte dem referierenden Professor der Schriftsteller Martin Walser gegeben, der - lange vor der Frankfurter Friedenspreis-Rede - im November 1994 bei einer früheren Preis-Verleihung zitierfähige Formulierungen gefunden hatte: »In diesem von liberalen Erledigern< geschaffenen öffentlichen Klima mit seinen Reizklischees samt der M a c h t des Fernsehens über die Schläfrigen«, angesichts dieser >Zeigefingerbemühungen der Herbeter, Abfrager, Insgewissenredner< und ihrer >politisch-moralischen Lynchstimmung< im >Correctness-Rausch< sollen wieder einmal Einsichten, Erfahrungen und Gewissen in typisch totalitärer Manier standardisiert werden.« 1 5 Ein trivialer, aber wesentlicher Grund für die Relativierung des Holocaust im allgemeinen Bewußtsein liegt sicher auch in den neuen technischen Informationsmedien, die zugleich den Leugnern neue und wirksame Möglichkeiten bieten. Im Internet relativiert das Riesen-Angebot am Informationen zu allen beliebigen The-
Wolfgang Benz
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men nicht nur die Informationen selbst, das Medium eignet sich auch hervorragend zur gezielten Desinformation und zur Tarnung ihrer Urheber. Das Internet ist auf dem Weg, das weltweit wichtigste Propagandainstrument zu werden. Die Zahl der rechtsextremistischen home pages hat sich von 1997 auf 1998 von 100 auf 200 vergrößert, bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität und Steigerung der Attraktivität. Kriminalisierte Sachverhalte wie die Behauptung der »Auschwitz-Lüge« werden über US-amerikanische Provider anonym ins Netz gestellt und damit der deutschen Strafjustiz entzogen. 1 6 Die Leugnung des Holocaust ist in den Kommunikationsmedien begleitet von Manifestationen des traditionellen Antisemitismus. Ein »Bürgerreform Europa« verbreitet zum Beispiel per h o m e page einen Text »Talmud ohne Maske« und die Behauptung, alle Prophezeiungen der »Weisen von Zion« seien seit 1900 »punktgenau und mit vernichtender Sicherheit« realisiert worden. 1 7 Welche Möglichkeiten der Abwehr gibt es gegen das Leugnen des Holocaust? Die Mittel der Strafjustiz sind begrenzt, weil sich, trotz der gesetzlichen Kriminalisierung in der Bundesrepublik (»Auschwitz-Gesetz«) die Revisionisten auf Meinungsfreiheit berufen und weil mit einigem Geschick tatsachenwidrige Hetze juristisch unangreifbar betrieben werden kann. Das beweist die rechtsextreme Presse stets aufs neue, wenn sie ihre Behauptungen in die Form des Zitats, der Frage, garniert mit scheinheiliger Entrüstung, über Verbrechen des Nationalsozialismus kleidet. Die Strafjustiz trifft deshalb die Unvorsichtigen oder die Propagandisten, die der Wirkung halber die Märtyrerrolle suchen. Die Möglichkeiten des Jugendschutzes sind ebenfalls begrenzt. Alles dankenswerte Bemühen der Bundesprüfstelle, politische Pornographie wie die Holocaust-Leugnung (in Filmen, Computerspielen, Druckschriften, im Internet usw.) von der Jugend fernzuhalten und durch Indizierung die Verbreitung zu erschweren, hat enge Grenzen. Die Liste jugendgefährdender Schriften kann leicht zum Informationssystem für Interessenten über aktuelle Angebote werden. 1 8 Unerläßlich bleibt die Aufklärung über die nationalsozialistische Judenverfolgung in der Schule. Sachgerecht betrieben - also kognitiv orientiert und nicht an Schuldgefühle und moralische Emotionen appellierend - muß der Schulunterricht das Fundament von überzeugendem Wissen legen, das nicht leicht erschüttert werden kann. Unterstützung braucht die Schule aber auf der einen Seite durch die Wissenschaft und durch die Medien, auf der anderen Seite durch das Elternhaus. Wenn die Bildungsinhalte der Schule in der Familie durch leichtfertigen Zweifel, durch Ignoranz oder Desinteresse relativiert werden, haben die antisemitischen Leugner der Wahrheit Terrain gewonnen. Deshalb bleibt die wichtigste Voraussetzung der Abwehr der demokratische Konsens der Bürger, die historische Wahrheit weder der
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Sensationslust gewisser Medien noch den politischen Interessen einer Minderheit von aggressiven Nationalisten, Neonazis und Rechtsextremisten auszuliefern.
A nmerkungen 1 Ernst Nolte: Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus, Berlin 1993, S. 304. 2
Die Debatte eskalierte zum »Walser-Bubis-Streit«, in dem die von Walser propagierte Privatisierung der Erinnerung an den Holocaust zurückgewiesen und gegen den Schriftsteller der Vorwurf geistiger Brandstiftung in Sinne des Antisemitismus erhoben wurde. Ein Beitrag zugunsten Walsers von Klaus von Dohnanyi (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.1998) machte die Dimension der Auseinandersetzung für das öffentliche Bewußtsein mit folgender Sentenz deutlich: »Allerdings müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 >nur< die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären.«
3 Gelegentlich waren auch Holocaust-Experten eingeladen, die moralische Notwendigkeit militärischer Intervention durch schlichte historische Vergleiche und Deduktionen zu beweisen. Vgl. D a n i e l ) . Goldhagen: Eine »deutsche Lösung« für den Balkan. Um das Völkermorden zu beenden, muß die N A T O Serbien besiegen, besetzen und umerziehen. In: Süddeutsche Zeitung, 30.4.-1./2.5.1999. 4 Moral ist ein anderes Wort für Willkür. Der Schriftsteller Peter Handke über die NATOBomben auf Serbien und über die Frage, warum Amerika umerzogen werden muß. In: Süddeutsche Zeitung 15./16.S.1999. 5 Ludwig Römhild: Politisch nicht korrekt, Bielefeld 1998. 6 Schreiben Römhilds vom Juni 1998, mit dem das Buch an »kompetente Meinungsführer« übersandt wurde. 7
Römhild, Politisch nicht korrekt, S. 64 f.
8 Der Tagesspiegel, Berlin, 12.12.1998 (»Asylpolitik und Anspruchsdenken: ein Buch wider die deutschen Befindlichkeiten«) 9 Deutsche National-Zeitung, 20.11.1998. 10 Ebenda. 11 Die »jüdische Kriegserklärung« ist ein alter topos rechtsextremer Propaganda, der gegen alle Aufklärungsbemühungen am Leben gehalten wird. In der National-Zeitung wurde im Frühjahr 1999 ein Buch angekündigt: »Jüdische Kriegserklärungen an Deutschland. Vorgeschichte - Wortlaut - Folgen. Ca. 400 Seiten, viele faksimilierte Originaldokumente, DM 49,90. Das Buch erscheint im Sommer. Zur Vorbestellung schon jetzt wird geraten« National-Zeitung, 16.4.1999. 12 Eines der Beweisstücke ist der Plan des Theodore N. Kaufman, das deutsche Volk durch Sterilisierung auszurotten und das Territorium aufzuteilen. Die Hintergründe der von Kaufman 1941 in New York publizierten Broschüre »Germany must perish« sind mit allen Details aufgeklärt. Es handelte sich um einen wirren Einzelgänger, der sich bald selbst von seiner Schrift distanzierte (Vgl. Wolfgang Benz: Judenvernichtung aus Notwehr? Die Legende um Theodore N. Kaufman. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 615-
Wolfgang Benz
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630). Die Legende, Kaufman sei ein einflußreicher Vertreter des Judentums und Berater des US-Präsidenten gewesen, sein Plan habe weite Zustimmung gefunden, wird unermüdlich weiterverbreitet. Auch in Römhilds Pamphlet wird phantasiert: »Dieses Buch enthält keineswegs, wie verschiedentlich behauptet, die von deutschen Rechten böswillig überbewerteten Phantasien eines nicht ernstzunehmenden Unzurechnungsfähigen, sondern ernstgemeinte Überlegungen zur Massensterilisation der Deutschen, die in der amerikanischen Presse einschließlich der renommierten >New York Times- auf reges Interesse stießen. Dank lebhafter Lesernachfragen erfreute sich Kaufmans Buch mehrfacher Neuauflagen.« Römhild, Politisch nicht korrekt, S.23. 13 Deutsche National-Zeitung, 12.3.1999. 14
Ebenda.
15 Klaus Hornung: Political Correctness oder politische Freiheit - Gefahren einer neototalitären Gesinnungsdiktatur. In: Pluralismus und Ethos der Wissenschaft. 1. Symposium des Professorenforums 2 8 / 2 9 . März 1998 in Frankfurt/Main, Gießen 1999 (Verlag des Professorenforums), S. 63. 16 Verfassungsschutzbericht 1998. 17 Juliane Wetzel: Antisemitismus im Internet. In: Das Netz des Hasses. Rassistische, rechtsextreme und neonazistische Propaganda im Internet, hrsg. v o m Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien (Deuticke) 1997, S. 89. 18 Vgl. Ullrich Dittler: Nazis und Computernetze. Alte Propaganda in neuen Medien. In: Jugend Medien Schutz-Report 19 (1996), Aprilheft 2, S. 5 f. Zur Jugendgefährdung durch Holocaust-Leugnung im Internet siehe ebenda 22 (1999), Aprilheft 2, S. 7.
Gudrun
Hentges
Grenzen der Gleichheit Antijudaismus/Antisemitismus und Rassenkonstruktion in den Schriften des Deutschen Idealismus
»Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen daher nicht so recht zu uns« - dieser antisemitischen Aussage stimmt, so das Ergebnis der »Deutschen nationalen Wahlstudie zur Bundestagswahl«, ca. ein Drittel der Bevölkerung zu (1994: 28,4%, 1998: 27,6%). 1 In dieser Größenordnung bewegt sich auch die Zustimmung zur Aussage »Auch heute noch ist der Einfluß von Juden zu groß« (1994: 30,7%, 1998: 30,4%). Lediglich knapp die Hälfte aller Befragten stimmte 1994 bzw. 1998 Aussagen wie diesen überhaupt nicht zu. 2 Sowohl 1994 als auch 1998 war die in Westdeutschland geäußerte Zustimmung zu solchen Aussagen höher als im östlichen Teil Deutschlands. Jedoch dokumentieren die Ergebnisse des Jahres 1998 - bei einer immer noch deutlichen Differenz - einen leichten Anstieg der antisemitischen Einstellungen in Ostdeutschland und somit eine langsame Annäherung der Werte in Ost und West. Umfragen wie diese verweisen auf tiefer liegende Strukturen der politischen Kultur und des politischen Bewußtseins. »Im öffentlichen Bewußtsein ist die Verantwortung für Auschwitz nicht verankert. Jeder in Deutschland fühlt sich verantwortlich für Schiller, für Goethe und für Beethoven, aber keiner für Himmler« 3 - in dieser Weise äußerte sich Ignatz Bubis, der sieben Jahre das Amt des Präsidenten des Zentralrats der Juden inne hatte, kurz vor seinem Tod. Ignatz Bubis' Erfahrung, daß sich in Deutschland keiner für Himmler verantwortlich fühlt und der »Nationalsozialismus« folglich als Betriebsunfall in der deutschen Geschichte betrachtet wird, ließe sich anhand zahlreicher Beispiele aus der jüngeren Geschichte belegen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Deutsche Klassik und der Deutsche Idealismus - also literarische, ästhetische und philosophische Strömungen, die zum Inbegriff des positiv konnotierten deutschen kulturellen Erbes geworden sind - tatsächlich ohne jede Einschränkung die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit repräsentieren und demnach von jeglicher Verantwortung für die Entstehung von Rassismus und Antisemitismus freizusprechen sind. Müßte sich die Verantwortung für die »deutschen Dichter und Denker« nicht auch auf jene Bereiche erstrecken, die die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts signifikant geprägt haben: auf das Postulat der Rassenzugehörigkeit und der Un-
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gleichheit zwischen den Menschen und der Überlegenheit der Deutschen gegenüber anderen »Nationen«? Eine der zentralen Forderungen der Aufklärungsphilosophie war die nach Gleichheit aller Menschen: »Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.« 4 Jedoch war die Konkretisierung und praktische Umsetzung des Gleichheitspostulats äußerst umstritten: Wie ist Gleichheit zu verstehen? Als soziale, politische oder lediglich als rechtliche Gleichheit? Beinhaltet die Forderung nach Gleichheit also die Forderung nach einer Umverteilung des Reichtums? Impliziert die Gleichheitsforderung lediglich das Recht Aller auf politische Partizipation, also das Wahlrecht, Versammlungsrecht, Recht auf Meinungsfreiheit? Oder erschöpft sich die Umsetzung des Gleichheitsprinzips etwa darin, daß alle den gleichen Gesetzen unterliegen und vor dem Recht gleich sind? Welche Personengruppe kann die Menschen- und Bürgerrechte für sich beanspruchen? Aus den hier skizzierten Dimensionen des Gleichheitsprinzips wurden seit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaften verschiedene miteinander konkurrierende Politikkonzepte und Gesellschaftsmodelle abgeleitet. Neben dem Gleichheitsprinzip muß ein weiteres zentrales Charakteristikum der Ideologie der Aufklärung benannt werden. Die Theologie - im europäischen Mittelalter das zentrale Bezugssystem und die entscheidende Legitimationsgrundlage verlor zunehmend an Bedeutung. An ihre Stelle traten säkulare Erklärungsmodelle: der Rekurs auf naturwissenschaftliche Erklärungsansätze, auf das Naturrecht und auf die Vernunft. Tradierte Formen der Begründung von Ungleichheit oder Ungleichwertigkeit und überkommene Vorstellungen einer strikten Hierarchie wurden radikal in Frage gestellt. Es wäre jedoch voreilig, aus diesen hier skizzierten Entwicklungen den Schluß ableiten zu wollen, daß sich im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaften das Prinzip der Gleichheit aller Menschen durchgesetzt habe. Vielmehr entstanden so meine These - unter Bezugnahme auf neue Referenzsysteme neue Formen der Begründung von Ungleichheit und Ungleichwertigkeit. Diese Ideologien der Ungleichheit artikulierten sich in der Konstruktion eines polaren Geschlechterverhältnisses 5 , in der Rassenkonstruktion und auch im traditionellen Antijudaismus und modernen Antisemitismus. 6 Im folgenden Beitrag sollen Antijudaismus, Antisemitismus und Rassenkonstruktion näher betrachtet werden. 7 Im Zentrum stehen hierbei philosophische Schriften aus der Periode des Deutschen Idealismus (1790-1831). Charakteristisch für den deutschen Entwicklungsweg, der die Positionen von Kant, Fichte und Hegel nicht unerheblich beeinflußt hat, ist die unmittelbare Konfrontation zwischen dem revolutionären Frankreich und dem preußischen Absolutismus,
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Grenzen der Gleichheit
der sich zunächst durch ein großes Beharrungsvermögen und später durch zaghafte Reformen auszeichnete. 8 Zu fragen ist: Welche Rolle spielt die jüdische Religion in den Schriften von Kant, Fichte und Hegel? Wie werden Juden und Jüdinnen dargestellt? Welchen Beitrag haben Repräsentanten des Deutschen Idealismus zur Konstruktion eines jüdischen Nationalcharakters geleistet? In welcher Weise thematisieren Kant, Fichte und Hegel Menschen nicht-weißer Hautfarbe? Läßt sich zwischen dem Antijudaismus und der Rassenkonstruktion ein (mehr oder weniger deutlicher) Zusammenhang herstellen? Worin besteht das Gemeinsame?
Kants
Vorwürfe gegen Juden
und die jüdische Religion.
Vorwurf I: Der jüdische Glaube - ein bloß »statutarischer« Der zentrale Begriff, den Kant zur Charakterisierung des jüdischen Glaubens anführt, ist der des »Statutarischen«. Grundsätzlich verwendet er zur Charakterisierung des jüdischen Glaubens die gleiche Kategorie, die er auch zur Beschreibung des Kirchenglaubens verwandt hat. Jedoch seien die statutarischen Gesetze des jüdischen Glaubens die einer politischen Verfassung, und zwar derjenigen, auf der der erste israelische Staat begründet gewesen sei. Demnach könne man die »jüdische Nation« auch nicht als ethisches Wesen bezeichnen oder ihr eine Religion zusprechen; sie sei lediglich ein juridisches Wesen, eine bloße Vereinigung von Menschen, die weder durch eine Religion noch durch eine Kirche zusammengehalten werde, sondern nur durch politische Gesetze vereint sei. Die religiöse Praxis, die aus dem jüdischen Glauben erwachse, sei der »Religionswahn«, der in einen »Afterdienst«, eine nur vermeintliche Verehrung Gottes, münde. Kants Dilemma ist typisch für das eines christlichen Antijudaisten: Einerseits kontrastiert er Judentum und Christentum als Antithesen, als zwei miteinander unvereinbare Glaubensrichtungen, andererseits kommt er nicht umhin, jene Elemente zu benennen, die eine Entstehung des Christentums aus dem Judentum überhaupt möglich gemacht haben. Letztlich ist der Widerspruch dieser beiden Thesen, der Kants Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« durchzieht, unlösbar, da Kant einerseits einer historischen Realität Rechnung tragen muß, andererseits einen Antijudaismus begründet, der die Anhänger des jüdischen Glaubens als moralisch minderwertig darstellt. In der allgemeinen Anmerkung »Von Religionssekten« gesteht Kant zwar der »Verschiedenheit der Kirchensecten« 9 ihre Berechtigung zu, dieses Plädoyer gegenüber verschiedenen Kirchensekten gilt jedoch nicht für den jüdischen Glauben, da dieser nach Meinung Kants keine Kirche zu bilden vermöge und zu keiner Religion fähig
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sei. Kant plädiert demnach für eine substantielle Reform - wenn nicht sogar Aufhebung - des jüdischen Glaubens. Kants Nachdenken über eine Überwindung des jüdischen Glaubens artikuliert sich folgendermaßen: »Die Euthanasie des Judenthums ist die reine moralische Religion mit Verlassung aller alten Satzungslehren, deren einige doch im Christenthum (als messianischen Glauben) noch zurück behalten bleiben müssen: welcher Sectenunterschied endlich doch auch verschwinden muß und so das, was man als den Beschluß des großen Drama des Religionswechsels auf Erden nennt, (die Wiederbringung aller Dinge) wenigstens im Geiste herbeiführt, da nur ein Hirt und eine Heerde Statt findet.« 1 0 Nathan Rotenstreich behauptet, daß der Begriff »»Euthanasie« einen Bedeutungswandel erlebt habe. 1 1 Dies läßt sich jedoch mit Blick auf das Universal-Lexikon nicht bestätigen. Der 1734 erschienene Band 8 definiert »Euthanasia« als »ganz leichter und geringer Tod, welcher ohne schmerzhaffte Conuulsiones geschiehet. Das Wort kommt von (...) wohl (...) und (...) Tod.« 1 2 Die semantische Lage ist also eindeutig: Die Übernahme der reinen moralischen Religion, die Überwindung der statutarischen Gesetze, kommt nach Kant einem angenehmen Tod des Judentums gleich.
Vorwurf II:
»Die Geschicklichkeit, Andere zu
»Gemüthsschwäche
im
betrügen« - eine jüdische
Erkenntnißvermögen«
Kant behandelt in seiner »Anthropologie« den »Charakter des Volks«, welches definiert wird als »die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, in so fern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heißt NATION (gens).« 13 Offenbar treffen diese Bestimmungsmerkmale nach Kant auch auf die »jüdische Nation« zu, denn Kant betrachtet »die unter uns lebenden Palästinenser« als Gegenstand der »Anthropologie«. Zunächst soll der Kontext, in dem diese soziale Gruppe charakterisiert wird, näher erläutert werden: Gemütsschwächen und -krankheiten der Seele beeinträchtigen nach Kant das Erkenntnisvermögen. Er benennt folgende Gemüts- und Charakterschwächen: der stumpfe Kopf, die Dummheit, die Albernheit, die Unwissenheit, die Einfalt. Folgende Aussage gewinnt in Zusammenhang mit Kants Judenverachtung an Bedeutung: »Die Verschlagenheit, Verschmitztheit, Schlauigkeit (...) ist die Geschicklichkeit, andere zu betrügen.« 1 4 Kant konstruiert in einer längeren Anmerkung den jüdischen Charakter folgendermaßen: Die Palästinenser seien aufgrund ihres Wuchergeistes in den Ruf des
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Grenzen der Gleichheit
Betrugs geraten, es handele sich bei ihnen um eine »Nation von Betrügern« 1 5 und Kaufleuten, die nicht etwa nach bürgerlicher Ehre strebten, sondern deren Handeln darauf ausgerichtet sei, das Volk, das sie aufgenommen habe und ihnen Schutz biete, zu überlisten. Sie gehörten zum nicht-produzierenden Teil der Gesellschaft und unterstünden einer alten Verfassung, die nicht so leicht aufgehoben werden könne. Vergeblich seien Versuche, das jüdische Volk in moralischer Hinsicht zu verbessern. Die hier von Kant vertretene Skepsis gegenüber einer moralischen Verbesserung des jüdischen Volks steht in Widerspruch zu seiner oben skizzierten Vorstellung bezüglich der substantiellen Reform bzw. Aufhebung des jüdischen Glaubens. Während Kant in Zusammenhang mit Glaubensfragen von der Prämisse der Veränderbarkeit religiöser Praxen und Einstellungen ausgeht, also die Möglichkeit einer »Euthanasie des Judentums« in Betracht zieht, konstatiert er in einem anthropologischen Kontext die Konstanz und Unveränderbarkeit (vermeintlich) jüdischer Charaktermerkmale. Religiöse Einstellungen und Haltungen werden als variabel, anthropologische Merkmale als konstant dargestellt. Hier deutet sich nicht nur der Übergang von einem religiösen zu einem Rassendiskurs an, sondern erkennbar sind bereits die Implikationen unterschiedlicher Reichweite, die aus den jeweiligen Zugehörigkeiten abgeleitet werden.
Vorwurf III:
Der jüdische
»Menschenhaß«
Kant wirft Juden nicht nur vor, sie verfügten über einen »statutarischen« Glauben und die »Geschicklichkeit, Andere zu betrügen« 1 6 , sondern unterstellt ihnen einen Haß auf das gesamte Menschengeschlecht - ein Vorwurf, der im selben Jahr, in dem Kants Schrift erschienen ist, ebenfalls in dem von Fichte verfaßten »Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution« (im folgenden als »Revolutionsschrift« bezeichnet) erhoben wurde. Kants Vorwurf gegen die Juden lautet, daß das jüdische Volk »das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft ausschloß, als ein besonders vom Jehovah für sich auserwähltes Volk, welches alle anderen Völker anfeindete und dafür von jedem angefeindet wurde.« 1 7 In derselben Schrift postuliert Kant, die Glaubensarten der Völker hätten sich zu einem Charakter verfestigt. Unabhängig davon, ob Temperament und Charakter auf alle Angehörigen der Glaubensrichtung zuträfen, würde dieser Nationalcharakter dem gesamten Kollektiv zugeschrieben. Kant entwickelt hier in Ansätzen Überlegungen zur Funktionsweise von Rassenkonstruktionen, wendet jedoch diese Erkenntnisse an keiner Stelle an. Vielmehr referiert er den gegen Juden gerichteten Vorwurf des
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Menschenhasses, ohne kritische Distanz einzunehmen oder gar diesen Vorwurf zu entkräften: »So zog sich der Judaism seiner ersten Einrichtung nach, da ein Volk sich durch alle erdenkliche, zum Theil peinliche Observanzen von allen andern Völkern absondern und aller Vermischung mit ihnen vorbeugen sollte, den Vorwurf des
Menschenhasses zu.«
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Aus vorangegangen Äußerungen ist zu schließen, daß dieser
Vorwurf nach Meinung Kants die Juden keineswegs unberechtigterweise trifft. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Kant keineswegs dazu bereit ist, die jüdische Religion zu tolerieren. Im Gegenteil: Seine Abhandlungen verfolgen die Intention, den jüdischen Glauben zu reformieren bzw. zu eliminieren. Zu diesem Zweck diskutiert und erörtert Kant in seinen Schriften verschiedene Strategien zur Herstellung einer »moralischen Religion«. Wenngleich die Thematisierung der jüdischen Religion in seinen Schriften vorherrscht, so finden sich doch auch Passagen, in denen er sich mit den »Gemüts- und Charakterschwächen« der »jüdischen Nation« befaßt. Jüdische Religion und »jüdische Nation« werden in jeweils unterschiedlicher Weise behandelt. Die Konstruktion der »jüdischen Nation« bereitet einen Rassendiskurs vor.
Fichtes Konzeption Ausschluß
eines
deutschen
Nationalstaates
unter
von Juden
J o h a n n Gottlieb Fichtes Schriften dokumentieren nicht nur den Ubergang von traditionellen zu modernen Formen des Antijudaismus, von einer religiösen zu einer politisch verbrämten Feindschaft; seine Schritten enthalten darüber hinaus Versatzstücke einer antisemitischen Argumentation. Dieser Übergang von einer religiös zu einer politisch ausgerichteten Feindschaft läßt sich sehr gut anhand zweier Schriften dokumentieren: einer Predigt aus dem Jahre 1786" und der 1793 anonym veröffentlichten Revolutionsschrift. 2 0 Monierte Fichte in seiner Predigt, daß die Juden an einen blinden Gott glaubten, so avanciert der jüdische Glaube in seiner Revolutionsschrift zum Ausgangspunkt für die Konstruktion eines Feindbildes und Bedrohungsszenarios: die Bedrohung durch den jüdischen »Staat im Staate«, durch den jüdischen Haß auf das gesamte Menschengeschlecht, durch deren angebliche Heuchelei und körperliche Degeneration. Während Fichte in seiner Predigt andeutet, daß den Juden Möglichkeiten zur Verbesserung offenstünden (gemeint ist die christliche Taufe), bleibt in seiner Revolutionsschrift eine freiwillige »bürgerliche Verbesserung« lediglich einzelnen »Ausnahmejuden« vorbehalten. Innerhalb eines Zeitraums von nur sieben Jahren - dazwischen liegen die mit der Französischen Revolution verbundenen Umwälzungspro-
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zesse - sind Elemente eines »aufgeklärten« Antijudaismus sowie eines modernen Antisemitismus an die Stelle eines christlichen Antijudaismus getreten. Gefährdet sei der anzustrebende homogene Nationalstaat, so Fichte, einerseits durch politische Formationen innerhalb seines Territoriums, also durch den »Staat im Staate«, andererseits durch das vermeintlich spezifisch Jüdische dieses »Staats im Staate«: den Haß gegen das Menschengeschlecht und das nicht vorhandene Rechtsbewußtsein der Juden. Das Streben nach einer nationalen Homogenität geht in Fichtes Argumentation einher mit der Entwicklung von antisemitischen Elementen. In einem bislang nicht veröffentlichten Entwurf einer nationalistischen Utopie, in der Fichte eine Konzeption entwickelt hat für »Die Republik der Deutschen zu Anfange des zwei u. zwanzigsten Jahrhunderts unter ihrem fünften Reichsvogte« 2 1 , finden sich Äußerungen Fichtes über die Vergabekriterien von Bürgerrechten sowie über die politische Stellung der Juden in einem deutschen Zukunftsstaat. Über Bürgerrechte äußert sich Fichte folgendermaßen: »Es ist Hauptgrundsatz, daß nur der
Deutsche Bürger seyn könne.«
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Ein weiteres Kriterium, das über die Vergabe der Bürgerrechte entscheidet, ist die Religion. So entwirft Fichte folgende Utopie für eine homogene und »judenfreie« Republik der Deutschen: »Juden; entweder verschmolzen, oder ausgewandert. Sie besitzen einen höchst intereßanten Staat in Palästina. Denn andere europäische Nationen sind nachgefolgt. Die gebliebenen sind alle Mitglieder der neuen Kirche.« 2 1 Fichtes Utopie läßt deutlich werden, daß er von einer Unvereinbarkeit zwischen »Juden« und »Deutschen« ausgeht, so daß »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens« für ihn ein Widerspruch in sich sind. Die kulturelle und religiöse Assimilation der Juden ist in seinen Augen weniger Ergebnis einer individuellen Hinwendung vereinzelter Juden zum Christentum, sondern eher Produkt eines Prozesses der gewaltsamen Unterwerfung der jüdischen Bevölkerung unter die deutsche Sprache und Kultur. Diejenigen Juden, die sich gegen eine Assimilation sperren, sollen versklavt oder vertrieben werden. Nach der Niederlage Preußens gegen die französischen Armeen wurde Fichte zu einem erklärten Gegner Napoleons, ging mit der preußischen Regierung nach Königsberg und lehrte an der dortigen Universität. Im französisch besetzten Berlin hielt Fichte die »Reden an die deutsche Nation« (1807/08) 2 4 ,die ein Jahr später veröffentlicht wurden. Mit diesen propagandistischen Schriften verfolgte er das Ziel, ein deutsches Nationalbewußtsein zu schaffen, um die Bewohner der deutschen Territorialstaaten gegen die napoleonische Besatzung zu mobilisieren. In diesen Reden bezieht sich Fichte an keiner Stelle auf die innerhalb der deutschen Territorialstaaten lebende jüdische Bevölkerung. Die Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Nation erfolgt - im Gegensatz zur Revolutionsschrift - nicht
Gudrun Hentges
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explizit, sondern implizit. Da Fichte lediglich den Deutschen (und den Skandinaviern) das fragwürdige Privileg vorbehält, sich zum »Volk der lebendigen Sprache« rechnen zu dürfen, da diese für sich in Anspruch nehmen könnten, die germanische Sprache über die Jahrhunderte hinweg beibehalten zu haben, bleibt die jüdische Bevölkerung aus dieser Gruppe des »Volks der lebendigen Sprache« ausgeschlossen. Der Übergang vom traditionellen zum modernen und politischen Antijudaismus, der Anklänge an eine antisemitische Rhetorik aufweist, ist zu erklären vor dem Hintergrund der Ereignisse, die auf das Revolutionsjahr 1789 folgten: Zunächst (1793) war Fichte noch ein Anhänger der Jakobiner und gestand Juden zumindest Menschenrechte zu, später - vor dem Hintergrund der Niederlage Preußens gegen die napoleonische Armee (1806) - entwickelte Fichte das Konzept eines homogenen deutschen Nationalstaats, der von jeglichen fremden Elementen - also auch von Menschen jüdischer Glaubensrichtung - bereinigt werden solle.
Judentum
in
den
Theologischen Jugendschriften
Hegels
»Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuß, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele« 2 5
Die Geschichte des israelischen Volkes - in den »Theologischen Jugendschriften« personifiziert durch Abraham, Moses und J a c o b - präsentiert Hegel als Geschichte von Nomaden, die aufgrund eines bloßen Zufalls seßhaft wurden, deren Geist aber noch vagabundiert. Diese Vorstellung deckt sich mit der Legende des »Ahasver«, des ewigen Juden, der zu ruheloser Wanderschaft verurteilt wurde, weil er Christus auf seinem Kreuzweg nach Golgatha angeblich Rast und Erquickung versagt haben soll. Die Beziehung der seßhaft gewordenen Israeliten/Hebräer zu anderen Völkern sei so die Darstellung Hegels - geprägt durch Feindschaft und Verachtung. Trotz ihres sklavischen Bewußtseins sei es Moses gelungen, die Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft zu befreien. Er habe sie jedoch seinen eigenen Gesetzen unterworfen und damit die ursprüngliche Abhängigkeit von den Ägyptern lediglich durch eine Abhängigkeit von Moses und Jehova ersetzt. Der jüdische Geist, der sich mit der Seßhaftwerdung noch stärker ausgeprägt habe, um gegen die benachbarten Völker eine Barriere zu errichten, zeichne sich aus durch einen Mangel an Freiheitsstreben, Vernunft, Menschenliebe, durch ein starkes Besitzstreben sowie dadurch, daß - abgesehen von Gott - alles als Materie, als bloßer Stoff betrachtet werde. Das jüdische Prinzip neige dazu, lebendige Zusammenhänge zu vereinseitigen und sie damit zu zerreißen. All dies spreche für eine Mißbildung des jüdischen Volkes. Das jüdische Volk sei eine passive Nation, und die Gesetze, denen es gehorche, seien ihm auferlegt worden. Die Gleichheit aller jüdischen Staatsbürger dürfe nicht mit einer republika-
Grenzen der Gleichheit
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nischen Gleichheit verwechselt werden, sondern sei eine Gleichheit Aller im Sinne einer Abhängigkeit von einem Regenten. Aus den hier entwickelten Bestimmungsmerkmalen leitet Hegel ab, daß die Beziehung der Juden zur übrigen Menschheit als die der Feindschaft und Verachtung begriffen werden müsse. Jüdische Religion und jüdischer Geist konstituieren das Judentum bzw. die jüdische Nation. Die zentrale Referenz der theologischen Jugendschriften Georg Wilhelm Friedrich Hegels sind die Überlieferungen des Alten Testaments. Ausgehend von den biblischen Erzählungen skizziert Hegel hier seine Vorstellungen des Geists des Christentums und des Geists des Judentums. In der Rechtsphilosophie, die ca. zwei Jahrzehnte nach der Schrift »Der Geist des Christentums und sein Schicksal« fertiggestellt worden ist, spielen weder die alttestamentarischen Geschichten noch die Gegenüberstellung von Christentum und Judentum eine Rolle. Hegel legt im Kapitel »die Sittlichkeit« ein Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten ab: »Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtseyn des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u.s.f. ist, dieß Bewußtseyn, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, - nur dann mangelhaft, wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüber zu stehen.« 2 6 Gegen die Forderung nach dem Recht der Juden auf die Staatsangehörigkeit ihres jeweiligen Landes ließe sich einwenden, so Hegel, daß sie nicht nur einer »besondere(n) Religionspartei«, sondern auch einem »fremden Volke« 2 7 angehörten, jedoch habe dieses »Geschrei« 2 8 übersehen, »daß sie zu allererst Menschen sind und daß dieß nicht nur eine flache, abstrakte Qualität ist (...).« 29 Darüberhinaus gibt Hegel zu bedenken, daß die Staatsangehörigkeit das Selbstbewußtsein der jeweiligen Person oder Personengruppe stärkt, da diese fortan als rechtliche Person in der bürgerlichen Gesellschaft gelte. Die »Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung« 3 0 , d.h. in moderner Terminologie die kulturelle Homogenisierung der Bevölkerung eines Territoriums, werde auf diese Weise ermöglicht. Eine Verweigerung der bürgerlichen Emanzipation der jüdischen Minderheit führe dazu, daß sich die Trennung vom Staat, die man ihnen vorwerfe, noch weiter verfestige. Hegels positive Bezugnahme auf die Menschenrechte ist unbestritten. Was seine Position zur bürgerlichen Judenemanzipation betrifft, so ist unverkennbar, daß er Pro- und Contra-Argumente gegeneinander abwägt. Für die bürgerliche Emanzipation der Juden spricht in seinen Augen die damit verbundene Aussicht auf die Stärkung der Rolle des Staates und die Herstellung einer kulturellen Homogenität; gegen
Gudrun Hentges
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die rechtliche Gleichstellung der Juden spreche hingegen deren Angehörigkeit zu einer »besonderen Religionspartei« und zu einem »fremden Volk«.
Das Judentum Religions-
als »Religion und
der Erhabenheit« in
Hegels
Geschichtsphilosophie
Im Vordergrund der Vorlesungen, die einige Jahre nach Hegels Tod veröffentlicht worden sind (1832 bzw. 1837), steht die Entwicklung des Geistes." Generell unterscheidet Hegel in der Religionsphilosophie drei verschiedene Religions-Gattungen: die »Naturreligion«, die »Religion der geistigen Individualität« sowie die »absolute Religion«. Unter die »Gattung« der »Religion der geistigen Individualität« subsumiert Hegel die »Religion der Erhabenheit« (jüdische Religion), die »Religion der Schönheit« (Religion der Griechen) sowie die »Religion der Zweckmäßigkeit oder des Verstandes« (Religion der Römer). Während in der »Naturreligion« die Natur als das Erste und als Grundlage allen Seins betrachtet worden sei, so die Ausführungen Hegels, seien in der jüdischen und auch der griechischen Religion - der »Religion der Erhabenheit« und der »Religion der Schönheit« - die Natur, die Materie, der Stoff oder das Sinnliche von dem erhabenen Geist unterworfen worden. In beiden Fällen zeichneten sich die Religionen dadurch aus, daß es ihnen an einer Vermittlung des Geistes mit der Natur mangele: Im Falle der »Naturreligion« herrsche die Natur als erstes und einziges Prinzip vor; in der jüdischen und griechischen Religion sei es der Geist, der alles Natürliche unterworfen habe. Die Entstehung der jüdischen Religion betrachtet Hegel als eine Stufe innerhalb eines Prozesses der Herausbildung des Geistes: Der Geist arbeitet sich aus der Sphäre des Natürlichen und Sinnlichen heraus, indem er sich zunächst absolut gegen die Natur richtet und die Einheit mit ihr aufkündigt. Erst in einer späteren Entwicklungsphase des Geistes - in Ansätzen schon in der »Religion der Zweckmäßigkeit und des Verstandes« (Religion der Römer), vollständig jedoch erst in der »absoluten Religion« - werden Natur und Geist wieder die ihnen gebührende Stellung erhalten. 32 Hegels Antijudaismus setzt sich aus traditionellen und modernen Elementen zusammen: Die volkstümlichen Elemente seiner Argumentation und auch Aspekte seiner Religionskritik entspringen dem christlichen Antijudaismus. Die Ausformulierung der Kritik am Judentum erfolgt jedoch mittels philosophischer Kategorien, die in dieser Weise nie zuvor auf das Judentum angewandt worden sind. Auch die Kritik an der jüdischen Staatskonzeption und Eigentumsordnung ist eine spezifisch moderne Kritik, die implizit Stellung bezieht zu den gesellschaftlichen und ökonomi-
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schen Umwälzungsprozessen, die sich infolge der Französischen Revolution im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland vollzogen haben. Hegels Antijudaismus geht weder im traditionellen religiösen Antijudaismus des christlichen Mittelalters auf, noch antizipiert er den Rassenantisemitismus des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich also bei Hegels Antijudaismus demnach um eine spezifische Form des Judenhasses, die dem Geist der (christlichen) Aufklärung entspringt.
Worin besteht der Konsens zwischen Kant, Fichte und Hegel? Neben den jeweils spezifischen Argumentationsmustern und -zusammenhängen, die oben dargestellt worden sind, seien die Gemeinsamkeiten benannt: Der christlichen Religion gebührt gegenüber der jüdischen Religion - so die von Kant, Fichte und Hegel vertretene Position - eindeutig der Vorzug. Das Christentum gilt als die »natürliche Religion« (Kant), als die »einzig wahre Religion« (Kant) und schöpferisches und leitendes Prinzip eines neuen Staates (Fichte) und firmiert in den Schriften Hegels als »absolute Religion«, das Christentum wird also als in der Religions- und Geschichtsphilosophie als jene Religion betrachtet, die die höchste Stufe der Herausbildung des Geistes erreicht hat. Die jüdische Religion fungiert als negative Projektionsfläche - als Religion, deren statutarische Gesetze denen einer politischen Verfassung gleichkommen (Kant) oder als »Religion der Erhabenheit« (Hegel), die sich zwar gegenüber den Naturreligionen als überlegen erweist, jedoch noch nicht die Stufe der »absoluten Religion« erreicht hat. Die jüdische Religion ist somit in den Augen Hegels erst der Anfang der Wahrheit. Das zentrale Merkmal, das von Kant und Fichte zur Konstruktion des jüdischen Charakters und der jüdischen Nation herangezogen wird, ist der Menschenhaß. Fast wortgleich behaupten Kant und Fichte, Juden hegten einen Haß auf das gesamte Menschengeschlecht, Hegel postuliert in seinen Theologischen Jugendschriften, Feindschaft und Verachtung prägten das Verhältnis der Juden gegenüber dem Rest der Menschheit. Einigkeit besteht ferner in der von Kant, Fichte und Hegel geteilten Einschätzung, daß Juden nicht problemlos in die aufkommende bürgerliche Gesellschaft zu integrieren seien. Kant plädiert für eine Überwindung (in seinen Worten »Euthanasie«) des Judentums. Fichte macht in seiner »Revolutionsschrift« eine gewaltsame Liquidierung der jüdischen Ideen zur Voraussetzung, um Juden die Bürgerrechte zuzugestehen; in der von ihm entworfenen nationalistischen Utopie gesteht er Juden nicht
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nur keine Bürger-, sondern auch keine Menschenrechte zu. Lediglich Hegel räsoniert darüber, ob man Juden, obwohl sie seiner Meinung nach einer besonderen Religionspartei und einem fremden Volk angehörten, nicht doch die Staatsangehörigkeit verleihen solle, denn dies stärke das Selbstbewußtsein der jeweiligen Person oder Personengruppe und trage zum inneren Zusammenhalt bei. Fichtes Schriften sind paradigmatisch für den Übergang vom Antijudaismus zum Antisemitismus. Zunächst plädiert er dafür, Juden Menschenrechte (wenngleich keine Bürgerrechte) zuzugestehen, in späteren Schriften distanziert er sich von dieser Forderung und räumt sogar die Möglichkeit ein, daß Juden versklavt und nichtchristliche Staaten überfallen und unterworfen werden können. Hier stellt sich nun die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen der Konstruktion eines jüdischen Nationalcharakters und der Rassenkonstruktion. Vorangestellt sei eine kurze Skizze des Rassenbegriffs bei Kant, Fichte und Hegel. In Kants Schrift »Bestimmung des Begriffs der Menschenrace« 3 3 behauptet er, die nicht-weißen »Rassen« seien hervorgegangen aus einer weißen Stammgattung und seien somit Abartungen oder Ausartungen. Kant ist davon überzeugt, daß in den Keimen der Stammgattung, deren Angehörige zwar eine brünette Haar-, aber doch weiße Hautfarbe aufgewiesen haben sollen, die Farbunterschiede der einzelnen »Racen« als Naturanlagen enthalten gewesen seien. »Abartungen« innerhalb dieses gemeinsamen Stammes hätten zur Herausbildung von »Racen« geführt, die sich durch zwei Merkmale auszeichneten. Erstens sei festzustellen, daß sich diese »Racen« ungeachtet aller Ortswechsel und den damit einhergehenden klimatischen Veränderungen - über mehrere Generationen hinweg beständig hielten. Zweitens ließe sich beobachten, daß eine »Race« in der Vermischung mit einer anderen »Race« jederzeit »halbschlächtige« Nachkommen zeuge. 3 4 Diese beiden Bedingungen treffen seiner Ansicht nach auf vier Gruppen von Menschen zu, so daß er folgende Kategorisierung vornimmt: »1) die Race der Weißen, 2) die Negerrace, 3) die hunnische (mungalische oder kalmuckische) Race, 4) die hinduische oder hindistanische Race.« 3 5 Er unterscheidet dementsprechend zwischen Menschen weißer, schwarzer, roter und gelber Hautfarbe, wobei er davon ausgeht, daß die »Race der Weißen« und die »Negerrace« die menschlichen »Grundracen« darstellen. 3 6 Während Menschen nicht-weißer Hautfarbe in den Gegenstandsbereich der Erdbeschreibung fallen, demnach mit Natur assoziiert werden 3 7 , fallen lediglich Menschen weißer Hautfarbe in den Untersuchungsbereich der (pragmatischen) Anthropologie. Diese fragt danach, was der Mensch »als freihandelndes Wesen aus sich selbst macht, oder machen kann und soll.« 3 8 Kants »Anthropologie« befaßt sich mit dem »Charakter des Volks«, welches er definiert als die »in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, in so fern sie ein
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Ganzes ausmacht.« 3 9 Sofern diese Menschen oder ein Teil von ihnen eine gemeinsame Abstammung aufwiesen und sich zu einem bürgerlichen Ganzen vereinigt hätten, könne man von einer Nation reden. 4 0 Diese für das Volk entwickelten Kriterien treffen - nach Meinung Kants - auf die Franzosen, die Engländer, die Spanier, die Italiener sowie auf die Deutschen zu. Diese werden folglich in der »Anthropologie« charakterisiert. Türken, Polen und Russen hingegen wird ein Volkscharakter abgesprochen. Kant bestreitet, daß die verschiedenen Nationalcharaktere auf äußere Ursachen zurückzuführen seien, der angeborene, natürliche Charakter der Nation liege in der Blutmischung der Menschen begründet. 4 1 »Überhaupt da hier vom angebornen, natürlichen Charakter, der so zu sagen in der Blutmischung der Menschen liegt, nicht von dem Charakteristischen des erworbenen, künstlichen (oder verkünstelten) der Nationen die Rede ist: so wird man in der Zeichnung desselben viel Behutsamkeit nöthig haben.« 4 2 Man könne davon ausgehen, daß die »zwei civilisirtesten Völker auf Erden«, die Franzosen und Engländer, über einen angeborenen und, sofern er nicht durch Kriegswirren vermischt wird, auch unveränderlichen Charakter verfügen, »von dem der erworbene und künstliche nur die Folge ist«. 4 3 Der Nationalcharakter müsse von »dem angebornen Charakter des Urvolks ihrer Abstammung hergeleitet werden.« 4 4 Von einer Klassifikation des deutschen Volkes zu den am meisten zivilisierten sieht Kant an dieser Stelle ab, »weil das Lob des Verfassers, der ein Deutscher ist, sonst Selbstlob sein würde.« 4 5 Weiter unten wird jedoch deutlich, daß die Deutschen gemeinsam mit den Franzosen und Engländern am besten abschneiden. Mit Ausnahme der Deutschen, Franzosen und Engländer wiesen die anderen Völker eine »Eingeschränktheit des Geistes« auf, da sie kein Interesse verspürten, die »Außenwelt mit eigenen Augen« kennenzulernen oder etwa als »Weltbürger« in anderen Regionen oder Kontinenten zu leben. 4 6 Demnach läßt sich bei Kant nicht nur eine Hierarchisierung zwischen den von ihm konstruierten »Racen« feststellen, sondern darüberhinaus nimmt er auch eine Hierarchisierung jener Völkern vor, die seiner Meinung nach der »weißen Race« zuzuordnen sind. Er lieferte damit sowohl Anknüpfungspunkte und Argumentationsmuster für den im Laufe des 19. Jahrhunderts erstarkenden Nationalismus und Rassismus.
Fichtes Konzeption
der »Völker der lebendigen
Sprache«
Fichte legt seiner Legitimation des deutschen Nationalcharakters und Nationalstaates die Prämisse einer gemeinsamen deutschen Sprache zugrunde, die im Gegensatz
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zu allen anderen Sprachen über eine ungebrochene Kontinuität verfüge, und zieht daraus die Konsequenz, daß man zwischen den »Völkern der lebendigen Sprache« und denen der »toten Sprache« unterscheiden müsse. »Allein in diesen Umstand, in die Lebendigkeit und in den Tod, setzen wir den Unterschied; keineswegs aber lassen wir uns ein auf den übrigen innern Werth der deutschen Sprache. Zwischen Leben und Tod findet gar keine Vergleichung statt, und das erste hat vor dem letzten unendlichen Werth; darum sind alle unmittelbare Vergleichungen der deutschen und der neulateinischen Sprachen durchaus nichtig, und sind gezwungen von Dingen zu reden, die der Rede nicht werth sind.« 4 7 Zu den »Völkern der lebendigen Sprache« zählt er die Deutschen (auch die Skandinavier betrachtet er als Deutsche), zu denen der »toten Sprache« alle anderen, ebenfalls auf den germanischen Stamm zurückzuführenden Völker. Der Unterschied zwischen den Völkern der lebendigen und denen der »toten Sprache« bestehe jedoch nicht nur in der Sprache, sondern erweise sich in allen anderen Bereichen des Lebens: der Geistesbildung, Philosophie, Wissenschaft, Staatskunst. So lasse sich beim »Volk der lebendigen Sprache« feststellen, daß Geistesbildung in das Leben eingreife, beim »Volk der toten Sprache« seien geistige Bildung und Leben voneinander isoliert; das »Volk der lebendigen Sprache« verfüge über Geist und Gemüt, das der »toten Sprache« lediglich über Geist; das »Volk der lebendigen Sprache« weise Fleiß und Ernst in allen Dingen auf, das der »toten Sprache« lasse sich »im Geleite (...) [seiner, G H . ] glücklichen Natur gehen«; das »Volk der lebendigen Sprache« sei als ganzes bildsam, bei dem der »toten Sprache« seien die gebildeten Stände vom Volk völlig isoliert und betrachteten es nur als blindes Werkzeug für ihre Pläne. 4 8 Anhand dieser Gegenüberstellung zwischen den Deutschen als dem »Urvolk« und den anderen von den Germanen abstammenden Völkern wird deutlich, daß die Deutschen, da sie im Gegensatz zu den »Völkern der toten Sprache« nicht von ihrer Natur abgewichen seien, als das in sprachlicher und kultureller Hinsicht überlegene Volk konstruiert werden. Da Natur, Sprache und Kultur in der Philosophie Fichtes alles andere determinieren, ist es für ihn folgerichtig, daß er den Deutschen territoriale Eroberungen und einen weltweiten Führungsanspruch zugesteht. In diesem Sinne ist auch folgende Äußerung Fichtes zu interpretieren: »Ein der Natur treugebliebenes Volk kann, wenn seine Wohnsitze ihm zu enge werden, dieselben durch Eroberung des benachbarten Bodens erweitern wollen, um mehr Raum zu gewinnen, und es wird sodann die früheren Bewohner vertreiben; es kann einen rauhen und unfruchtbaren Himmelsstrich gegen einen milderen und gesegneteren vertauschen wollen, und es wird in diesem Falle abermals die früheren Besitzer austreiben; (...) es kann endlich die früheren Bewohner des eroberten Bodens, als eine gleichfalls brauchbare Sache, wie Sklaven der Einzelnen unter sich vertheilen.« 4 9
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Fichtes Konzeption eines deutschen Nationalstaates beruht auf dem Prinzip der absoluten religiösen, kulturellen und ethnischen Homogenität. Wie bereits oben angedeutet, erklärt sich die Vehemenz, mit der Fichte seine politische Position entwickelt, aus einer Abwehrhaltung gegenüber den revolutionären Ereignissen in Frankreich und aus der unmittelbaren militärischen, politischen und ideologischen Konfrontation zwischen dem Konzept des revolutionären Frankreich und dem des absolutistischen Preußen auf dem Territorium des zerfallenden Deutschen Reiches. Die Konzeption des homogenen deutschen Nationalstaates soll demnach die nicht vorhandene gemeinsame politische Zielstellung und Grundüberzeugung kompensieren.
Hegels
verkannter Beitrag
zur Rassenkonstruktion
Die von Hegel vorgenommene Rassenkonstruktion wird in der Literatur häufig vollkommen ignoriert: Die Herausbildung des menschlichen Geistes aus der Natur vollzieht sich nach Vorstellungen Hegels in drei Phasen, in deren Verlauf der Geist nach und nach seine natürlichen Bestimmungen und seine Materialität verliert.50 Auf der ersten Stufe ist der Geist - als »Seele« oder »Naturgeist« - noch in einem hohen Maße durch die natürlichen Bestimmungen geprägt, auf der zweiten Stufe - als »Bewußtsein« - haben die natürlichen Bestimmungen gegenüber der ersten Stufe an Bedeutung verloren, als »Subjekt für sich« habe sich schließlich der menschliche Geist vollkommen von seinen natürlichen Bestimmungen und seiner Materialität emanzipiert. Die »Seele«, niedrigste Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes, wird ihrerseits weiter ausdifferenziert. Auf der niedrigsten Entwicklungsstufe der »Seele« manifestierten sich die »Racenverschiedenheiten«, auf der zweiten Entwicklungsstufe gewönnen Lebensalter und Geschlechterdifferenz an Bedeutung, auf der dritten Entwicklungsstufe kehre die Seele zur Einheit in sich zurück und habe schließlich den Zustand der an-sich-seienden Einzelnheit überwunden und den der für-sich-seienden Einzelnheit erreicht. Verschiedenheiten zwischen »Racen« und Nationen verortet Hegel demnach auf der niedrigsten Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes - dem der »Seele« oder des »Naturgeistes« -, genau genommen auf der niedrigsten Entwicklungsstufe der »Seele«. Die geographischen Besonderheiten Hochland, Talland und Uferland prägten allein oder in Kombination den Charakter der verschiedenen Kontinente. 5 1 Daraus leitet Hegel ab, daß - mit Ausnahme der »kaukasischen Race«, die auf dem europäischen Kontinent und in Vorderasien zu finden sei, - jedem der Kontinente eine der »Racen« entspreche und unterscheidet zwischen der »kaukasischen«, »äthiopischen«,
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»mongolischen«, »malaiischen« und »amerikanischen Race«. Ausgehend von dieser Prämisse nimmt er Zuschreibungen vor, wobei den phänotypischen Merkmalen (»Gesichtswinkel«, Hautfarbe etc.) eine geringere, der Entwicklungsstufe des Geistes eine größere Bedeutung beigemessen wird. Es entsteht schließlich das Gesamtbild einer in sich hierarchisch ausdifferenzierten Menschheit. Auf der untersten Hierarchieebene rangiert die »amerikanische Race«, der Hegel die Existenzberechtigung abspricht, gefolgt von der »äthiopischen« und der »mongolischen Race«. A u f der obersten Stufe angelangt seien lediglich die »Kaukasier« - insbesondere die in Europa lebenden Angehörigen dieser »Race«.
Kontinuitäten
und
Diskontinuitäten
Die hier untersuchten philosophischen Schriften entstammen einer Periode, deren wesentliches Charaktermerkmal das Aufeinandertreffen von Altem und Neuem, von traditionsgebundenem und modernen Denken ist. So war es möglich, daß religiöse Begründungszusammenhänge, wie z.B. die Bezugnahme auf das Alte Testament, nach wie vor weit verbreitet waren, daß aber auch zeitgleich neue Aspekte hinzukamen, beispielsweise spezifische Vorstellungen von »Rasse«, Nation, Volk oder Staat. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft nicht gänzlich neue Begriffe entstanden sind, sondern bereits vorhandene einen Bedeutungswandel durchlaufen haben. Dies soll im folgenden skizziert werden. Der älteste schriftlich fixierte Versuch der Erklärung der Aufspaltung der Menschheit findet sich im 1. Buch Mose. Demnach wurden die drei Söhne Noahs als Stammväter der »Rassen« betrachtet, die im Alten Orient bekannt waren: Japhet (»Weiße« = Europäer), Sem (Semiten) und Ham (Negriden). 5 2 In dem Maße, wie die Theologie an Wirkungsmacht verlor, traten naturwissenschaftliche Erklärungsmuster an ihre Stelle. Die Existenz von »Rassen« wurde fortan nicht mehr aus biblischen Erzählungen und Überlieferungen abgeleitet, sondern im Vordergrund stand das Bemühen um eine möglichst naturwissenschaftliche Erklärung der Existenz von Menschen unterschiedlichen Aussehens. Körpermerkmale (Hautfarbe, Haarfarbe, Augenform, Schädelform, Gesichtswinkel) oder die Zusammensetzung des Blutes und der Körpersäfte (Säuregehalt, Phlogistongehalt) galten als Kriterien zur Kategorisierung von »Rassen«. Diese ersten Anfange der Abkehr von biblischen und die beabsichtigte Hinwendung zu naturwissenschaftlichen Argumentationsmustern markieren den Übergang von traditionellen zu modernen Vorstellungen und Legitimationsmustern von Ungleichheit.
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Ebenso wie der Rassenbegriff unterlag auch der Begriff der Nation einem Bedeutungswandel. Vor 1884 definierte das Wörterbuch der Königlich-Spanischen Akademie »nacion« als »die Gesamtheit der Einwohner einer Provinz, eines Landes oder eines Königreichs«. 5 3 Erst in der 1884 erschienenen Neuauflage wird »nacion« bestimmt als »>ein Staat oder eine politische Körperschaft, die eine höchste gemeinsame Regierungsinstanz anerkennt- und auch als >das durch diesen Staat und seine einzelnen Einwohner in ihrer Gesamtheit gebildete Territorium< «. 5 4 Die Verwendung des Nation-Begriffs im deutschen Sprachraum weist spezifische Merkmale auf, die ihn von seiner Bedeutung in romanischen Sprachen unterscheiden. Am deutlichsten kommt dies in Fichtes »Reden an die Deutsche Nation« zum Ausdruck. Nation und Volk werden in dieser propagandistischen Schrift zu einer Einheit verschmolzen. Nation wird nicht als politische Willensgemeinschaft gefaßt (wie im benachbarten Frankreich), sondern als ethnische Abstammungsgemeinschaft. In dieselbe Richtung weist auch das Verständnis von »Nation«, das sich bei Kant finden läßt: auch er versteht Nation als Abstammungsgemeinschaft und weist ausdrücklich daraufhin, daß der angeborene, natürliche Charakter der Nation in der Blutmischung der Menschen begründet liege. Wurde den in Frankreich lebenden Hugenotten vorgeworfen, sie bildeten einen »Staat im Staate«, so erlebt dieses Schlagwort in den Reden und Schriften von Fichte eine neue Aktualität. 5 5 Juden bildeten, so die von ihm heraufbeschworene Gefahr, einen »Staat im Staate«, der auf dem Haß gegen das ganze Menschengeschlecht basiere. Dieser von Fichte geäußerte Vorwurf legitimiert eine Politik, die die Zerstörung der vermeintlich staatszersetzenden und subversiven Strukturen verfolgt. Die Egalitätsvorstellungen der Repräsentanten des Deutschen Idealismus sind folgendermaßen zu charakterisieren: Kant und Hegel treten in ihren Schriften für die Menschenrechte ein. Was die Frage der Bürgerrechte betrifft, so treten Differenzen zwischen Kant und Hegel zutage: Kant macht sich nicht für die bürgerliche Emanzipation der jüdischen Bevölkerung stark, Hegel hingegen zeigt die für den Staat positiven Effekte der bürgerlichen Emanzipation der Juden auf und liefert somit Argumente für die bürgerliche Gleichstellung von Juden. In Fichtes Schriften wird die Forderung nach einer uneingeschränkten Gültigkeit der Menschen- und Freiheitsrechte teilweise wieder zurückgenommen. Bürgerrechte für Menschen jüdischer Herkunft oder Glaubens kann er nicht befürworten. Eine staatliche Vergesellschaftung kann sich Fichte nur unter dem Vorzeichen einer Unterwerfung unter die christliche Religion und einer Homogenisierung vorstellen. Die Tatsache, daß Frauen und Besitzlosen keine Bürger(innen)rechte zugestanden wurden, blieb innerhalb des Deutschen Idealismus unwidersprochen. Gleichheit wird jedoch auch noch in anderen Hinsicht auf ideologischer Ebene
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in Frage gestellt: Charakteristisch für Kant, Fichte und Hegel ist die Hierarchisierung - sowohl die von Christentum und Judentum als auch die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschen unterschiedlicher Sprache (Fichte), Herkunft und Hautfarbe (Kant, Hegel) sowie die Hierarchisierung der Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes und deren Kopplung an Religionen (Hegel). * * *
Die vorliegende Untersuchung konnte zeigen, daß der Übergang vom Antijudaismus zum Antisemitismus parallel verläuft zur Entstehung moderner Nationalstaaten und Rassentheorien. In den hier rezipierten Schriften wurde nicht nur der jüdischen Religion (als Gegenspielerin zur christlichen Religion) Aufmerksamkeit geschenkt, sondern konstruiert und negativ bewertet wurden: die jüdische Philosophie, das jüdische Volk, die jüdische Nation, der jüdische Nationalcharakter und der sog. jüdische »Staat im Staate«. Demnach wurde die »jüdischen Frage« mit philosophischen, politischen und sog. anthropologischen Fragen verknüpft. Jüdische Religion und Philosophie galten in den Augen von Kant, Fichte und Hegel als der christlichen Religion und dem Geist der Aufklärung unterlegen. Die jüdische Nation wurde von ihnen als homogene Gruppe entworfen, deren Zusammenhalt nicht nur auf die gemeinsame Religion, sondern auch auf eine spezifische Charaktere zurückzuführen sei. Die Zuschreibung eines vermeintlich jüdischen Nationalcharakters und jüdischen Geistes und die Zuschreibung körperlicher Eigenschaften sind - so meine These - Vorboten einer nach und nach entstehenden Affinität zwischen dem Judenhaß, dem (Rassen-)Antisemitismus und dem modernen Rassismus. Der Ausflug in die deutsche Geistesgeschichte hat zeigen können, daß in den Schriften des Deutschen Idealismus die Grenzen der Gleichheit recht eng gesteckt sind und in dieser Periode neue, der bürgerlichen Gesellschaft angemessene moderne Begründungsformen von Ungleichheit und Ungleichwertigkeit entwickelt wurden. Vielleicht ist es an der Zeit, nicht nur für Schiller, Goethe und Beethoven, sondern auch für Kant, Fichte und Hegel Verantwortung zu übernehmen - nicht in dem Sinne eines unreflektierten Rückgriffs auf die positiven Traditionen der deutschen Geistesgeschichte, sondern durchaus im Sinne einer kritischen Rezeption ihrer Schriften und Analyse ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte.
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A nmerkungen 1 Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland. Deutsche nationale Wahlstudie zur Bundestagswahl 1998, Repräsentativbefragungen 1994/1998, Prof. Dr. Jürgen W. Falter, Prof. Dr. Oscar W. Gabriel, Prof. Dr. Hans Rattinger (unveröffentlichtes Manuskript) 2 Ablehnung des Item »Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich ...« 1994: 45,4%, 1998: 45,8%, Ablehnung des Item »Auch heute noch ist der Einfluß von J u d e n zu groß«. 1994: 42,6%, 1998: 43,4%. 3 Der Stern vom 29.7.1999, S. 56 ff. 4 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (26.8.1789). Zit. nach Walter Grab: Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1989, S. 48. 5 Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner C o n z e (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393: 6 Vgl. hierzu ausführlicher Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und »Wilden« in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach/Taunus 1999. Vgl. auch Grab, Walter: Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1789-1938, München 1991; Christhard Hoffmann: Das J u d e n t u m als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters: In: Wolfgang Benz (Hg.): Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995, S. 25-46; J a c o b Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, Berlin 1990; Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus, Bd. V: Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz, Worms 1983; Paul Lawrence Rose: Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner, Princeton 1990. 7 Im folgenden werde ich mich an der von Andreas Nachama und Gereon Sievernich vorgenommenen Definition orientieren: »Antijudaismus« ist eine »Bezeichnung für die allgemeine Feindschaft gegen Geschichte, Lebensart und Religion des jüdischen Volkes von der Antike bis zur Neuzeit«; »Antisemitismus« bezeichnet den »politisch neuzeitlichen (...) Judenhaß« und grenzt diese spezifische Form von der traditionell-religiösen Variante ab. Vgl. Andreas Nachama/Gereon Sievernich (Hg.): Jüdische Lebenswelten. Katalog, Berlin 1991, S. 712. 8 Vgl. auch Reinhard Kühnl: Deutschland seit der Französischen Revolution. Untersuchungen zum deutschen Sonderweg, Heilbronn 1996. 9 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten: In: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VII, Berlin 1968 [1798], S. 52. 10 Ebenda. 11 Vgl. Nathan Rotenstreich: Jews and German Philosophy. The Polemics of Emancipation, New York 1984, S. 5. In einer älteren Veröffentlichung Nathan Rotenstreichs findet sich noch nicht der Hinweis auf den angeblichen Bedeutungswandel des Begriffs »Euthanasie«. Vgl. Nathan Rotenstreich: The Recurring Pattern. Studies in Anti-Judaism in Modern Thought, L o n d o n / N e w York 1963, S. 38. 12 Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, 64 Bde., Leipzig/Halle 1732-1750, hier Bd. 8, 1734. 13 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Kants Werke, AkademieTextausgabe, Band VII, Berlin 1968 [1798], S. 311, Hervorhebung i . O ; Während Kants
Gudrun Hentges
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»Anthropologie« die »Race der Weißen« zum Gegenstand hat, berichtet die »Physische Geographie« von den nicht-weißen »Racen« und von den Differenzen zwischen den menschlichen »Racen« unterschiedlicher Hautfarbe. 14 Ebenda, S. 205, Hervorhebung i.O. 15
Ebenda.
16
Ebenda.
17 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968 [1793], S. 127. 18 Ebenda, S. 184, Anm., Hervorhebung i.O. 19 Vgl. »Über Gnadenwahl und die sittliche Pflicht zu handeln«: In: Predigten von J o h a n n Gottlieb Fichte, hrsg. v. Maximilian Runze, Leipzig 1918 [1786], S. 21 f. 20 Vgl. J o h a n n Gottlieb Fichte: Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution. In: J o h a n n Gottlieb Fichte's sämtliche Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Bd. 6, Berlin 1845 [1793]. 21
Fichte, zit. nach Richard Schottky: Fichtes Nationalstaatsgedanke auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte von 1807. In: Fichte Studien. Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie, Bd. 2: Kosmopolitismus und Nationalidee, hrsg. v. Klaus Hammacher/Richard Schottky/Wolfgang H. Schrader, Amsterdam/Atlanta 1990, S. 111-137, hier S. 111; Die Manuskripte, auf die ich mich im folgenden beziehe, sind im M a i / Juni 1807 in Königsberg entstanden, lagern in der Staatsbibliothek in Berlin und wurden für einen Nachlaßband entziffert.
22
Fichte, Die Republik der Deutschen, zit. nach ebenda, S. 115, Hervorhebung i.O.
23
Ebenda, S. 116, Hervorhebung i.O.
24 Vgl. J o h a n n Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. In: J o h a n n Gottlieb Fichte's sämmtliche Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Bd. 7, Berlin 1846 [1808]. 25
Hegels theologische Jugendschriften, nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin, hrsg. von Hermann Nohl, Tübingen 1907, unveränderter Nachdruck 1966, S. 312.
26
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Bd. 7, neu herausgegeben von Hermann Glockner, Stuttgart 1952, 3. Auflage [1820], § 209, S. 286, Hervorhebung i.O.
27
Ebenda, S. 354.
28
Möglicherweise spielt Hegel an dieser Stelle auf J a k o b Friedrich Fries an, gegen den er auch in der Vorrede seiner »Grundlinien der Philosophie des Rechts« polemisiert. Fries, der Verfasser der Flugschrift »Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden« (1816), ist auch als Redner auf dem Wartburgfest (1818) aufgetreten.
29
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, a.a.O., Anni., S. 354, Hervorhebung i.O.
30
Ebenda.
31 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Bd. 15 und Bd. 16., neu hrsg. v. Hermann Glockner, Stuttgart 1959 [1832]; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Bd. 11, neu hrsg. v. Hermann Glockner, Stuttgart 1949, 3. Auflage
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[1837]. Hegel betrachtet - in Analogie zu der Bedeutung, die er dem Geist in seiner Religionsphilosophie beigemessen hat - die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes als Voraussetzung für die Entstehung und hierarchische Ausdifferenzierung von »Rassen«. 32 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 261. 33 Immanuel Kant: Bestimmung des Begriffs der Menschenrace. In: Kants Werke, AkademieTextausgabe, Band VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968 [1785], S. 95-99. 34
Kant, Bestimmung des Begriffs der Menschenrace, a.a.O., S. 95-99.
35 Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen. In: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Band II, Vorkritische Schriften II, 1757-1777, Berlin 1968 [1775], S. S. 432. 36 Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, a.a.O., S. 433. Bei der Aussage Kants, die »Race der Weißen« und die »Negerrace« seien »Grundracen«, handelt es sich um eine willkürliche Setzung, die an keiner Stelle begründet wird. 37 Vgl. Immanuel Kant's physische Geographie. Auf Verlangen des Verfassers aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Theil verarbeitet von D. Friedrich Theodor Rink. In: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Band IX, Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin 1968 [1802], S. 311-320. 38 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Kants Werke, AkademieTextausgabe, Band VII, Berlin 1968 [1798], S. 119. 39 Ebenda S. 311. 40 Vgl. ebenda. 41 Vgl. ebenda, S. 319. 42
Ebenda.
43
Ebenda, S. 311 f.
44
Ebenda, S. 312.
45
Ebenda, S. 311.
46
Ebenda, S. 316.
47
Fichte, Reden an die deutsche Nation, a.a.O., S. 325.
48 Vgl. ebenda, S. 327. 49
Ebenda, S. 461.
50 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 19 und Bd. 20, Düsseldorf 1989 bzw. 1992 [1827 bzw. 1830]; Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, herausgegeben und übersetzt mit einer Einleitung und Erläuterungen von M. J. Petry, Bd. 1 und Bd. 2, Dordrecht/Boston 1979 [1845]. 51 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O. 52 Vgl. Imanuel Geiss: Geschichte des Rassismus, Frankfurt a.M. 1988, S. 23. 53 Zit. nach Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 25. 54
Ebenda.
55 Vgl. Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, a.a.O., S. 62, sowie seine ausführliche Darstellung der Begriffsgeschichte des »Staats im Staate«: J a c o b Katz: A State within a State. The History of an Anti-Semitic Slogan, in: ders.: Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften, Darmstadt 1982, S. 124-153.
Robert G.
Waite*
»Judentum und Kriminalität« Rassistische Deutungen in kriminologischen Publikationen 1933-1945
Die Übertragung der Regierungsgewalt an Hitler und die N S D A P am 30. Januar 1933 wurde in der deutschen Presse sowie auch von zahlreichen Rechtswissenschaftlern und Kriminologen begrüßt. Sie meinten, nun habe Deutschland eine Regierung, von der zu erwarten sei, daß sie streng und hart gegen Kriminelle vorgehen werde. Zahlreiche Verfasser kriminologischer Publikationen lobten die Schritte des neuen Kabinetts in höchsten Tönen. Sie standen bereit, die Entscheidungen und Aktionen des neuen Regimes zu unterstützen. 1 Ihrer Auffassung nach sei in der Weimar Republik die Kriminalität angestiegen und für weitgehende Veränderungen des sozialen Lebens verantwortlich, da in ihr der Schwerpunkt auf individuelle Rechte und auf ein liberales Strafrecht gelegt worden wäre. Oft wurde behauptet, daß dafür vor allem die Juden verantwortlich gewesen seien. 2 Solche Beschuldigungen waren bereits während der zwanziger Jahre erhoben worden, insbesondere von der NSDAP. Mit ähnlichen Thesen traten auch weit rechts stehende Kriminologen auf, indessen sind sie erst nach der Errichtung des nationalsozialistischen Regimes deutlich zum Vorschein gekommen. Nun hatten Propagandisten und Ideologen des Antisemitismus größeren Spielraum, um die von ihnen konstruierten Zusammenhänge zwischen Judentum und Kriminalität in die Öffentlichkeit zu tragen. Auch angesehene Kriminologen und Strafrechtler machten jetzt in ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen Aussagen über eine auffällige Rolle, die gerade die Juden in der Kriminalität spielen würden. Obgleich die Thesen v o m engen Zusammenhang zwischen Judentum und Kriminalität nicht zum Hauptmerkmal der strafrechtlichen Literatur geworden sind, haben sie in ihr eine große Rolle gespielt. Im Verlaufe der dreißiger Jahre nahmen sie immer extremeren Charakter an; nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges hieß es, die Juden seien die »Erbverbrecher« der Welt. Geschlußfolgert wurde nun, es gäbe nur eine Möglichkeit, die Kriminalität zu überwinden, und die bestehe in der Beseitigung der Juden. Der vorliegende
* Der vorliegende Aufsatz unterliegt der alleinigen Verantwortung des Verfassers und ist nicht als offizielle Verlautbarung des Justizministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika zu betrachten.
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Aufsatz beschreibt, wie die Juden während des Dritten Reiches in der kriminologischen Literatur dargestellt worden sind. In Buchveröffentlichungen, Aufsätzen, Rezensionen, Dissertationen oder in Vorträgen brachten deutsche Kriminologen, Strafrechtler und andere - Publizisten oder ihres Zeichens »Wissenschaftler« - rassistisch-antisemitische Auffassungen deutlich zum Ausdruck. Eine typische, das nationalsozialistische Herrschaftssystem unterstützende und fördernde Meinung äußerte beispielsweise Ministerialrat Otto Rietzsch bereits im Herbst 1933. Er schrieb, die Strafrechtspflege sei »in den letzten Jahrzehnten von einem immer stärker gewordenen Zug zur Milde beherrscht« gewesen. Die Betonung des Aspektes »Erziehung und Besserung« der Verbrecher und die Ablehnung des Prinzips »Vergeltung und Abschreckung« hätten die Freiheitsstrafen allgemein abgemildert. Aus diesem Grunde seien die Kriminalität gewaltig angestiegen und »in den letzten Jahren immer neue Klagen über das Überhandnehmen des Verbrechertums in Publikum und Presse« laut geworden. 3 Rietzsch und andere Strafrechtler bezeichneten es als »Aufgabe der künftigen Strafrechtswissenschaft
die
gekennzeichneten Grundlagen der liberalistischen Verberchensauffassung einer gründlichen Prüfung zu unterziehen, ihre Fehler aufzuweisen und einer neuen Auffassung zum Durchbruch zu verhelfen.« Die anzustrebenden neuen Grundsätze sollten von der »Durchsetzung der Autorität des Staates gegen die Welt des Verbrechertums« sowie vom »Dienst an der Erhaltung, Reinhaltung und Sicherung der Volksgemeinschaft« bestimmt werden. 4 Die Schwerpunkte der strafrechtlichen und kriminologischen Literatur leiteten sich in den dreißiger Jahren aus der Idee der »Volksgemeinschaft« und deren rassistischer Deutung ab. Die Volksgemeinschaftsidee galt als Grundlage, ja sogar als Quelle des Rechts, was in der kriminologischen und strefrechtlichen Literatur häufig betont worden ist. Diesen Gedanken faßte beispielsweise Erik Wolf - Professor in Freiburg - in seinem Vortrag für den Nationalsozialistischen Bund Deutscher Juristen in folgende Worte: »Im nationalsozialistischen Staat erscheint das Verbrechen in erster Linie als Ungehorsam und Auflehnung, im Verbrecher wird der Feind des Volkes getroffen.« 5 Franz Exner widmete einen Teil seines Buches »Kriminalbiologie« dem Thema »Das Verbrechen im Leben der Volksgemeinschaft.« 6 Zahlreiche Juristen gingen von diesen neuen Grundlagen des Rechts aus und kamen zu dem Schluß, daß »die letzte und tiefste Rechtsquelle die Volksüberzeugung selbst und das organisch sich fortentwickelnde völkische Rechtsempfinden« sei. 7 Deutsche Strafrechtler plädierten in dieser Zeit vehement für eine »Befreiung« des Rechts von liberalen und jüdischen Einflüssen. Im neuen Staat bestünde ihrer Meinung nach das Ziel des Strafrechts hauptsächlich im Schutz der Volksgemeinschaft. Folgerichtig arbeiteten sie eng mit dem neuen Regime zusammen. Bereits am 5.
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März 1933 wurden durch das Gesetz für die Wiederherstellung des Beamtentums Juden aus Gerichten und allen anderen Staatsämtern ausgeschlossen. 8 Strafrechtler riefen nicht allein zur Reinhaltung der arischen Rasse auf, um die »Volksgemeinschaft« zu schützen, sie traten auch für eine »Reinigung« der Gesetze sowie der juristischen und kriminologischen Schriften von jüdischen Einflüssen ein. 9 Der praktischen Ausschließung der Juden aus dem öffentlichen Leben folgten eine Verschärfung des Strafrechts und der Strafverfahren sowie zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Regelungen. Zwar wurden auch andere Gruppen der deutschen Gesellschaft von diesen strafrechtlichen Veränderungen betroffen, doch galten diese für die Juden in besonderer Weise. 1 0 In dem Maße, wie die Juden aus dem öffentlichen Leben Deutschlands verdrängt wurden, erschienen auch immer mehr kriminologische Fachstudien, in denen ein angeblich seit vielen Jahrhunderten bestehender Zusammenhang zwischen Judentum und Kriminalität konstruiert wurde. Sie enthielten eine Fülle falscher und diskreditierender Behauptungen. Die Juden bezeichnet man zunehmend als »ein Volk der Erbverbrecher«, woraus geschlußfolgert wurde, daß die einzige Lösung aller Kriminalitätsprobleme in der »Ausrottung« der Juden bestehen könnte. 1 1 Alles zielte auf den Ausschluß der Juden aus dem deutschen Rechtssystem und auf eine »Reinhaltung der Rasse«. Ganz im Sinne dieser rassistischen Grundlagen des neuen Rechts schrieb Sievert Lorenzen in einem im Auftrag des Reichsjustizministeriums verfaßten Buch, daß in den Jahren vor dem 30. Januar 1933 die deutschen Anwälte »gegenüber den skrupellos vorgehenden Juden machtlos« gewesen wären. Diesen Zustand bezeichnete er als »erschreckend«. 1 2 Nach der »geschichtlichen Wende« habe Hitler die Judenfrage »aus konfessioneller Befangenheit« gelöst und sie »in das Licht völkischer Erkenntnis« gestellt. Die Entlassung der Juden aus dem öffentlichen Dienst betrachtete er als dringend erforderlich. Konkret beklagte er, daß immer noch 453 jüdische Richter und Staatsanwälte sowie 3.200 Anwälte tätig seien. Dies erschien ihm als eine »eine Tatsache, die sich mit den Belangen einer völkischen Rechtspflege auf die Dauer nicht vereinbaren ließ!« 1 3 Unter deutschen Strafrechtlern war auch die Meinung anzutreffen, daß die Juden ihre Machtansprüche gerade aus ihrem Dienst in der und für die Justiz ableiten würden. In diesem Sinne formulierte Lorenzen: »Für das Judentum war Justizdienst Staatsmacht, und seine Bemühungen, sich hieran einen Anteil zu sichern, ließen nie nach.« Er versuchte, diese Entwicklung auf die französische Revolution zurückzuführen, denn bereits kurz nach 1789 sei es zu einem »ersten großen Einbruch des Judentums in den Justizdienst« gekommen. 1 4 Nach 1918 habe der jüdische Einfluß auf die Justiz ihren Höhepunkt erreicht. Zugleich behauptete Lorenzen, die politischen Parteien, die nach dem Weltkrieg in Deutschland an die Macht gekommen
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sind, wären nichts anderes als die »Werkzeuge des Judentums und mit diesen aufs engste verflochten« gewesen. In der »Systemzeit« hätten die Juden Stellung auf Stellung im Staatsdienst und im politischen Leben erobern können. Dies alles betrachtete er als eine »schnell forschreitende Verjudung«, wodurch vor allem das Rechtsleben ganz Deutschlands geistig »überfremdet« worden sei. 1 5 Grundsätzlich betonten deutsche Kriminologen und Strafrechtler während des Dritten Reiches, jüdische Anwälte würden bewußt die Macht des Verbrechertums anstreben. In seinem Buch »Das jüdische Gaunertum« behauptete Herwig HatnerHnizdo, »eine wesentliche Rolle in dieser zweifelhaften jüdischen Geschäftswelt« spiele der »Advocat«. Dieser sei in seinem Wesen »nicht so sehr ein Rechts-Anwalt wie ein Betrugs-Anwalt.« Dessen Ziel bestehe in einem Freispruch für die Kriminellen, denn «... je schlimmer der Verbrecher, den man frei bekommt, desto größer der Triumph und desto größer auch der Zulauf an Klienten.« 1 6 Der Verfasser dieses Textes bewertete den Einfluß des Judentums auf die Geschichte als breit und tiefgehend. Ebenso behaupteten auch andere Autoren, daß jüdische Kriminelle zu jüdischen Anwälten gingen und sie gemeinsam den »Angriff gegen die Rechtsordnung des Volkes« betreiben würden. Jüdische Richter hätten ihren »Rassengenossen« stets gern geholfen. Der bekannte Antisemit Johann von Leers erklärte sogar, daß manche Richter aus »jüdischen Diebesfamilien« stammten und für eine »milde Behandlung des Verbrechertums« kämpfen würden. 1 7 Parallel zur Ausschließung der Juden aus der deutschen Anwalts- und Richterschaft wurde innerhalb weniger Jahre die Rechtswissenschaft von allen Schriften und anderen Einflüssen, die als jüdisch deklariert worden waren, »gesäubert«. Eine Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des Nationalsozialistischen Deutschen Rechtswahrerbundes (NSRB), die am 3. und 4. Oktober 1936 stattfand und an der 100 rechts-und wirtschaftswissenschaftliche Hochschullehrer teilnahmen, befaßte sich vor allem mit diesem Anliegen. In seiner Ansprache verlangte Reichsminister Hans Frank, alles zu tun, »was wir zur Verwirklichung des Nationalsozialismus und zum Zweck der Ausschaltung fremdrassigen Geistes auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft fordern.« 1 8 Das deutsche Recht sei auf die »Urlebenselemente unseres deutschen Volkstums« und auf den Rasse-Gedanken zu stellen. Juden aus der Rechtswissenschaft und dem Rechtsleben zu entfernen, meinte Frank, erfolge in keiner Weise aus Haß oder Neidaffekten, sondern allein aus der »klaren Erkenntnis, daß der Einfluß des Juden auf das deutsche Leben grundsätzlich ein verderblicher und schädlicher« sei. Das zwinge dazu, »im Interesse des deutschen Volkes und zur Sicherung seiner Zukunft eine eindeutige Grenze zwischen uns und dem Judentum zu ziehen.« 1 9 Für Frank und führende deutsche Rechtsgelehrte bot diese Tagung eine weitere
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Gelegenheit, als ihr Ziel bekannt zu geben, die Juden vollkommen aus dem Leben des öffentlichen Rechtssystems zu verdrängen. Dies sei nach ihrer Meinung von größter Bedeutung, da »der Weltfeind J u d a lauert« und er sich sehr eng mit dem internationalen Bolschewismus verbündet habe. Juden und Bolschewisten wären »so erfolgreich«, weil sie »durch ihre rassenmäßige Mentalität auf jene Form juristischen Denkens besonders eingestellt« seien. 2 0 Am Ende seiner Ansprache gab Frank bekannt, von Seiten des Staates seien Maßnahmen eingeleitet worden, um endgültig alle Juden aus den juristischen Berufen auszuschließen, womit ein Hauptpunkt der nationalsozialistischen Politik erreicht sei. Der Reichsminister rief alle Teilnehmer der Tagung auf, als »Vorkämpfer« der Befreiung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft von »jüdischer Vorherrschaft« einzutreten. 2 1 Nach Frank erläuterten weitere Tagungsteilnehmer, wie der Ausschluß der Juden aus allen Gebieten der Rechtswissenschaft zu vollziehen sei. In einem kurzem Vortrag - er trug den Titel »Das Verhältnis des Juden zum Gesetz« - betonte der Strafrechtler Hermann Schroer, jedes Gesetzbuch sei »Ausdruck der Volksseele« und schlußfolgerte, das der Juden sei »Ausdruck der Anarchie.« Zwei Redner boten konkrete Entwürfe an, wie nach ihrer Auffassung der immer noch überwiegende Einfluß der Juden auf das deutsche Rechtsleben abschafft werden könnte. Einer von ihnen, Falk Ruttke, forderte erstens die »unmittelbare Ausscheidung von Veröffentlichungen von Juristen jüdischer Herkunft«, zweitens die Ausscheidung »fremden« Rechtsschriftums, sogar wenn es von einem Deutschen jüdischer Abstammung verfaßt worden ist, drittens das »Erkennen und Erleben deutschen Rechtes« und viertens die »Neuschaffung echten deutschen Rechtsschriftums, aufgebaut auf der rassengesetzlichen Rechtslehre.« 2 2 Die Ergebnisse der Tagung, die der »Wiederherstellung« des sogenannten deutschen Rechtslebens diente, faßte Carl Schmitt - einer der bekanntesten deutschen Staats- und Völkerrechtswissenschaftler - die Debatten zu den einzelnen Themen zusammen und unterbreitete praktische Vorschläge. So verlangte er z.B. die Anfertigung einer Bibliographie der gesamten Rechtswissenschaft, welche die Autoren jüdischer Abstammung identifiziere. Dies benötige man, um die Bibliotheken »säubern« zu können sowie zum »Schutz« der Studenten. Letztere sollten nicht mehr aus Schriften jüdischer Wissenschaftler zitieren, da diese nicht die gleiche Qualität wie die von Ariern aufweisen würden und die Juden »keine Autorität« besäßen. Schmitt meinte weiter, daß manche der auf dieser Tagung behandelten Fragen viel Stoff für neue Doktorarbeiten bieten würde. Wiederholt verwies er auf entsprechende Sätze aus Hitlers »Mein Kampf«. 2 3 Die Tagung vom Oktober 1936 über »das Judentum in der Rechtswissenschaft« machte alle nationalsozialistischen Strafrechtler darauf aufmerksam, daß es dem Re-
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gime um eine vollständige Beseitigung aller Arbeiten jüdischer Wissenschaftler ging. Bereits in den ersten Jahren des Dritten Reiches hatten einige Wissenschaftler einzelne Studien über die angebliche jüdische Beherrschung der Strafrechtswissenschaft vorgelegt, die Karl Klee in seinem Buch »Das Judentum im Straffecht« als den stärksten und sinnfälligsten Ausdruck der neuen Staatsgewalt bewertete. 2 4 Auch sprach er davon, die jüdischen Autoren seien »die Hauptbannerträger aller der Ideen, die den Niedergang, um nicht zu sagen, den Niederbruch des Strafrechts herbeigeführt haben [...]Überall kämpften sie in vorderster Front, wenn es sich darum handelte, das Schwert der Strafe im K a m p f gegen das Verbrechen stumpf zu machen.« 2 5 Das Hauptproblem sahen Klee und andere darin, daß in den zwanziger Jahren Bestrebungen dominiert hatten, die Kriminellen verstehen und rehabilitieren zu wollen. Das habe nach ihrer Auffassung zu einem Straffecht geführt, in dem das Individuelle und nicht die Gruppe oder das Volk im Mittelpunkt stünden. So extrem diese Aussage auch formuliert sein mochte, sie stimmte jedoch mit der Meinung vieler renommierter Wissenschaftler überein, daß während der Weimarer Republik das auf den einzelnen Verbrecher gerichtete Interesse das gesamte Rechtssystem fast zugrunde gerichtet habe. 2 6 Ferner behaupteten diese und andere Autoren, Juden hätten sich die Rechtswissenschaft bereits im 19. Jahrhundert untergeordnet. Obgleich von diesen zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht worden wären - so meinte einer der nationalsozialistischen Strafrechtler -, sei den meisten Deutschen »verborgen geblieben, in welch starkem Umfange der jüdisches Einfluß auf das Justizverfahren zugenommen« habe. Mit seiner Arbeit »Das Judentum im Strafverfahrensrecht« wollte K Siegert einen Gesamtüberblick zum Thema liefern und die angeblich immer noch schlimmen Zustände verändern helfen. 2 7 Sowohl Siegert als auch Professor Gurke versuchten, anhand einiger Beispiele ihre Thesen zu belegen, daß Juden in rechtswissenschaftlichen Arbeiten und an den Universitäten maßgeblichen Einfluß besessen hätten. Nicht nur durch ihre Vorlesungen hätten jüdische Professoren Wirkungen erzielt, sondern auch auf wissenschaftlichen Tagungen und in der Gesetzgebung hätten sie »vor dem Umbruch« eine außerordentlich große Betriebsamkeit entfaltet. 2 8 Er forderte erstens die »Entfernung der letzten jüdischen Anwälte aus der Strafrechtspflege« und zweitens, »die jüdische Machtstellung durch Ausrottung jeglichen jüdischen Geistes aus unserer Strafrechtspflege zu vernichten.« 2 9 Die hier erwähnten Publikationen nationalsozialistischer Autoren verfolgten hauptsächlich das Ziel, den breiten Einfluß jüdischer Wissenschaftler zu beleuchten. Hans Seidel schrieb in seinem Buch »Unter jüdischer Pfandknechtschaft«, jede einzelne Studie sei von Bedeutung, um »die jüdische Welt im Recht zu erkennen und ihren Einfluß auf das Recht nichtjüdischer Völker darzustellen.« Er gehörte zur Kaisers-
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werther Arbeitsgemeinschaft der NS-Rechtswahrer, einer von jenen Organisationen, die sich während des Dritten Reiches mit diesem Thema intensiv beschäftigten. Ihre »Forschungsergebnisse« waren allesamt von Rassismus und Antisemitismus gekennzeichnet. 3 0 Der Einfluß jüdischer Rechtsdenker, so behauptete Seidel, habe einen tiefen Zweck: »Durch Umwertung aller Werte wurden die höchsten arischen Güter, Ehre und Treue, aus dem Haftungsrecht verbannt und ersetzt durch die Materie, die Pfandsache, die >Sicherheit<.« Die Absicht der jüdischen Strafrechtler sei »beinahe« erreicht worden, nämlich »ein ganzes Volk zum Arbeitssklaven des jüdischen Finanzkapitals zu erniedrigen«. Die Machtergreifung Hitlers habe dies verhindert. Als nunmehriges Ziel wurde formuliert: »Das Gesetz der vergangenen Epoche muß entjudet werden, es muß wieder ein deutsches Volksrecht nach den Geboten der nationalsozialistischen Weltanschauung« geben." Neben der These vom Einfluß der Juden auf das Strafrecht richteten manche der nationalsozialistischen Ideologen ihr Interesse besonders auf den vermeintlichen Zusammenhang zwischen Judentum und Kriminalität. In ihren Behauptungen von der engsten Verbindung zwischen beiden tauchen schlimmster Rassimus und Antisemitismus unverkennbar auch in Publikationen deutscher Kriminologen auf. Der renommierte Strafrechtler Franz Exner schrieb in seinem Buch über die Kriminalbiologie, daß das »Gesamtbild der jüdischen Straffälligkeit ganz auffallend mit den Grundzügen des jüdischen Wesens« übereinstimme. 3 2 Zahlreiche Aussagen sind so extrem und bizarr, daß man sie kaum als ernsthaft gemeint und wissenschaftlich durchdacht bezeichnen kann. So verkündete beispeilsweise J o h a n n von Leers, »das Judentum hat nicht ein Verbrechertum, wie jedes ander Volk es hat, sondern das Verbrechen ist ein Teil seines Wesenbestandes, es gehört zu ihm, es ist von ihm untrennbar.« 3 3 Solche Meinungen und Schlußfolgerungen finden sich im gesamten Schriftum deutscher Strafrechtswissenschaftler, die auf deren Grundlage einflußreiche Bücher und Artikel in Fachzeitschriften publizierten. Vielfach erläuterten sie ihre »Ideen« in Bildungsveranstaltungen für Staatsbeamte und Polizisten. Ihre Gedanken halfen in erheblichem Maße, die rassistisch-antisemitischen Aktionen der Hitlerregierung zu rechtfertigen und zu fördern. In einer Rede, die Kurt Daluege am 20. Juli 1935 vor der Reichspressekonferenz hielt, wies er auf die Titelzeilen der Weltpresse hin, in denen von den »Judenverfolgungen in Deutschland« gesprochen werde. Die Maßnahmen der neuen Regierung hätten zwar bereits Aufmerksamkeit, aber auch kritische Bewertung gewonnen, doch niemand - so meinte Daluege vorwurfsvoll - gebe sich »die Mühe, ernstlich nach den Gründen zu forschen, die das deutsche Volk zu seinem Abwehrkampf gegen jüdische Anmaßung und gegen jüdisches Verbrechertum zwingen.« 3 4 Daluege be-
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schrieb eingehend die neue Polizeiarbeit in Deutschland und schlußfolgerte, »je mehr man sich mit dem Fragenkomplex der sog. Berufsbetrüger« beschäftige, desto öfter müsse die Feststellung getroffen werden, daß »das kriminelle Element beim Juden besonders stark vertreten« sei. Er bot einige Beispiele bestimmter Vergehen und Zahlen aus Statistiken an, die seine Behauptung bestätigen würden. Zugleich betonte er: »...am jüdischen Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung gemessen, zeigen gerade diese Zahlen, wie berechtigt der deutsche Standpunkt in der Judenfrage ist, die letzten Endes eine Frage der Selbstverteidigung wird.« 3 5 Alle rassistisch-antisemitischen Behauptungen beeinflußten auch die deutsche Polizei in vielfacher Weise. Kurz nach Dalueges Rede erschien in der Zeitschrift »Der Deutsche Polizeibeamte« ein Aufsatz zum gleichen Thema mit den Titel »Die Juden sind unser Unglück«, in dem auch entsprechende Lehrgänge für die Polizei angeboten wurden. 3 6 Sein Verfasser wollte die sogenannte Judenfrage kurz zusammenfassen und die deutschen Polizisten über die hauptsächlichen Aspekte dieses Themas aufklären. Triumphierend klang sein erster Satz: »Die Judenfrage steht endlich im Vordergrund unseres Denkens.« Das neue Regime betreibe die »Aufklärung auch des letzten Volksgenossen, damit er die Notwendigkeit dieses Kampfes begreife.« Daß sich in einer solchen Aussage eigentlich auch ein Mangel an Erfolg andeutete, störte ihn nicht. Ferner bot er eine Antwort auf die Frage an, weshalb gegen die Juden gekämpft werden müsse: Nicht nur stehe »das jüdische Denken ... in strengstem Gegensatz zum deutschen (nordischen) Menschen«, sondern die Juden würden sich auch bemühen, die »politisch, wirtschaftlich und kulturell hochstehende Staaten« zu zerstören. Und »wenn nicht Adolf Hitler mit starkem Arm das Ruder herumgerissen hätte, wären auch wir unrettbar im Strudel des jüdischen Bolschewismus vernichtet« worden. 3 7 Ein weiteres Anliegen dieses Aufsatzes bestand darin, die bekannte These über den zerstörerischen jüdischen Einfluß auf Deutschland zu beweisen. Der Autor wiederholte die Behauptung, daß die deutsche Arbeiterbewegung jüdisch gesteuert werde und die Juden verantwortlich für den Niedergang des Reiches im Jahre 1918 gewesen seien. Sie hätten nicht nur Presse und Kultur beherrscht, sondern selbst Verbrechen begangen oder gefördert: »Auf allen Gebieten der berufsmäßigen Gaunerei finden wir den Juden zu ganz erheblichen Prozentsätzen beteiligt [...] Wir haben früher nichts von dieser hohen Beteiligung der Juden am Verbrechen erfahren, weil uns die jüdische Presse nichts darüber mitteilte. Außerdem wissen wir, daß die verjudete Justiz niemals den Rassegenossen angriff.« Abschließend wurde erklärt, das »gesamte Judentum der Welt« arbeite an der Vernichtung des nationalsozialistischen Staates. Dieser müsse daher einen » K a m p f um das Dasein« führen, »solange der letzte J u d e nicht aus Deutschland heraus ist.« 3 8 In dem umfangreichen kriminologischen Schrifttum, das während des Dritten
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Reiches erschien, wurden die Juden generell als Kriminelle beschrieben. Mehrere Strafrechtler bestanden darauf, daß die Juden und die Kriminalität seit ewig eng miteinander verflochten seien. Ihre These versuchten sie in völlig unwissenschaftlicher Weise zu begründen. Hermann Schroer schrieb 1936, daß diese Beziehung einfach zu begreifen sei, weil »die Kriminalität der Juden als Folge von Talmud und Schulchau aruch« zu verstehen wäre. Auch meinte er, es sei doch allgemein bekannt, daß die Juden an der Kriminalität »stark beteiligt« seien: »Für den Juden ist eben vieles erlaubt, was für den Nichtjuden verboten und strafbar ist.« Allein dies würde »den einzelnen Juden im nichtjüdischen Lebensraum zum Berufs- und Gewohnheitsverbrecher« stempeln. Alle Juden seien kriminell, da sie ein Produkt Ihrer Rasse sind: »Kein J u d e kann sich diesen Gesetzen entziehen.« 3 9 Nationalsozialistische Strafrechtler bemühten sich, diese Auffassung mit Aussagen über eine enge Verbindung zwischen Jiddisch und der sogenannten Gaunersprache zu beweisen. J o h a n n von Leers und andere äußerten sogar, Jiddisch sei die »Fachsprache der Verbrecher«, die sich auf der ganzen Welt verbreitet habe. 4 0 Sich teilweise auf Forschungsergebnisse von Philologen stützend, meinte er ferner, die Sprache von Ganoven und Gaunern sei »ohne die Kenntnis des Hebräischen und des Jiddischen nicht zu deuten.« Damit wollte er bewiesen haben, daß die Juden die »leitende Schicht des Gaunertums« darstellen würden. 4 1 In seinem Buch über das »jüdische Gaunertum« schilderte Hartner-Hnizdo die »jüdische Unterwelt,« die er schlichtweg als einen »Geschäftsbereich des frommen Talmud« bezeichnete. Sein Buch enthielt ausführliche Beurteilungen jüdischer Menschen, aus denen sich ableiten lasse, daß diese über Jahrhunderte hinweg unmittelbar mit der Gesamtkriminalität und dem Verbrechertum aufs engste verbunden waren. Seiner Meinung nach bilde das Judentum »Kern, Nährboden und Rückhalt des großstädtischen Gaunertums.« 4 2 Die Unterwelt des Verbrechens sei viel größer gewesen, als manche glauben würden, weil darüber zu wenig geschrieben worden wäre. Auch er wollte sich bemühen, dies zu korrigieren und den Deutschen klarzumachen, daß die Juden für die überwiegende Zahl von Vergehen und Verbrechen alle Art verantwortlich seien. Jedes Kapitel seines Buches war einer bestimmten Straftat gewidmet. Beispielsweise beschreiben die Kapitel über den Betrüger und den Fälscher den starken Anteil von Juden, von dem er sich vollkommen überrascht zeigte: »So unübersehbar wie die Zahl der jüdischen Fälscher und Betrüger ist, so vielfältig sind auch die Formen des Schwindels und des Betruges.« 4 3 In der Darstellung der »jüdischen Unterwelt« vertrat auch Hartner-Hnizdo die Auffassung, daß die Beteiligung der Juden an der Kriminalität - von ihm »Gaunertum« genannt - ganz allgemein von den Merkmalen der jüdischen Rasse abhänge. Diese sei nun einmal zum Verbrechertum bestimmt. 4 4 Er behauptete, die Teilnahme
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der Juden an bestimmten Straftaten ergäben sich aus ganz natürlichen Gegebenheiten. Häufig wäre das Begehen von Verbrechen bloß ein Schritt weit vom Geschäftsleben entfernt. In seiner Beschreibung verschiedener Vergehen spielte er deren angebliche Verbindung zum Juden hoch und behauptete sogar, daß es sich um eine bewußte Täuschung handele, wenn in manchen Kriminalstatistiken ein geringer Anteil von Juden ausgewiesen sei. Er bezweifelte, daß es ausgerechnet bei den Sittlichkeitsverbrechen nur eine »kleine« Beteilung von Juden gegeben haben soll. Hartner-Hnizdo schrieb, daß »in der Tat das Judentum ein S u m p f der Unmoral [ist], der seinen Pesthauch über unser ganzes deutsches Land verbreitete.« Die Gefahr für Deutschland liege nicht so sehr in den einzelnen Delikten, sondern in der Verbreitung der Unmoral. 4 5 Insbesondere würden die Juden durch ihre unsittlichen Handlungen die »Auflösung der Ehe und Familie« anstreben und damit die Gesellschaft untergraben. Auch der Fanatiker Leers meinte, daß gerade »die sittliche Zersetzung« gern vom Judentum als Mittel benutzt worden sei, »um das deutsche Volk innerlich aufzulösen.« 4 6 Das Ziel, das die Juden angeblich anstreben würden, sollte nach Auffassung nationalsozialistischer Strafrechtler im Untergang der deutschen Gesellschaft bestehen. Um das verwirklichen zu können, seien sie nicht bei den üblichen Vergehen und Verbrechen geblieben, sie hätten dazu auch gemordet. Keller untersuchte in seinem Buch »Der J u d e als Verbrecher« die Beteiligung von Juden an politischen Attentaten in Europa, Amerika und Russland. Er kam zu dem Schluß, daß der politische Mord ein »Mord aus Machtgier« und »typisch für das Judentum« sei. Diese Behauptung wurde auch von anderen Wissenschaftlern des Dritten Reiches aufgegriffen und weiter erläutert. 4 7 In den kriminologischen Schriften der NS-Zeit taucht immer wieder die Behauptung auf, die Juden hätten schon im 19. Jahrhundert Ritualmorde begangen. Helmut Schramms Buch »Der jüdische Ritualmord. Eine historische Untersuchung« erschien 1944 bereits in vierter Auflage. Ritualmord sei so alt wie die Religion, und um das zu bekämpfen, stehe Deutschland noch ein schwerer K a m p f bevor. 4 8 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, der als ein Mittel zur Durchsetzung jüdischer Ansprüche auf Macht verschleiert wurde, erschienen in den polizeilichen Fachzeitschriften des Dritten Reiches Artikel, welche dessen Gewaltmaßnahmen nachdrücklich unterstützten. SS-Sturmbannführer Zirpins - er war Polizist bzw. Kriminaldirektor - berichtete von seiner Tätigkeit im Ghetto Litzmannstadt. Sein Artikel trug den Titel »Das Ghetto in Litzmannstadt - kriminalpolizeilich gesehen«. Nach seiner Erfahrung sei »durch derartige Neubildungen wie die Schaffung eines Ghettos auch die Kriminalpolizei plötzlich vor neuartige Aufgaben gestellt« worden. 4 9 Er schilderte kurz die Geschichte der Stadt, vor allem aber die Machtstellung ihrer jüdischen
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Bewohner. Sie hätten geherrscht, sich aber überhaupt nicht um die Lage der Stadt gekümmert, was zu Seuchen geführt habe. Diese seien von der deutschen Besatzungsmacht nur durch die Gründung eines Ghettos zu bekämpfen gewesen. 5 0 Schärfste »Vorbeugungsmaßnahmen« hätten getroffen werden müssen. Daher bedürfe es »keines kriminalistischen Scharfblicks, um auf den ersten Blick zu ahnen, daß eine solche Zusammenpferchung von Kriminellen, Schiebern, Wucherern und Betrügern auch sofort ihre besonderen kriminalpolizeilich bedeutsamen Erscheinungsformen gezeitigt« habe. Wegen dieser neuartigen Probleme müsse ein »umfangreiches Studium« betrieben werden. 5 1 Zirpins teilte die Ghettoinsassen in vier Hauptgruppen ein, die von kriminellen Tätigkeiten - Schmuggel »versteckter und getarnter jüdischer Vermögenswerte«, Personschmuggel und sonstiger Vergehen - leben würden. Ausführlich suchte er jede dieser Gruppen zu beschreiben. Empört berichtete er darüber, wie die jüdische Gefangenen im Ghetto versuchten, sich Nahrungsmittel zu besorgen oder ihr H a b und Gut zu schützen. Abschließend hieß es: »Die Tätigkeit der Kriminalpolizei in Litzmannstadter Ghetto ist zwar eine Arbeit, die immer unter den denkbar ungünstigsten, schwierigsten und schmutzigsten Verhältnissen vor sich geht, die aber anderseits als Neuland reizt und ebenso vielseitig wie interessant und vor allem beruflich dankbar, d.h. befriedigend ist.« 5 2 Immer wieder sprachen nationalsozialistische Strafrechtler und Kriminologen vom jüdischen Streben nach einer Herrschaft über die Welt. Darin sahen sie Grund und Notwendigkeit für ihre Forderung, gegen jüdische Kriminelle - die generell mit dem Judentum identifiziert wurden - vorzugehen. Hierin zeigte sich ein Hauptthema ihres Schriftums: alles das, was die Juden seit Jahrhunderten betrieben hätten, und ebenso ihre enge Verbindung zur Kriminalität würde unmittelbar ihrem Weltherrschaftsstreben dienen. Gerade in dieser These kamen wohl der Rassismus und Antisemitismus deutscher Kriminologen und Strafrechtler während der Dritten Reiches am stärksten zum Vorschein. Es war vor allem Leers, der sie seinem Pamphlet »Erbgauner kämpfen um die Weltherrschaft« zugrunde legte. Die Juden hätten aus ihrem »Erwähltheitsgedanken« einen ganz massiven Herrschafts-Anspruch abgeleitet und das »Recht darauf, die anderen Völker zu unterdrücken sowie die Herrschaft über die ganze Welt an sich zu reißen.« Sie wären nicht zufrieden mit dem Land Palästina oder dem Untergang des russischen Reiches. Um die Welt beherrschen zu können, hätten sie selbst den Zweiten Weltkrieg verursacht. 5 1 Leers, einer der aktivsten und gleichzeitig fanatischsten Judenbekämpfer, schrieb häufig über den »Machtanspruch« der Juden. In seinem Buch »Wie kamen die Juden zum Geld?« meinte er, daß für das Judentum sein Reichtum sein Schwert sei, mit dem es die Weltherrschaft zu erkämpfen versuche.« 5 4 Auch Hans Seidel schrieb, Weltherrschaft sei der »uralte und doch immer neue Wunschtraum der Juden«. Nur
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dank des »Umschwunges« im Jahre 1933 sei es in Deutschland gelungen, die unmittelbare Machtstellung der Juden zu beseitigen. Erst seitdem könne davon gesprochen werden, daß der jüdische Herrschaftstraum »ausgeträumt« sei. 5 5 In den antisemitischen Schriften deutscher Kriminologen finden sich auch die offiziell verbreiteten Thesen über den angeblich engen Zusammenhang von Judentum und Bolschewismus. Keller sprach in seinem Buch »Der J u d e als Verbrecher« vom Bolschewismus als einer politischen Form des Verbrechertums, dessen Endziel allein »die Eroberung der Macht, die Usurpierung der unumschränkten Gewalt über die Menschen« sei 5 6 Seiner Meinung nach sei der Bolschewismus eine »den modernen Verhältnissen >angepaßte< und rationalisierte Form des jüdischen Verbrechertums.« Keller galt der K a m p f gegen die Juden in jeder Hinsicht als ein heiliger Krieg: »[...] wer mit dem Juden kämpft, kämpft mit dem Teufel.« Gerade mit dem »Gift des Verbrechertums und der Waffe des Bolschewismus« führe der J u d e seinen »Vernichtungskampf gegen alles Gesunde, Wahre, Gute und Edle in der Welt.« 5 7 Er sprach auch von der »Machtgier« der Juden und kennzeichnete diese als »wahre Gegenmenschen«. 5 8 Zusammenfassend behauptete er: »Bolschewismus ist der Aufstand der Unterwelt unter Führung des Judentums, er ist der organisierte K a m p f des Judentums um die Weltherrschaft mit Hilfe der entfesselten Unterwelt.« 5 9 Die nationalsozialistische Regierung sei daher verpflichtet, alle Mittel zu verwenden, um diesen Gegner niederschlagen zu können. Nach 1939 wurden die antisemitischen Äußerungen deutscher Kriminologen immer extremer. Der Krieg wurde als letzter Versuch charakterisiert, die »Weltparasiten« - von solchen sprach beispielsweise Emil Reiffer - zur Weltherrschaft zu führen. 6 0 Leers meinte, schon seit 1933 habe das Judentum zum Kriege gedrängt. Lange Zeit habe Hitler diesen verhindern können, und die Juden hätten Deutschland tatsächlich zum Krieg gebracht, obwohl »die Politik des Führers ... darauf gerichtet (war), ihn zu vermeiden.« Das Judentum »wollte den Krieg, um den Weltbolschewismus durchzusetzen«, und habe den Krieg »angestiftet« mit dem »Zweck, aus der Erde ein Leichenfeld zu machen.« 6 1 Seine Schlußfolgerung lautete, das Judentum sei nun einmal »Erbverbrechertum«, weshalb der einzige Weg zur Beseitigung von Kriminalität und Bolschewismus darin bestehe, die Juden auszusondern und zu vernichten. Er rief jeden Deutschen dazu auf, sich an der »Niederkämpfung« der Juden zu beteiligen: »Keiner kann hier abseits stehen.« Die »Stunde der großen Weltentscheidung« sei gekommen: »Juda oder das Verbrechertum oder für die Zukunft der ehrlichen Arbeit.« 6 2 Die kriminologische Fachpresse stellte auch nach dem Beginn des Krieges und den ersten rassistisch-antisemitischen Massenmorden ihre Thesen vom Zusammenhang zwischen Juden und Verbrechen heraus. Zum Beispiel widmeten die »Mittei-
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lungsblätter für die weltanschauliche Schulung der Ordnungspolizei« im Juni 1941 ihren Leitartikel dem Thema »Judentum und Kriminalität«. Nach der Beschreibung »geschichtlicher Zusammenhänge« wurde strikt und deutlich erklärt: »Solange es den Juden erlaubt ist, unter andern Völkern und Rassen zu leben, gibt es keinen Frieden auf Erden.« Als dieser Artikel verfaßt und veröffentlicht wurde, hatten Einheiten der Ordnungspolizei bereits an der Ermordung jüdischer Menschen teilgenommen; offensichtlich wurde hier antisemitische »Aufklärung« betrieben, um die beginnende »Endlösung der Judenfrage« zu rechtfertigen. Zweifellos gehörte Leers zu den Radikalisten unter den deutschen Strafrechtlern. Seine Schriften spiegelten die offizielle Propaganda des nationalsozialistischen Regimes wider, aber sie erweiterten auch deren Argumente. Leers war wie manch anderer deutscher Kriminologe und Strafrechtler auch aufs engste mit dem NS-Regime verbunden. Die von ihnen verallgemeinerten Behauptungen - das Recht im neuen Staat stamme von der Volksgemeinschaft, welche sich auf »Rasse« begründen würde, und müsse sich durch »Reinhaltung der Rasse« behaupten, und daß Juden generell seien Verbrecher - dienten den rassistisch-antisemitischen Zielen Hitlers und seines Regimes. Sie rechtfertigten die vollkommene Entfernung der Juden aus der bürgerlichen Gesellschaft. Darüber hinaus stützte ihre »Kritik« der Juden als »Erbverbrecher« letztlich auch die geschichtlich einmaligen Massenmordaktionen in den deutschen Vernichtungslagern. 6 3
A nmerkungen 1
Siehe z.B. Rückgang der Kriminaltät in München. In: Münchener Neueste Nachrichten, 25.4.1934; Ausrottung des Verbrechertums. Starker Rückgang der Kriminalität im neuen Deutschland. In: Stuttgarter NS-Kurier, 16.2.1935; Besserung in der Kriminalität Württembergs. In: Württemberger Zeitung, 29.8.1935; Konzentrationslager für Berufsverbrecher. In: Berliner Lokal-Anzeiger, 25.11.1933; Die Kriminalität im Jahre 1933. In: Wirtschaft und Statistik 15 (1933), S. 736. Siehe dazu auch Dieter Dölling: Kriminologie im »Dritten Reich«, In: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert: Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt a.M. 1989, S. 194-225; Patrick Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher: Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalismus, Hamburg 1996, S. 180 ff, 185 ff. und 193-198; Günther Kaiser: Kriminologie. Ein Lehrbuch, Heidelberg 1988, S. 3-60; Hans Joachim Schneider: Kriminologie, Berlin 1987, S.- 132-141;
2
Die Hauptströmungen der Kriminologie während des Dritten Reiches erfuhren bislang nur wenig wissenschaftliche Analysen. Siehe Marlis Dürkop: Zur Funktion der Kriminologie im Nationalsozialismus. In: U d o Reifner, Bernd-Rüdiger Sonnen (Hrsg.): Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1984, S. 97-120; Dieter Dölling: Kriminologie im »Dritten Reich«. In: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert: Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt a.M. 1989, S. S. 210-213.
59
»Judentum und Kriminalität« 3
Otto Rietzsch: Abnahme der Strafen - Zunahme der Verbrechen. In: Preußische Justiz, 21.9.1933, S. 395-397. Siehe auch Ernst Roesner: Der Nationalsozialismus als Überwinder der Kriminalität. In: Monatsblätter für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge 12 (Februar 1937), S. 73-78.
4
Rietzsch, Abnahme der Strafen, S. 397 f. Siehe auch Kurt Daluege: Nationalsozialistischer K a m p f gegen das Berufsverbrechertum, München, 1936, S. 77; Alfred Rosenberg: Die nationalsozialistische Weltanschauung und das Recht. In: Deutsche Justiz, 11.3.1938, S. 363.
5
Erik Wolf: Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 28 (1934-35), S. 355.
6 7
Franz Exner: Kriminalbiologie in ihren Grundzügen, H a m b u r g 1939. Friedrich Schaffstein: Nationalsozialistisches Strafrecht. Gedanken zur Denkschrift des Preußischen Justizministers.
In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 53
(1933), S. 607). Siehe auch ders., Angriffe auf Rasse und
Erbgut. In: Franz Gürtner
(Hrsg.): Das nationalsozialistische Strafrecht. Besonderer Teil, Berlin 1936, S. 112-115; Nationalsozialistisches Strafrecht. In: Preußische Justiz, 12.10.1933. S. 521 f.; Eduard Kohlrausch: Das kommende deutsche Strafrecht. In: Zeitschrift für die gesamte Srafrechtswissenschaft 55 (1935), S. 383-398; Franz Gürtner: Einheitliche Justiz im einheitlichen Reich. In: Deutsche Justiz 96 (1934), S. 1331 f.; Manfred Fauser: Abhandlungen. Das Gesetz im Führerstaat. In: Archiv des öffentlichen Rechts 26 (1933), S. 129.154. In diesen Schriften wird der Zusammenhang zwischen Volk und Recht stark betont; jene Gruppen, die sich außerhalb des Begriffs Volksgemeinschaft gestellt sahen, wurden nach und nach aus dem Rechtssystem ausgeschlossen. Siehe Schaffstein, Angriff auf Rasse und Erbgut, S. 112. 8
Siehe Karl Dietrich Bracher: Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln 1962, S. 169-175; Tillmann Krach: Jüdische Anwälte in Preußen. In: Über die Bedeutung der freien Advokatur und ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus, München 1991; Sievert Lorenzen: Die Juden und die Justiz, Berlin 1942, S. 177 f.
9
Diemut Majer: Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems - Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei, Stuttgart 1987, S. 117-143 und 170 ff.; Karl Klee: Das Judentum im Strafrecht. In: Judentum und Straffecht, Berlin 1936, S. 5-12; Dr. Hans Frank. Ansprache des Reichsrechtsführers. In: Die Deutsche Rechtswissenschaft im K a m p f gegen den jüdischen Geist (Das Judentum in der Rechtswissenschaft. Ansprachen, Vorträge und Ergebnisse der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des N S R B , am 3. und 4. Oktober 1936), H.l, Berlin 1936, S. 7 f., 8, 10 und 13.
10
Martin Hirsch, Diemut Majer und Jürgen Meinck: Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus. Ausgewählte Schriften, Gesetze und Gerichtsentscheidungen von 1933 bis 1945, Köln 1984, S. 4 8 8 4 9 5 ; Diemut Majer: »Fremdvölkische« im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtsetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard am Rhein 1981, S. 118-125.
11
Die Bewertung der J u d e n als »Erbverbrecher« stammt von Dr. J o h a n n von Leers, einem der radikalsten Antisemiten des Dritten Reiches. Siehe J o h a n n von Leers: Verbrechernatur der Juden, S. 53 und 98; Dr. Johann von Leers. A Propagandist of Extermination. In: Wiener Library Bulletin 5 (1951), S. 19; Der Weg. Dr. J o h a n n von Leers and the Ex-Mufti. In: Wiener Library Bulletin 19 (1956), S. 43. Zur strafrechtlichen Verfolgung der Juden im
Robert G. Waite
60
nationalsozialistischen Deutschland siehe Ernst N o a m und Wolf-Arno Kropat: Juden vor Gericht 1933-1945. Dokumente aus hessischen Justizakten. Hrsg.: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1975. 12
Lorenzen, Die J u d e n und die Justiz, S. 168.
13
Ebenda, S. 174 ff, 182 und 187.
14
Ebenda, S. 1-5. Lorenzen beschrieb dies rein chonologisch. Siehe auch Dr. Hans Frank. »Ansprache des Reichrechtsführers, S. 9; J o h a n n von Leers: Blut und Rasse in der Gesetzgebung. Ein Gang durch die Völkergeschichte, München 1936.
15
Lorenzen, Die Juden und die Justiz, S. 149-153 und 159 f.
16
Herwig Hartner-Hnizdo: Das jüdische Gaunertum (München: Hoheneichen-Verlag, 1939), S. 211, 213.
17
J. Keller und Hanns Andersen: Der J u d e als Verbrecher, Berlin 1937, S. 25 f; Johann von Leers: Die Kriminalität des Judentums, Berlin 1936, S. 51; Walter Pötsch: Die jüdische Rasse im Lichte der Straffälligkeit. Zuchtstätten der Minderrassigkeit, Ratibor, 2. Aufl. 1933, S. 24 ff.
18
»Vorbemerkung«. Deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, S. 5; Dr. Frank. Ansprache, S. 7; vgl. auch Bracher, Machtergreifung, S. 517-521. Siehe ferner Dietmar Willoweit: Deutsche Rechtsgeschichte und »nationalsozialistische Weltanschauung« - das Beispiel Hans Frank. In: Michael Stolleis und Dieter Simon (Hrsg.): Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, Tübingen 1987, S. 2 4 4 2 .
19
Frank. Ansprache des Reichsrechtsführers, S. 8.
20
Ebenda, S. 9.
21
Ebenda, S. 11 ff.
22
Hermann Schroer: Das Verhältnis des Juden zum Gesetz. In: Deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, S. 18 ff; Ansprache von Dr. Falk Ruttke, In: Ebenda, S. 23 ff.
23
Schlußwort des Reichsgruppenwalters Staatsrat Prof. Dr. Carl Schmitt. In: Ebenda, S. 2833; vgl. auch das Gelöbnis der Tagungsteilnehmer, in dem sie versprachen, sich von jüdischen wissenschaftlichen Schriften fern zu halten, eine »lückenlose« Bibliographie zum Thema aufzubauen, jüdische von deutschen Büchern in den Bibliotheken zu trennen sowie die Forschungen zur Geschichte der J u d e n und der Kriminalität weiter zu führen. In: Ebenda, S. 35; sieher ferner K Siegert: Das J u d e n t u m im Strafverfahrensrecht, Berlin 1938, S. 19.
24
Klee, J u d e n t u m im Strafrecht, S. 5; vgl. Norbert Gurke: Der Einfluß jüdischer Theoretiker auf die deutsche Völkerrechtslehre, Berlin 1936; Erich Jung: Rechtsquelle und Judentum. Positivismus, Freiheitsrechtsschule, neue Rechtsquelle, Berlin 1937; Ludwig Bünger: Judentum und die Wiederaufnahme des Strafverfahrens Bleicherode am Harz 1939.
25
Klee, J u d e n t u m im Strafrecht, S. 5.
26
Ebenda, S. 6 ff. und 11 f.; vgl. Schaffstein, Nationalsozialistisches Straffecht, S. 625-628; Fauser, Das Gesetz im Führerstaat,; Georg Dahm: Bemerkungen zur Reform des Strafverfahrens. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 54 (1934).
27
Siegert, Das Judentum im Strafverfahrensrecht, S. 19; Gurke, Einfluß jüdischer Theoretiker, S. 6-17; Hermann Schroer: Blut und Geld im Judentum, München 1936, Bd. 1, S. V; Erich Jung: Rechtsanwendung und Judentum, Berlin 1937.
»Judentum und Kriminalität« 28
61
Siegert, Das Judentum im Strafverfahrensrecht, S. 19; Gurke, Einfluß jüdischer Theoretiker, S. 6 ff; Klaus Wilhelm Rath: Judentum und Wirtschaftswissenschaft, Berlin 1936, S. 8 und 11.
29
Siegert, Das Judentum im Strafverfahrensrecht, S. 38; Ludwig Bünger: J u d e n t u m und die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, Bleicherode am Harz 1939, S. 8 ff.
30
Hans Seidel: Unter jüdischer Pfandknechtschaft, München 1938, S. 3 f.
31
Ebenda, S. 4, 33-39.
32
Exner, Kriminalbiologie, S. 70.
33
Leers, Verbrechernatur der Juden, S. 41.
34
Kurt Daluege: Der J u d e in der Kriminalstatistik, Berlin, 20. Juli 1935. In: BArch, R19/379, S. 1.
35 36
Ebenda, S. 4; vgl. Pötsch, Die jüdische Rasse im Lichte der Straffälligkeit, S. 19 ff. »Die Juden sind unser Unglück.« In: Der Deutsche Polizeibeamte, N o . 20 (15.10.1935), S. 767-770; Der C h e f der Sicherheitspolizei und des S D : Der Rassegedanke und seine gesetzliche Gestaltung, Heft 1 (Schriften für politische und weltanschauliche Erzieung der Sicherheitspolizei und des SD); Reichsführer SS, Hrsg.: Lichtbildvortrag, erster Teil: Das J u d e n t u m seine blutsgebundene Wesensart in Vergangenheit und Gegenwart. In: BArch, NS31/163; Judentum und Kriminalität. Mitteilungsblätter für die weltanschauliche Schulung der Ordnungspolizei (10.6.1941).
37
»Die J u d e n sind unser Unglück,« S. 767.
38
Ebenda, S. 767-770. Leers meinte, daß »die Verbindung des Judentums zum Verbrechertum ... Jahrtausende alt« wäre. Siehe J o h a n n von Leers: Juden Sehen Dich An, BerlinSchöneberg, 4. Aufl. 1933), S. 47. Vgl. Leers, Judentum und Gaunertum, S. 21 ff; HartnerHnizdo, Das jüdische Gaunertum, S. 1; von Leers, Die Verbrechernatur der Juden, S. 7; Pötsch, Die jüdische Rasse im Lichte der Strafäffigkeit; Theodor Fritsch (Hrsg.): Handbuch der Judenfrage. Die wichtigen Tatsachen zur Beurteilung der jüdischen Volkes, 35. Aufl., Leipzig 1933, S. 406-411.
39
Schroer, Blut und Geld im Judentum, Bd. 2, S. 609 f. Seiner Meinung nach bestünde in der Rassenffage »der Schlüssel zur Weltgeschichte« (S. 610); Vgl. Pötsch, Die jüdische Rasse im Lichte der Straffälligkeit, S. 9-18; J o h a n n von Leers: Foderung der Stunde. Juden Raus!, S. 3-6.
40
Leers, Verbrechernatur der Juden, S. 58 und 69 f. Von der angeblichen Beziehung zwischen Jiddisch und dem Slang von Verbrechern war schon vor der NS-Zeit gesprochen worden, Siehe Hans F.K. Günther: Rassenkunde des jüdischen Volkes, München 1931, S. 278,
41
Siehe bei Leers, J u d e als Verbrecher, das Kapitel »Was Sprachenkunde und Statistik beweisen« (S.13-18); von Leers, Judentum und Gaunertum, S. 36 ff; von Leers, Kriminalität des Judentums, S. 10 und 34 f.; Hartner-Hnizdo, Das jüdische Gaunertum, S. 10.
42
Hartner-Hnizdo, Das jüdische Gaunertum, S. 11.
43
Ebenda, S. 88 f Einige Strafrechtler beschrieben die Kriminalität der Juden in ähnlicher Weise und mit vielen Einzelheiten. Siehe von Leers, Verbrechernatur der Juden; Keller, Der J u d e als Verbrecher; von Leers, Juden Sehen Dich An.
44
Hartner-Hnizdo, Das jüdische Gaunertum, S. 21 ff; Der Fanatiker Leers verfaßte ein Buch mit dem ähnlich klingenden Titel »Judentum und Gaunertum. Ein Wesens- und Lebensgemeinschaft«, Berlin 1940. Sein hauptsächlichstes Anliegen bestand in der Darstellung
62
Robert G. Waite der »alten Geistes-, Seelen- und Wesensverwandschaft zwischen J u d e n t u m und Gaunertum« (S. 4).
45
Ebenda, S. 263, 300 und 318. Vgl. von Leers, Verbrechernatur der Juden, S. 99-107 und
46
Ebenda, S. 45; von Leers, J u d e n Sehen Dich An, S. 57. Vgl. auch Kurt Plischke: Der J u d e
113-116; Keller, Der J u d e als Verbrecher, S. 118-131. als Rassenschänder. Eine Anklage gegen J u d a und eine Mahnung an die deutschen Frauen und Mädchen, Berlin-Schöneberg 1934, S. 18. 47
Keller, Der J u d e als Verbrecher, S. 92. Vgl. Kossak-Raytenau: Verbrechen unter dem Davidstern. In: Der Angriff (1. bis 15.11.1938), S. 10; Hermann Schroer: Mord - J u d e n t u m Todesstrafe, München 1939; von Leers, Verbrechernatur der Juden, S. 125-138; Franz Rose: Politische Mordschuld Judas bis Grünspan, Berlin 1939, S. 5 f. und 58-90.
48
Helmut Schramm: Der jüdische Ritualmord. Eine historische Untersuchung, Berlin, 4. Aufl. 1944, S. 3 und 415.
49
Zirpins: Das Ghetto in Litzmannstadt kriminal-polizeilich gesehen. In: Kriminalistik 15 (1941), S. 97.
50
Ebenda, S. 97 f.
51
Ebenda, S. 98.
52
Ebenda, S. 98-112.
53
von Leers, Verbrechernatur der Juden, S. 149 und 160.
54
J o h a n n von Leers: Wie kam der J u d e zum Geld? Berlin 1939, S. 4 und 10; vgl. auch N. Gurke: Der Einfluß jüdischer Theoretiker auf das deutsche Völkerrecht, S. 27 und M. Mikorey: Das Judentum in der Kriminalpyschologie, Berlin 1936, S. 61 und 67.
55
Seidel, Unter jüdischer Pfandknechtschaft, S. 5 und 38.
56
Keller, Der J u d e als Verbrecher, S. 10 f.
57
Ebenda; Mikory, Das J u d e n t u m in der Kriminalpsychologie, S. 82.
58
Ebenda, S. 12.
59
Ebenda, S. 22. Eine ähnliche Meinung vertrat Adolf Ehrt in seinem 1933 erschienenen Buch »Entfesselung der Unterwelt. Ein Querschnitt durch die Bolschewisierung Deutschlands«, Berlin 1932, S. 7.
60
Emil Reiffer und Erich Schwarzburg: Der J u d e als Weltparasit. Eine historische Skizze.
61
Leers, Verbrechernatur der Juden, S. 162 ff.
62
Ebenda, S. 68 ff.
63
Dölling, Kriminologie im »Dritten Reich«, S. 211; Dürkop, Zur Funktion der Kriminolo-
Frankfurt a.M, 1944, S. 8, 10 und 18.
gie im Nationalsozialismus, S. 98.
Wolf Gruner
D ie NS-Führung und die Zwangsarbeit für sogenannte jüdische Mischlinge Ein Einblick in Planung und Praxis antijüdischer Politik in den Jahren 1942 bis 1944
Obwohl der Zwangseinsatz der im NS-Staat als »Mischlinge« diskriminierten Menschen im letzten Kriegsjahr in der Lokalliteratur zur Judenverfolgung oft und ausführlich dokumentiert ist, hat weder die ältere, noch die neuere akademische Forschung den Hintergründen intensivere Aufmerksamkeit gewidmet. 1 Bis heute ist nicht untersucht, wie die Entscheidung zur Einführung der Zwangsarbeit zustande kam, wer diese traf, wann das geschah, ebenso fehlen Untersuchungen, welches die Motive für den Zwangseinsatz waren, wer ihn organisierte und wie er durchgeführt wurde. Nachdem in den letzten Jahren deutlich gemacht werden konnte, daß Zwangsarbeit als ein Grundelement der antijüdischen Politik des NS-Staates nach dem Novemberpogrom 1938 anzusehen ist, soll diese Tatsache hier auch für die Verfolgung der »jüdischen Mischlinge« und »jüdisch Versippten«, d.h. den »arischen« Partnern aus »Mischehen«, nachgewiesen werden. 2
Zur
Verfolgung seit
dem
Novemberpogrom
Seit den ersten Verfolgungsmaßnahmen bildete für die NS-Führung das rassistische Klassifizieren der Opfer ein Grundproblem. Nach den »Nürnberger Gesetzen« und ihren Verordnungen vom Herbst 1935 gab es zwar eine gültige Hierarchie, »Volljuden«, »Halbjuden« etc., doch in den Folgejahren mußte die NS-Führung jeweils neu entscheiden, welche Gruppen den antijüdischen Maßnahmen unterworfen werden würden. Die Diskussion über die Politik gegenüber den sog. Mischlinge pendelte ständig zwischen der Alternative, sie den »Ariern« gleichzustellen und in die NSVolksgemeinschaft einzugliedern, oder sie aber wie Juden zu verfolgen: So wurde nach dem Pogrom Ende 1938 für alle erwerbslosen Juden ein Zwangseinsatz durch die Arbeitsverwaltung eingerichtet.3 Obwohl im Zuge der Verfolgungspolitik auch Zehntausende »Mischlinge« ihre Arbeit verloren hatten, nun auf öffentliche Sozial-
Wolf Gruner
64
U n t e r s t ü t z u n g angewiesen waren, und man auf Ministerialebene deshalb über einen speziellen Arbeitseinsatz dieser Gruppe nachdachte, wurden sie letztlich nicht in die erstgenannte Verfolgungsmaßnahme einbezogen. 4 Im Gegenteil, die Arbeitsämter wies man an, ihre freie Beschäftigung nicht zu behindern. 5 In der Praxis verhinderte diese Anordnung in der Folgezeit aber weder Diskriminierungen durch die Verwaltung noch durch die Privatwirtschaft. Im öffentlichen Dienst wurden jüdische Mischlinge 1939/40 nicht mehr eingestellt. Der Deutsche Gemeindetag stellte auf eine Anfrage des Potsdamer Oberbürgermeisters klar, daß ihr Status als »vorläufige Reichsbürger« nichts daran ändere, daß sie als »Nichtarier« weder als Angestellte noch als Arbeiter in der Kommunalwirtschaft Verwendung finden könnten. 6 Für die private Rüstungswirtschaft galt diese Rigorosität noch nicht. Allerdings durften sie dort auch nicht auf »besondere[n] Posten« oder in »gehobene[n] Stellungen« beschäftigt werden. 7 Obwohl der Dienst der »Mischlinge« in der Armee umstritten war, stand ihre allgemeine Wehrpflicht bei Kriegsbeginn 1939 zunächst noch außer Frage. 8 Das provozierte zugleich einen Interessenkonflikt. Einerseits war die NS-Führung an ihrem Kriegsdienst interessiert 9 , andererseits wollte sie eine Aufwertung der Diskriminierten hierdurch vermeiden. Diskussionen hierüber zogen sich zwischen Reichsinnenministerium und der Kanzlei des Führers bis 1940 hin. Das Ministerium, in dem Staatssekretär Conti im Gegensatz zu Staatssekretär Stuckart »einen schroff ablehnenden Standpunkt« gegenüber »Mischlingen« einnahm, wartete auf eine grundsätzliche Entscheidung Hitlers. 1 0 Ende März 1940 schlug schließlich die Kanzlei des Führers Hitler direkt vor, »Halbjuden« aus der Armee auszuschließen." Schon am 8. April gab der C h e f des Oberkommandos, Keitel, die rasche Entscheidung Hitlers der Wehrmacht bekannt, daß sowohl sog. Halbjuden als auch »Männer, die mit 50°/oigen jüdischen Mischlingen oder Jüdinnen verheiratet sind« aus dem aktiven Armeedienst in die Reserve zu überstellen sind, mit dem Spezialvermerk »nicht zu verwenden«. Sog. Vierteljuden bzw. mit Vierteljüdinnen Verheiratete blieben in der Wehrmacht. 1 2 Diese die Verfolgung der »Mischlinge« erheblich verschärfende und zugleich die sog. jüdisch Versippten einbeziehende Entscheidung Hitlers konnte gleichwohl nicht sofort umgesetzt werden, denn gerade begann eine neue Etappe des Krieges, der Feldzug im Westen. Die meisten in der Armee dienenden Betroffenen wurden so erst nach dem Sieg über Frankreich entlassen. 1 3 Im Sommer 1941, als in den besetzten Gebieten der Sowjetunion schon massenhaft Juden ermordet wurden und die NS-Führung entschied, alle Juden aus Deutschland dorthin zu deportieren, drängten vor allem Partei und SS darauf, auch die »Mischlinge« voll den geplanten Maßnahmen zu unterwerfen. 1 4 So erörterten am 21. August Ministerien und Sicherheitspolizei die Modalitäten der »Endlösung der Ju-
Zwangsarbeit für sogenannte jüdische Mischlinge
65
denffage« und in diesem Zusammenhang den Einschluß von »Halbjuden« und in »Mischehen« lebenden Juden in die Deportationen. Dort wurde erklärt, daß Reichsleiter Martin Bormann Heydrich über die Meinung Hitlers unterrichtet habe, »Halbjuden« seien jetzt wie »Volljuden« zu behandeln, bei Ausnahmen von der Deportation »Mischlinge I. Grades« generell unfruchtbar zu machen. Mischlinge II. Grades würden hingegen später »Ariern« gleichgestellt. 1 5 Offenbar nach Einsprüchen u.a. von der Wehrmacht schreckte die NS-Führung jedoch kurzfristig vor dem geplanten radikalen Vorgehen zurück. Man befürchtete negative moralische Wirkungen auf die weiterhin in der Armee dienenden »Mischlinge II. Grades«, deren Väter sonst als Juden deportiert werden würden. 1 6 Nach dem Beginn der Deportationen informierte das Reichsinnenministerium intern über die aktuelle Politik: »von der abschiebung der Juden aus dem reichsgebiet werden jüdische mischlinge und (vorläufig) die in mischehe lebenden Juden nicht betroffen. [...] eine Verschärfung des kennzeichnungszwanges hinsichtlich der jüdischen mischlinge ist nicht beabsichtigt, lediglich im Protektorat sind die für mischlinge vorgesehenen ausnahmen nicht in kraft gesetzt worden.« 1 7 Die Entscheidung, sog. Halbjuden nicht abzutransportieren, milderte aber die Verfolgungsplanungen gegenüber dieser Gruppe kaum einen Deut. Anfang Oktober hatten sich Reichsminister Lammers und Walter Groß, Chef des Rassepolitischen Amtes der N S D A P dieserhalb getroffen. Groß wollte nun alle in Deutschland bleibenden »Mischlinge I. Grades« sterilisiert wissen. Das müßte zwar noch mit der Wehrmacht abgestimmt werden, aber Lammers sah durchaus Chancen, daß OKWC h e f Keitel dem zustimmen werde. Danach müsse dann eine endgültige Entscheidung Hitlers herbeigeführt werden. 1 8
Zwangssterilisation,
Zwangsgemeinschaft
und
Zwangsarbeit
Noch war aber keineswegs sicher, daß »Mischlinge« nicht deportiert werden sollten. Auf der Konferenz am Berliner Wannsee am 20. Januar 1942 plädierte Heydrich (RSHA) wieder für die Gleichstellung der »Mischlinge I. Grades« mit Juden. Staatssekretär Stuckart befürwortete aber statt der »Evakuierung« ihre Zwangssterilisation. Nach einer Folgebesprechung am 6. März, auf der im wesentlichen die Sterilisierung debattiert wurde 1 9 , schrieb Stuckart noch einmal an alle Teilnehmer der Wannseekonferenz, argumentierte gegen eine Abschiebung und für das »natürliche Aussterben der Halbjuden innerhalb des Reichsgebietes«. Sein Hauptpunkt war, daß eine Beunruhigung der »arischen« Angehörigen vermieden werden müsse. 2 0 D o c h schon auf der März-Sitzung war klar ausgesprochen geworden, daß nach einer Sterilisation
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die Diskriminierung keinesfalls aufhören werde. Diskutiert wurde, die sterilisierten »Mischlinge« in einer Stadt abzuschließen, ähnlich wie die alten Juden in der alten Festung Theresienstadt. 2 1 Nachdem Hitler schon Mitte Mai 1942 einen verschärften Kurs gegenüber den jüdischen »Mischlingen« angekündigt hatte 2 2 , mußten das Attentat auf Heydrich in Prag und der Anschlag auf die Ausstellung »Das Sowjetparadies« in Berlin als Begründung für eine Radikalisierung der gesamten antijüdischen Politik ab Ende Mai herhalten. Im Laufe des Sommers wurden auf Hitlers persönliches Drängen hin 2 3 die Ausschlußbestimmungen für »Mischlinge« in der Wehrmacht noch einmal verschärft. 24 Auch auf anderen Feldern ging der NS-Staat immer rigoroser gegen diese Gruppe vor. 2 5 Als das Reichssicherheitshauptamt Ende August verstärkt für auf eine radikale »Lösung der Mischlingsfrage« trommelte 2 6 , schrieb im September Stuckart besorgt direkt an Himmler: Die Nachricht, »daß die Mischlinge 1. Grades demnächst ebenfalls den Judenstern tragen und auch sonst völlig den Juden gleichgestellt, namentlich auch evakuiert werden sollen«, habe erhebliche Unruhe »nicht nur bei den Mischlingen selbst, sondern auch in weiteren Bevölkerungskreisen« verursacht. Diese Befürchtungen müßten, so Stuckart, ausgeräumt werden und Hitler endgültig über deren Zukunft entscheiden. 2 7 Die Angst vor »Unruhe« zu Kriegszeiten im eigenen Hinterland führte offenbar dazu, sie nicht in die Massendeportationen einzubeziehen, die gerade einen neuen Höhepunkt erreichten. Damit stand aber zugleich die Frage, was sollte mittelfristig mit den im Land bleibenden »Mischlingen« geschehen, gegen die gleichzeitig eine immer rigidere Politik richtete. Ende 1938 hatte sich die NS-Führung in einer vergleichbaren Situation auf ein Verfolgungsprogramm geeinigt, daß bis 1941 das Leben der Juden in einer Zwangsgemeinschaft abgetrennt von der NS-Gesellschaft reorganisierte. 2 8 Ähnlich wollte man offenbar nun gegen die »Mischlinge« vorgehen. Bereits im Sommer 1942 diskutierte man erstmals Zwangsarbeit als Maßnahme. 2 9 Nachdem das O K W das notwendige statistische Zahlenmaterial geliefert hatte, erörterten am 28. September im Propagandaministerium hochrangige Vertreter der Parteikanzlei, des Reichsinnenministeriums und der Wehrmacht konkret die »Heranziehung [...] der jüdischen Mischlinge und jüdisch Versippten zur Dienstleistung im Kriege«. Für beide Gruppen plante man, einen separaten Einsatz in »Arbeitsbatallionen« zu organisieren, möglicherweise ähnlich dem der Wehrunwürdigen bei der Wehrmacht und möglicherweise zur Beseitigung von Luftkriegsschäden. Staatssekretär Stuckart und der Vertreter der Parteikanzlei kritisierten das Vorhaben, da es eine »sofort einsetzende unerwünschte Diskussion, ob die Mischlinge in Zukunft auch den Weg der Volljuden gehen müssen«, verursachen würde. 1 0 Weil Zwangsarbeit seit Ende 1938 ein Grundelement der Judenverfolgung im Altreich wie in Österreich gebildet hat-
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t e 3 1 , machte das die Befürchtung für die Sitzungsteilnehmer plausibel. Die Parteikanzlei sollte deshalb die »Frage der weiteren Behandlung dieses Personenkreises« an Bormann herantragen. Ohne das Zwangseinsatzprojekt deshalb aber aufzugeben, wollte man sich bis Anfang 1943 unterdessen genauere Unterlagen über den aktuellen Einsatz der Betroffenen durch Arbeitsverwaltung und Wehrmacht beschaffen. 3 2 Ende 1942 war also noch immer nicht klar, wohin sich die Waagschale der Politik gegenüber den »Mischlingen« neigen würde. Noch schien auch manchem Ministerialvertreter der Gedanke gar nicht abwegig, diese mehrere Tausend zählende Gruppe wieder für den Wehrdienst zu reklamieren. 3 3 Insgesamt waren zwar die Deportationspläne zunächst vom Tisch, doch signalisierte die erstmalige Erwägung, einen Zwangseinsatz zu organisieren, potentiell eine neue Stufe der Verfolgung.
Die
Entscheidung
über den
Zwangseinsatz
Zu Beginn des Jahres 1943 war die Mehrheit der deutschen und österreichischen Juden deportiert. Zu den von den Transporten Ausgenommenen zählten neben den »Mischlingen« die in »Mischehe« Lebenden. Letztere wurden Ende Februar mit der berüchtigten Fabrik-Aktion von ihren Zwangsarbeitsplätzen in Industrie und Rüstung entfernt. Auf Befehl des Reichsicherheitshauptamtes durften sie nur noch bei unqualifizierten, manuellen Tätigkeiten eingesetzt werden. 3 4 Die Frage der Behandlung der jüdischen »Mischlinge« harrte noch einer Klärung. 3 5 Wahrscheinlich animiert von der Reorganisation des Zwangseinsatzes der Juden in »Mischehen« brachte der C h e f des RSHA die im Vorsommer diskutierte Idee von Arbeitsbatallionen für »Mischlinge« wieder aufs Tapet. Kaltenbrunner informierte nur wenige Tage nach der Fabrik-Aktion, am 3. März, das Oberkommando der Wehrmacht, das Propaganda-, das Arbeits- und das Rüstungsministerium über seine Vorstellungen zu deren Zwangsarbeit. Im Gegensatz zu den in Sonderformationen bei der Wehrmacht Dienst leistenden »Wehrunwürdigen« dürfe »jüdischen Mischlingen«, aber auch »jüdisch Versippten«, »Zigeunern«, Landesverrätern und vorbestraften Homosexuellen keine Gelegenheit zur Bewährung im Kriege gegeben werden. Die Wehrmeldeämter sollten deshalb den Arbeitsämtern diese Personen mit dem Hinweis anzeigen, für militärische Sonderformationen ungeeignet: »Die Arbeitsämter zwangsverpflichten diese Personen alsdann unverzüglich zur Dienstleistung bei der Organisation Todt. Diese stellt die zwangsverpflichteten Personen zu gesonderten Formationen zusammen und verwendet sie in einem besonders verschärften Einsatz.« 3 6 Ungeachtet dessen, daß Keitel, Goebbels und Speer direkt angesprochen worden waren, blieb ein rascher Beschluß aus. In der Parteikanzlei wollte man zwar, v o m
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Propagandaministerium belagert, noch Ende März 1943 über den Plan entscheiden, doch zog sich die Angelegenheit bis in den April hinein. 3 7 Nachdem sich auch die NSDAP-Reichspropagandaleitung eingeschaltet hatte, und seinerseits das Goebbelsministerium bedrängte, ob es nun bei der zuletzt vorgeschlagenen Variante bleiben solle, fragte letzteres direkt bei Kaltenbrunner an. 3 8 Vom RSHA erfuhr man jedoch Ende Mai, daß die Kaltenbrunner-Vorschläge bei Himmler auf Eis lägen, da der infolge des Warschauer Ghettoaufstandes schwanke 3 9 , ob geschlossene jüdische Sonderformationen nicht ein zu großes Risiko bildeten. Zudem solle das RSHA noch ermitteln, wie viele »Mischlinge I. Grades« und »jüdisch Versippte« überhaupt für einen Zwangseinsatz in Frage kämen. 4 0 Die Organisation Todt (OT) beschäftigte sich jedenfalls mit entsprechenden Vorbereitungen. 4 1 Quasi entgegengesetzt zu den Zwangsarbeitsplänen des RSHA entwickelte - offenbar unter dem Eindruck der aktuellen Niederlage von Stalingrad - unterdessen das O K W ein Projekt »zur militärischen Verwendung der bisher vom Wehrdienst ausgeschlossenen jüdischen Mischlinge und jüdisch versippten Staatsangehörigen.« Nach Zahlen des Reichsinnenministeriums rechnete man mit ca. 26.000 Männern im wehrfähigen Alter. Die Kanzlei Hitlers begrüßte Anfang Juni zwar jeden Weg, um »jüdische Mischlinge aus der Wirtschaft herauszubekommen«, keinesfalls dürfe eine militärische Einberufung aber damit enden, daß »Mischlinge« später »Deutschblütigen« gleichgestellt werden. Ganz deutlich machte die Kanzlei des Führers, wenn überhaupt ein Einsatz bei der Wehrmacht, dann in »Arbeitsbaubatallionen«. Durch die Verwendung von »Beuteuniformen« müßten sie besonders gekennzeichnet und »in besonders ungesunden Sümpfen« eingesetzt werden. 4 2 Mitte Juni 1943 beauftragte Hitler Goebbels, ihm jetzt konkrete Vorschläge für einen Zwangseinsatz der nicht zur Armee eingezogenen »Mischlinge« zu unterbreiten, mit dem Argument, diese dürften »nicht von den Anstrengungen des Krieges« ausgeklammert werden. 4 3 Nur Tage darauffand im Propagandaministerium eine Sitzung mit Vertretern des Oberkommandos des Heeres statt. Anders als im März von Kaltenbrunner vorgeschlagen, aber auch anders als offenbar zunächst vom O K W geplant, vereinbarten beide Seiten, daß »jüdische Mischlinge« von der Wehrmacht in Arbeitsbatallionen eingesetzt werden, aber »weder Uniform noch Hoheitszeichen«, sondern lediglich Arbeitskleidung tragen sollten. Diese Kolonnen könnten einen »ähnlichen Status wie die Kriegsgefangenen-Batallione« erhalten. Hitler stimmte dieser von Goebbels Subalternen entwickelten Variante z u 4 4 und wies im Juli offiziell an, »Mischlinge ersten Grades und jüdisch Versippte aus dem Betrieb« herauszunehmen, diese von der Wehrmacht einziehen zu lassen und »in Form von Arbeitsbatallionen bei Auf räumungsarbeiten in bombengeschädigten Gebieten unter Wehrmachtsaufsicht« einzusetzen. 4 5 Am 27. Juli verbreitete die NSDAP-Reichspropagandalei-
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tung öffentlich, daß beide Gruppen künftig Bombenschäden beseitigen müßten, weil sie sich angeblich dem Wehrdienst entzogen hätten. 4 6 Die Weisung Hitlers über den Zwangseinsatz der »Mischlinge« unter dem Dach der Wehrmacht fiel in dem Moment, als die zweijährigen Massendeportationen der Juden abgeschlossen waren. Der Reichsführer SS und inzwischen auch Reichsinnenminister, Himmler, schilderte die Verfolgungsperspektiven am 6. Oktober 1943 in Posen: »Die Judenfrage in den von uns besetzten Ländern wird bis Ende dieses Jahres erledigt sein. [...] Die Frage der mit nichtjüdischen Teilen verheirateten Juden und die Frage der Halbjuden werden sinngemäß und vernünftig untersucht, entschieden und dann gelöst.« 4 7 1943/44 sollten die Lebensmöglichkeiten sowohl für Juden in »Mischehen« als auch für »Mischlinge« drastisch eingeschränkt werden. 4 8 Neben der Zusammendrängung dieser Familien in Judenhäusern, wie z.B. in H a m b u r g 4 9 , spielte der Zwangseinsatz dabei eine wichtige Rolle.
Zur
Organisation
des
Zwangseinsatzes
Der Chef des OKW, Keitel, verweigerte jedoch unerwarteterweise seine Zustimmung zum Zwangseinsatz der »Mischlinge« unter Armeekontrolle. Nicht aus Ablehnung der Politik, sondern aus gekränkter Eitelkeit. Er fühle sich von Hitler übergangen, da Goebbels dessen Entscheidung als Vorsitzender des Luftkriegsschädenausschusses allein herbeigeführt habe, klagte er später dem Chef der Reichskanzlei. 5 0 Am 10. August 1943 erfuhr das Propagandaministerium offiziell, daß die Wehrmacht jede Beteiligung - außer dem Zurverfügungstellen der Unterlagen der Wehrersatzdienststellen - ablehne. 5 1 Ohne viel Federlesen griff die NS-Führung jetzt auf den Kaltenbrunner-Vorschlag vom März zurück und übertrug in den nächsten Wochen die Formierung der Zwangsarbeitskolonnen statt der Wehrmacht der Arbeitsverwaltung und der - gerade Hitler direkt unterstellten - Organisation Todt. 5 2 Göring informierte Mitte Oktober 1943 die Gauarbeitsämter über eine neue Hitler-Weisung zum OT-Einsatz der »nichtwehrpflichtigen Halbjuden (Mischlinge I. Grades)« und der mit »Volljüdinnen verheirateten Arier«. 5 3 Offenbar Anfang November ordnete dann formell der eigtnlich zuständige Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Sauckel, »auf Anweisung höchster Stellen« den »geschlossene[n] Einsatz der jüdischen Mischlinge« an. 5 4 In Österreich hieß es am 8. November auf einer Besprechung zwischen Arbeitsverwaltung und Rüstungsverantwortlichen dazu: »Bezüglich [der] Behandlung von Wehrunwürdigen, jüdischen Mischlingen und jüdisch Versippten hat das Arbeitsamt die Ermittlung dieser Personen aus den eigenen Karteimitteln und denen der Wehr-
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ersatzdienststellen bereits durchgeführt. Die Freigabemöglichkeit dieser Männer für einen Einsatz bei der OT wird im Einvernehmen mit den Rü[stungs]K[omman]do[s] bestimmt.« 5 5 Ende November überprüften in Wien das zuständige Rüstungskommando und das Arbeitsamt Möglichkeiten der »Freigabe, dieser zum Teil in der Rüstungsindustrie beschäftigten Zwangsarbeiter«. 5 6 Im Reich rekrutierten die Gauarbeitsämter gegen Ende 1943 eher sporadisch, denn konsequent beide Gruppen für Einsätze im besetzten Frankreich, wo die Organisation Todt schon rund 10.000 französische Juden als Zwangsarbeiter beschäftigte. 5 7 Um den Zwangseinsatz zu intensivieren, gab der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz in Berlin am 21. März und 17. April 1944 zwei neue Erlasse heraus. 5 8 Der erste der Beiden informierte die Arbeitsverwaltung konkret über den gemeinsamen Einsatz von »Wehrunwürdigen«, »Mischlingen I. Grades«, »jüdisch Versippten« und »Zigeunern« beim Ausbau der Militärstellungen in Nordfrankreich. 5 9 In Wien wurden im April 2.500 »Mischlinge« und in »Mischehen lebende Arier« für den Einsatz erfaßt. 6 0 Überall meldeten die Arbeitsämter jetzt verstärkt in Frage kommende Männer. 6 1 Sie wurden zu OT-Bereitschaften von je 100 Zwangsarbeitern formiert und nach Paris geschickt. 6 2 Im Bereich des Gauarbeitsamtes Köln gab es in der Folge zwei Transporte, den ersten am 12. Mai nach Frankreich, den zweiten am 1. August nach Bedburg in Deutschland, wo ein unterirdisches Hydrierwerk gebaut wurde. 6 3 Daß der zweite nicht nach Westen ging, gründete auf einem Transportstopp, der »zwischenzeitlich« wegen der Kriegslage verhängt worden war. 64 Als der Zwangseinsatz im Reichsmaßstab weiterhin nicht in der gewünschten Dimension praktiziert wurde, verschickte der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz am 25. August 1944 erneut ein Fernschreiben an die Gauarbeitsämter. Die Organisation Todt habe informiert, daß noch in erheblichem Umfange »jüdische Mischlinge« und »jüdisch Versippte« bei den Arbeitsämtern »zum Abruf zur Verfügung« stehen. Jetzt sollten die Transporte nach Frankreich wieder aufgenommen werden, in Abänderung des Verfahren die Gauarbeitsämter die Zwangsverpflichteten aber nicht mehr gleich nach Paris, sondern erst in das Lager Falkenberg-Westmark bringen. 6 5 Der Erlaß förderte zugleich Verschickungen innerhalb Deutschlands. Seit September sind solche vermehrt nachzuweisen; u.a. aus Bielefeld in die OT-Lager Zeitz und Elben sowie aus Dortmund nach Weißenfels und Haale/Saale. 6 6 Offenbar hatte der 20. Juli 1944 noch einmal zur Verschärfung der Politik beigetragen, denn Hitler wies mit dieser Begründung angewiesen, die Ministerialverwaltung endgültig von den letzten »Mischlingen« zu säubern, selbst von jenen, die »Ariern« gnadenhalber gleichgestellt worden waren. 6 7 In Hamburg forderte die Gauwirtschaftskammer jetzt die kriegswichtigen Unternehmen auf, noch individuell beschäftigte »Mischlinge« zu melden. Die Freistellungen von der Zwangsarbeit einiger
Zwangsarbeit für sogenannte jüdische Mischlinge
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in der Privatwirtschaft noch in Leitungspositionen oder Spezialfunktionen Tätiger sollten nochmals überprüft werden. Von 775 in der Hansestadt bis dato registrierten »Mischlingen« standen nämlich »nur« 310 im Zwangseinsatz. 6 8 Da der seit einem Jahr angeordnete geschlossene Einsatz trotz mehrerer Erlasse an die Arbeitsverwaltung noch immer nur unvollständig praktiziert wurde und weiterhin »viele jüdische Mischlinge in geschützten Betrieben« tätig waren, ordnete Heinrich Himmler Anfang Oktober 1944 eine zweite Fabrik-Aktion an. Vergleichbar der ersten Fabrik-Aktion gegen die Juden in »Mischehen« Ende Februar 1943 sollten nun alle »Mischlinge« aus dem Industrie- und Rüstungseinsatz entfernt und künftig nur noch bei manuellen Arbeiten und kolonnenweise eingesetzt werden; möglicherweise das Vorspiel für eine geplante Deportation. 6 9 Kaltenbrunner unterrichtete am 6. Oktober die Gestapostellen, daß alle noch in der Industrie tätigen »männlichen einsatzfähigen jüdischen Mischlinge I. Grades und jüdisch Versippten« von der Polizei in Kooperation mit der Arbeitsverwaltung »binnen 3 Tagen aus den Betrieben herauszuziehen und der OT. zum geschlossenen Arbeitseinsatz in Baubatallionen« zu überstellen seien. Physisch ungeeignete Männer und weibliche »Mischlinge« sollten die Arbeitsämter »in geschlossenen Gruppen zu manuellen Arbeiten« in ihren Wohnbereichen einsetzen. Ablauf und Ergebnis seien dem RSHA zu melden. 7 0 Am 14. Oktober 1944 unterrichtete Sauckel die Arbeitsverwaltung über die neue Fabrik-Aktion. 71 Die Aktion zur Reorganisation der Zwangsbeschäftigung wurde in einigen Städten, z.B. in Hamburg, offenbar rasch durchgeführt. Viele Betroffene wurden aus Unternehmen entfernt, andere mußten ihre Selbständigkeit aufgeben. 7 2 In Bayern war dagegen Anfang November die »Erfassungsaktion« noch nicht beendet. 7 3 In Frankfurt am Main wurden die NSDAP-Ortsgruppen noch Ende November aufgefordert, alle Mischlinge I. Grades anzugeben; »welche die Gestapo sammeln will, um sie in Arbeitslager zu überführen«. 7 4 In Wien geschah »die Einziehung der Mischlinge und Jüdischversippten« zur Organisation Todt erst im Dezember 1944: »Die Aktion umfaßte [...] 5.000 Kräfte, darunter zahlreiche Fachkräfte, mit deren Abgabe die Betriebe nicht gerechnet hatten.« 7 5
Zum
Alltag
des Zwangseinsatzes
Die Mehrheit der im Zuge der neuen Fabrik-Aktion Erfaßten wurden in Zwangslager der Organisation Todt transportiert; verstärkt nun innerhalb des Deutschen Reiches: Die Berliner Brüder Krüger kamen nach Miltitz-Roitzschen in Sachsen. 7 6 Duisburger und Braunschweiger schickte man nach Blankenburg im Harz. 7 7 Mittlerweile lebten sicher Tausende »Mischlinge« in Arbeitslagern in Frankreich und in Deutschland,
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unter z.T. sehr unterschiedlichen Bedingungen. 7 8 Die Situation in einigen dieser Lager ähnelten nach Auffassung von Überlebenden denen in Konzentrationslagern. 7 9 Aber es gab grundsätzliche organisatorische Unterschiede. Wie die Juden beim Geschlossenen Arbeitseinsatz zwischen 1939 und 1943 galten jetzt auch die »Mischlinge« als »freie« Kräfte, obwohl man sie zwangsweise in separaten Kolonnen beschäftigte. Die OT-Einsatzgruppe Kyffhäuser benutzte als Tarnung für sie die Bezeichnung »Sonderdienstverpflichtete«. Die Regeln ihres Zwangseinsatzes waren mit dem Reichssicherheitshauptamt abgestimmt: »Die Männer müssen geschlossen in Lagern untergebracht werden und dürfen nicht als Einzelkräfte beschäftigt werden. Sie sind geschlossen, nach Möglichkeit nicht unter 100 einzusetzen. Es ist eindeutig festgelegt, daß die Kräfte nicht als Gefangene behandelt werden sollen, sondern als freie Kräfte. Jedoch soll in den Lagern straffe Disziplin herrschen, die Männer sollen wohl scharf angefaßt, aber gerecht behandelt werden. Wenn einzelne Arbeitskräfte aus der Reihe tanzen und nicht mitmachen, sollen sie sofort den örtlich zuständigen Gestapostellen gemeldet werden.« Damit drohte die KZ-Einweisung. Die Bewachung organisierte die Organisation Todt selbst. Briefe durften einmal wöchentlich geschrieben werden. Die Post, Briefe wie Pakete, kontrollierte die jeweilige Lagerleitung. Besuche von Angehörigen und Urlaub, z.B. bei Krankheit, Bombenschäden in der Heimat oder Sterbefällen, konnten in Einzelfällen genehmigt werden. 8 0 Diese an sich schon drastischen Richtlinien verschärfte das R S H A bald darauf in wesentlichen Punkten: O h n e Rücksicht auf Vorbildung dürften die »Mischlinge« nur für »händische Arbeit auf der Baustelle« eingesetzt werden. Im Lager, beim Arbeitsweg und auf der Arbeit müßten sie bewacht werden. Das Lager in der Freizeit zu verlassen, sei ebenso verboten wie jeder Urlaub sowie Besuche, insbesondere von Ehefrauen. 8 1 Die Schizophrenie der Klassifizierung der »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« durch die NS-Politik wird zugleich an wenigen Bestimmungen ihres Zwangseinsatzes deutlich: Sie konnten von den Arbeitsämtern zu ihren Zwangslöhnen eine Ausgleichszahlung bis zur H ö h e ihres vorherigen Verdienstes bekommen, was einige tatsächlich erhielten. 8 2 Ihnen war es bei der OT erlaubt, den Hitlergruss anzuwenden. 8 3 Und drittens, ordnete Anfang November 1944 Himmler seinen OktoberErlaß teilweise korrigierend an, daß im öffentlichen Dienst tätige Beamte, Angestellte und Arbeiter, meist sicher nur noch »jüdisch Versippte«, von der Zwangsaktion ausgeklammert würden. Und daß, obwohl gerade dieser Bereich vorrangig von »Mischlingen« »gesäubert« worden war. Dagegen sollten Angehörige beider Gruppen, die noch als Ärzte arbeiteten, jetzt dem OT-Einsatz zugeführt werden. 8 4 Nicht alle von der Fabrik-Aktion Erfaßten wurden in Lager gebracht. Die Stadt Hamburg setzte durch, daß die dort über 1.000 Erfaßten nicht der OT-Einsatzgruppe Weimar, sondern der eigenen Bauverwaltung zur Verfügung gestellt wurden. Im
Zwangsarbeit für sogenannte jüdische Mischlinge
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Zuge ihrer Zwangsverpflichtung mußten sie Formulare mit Fragen nach freiwerdendem Wohnraum durch Kasernierung bzw. nach ihrem Vermögen ausfüllen, was bedenklich an bevorstehende Deportationen erinnerte. 8 5 Am 19. Januar 1945 ordnete das R S H A zunächst auch an, daß alle in »Mischehen« lebenden Juden und »Mischlinge I. Grades«, die als Juden galten, »ungeachtet z.Z. bestehender Arbeitsverhältnisse [...] dem Altersghetto Theresienstadt zum geschlossenen Arbeitseinsatz zu überstellen« seien. 8 6 In den Großstädten mußten sie sich zwischen dem 12. (Stuttgart) und dem 19. Februar (Wien) zum Abtransport einfinden, unter ihnen oft auch »Mischlinge«, die keine »Geltungsjuden« waren. Mancherorts konnten Opfer flüchten, andernorts fehlten Fahrkapazitäten. 8 7 Zwei Monate später, angesichts der nahen Kriegsniederlage, brach das RSHA die Theresienstadt-Transporte ebenso ab wie die seit Oktober 1944 laufende Aktion zur Reorganisation des Zwangseinsatzes der »Mischlinge«. Durchgeführte Maßnahmen blieben aber in Kraft, die Betroffenen in Zwangsarbeit bis zum Kriegsende. 8 8
Zusammenfassung Mit dem Entschluß über die Deportation der deutschen und österreichischen Juden entspann sich in der NS-Führung die Diskussion um die Einbeziehung der sog. Mischlinge in diese Maßnahmen. Zwar wurden sie im Herbst 1941 von den Transporten ausgenommen, sollten dafür aber später zwangsweise sterilisiert werden. Die nichtzudeportierenden »Mischlinge I. Grades« wurden nun mehr und mehr von der NS-Gesellschaft separiert. Ein Grundelement bildete dabei die Zwangsarbeit, die im Sommer 1942 erstmals auf der Ministerialebene diskutiert wurde. Zunächst debattiert man, ob die geplanten »Arbeitsbatallione« unter Hoheit der Wehrmacht oder der Arbeitsverwaltung formiert werden sollten. Nach Vorschlägen von Goebbels entschied Hitler dann im Juli 1943, daß »Mischlinge I. Grades und jüdische Versippte« von der Armee gemustert und von dieser bei der Beseitigung von Bombenschäden eingesetzt werden sollten. Als sich der C h e f des O b e r k o m m a n d o s der Wehrmacht aber dem Plan verweigerte, übertrug Hitler im Herbst 1943 Rekrutierung und Verteilung, wie v o m C h e f des R S H A Kaltenbrunner zuvor angestrebt, der mit jüdischen Zwangseinsätzen ohnehin erfahrerenen Reicharbeitsverwaltung. Der Einsatz selbst sollte bei Bauten der Organisation Todt erfolgen. Den Geschlossenen Arbeitseinsatz der »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« gestaltete die Arbeitsverwaltung nach dem Vorbild der Zwangsarbeit für Juden, die Erlasse trugen die gleiche Aktennummer 5431. Aufgrund der Kriegsereignisse konnte der vor allem für die Verteidigungsbauten im besetzten Frankreich geplante Einsatz der »Mischlinge« zu-
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nächst nur unvollständig realisiert werden. Mit mehreren Erlassen versuchte der Generalbeauftragte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, den Einsatz zu forcieren. D o c h erst eine Anfang Oktober 1944 durch Himmler veranlaßte Aktion zur Überführung sämtlicher »Mischlinge« zu Bauarbeiten der OT oder zu manuellen Arbeiten führte schließlich zur radikalen Intensivierung des Zwangseinsatzes. Die Zwangsarbeiter kamen jetzt gegen Ende des Krieges in Großstädten selbst bei der Beseitigung von Bombenschäden zum Einsatz, viele auch in Arbeitslager zu unterirdischen Rüstungsbauteil innerhalb Deutschlands. Obwohl sie dort als »freie« Kräfte galten, lauteten die Einsatzbestimmungen bei der Organisation Todt im Harz: Totale Bewachung, kein Urlaub und Verbot des Verlassen der Lager. Insgesamt müssen weit mehr als Zehn-, vielleicht an die Zwanzigtausend Personen, meist Männer, betroffen gewesen sein. Allein in Wien und Hamburg zählte man mehrere Tausend. Mit dem Geschlossenen Arbeitseinsatz der »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« bei Bauten der Organisation Todt verband die NS-Führung das verfolgungspolitische Ziel, zwei Gruppen von der Gesellschaft zu isolieren, die aus Furcht vor Unruhe in der Bevölkerung nicht deportiert werden konnten, mit den ökonomischen Motiven eines billigen Zwangseinsatzes Zehntausender Hilfskräfte, ob zur Beseitigung von Bombenschäden oder bei Großbauten in der letzten Phase des Krieges.
A nmerkungen 1 Zur Verfolgung dieser Gruppe zuerst S. Fauck: Verfolgung von Mischlingen in Deutschland und im Reichsgau Wartheland. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. II, Stuttgart 1966, S. 29-31. Dann ausführlich Jeremy Noakes: The Development of Nazi Policy towards the German-Jewish »Mischlinge« 1933-1945. In Leo Baeck Yearbook, XXXLV 1989, S. 291-354. Zuletzt Beate Meyer: »Jüdische Mischlinge«. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, H a m b u r g 1999. 2 Vgl. Wolf Gruner: Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938 bis 1943, Berlin 1997; ders.: Die Organisation von Zwangsarbeit für J u d e n in Deutschland und im Generalgouvernement 1939-1943: Eine vergleichende Bestandsaufnahme. In: Die Festung Glatz und die Verfolgung in der NS-Zeit. Twierdza Klodzka i Przesladowania w Okresie Narodowego Socjalizmu. Veröffentlichung der Vorträge des deutsch-polnischen Seminars im September 1995 in Glatz/Klodzko, hrsg. von der Stiftung »Topographie des Terrors«, Berlin 1997, S. 43-58. Vgl. auch Dieter Maier: Arbeitseinsatz und Deportation. Die Mitwirkung der Arbeitsverwaltung bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung in den Jahren 1938-1945, Berlin 1994. 3 Vgl. dazu ausführlich Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz. 4 Die Bestände des Bundesarchives (BA) sind jetzt in Berlin zusammengeführt. Hier wird noch nach den alten Standorten zitiert: BA Koblenz, R 26 IV BVP, Nr. 5, Bl. 53-54: 33. Sitzung des Generalrats des Vierjahresplans (Arbeitsausschuß) am 10.11.1938. 5 Noakes, Development, S. 328.
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6 BA Koblenz, R 36 DGT, Nr. 405, Bl. 127 RS: Handschriftl. Vermerk D G T Berlin v o m 11.6.1940 auf Anfrage OB Potsdam (i.V. Beyrichen) v o m 30.5.1940. 7 Zit. nach den Allg. Heeresmitteilungen v o m 21.8.1939; BA, Abteilungen Potsdam, 50.01 RMVP, Nr. 859, Bl. 53-54: Rundschreiben der Abwehrstelle im Wehrkreis III Berlin am 25.9.1939. 8
1936 wurde entschieden, daß sie keine Führungspositionen einnehmen dürften. Dazu ausführlich: Noakes, Development, S. 329 f.
9 Mit Kriegsbeginn 1939 entwarf man im Reichsinnenministerium eine Hitler-Weisung, daß Mischlinge, die an der Front als Soldaten eingesetzt werden würden, Deutschblütigen, mit Ausnahmen von Ehegenehmigungen, gleichgestellt werden sollten; Noakes, Development, S. 331. 10 BA, Abt. Potsdam, 62 Ka 1, Nr. 83, Bl. 204+RS: Aktennotiz Kanzlei des Führers für Reichsamtsleiter Brack v o m 19.3.1940. Vgl. Noakes, Development, S. 331. 11 Nach Schreiben vom 28.3.1940; Noakes, Development, S. 331. 12 Ausgeklammert blieben Offiziere und von Hitler zu genehmigende Ausnahmen. BA-Militärarchiv Freiburg i. Br., RH 15, Nr. 219, Bl. 33: OKW-Rundschreiben v o m 8.4.1940. 13 Noakes, Development, S. 331. Im Sommer 1941 ließ das Oberkommando des Heeres überprüfen, ob alle Halbjuden bzw. alle mit Halbjüdinnen Verheirateten aus dem aktiven Dienst ausgeschlossen seien. Falls nicht, seien diese ins Beurlaubtenverhältnis zu entlassen; BA-MA Freiburg i. Br., RH 15, Nr. 219, Bl. 33RS-34: OKH-Rundschreiben vom 16.7.1941. 14 Vgl. dazu Noakes, Development, S. 338 ff. 15 Bernhard Lösener: Das Reichsministerium des Innern und die Judengesetzgebung. In: VJHfZG, 9 (1961), H. 3, S. 264-313, hier S. 306; Noakes, Development, S. 339. 16 Noakes, Development, S. 340. 17 Landesarchiv (LA) Berlin, Rep. 142/7, 1-2-6/Nr. 1, Bd. 2, unfol.: FS Zeitler an Fiehler in München am 28.10.1941 (16.40 Uhr). 18 BA, Abt. Potsdam, Nürnberger Prozesse Fall XI, Nr. 371, Bl. 197 ff: Vermerk Dr. Groß über Rücksprache mit Lammers am 2.10.1941, vom 13. 10. 1941 (Dok. NG-978). 19 Vgl. Kurt Pätzold/Erika Schwarz: Tagesordnung: Judenmord. Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung«, Berlin 1992; sowie Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt/Main 1990, S. 437-449; Uwe-Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972, S. 319326; H. G. Adler: Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der J u d e n aus Deutschland, Tübingen 1974, S. 285-288. 20
Pätzold/Schwarz, Tagesordnung Judenmord, S. 121-122, Dok.Nr. 35: Schreiben Stuckarts v o m 16.3.1942. Vgl. Noakes, Development, S. 341 f.
21
Noakes, Development, S. 344.
22
Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1842, 2. Aufl., Stuttgart
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Ebenda, S. 425, Nr. 162: Aufzeichnung v o m 1.7.1942 mittags. BA, Abt. Potsdam, 62 Ka 1,
1965, S. 324, Nr. 109: Aufzeichnung v o m 10.5.1942 nachmittags (Wolfsschanze). Nr. 83, Bl. 131 f.: Bormann an Bouhler am 2. 7. 1942. Vgl. Noakes, Development, S. 333. 24
Nun konnten sogar »Vierteljuden« als Offiziere nur verbleiben, wenn sie vor dem 8.4.1940 gedient hatten, und das auch nur noch mit einer Sondererlaubnis Hitlers; BA-MA Freiburg i. Br., RH 15, Nr. 219, Bl. 34: Änderung von 1942 auf OKW-Rundschreiben v o m 16.7.1941. Vgl. Noakes, Development, S. 334. Im Oktober entschied Hitler, daß Ausnahmegesuche
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von Halbjuden auf Aufnahme in die Wehrmacht generell nicht mehr bearbeitet würden; ebenda, S. 335. 25 Vgl. mit Beispielen Noakes, Development, S. 349. In Kommunalverwaltungen wie Berlin wurden noch einmal alle Ämter und Eigenbetriebe überprüft, um Mischlinge bzw. jüdisch Versippte auszusieben; LA Berlin, Rep. 208, Acc. 2651, Nr. 9301, Bl. 84: Vfg. OB (i.V. Plath) vom 5.11.1942. 26
Noakes, Development, S. 344.
27 Abdruck bei Lösener, Reichsministerium, S. 298-299. Vgl. Noakes, Development, S. 345. 28 Wolf Gruner: Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen. Zur wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933-1941. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 48 (2000), H. 1, S. 32-40. 29
Noakes datiert die Idee eines Zwangseinsatzes auf Juni 1943; Noakes, Development, S. 351.
30 Akten der Parteikanzlei der N S D A P (AdP), hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Teil II Microfiche-, München-Wien u.a. 1983, Bd. 4, -Microfiche-, Nr. 066018-19: RMVP-Vermerk (Dr. Gussmann) v o m 10.2.1943; sowie BA Koblenz, R 43 II, Nr. 695, Bl. 53+RS: Goebbels an Lammers am 4.9.1943. Erwähnt ist die Sitzung auch bei Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 237 f. 31 Vgl. dazu Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz; ders.: Zwangsarbeit und Verfolgung österreichischer Juden im NS-Staat, Innsbruck-Wien 2000. 32 Bis zum 7.1.1943 sollte das Material vorliegen; AdP, Teil II, Bd. 4, -Microfiche-, Nr. 06601819: RMVP-Vermerk v o m 10.2.1943; sowie BA Koblenz, R 43 II, Nr. 695, Bl. 53+RS: Goebbels an Lammers am 4.9.1943. 33 AdP, Teil II, Bd. 4, -Microfiche-, Nr. 066018-19: RMVP-Vermerk v o m 10.2.1943. 34 Durch diese Reorganisation konnte die Gestapo sie potentiell deportieren, ohne Rüstungsinteressen zu verletzen; vgl. insgesamt dazu Gruner, Geschlossener Arbeitseinsatz, Kapitel 6. 35 Anfang Februar 1943 hatte das O K W der NS-Führung mitgeteilt, daß mit der Wiedereingliederung von 20.000 »Wehrunwürdigen« für die Armee das Problem abgeschlossen sei, ohne sich zur offenen Frage des Zwangseinsatzes der »Mischlinge« zu äußern; erwähnt in: BA Koblenz, R 43 II, Nr. 695, Bl. 53RS: Goebbels an U m m e r s am 4.9.1943. 36 AdP, Teil II, Bd. 4, -Microfiche-, Nr. 066023-25: Schnellbrief C d S II A 2 v o m 3.3.1943. 37 Ebenda, Nr. 066020-22: RMVP-Vermerke v o m 12. und 22.3., sowie vom 13. und 17.4.1943. 38 Vgl. ebenda, Nr. 066026: Notiz Tießler für Passe am 25.5.1943. 39 Der Aufstand der jüdischen Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto begann am 19.4.1943 und konnte erst Mitte Mai von den deutschen Polizeieinheiten mittels systematischer Zerstörung des Ghettos blutig niedergeschlagen werden. 40 AdP, Teil II, Bd. 4, -Microfiche-, Nr. 066027: RMVP-Vermerk für Tießler v o m 28.5.1943. 41
BA, Abt. Potsdam, 62 Ka 1, Nr. 83, Bl. 84: Undat. handschriftl. Notiz auf Aktennotiz der Kanzlei des Führers-vom 3.6.1943.
42
Ebenda: Aktennotiz Kanzlei des Führers vom 3.6.1943. Zu den Zahlen vgl. ebenda, Bl. 83.
43
BA Koblenz, R 43 II, Nr. 695, Bl. 53RS: Goebbels an Lammers am 4.9.1943.
44
Dieses Ergebnis teilte das Propagandaministerium Generaloberst Fromm vom O K W am 3. Juli noch einmal auf offiziellem Wege mit; ebenda: Goebbels an Lammers am 4.9.1943.
45 Über den Zwangseinsatz von Zigeunern, Homosexuellen etc. war keine Entscheidung gefallen, das wurde als rein sicherheitspolizeiliche Angelegenheit betrachtet; AdP, Teil II, Bd. 4, -Microfiche-, Nr. 066028: RMVP-Vermerk vom 17.7.1943.
Zwangsarbeit für sogenannte jüdische Mischlinge 46
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Nach Noakes, Development, S. 351.
47 Heinrich Himmler: Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen. Hrsg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, Frankfurt/Main u.a. 1974, S. 170. 48 Vgl. A d a m j u d e n p o l i t i k , S. 330 ff. 49 Vgl. Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 240. 50 Daß die Wehrmacht aber von Beginn an bei den Planungen maßgeblich beteiligt war, mußte Keitel später auch gegenüber Lammers zugeben; BA Koblenz, R 43 II, Nr. 695, Bl. 43: Keitel an Lammers am 16.8.1943; ebenda, Bl. 68: Keitel an Lammers am 4.10.1943. 51
Ebenda, Bl. 53RS-54: Goebbels an Lammers am 4.9. 943.
52
Ebenda, Bl. 54: Goebbels an Lammers am 4.9.1943.
53
BVP-Schreiben vom 13.10.1943 zit. bei Fauck, Verfolgung von Mischlingen, S. 29.
54 Ein Erlaß konnte bisher nicht gefunden werden. Die Anordnung wird aber in einem Gestapo-Erlaß von 1944 erwähnt; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam, Rep. 41 Großräschen, Nr. 272, Bl. 114+RS: Erlaß der Gestapo Frankfurt/Oder vom 9.10.1944. 55
BA-MA Freiburg i. Br„ RW 21-63, Nr. 5, unfol.: K T B R ü K o Wien am 8.11.1943.
56 Ebenda: K T B R ü K o Wien am 27.11.1943. 57 Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht 1938-1945, Koblenz 1987, S. 130 und 142. 58 Die Erlasse sind als Bezug erwähnt in folg. Fernschreiben: BA Koblenz, R 41, Nr. 463, Bl. 22: FS R A r b M / G B A am 25.8.1944. Vgl. Seidler, Organisation Todt, S. 130. 59
In Hamburg erfuhr man am 31.3. von diesem Erlaß; Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 238.
60
BA-MA Freiburg i. Br., RW 21-63, Nr. 6, unfol.: K T B R ü K o Wien am 15.4.1944.
61 Zu Hamburg im April 1944 siehe Hecht Ingeborg: Als unsichtbare Mauern wuchsen. Eine deutsche Familie unter den Nürnberger Rassegesetzen, München 1987, S. 142-145. 62 Seidler, Organisation Todt, S. 131-132. 63
Erwähnt in: BA Koblenz, R 41, Nr. 463, Bl. 22RS: Rundschreiben Gauarbeitsamt/RTdA Köln-Aachen am 26.8.1944. Das Schicksal eines »Halbjuden« im Lager Bedburg/Erft ist kurz dokumentiert bei Schmidt, Ernst: Lichter in der Finsternis. Widerstand und Verfolgung in Essen 1933-1945, Bd. 2, Essen 1988, S. 25.
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Erwähnt in: BA Koblenz, R 41, Nr. 463, Bl. 22: Abschrift Fernschreiben R A r b M / G B A am 25.8.1944.
65
BA Koblenz, R 41, Nr. 463, Bl. 22: Fernschreiben R A r b M / G B A vom 25.8.1944.
66 Aus dem Raum Bielefeld 180 »Mischlinge« und Juden aus Mischehen; Meynert, Joachim: Was vor der »Endlösung« geschah. Antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung in Minden-Ravensberg 1933-1945, Münster 1988, S. 262-272. Zu D o r t m u n d : Knipping, Ulrich: Die Geschichte der Juden in Dortmund während der Zeit des Dritten Reiches, Dortmund 1977, S. 134. 67
Noakes, Development, S. 352. Die Wehrmacht hatte unterdessen angeordnet, daß Mischlinge 1. und 2. Grades in der Armee auch nicht mehr als Angestellte und Arbeiter tätig sein dürften. Die Entlassenen wurden dem Arbeitseinsatz überstellt, Sauer, Paul (Bearb.): Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933-1943, Teil II, Stuttgart 1966, S. 380, Dok.Nr. 548: Vfg. O K H v o m 20. 6. 1944 zit. in Vfg. Gauarbeitsamt Württemberg v o m 21.9.1944.
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In Hamburger Großbetrieben arbeiteten zu dieser Zeit noch 50 Männer, die von der Zwangsverpflichtung bisher freigestellt waren, die meisten wegen ihrer Kriegsdienste, einige
Wolf Gruner
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auf Anträge von Behörden etc. ; siehe die Schilderung von Einzelfällen in Hamburg bei Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 239. 69
Beate Meyer interpretiert die Aktion dagegen nur als Mittel, den Befreiungsanträgen von Privatunternehmen zugunsten von Mischlingen abzuhelfen; Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 238.
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Eine Weiterbeschäftigung an bisherigen Arbeitsplätzen kam nur bei körperlicher Tätigkeit in kriegsunwichtigen Bereichen in Frage; B L H A Potsdam, Rep. 41 Großräschen, Nr. 272, Bl. 114: Erlaß der Gestapo Frankfurt/Oder vom 9.10.1944 in Erlaß des Landrates in Calau v o m 11. 11.1944. Teilw. Abdruck des RSHA-Erlasses bei Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 238 f.
71 Auszug abgedruckt bei Maier, Arbeitseinsatz und Deportation, S. 225. Vgl. BA, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ehem. Archiv des Dokumentationszentrums der Staatlichen Archiwerwaltung der D D R (künftig: AdZ), D o k / K Nr. 4, unfol.: Rundschreiben OT Kyffhäuser-Gruppenbeauftragter der Bauwirtschaft/Arbeitseinsatz (Schmidt) vom 5.11.1944. 72 Vgl. zu H a m b u r g sowie anderen Städten ausführlich, Maier, Arbeitseinsatz, S. 226-231. Zu Hamburg: Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 241. 73 Monatsbericht des Regierungspräsidenten Ober-Mittelfranken vom 8.11.1944, in: Bayern in der NS-Zeit, Bd. I: Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte. Hrsg. v. Martin Broszat, Elke Fröhlich u.a., München-Wien 1977, S. 486. 74 Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden, hrsg. von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden, Frankfurt/Main 1963, Kap. XIV 12, S. 531: Notiz Zellenleiter 08 Ortsgruppe Dornbusch über Zellenleitersitzung vom 29.11.1944. 75 BA-MA Freiburg i.Br., RW 46, Nr. 470, unfol.: Lagebericht Wehrwirtschaftsoffizier Wehrkreis XVII für Dezember 1944, vom 5.1.1945. 76 Helmut Krüger: Der halbe Stern. Leben als deutsch-jüdischer »Mischling« im Dritten Reich, mit e. Nachwort von G ö t z Aly, Berlin 1993, S. 100 ff. 77 Günther von Roden: Geschichte der Duisburger Juden, Duisburg 1986, S. 887; Brunsvicensia Judaica. Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Braunschweig 1933-1945, Braunschweig 1966, S. 151. 78 Zu den Bedingungen siehe Fauck, Verfolgung von Mischlingen, S. 29. Vgl. dagegen die sehr apologetische Darstellung bei Seidler, Organisation Todt, S. 131. 79 Noakes, Development, S. 353. Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 247. 80 BA, ZwA Dahlwitz-Hoppegarten, AdZ, D o k / K , Nr. 4, unfol.: Rundschreiben OT Kyffhäuser-Gruppenbeauftragter der Bauwirtschaft/Arbeitseinsatz (Schmidt) in Weimar v o m 5.11.1944; ebenda: Richtlinien über den Arbeitseinsatz von Mischlingen I. Grades und jüdisch versippten Personen. 81 Ebenda: Rundschreiben OT Kyffhäuser-Gruppenbeauftragter der Bauwirtschaft (Wagner) mit Anweisungen R S H A v o m 20.11.1944. Kranke bzw. der schweren Bautätigkeit nicht gewachsene Zwangsarbeiter durften nicht nach Hause entlassen werden, sie wurden der Gestapo übergeben; ebd.: Rundschreiben OT Kyffhäuser-Oberbauleitung Börde in Halberstadt vom 19.12.1944. 82 Vgl. für Hamburg: Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 241. 83
BA, ZwA Dahlwitz-Hoppegarten, AdZ, D o k / K , Nr. 4, unfol.: Richtlinien über den Arbeitseinsatz von Mischlingen I. Grades und jüdisch versippten Personen.
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Reichsgesundheitsführer Conti hatte ihrem Zwangseinsatz unter dem Vorbehalt zugestimmt, daß der Abzug Zug um Zug durchgeführt werde und Ausfälle bei der Bevölkerungsversorgung vermieden werden sollten; B L H A Potsdam, Rep. 41 Großraschen, Nr. 272, Bl. 113+RS: Erlaß Gestapo Frankfurt/Oder vom 13.11.1944. Das betraf die staatlichen Behörden, die Kommunen und die Versicherungsträger; Sauer, Dokumente, Teil II, S. 381, Dok.Nr. 549: RarbM-Erlaß v o m 8. 12. 1944; LA Berlin, Rep. 208, Acc. 1651, Nr. 9301, Bl. 150: Vfg. Oberbürgermeister Berlin vom 6.1.1945.
85 Viele der Zwangsarbeiter arbeiteten unter Bewachung für das städtische Aufräumungsamt bei privaten Baufirmen. Frauen arbeiteten auch in der Rüstungsindustrie; Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 240-245. 86 Sauer, Dokumente, Teil II, S. 383, Dok.Nr. 550 a): Vfg. Sipo Baden-Elsaß v o m 26.1.1945. 87 Vgl. dazu ausführlicher Gruner, Geschlossener Arbeitseinsatz, S. 329. Zu Wien siehe Herbert Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die J u d e n in Österreich 1938 bis 1945, Wien-München 1978, S. 310. 88 Sauer, Dokumente, Teil II, S. 383, Dok.Nr. 550 c): Gestapo Stuttgart an Landräte am 25.3.1945.
Christa
Olschewski
»Odins Vetter lebt am Fujiyama« Nichtarische Verbündete in der NS-Propaganda
Für das Aprilheft 1939 der »Nationalsozialistischen Monatshefte« schrieb Waldemar Hartmann eine ausführliche Besprechung über die Ausstellung Japanischer Kunst im Berliner Pergamonmuseum. Mit etwas Erstaunen mögen belesene Zeitgenossen und Fachleute die darin mit Ernsthaftigkeit betriebenen Vergleiche der Symbolik der Hakenkreuzfahne mit der japanischen Flagge und der Gottheiten Yakutshi und Fudö M y ö ö mit Siegfried, Odin und Thor zur Kenntnis genommen haben. Denn was haben der Germanengott Donar mit dem japanischen Sturmgott Sasonowo und Frigg mit Amaterasu - außer der durch sie personifizierten Naturerscheinungen - gemeinsam? 1 Das Japan der dreißiger Jahre mit dem Dunst des »Nordischen« einzuhüllen, auch wenn mehrmals im Beitrag von rassischer Verschiedenheit geschrieben wurde, war schon ungewöhnlich und wich von der allgemeinen propagandistischen Linie ab. Gehörten doch eigentlich auch die Japaner nach dem unter den Nazis herrschenden rassistischen Konsens zu den »Kuli- oder Fellachenrassen«, womit das Gros der farbigen Menschen Asiens, Afrikas und Amerikas gemeint war.2 Hitler hatte in »Mein Kampf« zwar den Japanern eine eingeschränkte »kulturtragende« Rolle zugebilligt, sie aber ausdrücklich als unfähig zur Kulturbegründung eingestuft.3 Und war es nicht die »nordische Rasse«, der mehr Lebensrechte, mehr Tüchtigkeit und mehr Fähigkeiten sowie natürlich auch mehr Kultur unterstellt wurden? 4 War da ein Vergleich von Kunst und Lebenshaltung eines farbigen asiatischen Volkes mit dem mystifizierten nordischen Menschen nicht fast so etwas wie ein Sakrileg? Selbst dann, wenn man politische Entwicklungen wie den »Antikominternpakt« vom 25. November 1936 berücksichtigt? Und dennoch wurde Hartmanns Besprechung in der unter der Aufsicht von Alfred Rosenberg stehenden Zeitschrift im Frühjahr 1939 gedruckt. Dieser Beitrag war gewiß eine krasse, wenn auch kaum gewollte Konterkarierung der NS-Rassenideologie. Es war jedoch nicht der erste Abdruck eines derartigen Vergleichs in den »Nationalsozialistischen Monatsheften«. Bereits im Februar 1937 hatte Karl Rosenfelder in seinem Beitrag über den japanischen Geist ganz nebenbei beim Shintoismus mit dem Germanentum verwandte Züge angemerkt. 5 Beide Artikel, der von Rosenfelder (1937) und der von Hartmann (1939), verfol-
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gen eifrig, obgleich mit unterschiedlichen Argumentationslinien, das Ziel, das Bündnis mit Japan dem eigenen Anhang rasse-, kultur- und machtpolitisch »zu erklären«. Zielgruppe der »Nationalsozialistischen Monatshefte« war nicht die allgemeine Bevölkerung, sondern das Führerkorps der N S D A P und ihrer Nebenorganisationen sowie Lehrer, Künstler, Journalisten, Geisteswissenschaftler. Eine Klientel, die überwiegend an Knotenpunkten der ideologischen Beeinflussung und Überwachung wirkte und in der Vergangenheit gerade in dieser Zeitschrift mit Rosenbergs Idee von der nordisch dominierten Vorherrschaft der weißen Rasse 6 traktiert worden war. Daß nun ein Versuch anlief, den neuen Verbündeten irgendwie in den »germanischen Dunstkreis« einzupassen, ist aber nur die halbe Erklärung. Das ferne Japan spielte im politischen Denken in Deutschland kaum eine andere, als eine exotische Nebenrolle und reduzierte sich oftmals auf Stereotype wie Geisha, Kimono, Samurei, Fujiyama oder auch auf Puccinis Oper »Madame Butterfly«. Obwohl Japan im Ersten Weltkrieg auf Seiten der Entente gestanden und die deutsche Kolonie in China (Tjingdau) annektiert hatte, darüber hinaus vom Völkerbund mit dem Mandat über die deutschen Südseekolonien bedacht worden war, gab es öffentlich geäußerte antijapanische Ressentiments eher selten. Eine ganz allgemeine und unspezifische antiasiatische Grundhaltung, die vor allem von einer Berührungsangst mit fremdartigen Kultur- und Lebensgewohnheiten getragen wurde, gehörte jedoch zum deutschen Alltag. Japans Aufstieg zur Großmacht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und seine wirtschaftliche Entwicklung war überwiegend nur den Spezialisten geläufig. So war es einerseits leicht für die NS-Ideologen, an die stereotypen Bruchstücke anknüpfend, ein eigenes Japanbild zu konstruieren. Und da das landläufige Wissen über Japan sehr gering und sehr unkonkret war, konnten Ideologen und Propagandisten ein in der NS-Führung gewünschtes Bild kreieren. Dabei mußten sie sich nicht genau an die Realität halten und sie konnten durchaus auch bestimmte deutsche innenpolitische Akzente mit dem fernen Japan in Verbindung bringen. Befremdlich wirkende Gewohnheiten der Japaner ließ man einfach aus oder versuchte dort, wo es möglich war, sie ins Gegenteil zu verkehren. Ein Beispiel dafür bietet der im März 1939 in den »Nationalsozialistischen Monatsheften« abgedruckte Beitrag »Die Frau in Japan«. Der Dominanz der japanischen Männer und der politischen Rechtlosigkeit der Frauen wird entgegengesetzt, daß in der Familie, in der Sippe die Frau die Hauptrolle bei der Bewahrung von Sitte, Kultur und Religion spiele und daß das Wirken der Frauen im Haus und in der Industrie unersetzbar für die Großmachtpolitik sei. 7 In dieser Argumentation findet man sehr viel vom Wunschdenken der NS-Führung über die künftige Rolle der deutschen Frau im Dritten Reich. Rosenfelders Artikel im Februarheft 1937 nimmt den kurz zuvor geschlossenen
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Christa Olschewski
Antikominternpakt zum Ausgangspunkt, den neuen, fremdartigen Verbündeten im nationalsozialistischen Sinne hoffähig zu machen. Und so wird gleich zu Anfang postuliert, daß beide Staaten durch die konsequente Rückbesinnung auf ihre rassischen und völkischen Grundlagen einzigartig in der Welt dastehen. Kurioserweise findet sich darin auch das folgende Zitat, das so ganz uns gar nicht zum nationalsozialistischen Ausschließlichkeitspostulat passen will: »Unser Land (d.i. Japan, Ch.O.) das einzige Vermächtnis der Götter, das einzige Land der Sonnengöttin und das allein von ihren Nachfolgern regiert wird, wird den anderen Ländern immer überlegen sein, ihr Herrscher und ihr Führer.« 8 Dann sind es drei Bereiche, die der Autor zu den besonderen Leistungen der Japaner zählt: 1. Die Verschmelzung von Staat und Religion im Shintoismus. Der Shintoismus wurde zum Staatsdienst erhoben, dem sich jeder Japaner, gleich welchem religiösen Bekenntnis er anhing, zu unterwerfen hatte. Und da 1936 der Papst den japanischen Katholiken die aktive Teilnahme am shintoistischen Staatsdienst erlaubte, herrsche in Japan gegenwärtig ein spannungsfreies religiöses Leben, wo Religionsausübung Staatsdienst und Dienst am Staate Glaubensbekenntnis sei. 2. Die absolute (vergöttlichte) Führerrolle des japanischen Kaisers. Seine Unangreifbarkeit und das Verbot jeglicher Kritik an ihm. 3. Die aktive Rolle der japanischen Volksschule bei der Erziehung des kaisertreuen und absolut gehorsamen Untertanen. Die japanische Volksschule, die jeder durchlaufen müsse, lege den Grundstein für die innere Stärke des Staates und seine machtpolitischen Ambitionen. Wobei ein Nebensatz Bedauern anklingen läßt, daß es keine politischen und Massenorganisationen gibt, die diese konsequente Ausrichtung der Untertanen begleiten. Ein auch in anderen Publikationen über Japan immer anzutreffender Gedanke wird von den »Nationalsozialistischen Monatsheften« ebenfalls aufgegriffen: Japan als beinahe judenfreie Gesellschaft. Das rasche Aufholen des technologischen Rückstandes unter der Regierung von Kaiser Meiji (1868-1912) und die gegenwärtigen innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Entwicklungen zur asiatischen GroßraumMacht werden dieser Tatsache mit zugeschrieben. Auffällig ist nun, daß eine vordem herrschende Beschreibung des Japaners als höflich, freundlich, korrekt und bescheiden im Hintergrund verschwindet. 9 Sicherlich nicht allein deshalb, weil man mit dieser Mentalität nicht unbedingt Kampfkraft und Stärke eines Bundesgenossen suggeriert, sondern wohl eher, weil damit eine übergreifende allgemeine asiatische Tugend verbunden werden könnte. Denn bis 1937 hatte die NS-Propaganda versucht, bei Veröffentlichungen über China und
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Japan sowohl quantitativ wie auch inhaltlich ein Gleichgewicht herzustellen. Dabei unterschied sich die Charakterisierung der Chinesen von der der Japaner so gut wie gar nicht. 1 0 China war geostrategisch und wirtschaftlich viel lukrativer für die NS-Führung als Japan. Und die Hoffnung, gleiche Beziehungen zu Japan und zu Tschiang-Kai-schek pflegen zu können, die in einigen Konzernetagen und auch bei der Wehrmacht noch gehegt wurde, zerschlug sich spätestens im Juli 1937 mit dem japanischen Vorstoß in China. Diese eindeutige Lage verlangte nun von der NS-Propaganda, Japan als verläßlichen und bei allen Unterschieden würdigen Verbündeten zu zeigen. Aus innenpolitischen Gründen bot sich die Ausschlachtung der japanischen Aggression in China vor Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht so ohne weiteres an. Berichte hierüber blieben den Nachrichten vorbehalten. Gleiches galt für den japanischen Repressivapparat. Und das Exotische an Japan sollte nur ganz sparsam und möglichst nur feuilletonistisch eingesetzt werden. Wie also aus einem geringwertigen Fremden einen akzeptierten Bundesgenossen machen? Rosenbergs Zeitschrift versuchte es mit einer Art »asiatischem Germanentum«. So abstrus das auch auf den ersten Blick war, es bot eine Analogienkette in der Argumentation, warum Japaner - und nur sie allein von allen Asiaten - keine Untermenschen sind. Japaner als Beinahe-Germanen - das gab auch den Spielraum, die eigene Überlegenheit über den Bundesgenossen anklingen zu lassen: Die Japaner sind gut, aber die Deutschen sind besser, auch bei der Kunst, denn sie kennen die Pespektivmalerei und die dreidimensionale Plastik 11 ...
A nmerkungen 1 NS-Monatshefte, April 1939, S. 350 ff. (62 ff.) 2 Vgl. hierzu Zimmermann: Die geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus, 1933 3 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1940, S. 318 f. 4 Ebenda. Siehe auch H. Grimm: Gedanken, o.O. 1936. 5 NS-Monatshefte, Februar 1937, S. 161 (65). 6 Alfred Rosenberg: Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1934, S. 675. 7 NS-Monatshefte, März 1939, S. 264 ff. (72 ff.) 8 NS-Monatshefte, Februar 1937, S. 106 (64). 9 Vgl. dazu »Nogi der letzte Samurei«. In: Völkischer Beobachter v. 7.2., 8.2., 9.2., 10/11.2., 12.2. und 13.2.1935. Weiterhin: Die Tagebücher von J o s e p h Goebbels. Sämtliche Fragmente, Hrsg. v. E. Fröhlich, M ü n c h e n / N e w York/London/Paris 1987, Eintragung v. 05.10.1935. 10 NS-Monatshefte, Juni 1936, S. 563 ff. (75 ff:), Völkischer Beobachter, 2.6.1935. 11 NS-Monatshefte, April 1939, S. 353 (65).
Eva Seeber
Flüchtlinge oder Deserteure? Zur Unterhaus-Debatte über Antisemitismus in der polnischen Armee in England im Frühjahr 1944 »Der Erfolg unserer Waffen und die Etablierung einer künftigen nationalen Existenz bedingen die Koordinierung unserer Anstrengungen für unser gemeinsames Ziel. Speziell in der Armee muß die Einheit fest begründet sein; ehrenhafte Waffenbruderschaft muß regieren und alle Streitigkeiten sind zu beenden. Mein Prinzip ist, daß ein Pole, der jetzt für die gemeinsame Sache kämpft, auf diese Weise ausreichend Zeugnis ablegt, daß er ein Pole ist, ungeachtet seiner Herkunft oder Religion. Ich verbiete strikt, Soldaten jüdischen Glaubens irgendwelche Unfreundlichkeit durch beständige Bemerkungen oder irgendwelche Verletzungen der menschlichen Würde entgegenzubringen. Alle solche Vergehen werden streng bestraft. Dieser Befehl ist allen Soldaten bei der Parade vorzulesen.«1
Mit dieser schonungslos strengen Weisung hatte der neue, nach der Niederlage Polens 1939 ernannte Oberbefehlshaber der Polnischen Streitkräfte und Premier der Exilregierung Polens, Wladyslaw Sikorski, am 5. August 1940 auf antisemitische Ausschreitungen reagiert, die in der in Westeuropa neu aufgestellten Polnischen Armee aufgetreten waren. Seine Worte wurden zum Angelpunkt einer Grundsatzdebatte über »Jews in the Polish Army » 2 im britischen Unterhaus, nachdem sich am 21. August 1940 das britische Parlament eingehend mit einem Gesetz über die »Allied Forces«, d.h. über die Rechte und Pflichten der sechs auf britischem Boden befindlichen fremden Regierungsorgane bzw. deren Armeen beschäftigte hatte und gesetzlich geregelt wurde, daß jede der Armeen unter eigenen Kommandeuren, eigener Flagge und eigenen Militärgesetzen zu handeln berechtigt war.3 Der Grund dafür, daß in der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs die jüdische Problematik in den Mittelpunkt rückte, bestand darin, daß antisemitische Vorfälle unter den polnischen Truppen bekannt geworden und Sikorskis Befehl erfolgt war. Jetzt kamen Grundsatzfragen des Zusammenlebens zur Sprache, die zwar für die meisten Engländer theoretischer Natur waren, die sich aber bei der Zusammensetzung der polnischen Armee aus Flüchtlingen unterschiedlicher nationaler und religiöser Herkunft als äußerst diffizil und belastend für die Alliierten erweisen sollten. Wie der Abgeordnete Silverman bekundete, konnte das Parlament nicht umhin, sich dem unstrittig
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vorhandenen Sachverhalt zu stellen, daß im Vorkriegspolen ein tiefverwurzelter bitterer Antisemitismus geherrscht hatte. Diese Tatsache sei ebensowenig zu leugnen wie die bedauerliche Beobachtung, daß der Krieg, der schon ein Jahr lang andauere, die Psyche nicht revolutioniert habe. 4 So müsse man den Befehl Sikorskis, den dieser auf Grund bedauerlicher Zwischenfälle erlassen habe, begrüßen, wiewohl ein solcher Wortlaut an sich in diesem Lande eigenartig, ja lächerlich anmuten müsse. Es könne in England keine Bürger zweiter Klasse geben. Silverman beschränkte sich nicht auf ein Beklagen vorhandener Widersprüche, sondern erwog Maßnahmen, um es Angehörigen der Armee zu ermöglichen, ihre Beschwerden angemessen vorzutragen. Alle möglichen Schritte müßten getan werden, um Vorfälle zu verhindern und eine freundliche Kameradschaft zu erzeugen, die zwischen Völkern herrschen sollte, die in der gleichen Armee für die gleichen Ziele kämpften. 5 Schließlich stieß man zum Kernproblem des Entwurfes v o m 21. August 1940 vor, wie groß die Freiheiten der Gastmächte zu sein hatten, um es ihnen zu ermöglichen, ihrer Rolle als verbündete besiegte Staaten im K a m p f gegen Hitler gerecht werden zu können. Dazu wurde vom Staatssekretär im britischen Kriegsministerium, Sir Edward Grigg hervorgehoben: man dürfe niemanden durch Gesetzgebung zu weitgehend autorisieren und es ihm unter anderem auch nicht erleichtern, Unterschiede zwischen seinen Angehörigen bzw. Bürgern zuzulassen. Er fügte hinzu, er begrüße den Wunsch jüdischer Soldaten, sich am K a m p f gegen die deutsche Wehrmacht zu beteiligen. Das aber wäre nur als Einheit bzw. als Teil der anderen nationalen Streitkräfte möglich. Grigg sprach mit großer Zurückhaltung davon, daß er mit den jetzt gewählten »Methoden des Herangehens« sympathisiere. Dabei meinte er offenbar den vom Kreise um Sikorski eingeschlagenen Weg der Zurückweisung des Antisemitismus, wenn er von Kräften sprach, »die zuvor nicht allzu sehr respektiert« 6 worden seien. Jedenfalls legte Grigg großen Wert darauf, ganze Partien des genannten Textes vom 5. August im Anschluß an seine Rede zu zitieren. Für Polen bestand die Kardinalfrage zunächst vor allem darin, 1940 weiter als bewaffneter Alliierter im Kampf gegen Hitler aufzutreten und wahrgenommen zu werden. Das verknüpfte sich aufs engste mit der Existenz von Polnischen Streitkräften bzw. deren Bestandteilen in den verschiedenen Teilen der Welt und im polnischen Untergrund. Damit im Zusammenhang standen neue Herausforderungen und Erwartungen an die eigenen Führungseliten Polens, die diese Armeeteile befehligten, und an deren demokratischen Geist. Überkommen aus der Zeit der Diktatur Pilsudskis herrschten in Teilen der Armee eine tiefverwurzelte Feindschaft zu Rußland, aber auch innenpolitisch Vorbehalte gegenüber allen Minderheiten, ganz speziell gegenüber der jüdischen Bevölkerung.
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Was die Auffassungen über die Schuld an der Niederlage der Politik anbetraf, erwiesen sich die politischen Kreise im polnischen Exil als völlig zerstritten. Nicht zu übersehen aber waren jene Elemente - die sich in der Konsequenz aus der Niederlage 1939 und - in Opposition zur Politik des früheren Obristenregimes um Józef Beck - auf eine stärker soziale, weniger elitäre, humanistische, minderheitenffeundlichere Innenpolitik Polens in der Zukunft orientierten und die dem starken reaktionären auch durch Antisemitismus belasteten - Element Paroli bieten wollten. Für das polnische Volk wog am schwersten, daß die militärische Niederlage Polens und die Flucht der polnischen Regierung aus dem Lande die Kontinuität des Polnischen Staates und seiner Armee bedrohten. Diese Gefahr abgewendet zu haben, war ein großes Verdienst der von Sikorski geführten Regierung im Exil. Die dazu unerläßliche notwendige Unterstützung aber leistete damals die französische Regierung, gerade noch rechtzeitig vor der eigenen Niederlage. Mit dem Ziel ausdrücklicher Wahrung der staatlichen Kontinuität Polens hatte sie den Präsidenten Ignacy Moscicki zum Rücktritt und zur Übergabe der Regierungsgewalt an den weniger belasteten Wladystaw Raczkiewicz gedrängt. Die französische Diplomatie durchkreuzte auch die Manöver der Kreise um Oberst Beck, als alter und neuer Regierungschef (im Exil) vom alliierten Ausland anerkannt zu werden. 7 Von weitreichender Bedeutung war Ende September 1939 die Entstehung der Exilregierung Polens in Frankreich unter dem von Raczkiewicz berufenen Oberbefehlshaber der polnischen Truppen in Frankreich, Wladyslaw Sikorski. Er vertrat jene Kräfte im polnischer Militär, die in Opposition zum Vorkriegsregime gestanden hatten und die fest entschlossen waren, Polens Armee zum aktiven zuverlässigen Verbündeten der Alliierten im Kriege gegen Deutschland zu reorganisieren und damit zum Repräsentanten der vitalen Interessen Polens zu machen. Alle Hoffnungen Polens waren in dieser Phase auf die gut gerüstete Armee Frankreichs gerichtet. Aufgrund eines Agreements vom 4. Januar 1940 war sofort begonnen worden, aus den über Rumänien nach Frankreich entkommenen polnischen Einheiten zwei Infantriedivisionen, eine Panzer-Brigade, zehn Panzerabwehrkompanien sowie zwei Jagdfliegergeschwader aufzustellen, was unter Sikorskis Führung realisiert wurde. Im Mai 1940 erreichten die Polnischen Streitkräfte die Zahl von 82.261 Soldaten und Offizieren. 8 D o c h mit dem am 10. Mai beginnenden Frankreichfeldzug ereilte die polnischen Einheiten zum zweiten Mal das Verhängnis, das sie u m s o härter traf, als sie bisher euphorisch von einer überlegenen Ausrüstung der Alliierten über Deutschland ausgegangen und den Sieg als zwangsläufig und nicht allzu fern betrachtet hatten. Zum Angelpunkt der französischen Niederlage wurde der überraschende Vorstoß von deutschen Panzercorps durch die unwegsamen Ardennen, demzufolge sich der Feldzug schon nach kurzer Zeit zum Vorteil der deutschen Aggres-
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soren wendete. Als sich Ende Mai der Kessel bei Dünkirchen schloß, gelang die Rettung der britischen und französischen Soldaten über den Kanal nur unter größten Verlusten. 9 N o c h vor Mitte Juni zeichnete sich der völlige Zusammenbruch Frankreichs ab und wuchs sich zu einer Katastrophe auch für die polnischen Armeekräfte aus. Begleitet von großen Schwierigkeiten und Verlusten gelangte Ende Juni 1940 nur ein Teil der Einheiten - das waren nach der Berechnung des für die Evakuierung verantwortlichen Vize-Kriegsministers General Kukiel 23.000 Mann - nach England. 1 0
Die Evakuierung erfolgte über die unbesetzte Zone Frankreichs, und
zwar, wie Kukiel schreibt, sehr verspätet, was mit der unverhältnismäßigen Disziplin und Scheu vor dem »Ausbrechen aus der französischer Befehlsgewalt« zusammenhing." Mit der Verlegung der Polen nach Schottland begann eine neue Etappe, als deren Ziel und Höhepunkt die Unterstützung bei der geplanten Invasion auf dem Kontinent erwartet wurde. Allerdings erfolgte diese Aktion erst dreieinhalb Jahre später. In dieser Zeit der unmittelbaren Vorbereitung auf die Errichtung der Zweiten Front in Westeuropa, im Frühjahr 1944, ereignete sich die folgende, die polnischen Streitkräfte erschütternde Episode. Sie erregte die höchste Aufmerksamkeit all derer, die sich zur Befreiung Europas von faschistischer Inhumanität bekannten und mit dem Sieg über Hitler zugleich um die Ausmerzung der Ungleichbehandlung der Völker, speziell aller Minderheiten kämpften. Fürs Erste unbemerkt von der Presse, entfernte sich am 16. Januar 1944 eine Gruppe von 68 Soldaten jüdischen Glaubens von ihrer Truppe in Schottland. Sie campierten mittellos in einem Londoner Hotel und schockierten plötzlich die Öffentlichkeit, als sie zum Ausdruck brachten, sie würden nicht zu ihren Polnischen Einheiten zurückkehren, sondern die Übernahme in die Britische Armee verlangen. Als Grund wurde angegeben, daß sich ihr tägliches Leben durch ständiges Mobbing so qualvoll gestalte, daß es nicht mehr zu ertragen sei. Am 22. Februar folgte eine zweite, 134 Mann umfassende Gruppe, die ebenfalls um Aufnahme in eine Britische Einheit bat. In den Londoner Ministerien war man sich bald darüber einig, daß alles einen »abstoßenden Eindruck« mache. 1 2 Nach einer Diskussion mit den Generalen Montgomery und Grasett schrieb Harrison vom War Office folgerichtig, man müsse den Polen klarmachen, daß es in ihrem Interesse liege, die Ursachen des Kummers zu beseitigen. 13
Ein Committee for a Jewish Army of Stateless Refügee and Palestinian
Jews versuchte zu helfen: Die Flüchtlinge hätten sich hilfesuchend an das Komitee gewandt, weil ihre Leiden in den polnischen Einheiten die Grenzen des Erträglichen überschritten hätten. Zuerst habe man sie gegen ihren Willen nach Schottland gebracht, dann seien sie nur verspottet und gequält worden, dann habe man alle Briefe zensiert und die Gruppe nun einer Untersuchungskommission unterworfen, die
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tendenziös recherchiere und Fehlurteile fälle. 1 4 Das War Office (Harrison) reagierte erschreckt: »Öffentliche Attacken im Lande auf die Polnische Regierung in diesem Moment könnten den gesamten Trend während der gegenwärtigen Verhandlungen mit Mr. Stalin umdrehen, falls sie den Eindruck einer Schwächung der internationalen Position der Polnischen Regierung erwecken würden.« 1 5 Vom Foreign Office (Allan) erfolgte umgehend die Bestätigung: Ja, man müsse diese Briefe totschweigen, »um nicht unliebsame Komplikationen zu riskieren«. 1 6 Immerhin schrieb man das Jahr 1944 und das Bekanntwerden der Fluchtbewegung fand vor dem Hintergrund der Großen Politik statt. Nach der Alliierten Kriegskonferenz von Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943) ging es zwischen den Großmächten um nicht mehr und nicht weniger als um die diplomatische Vorbereitung des Vormarsches auf polnisches Terrain. Das schloß folgende Schritte ein: a.) Die Gewinnung der Exilregierung für die mit den Russen in Teheran vereinbarte Westverschiebung der Grenzen Polens. Gerade im Januar/Februar sprach vieles dafür, daß sich die Russen zur Wiederanerkennung der Mikolajczyk-Regierung bereit finden würden; b.) Die Kooperation von Roter Armee und der Untergrundarmee dieser Regierung im Inneren Polens (Armia Krajowa - AK), c) Wiederanerkennung der polnischen Exilregierung unter Ministerpräsident Mikolajczyk durch die Regierung der UdSSR. 1 7 In eine solch sensible Phase der Diskussion von Schlüsselfragen der Nachkriegsordnung hinein platzte die Nachricht, daß man sich im alliierten Lager antisemitischen Ausschreitungen erwehren müsse. Was die Briten anging, so rückte dies also die Sorge in den Vordergrund, es gerade jetzt nicht zu einer Schwächung der internationalen Position der Polnischen Regierung kommen zu lassen. In erster Linie aus diesem Grunde lautete die Entscheidung nach einem kurzen Briefwechsel zwischen Außenminister Anthony Eden und seinen Mitarbeitern am 4. März 1944, man werde das War Office drängen, »diese Deserteure lieber zu übernehmen, als der militärischen Disziplin freien Lauf zu lassen.« 1 8 Die polnische Seite fragte daraufhin völlig konsterniert nach, wie dieses Urteil zu erklären sei. Zugleich wehrte die polnische Armeeführung die ersten Nachrichten im Sinne von »Feigheit vor dem Feind« erst einmal ab: So wies General Kukiel den britischen General Grasett am 26. Januar darauf hin, alle »Deserteure kämen aus der First Armoured Division, die bekanntlich bald auf dem Kontinent eingesetzt werden solle. Laut Berichten der Polnischen Führung wären in Mittelost auch gerade dann 1.500 jüdische Soldaten desertiert, als sie zum Fronteinsatz eingeschifft werden sollten. Außerdem müsse man auch prüfen, ob die Flucht nicht aus politischen Gründen durch äußere Kräfte angezettelt worden sei. Wie sonst hätten sich alle Flüchtlinge gleichzeitig in einem bestimmten Hotel versammelt? 1 9
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Diese Mutmaßungen wurden von britischer Seite sehr distanziert aufgenommen. So urteilte der Sekretär Edens, Denis Allen, im Brief an den Botschafter Sir Owen O'Malley, daß die Erklärungen der Soldaten ein gänzlich von Kukiels Brief abweichendes Bild zeichneten und ihre Darstellung durchaus glaubwürdig erschien. Es sei schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, daß zumindest in einigen Einheiten der Polnischen Armee manches im Argen liege und es wohl im Interesse aller Betroffenen sei, den Transfer zu organisieren. 2 0 Größtes Gewicht wurde im Entwurf, der den Premier Winston Churchill zu informieren bestimmt war, auf den Hinweis gelegt, daß die Soldaten Unterstützung bei zwei bekannten Parlamentariern erfahren hätten. Die Gefahr, daß die Sache die Öffentlichkeit erreiche und ein extrem unvorteilhafter Eindruck entstehe, sei also sehr akut. Daß ein Teil der Männer z.B. Fallschirmspringer seien und alle zu bestätigen schienen, daß die Vorwürfe den Tatsachen entsprächen, mache die Sache nicht einfacher. Bei seinen Nachforschungen stellte das Foreign Office fest, daß es in mehr als einem Falle schon früher vorgekommen sei, daß die polnischen Armeestellen die Auswahl der Soldaten für die polnischen Einheiten in Schottland nach eigenartigen Kriterien treffe. Bestimmten Flüchtlingen würden unter medizinischen Vorwänden die Aufnahme in die polnischen Einheiten verwehrt. Englische Mediziner hätten dazu geäußert: »Wo Juden und Kommunisten betroffen seien, wären Beurteilungen abgegeben worden, die sich mit denen unserer Armeeärzte nicht deckten«. 2 1 So hatte sich A. Dru vom War Office Allen gegenüber empört zum Fall Gajek geäußert, einem Interbrigadisten aus Spanien, der aus einem französischen Internierungslager kommend, in die polnische Armee aufgenommen werden wollte. Sein Urteil lautete: polnische Stellen pflegten eigenartige medizinische Beurteilungen abzugeben, mit dem Ziel, Freiwillige aufgrund »von politischen und rassischen Abneigungen loszuwerden«. 2 2 Allen drängte demzufolge den britischen Botschafter, die polnischen Exilregierungsvertreter zu warnen, zumal »genügend Parlamentssniper nur darauf warteten, ihren Verdacht auf antisemitische Diskriminierung« bestätigt zu sehen. 2 3 Die stillschweigende Regelung, die das Britische Kriegsministerium schließlich am 7.Februar auch für den zweiten Schub anordnete, ging einher mit einem erneuten Versuch, Diskriminierungen auf die Spur zu kommen und sie zu ahnden. Die Eingruppierung der jüdischen Flüchtlinge in britische aktive Einheiten verlief zur Zufriedenheit aller Seiten. Wie das Foreign Office dem War Office dazu mitteilte, verhinderte die glatte Regelung »an outburst of publicity« und versetzte uns in die Lage, »a somewhat delicate period« zu überstehen. Heute sei man (bei den diplomatischen Verhandlungen mit Stalin, E.S.) in »einer besseren Position als noch vor ein bis zwei Wochen zuvor«. 2 4
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D o c h unerwartet erlebte die Affäre am 21. März 44 eine unliebsame Weiterung. Denn jetzt verließen drei Gruppen jüdischer Soldaten ihre Einheiten, acht Tage später folgten ihnen 29 Soldaten griechisch orthodoxer Religion, was die Öffentlichkeit dieses Mal auf den verschiedenen Kanälen sofort erfuhr. 2 5 Alle 52 Mann wurden von polnischer und britischer Militärpolizei in Gewahrsam genommen. Anders als bisher brachte sie das vor das Kriegsgericht. Diese Zuspitzung war zurückzuführen auf einen am 13. März 1944 erlassenen Befehl des polnischen Kriegsministers, der beinhaltete, daß jeder weitere Fall von Flucht aus der Truppe als Desertion zu ahnden sei. 2 6 Wladyslaw Sosnkowski, seit dem Tode Sikorskis im Juli 1943 Polnischer Oberbefehlshaber, fügte dem am 20. März 1944 die Drohung hinzu: »Die Tatsache, daß diesen Soldaten die Erlaubnis gegeben wurde, in die britische Armee überzuwechseln, bedeutet nicht im mindesten, daß die Angelegenheit beendet ist und daß der polnische Staat in Zukunft nicht weitere Konsequenzen gegenüber den der Desertion schuldigen Personen ziehen wird.« Die Erklärung enthielt außerdem eine Zuspitzung, indem sie aus der beteuerten Gleichheit der Rechte in den Polnischen Streitkräften »those political groups, which play the part of foreign agencies« 2 7 ausnahm. Damit waren offenbar ehemalige Spanienkämpfer und sowjetfreundliche Flüchtlinge gemeint, die im Rahmen von ukrainischen Gruppen um Entlassung aus den polnischen Truppen kämpften. 2 8 Von nun an ließ sich die Presse nicht mehr zurückhalten. Die verschiedenen Blätter verkündeten auf dem Titelblatt, jetzt drohe nach polnischem Militärrecht die Todesstrafe. 2 9 Unter einer derartigen Pression traf der Abgeordnete Thomas Driberg eilig vorbereitende Schritte, um die Angelegenheit vor das Unterhaus zu bringen. Er führte am 30. und 31. März Beschwerde im Foreign Office, die Britische Militärpolizei habe sich an der Verhaftung beteiligt, obwohl man versprochen hatte, dies zu verhindern. 3 0 Der Abgeordnete Denis Nowell Pritt unterstützte diese Initiative, um das FO dazu zu bewegen, eine Änderung herbeizuführen. Nur wenn die Leute unter britischem Druck in ein bis zwei Tagen freigelassen würden, werde man keine Schritte unternehmen, die den Dingen eine »unerwünschte Publizität« gäben. 3 1 Driberg unterrichtete die Parlamentsmitglieder am 3. April über die Hintergründe der Flucht. Ein gleiches Schreiben ging dem Foreign Office zu. Keine seiner Fakten wurde angefochten. Alarmierend war sein Hinweis, daß die Tatsache eines »virulenten Antisemitismus innerhalb der Polnischen Streitkräfte infolge der Rekrutierung einer großen Zahl von Polen noch verstärkt« wurde, »die von den Alliierten in Nordafrika gefangen genommen worden waren, welche kurz zuvor noch unter Rommels K o m m a n d o in der Armee der Achsenmächte gekämpft hatten. Solchen von
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der Nazidoktrin infizierten Leuten hätten sich die vergleichsweise wenigen jüdischen Soldaten erwehren müssen. 3 2 Driberg lieferte im Anhang an seine Note zahlreiche Beweisdokumente von direkt Betroffenen. Auffällig daran war, daß sich die Beschwerdeführer nicht scheuten, die Namen ihrer Peiniger anzugeben, was vom großen Ernst der Lage spricht, in der sie sich befanden. 3 3 Der Abgeordnete schrieb, er verstehe, daß die polnische Regierung um der inneren Disziplin willen auf einem Stop des Transfers bestehe. Das Dilemma liege aber darin, daß die dritte Gruppe verspätet in London eintraf und sie nun einer Ungleichbehandlung unterworfen würde. 34 Zwei Tage später richtete Driberg im Unterhaus die Anfrage an Anthony Eden, ob ihm die Vorgänge bekannt seien, die dazu führten, daß jüdische Soldaten und Matrosen nun vor dem Kriegsgericht stünden. Im Interesse der alliierten Kriegsanstrengungen möge er in Verhandlungen mit den polnischen Stellen eintreten, um erneut die Überführung in die britischen Einheiten durchzusetzen. Eden teilte jedoch trotz eindringlicher Beschwörungen sein Bedauern mit, die Regierung werde n i c h t intervenieren. Eine Untersuchung der Sorgen und Nöte der »jüdischen Deserteure« sei von der britischen Regierung bei den Polen angemahnt worden. Der jüngst erfolgte Transfer »von einer in die andere alliierte Armee« sei eine absolute Ausnahme gewesen. Nunmehr hätten die polnischen Behörden alles in ihrer Macht stehende getan, um Äußerungen von Antisemitismus in den Einheiten zu ermitteln und streng zu bestrafen. 3 5 Am 7. April begann im Unterhaus eine (mehrtägige) intensive Debatte, die sich durch einen zähen K a m p f britischer Parlamentarier um die Gleichbehandlung der jüdischen Soldaten auszeichnete. Die Beweisführung von Driberg, Strauß und anderen war die, daß ungeachtet der guten Absichten der polnischen Stellen, den Antisemitismus in ihren eigenen Einheiten zu bekämpfen, dieses Übel nicht durch Tagesbefehle auszumerzen sei. Die Ablehnung eines nochmaligen Transfers werde mit Bewahrung der Disziplin begründet, aber welche Disziplin und Moral könne es in Einheiten geben, in denen diese unglücklichen Juden solche Erfahrungen machen müßten? Driberg bestätigte, er habe mit Geflüchteten gesprochen, die alle die ständige Drohung der Judenhasser wiederholten, hier in England könne man nichts machen, aber wenn man erst auf dem Kontinent sei, werde »jeder Pole zwei Kugeln bereit halten, die erste für einen Juden, die zweite für einen Deutschen.« 3 6 Allein vom militärischen Standpunkt aus, könnten diese Leute doch an Ort und Stelle nicht so effektiv für die Ziele der Vereinten Nationen kämpfen wie in der britischen Armee. 3 7 In Schottland befänden sich noch ca. 600 Juden, diese möge man ebenfalls in die Britische Armee entlassen. Driberg konstatierte, freilich sei ein Dilemma, daß bei Schaffung eines solchen Präzedenzfalles auch eine unkalkulierbar große Zahl anderer Minderheiten in die Britische Armee drängen würde - das beträfe z.B. Ukrainer und Belorussen, die ebenfalls aus polnischen Einheiten nach London flüchte-
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ten. Er halte aber die jüdische Problematik für eine andere, immerhin sei die Gruppe mit 600 Mann überschaubar. Der Abgeordnete erinnerte anläßlich des bevorstehenden Karfreitags, daß der Erzbischof von Canterbury in seiner Predigt für die verfolgten Juden im naziokkupierten Europa beten werde. Als Abgeordneter und Sprecher der Gruppe habe er ihn um Hilfe bei der Rettung der Flüchtlinge gebeten, die Aufmerksamkeit müsse sich auch auf die Juden richten, die in diesem Lande unter den eigenen Augen Verfolgung und Qual erleiden. 3 8 Die gesamte Debatte zeichnete sich durch betonte Sachlichkeit und auffällige Zurückhaltung gegenüber der polnischen Seite aus. Der Abgeordnete Griffith nannte als Grund dafür die große Hochachtung vor den Polen, in deren moralischer Schuld man sich offenbar seit dem Jahre 1939 fühlte. Seine Partei habe gerade die Erklärung abgegeben, daß wir unseren Einfluß geltend machen müssen, damit ein freies und unabhängiges Polen entsteht als eines unserer Ziele für die Nachkriegsperiode. Gewiß werde das Auftreten Mr. Edens als Appell auf die polnische Regierung wirken. Falls dies nicht erreicht werde, so beschwöre die Debatte mehr Leid herauf, als Gutes zu tun. Man könne die rassistische Verbitterung und den Antisemitismus nicht dulden, schon gar nicht im eigenen Lande. Abweichend von diesen Meinungen brachte der Abgeordnete der Konservativen, Mr. Beverly Baxter eine neue oppositionelle Variante in die Diskussion, als er den Weg anfocht, die »unglücklichen Juden« von den Polen zu trennen: Separation sei keine Lösung, sondern bestärke die Verursacher nur. »Haben wir als Seniorpartner nicht das Recht, von der polnischen Exilregierung zu fordern, daß die Situation bereinigt wird und diese Leute zurückkehren können als ehrenwerte Soldaten?« D e m stimmte auch der Abgeordnete Lipson zu: man müsse doch auch bedenken, daß jüdische und nichtjüdische Polen in Zukunft zusammen zu leben hätten. 3 9 Daß es Antisemitismus in der polnischen Armee gäbe, ließe sich wohl nicht mehr leugnen, wie anders seien sonst die Befehle des Polnischen Oberbefehlshabers vom Juli 1940 zu verstehen, die v o m Nachfolger Sikorskis, General Kukiel bzw. von General Sosnkowski 1944 nunmehr erneuert worden waren. Das müsse man zur Kenntnis nehmen. Andererseits müsse man beiden Seiten gerecht werden. Niemand möchte nach dem Kriege bei einem Antrag auf polnische Staatsbürgerschaft den Vorwurf hören: »Während des Krieges warst Du nicht bereit, in der Polnischen Armee zu kämpfen.« Baxter resumierte: Konfrontiert mit dem Schicksal dieser Menschen, bin ich kein Verfechter des Transfers, denn das würde nur die Zeugen beseitigen und damit das zu lösende Problem. 4 0 Die polnische Armee könne außerdem keinesfalls auf 600 - zum Teil gut ausgebildete Leute - verzichten. Wichtigstes Anliegen der Regierung Polens jedoch müsse sein, den Antisemitismus auszumerzen. 4 1 Dieser grundsätzlichen Frage wandten sich auch andere Redner zu. Unter Berufung auf die Atlantik Charta und zum Gleichheitsprinzip aller Völker verlangten sie, dem Antise-
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mitismus jetzt in England keine Chance zu geben, nicht zuletzt deswegen, damit er nach dem Kriege nicht noch erstarke. Mut sei also angesagt, um dieses heikle Thema zur Sprache zu bringen. Es ist die Theorie vom Herrenvolk, daß es eine dominierende speziell auserwählte Rasse gäbe, deren Mission darin bestehe, sich alle anderen Rassen auf der Welt unterzuordnen. 4 2 Befremdlich an dieser Stelle war das unverändert anhaltende Schweigen im alliierten Lager, das trotz dramatischer Augenzeugenberichte über die seit 1942 wütende Massenvernichtung jüdischen Lebens bis zuletzt herrschte. Doch war dies der Tatsache geschuldet, daß die grausame Wahrheit selbst für die alliierten Geheimdienste zu unfaßbar war, um sie öffentlich zu verbreiten. 43 D o c h dies bedarf einer speziellen Darstellung. Am 19. April trat die Antisemitismus-Debatte in England in eine neue Phase. Nachdem der Vorgang vor das Polnische Militärtribunal gelangt und das Urteil über die »Deserteure« gesprochen war, bekamen die Wortmeldungen eine schärfere Tonart. A u f Anfrage im Unterhaus teilte der Außenminister mit, daß 21 jüdische Soldaten zu Gefängnisstrafen von ein bis zwei Jahren verurteilt worden waren. 4 4 Wie Eden betonte, war das die Minimalhöhe, da das polnische Gesetz für den Fall der Desertion ein bis fünfzehn Jahre vorsah. Doch ergab die Debatte, daß die Flüchtlinge zusätzlich davon bedroht waren, zusammen mit der ganzen Familie die polnische Staatsbürgerschaft zu verlieren, wenn sie später nach Polen heimkehrten. 4 3 Außerdem waren sie zuvor genötigt worden, in ihre Einheiten zurückzukehren, um überhaupt anwaltliche Unterstützung im Prozeß erhalten zu können. 4 6 Driberg teilte mit, daß sich der Druck inzwischen noch außerordentlich verschärft hatte. Dadurch hatte sich in einer Einheit ein Selbstmord eines jüdischen Arztes ereignet. In einer anderen polnischen Einheit war es nach Berichten über das Gemetzel nach dem Ghetto-Aufstand vom April 1943 zu lauten Verhöhnungen der jüdischen Soldaten gekommen: Lobpreisungen Hitlers waren üblich, »mit der Beseitigung der Juden sei er zum Retter Europas« geworden. 4 7 Daraufhin begannen bohrende Fragen nach der Verantwortung der englischen Regierung. Unter Berufung auf einen scharfen Presseartikel von Michael Foot »It can happen here« stellte ein Labourabgeordneter die Frage: Sind wir nicht berechtigt, den Status der Polnischen Regierung im Exil in Frage zu stellen? Damit wurden die im Allied Forces Act von 1940 festgelegten Privilegien Polens als die von Visiting Forces ebenso angesprochen, wie die den Briten obliegende Verantwortung für die Souveränität der Gastmächte. Aber Churchill selbst hatte schon in der Debatte über das Gesetz 1940 großen Wert darauf gelegt zu betonen: sie (die sechs Gastregierungen der Tschechen, Polen, Norweger, Holländer, Belgier und der De Gaulle-Franzosen), sollten nicht nur als Exilregierungen betrachtet werden, »jede einzelne wünscht an den Anstrengungen und Opfern des Krieges ebenso teilzuhaben wie an den Früchten des Sieges«. Eine
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Verletzung der Gastrechte war demzufolge unerwünscht. Die Allianz mit Polen war für Großbritannien ein Pfand künftiger Dominanz in Westeuropa. 4 8 Am 12. Mai 1944 erließ der Präsident der Polnischen Republik eine Amnestie für alle in den Polnischen Streitkräften vor dem 3. Mai vorgefallenen Desertionen. Zwar gab man dem geforderten Transfer für alle nach dem 13. März entflohenen jüdischen Soldaten nicht statt. 4 9 D o c h mußte man auf die aufgebrachte Öffentlichkeit reagieren. In zahllosen Schreiben aus den Rüstungsfabriken, von Vereinigungen und Gewerkschaften, die seit dem 7. April im Foreign Office eintrafen, hatte die Öffentlichkeit Mäßigung eingefordert. 5 0 Abordnungen verurteilten, daß man Flüchtlinge Deserteure nennen dürfe, da sie doch freiwillig zur Bekämpfung des Faschismus angetreten seien? England führe Krieg gegen den Nazismus, damit wende es sich auch generell gegen faschistische Methoden, wo auch immer diese angewandt würden. 5 1 »News Chronicle« v o m 13. April vermerkte kritisch, die von polnischer Seite eingesetzte Untersuchungskommission bestehe aus fünf Offizieren, darunter kein Verbindungsoffizier der Engländer, kein J u d e . 5 2 Roberts gab diese Meldung an die Polen weiter mit der erfolglosen Bitte um Kommentar. Inzwischen traf ein Brief der Ehefrau eines jüdischen Soldaten ein. Man habe ihrem Mann angedroht, der in Einzelhaft in Schottland sitze, daß die Männer weit von England entfernt an der Front ihrer Bestrafung durch Schüsse in den Rücken nicht entkämen. Eden gingen Telegramme zu, die im Namen von Tausenden von Arbeitern, darunter speziell von Bewohnern Schottlands Gleichheit der Menschen einforderten. Die Gewerkschaften stritten für gleiche Rechte der Minderheiten, die Seite an Seite mit den Armeen der Demokratien stünden, sie seien Patrioten dieses Landes. 5 3 Die Flucht jüdischer Soldaten als Ausdruck der Opposition gegen Diskriminierung blieb insofern also keine folgenlose Episode. Die demokratische Öffentlichkeit Großbritanniens griff massiv ein und verurteilte die Vorgänge als Vergehen gegen die demokratischen Grundsätze der Koalition. Andererseits blieben die Umstände und die Verursacher der Fluchtbewegung im Dunkeln. Auch blieben Verdächtigungen bestehen. D e m Begriff Deserteur war der Vorwurf der »Feigheit vor dem Feind«, in diesem Falle vor der Macht der Nazis, immanent und assozierte alte antisemitische Stereotype. D o c h wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß jüdische Flüchtlinge zum bewaffneten K a m p f gegen die Wehrmacht bereit waren, so ist das Beispiel der jüdischen Kommandeeinheiten in der britischen Armee zur Aufklärung geeignet. 5 4 Zusammengesetzt aus sogenannten verbündeten feindlichen Ausländern, darunter gläubigen, aber auch assimilierten Österreichern, Deutschen und Ungarn, die kein akzentfreies Englisch, dafür aber Deutsch sprachen, bildete die britische Armee diese jüdischen Flüchtlinge zu einer unersetzlichen Elitetruppe aus. Dabei erwies sich der
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Entschluß der Briten, »feindliche Ausländer« nicht mehr ausschließlich bei Pioniereinheiten zu verwenden, sondern zur kämpfenden Truppe zu übernehmen, als segensreich. Er motivierte die Soldaten zu diffizilen Aufklärerdiensten während der Invasion in Frankreich. 5 5 Indessen bleibt noch viel zu tun bei der Erforschung des Zweiten Weltkrieges, speziell hinsichtlich jener Auswirkungen auf innere Entwicklungen in den beteiligten Ländern, die sich aus dem Charakter des Krieges als »Kreuzzug gegen den undemokratischen Geist« ergaben.
A nmerkungen 1 Poland in the British Parliament 1939-1945. Hrg. Waclaw Jedrzejewicz, 3 Bde, New York 1946-1962. Bd.2 (Herbst 1941-Frühjahr 1944) (im folgenden: Jedrzejewicz 2.Bd.) S. 442. Zitat aus dem Befehl General Sikorskis v.5.8.1940. 2 Ebenda, S. 435-442, Allied Forces Bill. Jews in the Polish Army. Debatte v.21.8.1940. 3
Ebenda.
4 Ebenda, S.439. 5
Ebenda.
6 Ebenda, S.441. 7
Frankreichs Rolle wurde aus polnischer Sicht charakterisiert von: Marian Kukiel, General Sikorski, Zolnierz i M a z Stanu Polski Wilczaxej. London 1970.
8 Vgl. Stanislaw Gac/Leszek Grot/Wieslaw Szota, Geschichte der Polnischen Armee, Berlin 1978, S. 17. 9 Vgl.Wincenty Iwanowski, Z Dziejöw Formacji Polskich na Zachodzie 1939-1945, Warschau 1976, S. 57. 10 Kukiel, S.71-73. 11 Kukiel, S.114. 12 Public Record Office. Foreign Office. (Abkürzung für das zentrale britische Staatsarchiv, Abteilung Außenamt, im folgenden: PRO-FO) Sign. 371-39480, Allen v o m FO v o m 15.2.1944. 13 PRO-FO, ebenda, Notiz von Harrison v o m 23.2.1944. 14 PRO-FO, ebenda, Schreiben des Komitees vom 7.2.1944. Einige Fragen lauteten: Wer sagte ihnen, sie sollten nach London gehen? Wie war die Flucht organisiert? Welcher Partei gehören Sie an? 15 PRO-FO, ebenda, Harrison vom 4.3.1944. 16 PRO-FO, ebenda, Allen an Carlisle vom 4.3.1944. 17 Ausführlich zum politischen Hintergrundgeschehen siehe Eva Seeber: Die Mächte der Antihitlerkoalition und die Auseinandersetzung um Polen und die C S R 1941-1945, Berlin 1984. S.209 ff. 18 PRO-FO, ebenda, Allen(FO) an War Office vom 4.3.1944. 19 PRO-FO, ebenda, Kukiel an Grasett v o m 26.1.1944. 20 PRO-FO, ebenda, Allen vom 15.2.1944. 21
Ebenda.
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PRO-FO, ebenda, Brief von A. Dru (War Office) an Allen vom 21.1.1944.
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PRO-FO, ebenda, Allan an Sir Oven O'Malley vom 2.2.1944.
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PRO-FO, ebenda, Dixon an Redman (War Office) v o m 19.3.1944. Schreiben trägt handschriftl. Vermerk, 22.3. »einverstanden«, War O f f
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PRO-FO 371-39481, Allen v o m 29.3.1944.
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PRO-FO 371-39481, Befehl gez. v o m Minister am 13.3.1944;
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Ebenda, Order Nr. 4, gezeichnet v o m C.i.C vom 20.3.1944; Anhang A zum vorliegenden Beitrag.
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PRO-FO 371-39481, Allan v o m 29.3.1944.
29
PRO-FO 371-39481, Zeitungsausschnitte v o m 1.4.44; Das polnische Militärgesetz, Art.46, sah vor: für permanente Entziehung von der Wehrpflicht im Kriege 1-15 Jahre, Art.47: für Desertion als Resultat von Konspiration in Kriegszeiten die Todesstrafe. (Jedrzejewicz, S. 424)
30 PRO-FO 371-39481, Telephonische Ankündigung von Abg. Thomas Driberg im F O , vom 30.3.1944. 31 PRO-FO 371-39481, Drohung Abg. D.N.Pritt vom 30.3.1944. beim Unterstaatssekretär im F O , R Law. 32 Der Status als Angehöriger der Deutschen Volksliste (DVL) zog die Wehrpflicht nach sich, dadurch waren Polen z.B. in die Rommel-Armee gelangt. Jedrzejewicz, S. 452. Labourabgeordneter G. Strauß. 33 PRO-FO, Driberg vom 3.4.1944; Scotland Yard hatte Bedenken, Klagen auf normalem Weg vor Gericht zu bringen, denn das würde »einen Aufschrei der kommunistischem Propaganda« zur Folge haben. (4.4.1944) 34 Jedrzejewicz, S. 436. 35 Ebenda, S. 426, Bericht Edens. 36 Ebenda, S. 435. 37
Ebenda.
38 Ebenda, S. 437. 39
Ebenda, S. 441.
40
Die O r g a n i s a t i o n e n »New Zionist O r g a n i z a t i o n « , »Polish Jewish Reprezentation« (Dr.A.Tartakower) traten für die Wehrpflicht ein und forderten deshalb aus Prinzip zur Rückkehr auf.
41 Jedrzejewicz, S. 441. 42 Jedrzejewicz, S. 465 f. 43
Durch den ersten Augenzeugen-Bericht aus dem Todeslager Belzec, den Jan Karski nach London brachte, erlangten die Geheimdienste Kenntnis. Vgl. Walter Laqueur: The First News of the Holocaust, New York 1979, S. 24.
44 Jedrzejewicz, S. 479. 45 Jedrzejewicz, S. 486, Aussage von Driberg. 46 Jedrzejewicz, S. 483; vgl. auch ebenda Bd.2, Dok.61, S. 495. betr. Ausübung souveräner Befehlsgewalt innerhalb der Polnischen Armee in England, wie sie nach polnischem Gesetz vorgesehen sei. 47
PRO-FO 371-39481, Driberg vom 3.4.1944.
48 Vgl. die Unterhausdebatte über die Allied Forces Bill am 21.8.1940. In: Ebenda, Bd. 1, D o k . Nr. 113, S. 4 3 5 4 4 2 .
Flüchtlinge oder Deserteure?
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49 Jedrzejewicz, S. 492. 50
PRO-FO 371-39481, Anhang zur Note Dribergs vom 3.4.1944. Anhang B zum vorliegenden Beitrag.
51
PRO-FO 371-39481, Resolution, unterzeichnet mit R A. White.
52
PRO-FO 371-39481, News Chronicle vom 13.4.1944.
53 PRO-FO 371-39481, Sammlung von Resolutionen v o m April und Mai 1944. 54 Vgl. dazu Peter Masters: K o m m a n d o der Verfolgten. 87 Elitesoldaten im K a m p f gegen Hitler, München 1999. 55
Ebenda, S. 241 ff.
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A nhang: Dokument A
Eva Seeber
Flüchtlinge oder Deserteure?
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Dokument B
Eva Seeber
Flüchtlinge oder Deserteure?
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Sonja
Striegnitz
»...eine der brennendsten Fragen unseres Lebens« Die Zeitschrift »Russkoe Bogatstvo« über den Judenpogrom von Kisinev 1903
Daß in Rußland seit der Jahrhundertwende gesellschaftliche Vorgänge nicht mehr nur in einer den Herrschenden genehmen Sicht für die Öffentlichkeit aufbereitet und nachvollziehbar gemacht wurden, war dem Umstand geschuldet, daß sich im Lande trotz politischer Unfreiheit, rigoroser Verfolgung jedweder antizaristischen Betätigung und strikter Zensur Kräfte regten und formierten, die dem Selbstherrschaftssystem kritisch gegenüberstanden, es als reformbedürftig betrachteten oder es gar - mit unterschiedlichem Weg und Ziel freilich - überwinden wollten. Zar, Adel und bürokratischer Apparat setzten zwar nach wie vor auf die vertrauten Herrschaftsmethoden, doch die Gesellschaft brach irreversibel aus der Erstarrung auf Arbeiterstreiks, wirkungsvoll durch politische Demonstrationen ergänzt, 1902 gleich in mehreren Gouvernements Bauernerhebungen, Studentenunruhen u.a. waren Begleiterscheinung einer tiefgreifenden und langandauernden wirtschaftlichen Krise und Abwehr ihrer Folgen zugleich. Ein angespanntes geistiges Ringen, das Aufgreifen und Modernisieren revolutionär-demokratischen Gedankengutes des Narodnicestvo, die Verbreitung und Verwurzelung des Marxismus und die Erneuerung des russischen Liberalismus verliefen, unterschiedlich intensiv, parallel mit der Ausprägung des auf Machterhaltung der Monarchie ausgerichteten russischen Nationalismus, der Ideologe und Träger von sich bedrohlich verstärkenden antisemitischen Tendenzen wurde. In diesem Kontext schritt die Parteiung der Gesellschaft voran und nahm organisatorische Formen an. Nach Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (1898) erfuhr die russische Öffentlichkeit an der Jahreswende 1901/02 aus dem Untergrund von der Bildung der auf die Bauernschaft orientierten Partei der Sozialrevolutionäre, ab 1903 gaben bürgerlich-liberale Kräfte - im Ausland allerdings - die Zeitschrift »Osvobozdenie« (Befreiung) heraus, die zur Plattform eines gleichnamigen Bundes wurde, aus dem viel später die Partei der Konstitutionellen Demokraten erwuchs (1905). Angesichts weiterhin fehlender legaler Presseorgane der systemfeindlichen Kräfte
»...eine der brennendsten Fragen unseres Lebens.«
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und der großen Probleme bei der Heranschaffung und Verbreitung illegaler Druckerzeugnisse kam einem Monatsjournal wie dem »Russkoe Bogatstvo« (Russischer Reichtum), seit 1876 legal in Petersburg erscheinend, von Anfang der neunziger Jahre bis 1904 von dem führenden Narodnik N.K. Michajlovskij herausgegeben und geprägt und nach dessen Tode in die Hand des revolutionär-demokratischen Schriftstellers V.G. Korolenko gelegt, für die Information, Meinungsbildung und Standortbestimmung sozialistischer parteipolitischer Richtungen außerhalb der Sozialdemokratie eine große Bedeutung zu. Das Russkoe Bogatstvo hatte bei der Modernisierung traditioneller Narodnikiauffassungen gleichsam die Rolle eines »Laboratoriums« erfüllt. Namentlich durch die hier veröffentlichten philosophischen, ökonomischen und vor allem agrarhistorischen Beiträge von V.M. Cernov und A.V. Pesechonov wurden diese schließlich als Neonarodnicestvo zum ideologisch-theoretischen Rüstzeug für die schon genannte radikal-sozialistische, auf den individuellen Terror eingeschworene Partei der Sozialrevolutionäre und die eher liberale, legalitätsorientierte Partei der Volkssozialisten, die sich vorgenommen hatte, die Interssen des »ganzen werktätigen Volkes« zu vertreten (1906). Das Journal präsentierte sich von Anfang an als literarisches, wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Organ mit einem ausgeprägten Interesse auch für das Geschehen in anderen europäischen Ländern, insbesondere für die sozialistische Bewegung. In der Rubrik »Chronika vnutrennej zizni« (Chronik des innenpolitischen Lebens) wurden - sachlich und scheinbar leidenschaftslos - die wichtigsten Ereignisse im Lande und die Politik der Selbstherrschaft behandelt. Aus den sparsam-zurückhaltenden Kommentaren sowie aus der Auswahl ausländischer Stimmen zu innerrussischen Vorgängen erschlossen sich dem mit der Zeitschrift vertrauten Leser indes die politische Position von Redaktion und Verfassern, das Engagement für die Belange der unteren sozialen Schichte, das »werktätige Volk«. 1903 wurde in der Zeitschrift verstärkt die jüdische Thematik eingeführt, zunächst vor allem im umfänglichen Rezensionsteil. In der Märznummer wurden beispielsweise zwei Neuerscheinungen bzw. Neuauflagen besprochen und dem Leser insbesondere deshalb empfohlen, weil sie die »Abgründe des Unwissens« in bezug auf die Geschichte der Juden und die Probleme der jüdischen Menschen im Russischen Reich überwinden helfen würden: 1 Der Rezensent (möglicherweise N . K Michajlovskij, der bis zu seinem Tode die Rubrik »Novye knigi« / N e u e Bücher/ besorgte) teilte die ermutigenden Gedanken von Morgulis, der in seiner Beschreibung der inneren Fragen des jüdischen Lebens (»sofern es in diesem hauptsächlich durch Willkür von außen geregelten Leben überhaupt innere Fragen gibt«) u.a. darauf verwies, daß die »gesetzmäßige Gleichgültigkeit« gegenüber den jüdischen Menschen wenigstens in der progressiven Öffentlichkeit der Vergangenheit angehöre. Immerhin habe noch
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Sonja Striegnitz
vor einem Viertel Jahrhundert eine der fortschrittlichsten russischen Zeitschriften (Russkoe Bogatstvo?) auf Wagen von Juden über die gleichgültige russische Gesellschaft mit dem Hinweis reagiert, die Millionen russischer Bauern verdienten weit eher Aufmerksamkeit als alle Juden der Welt. 2 Am Buch des französischen Publizisten faszinierte den Rezensenten, wie dieser, anknüpfend an die Debatte Karl Marx Otto Bauer über die Judenfrage, herausarbeitete, daß es keinen Grund gab, alle Juden mit »Händlern und Schacherern« gleichzusetzen, »merkantil« sei nur die jüdische Bourgeoisie. »Seit die Juden in das europäische Leben eingetreten sind, gab es unter ihnen Kaufleute, Gelehrte, Handwerker und Arme - viele Arme; um über das Judentum zu urteilen, muß man letztere als Ausgangspunkt nehmen; man muß die Juden >an ihrem Proletariat studieren, das ihre wahre Kraft ausmacht...<«, schreibt der Rezensent, indem er den Verfasser zitiert. 3 Die bloße Verbreitung von allgemeinen Kenntnissen über die jüdische Problematik bzw. die Erschließung von Wegen, um diesbezügliche »Abgründe des Unwissens« zuzuschütten, wie mit Rezensionen geschehen, hatte sich für das Russkoe Bogatstvo durch den Judenpogrom Ostern 1903 in Kisinev auf dramatische Weise erledigt. Dieses Ereignis, das - anderthalbtausend Kilometer vom Machtzentrum des Zarenreiches entfernt - in Rußland Entsetzen und Sorge auslöste und auch die internationale Öffentlichkeit stark beunruhigte, trat in den politischen Beiträgen des Journals deutlich in den Vordergrund. Auch im weiteren wurde die jüdische Frage auf den Seiten des Russkoe Bogatstvo nicht abstrahiert von diesen blutigen Erfahrungen Rußlands mit dem modernen Antisemitismus behandelt. In Kisinev - der Hauptstadt des seit 1878 fest in das Russische Reich integrierten Gouvernements Bessarabien mit ihren rund 110 000 Einwohnern, von denen Russen, Ukrainer und Juden etwa 90 Prozent ausmachten und letztere die Hälfte dieses Prozentsatzes (in Zahlen: 50 000 bei 230 000 Juden im ganzen Gouvernement) - war das Leben der jüdischen Menschen von den für die fünf Millionen Juden Rußlands (zuweilen werden auch sieben Millionen angegeben) geltenden Bestimmungen reglementiert: die Zugehörigkeit von Stadt und Gouvernement zum seit langem administrativ festgelegten Ansiedlungsgebiet 4 ; das Verbot, Landwirtschaft zu betreiben; die daraus resultierende Abdrängung und Konzentration von Juden in Handel und Handwerk mit einer wohlhabenden Oberschicht, mit dem »Überangebot« an diesen Erwerbsbereichen und folglich den krassen sozialen Problemen mit grassierender (nicht nur) jüdischer Massenarmut und Arbeitslosigkeit; die Restriktionen für die jüdische Selbstverwaltung und Religionsausübung; die rechtliche Benachteiligung in Bildung und Kultur, Gesundheitsfürsorge. Das Gouvernement Bessarabien bildete wie das wolhynische mit seinem reaktionär-konservativen russischen Adel eilte fruchtbare Pflanzstätte für den großrussischen Nationalismus, den entscheidenden Ideen-
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geber und Träger des Antisemitismus im neuen Jahrhundert. Führende Köpfe künftiger gesamtrussischer monarchistischer Verbände wie »Bund des russischen Volkes« und ihrer Pogrom- und Schlägertrupps, der »Schwarzhunderter«, die namentlich in der ersten russischen Revolution wüteten, kamen von hier. Die bessarabischen Behörden setzten die den Juden auferlegten Beschränkungen mit extremer Strenge durch, ihr Zwangsapparat, insbesondere die Garnison und die Sicherheitsabteilung (Ochrannoe otdelenie) waren Brutplätze antijüdischer Feindseligkeiten. In Kisinev verfügten die antisemitischen Kreise zudem in der Zeitung »Bessarabec« (Der Bessarabier) frühzeitig über ein wichtiges Sprachrohr, das mit offensichtlicher Duldung und Begünstigung Petersburgs durch Verbreitung von Lügen und Gerüchten antijüdische Stimmungen schürte. Veröffentlichungen über einen Plan für die »jüdische Welteroberung« nahmen darin einen ebenso zentralen Platz ein wie fortgesetzte »Enthüllungen über jüdische Ausbeuterpraktiken«. P.A. Krusevan, Herausgeber des »Bessarabec«, konnte ab 1902 sogar ein analoges Blatt in Petersburg erscheinen lassen; 1907 zog er als Abgeordneter der äußersten Rechten in die II. Staatsduma ein. 5 Die Lage in Kisinev wurde schließlich durch beträchtliche Einflüsse des von Moldawiern ausgehenden rumänischen Antisemitismus zusätzlich verschärft. Bei der Provozierung des Pogroms hatten Berichte über den Tod eines christlichen Jungen in Dubossary (40 Kilometer von Kisinev im Gouvernement Cherson gelegen) Initialfunktion. Angeblich war der Junge Opfer eines jüdischen Ritualmordes geworden, weil man sein Blut für die Bereitung der Mazza zum Pessachfest benötigte. Obwohl bereits als Fälschung entlarvt, hatte der »Bessarabec« diese Gerüchte gezielt in Umlauf gesetzt. Desgleichen beförderten Gerüchte über ein »Geheimdekret« des Zaren den Pogrom, das zur Bereicherung an jüdischem Eigentum aufrief und den daran Beteiligten beginnend mit dem Ostersonntag eine dreitägige Straffreiheit verhieß. A u f dem Hintergrund der andauerenden sozialen Spannungen und eskalierender antijüdischer Atmosphäre fanden sich einige Tausend Menschen aus den untersten Bevölkerungsschichten, Russen und Ukrainer vor allem, aus der Studentenschaft, Intellektuelle und selbst Abgeordnete der Stadtduma -, die am Ostersonntag (6. April 1903 alten Stils), dem heiligsten orthodoxen Feiertag, der in jenem Jahr mit dem letzten Tag des Pessachfestes zusammenfiel, der Losung »Schlagt die Juden!« folgten. Die blutige Bilanz des Pogroms mit seinem Höhepunkt am Ostermontag und einer erstaunlichen Untätigkeit der Behörden 6 waren nach offiziellen Angaben 51 Tote, davon 49 Juden, und 425 Verletzte, unter ihnen 74 Schwerverletzte. Rund 700 jüdische Häuser und 600 Geschäfte und Läden sind vollends zerstört und geplündert und knapp ein Drittel aller Gebäude in Kisinev beschädigt worden. 7 Im »Russkoe Bogatstvo« hat vor allem der Historiker, bedeutende Neonarodnik
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und nachmalige Mitbegründer der volkssozialistischen Partei V.A. Mjakotin mehrere fundierte Beiträge über den Kisinever Pogrom veröffentlicht. Seit 1893 mit der Zeitschrift verbunden, hat er die von ihr vertretene Richtung entscheidend mitgeprägt. 1901 als Universitätsprofessor wegen Beteiligung an Studentenunruhen aus Petersburg verwiesen, mußte er bis 1904 in Valdaj, etwa 400 Kilometer südöstlich der Hauptstadt, Verbannung absitzen und konnte erst danach die ihm schon lange angetragene redaktionelle Mitarbeit im Journal antreten. Das Material für seine Beiträge über eine der »brennendsten Fragen unseres Lebens« 8 konnte Mjakotin also nicht in Kisinev, dem Ort des Geschehens, zusammentragen. Er bediente sich daher weitgehend der unter Systemgegnern gängigen Analysemethode des kritischen »Zwischen-den-Zeilen-Lesens« in offiziellen Verlautbarungen des Innenministers und Presseerzeugnissen aller Couleur, der Hinterfragung dort genannter Fakten, ihrer Gegenüberstellung, bedachtsamen Zusammenfügung. So konnte er dem Leser ein differenziertes Bild über die Ereignisse selbst, die widersprüchliche Reaktion der russischen und ausländischen Presse, die das Geschehene gutheißenden Stellungnahmen von orthodoxen Kirchenmännern, die Regierungsmaßnahmen nach dem Progrom u.a. vermitteln. 9 Die Mainummer 1903 brachte in der Rubrik »Chronik des innenpolitischen Lebens« eine auf regierungsamtlichen Mitteilungen und Presseberichten basierende minutiöse Beschreibung der grausigen Ereignisse, die durch Angst, Hilflosigkeit und Panik auf Seiten der Kisinever jüdischen Bürger und »Zügellosigkeit viehischster Instinkte bei den Massen der Pogromhelden«, billigendes, kaltblütiges Zuschauen Unbeteiligter sowie Tatenlosigkeit und Unfähigkeit bei den für Ordnung und Sicherheit Zuständigen auf der anderen Seite gekennzeichnet waren. 1 0 Die akribische Durchsicht vorhandenen Materials bestärkte Mjakotin darin, daß »der Pogrom frühzeitig vorbereitet worden ist und daß dies den Einwohnern der Stadt ebenso wie den örtlichen Behörden bekannt war«. 1 1 Selbst die die Regierung bedienenden »Sankt-Peterburgskie Vedommosti« (St.Petersburger Nachrichten) hätten im Nachhinein zugegeben, daß in Kisinev seit Tagen bedrohliche Gerüchte kursierten, Ostern würde man die Juden verprügeln. Niemand habe dem jedoch Beachtung geschenkt. Mjakotin wollte vor allem die Ursachen für den zügellosen, blutigen Antisemitismus, wie er sich in Kisinev entladen hatte, herausfinden und den Blick des Lesers dafür schärfen. Für viele Presseorgane existierte eine solche Frage überhaupt nicht, andere hingegen wiesen unisono den jüdischen Pogromopfern die Schuld zu. Die »Sankt-Peterburgskie Vedommosti« meinten, der Haß hätte sich gegen die Juden gerichtet, weil sie im Wirtschaftsleben der Stadt »Parasiten« seien, »Bakterien«, die sich in einem günstigen Milieu rasch vermehrten, während der »Organismus nicht imstande ist, gegen das ihn vernichtende Gift anzukämpfen«. 1 2 Mjakotin wandte sich entschieden gegen eine solche haß- und neidvolle einseitige
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Benennung ökonomischer Ursachen für den Antisemitismus allgemein und den Pogrom im besonderen. Schon angesichts der Massenarmut bei den unteren sozialen jüdischen Schichten Kisinevs und der Existenz vieler Kleinhändler und Handwerker an der Grenze des Minimums sowie der sozialen Gegensätze zwischen armen und reichen Juden sei dies unzulässig. Er machte zudem darauf aufmerksam, daß nachweislich begüterte Juden von den Pogromhelden verschont worden waren. Als Wurzel des antisemitischen Übels, als Ursache des Antisemitismus benannte Mjakotin den großrussischen Nationalismus in seiner Wechselwirkung mit der offiziellen antijüdischen Staatspolitik, wobei seine diesbezügliche Wortwahl nicht allzu eindeutig-mutig, sondern zuweilen recht vorsichtig-zurückhaltend, eben »legalitätsorientiert« war. Besonders scharf attackierte er den »Herrn Krusevan« v o m »Bessarabec« mit seinem nach dem Pogrom hervorgeholten Projekt für die »Lösung« der Judenffage in Rußland. Die von Krusevan entwickelte »Alternative«: Assimilierung und nachfolgende rechtliche Gleichstellung oder zwangsweise Auswanderung bis auf den letzten Mann, d.h. Vertreibung, bezeichnete Mjakotin als »Frucht konsequenter Entwicklung der Grundideen unserer Nationalisten«, die ohne weiteres mit der spanischen Inquisition unseligen Andenkens konkurrieren könnte. 1 3 Krusevan formulierte sein »menschenfeindliches« Programm im Namen des russischen Volkes, was für den Neonarodnik Mjakotin besonders infam war: niemand habe ihm das Recht gegeben, sich dieses Namens zu bedienen! Unter »normalen Lebensbedingungen« würde derartigen Ideen und Methoden kein Erfolg beschieden sein; sie ersetzten die wirkliche Erforschung ernster Lebensfragen durch das Anpeitschen nationaler und religiöser Feindschaft. 1 4 Die Situation in Rußland wurde eben dadurch geprägt, daß sich »die verschiedenen Völkerschaften, die zur Bevölkerung des Reiches gehören, überhaupt nicht auf einem Rechtsniveau mit der herrschenden Völkerschaft befinden«. Keine dieser Völkerschaften könne jedoch diesbezüglich mit der jüdischen verglichen werden. Das »berüchtigte >Ansiedlungsgebiet«< habe für die große Masse der jüdischen Bevölkerung nach wie vor eine fatale Bedeutung, nur wenige könnten ihm entkommen und auch jenseits seiner Grenzen würden sie keine gleichberechtigten Bürger sein. 1 5 Im Russischen Reich gab es für alle Fragen des jüdischen Lebens Vorschriften, vielfach ungedeckt durch Gesetze, sondern einzig vom Innenminister initiiert. Der J u d e - ein Wesen, das schon aufgrund seiner Herkunft das besondere Mal eines »für seine Umwelt schädlichen Wesens« trug und daher in allen seinen Lebensbereichen einzuschränken war: Das ist die »Auffassung, die bei uns durchgesetzt wird«. Mjakotin nennt namentlich die Probleme des jüdischen Proletariats, das im Ansiedlungsgebiet »vergeblich nach einer winzigen Ausweitung der Sphäre seiner wirtschaftlichen Tätigkeit sucht, weil es künstlich durch dessen äußerst enge Rahmen eingeengt wird«. 1 6
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Eine grundlegende Veränderung der so entstandenen Lage - dies die Schlußfolgerungen Mjakotins, die den politischen Denker erkennen lassen, - ist nicht durch einzelne Veränderungen und Lockerungen herbeizuführen, sondern bedarf der »Aufhebung des Grundprinzips, auf dem sich eine solche Lage hält«. Darauf müßten sich die Anstrengungen der russischen und der jüdischen Intelligenz richten, denn die eine wie die andere stelle sich die Aufgabe, »die menschliche Persönlichkeit zu entwickeln und den Interessen der werktätigen Massen zu dienen«. 1 7 Mjakotin verlieh seinen abschließenden Überlegungen einen besonderen Nachdruck, wenn er schrieb: »Wir bestehen auf der gleichen Verbindlichkeit dieser Aufgabe für beide Seiten, denn auch die jüdische Intelligenz hat sich ihrerseits nicht vollkommen von nationalistischen Strömungen ferngehalten und ist mindestens zu einem Teil von ihnen erfaßt worden ... Die russische Gesellschaft ist ebenso wenig ein einheitliches Ganzes, wie die jüdische ... und wenn es in ihr Menschen gibt, die mit den Schuldigen an den Kisinever Gewalttätigkeiten in ihrer geistigen Verfaßtheit solidarisch sind, so gibt es auch andere, die gegen solche Erscheinungen des Lebens kämpften und kämpfen ...« Die nach dem Pogrom in der Öffentlichkeit spürbare Empörung habe gezeigt, daß die Verantwortung dafür nicht der gesamten russischen Gesellschaft angelastet werden könne. 1 8 Bei der Formulierung der gemeinsamen Aufgabe von russischer und jüdischer Intelligenz ließ Mjakotin Denkansätze erkennen, die im weiteren schärfere Umrisse bekamen und entstehende programmatische Grundpositionen der künftigen volkssozialistischen Partei reflektierten. Wenn er in diesem Zusammenhang die Wir-Form benutzte (was an keiner anderen Stelle seiner hier berücksichtigten Beiträge der Fall ist), so läßt dies mit der gebotenen Vorsicht darauf schließen, daß er in seiner Diktion nicht nur besonders nachdrücklich wurde, sondern als Vertreter jener Neonarodniki schrieb, die sich um das Journal »Russkoe Bogatstvo« gruppierten und hier gemeinsame Grundpositionen in der nationalen Frage artikulierten. Mit S.N. Juzakov umriß ein weiterer Neonarodnik im Umfeld des Judenpogroms von Kisinev und der danach einsetzenden jüdischen Auswanderungsbewegung 1 9 mit größter Bestimmtheit und explizit die Position der »Russkoe Bogatstvo« zum Zionismus als »einer neuen und gefährlichen Form des Nationalismus«. 2 0 In verhängnisvoller Weise würde er mühsam wachsendes Vertrauen und Solidarität zwischen Russen und Juden vernichten. In Auseinandersetzung mit der reaktionären Zeitung »Novoe Vremja« (Neue Zeit), die die Auswanderungsbestrebungen mit Motiven, wie sie Krusevan formuliert hatte, stimulierte und unterstützte, schrieb Juzakov: »Die >Novoe Vremja< meint, die Juden seien Fremde, Zugewanderte. Das >Russkoe Bogatstvo« sagt, die Juden sind die Unseren, Eigene, Kinder eines Vaterlandes. Die »Novoe Vremja« hält die Juden keineswegs zurück, sondern ist bereit, ihre Aussiedlung zu
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fördern. Das >Russkoe Bogatstvo blickt mit schmerzerfülltem Herzen auf diese Abwanderung von Brüdern, die Heimat und Kultur miteinander verbinden, und wirft ihnen nichts vor
sondern fordert sie auf, nicht die Brüder anderer Stämme zu
meiden und wendet sich mit der gleichen Aufforderung auch an die Mitbürger anderer Stämme ... Die Feinde der Juden wollen, daß sie sich davonmachen, während ihre Freunde sie zu halten wünschen ... Der Nationalismus hat seine eigene Logik, mit ihr ist die Logik der Menschlichkeit und Toleranz niemals vereinbar.« 2 1 Die Auseinandersetzung führender liberaler Neonarodniki mit der jüdischen Frage in Rußland, die im Pogrom von Kisinev so dramatische Schärfe und Aktualität erlangte, und der Vorstoß zur Grundursache dafür haben ganz offensichtlich ihre programmatische Festlegung in der nationalen Frage befördert. Dabei war jedoch auch das weitere Geschehen, namentlich während der ersten russischen Revolution, von Belang. Das Programm, das sich die Partei der Volkssozialisten bei ihrer endgültigen Formierung im Spätherbst 1906 gab, formulierte eher lapidar, aber an vorderster Stelle unter den »Rechten des Menschen und Bürgers«: »Alle Bürger Rußlands müssen ohne Unterschied von Geschlecht, Nationalität, und Glaubensbekenntnis vor dem Gesetz gleich sein. Folglich müssen alle - Mann und Frau, Russe, Pole, Armenier, Tatare und Jude; Rechtgläubiger, Katholik, Lutheraner, Mohammedaner, Altgläubiger und Stundist - die gleichen Rechte erhalten.« 2 2 Für die Lösung der konkreten nationalen Probleme erstrebten die Volkssozialisten wie auch ihre »Freunde der Richtung«, die Sozialrevolutionäre, die national-kulturelle Autonomie im Rahmen einer breiten demokratischen Selbstverwaltung. Der Verwirklichung dieser programmatischen Grundsätze waren allerdings sehr enge Grenzen gesetzt, die nicht nur von der gesellschaftlichen Entwicklung in Rußland allgemein, sondern auch durch die innere Verfaßtheit und Strukturierung der volkssozialistischen parteipolitischen Kräfte bestimmt waren: Mit ihrem Streben nach legalem Wirken im System der Selbstherrschaft und der davon diktierten Selbstzurücknahme, Kompromißbereitschaft blieben die Volkssozialisten bis zum Sturz der Monarchie im Grunde eine literarische Gruppierung, deren Ideen indes in der Gesellschaft wirkten, Bestandteil ihrer demokratischen Komponente waren, diese beeinflußten, formten. Für die jüdische Frage in Rußland kam dem aus der Analyse des Judenpogroms von Kisinev 1903 hervortretenden und dann weiter ausgeformten Grundgedanken - diese Frage ist nur zu lösen, wenn es zu über religiöse Toleranz und kulturelle Akzeptanz weit hinausweisenden entscheidenden Veränderungen in der rechtlichen Stellung der jüdischen Bürger käme - bleibende Bedeutung zu.
Sonja Striegnitz
110
A nmerkungen 1 Es handelte sich um die zweite Auflage von M.G. Morgulis: Voprosy evrejskoj zizni, S.Peterburg 1903, sowie um die russische Übersetzung von Bernar Lazar: Social'nye zadaci judaizma i evrejskij vopros, die 1902 in Odessa erschienen war. 2 Vgl. Russkoe Bogatstvo, 1903, Nr. 3, S. 88. 3 Ebenda, S. 90; das »Russkoe Bogatstvo« brachte auch weiterhin Rezensionen von Büchern zur jüdischen Thematik, so in Nr. 3/1905, Nr. 4 und 6/1914. 4 Certa postojannoj evrejskoj osedlosti; das Gebiet umfaßte 25 Gouvernements in Belorußland, in der Ukraine, im Königreich Polen, in Litauen und im übrigen Baltikum sowie im Kaukasus, wo 94 Prozent der russischen Juden lebten. Bis 1917 konnten nur etwa 300 000 dieses Gebiet zur Ansiedlung in großen zentralrussischen Städten verlassen. 5 Vgl. Edward H. Judge: Ostern in Kischinjow. Anatomie eines Pogroms. Aus dem Englischen von Cornelia Dieckmann. Jüdische Studien Band 3, Mainz 1995, S. 37, 43; Wladimir I. Lenin: Die zweite D u m a und die zweite Welle der Revolution. In: Werke, Band 12, S. 108 f. 6 Anonyme Warnungen und entsprechende Flugblätter, über die Juden den Behörden berichteten, fänden keine Beachtung; erst nach 24 Stunden wurden zögerlich Truppen gegen die »Pogromisten« eingesetzt. 7 Die Zahlen sind in einem Rundschreiben des Innenministers v o m 28.4.1903 enthalten, abgedruckt im »Russkoe Bogatstvo«, 1903, Nr.5, S. 177 f. 8 Russkoe Bogatstvo, 1903, Nr. 5, S. 177. 9 Vgl. Russkoe Bogatstvo, 1903, Nr. 5, 6 und 8. 10 Russkoe Bogatstvo, 1903, Nr. 5, S.177-197. 11 Ebenda, S. 180. 12 Sankt-Peterburgskie Vedommosti v o m 29.4.1903. 13 Russkoe Bogatstvo, 1903, Nr. 5, S. 189. 14 Vgl. ebenda. 15 Ebenda, S. 190. 16 Ebenda, S. 196. 17
Ebenda.
18 Ebenda, S. 197. 19 Vgl. hierzu J a c o b Teitel: Aus meiner Lebensarbeit. Erinnerungen eines jüdischen Richters im alten Rußland. Neu herausgegeben mit einem Essay und Anmerkungen von Ludger Heid. Einleitung von Hermann Simon, Teetz 1999 sowie Arno Lustiger: Rotbuch - Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 1998, S. 21 ff. 20
Russkoe Bogatstvo 1903, Nr. 11, S. 143. S.N. Juzakov, aus der Generation liberaler Narodniki der neunziger Jahre des 19. Jh. kommend, hat sich vor allem als Ö k o n o m hervorgetan. Mit seiner Schrift »Fragen der ökonomischen Entwicklung Rußlands«, die er 1894 im »Russkoe Bogatstvo« veröffentlichte, setzte sich W I . Lenin in »Was sind die >Volksffeunde< und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?« auseinander.
21
Ebenda.
22
Programmy politiceskich partij Rossii. Konec XIX - nacalo XX veka, Moskva 1995, S. 210.
Teil II Faschismus - Erkundungen und Deutungen
Dietrich
Eichholtz
Der Weg nach Auschwitz Stationen der Nazifizierung des deutschen Großkapitals
Die Schwierigkeit, die deutsche Politik und Wirtschaft in der Weimarer Republik, besonders aber im Nazireich und im Krieg in das auf künstlerisch-kulturellem Gebiet gängige Muster von Moderne und Antimoderne einzuordnen, ist evident. So nahe es liegen mag, Erscheinungen der deutsch-faschistischen Herrschaft, besonders der NS-Ideologie, als antimodern, rückwärtsgewandt, ja archaisch zu deuten, so waren doch die wirtschaftlichen und militärischen Mittel, deren das Regime sich bediente, höchst modern. Der traurige Befund über das zu Ende gehende Jahrhundert sieht wohl überhaupt nicht so einfach aus, als daß man Faschismus und Weltkriege unter Antimoderne subsumieren könnte. Selbst das Begriffspaar Fortschritt - Reaktion hilft hier nicht durchgreifend. Fortgeschrittenste wissenschaftliche und technische Mittel wurden - und werden - in Produktion, Militärwesen und Propaganda vielfach eingesetzt, um denkbar reaktionäre, menschenfeindliche Ziele zu erreichen. In Deutschland wurden von 1933 bis 1945 solche Fortschritte weitgehend durch Rüstung, Kriegsvorbereitung und Krieg stimuliert und absorbiert und gingen, soweit immer möglich, direkt in die Kriegsvorbereitung und Kriegführung ein. Bei meinem speziellen Forschungsthema handelt es sich um einen Teil einer umfassenderen Forschungsaufgabe, die trotz reichlicher Literatur noch ungenügend und vor allem in ungleichmäßiger Dichte und Qualität gelöst ist; darum nämlich, die führenden, maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte der Weimarer Republik in ihrem Ubergang zur NS-Diktatur und in ihrem Wirken in dieser Diktatur und für das Regime zu untersuchen. Ich spreche von den deutschen Eliten, begriffen als militärische, wirtschaftliche und politisch-bürokratische Elite, und die ihnen zugehörigen bzw. mit ihnen verbundenen Intellektuellenkreise. Diesen Eliten in ihrer wahrscheinlich sehr großen Mehrheit war die Weimarer Republik ein ungeliebter Bankert, weil sie ihre Niederlage von 1918 und Versailles verkörperte, weil sie Arbeiterbewegung und Gewerkschaften zu großem gesellschaftlichem Einfluß hatte kommen lassen, und schließlich, in der Großen Krise, weil sie den wirtschaftlichen Niedergang nicht abzuwenden in der Lage war. In dieser Grundhaltung, die fundiert war auf einer seit Jahrzehnten gepflegten stramm nationalisti-
Der Weg nach Auschwitz
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sehen Einstellung, sehe ich den Ansatz zur Erörterung der Nazifizierung jener Kräfte seit Mitte/Ende der zwanziger Jahre. Die deutsche Wirtschaftselite scheint mir ihr am unzulänglichsten untersuchter Teil zu sein. Die bisherigen Einschätzungen sind im wesentlichen geprägt von zwei extremen Positionen. Die erzkonservative Position geht davon aus, daß die Unternehmer seit 1933 »Objekt, Opfer der Politik« (Wilhelm Treue, 1962) geworden seien. Heute finden sich bei den großen Unternehmen und ihren Hofhistorikern als Zugeständnisse an die internationale, inzwischen rege Diskussion oft die beliebten Vokabeln der »Einbindung« und der »Verstrickung« in die Verbrechen der NS-Zeit (auch »tragische Verstrickung«), mitunter sogar die des »Sündenfalls« (IG-Farben-Konzern). Die Position der Kommunistischen Internationale (KI) von 1933/35 dagegen, die nach 1945 bis zur Elbe vorherrschte, ging davon aus, daß die faschistische Diktatur »die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, aggressivsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« war. Bei allen Schwächen der Definition der KI wird hier immerhin eine Differenzierung zwischen den genannten großkapitalistischen Kreisen und dem vorgenommen, was etwa Lenin meinte, als er von der liberalen und sogar von der pazifistischen Fraktion der Bourgeoisie sprach. Das Thema der Nazifierung der deutschen Wirtschaftselite, d.h. ihrer Affinität zur NS-Partei, ihres Beitrags zur Inthronisierung des Naziregimes, ihrer immer engeren Zusammenarbeit mit ihm und schließlich ihrer vollständigen Integrierung in die NS-Diktatur kann hier nur anhand von einigen Stationen dieser Entwicklung skizziert werden. *** Seit Mitte der zwanziger Jahre gab es im Unternehmertum zwar kaum erklärte NSDAPAnhänger, wohl aber interessierte Kreise (keineswegs nur obskure Figuren wie heutzutage), die die Hoffnung der Jahre 1919/20 nicht aufgegeben hatten, mittels ultrareaktionärer Parteien einen Einbruch in die politische Front der Arbeiterschaft zu erzielen. Sie studierten Erfahrungen und Erfolge des italienischen Faschismus, beobachteten die Hitlerpartei und andere rechtsradikale deutsche Gruppen wohlwollend und unterstützten sie vielfach. Adlige, Industrielle und Bankiers sammelten sich zum Beispiel in einer »Gesellschaft zum Studium des Faschismus«, deren Geschäftsführer Waldemar Pabst war, ein Hauptverantwortlicher für den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die offizielle Linie des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RVDI) aber lief nach der Stabilisierung der Republik Mitte der zwanziger Jahre angesichts des innenpolitischen Kräfteverhältnisses auf eine »vertrauensvolle Kooperation mit der deutschen Arbeiterschaft« hinaus, wie sie Paul Silverberg (Rheinbraun), damals stellvertre-
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tender Vorsitzender des RVDI, in seiner stark beachteten Dresdner Rede vom 4. September 1926 vertrat; er plädierte für »die politische Mitarbeit und Mitverantwortung der deutschen Sozialdemokratischen Partei«. 1 Führende schwerindustrielle Magnaten wie Emil Kirdorf, Paul Reusch, Fritz Thyssen, Ernst von Borsig, Ernst Tengelmann, Herbert Kauert und andere setzten indessen nach wie vor auf die Linie des erklärten Kampfes gegen die Arbeiterbewegung und förderten mehr oder minder offen die Hitler-Partei. In Thüringen stellten die Nazis ab Januar 1930 zum ersten Mal einen Minister (Wilhelm Frick als Innenminister) und im August 1932 mit Fritz Sauckel den Ministerpräsidenten. Doch selbst nach den erdrutschartigen Wahlergebnissen v o m September 1930, als die Nazis mit 107 Abgeordneten als zweitstärkste Partei nach den Sozialdemokraten in den Reichstag einzogen und seitdem beim Großkapital als »stärkste nationale Partei« galten, waren es immer noch »nur relativ kleine, eben die reaktionärsten Gruppen der Großunternehmerschaft, die den Faschismus aktiv förderten«. 2 Abwartend, zum Teil abwehrend verhielten sich außer liberalen und insbesondere nichtantisemitischen Unternehmern vorsichtigere und vermittelnde wie Gustav Krupp, der 1931 Vorsitzender des RVDI wurde und überdies ein strammer Monarchist war, sowie eine recht zahlreiche Gruppe, denen die rüden Anhängermassen der Partei und ihr Sozialismusgeschrei verdächtig waren. Die Jahre 1931/32 brachten den Umschwung. Die Wirtschaftskrise vertiefte sich rasch. Die großen Unternehmer suchten händeringend nach einer Kraft - mit einer Massenbewegung hinter sich -, die eine Staatskonjunktur (Rüstungskonjunktur) anzukurbeln und die Arbeiterbewegung radikal niederzuwerfen versprach. Für eine solche Kapitaldiktatur bot sich als einzige Partei die N S D A P an. Über diese kritische und komplizierte Zeit ist viel geforscht und veröffentlicht worden. Hier muß es genügen festzustellen, daß sich der Stimmungsumschwung innerhalb der Wirtschaftselite endgültig im November/Dezember 1932 vollzog. Ende November berichtete ein Teilnehmer der Tagung des Langnam-Vereins (Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen von Rheinland und Westfalen) über »die unübersehbare Tatsache, daß fast die ganze Industrie die Berufung Hitlers (zum Reichskanzler - D.E.), gleichgültig unter welchen Umständen, wünscht.« 3 Von da an müssen wir vom profaschistischen Engagement des deutschen Großkapitals (d. h. seiner großen Mehrheit) sprechen. Die wichtigsten, bekannten Ereignisse, die diesen neuen Zustand kennzeichneten und der Berufung Hitlers zum Kanzler unmittelbar vorausgingen und sie ermöglichten, waren - die Industrielleneingabe Mitte November an Hindenburg, - die Abwendung großer Teile des Großkapitals und des Großgrundbesitzes von der Schleicher-Regierung, und
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- das Treffen Franz von Papens mit Hitler am 4. Januar 1933 bei Bankier Kurt von Schröder in Köln. Die letzten Wochen vor dem 30. Januar 1933 füllte ein dramatisches Verhandlungs- und Intrigenspiel, zu dessen Hauptaktivisten neben Hitler v. Papen, Hjalmar Schacht und Hermann Göring und die sich um sie scharenden großkapitalistischen Kreise gehörten. Göring insbesondere, Hitlers ersten Vertrauten, werden wir noch als wichtigsten Verbindungsmann zwischen NSDAP-Führung und Großkapital kennenlernen. * * * Die NS-Diktatur erfüllte mit atemberaubender Geschwindigkeit die Wünsche und Hoffnungen des Großkapitals. Von den ersten Tagen der Hitler-Regierung an setzte der Terror gegen die Arbeiterbewegung ein. Göring als Preußischer Innenminister (wenig später: Ministerpräsident) ließ vor und nach dem Reichstagsbrand (27. Februar) Zehntausende - Kommunisten, Sozialdemokraten und andere - verhaften. Mit seinem berüchtigten »Schießbefehl« (17. Februar) gab er der Polizei Anweisung, rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Am 22. Februar setzte er die Schläger der SA als Hilfspolizei zur Verfolgung der Kommunisten und aller anderen Organisationen der Arbeiterbewegung ein. Seit Anfang März besetzten SA, SS und andere Nazianhänger die Häuser und Büros der Freien Gewerkschaften, die dadurch und durch den ungehemmten Terror gegen ihre Mitglieder bis Mitte April kaum noch irgendwo voll arbeitsfähig waren. Nach den Reichstagswahlen vom 5. März wurden die Mandate der K P D annulliert und diese Partei offiziell verboten. Ende März/Anfang April ließ Göring, ständig beraten von Thyssen, Albert Vögler, Ernst Poensgen und anderen führenden Wirtschaftlern, die Arbeitervertretungen in den Betrieben (Betriebsräte) beseitigen. Am 2. Mai wurden die Freien Gewerkschaften für aufgelöst erklärt, am 10. Mai die »Deutsche Arbeitsfront« gegründet, am 19. Mai sogenannte Treuhänder der Arbeit - Nazibeamte - berufen, die die gesamte sozialpolitische Entwicklung in den einzelnen Wirtschaftsbereichen und Betrieben, insbesondere die »Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens« und die Einhaltung des allgemeinen Lohnstopps, zu überwachen hatten und mit unmittelbarer staatlicher Autorität »an Stelle der Vereinigungen von Arbeitnehmern, einzelner Arbeitgeber oder der Vereinigung von Arbeitgebern« die Bedingungen für den Abschluß von Betriebsordnungen, von Tarif- und Arbeitsverträgen festsetzen konnten. 4 Damit war der Weg frei zu dem berüchtigten »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« vom 20. Januar 1934, das, wie vom Großkapital verlangt, »eine vollkommene Abkehr von dem Bisherigen« 5 , die Entrechtung der Arbeiter im Betrieb und ihre Degradierung zu »disziplinierten Soldaten der Arbeit« (Krupp) darstellte (»Führer-
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prinzip«; »Treuepflicht der Gefolgschaft« usw.). Krupp rühmte das noch zehn Jahre später: »Die nationalsozialistische Umwälzung stellte kaum einen anderen Berufsstand vor eine so vielfach neue, mitunter glückhaft bestürzende Lage, wie den Unternehmer. Er wurde nun der Führer seiner Gefolgschaft.« 6 Mitte 1934 feierten Militär und Wirtschaft mit der Ermordung des SA-Stabschefs Ernst Röhm und seiner Clique und mit der folgenden Entmachtung der SA-Führung - d. h. der Beseitigung der Unruheherde in der organisierten Massenbasis der Faschisten und der Konkurrenz der bewaffneten SA-Millionen für die Reichswehr einen weiteren Erfolg. Damit wurde die Furcht bestimmter Kapitalkreise vor Sozialisierungsexperimenten, erzwungen durch den Druck des Massenanhangs der NSDAP, ad absurdum geführt. Ein besonderes Problem stellen die Judenverfolgung und die »Arisierung« jüdischer Unternehmen und jüdischen Eigentums seit 1933/34 dar. Sie machten dem NS-Regime unter den deutschen Eliten, ganz zu schweigen v o m Ausland, nicht nur Freunde, zumal unter den jüdischen Unternehmern in Industrie und Bankwelt. Allerdings war die Gegenwehr selbst der Betroffenen minimal. Im Gegenteil, viele deutsche Konzerne und Großbanken beteiligten sich nach allem, was die historischen Dokumente aussagen, von Anfang an höchst aktiv am »Arisierungs«Geschäft - ein angesichts der neuesten Enthüllungen und der internationalen Diskussion um Entschädigung ein besonders peinlicher Punkt für die heutige deutsche Wirtschaftselite. Selbst ihrer jahrzehntelang verehrten und hochdekorierten Grauen Eminenz, der Galionsfigur der Deutschen Bank und des deutschen Bankund Finanzwesens überhaupt, Hermann Josef Abs, legen nicht mehr zu verbergende D o k u m e n t e und neue Forschungen lügenhatte Weißwäscherei in dieser Angelegenheit zur Last. Es ging nicht nur um außergewöhnlich hohe Profite beim Erwerb jüdischen Besitzes und bei der Verkaufsvermittlung, sondern auch um die Ausschaltung von Konkurrenten, deren Besitz man zudem auf billigste Weise aufkaufen konnte. Die »Arisierung« war das erste Verbrechen des NS-Regimes, an dem breitere Kreise der Wirtschaftselite direkt beteiligt waren. Das war bereits eine Einübung von Gewalt und Raub und verfestigte die Bindung der Beteiligten an das Regime. *** Das wahrhaft große Geschäft eröffnete sich für die deutsche Wirtschaft in der Rüstungskonjunktur, die bereits 1933/34 einsetzte, und mit der Einführung der Wehrpflicht 1935 und der Verkündung des »Vierjahresplanes« 1936 ihr Tempo vervielfachte. Insgesamt wuchsen der Gesamtbestand an Wehrmachtspersonal bis 1939 etwa auf das Fünfzigfache, Bedarf und Produktion von Rüstungsgütern entsprechend in
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mindestens dem gleichen Ausmaß. Völlig neu entstanden die Luftwaffe und die UBoot-Waffe. Aufrüstung, Expansion, Annexion und Raub (Saarland; Rheinlandzone; Österreich; »Sudetengau«; »Protektorat Böhmen und Mähren«; Memelgebiet) verpflichteten das Großkapital dem Regime immer fester, unbeschadet des klar erkennbaren Umstands, daß mit jedem der Nazi-Erfolge die Kriegsgefahr näher rückte. Ganz falsch, aber bis heute im öffentlichen Bewußtsein verwurzelt ist die Auffassung, daß die deutschen Eliten in »Hitlers Krieg« gewissermaßen hineingeschlittert seien, d.h. mehr oder weniger unwissend oder unwillig in ihn hineingezogen wurden - etwa so, wie es der Masse der Bevölkerung geschah. In Wirklichkeit gab es einen grundsätzlichen Konsens zwischen den Zielen Hitlers und den Expansions- und Kriegszielen der Eliten, deren Zielvorstellungen allermeist schon aus der Zeit vor Hitler datierten. Es handelte sich hauptsächlich um - die Liquidierung von Versailles und die Rückgewinnung alles nach dem Ersten Weltkrieg Verlorenen, einschließlich eines deutschen Kolonialreiches, - die Erreichung der Kriegsziele aus dem Ersten Weltkrieg, jetzt unter Begriffen wie »Großdeutschland«, »Großwirtschaftsraum«, Vorherrschaft in Europa, - die Ostexpansion und die Vernichtung der U d S S R Schon das geringste dieser Ziele war nur unter höchstem Kriegsrisiko anzusteuern. Es gab letzten Endes keinen anderen Weg dorthin als den Krieg. Die Hitlersche Politik konnte bei den Informierten, also zuallererst bei den Angehörigen der militärischen und der Wirtschaftselite, nicht den leisesten Zweifel darüber aufkommen lassen, daß das Regime auf den Krieg zusteuerte - was sie ja auch auf direktem Wege erführen (Hitlers Vierjahresplan-Denkschrift von Ende August 1936; Hitlers Auftritt vor den Wehrmacht-Oberbefehlshabern am 5. November 1937 usw.). Nicht dies war das Problem, an dem sich in den letzten Vorkriegsjahren die Geister in der deutschen Großwirtschaft - ähnlich in führenden Militärkreisen - noch einmal schieden. Sondern es ging um das rasende Tempo, das Hitler, Göring und die großkapitalistische Gruppierung um den Vierjahresplan in der Kriegsvorbereitung ohne Rücksicht auf volkswirtschaftliche und soziale Folgen anschlugen; es ging gleichermaßen um die wirtschaftlichen Möglichkeiten überhaupt, die für einen in seiner künftigen Ausdehnung und Dauer nicht absehbaren Krieg zur Verfügung standen. Die auf forcierte Kriegsvorbereitung orientierte Gruppierung (»Vierjahresplangruppierung«) setzte sich signifikant gegen die vorsichtiger planende, in Hinsicht auf einen großen (Welt-)Krieg skeptische Gruppe (»Schacht-Gruppe«) durch: - durch die Zurückdrängung Schachts und seine Ersetzung als Reichswirtschaftsminister und als Reichsbankpräsident durch Görings Gewährsmann Walther Funk (1937; 1939),
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- durch den sogenannten Friedensschluß zwischen Göring und den Montankonzernen im K a m p f um den Aufbau der Hermann-Göring-Werke (1937), - durch die Einbrüche der Vierjahresplangruppierung in den Rüstungslenkungsbereich der Wehrmacht (1938: »Generalbevollmächtigter für Sonderffagen der chemischen Erzeugung« (GB Chemie); »Wehrwirtschaftlicher Neuer Erzeugungsplan«; Buna-Ausbau), - durch das Revirement in der Leitung der Reichsgruppe Industrie (1938). Der Vierjahresplan selbst hatte den Hauptzweck, durch Industrieausbau, vor allem auf den Gebieten der synthetischen Produktion (Benzin, Kautschuk, Textilien), der Leichtmetalle, der Vorprodukte für Pulver, Sprengstoffe und Giftgase, die deutsche Wirtschaft für einen Großkrieg auch unter Blockade - ein Trauma aus dem Ersten Weltkrieg! - krisenfest zu machen. Die Vierjahresplangruppierung, ein mächtiger militärisch-industrieller Komplex, der den Kern der expansiven, revanchelüsternen, zum Krieg entschlossenen Kräfte des Großkapitals ausmachte, darf nicht zu eng gesehen werden. Außer dem IG-Farben-Konzern umfaßte er schwerindustrielle Konzerne wie Mannesmann, Flick und Krupp, die Flugzeugkonzerne, die Masse der übrigen Rüstungskonzerne, Kali- und Metallkonzerne, Banken wie die Deutsche Bank. Die Gruppierung ist in ihrer ganzen Breite noch nicht genügend erforscht. Aber an der dominierenden Rolle, die der IG-Farben-Konzern und seine in hohe Staatsämter delegierten Spitzenmanager und Experten darin spielten, gibt es keinen Zweifel. Der Konzern stellte die erstrangigen Wirtschaftsberater für Hitler und Göring. Er war monopolistischer Produzent Dutzender entscheidender, für Deutschland in einem Krieg unersetzlicher Produkte, besonders was Bewaffnung und Ausrüstung eines motorisierten Massenheeres und der Luftwaffe betraf. Er entwickelte schließlich wirtschaftsstrategische Vorstellungen für den kommenden Krieg, die eine wichtige Entscheidungsgrundlage für Hitler und die Militärs bildeten. Diese Vorstellungen verdichteten sich in den Jahren 1938/39. D o c h zu den seit langem erforschten, aber selbst von Historikern selten zur Kenntnis genommenen und in ihrer Bedeutung meist verkannten Tatsachen gehört es, daß schon Hitlers berüchtigte Vierjahresplandenkschrift vom August 1936 (»I. Die deutsche Armee muß in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muß in 4 Jahren kriegsfähig sein.«) auf wirtschaftlichen Grunddaten basierte, die die in Görings »Rohstoff- und Devisenstab« konzentrierten IG-Kreise zu diesem Zweck in großer Eile recherchiert und geliefert hatten. 7 Seit 1938 entwickelten die hinter Göring stehenden Industriemanager, allen voran die IG-Leute um Carl Krauch, den GB Chemie und späteren Chef der Reichsamts für Wirtschaftsausbau, fieberhaft ausführliche, statistisch fundierte wirtschaftsstrategische Vorstellungen darüber, wie man sich, besser als im Ersten Weltkrieg, in dem
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bevorstehenden K a m p f »den Anstrengungen fast der ganzen übrigen Welt« (Krauch) gewachsen zeigen könne: - vor allem durch »friedliche« wirtschaftliche Expansion nach Südosteuropa und in den Nahen Osten, ferner nach der Iberischen Halbinsel und in den europäischen »Nordraum« (Skandinavien), so daß man sich bei Kriegsbeginn möglichst auf eine »Großraumwehrwirtschaft unter deutscher Führung« stützen könne, - im Krieg durch eine »entscheidungsuchende Kriegführung« mittels eines groß aufgezogenen Giftgaskrieges, auch gegen die Zivilbevölkerung im Hinterland des Gegners, - durch die Eroberung und »Sicherung« von Wirtschaftsressourcen, besonders von Erdölquellen, eingeschlossen »das größte und lohnendste Ziel«, die »Beherrschung des gewaltigsten Erdölgebietes Europas, Kaukasien.« 8
Bis 1941/42 gelangte tatsächlich ein Großteil des europäischen Kontinents - von Bordeaux bis zum D o n , von Narvik bis Kreta - und damit ein gewaltiges Wirtschaftspotential unter deutsche Besetzung und Kontrolle; auch die Ressourcen der Türkei und Nordafrikas schienen nicht unerreichbar. Dieser unglaubliche Erfolg versetzte die deutsche Wirtschaftselite in einen ungehemmten »Großraum-« und »Neuordnungs«-Rausch. Ihre Pläne für die Herrschaft über Europa sind ebenso haarsträubend und verbrecherisch wie die Praxis ihrer Verwirklichung. Sie waren von Anfang an mit den Verbrechen der SS und Polizei, der Wehrmacht und der Besatzungsorgane verflochten und ohne diese nicht denkbar. Bei dem einzigartigen Raubzug unter dem Decknamen »Neuordnung Europas« erreichte die Nazifizierung des deutschen Großkapitals, seine Identifizierung mit dem Regime seine vollständigste, vollkommenste Stufe. Aus Osteuropa sollte, soweit man nicht große Gebiete annektierte, unter Einplanung von Völkermord eine Art Kolonialreich mit großzügiger Deutschbesiedlung werden, aus dem Lebensmittel, Erdöl, Erze zu pumpen waren; die Industrie rechnete sich ferner einen riesigen Absatzmarkt aus, vor allem für Wären mit geringer Qualität. Die Beherrschung Westeuropas mit seiner Industrie und seinen Rohstoffressourcen, seinen lukrativen Auslandsinvestitionen und den dazugehörigen Kolonialreichen sollte Deutschland endgültig zur dominierenden Weltmacht machen, gleichrangig mit den USA. Auch hier wurden wichtigste Gebiete sogleich annektiert (Minette-Revier). Vieles an dem Grundmaterial für die uns heute bekannten »Neuordnungs«-Pläne der Reichsgruppe Industrie und ihrer Wirtschaftsgruppen, der IG Farbenindustrie
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AG, des Zeiss-Konzerns, der Metallkonzerne, der Kalikonzerne, der mit den Plänen für ein gewaltiges deutsches Kolonialreich befaßten Großbanken, Konzerne und Reedereien war damals nicht neu. Es lag seit Jahren, vielfach seit dem Ersten Weltkrieg, in den Schubladen und Panzerschränken der Konzernchefs. Es wurde nun freilich erweitert und ergänzt, zum Beispiel durch Listen mit Hunderten von zu »arisierenden« Unternehmen, die deutsche Großbanken unter Assistenz der Besatzungsbehörden an deutsche Bewerber vermittelten. Im Osten besonders, aber auch im Westen betrieb die deutsche Wirtschaftselite die »Neuordnung« unter dem Vorzeichen von Terror und Massenmord. All ihre Aktivitäten waren nur in der auf diese Weise von Wehrmacht, SS und Polizei geschaffenen mörderischen Atmosphäre möglich.
Das deutsche Großkapital hat während des Krieges viele Millionen ausländische Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge beschäftigt, zu ein und demselben Zeitpunkt (August 1944) nicht viel weniger als acht Millionen, insgesamt mindestens 12 Millionen. In den Nürnberger Nachkriegsprozessen gegen Vertreter der deutschen Industrie (Flick; IG Farben; Krupp) wurde die Zwangsarbeit (slave labor) als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet. Von der ebenfalls als Kriegsverbrechen gerichtsnotorischen »Neuordnung« (spoliation) ist die Zwangsarbeit nicht zu trennen, schon weil die deutschen Eliten sie ebenso wie die NS-Führung als selbstverständliches Kriegsziel begriffen. Es waren nicht nur die Polen, mit denen man auch in Zukunft als landwirtschaftliche Wanderarbeiter rechnete, nicht nur die Ukrainer, die sich, wie man meinte, noch williger zeigen würden. Selbstverständlich sollten die einfachen und schweren Arbeiten im künftigen »neugeordneten« Europa und im deutschen Kolonialreich von gefügigen einheimischen Arbeitskräften geleistet werden. Intern wurde lebhaft über den Status von »Heloten« und Kolonialsklaven diskutiert, den man den als »Untermenschen« und als primitive Völker eingestuften Dutzenden von Millionen Bewohnern des »Ostraums« und der Kolonien zugedachte. D o c h mit dem Umfang und den Erfolgen der Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft wuchs die Begeisterung der Behörden und Unternehmer auch für die künftige Ausbeutung der überaus billigen und durch Terror gefügig zu machenden Arbeitskräfte in Deutschland selbst. Seit 1942 setzte sich weitgehend die Auffassung durch, daß die Zwangsarbeit von Ausländern in Deutschland auch nach dem Krieg den deutschen Wohlstand, das wirtschaftliche Übergewicht Deutschlands und seinen Herrschaftsanspruch als dominierende Großmacht in der Welt zu sichern geeignet sei. Der »Generalbevoll-
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mächtigte für den Arbeitseinsatz«, Gauleiter Fritz Sauckel, erklärte zum Beispiel Ende 1943 auf der ersten »Kriegstagung der thüringischen Rüstungsindustrie« programmatisch, es gehe langfristig darum, »eine Arbeitskapazität zu schaffen an deutscher Arbeiterführung und an ausländischen Arbeitern, was uns für das kommende Jahrhundert das absolute Übergewicht über alle Völker der Welt nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und arbeitsmäßig geben wird.« 9 Die Möglichkeit, die Zwangsarbeit ganz und gar »soldatisch« aufzuziehen und sich ausschließlich »in deutscher Befehlsform« zu artikulieren - wobei »kein Widerspruch erfolgt, kein Verhandeln nötig ist« -, hatte es den deutschen Industriellen angetan. »Der Deutsche«, so erklärte ein Direktor des Fieseler-Flugzeugkonzerns vor seinen Kollegen vom Junkers-Konzern, »hat sich mit dem Ausländereinsatz zum ersten Male in einem riesigen Umfange die Tätigkeit von Hilfsvölkern zu eigen und zunutze gemacht und daraus große Lehren gezogen und Erfahrungen gesammelt. Es wird schon gut sein, schon während, spätestens nach dem Kriege diesen ganzen Erfahrungsschatz an berufener Stelle zu sammeln.« 1 0 Derartige Vorstellungen griffen anscheinend recht schnell um sich, seit im Frühjahr 1942 mit dem Millionenzustrom an Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitern aus der U d S S R die Massenzwangsarbeit in der gesamten deutschen Industrie zum selbstverständlichen, mehr oder weniger reibungslos funktionierenden Produktionsalltag wurde. Wesentlich war auch, daß Naziregime und Krieg den Beteiligten allmählich einen festen neuen Denkrahmen gesetzt hatten. Im Ersten Weltkrieg war die Industrie auf erheblichen Widerstand im In- und Ausland gestoßen, als sie belgische Arbeitskräfte nach Deutschland zwangsverpflichten ließ. In der NS-Diktatur brauchte sie keine derartige Kritik zu berücksichtigen. Der Herrschaft über Europa sicher, hielt sie es für recht und billig, das europäische Arbeitskräftepotential in die deutsche Kriegswirtschaft einzubeziehen. Die weitgehend verinnerlichte rassistische Ideologie bot ihr einen bequemen Vorwand, sich insbesondere bei der Ausbeutung der stigmatisierten und terrorisierten »Ost-« und »Untermenschen« keine Beschränkungen aufzuerlegen. Der faschistische Terror bot anscheinend ausreichend Gewähr, Widerstand und Unruhen unter den Zwangsarbeitern vorzubeugen. Schließlich fügte sich die Arbeit von Konzentrationslagerhäftlingen während des Krieges ansatzweise schon in den Makrokosmos der Zwangsarbeit in einem später »neugeordneten« Europa ein. Der mit Recht bekannteste und in vieler Hinsicht exemplarische Fall war die IG Farbenindustrie AG, die nicht nur der erste Großabnehmer von Häftlingen war, sondern in Auschwitz-Monowitz eine dauerhafte und außerordentlich enge Verflechtung mit der SS einging und dort zum eigenen Vorteil Teilfunktionen der SS übernahm; »die IG machte sich in ihrer Fabrik Methoden und
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Mentalität der SS zu eigen«, stellt Hilberg fest. »Doch auch die SS wurde von ihrem ersten Kunden in eigentümlicher Weise beflügelt.« 1 1 Am Beispiel von IG-Auschwitz ist deutlich abzulesen, wie die Konzentrationslager in eine neue Rolle hineinwuchsen. IG und SS arbeiteten Hand in Hand in vollem Einvernehmen daran, das Lager zu einem »Musterlager« zu machen: zu einem Experimentierfeld für die massenhafte Sklavenarbeit von nicht zur »NS-Volksgemeinschaft« Gehörenden, von »Volksschädlingen«, »Rassefremden« und »Untermenschen«. Damit nahmen sie künftige Herrschafts- und Ausbeutungspraktiken im deutsch beherrschten Europa, zumindest im »Ostraum«, vorweg. Die wichtigste Schutzbehauptung, die nach dem Krieg die angeklagten deutschen Industriellen und ihre Lohnschreiber vorbrachten - und die leider von den US Richtern in den Nürnberger Industrieprozessen weitgehend als Strafminderungsgrund akzeptiert wurde -, war die des »Notstandes«: Sie hätten wegen der Kriegsumstände und wegen der Drohung des Regimes mit dem Terror von Gestapo und Justiz nicht ablehnen können, wenn ihnen Zwangsarbeiter zugewiesen worden seien. Die prinzipielle Seite des Problems - das Interesse der deutschen Wirtschaftselite an Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit, Kriegsprofit und am Krieg überhaupt als erneuertem »Griff nach der Weltmacht« - korrespondiert mit den ungezählten Beispielen dafür, daß die Unternehmer nicht nur die von den Behörden vorgegebenen Zwangsarbeitsbedingungen akzeptierten, sondern sie in den Betrieben maßgeblich und durchaus eigenverantwortlich gestalteten und an ihrer Brutalisierung vielfach mitwirkten (»Leistungsernährung«). In einigen neueren Unternehmensgeschichten wird zu Recht darauf hingewiesen, daß der sehr große »Ermessens-« und »Handlungsspielraum« der Konzerne und Betriebe in dieser Frage kaum jemals auch nur im entferntesten zugunsten der Zwangsarbeiter ausgeschöpft worden ist. 1 2 Zwar konnte die Behandlung der Zwangsarbeiter von Betrieb zu Betrieb recht verschieden sein. Auch die Haltung einzelner Unternehmer konnte von der N o r m abweichen, so wie es auch unter den deutschen Arbeitern - nicht gar so selten Beispiele von Anstand und Solidarität gegenüber Zwangsarbeitern gab. Letzten Endes aber haben wir es bei Unternehmern, die sich aus humanistischen Gründen und nicht aus bloßem Interesse an höherer Produktivität - um Verbesserungen für die Zwangsarbeiter bemühten, mit Ausnahmen zu tun. Die Beweise für die Grausamkeit und seelenlose Gleichgültigkeit der Zwangsarbeiterpolitik in den Vorstandsetagen und Werkleitungen von Krupp, BMW, vom Bochumer Verein, von IG Farben usw. sind erdrückend. Hat nun nicht wenigstens die Zwangsarbeit in den Rüstungsunternehmen, wie häufig behauptet, Juden und andere Häftlinge vor Hunger und Tod gerettet? Selbst diese Schutzbehauptung ist eine Lüge insofern, als der Industrie an der Rettung
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dieser Menschen am allerwenigsten gelegen war. Im Gegenteil: Die Reichsgruppe Industrie, die mächtige gesamtindustrielle Interessenvertretung im Nazireich, machte sich zum Sprachrohr der Industrie, als sie seit Anfang Februar 1945, im Chaos der sich anbahnenden Niederlage, bei der Naziführung das »Recht« einforderte, aus Sicherheitsgründen »z. B. die KZ-Häftlinge, Juden und Kriegsgefangenen an die zuständigen Dienststellen (Stalag, Gestapo, Arbeitsamt) zurückzugeben.« Die Reichsgruppe Industrie und die deutschen Industriellen nahmen damit bewußt und billigend in Kauf, daß die »Rückgabe« von Juden, KZ-Häftlingen und »unzuverlässigen Ausländern« an Gestapo und SS unter den damaligen Umständen einem Todesurteil gleichkam. Ein solches Schicksal traf tatsächlich bald darauf ungezählte Tausende, spätestens auf den berüchtigten »Todesmärschen«. 1 3 Die allgemeingültige Schlußfolgerung aus den Fakten kann nur die sein, daß die Handlungsweise der deutschen Eliten, besonders auch der Wirtschaftselite, verbrecherisch war. Das Verbrechen des deutschen Großkapitals - Expansionsplanung, Kriegsvorbereitung, »Neuordnung«, Zwangsarbeit - das war nichts anderes als der barbarische Faschismus selbst.
Freilich machten 1943 die Katastrophe bei Stalingrad und die nachfolgenden schweren Niederlagen zu Lande (Tunis) und zur See (U-Boot-Krieg), ferner die verheerenden Luftbombardements die deutschen Siegeschancen endgültig zunichte. Aber es brauchte noch geraume Zeit, ehe die Wirtschaftselite einer möglichen Niederlage ins Auge sah und versuchte, sich aus der totalen Integration in das Regime zu lösen. Das Erwachen aus der Siegeseuphorie dauerte lange, und zu fest waren Tausende von führenden Unternehmern und Managern, ausgestattet mit behördlicher Befehlsgewalt, in das vom Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion organisierte System der Produktion für den Krieg integriert. Dieses System zeitigte bis weit nach 1944 hinein erhebliche Erfolge. Vor allem aber erstreckte sich der deutsche Herrschaftsbereich noch Ende 1943 v o m Atlantik bis nach Leningrad und zum Dnepr. So kam es, daß der schwierige Umdenkprozeß bei den führenden Unternehmern, der mit der allmählichen Umorientierung auf eine mögliche Niederlage verbunden war, erst Mitte 1944 mit größerem Nachdruck einsetzte. Die einschneidenden Ereignisse, die ihn beförderten, waren die Invasion der Westalliierten in Frankreich, die sowjetische Offensive in Belorußland, die wenige Wochen später die Weichsel und südlich Ostpreußens die (neue) deutsche Grenze erreichte, und die alliierte Bomberoffensive gegen die Treibstoffwerke seit Mai/Juni, die einen zentralen Nervenpunkt der deutschen Kriegführung und Kriegswirtschaft vernichtend traf Die ungeheure
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materielle Überlegenheit der Antihitlerkoalition, besonders der US-Amerikaner, die den deutschen Wirtschaftlern durchaus bekannt war, schlug jetzt voll zu Buche. Abgesehen davon, daß die deutsche Wirtschaftselite im Gegensatz zur Wehrmacht an der Verschwörung des 20. Juli 1944 so gut wie überhaupt nicht beteiligt war, wirkten in ihr Verdrängungsmechanismen und Illusionen über den Kriegsausgang, ähnlich wie bei der Naziführungsclique, noch fast bis Kriegsende fort. So schrieb Botschafter a. D. Herbert von Dirksen, ein mit der Großindustrie verschwägerter, erfahrener Beobachter zu Weihnachten 1944 an seinen Vetter, IG-Farben-Vorstandsmitglied Georg von Schnitzler: »Je länger der Krieg dauert, desto mehr politische Möglichkeiten enthält er für uns.« 1 4 In erheblicher Zahl fanden sich auch radikale Nazis und Durchhaltepropagandisten unter den Unternehmern, die ihre Belegschaften unnachsichtig antrieben und mit größter Energie improvisierten, um weiter produzieren zu können. Als Beteiligte an den NS-Verbrechen motivierte sie nicht zuletzt die Angst vor dem Kriegsende. So appellierte noch Ende Februar 1945 im Magdeburger Raum ein verantwortlicher Waffenfabrikant an seine Kollegen: »Nicht den Laden hängen lassen und sagen, es hat gar keinen Zweck. Ich stelle mir vor, wenn ich versage, arbeite ich unter einem russischen Juden und mache Schanzarbeit. Und das möchte ich nicht ... Wenn die Truppen an allen Fronten nach Waffen schreien, muß der mitteldeutsche Raum sie liefern. Wer soll es denn sonst tun?« 1 5 Zugleich betrieb das deutsche Großkapital im letzten Kriegsjahr substantielle, praktische Vorbereitungen und Vorkehrungen für das Kriegsende: - größtmögliche Schadensbegrenzung bei Bombenschäden, - Eintreiben der Kriegsschädenzahlungen vom Reich, - Auslagerungen von Maschinen über und unter Tage, - Sicherung von Führungskadern und Halten der deutschen Stammbelegschaft im Betrieb, - Transfer von Profiten, Finanztiteln, Patenten nach Westdeutschland bzw. ins Ausland, - Vorbereitung auf zivile Produktion, - Reaktivierung von Verbindungen ins Ausland. Die Reichsgruppe Industrie übernahm in wichtigen Fragen (Kriegsschädenzahlungen; Auslandsverbindungen) die Verhandlungen mit den Reichsbehörden und lieferte den Unternehmen Anleitung und Orientierungshilfe (Stammbelegschaften). Sie gab umfangreiche Ausarbeitungen für den Übergang auf die Nachkriegswirtschaft in Auftrag (Ludwig Erhards Denkschrift über »Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung«). Sie setzte sich schließlich, wie beschrieben, für die Abschiebung der kompromittierendsten und von den Unternehmen als besonders gefähr-
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lich angesehenen Gruppen der Zwangsarbeiter an Gestapo, Wehrmacht und Behörden ein. An der Unterstützung des taschistischen Staates, insbesondere des Terrorapparates, hielt das deutsche Großkapital offenbar in seiner großen Mehrheit bis zuletzt fest. Seine größte Befürchtung im Hinblick auf das Kriegsende waren ein Zusammenbruch von »Ruhe und Ordnung«, unkontrollierbares Chaos, Unruhen und Umsturz. Erst in den letzten Kriegswochen brachen ernsthafte Differenzen mit der Naziführungsclique auf, als diese im Bunde mit dem Oberkommando der Wehrmacht, den meisten Frontbefehlshabern und vielen Gauleitern versuchte, den Befehl Hitlers vom 19. Marz 1945 über die totale Zerstörung deutschen Landes, der Lebensgrundlagen der gesamten Bevölkerung, beim Rückzug durchzusetzen (»Nero-Befehl«). Hier, in letzter Minute, deckten sich die Interessen der Unternehmer an der »Erhaltung der Substanz« und diejenigen der Arbeiter und der übrigen Bevölkerung an der Bewahrung ihrer Lebensgrundlagen vor sinnloser Zerstörung. Was die industrielle Substanz betraf, so stand Deutschland am Ende des Krieges tatsächlich mit einem stärkeren Potential da als vor dem Krieg. Der gewaltige Umfang der Investitionen in den Jahren 1939 bis 1944 hatte die Bomben- und anderen Kriegsschäden bei weitem aufgewogen. Das nutzbare industrielle Anlagevermögen lag im Mai 1945 um fast 20 Prozent höher (Zeitwert) als 1939. So bleibt der zwiespältige Befund, daß die deutsche Wirtschaft wohl den Krieg verloren, aber - im Gegensatz zur übrigen Gesellschaft - am Krieg gewonnen hat.
Der Kalte Krieg erleichterte den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Westdeutschland so sehr, daß dieser in kaum zehn Jahren im wesentlichen als vollendet gelten konnte. Das eigentliche Wunder war aber nicht das »Wirtschaftswunder«, das weniger auf alliierter Hilfe als viel mehr auf dem aus dem Krieg erweitert hervorgegangenen, durch die deutsche Teilung wenig erschütterten industriellen Potential fundiert war. Eher bestand das Wunder in der politischen und ideologischen Elastizität, mit der die deutsche Bourgeoisie von der NS-Diktatur - ihrem höchsteigenen Regime des Terrors, des »Griffs nach der Weltmacht«, der »Neuordnung« und der Ausbeutung von Millionen von Zwangsarbeitern - umschaltete auf eine parlamentarische Demokratie, liberaler noch als die Weimarer Republik, ganz abgesehen von ihrem zunächst vollständig entmilitarisierten Status. So viel Kontinuität mit der NS-Vergangenheit sich in der wiederaufgerichteten wirtschaftlichen Basis und ihren großkapitalistischen Strukturen zeigte, so stark war die Diskontinuität des Sprungs von der faschistischen Diktatur in eine Demokratie westlichen Zuschnitts, der freilich ohne den Druck der Westmächte nicht vorstellbar ist.
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Rückwirkend gesehen, entpuppt sich so die damals mitunter auch von Marxisten geteilte Hoffnung auf eine im Faschismus Gestalt annehmende Endkrise oder gar (Lenin verballhornend) als das »letzte Stadium« des Kapitalismus als pure Illusion. Eine positive Einstellung zum neuen demokratischen System zu gewinnen, war für die Mehrheit der deutschen Wirtschaftselite keineswegs besonders schwierig. Hatte sie sich doch schon in den wirtschaftlichen Nachkriegsplanungen der letzten Kriegsphasen gedanklich von den bis dahin praktizierten raubwirtschaftlichen Methoden abgekehrt und sich - langsam und sehr vorsichtig - in dem Maße aus den Bindungen zum herrschenden Regime gelöst, in dem dieses auf die Verliererstraße geriet, nicht ohne sich bis zuletzt des faschistischen Terrors zu bedienen, z.B., wie gezeigt, gegen KZ-Häftlinge, Juden, Kriegsgefangene und alle »unzuverlässigen Ausländer«. In den Nachkriegsjahren gelang ihr in Westdeutschland rasch die Überleitung auf die neuen Verhältnisse; ähnlich auch den meisten Vertretern der anderen Eliten und hochrangigen NS-Funktionären, wie sich am Beispiel der ausführlich untersuchten Fälle Werner Best und Albert Speer zeigt. Wichtig war, daß Anfang der 50er Jahre die juristische Verfolgung von NS-Verbrechen, eingeschlossen die höchst fragwürdige »Entnazifizierung« de facto ihr Ende fand und die zunächst verurteilten Industriellen, Militärs und andere Regimevertreter in die Freiheit entlassen wurden und als rehabilitiert galten. Für das Kapital schlug besonders förderlich zu Buche, daß sein Eigentum an den Produktionsmitteln unangetastet blieb, daß Kapitaleigentum und Kapitalkompetenz sich als Grundpfeiler des raschen deutschen Wiederaufstiegs erwiesen und daß sein politischer Einfluß - in der Demokratie auf neue Art organisiert - sehr früh restauriert war. Ob die »Einpassung in die neuen Verhältnisse aus bloßem Opportunismus oder sich wandelnder Überzeugung geschah, ist kaum voneinander zu unterscheiden. Indem der Opportunismus akzeptiert wurde, wurde wohl auch die Grundlage zu einem tatsächlichen Einstellungswandel gelegt ... Warum sollte man sich also weiterhin mit jenem gescheiterten Regime identifizieren, das dem einzelnen auch persönlich die größte Niederlage seines Lebens zugefügt hatte?« In sozialpsychologischer Hinsicht mag im Einzelfall dieser Prozeß aktiver Anpassung interessant und möglicherweise kompliziert gewesen sein. Als gesellschaftlich für lange Zeiträume relevant erwies es sich jedoch, »daß man sich in der Öffentlichkeit mit einigem Pathos gegen die vergangene Gewaltherrschaft aussprechen konnte, ohne sich mit konkreten Orten und wirklichen Menschen - weder den Tätern noch den Opfern befassen zu müssen.« 1 6 Für die Geschichts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft eröffnen sich hiernach zwei noch wenig beachtete Forschungsfelder: erstens die theoretische Analyse der »Fähigkeit des kapitalistischen Herrschaftssystems zur Selbstkorrektur einer imperia-
Der Weg nach Auschwitz
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listischen Sonderentwicklung, die in Gestalt des ,Dritten Reichs« zur historisch bislang extremsten Ausprägung gerührt und die gesamte Gesellschaftsformation an den Rand des Abgrunds gebracht h a t « 1 7 ; zweitens die Erforschung der konkreten historischen Vorgänge bei jenem Purgatorium, der Widerstände und Widersprüchlichkeiten im Verlauf dieses Prozesses und ihrer Überewindung - bis hin zu ihrer dialektischen Aufhebung in der imperialistischen deutschen »Normalität« von heute.
A nmerkungen 1 Zit. nach Wolfgang Rüge: Monopolbourgeoisie, faschistische Massenbasis und NS-Programmatik in Deutschland vor 1933. In: Dietrich Eichholtz/Kurt Gossweiler (Hrsg.): Faschismusforschung. Positionen, Probleme, Polemik, Berlin 1980, S. 140. 2 Zit. nach ebenda, S. 145. 3 Zit. nach ebenda, S. 154. 4 Reichsgesetzblatt I 1933, S. 285 (»Gesetz über Treuhänder der Arbeit« v o m 19.5.1933). 5 Denkschrift Carl Goerdelers v o m 7.9.1933. Zit. nach Anatomie des Krieges. Neue Dokumente über die Rolle des deutschen Monopolkapitals bei der Vorbereitung und Durchführung des zweiten Weltkrieges. Hrsg. Dietrich Eichholtz/Wolfgang Schumann, Berlin 1969, Dok. 32, S. 118. 6 Redeentwurf Gustav Krupps von Ende 1943/Januar 1944. In: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMG), Nürnberg 1949, Bd. 35, D o k . D-316, S. 69. 7 Geheimer Bericht der Abt. Forschung und Entwicklung des Rohstoff- und Devisenstabes v. Juli/August 1936. Teilabdr. In: Anatomie des Krieges, Dok. 46, S. 139 ff. Hitlers Denkschrift vollständig gedr. in Wilhelm Treue: Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1955, H. 2, S. 184 ff. 8 Zitate nach Dietrich Eichholtz: Das Expansionsprogramm des deutschen Finanzkapitals am Vorabend des zweiten Weltkrieges. In: Dietrich Eichholtz/Kurt Pätzold (Hrsg.): Der Weg in den Krieg. Studien zur Geschichte der Vorkriegsjahre (1935/36 bis 1939), Berlin 1989, S. 32 ff 9 Rede Sauckels vom 4.12.1943. Zit. nach Dietrich Eichholtz: Unfreie Arbeit - Zwangsarbeit. In: ders. (Hrsg.): Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 19391945, Berlin 1999, S. 142. 10 Vortrag Freyers vom 22.6.1943. Zit. nach ebenda, S. 143. 11 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1990 (Fischer tb, Bd. 2), S. 994. 12 So in Barbara H o p m a n n u.a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994; Hans M o m m sen/Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996. 13 Hierzu ausführlich Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 19391945, Bd. III, Berlin 1996 (Nachdruck des Gesamtwerks: München 1999), S. 299; S. 641; S. 650 ff.
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128 14 Dirksen an von Schnitzler, 23.12.1944. Zit. nach ebenda, S. 5.
15 Dir. Klein (Ringführer Torpedos) auf der Sitzung beim Rüstungskommando Magdeburg am 27.2.1945. Zit. nach ebenda, S. 628. 16 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903-1989, Bonn 1996, S. 474 ff. 17 Karl Heinz Roth: »Neuordnung« und wirtschaftliche Nachkriegsplanungen. In: Dietrich Eichholtz (Hrsg.): Krieg und Wirtschaft (siehe Fußnote 9), S. 195 f
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Operative Deutsche Ideologie Zur Leistung und Grenze der theoretischen Arbeit von Reinhard Opitz
Reinhard Opitz (1934-1986) gehörte zu jenen wenigen Marxisten in der Bundesrepublik, die, obwohl sie niemals an einer Universität langfristig tätig sein konnten und auch keine Publikationsmöglichkeit in den großen Medien hatten, doch eine verhältnismäßig breite öffentliche Wirksamkeit entfalteten. 1934 in Beuthen geboren, 1 verlor er 1941 seinen Vater im Krieg. In Halle und Leipzig besuchte er zusammen mit seiner Schwester ein humanistisches Gymnasium. 1951 verließ die Familie die D D R Reinhard Opitz studierte Germanistik und Philosophie zunächst an der Freien Universität (FU) in Westberlin, ab 1955 in Tübingen. Dort trat er dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei und gründete 1956 eine »Studentische Aktion« gegen die Wiederbewafffnung. Ein Flugblatt, das er für diese veröffentlichte, trug ihm eine universitäre Disziplinarstrafe ein und beflügelte sogar eine Bundestagsdebatte mit Abscheu. Seit 1956 studierte er wieder an der FU. Dort arbeitete er in der Redaktion des »Studenten-Kurier«. Nachdem 1957 daraus die Zeitschrift »Konkret« mit Sitz in Hamburg entstanden war, wurde er deren Westberliner Redakteur. Zusammen mit der sogenannten »KonkretGruppe« wurde er 1959 aus dem S D S ausgeschlossen. Von 1960 bis 1965 war er in Köln Pressereferent der Deutschen Friedens-Union (DFU). Seit 1965 arbeitete er als freier, ab 1974 als fest angestellter Lektor im Pahl-Rugenstein Verlag. Er war Mitherausgeber der »Blätter für deutsche und internationale Politik«. Bewerbungen um Professuren an den Universitäten Bremen und Marburg führten zwar zu seiner Nominierung auf dem ersten Platz einer Liste in Marburg, doch wurde er nicht berufen. Lediglich Lehraufträge in Marburg, Münster, Osnabrück und Paderborn konnte er wahrnehmen. Seine gelehrten und publizistische Aktivitäten gerieten zunehmend in Konflikt mit den Anforderungen, die sein Arbeitgeber gegenüber einem an feste Termine gebundenen Angestellten geltend machte. 1979 wechselte Reinhard Opitz wieder zur D F U , wo sich aber dasselbe Problem ergab. 1982 schied er dort aus. Er lebte in großer Armut, von Freunden finanziell unterstützt. Am 3. April 1986 starb er, noch nicht 52 Jahre alt, in Köln an Krebs. 2 Seine verzweifelte Situation hatte er bereits 1979 in einem Brief an seinen Freund Kurt Gossweiler geschildert: »Du hast nur zu recht mit Deiner Vermutung, daß ich mich nicht gemeldet habe, weil in
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meinen Dingen alles schiefgelaufen ist. Bin jetzt erst einmal für ein paar Tage - zu den Händelfestspielen - an meine Ursprünge zurückgekehrt und überdenke von hier aus mein - nun als gescheitert anzusehendes - Leben seit jener einstigen Zeit hier.«3 Diesen bedrängten, zuletzt elenden Umständen wurde ein umfangreiches Lebenswerk abgewonnen. Opitz' erstes publizistisches Forum war »Konkret« gewesen, in den sechziger Jahren wurden es die »Blätter für deutsche und internationale Politik«. Mit einem dort erschienenen Aufsatz »Der große Plan der C D U : die >Formierte Gesellschaft<« 4 erreichte er 1965 erstmals ein größeres Publikum. Gleiche Aufmerksamkeit erzielte er 1972 mit dem Beitrag »Liberalismuskritik und Zukunft des liberalen M o t i v s « 5 . Die hier von ihm aufgestellte These, die sozialliberale Politik stelle keinen Bruch mit den traditionellen Strategien der herrschenden Klassen im bürgerlichen Deutschland dar, sondern sei deren Adaption auf ein verändertes Kräfteverhältnis, wurde durch die Geschichte der folgenden Jahre glänzend bestätigt, zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung wirkte sie sensationell. Was damals noch niemand wusste: es handelte sich nicht um einen aktuellen Schnellschuss, sondern um den Extrakt sehr weitreichender historischer Studien über Theorien kapitalistischer Integration, deren voller Umfang sich erst aus dem Nachlass erschließt. Die Marburger Dissertation »Ideologie und Praxis des deutschen Sozialliberalismus. Untersucht unter besonderer Berücksichtigung von Paul Rohrbach, Ernst Jäckh, Theodor Heuss, Walther Rathenau und Erich Koch-Weser« 6 ist ebenfalls nur ein Ausschnitt aus jener größeren Ausarbeitung, die sich inzwischen in seinen Schubladen angefunden hatte. Sein Buch »Europastrategien des deutschen Kapitals«, erstmals 1977 erschienen, dokumentiert im Schlussabschnitt einen Übergang des deutschen Imperialismus auf sozialliberale Positionen. Opitz' Hauptwerk - »Faschismus und Neofaschismus« - kam 1984 zunächst nur in einer gekürzten Fassung heraus. Erst nach seinem Tod ist es 1988 in vollem Umfang erschienen. Die Wirkung dieses Autors hat seinen Tod überdauert. Sein Buch »Europastrategien des deutschen Kapitals« erschien 1994 in zweiter Auflage, 7 1996 »Faschismus und Neofaschismus«, 8 1999 eine dreibändige Nachlaß-Edition. 9 Opitz' Name wird auch heute noch in der weitgefächerten Antifa-Szene genannt, auch unter ganz jungen Leuten. Er ist immer mehr als nur ein Geheimtip gewesen. H o h e individuelle Leistungsfähigkeit vorausgesetzt, genügt diese in der Regel doch nicht, um einen solchen - relativen - Erfolg zu erklären. Die kleinen ideologischen und politischen Apparate, die Opitz zu Lebzeiten zur Verfügung standen, haben ihn zugleich gestützt und beengt. Andere, Schwächere, die in gleicher Lage waren, konnten sich im Unterschied zu ihm dort nicht zur publizistischen Geltung bringen. Er selbst hat die Einengung vor allem in den letzten Lebensjahren heftig beklagt. Die
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andere Seite - dass hier auch Möglichkeiten, die er gut nutzte, für ihn lagen - sollte aber ebenfalls gesehen werden. Reinhard Opitz' Wirkung auch unter sogenannten »Undogmatischen« mag angesichts der Tatsache verwundern, dass seine Untersuchungen von einer These ausgehen, die - für sich genommen - nicht nur völlig unoriginell ist, sondern seit Jahrzehnten auch innerhalb der Linken nur eine Fraktionsmeinung darstellte, welche überdies nach 1989 bei den meisten als völlig abgetan gilt. Dies ist die These vom Monopolkapitalismus als der Voraussetzung der beiden Weltkriege und des deutschen Faschismus. Opitz' Bestimmung des Nationalsozialismus unterscheidet sich in nichts von Dimitroffs Definition auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935. Seine Interpretation des Sozialliberalismus basiert auf der Monopolgruppentheorie, wie sie von der Geschichtswissenschaft der D D R entwikkelt wurde. Entscheidend wurde hier für ihn der Einfluss von Kurt Gossweiler. Beide standen in ständigem engem Austausch miteinander. Als Opitz Anfang der achtziger Jahre an einer Expertise über die Röhm-Affäre für den Norddeutschen Rundfunk ( N D R ) arbeitete, konnte er auf die damals noch unveröffentlichte Dissertation Gossweilers zu diesem Thema 1 0 zurückgreifen. Seine eigene Studie ist bis zum vom Sender gesetzten Termin nicht fertig geworden. Sie wird jetzt erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht. Reinhard Opitz arbeitete gerade dort Differenzen scharf heraus, wo diese angesichts des Überwiegens von Gemeinsamkeiten auf den ersten Blick nebensächlich zu sein schienen. Für ihn waren sie das deshalb nicht, weil es ihm um die Optimierung eines antifaschistischen Denk- und Aktionsprojekts ging. Ein Beispiel für diese Art der Auseinandersetzung ist eine von 1970 publizierte Auseinandersetzung mit Reinhard Kühnl. 1 1 Diese ist zunächst einmal die Würdigung einer von Opitz voll anerkannten weit vorgeschobenen marxistischen Position. Nur unter dieser Voraussetzung kritisiert er sie dann. Der von Kühnl gewählte Rechts-Links-Unterscheidung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft setzt er sein Konzept von der inneren Einheit und fraktionellen Verschiedenheit monopolkapitalistischer Politik entgegen, in die nicht nur die Rechte, sondern auch die »Mitte« und sogar die sozialliberalen Teile jener Richtung, die sich »die Linke« nennt, eingehen. Für eine Verselbständigung von politischer Herrschaft gegenüber ihrer ökonomischen Basis sieht er dabei keine Möglichkeit. Damit gelangt er allerdings selbst in ein Problem der Analyse bürgerlicher Politik, Mentalität, Ideologie und Propaganda, das er, wie nachfolgend gezeigt werden soll, nicht völlig befriedigend gelöst hat. Es ist bekannt, daß die von Opitz vertretene These von der monopolkapitalistischen Verursachung des Kapitalismus nicht nur im bürgerlichen Lager strikt abge-
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lehnt wird, sondern dass sie auch unter Marxisten umstritten ist. Dafür, in welch unbefangener Weise dies geschehen kann, wird hier ein in jeder Hinsicht unverdächtiger Gewährsmann genannt werden: Eric Hobsbawm ist der Ansicht, dass Großbritannien - dessen »weltweite politische und maritime Machtposition« bedroht war - und Frankreich - das sich um eine »Kompensation für seine zunehmende und offenbar auch unvermeidliche demographische und ökonomische Unterlegenheit gegenüber Deutschland« sorgte - 1914 eher Anlass zum Krieg hätten haben können als das wilhelminische Reich. »In beiden Fällen hätte ein Kompromiß im Grunde nur eine Verzögerung bedeutet. Deutschland selbst, so hätte man vermuten können, hätte nur zu warten brauchen, bis seine territoriale Größe und Überlegenheit genau die Position begründet hätten, die deutsche Regierungen für ihren Staat angemessen fanden.« 1 2 Weiterhin behauptet Hobsbawm, dass »der Faschismus niemals Audruck des >Monopolkapitalismus< oder Großunternehmertums gewesen« 1 3 sei und führt dazu im einzelnen aus: »Was nun die >monopolkapitalistische< These betrifft, so kann man nur sagen, daß das wirkliche Großunternehmertum mit jeder Art von Regime zurechtkommt, das nicht zu Enteignungsmaßnahmen greift, und daß jedes Regime mit dem Großunternehmertum zurechtkommen muß. Der Faschismus war kein stärkerer »Ausdruck der Interessen des Monopolkapitals« als der amerikanische New Deal, die britischen Labour-Regierungen oder die Weimarer Republik. Das Großunternehmertum der dreißiger Jahre hat Hitler nicht ausdrücklich herbeigewünscht und hätte wohl auch einen orthodoxeren Konservativismus vorgezogen. Daher erhielt Hitler bis zur Weltwirtschaftskrise aus seinen eigenen Reihen auch nur geringe Unterstützung; und selbst in der ersten Zeit danach lief diese Unterstützung nur zögernd an und blieb relativ uneinheitlich. Aber als Hitler an die Macht kam, da kollaborierte das Großunternehmertum aus vollem Herzen und ging während des Zweiten Weltkriegs sogar so weit, Sklavenarbeiter und Häftlinge in den Konzentrationslagern für seine Geschäfte zu nutzen. Und das Großunternehmertum profitierte genauso wie die kleinen Geschäftsleute von der Enteignung der Juden.« 1 4 Hierauf kann geantwortet werden, dass Fritz Fischer - für 1914 - und Reinhard Opitz sowie Kurt Pätzold - für den Aufstieg Hitlers - gewiss mehr einschlägige Quellen kennen als Eric Hobsbawm. Im Streit mit den Vertretern der These, dass das Großkapital die Machtübertragung an den Faschismus nicht strategisch geplant und betrieben habe, wird ihnen dies aber wenig nützen. Zumindest in der deutschen Diskussion bewegen sich die Kontrahenten annähernd auf der gleichen Materialbasis, wobei die einzelnen Texte allerdings unterschiedlich gewertet - und einige von der bürgerlichen Geschichtsschreibung zwar gekannt, aber nicht beachtet - werden.
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Der Hinweis von Opitz (und anderen) auf die Initiativen führender deutscher Industrieller für eine Investitur Hitler als Kanzler seit November 1932 - unter besonderer Berücksichtigung ihres persönlichen Kontakts mit diesem Anfang Januar 1933 trifft auf den Einwand derer, die auf das relativ späte Datum dieser Entscheidungen hinweisen und behaupten, der Bankier Kurt von Schröder und seine Kumpane hätten sich nur in das Unvermeidliche gefügt und es dann eben durch entschlossenes Mitsteuern und Förderung noch in ihrem Sinne zu beeinflussen gesucht. In jedem Fall müsste noch gezeigt werden, weshalb sich das vereinte Monopolkapital in Deutschland 1914 für den Angriffskrieg und 1933 für Hitler entschied, in anderen hochentwickelten bürgerlichen Gesellschaften aber nicht. Bekanntlich gibt es hierfür mehrere Erklärungen, die einander nicht unbedingt ausschließen müssen - von Lenins Hinweis auf die Stellung Deutschlands als eines jungen und bislang zu spät gekommenen imperialistischen Räubers bis zur Auffassung der kritischen Sozialgeschichte von der Differenz zwischen technologisch-ökonomischer Modernisierung einerseits, dem Verharren in vordemokratischen Strukturen andererseits. Dabei wird jeweils eine strukturelle Ursache genannt, nicht aber deren Umsetzung in eine dynamische Aktion gezeigt. Hier setzt die spezifische Leistung von Reinhard Opitz ein. Er hat eine Gemeinsamkeit der verschiedensten bürgerlichen Machtdiskurse in Deutschland
von den Alldeutschen bis zu den Liberalen in ihrem Interesse an
ideologischer Integration und der Rechtfertigung einer Herrschaft des Reichs über Europa aufgefunden und dabei die einzelnen Varianten einleuchtend den verschiedenen Monopolgruppen zugeordnet. Im Ergebnis zeigt sich eine Kompatibilität zwischen den einzelnen Propaganda-Richtungen und den ökonomischen Interessen einerseits des Großgrundbesitzes sowie der Montanindustrie und andererseits der Chemie- und Elektroindustrie. Das ist nicht wenig. Zugleich aber ist auch nach Wegen der Transformation zwischen den Kalkulationen der Unternehmen und dem Reden und Schreiben der Ideologen zu fragen. Opitz hat sich darauf konzentriert, letzteres auf ersteres zurückzuführen. Dabei kam der Nachweis vollständiger Übereinstimmung zutage, während eine unmittelbare Beeinflussung der Propaganda durch das wirtschaftliche Interesse kaum einmal gelingt. Unter den so zahlreichen Dokumenten des Bandes »Europastrategien des deutschen Kapitals« sind Äußerungen von fungierenden Kapitalisten weniger zahlreich als die Publikationen von Politikern und Intellektuellen. Was letztere angeht, so ist Bethmann Hollwegs Vorzimmer-Herr Kurt Riezler durchaus typisch für sie: ein halbliterarisches Talent, das sich zu Gedanken über die große Politik berufen fühlt. Ähnliches ließe sich über Heinrich Claß vom Alldeutschen Verband und den Sozialliberalen Theodor Heuss sagen. Im Vergleich zu den blutbeschwingten Auslassungen
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des Pfarrers Friedrich Naumann während des ersten Weltkriegs lesen sich die Memoranden der Herren Ballin, Duisberg, Röchling, Stinnes, Thyssen trotz der dort vorgebrachten großen Forderungen nachgerade buchhalterisch nüchtern. Die einzelnen Kapitalisten sehen sich letztlich noch an ihren Betriebszweck gebunden, verlangen einen weiten Rahmen für diesen, aber sie schwärmen nicht. Wo sie allgemeiner argumentieren, wird allerdings schon jene spezifisch deutsche nationaldarwinistische Rhetorik hörbar, die man nicht im Kontor lernte, sondern wenn man hauptberuflichen Ideologen zuhört. Diese - studierte und nichtstudierte Intellektuelle, auch Hitler (in seiner Eigenschaft als Kommunikator) gehörte dazu, so sehr er auch diese Menschengruppe hasste - benutzten die für ihre Zeit typischen Medien: nicht nur Zeitungen, sondern auch Parteien und Verbände. Opitz weist nach, dass diese - auch die N S D A P - von Anfang an durch Großkapitalisten, die häufig sogar schon ihre Gründung unterstützten, finanziert und beeinflußt worden sind. Dies bedeutet aber nicht, dass Monopolvertreter sich Vereine gehalten hätten, denen sie die Ideologie vorschrieben. Es wäre interessant, die Entstehungsgeschichten noch detaillierter zu eruieren, als Reinhard Opitz dies ohnehin tat. Dabei wird wahrscheinlich herauskommen, dass in der Regel intellektuelle Existenzgründer sich ihren Mäzen gesucht haben, von dem sie annehmen durften, dass die von ihnen propagierten Ziele mit den seinen übereinstimmten. (Eine Ähnlichkeit mit modernem »Fundraising« ist nicht ausgeschlossen.) Und selbst da, wo Monopolisten selbst organisierend aktiv wurden, mussten sie nicht erst als Theoretiker auftreten - es genügte, wenn sie sich auf dem Markt aus dem schon vorhandenen Angebot bedienten. (Dass ein Industriekapitän zugleich konzeptiver Ideologe gewesen ist, war sehr selten: Walther Rathenau.) Die Deutsche Ideologie, auf welche zurückgegriffen wurde, entstand im Prozess der später von Georg Lukács beschriebenen »Zerstörung der Vernunft«. Nietzsche war der gemeinsame Bezugs-Theoretiker - jetzt aber in einer zur chauvinistischen Tages-Agitation verkommenen Form. Die herrschenden Gedanken waren nicht nur die Gedanken der herrschenden Klassen. Dies ergibt sich aus ihrem auch durch Opitz herausgearbeiteten demagogischen Zweck, gerade auch in der sozialen Frage. Antisozialismus und Expansionismus hatten die nichtmonopolistischen Klassen und Schichten zu berücksichtigen. Für deren Integration und Mobilisierung war eine relative Distanz zu jenen Eliten nötig, die auch einmal als »Plutokraten« und »Reaktion« beschimpft werden durften. Um im Interesse der herrschenden Klassen funktional zu sein, bedurfte sowohl die sozialliberale als auch die faschistische Agitation eines Überschusses gegenüber dem letztlich zu verfolgenden ökonomischen Zweck. Sie hatte ein relatives Eigenleben und kann deshalb nicht ausschließlich als Nachvollzug bereits getroffener Ent-
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Scheidungen der tatsächlichen Machteliten dargestellt werden. Dieses Moment der teilweisen Verselbständigung kommt bei Opitz nicht klar genug heraus. Das wird unter anderem dort deutlich, wo er sich folgende Frage stellt: »Wie hingen im deutschen Faschismus der Antisemitismus, die Judenverfolgungspolitik und die Judenvernichtung mit den Interessen des Monopolkapital zusammen?« 1 5 Auch hier behauptet er eine strenge ökonomisch und machtpolitische Funktionalität. Seine eigene Frage beantwortet er so: »Der für das Verständnis der Art des Zusammenhangs von >Judenpolitik< und Kapitalinteressen im deutschen Faschismus schlechthin zentrale Punkt ist das von der Sache her tatsächlich zwangshafte Wechselverhältnis zwischen der demagogisch-antisemitischen Mobilisierung gegen die Arbeiterbewegung einerseits und der demgegenüber dann gleichsam >nüchternen<, jedenfalls hier keineswegs mehr die Funktion einer demagogischen Quid-pro-quoSetzung erfüllenden Einschätzung der Juden aus großraumpolitisch-expansionistischer Sicht als ein reales >Feind<- oder Störpotential andererseits.« 1 6 Diese Funktionsbestimmung erörtert nicht, daß das ideologische Material - der Antisemitismus -, das in Deutschland in Bewegung gesetzt wurde, älter war als die politischen Zwecke, denen es jetzt diente. Nicht durch seine strategische Anbindung allein, sondern auch durch seine relative Selbständigkeit wurde es wirkungsmächtig. Das Problem, auf welches Opitz hier stößt und an dem er teilweise scheiterte, könnte klarer dargestellt werden, als er es tat, wenn vier Ebenen zu analytischen Zwecken auseinandergehalten würden, die historisch allerdings nicht völlig zu trennen sind. Die erste besteht aus der monopolkapitalistischen Organisation einer bestimmten - im nichtfinalen Sinne »späten« - Phase der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Die zweite sind die historisch und sozialräumlich (»national«) bedingten Mentalitäten, welche nicht ausschließlich auf diese zurückzuführen, aber mit dieser kompatibel und durch sie neu geformt
sind. Im Falle Deutschlands zum Beispiel kann
dabei an die dortige Art der Ausformung des Antisemitismus gedacht werden. Wiederum hiervon zu trennen, aber als mit beiden in einem Zusammenhang zu sehen ist - drittens - die Arbeit der Ideologen, die zugleich international gleichermaßen monopolkapitalistisch bedingt, aber auch durch nationale Besonderheiten geprägt ist. Zuletzt - viertens - kommt die politische Aktion einschließlich der Propaganda, die einen Teil derselben darstellt. Sie macht sich die Mentalitäten zunutze, plündert das, was sie von den Ideologen gebrauchen kann und bleibt zurückgebunden an die monopolkapitalistische Voraussetzung, ohne daß man dabei notwendigerweise an ein »Prinzipal-Agent«-Verhältnis (im akteurstheoretischen Sinne) denken muß. Letzteres ist für eine Darstellung dieser vier Komponenten und ihres Verhältnisses zuein-
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ander ebenso nur eine Asymptote wie andererseits die These einer Verselbständigung oder gar - in der bürgerlichen Faschismusforschung - Kontingenz. Reinhard O p i t z hat riesige Fakten-Massen über Ideologien und Organisationen ausgebreitet, um deren Funktionieren im monopolkapitalistischen Kalkül nachzuweisen. Er gibt seinen Leserinnen und Lesern dadurch die Möglichkeit, gerade diese seine Zentralthese zu relativieren, indem nämlich jener Überschuss sichtbar wird, der auf die Interessenwahrnehmung des Kapitals zurückwirkt. Als Ideologie-Analytiker war er seinen eigenen, von ihm nicht selbst entwickelten, sondern wie selbstverständlich von ihm akzeptierten politisch-ökonomischen Prämissen voraus. Dies ermöglichte den weiterwirkenden Teil seiner Leistung.
Ich danke Godela Linde für tatkräftige
Unterstützung.
A nmerkungen 1 Vgl. Biemann, Georg: Kinderbilder für einen Weggefährten. Zur Biographie des Publizisten und Politikwissenschaftlers Reinhard Opitz. In: Forum Wissenschaft 1/1998, S. 50-54. 2
Rilling, Rainer: Ein waches, radikales Denken. Reinhard Opitz ist tot. In: Deutsche Volkszeitung/die tat Nr. 15. 11. April 1986, S. 3.
3 Zitiert nach: Fach, Ilina, und Rainer Rilling: Vorwort zur Gesamtausgabe. In: Opitz, Reinhard: Liberalismus. Faschismus. Integration. Edition in drei Bänden. Herausgegeben von Ilina Fach und Rainer Rilling. Band I: Liberalismus. Integration. Herausgegeben von Ilina Fach. Marburg 1999. S. 12. 4 Opitz, Reinhard: Der große Plan der C D U : die »Formierte Gesellschaft«. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10. Jahrgang (1965) S. 750-777. 5 Opitz, Reinhard: Liberalismuskritik und Zukunft des liberalen Motivs. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 17. Jahrgang (1972) S. 13-43; 166-181; 294-314. 6 Titel der gedruckten Fassung: Der deutsche Sozialliberalismus 1917-1933. Köln 1973. 7 Opitz, Reinhard: Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. 2. Aufl. Bonn 1994 8 Opitz, Reinhard: Faschismus und Neofaschismus. Bonn 1996. 9 Opitz, Reinhard: Liberalismus. Faschismus. Integration. Edition in drei Bänden. Herausgegeben von Ilina Fach und Rainer Rilling. Marburg 1999. 10 Gossweiler, Kurt: Die Röhm-Affare. Hintergründe, Zusammenhänge, Auswirkungen. Köln 1983. 11 Opitz, Reinhard: Fragen der Faschismusdiskussion. Zu Reinhard Kühnls Bestimmung des Faschismusbegrif'fs. In: Das Argument, 12. Jahrgang (1970), S. 280-291. 12 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. S. 47 f. 13 Ebd., S. 166. 14 Ebd., S. 168. 15 Opitz, Faschismus und Neofaschismus, a.a.O., S. 146. 16 Ebd., S. 152 f.
Arnold
Schölzel
Kritische Theorie und Faschismus Reflexionen Max Horkheimers vor 1933 »Es war ein Wartesaal und gleichzeitig ein Gefängnis. Klingeln schrillten, Signale gellten, Lokomotiven pfiffen, Lautsprecher klangen, Züge wurden ausgerufen. Aber die Züge, auf welche diese Menschen warteten, wurden nicht ausgerufen. Bei jedem neuen Aufruf horchten sie hoch, aber die Leute von der Direktion verhinderten, daß die Züge kamen, auf die sie warteten. Immer neue Züge ließen sie abgehen aber die längst angekündigten Züge, auf die sie warteten, ließen sie nicht abgehen. Sie teilten auch mit, warum nicht; es waren immer fadenscheinigere Gründe zuletzt wurden die Vorwände so aufreizend erbärmlich, daß auch die Dümmsten unter den Wartenden erkannten, wie zynisch sie waren. Aber was blieb ihnen übrig, als weiter zu warten? Sie waren Objekte einer Herrschaft, die angeblich sie selber ausübten; denn angeblich ließ die Direktion die Züge ja für sie gehen; für sie allein.« Lion Feuchtwanger, Exil
Inhalt des »Wartesaal«-Zyklus, den Feuchtwanger 1939 unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkrieges abschloß, sind die Geschehnisse in Deutschland von 1914 bis 1939, d.h. »der Wiedereinbruch der Barbarei in Deutschland und ihr Sieg über die Vernunft.« 1 Diese schlimme Zeit des Wartens und des Übergangs für die Späteren lebendig zu machen, sei der Zweck dieser Trilogie, erklärte er, denn ihnen müsse es unverständlich sein, warum wir so lange zuwarteten, ehe wir nämlich die einzig vernünftige Schlußfolgerung zogen die nämlich, der Herrschaft der Gewalt und des Widersinns unsererseits mit Gewalt ein Ende zu setzen und an ihrer Statt eine vernünftige Ordnung herzustellen.« 2 Aus noch so vielen sachlichen und klugen Berichten über diese Zeit werde man sie nicht begreifen: Hilflos bemüht, »das Alte festzuhalten, während wir uns nach dem Neuen sehnten ... das Neue fürchtend, während wir doch erkannten, daß es das Bessere sei
das einmalige Lebensgefühl unserer
Übergangszeit festzuhalten, darauf kam es mir an.« 3 Sympathie für Menschen sei nicht zu unterdrücken gewesen, auch wenn ihr Denken, Tun und Leben der Gesamtheit Schaden bringen mußte. Die Annehmlichkeiten einer Gesellschaftsordnung, die als Ganzes verkehrt erschien, hätten nicht unterschlagen werden dürfen. »Ich war mir bewußt, daß ich mir nicht den leisesten Schwindel erlauben, daß ich mich nicht drücken durfte, vor den Widersprüchen, vor dem Dialektischen unserer Epoche.« 4
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Mit dem Begriff" »Gewalt« sei dies nicht auf einen Nenner oder in eine zusammenfassende Formel zu bringen. Daß am Ende der Kämpfe allerdings der »Sieg der Vernunft« 5 stehen werde, stand für Feuchtwanger fest. Seine bildhafte Darstellung ist nur ein Beispiel für die Zeitdiagnose exilierter deutscher Intellektueller jener Zeit. Unterschiedlich in der Akzentuierung, unterschiedlich auch in den konkreten Schlußfblgerungen für das eigene Denken und Handeln, ist hier das Selbstverständnis antifaschistischer Intelligenz umschrieben: Das Bewußtsein, in einer Zeit, einer Gesellschaft, einer Epoche des Übergangs zu leben, dessen Ausgang vielen als Sieg von Vernunft über Barbarei sicher erschien. Aus dieser Perspektive muß auch die Geschichte der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule betrachtet werden. Ihre führenden Vertreter gehörten zu jenen, die den Zusammenbruch der Welt des 19. Jahrhunderts im Schrecken des Ersten Weltkrieges miterlebt, die die Rechtsentwicklung der Weimarer Republik von Anfang an bekämpft hatten und für die der Sieg des Faschismus in Deutschland nicht nur persönlich eine entscheidende Zäsur bedeutete. Sie sahen den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus, begriffen den Sozialismus als Alternative, verstanden ihre eigene Tätigkeit als Analyse und Abwehr der faschistischen Barbarei. Die adäquate Theorie für diese Epoche des Übergangs zu schaffen, war das bewußt gesetzte Ziel. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ist diese Epoche des Übergangs nicht zu Ende, ist ihr Abschluß nicht absehbar. Nicht die Liquidierung der progressiven Kräfte durch Faschismus erscheint unmittelbar als Gefahr, sondern die Vernichtung der Menschheit. Die Vertreter der Kritischen Theorie haben dies zu einem frühen Zeitpunkt erfaßt und es zum Ausgangspunkt ihres Denkens gemacht. Daß ihre Haltung anders als z.B. die Feuchtwangers nach 1933 weitgehend von Resignation bestimmt war, schmälert nicht den Wert ihrer Analysen. In den philosophiehistorischen Arbeiten von Horkheimer und Marcuse oder den kunsttheoretischen Schrif ten Adornos wird zunächst der Versuch unternommen, den Historischen Materialismus komplex, nämlich auch die individuelle Bewußtseinsbildung umfassend, zu begründen. Der Umschlag dieses Ansatzes in eine Kulturkritik, wie sie im 20. Jahrhundert eher von konservativer Seite vorgetragen wurde, ändert an diesem Ausgangspunkt nichts. Zu fragen wäre nach den Gründen dieses Wandels. Bereits die Gründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main 1924 war in gewisser Weise ein Schritt gegen die Kräfte der Revanche, die im Jahr zuvor in Deutschland massiv aufgetreten waren. Nicht nur, daß kommunistische Intellektuelle wie Richard Sorge bei der Gründung maßgebliche Unterstützung leisteten, auch die Zusammenarbeit mit den Herausgebern der Marx-Engels-Gesamtausgabe, deren Verlag im Stiftungsgebäude untergebracht wurde, setzte ein deutliches Zeichen. Die eigenartige juristische Konstruktion des Instituts - ökonomisch selb-
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ständig, aber juristisch unter dem Dach der Universität Frankfurt - erwuchs aus der Furcht der Stifter vor der Errichtung eines antisemitischen Regimes in Deutschland. 6 Die Vorsicht zahlte sich aus. Nach 1933 ermöglichte das gerettete Stiftungsvermögen z.B. für einige Jahre die Weiterfuhrung der »Zeitschrift für Sozialforschung« - seit 1932 das Publikationsorgan des Instituts an Stelle des Grünberg-Archivs. Das bedeutete in den 30er Jahren Zuflucht und materielle Stütze für zahlreiche emigrierte Sozialwissenschaftler. Unter philosophiehistorischem Aspekt läßt sich zeigen, daß die Frontstellung der Frankfurter Schule gegen Kapitalismus und seine Mythen an romantisierende Tendenzen bürgerlicher Kapitalismuskritik des 19. Jahrhunderts anschließt, an Schopenhauer, Schelling und bestimmte Seiten des Hegelianismus und der Hegeischen Schule. Das romantische Unbehagen an der kapitalistisch werdenden Welt kondensierte sich seinerzeit im Begriff der Entfremdung. Auf die Gesamtheit der Phänomene der bürgerlichen Welt bezogen, verlor er allerdings jeden dialektischen Gehalt und wurde allgemeine Mode, unglückliches Bewußtsein im Sinne der Hegeischen »Phänomenologie«: Beschwörung des ewig Unveränderlichen vorgetragen mit kritischem Gestus. »Entfremdung« erfaßt nicht die Widersprüchlichkeit der Herstellung von bürgerlicher Gesellschaft und Weltmarkt, wenn er einen Zwangszusammenhang von Institutionen, Verhältnissen und individuellen Denkweisen gleichermaßen erfassen soll. Im 20. Jahrhundert schuf diese Betrachtungsweise die Vokabel »totalitär«. Marx sprach von Entfremdung nur in seltenen Fällen, mit den auch aus der Analyse von kapitalistischer Entfremdung gewonnenen Begriffen »Produktionsverhältnisse« und »Produktivkräfte« waren sowohl das wirkliche Gewicht von realer Entfremdung präziser zu beschreiben, als auch Tendenzen einer Aufhebung zu erfassen. Im Mittelpunkt der romantischen Kritik stehen häufig unmittelbar kultur- und kunstfeindliche Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft, weniger die sozialen Folgen und treibenden Kräfte ihrer Entwicklung. Die Frankfurter Schule machte davon insofern eine Ausnahme, als sie - ihrem selbstgestellten Anspruch gemäß die Dialektik von individuellem und kollektivem Sozialverhalten zu erforschen suchte, mit Hilfe eines interdisziplinären Ansatzes, in den von der Psychoanalyse bis zur Musiktheorie eine Vielfalt von Forschungsrichtungen eingehen sollte. Die Entfaltung des Forschungsprogramms verhinderte der Faschismus. Spätes Resultat dieses Vorhabens wurden die Studien zur autoritären Persönlichkeit, die unter der Leitung von Adorno in den U S A stattfanden und erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden. Ihr allgemeines Resultat - die Verankerung autoritärer oder faschistischer Regime in der individuellen Sozialisierung von Individuen in den Industrieländern des 20. Jahrhunderts - bildet ein Grundmuster, das noch die GoldhagenDebatte prägte: Vom Faschismus zu reden und vom Kapitalismus zu schweigen. Es
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ist fester Bestandteil einer Bewußtseinsbeherrschung, die parlamentarische Demokratie, Menschenrechte und Marktliberalismus zu den wichtigsten Strukturelementen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft erklärt, während deren faktische Aufhebung stattfindet. Kritik an diesem Vorgang wird ebenso »vormodern« genannt wie die Rückführung des Massenbewußtseins in präkapitalistische Zustände stattfindet. Als ein Dokument jener Alternativen im Massenbewußtsein, die bis 1933 in Deutschland existierten, sind die Notizen aus den Jahren 1925 bis 1930 zu werten, die Max Horkheimer 1934 im Schweizer Exil herausgab. Sie dokumentieren das Bewußtsein, in einer Epoche des Übergangs zu leben, deren Ausgang - Sozialismus oder Faschismus - offen war. Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung hielt ihr Autor sie bereits für Reflexe einer abgeschlossenen Epoche, wie die Vorbemerkung - datiert »Deutschland, im Februar 1933« - besagt: »Dieses Buch ist veraltet. Die in ihm enthaltenen Gedanken sind gelegentliche Notizen aus den Jahren 1926 bis 1931 in Deutschland ... Da sie der Zeit vor dem endgültigen Sieg des Nationalsozialismus angehören, betreffen sie eine heute schon überholte Welt.« 7 1933 war in diesem Sinn nicht nur eine politisch-historische Zäsur, sondern bedeutete auch einen Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Ansatz, genauer: Von Dialektik weg und zur positivistischen Akzeptanz der Widerspruchsfreiheit der existierenden, »totalitären« Gesellschaft hin. Aus der Sicht dieser Notizen ist der künftige Gang der Geschichte offen. Wo die Vorbemerkung ein Ende sieht, wird dort noch die Möglichkeit eines Neuanfangs gezeichnet. Bereits die erste Notiz unter dem Titel »Dämmerung« bringt das zum Ausdruck: »Je windiger es um notwendige Ideologien bestellt ist, mit desto grausameren Mitteln muß man sie schützen. Der Grad des Eifers und des Schreckens, mit denen wankende Götzen verteidigt werden, zeigt, wie weit die Dämmerung schon fortgeschritten ist. Der Verstand der Massen hat in Europa mit der großen Industrie so zugenommen, daß die heiligsten Güter vor ihm behütet werden müssen.« Der Imperialismus habe eine neue, feinere - nämlich durch Apologie und Zuchthäuser, Arbeitslosigkeit und Elend charakterisierte Inquisition an die Stelle der mittelalterlichen mit ihren Holzstößen gesetzt. »Die Gegner der Inquisition haben jene Dämmerung zum Anbruch eines Tages gemacht, auch die Dämmerung des Kapitalismus braucht nicht die Nacht der Menschheit einzuleiten, die ihr heute freilich zu drohen scheint.« 8 Zu diesem Zeitpunkt steht für Horkheimer fest, daß der nächste Schritt nur im Aufbau des Sozialismus bestehen kann. Die Haltung des einzelnen dazu wird in den Rang eines moralischen Wertmaßstabs gehoben: »Was für die bourgeoisen Gelehrten ein Übergang von einem zum andern Systemglied ist, ein »Problem« wie andere auch, eine Sache, der sie bestenfalls durch einige verständnisvolle Seiten in einem Lehr-
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buch »gerecht« werden: die Lösung der Frage, ob die Klassengesellschaft weiterbesteht oder ob es gelingt, den Sozialismus an ihre Stelle zu setzen, entscheidet über den Fortschritt der Menschheit oder ihren Untergang in Barbarei. Wie sich einer zu ihr stellt, bestimmt nicht bloß das Verhältnis seines Lebens zum Leben der Menschheit, sondern auch den Grad der Moralität.« 9 Horkheimer wendet sich hier gegen jede Art von kontemplativer Betrachtung des Marxismus, etwa durch philosophiehistorische Einordnung und »Unschädlichmachung«. Die vornehme Skepsis gegen die Notwendigkeit des Sozialismus verschwinde sofort, wenn man erkläre, daß dies keine Frage der Theorie, sondern der Praxis sei, »daß man um den Sozialismus kämpfen müsse«. 1 0 Und weiter, anlehnend an eine von Carl Schmitt häufig verwendete Charakterisierung bürgerlicher Herrschaft: »Es ist bekannt, daß die Bourgeoisie über alles >diskutieren< kann. Diese Möglichkeit gehört zu ihrer Stärke. Im allgemeinen gewährt sie Gedankenfreiheit. Nur wo der Gedanke eine unmittelbar zur Praxis treibende Gefahr annimmt, wo er in der akademischen Sphäre zu >unwissenschaftlich< wird, da hört auch die Gemütlichkeit auf. Die bloße Skepsis ist wesentlich ein Ausdruck dafür, daß die Grenzen der Theorie gewahrt bleiben. Das Gegenteil dieser Skepsis ist weder der Optimismus noch das Dogma, sondern die proletarische Praxis. Wenn der Sozialismus unwahrscheinlich ist, bedarf es der um so verzweifelteren Entschlossenheit, ihn wahr zu machen. Was ihm entgegensteht, sind nicht die technischen Schwierigkeiten der Durchführung, sondern der Machtapparat der Herrschenden.« 1 1 Ebenso kontemplativ wie die akademische Beschäftigung mit dem Marxismus erscheint Horkheimer auch die Reduktion der marxistischen Theorie auf eine Lehre von der »Naturnotwendigkeit« des Sozialismus: »Wenn aber die Skepsis schlecht ist, so ist die Gewißheit um nichts besser. Die Illusion des naturnotwendigen Eintritts der sozialistischen Ordnung gefährdet das richtige Handeln kaum weniger als der skeptische Unglaube. Wenn Marx den Sozialismus nicht bewiesen hat, so hat er gezeigt, daß es im Kapitalismus Entwicklungstendenzen gibt, welche ihn möglich machen. Die an ihm Interessierten wissen, wo sie anzugreifen haben. Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird von der Weltgeschichte nicht verhindert, sie ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie geschulten, zum Bessern entschlossenen Menschen oder überhaupt nicht.« 1 2 So präzise diese Analyse erscheint, sie macht deutlich, daß Horkheimer zwar die Möglichkeit eines historisch progressiven Subjektes anerkennt, seine Existenz aber für eine offene Frage hält. Übermächtig erscheint hier bereits der Entfremdungszusammenhang. An die Stelle einer Untersuchung sozialökonomischer Voraussetzungen und ihrer Reflexion tritt die Beschwörung des als unveränderbar Gesetzten. Allen Gliedern der Gesellschaft, so heißt es bei ihm, trete »die von ihnen selbst in ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit geschaffene Wirklich-
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keit als etwas Fremdes, nach dem sie sich zu richten haben«, gegenüber. Es gebe so zwar »viele Urheber, aber kein bewußtes und somit freies Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse, und die Menschen müssen sich den Zuständen, die sie doch fortwährend selbst hervorbringen, als einem Fremden, Übermächtigen unterwerfen.« 13 Die selbstproduzierte Entfremdung und Unmündigkeit wird so unter der Hand zum unausweichlichen Resultat des postulierten »freien Subjektes« selbst. Wo an die Stelle konkreter ökonomischer, sozialer und auch sozialpsychologischer Untersuchung die Analyse des Gegensatzes von abstraktem Subjekt und abstrakter Entfremdung tritt, fällt dem Subjekt, in diesem Fall den Unterdrückten, die Verursacherrolle zu. Aus dieser Perspektive gibt es nur selbstverschuldete Unterwerfung. Horkheimers Reflexionen münden zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht in jenen fatalen Pessimismus, der seit der »Dialektik der Aufklärung« sein Werk beherrscht. Ihn interessiert zu diesem Zeitpunkt viel mehr die Existenz von Menschen, die ein Lebensinteresse an einer sozialistischen Gesellschaft haben. Charakteristisch erscheint ihm - ganz im Gegensatz zu der eben zitierten Passage - die Differenziertheit ihrer Interessen, die sich in Deutschland in der Existenz zweier starker Arbeiterparteien niederschlägt. Unter dem Titel »Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse« kommt Horkheimer in seinen Notizen zu der Schlußfolgerung, daß die Arbeitslosigkeit als ein immanentes Gesetz des Kapitalismus zur Beeinträchtigung der Interessensolidarität der Proletarier untereinander führe. In früheren Zeiten sei die Einheit der Arbeiterklasse nie durch Rand- oder extrem privilegierte Gruppen gefährdet gewesen, das habe sich nun verändert: »Heute paßt der Name des Proletariats als einer Klasse, welche die negative Seite der gegenwärtigen Ordnung, das Elend, an ihrer eigenen Existenz erfährt, so verschieden auf ihre Bestandteile, daß die Revolution leicht als eine partikulare Angelegenheit erscheint. Für die beschäftigten Arbeiter, deren Lohn und langjährige Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und Verbänden eine gewisse, wenn auch geringe Sicherheit für die Zukunft ermöglicht, bedeuten alle politischen Aktionen die Gefahr eines ungeheuren Verlusts. Sie, die regulären, ordentlichen Arbeiter, befinden sich im Gegensatz zu jenen, die auch noch heute nichts zu verlieren haben als ihre Ketten.« 1 4 Arbeit und Elend seien auf verschiedene Träger verteilt. Eine Unterschicht des Proletariats erdulde alle Leiden der Klasse in konzentrierter Weise. Zwischen ihnen und jener Arbeiterklasse, die vor dem Ersten Weltkrieg das Bild der deutschen Sozialdemokratie bestimmte, sieht Horkheimer gravierende Unterschiede: »Diese unmittelbar und am dringendsten an der Revolution interessierten Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vorkriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klassenbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel doch in den kapitalistischen Betrieb-Eingegliederten. Diese Masse ist schwankend, organisatorisch ist wenig mit ihr anzufangen. Den
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Jüngeren, die im Arbeitsprozeß standen, fehlt bei allem Glauben das Verständnis der Theorie.« 1 5 Am Sozialismus seien so zwar alle Mitglieder der Arbeiterklasse interessiert, aber die »einen nur verschwommen, die anderen ohne das nötige Rüstzeug.« Das drücke sich in der Existenz der beiden Arbeiterparteien aus. Das alles verurteile »die Arbeiter zur faktischen Ohnmacht«. 1 6 Dieses Resultat der sozialstrukturellen Analyse traf zweifellos den Kern: Die Klarheit, die Horkheimer und mit ihm seine Kollegen am Institut im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossen dabei entwickelten, war bei vielen ihrer Zeitgenossen nicht zu finden, schon gar nicht in den Dokumenten der beiden Arbeiterparteien selbst. Deren Analyse fällt bei Horkheimer entsprechend kritisch aus. Den Kommunisten wirft er z.B. Unvermögen vor, allgemeine Prinzipien des Marxismus auf die konkrete Situation anwenden zu können: »Die Prinzipien nehmen nicht durch die Menge des theoretisch verarbeiteten Stoffs eine zeitgemäße Gestalt an, sondern werden undialektisch festgehalten. Die politische Praxis entbehrt daher auch der Ausnutzung aller gegebenen Möglichkeiten zur Verstärkung der politischen Positionen und erschöpft sich vielfach in erfolglosen Befehlen und moralischer Zurechtweisung der Ungehorsamen und Treulosen.« 1 7 Gegenüber den Konzepten der Sozialdemokratie findet Horkheimer eher Bitterkeit und Spott: »Im Gegensatz zum Kommunismus hat der reformistische- Flügel der Arbeiterbewegung das Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verloren. Alle Elemente der Theorie sind ihm abhanden gekommen, seine Führung ist das genaue Abbild der sichersten Mitglieder: viele suchen sich mit allen Mitteln, selbst unter Preisgabe der einfachen Treue, auf ihren Posten zu erhalten; die Angst, ihre Stellung zu verlieren, wird nach und nach der einzige Erklärungsgrund ihrer Handlungen.« 1 8 Der Marxismus werde nur als ärgerlicher Irrtum abgetan, jeder präzise theoretische Standpunkt sei verhaßter als dem Bürgertum. Die dem entsprechenden kulturellen Strömungen schienen »alle bestimmten Begriffe und Ansichten zu verwirren, aufzulösen, in Frage zu stellen, kurz, zu diskreditieren, und alles mit der gleichen grauen Farbe des Relativismus, Historismus, Soziologismus anzuschmieren.« 1 9 Die sozialdemokratischen Ideologen seien Nachfahren des bürgerlichen Positivismus insofern, als sie gegen die Theorie und für Anerkennung von Tatsachen seien. Sie gingen aber noch darüber hinaus indem sie auch noch die Erkenntnis von Tatsachen relativierten und das Relativieren überhaupt absolut setzten. Das Resultat sei ein praxisferner Schematismus: »Die Prinzipien dieser späten demokratischen Philosophie sind selbst noch ebenso starr wie die ihrer Vorgänger, aber dabei so abstrakt, und zerbrechlich, daß ihre Autoren eine unglückliche Liebe zum >Konkreten< gefaßt haben, das sich doch nur dem aus der Praxis entspringenden Interesse erschließt. Das Konkrete ist
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ihnen der Stoff, mit dem sie ihre Schematismen füllen, er wird bei ihnen nicht durch die bewußte Parteinahme im geschichtlichen Kampf, über dem sie vielmehr zu schweben glauben, organisiert.« 2 0 Die Sozialdemokraten hätten so stets viel zu viel Gründe, die Kommunisten zu wenig. Die einen lieferten eine Vielfalt der Gesichtspunkte, die anderen beriefen sich statt auf Gründe auf Autorität. Die Konsequenz, zwischen beiden einen dritten Weg zu w ä h l e n , zieht Horkheimer hier noch nicht. Vielmehr sieht er in der Gesamtbewegung der Arbeiterklasse die einzige Hoffnung: »In beiden Parteien existiert ein Teil der Kräfte, von denen die Zukunft der Menschheit abhängt.« 2 1 Und er spricht auch aus, wo er diesen Fortschritt sich vollziehen sieht - in der Sowjetunion: »Im Jahre 1930 wirft die Stellung zu Rußland Licht auf die Denkart der Menschen. Es ist höchst problematisch, wie dort die Dinge liegen. Ich mache mich nicht anheischig zu wissen, wohin das Land steuert; zweifellos gibt es viel Elend. Aber wer unter den Gebildeten v o m Hauch der Anstrengung nichts verspürt und sich leichtsinnig überhebt, wer sich in diesem Punkt der Notwendigkeit zu denken entzieht, ist ein armseliger Kamerad, dessen Gesellschaft keinen Gewinn bringt. Wer Augen für die sinnlose, keineswegs durch technische Ohnmacht zu erklärende Ungerechtigkeit der imperialistischen Welt besitzt, wird die Ereignisse in Rußland als den fortgesetzten, schmerzlichen Versuch betrachten, diese furchtbare gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu überwinden, oder er wird wenigstens klopfenden Herzens fragen, ob dieser Versuch noch andauere. Wenn der Schein dagegen spräche, klammert er sich an die Hoffnung wie ein Krebskranker an die fragwürdige Nachricht, daß das Mittel gegen seine Krankheit wahrscheinlich gefunden sei.« 2 2 1933 ist dies bereits eine abgeschlossene Angelegenheit. Rückschauend erscheint den Vertretern der Frankfurter Schule die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht zur Veränderung, sondern zur Erstarrung zu tendieren. Von einem gesellschaftlichen Subjekt, einer Arbeiterbewegung ist keine Rede mehr. Nicht eine die treibenden Widersprüche in Gesellschaft und Ideologie analysierende Aufklärung scheint adäquat die Gesellschaft zu erfassen, sondern die Beschreibung des Zerfalls von Aufklärung. Es gilt aus dieser Perspektive nicht die Revolution zu deuten, ihre Voraussetzungen zu analysieren, sondern nur die Konterrevolution. Eine andere Bewegung gab es aus dieser Sicht nicht. Bewußt bleibt dabei, daß Philosophie selbst, Vernunft, in Frage gestellt wird, wenn die Frage nach der vernünftigen Gestaltung der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Aus der Epoche des Übergangs wird so eine Epoche versteinerter, autoritärer, entfremdeter Verhältnisse, die in Faschismus, realem Sozialismus und amerikanischem Monopolkapitalismus drei Varianten finden - eine Verkürzung, die ihre Vereinbarkeit mit dem Kalten Krieg rasch unter Beweis stellte. Zwischen kapitalistischer Gesellschaft und Faschismus allerdings sahen Hork-
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heimer, A d o r n o und die anderen Vertreter der ersten Generation der Schule einen klaren Zusammenhang. Das unterscheidet sie von ihren Nachfolgern. Horkheimer formulierte dies in dem berühmten Satz: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« 2 3 Die Befolgung dieser Maxime wäre geeignet, über die Grenzen und damit die Alternativen der jetzt herrschenden Gesellschaftsordnung nachzudenken. Eben deswegen sollte sie beharrlich befolgt werden.
A nmerkungen 1 Lion Feuchtwanger: Nachwort des Autors 1939: In: ders., Exil, Berlin 1976, S. 787. 2
Ebenda.
3 Ebenda, S. 788. 4 Ebenda, S. 788 f. 5 Ebenda, S. 791. 6 Vgl. Paul Kluke: Geschichte der Stiftungsuniversität Frankfurt am Main, S. 488. 7
Max Horkheimer: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland; Frankfurt/M 1974, S. 224.
8 Ebenda, S. 225. 9 Ebenda, S. 252. 10
Ebenda.
11 Ebenda, S. 253. 12
Ebenda.
13 Ebenda, S. 270. 14 Ebenda, S. 282. 15 Ebenda, S. 282 f. 16 Ebenda, S. 283. 17
Ebenda.
18 Ebenda, S. 285. 19
Ebenda.
20
Ebenda.
21
Ebenda, S. 286.
22
Ebenda, S. 296.
23
Max Horkheimer: Die Juden und Europa. In: Zeitschrift für Sozialforschung. Jahrgang VIII 1939-1940. (Reprint) München 1970, S. 115.
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Leviathan oder Behemoth? Spezifik und Widersprüchlichkeit des nazistischen Führerprinzips
Der Ruf nach dem »Führerstaat« war vor 1933 nicht auf die N S D A P beschränkt. Er hatte gegen Ende der 20er Jahre weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft der Weimarer Republik erfaßt. Der Zentrumspolitiker Ludwig Kaas rief auf dem Katholikentag 1929 in Freiburg nach dem »begnadeten Führer«, der zum »entschlossenen Griff« auf die Staatsmacht ausholen sollte. 1 Derartige Beispiele lassen sich aus zahlreichen Sektoren des politischen und ideologischen Spektrums der Weimarer Republik anführen. Fast alle bürgerlichen Gegner der parlamentarisch-republikanischen Herrschaftsform unterstellten der deutschen Volksseele eine »tiefe Sehnsucht nach Führern«. D o c h ihre Rufe nach dem »Führer« verstanden unter dem »Führertum« keineswegs dasselbe. Gegenstand meines Beitrages ist der Versuch, die Spezifik des nazistischen Führerprinzips gegenüber anderen Varianten zu bestimmen. 2 Dabei beschränke ich mich aus Platzgründen auf die organisatorischen Aspekte, die Besonderheiten von Führerkult und Führermythos in der Naziideologie und deren Wirkungen müssen einer gesonderten Darstellung vorbehalten bleiben. 3 Die Debatten der ersten Jahre der Nazidiktatur zwischen faschistischen und rechtskonservativen Juristen, die einen »totalen Staat« einrichten wollten, und Protagonisten eines unbeschränkten »Führerabsolutismus« sind bis heute nur wenig aufgearbeitet. Sie lassen erkennen, daß auch die Protagonisten des Führerprinzips 1933/34 keineswegs wußten, wie sich dieses Prinzip im Staatsaufbaus tatsächlich gestalten sollte. Sie zeugen aber auch davon, daß selbst den faschistischen Juristen, die das Führerprinzip kodifizieren wollten, nicht jene unumschränkte, an keine staatlichen Normative gebundene Diktatur eines »Führers« vorschwebte, wie sie dann praktisch durchgesetzt wurde und später von liberalen und anderen Kritikern als »Totalitarismus« verkannt worden ist. In nicht wenigen Arbeiten der letzten beiden Jahrzehnte über die »Polykratie« der faschistischen Diktatur, über Hitler als starken oder schwachen Diktator werden Spezifik und Widersprüchlichkeit des nazistischen Führerprinzips gerade nicht zugrundegelegt 4 , während die Verfechter der Totalitarismusauffassung wie immer Totalität mit despotischer Partikularität verwechseln. Die im Führerprinzip hypertrophierte Subjektivität setzte sich zwar absolut, blieb aber nichtsdestotrotz Partikularität.
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Leviathan oder Behemoth?
Das nazistische Führerprinzip trägt zweifach Doppelcharakter. Es ist erstens ein antidemokratisches Organisationsprinzip, das innerhalb der N S D A P und aller mit ihr verbundenen Organisationen und ab 1933 im faschistischen Staat durchgesetzt wurde. Außerdem bildet es einen entscheidenden Bestandteil der Naziideologie, der die Wirksamkeit ihrer anderen Elemente determiniert und kanalisiert. Der organisatorische und der ideologische Aspekt sind zwar analytisch trennbar, in der Praxis aber verschmolzen, denn als Organisationsprinzip verwirklicht das Führerprinzip Grundforderungen der Naziideologie, und umgekehrt, als Führerkult und Führermythos hat es unmittelbar organisierende Konsequenzen. 5 Zweitens ist beim Führerprinzip zu unterscheiden, ob es sich auf die Führer aller Ebenen oder auf Hitler bezieht. Erst beide Momente zusammen konstituieren das Prinzip, doch geraten sie auch in Konflikt miteinander, wie im dritten Abschnitt gezeigt wird. Es macht hinsichtlich der Tragfähigkeit und Wirksamkeit einen wesentlichen Unterschied, ob dieses Organisationsprinzip durchgängig auf alle Führungspositionen aller Ebenen der Gesellschaft bezogen wird oder ob von Hitler als alleiniger Ausnahme die Rede ist. Seine entscheidende Wirkung gewann das Führerprinzip nur durch seinen Bezug auf Hitler, sowohl organisatorisch als auch ideologisch, für die anderen ihm untergeordneten Führer gilt es nur als abgeleitet, bestimmte Elemente des Prinzips gelten ausschließlich nur für Hitler.
Quellen
und Elemente
des nazistischen
Führerprinzips
In allen vor 1933 ausgeprägten Varianten bildet das Führerprinzip eine antiparlamentarische, antidemokratische Organisationsalternative, die auf der permanenten Entmündigung der »Geführten« beruht. Im nazistischen Führerprinzip sind mehrere, aus separaten Quellen stammende Elemente miteinander verschmolzen, vor allem die Prinzipien ungeteilter und bedingungsloser Autorität, militärischer Kommandogewalt, persönlicher Führung anstelle überpersönlicher Regulative, kultischer Gemeinschaftsstiftung (»Bünde«) und religiöser Glaubensführung Von diesen Quellen wurden bestimmte Elemente vollständig oder selektiv in das nazistische Führerprinzip übernommen. D o c h es ist nicht darauf zu reduzieren, seine Besonderheit ergibt sich aus der Art der Verschmelzung. Daher sei zunächst ein Blick auf einige dieser Quellen geworfen, aus denen selektiv geschöpft wird: 1. Das Prinzip militärischer Unterordnung und Kommandogewalt fand gleich mehrfach Eingang in die Praxis des nazistischen Führerprinzips: - Als Prinzip strikter militärischer Unter-/Überordnung wurde es durchgängig auf möglichst alle gesellschaftlichen Beziehungen übertragen.
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- Als Prinzip der Einsetzung aller Kommandogewalt allein von oben und striktem Ausschluß jeglicher Wahl von Führern oder Repräsentanten führten es die Nazis bis zu jenem Extrem, alle Führungspositionen ausschließlich vom »Führer« besetzen zu lassen. - Als Prinzip der alleinigen Entscheidung durch Einzelpersonen und dem formellem Ausschluß jedweder kollektiven Entscheidung war selbst jede Institutionalisierung der Beratung des »Führers« formell faktisch, aber nicht ausgeschlossen. - Befehl und Gehorsam als militärische Regulationsform gesellschaftlicher Kooperation wurde tendenziell auf alle Regulierungsformen gesellschaftlicher Beziehungen übertragen. - Die äußere Uniformierung der Gesellschaft als Moment ihrer Militarisierung schloß Ranggliederung und Pseudo-Egalisierung gleichzeitig ein: Gesellschaftliche Kooperation stellte sich äußerlich als hierarchisch gegliedert dar. Zugleich symbolisierte die Uniform sozialdemagogisch Gleichheit. Solche Uniformierung setzte der Selbstdarstellung des Reichtums, z.B. durch Kleidung, Grenzen. Ihr ziviles Pendent war die Betonung »volkstümlichen Brauchtums« in der Tracht, z.B. auf NSDAP-Parteitagen. 2. Von völkischen Traditionen und solchen der bündischen deutschen Jugendbewegung übernahmen die Nazis die »Gemeinschaftsstiftung« durch einen »Führer«. Dieser galt als kultische Verkörperung der Gemeinschaft. Die in diesen Traditionen kultivierte romantische Kritik am entfesselten Kapitalismus schlug sich in der Sehnsucht nach persönlicher Bindung, persönlicher Führung, persönlicher Unterordnung und persönlicher Verehrung nieder. Die persönliche Bindung an einen »Führer« galt als höherwertig denn die Bindung an Verfassungsrechte und als die Abhängigkeit vom Gelde. Die vom Kapitalismus durchgesetzte nackte Zahlung als einzige menschliche Bindung sollte rückgängig gemacht werden. D o c h nach der kapitalistischen Auflösung der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse war eine unmittelbare Rückkehr zu ihnen nicht mehr möglich, die Grundlage war beseitigt. Die durch das Führerprinzip gesetzte Despotie als Strukturprinzip ist ebenso pseudo-archaisch wie pseudo-patriarchalisch. Um die Differenz der bündischen, kultisch-personalen Führerbindung zur nazistischen Vorstellung zu verdeutlichen, sei hier zunächst das bündische Selbstverständnis des Führerprinzips zitiert: »Beide Begriffe - Führer und Gefolgschaft - waren in der Bündischen Jugend zentrale Momente der Gruppenstruktur. Bei der Auswahl eines bündischen Führers fanden formaldemokratische Regeln keine Anwendung. Die Legitimation zur Ausübung der Führerposition lag in der momentanen Mehrheitsmeinung der Gruppenmitglieder, deren Gefolgschaft freiwillig war. Da der Füh-
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rer wie die anderen Gruppenmitglieder der gemeinsamen Werteordnung des Bundes verpflichtet war und zudem als >idealer Hüter< dieser Werte galt, hatte sein Amt weder militärähnliche Ausprägung noch war er Vorgesetzter, der beliebig über seine Gefolgschaft verfugen konnte. Im Gegenteil, er mußte sich ständig neu qualifizieren und unterlag so einer permanenten Gruppenkontrolle, die ihm in Streitfragen oder bei Vertrauensmißbrauch jederzeit die Führerposition wieder aberkennen konnte.« 6 Es soll hier nicht Aufgabe sein, dieses idealisiert gezeichnete Selbstbild zu kritisieren. Für unseren Zusammenhang ist allein die Abgrenzung der bündischen von der Hitlerjugend relevant, die Divergenz ihres Führerprinzips wird überscharf akzentuiert, soweit es sich auf die HJ-Führer bezieht, nicht aber auf Hitler. Diese waren im Gegensatz zu bündischen Jugendführern ausschließlich von oben eingesetzt und weisungsgebunden. Die bündische Vorstellung war den Nazis viel zu demokratisch. Im nazistischen Führerprinzip werden die Funktionen des Befehlshabers und des Gemeinschaftsstifters verschmolzen. Die in bündischen Quellen wirksame Bindung des Führers an bestimmte Normen der Gemeinschaft wird ebenso einseitig aufgehoben wie die Bindung des Kommandeurs an die Normen der Gesetzlichkeit: »Der Führerwille steht über dem Gesetz« lautet die Formel der Uberhebung, gegenüber der Gesetzlichkeit als Normativ des formalen Staatsaufbaus. Die persönliche Bindung an den Führer stehe über jeglicher Staatsordnung, jede Rück-Bindung des »Führers« an die Gruppe der Geführten, an ihre Ziele, Ideale, Normen, Gesetze und Strukturen wird strikt zurückgewiesen. Die von der Naziideologie mystifizierte Treuepflicht wurde ihrer Gegenseitigkeit entkleidet. Die Gefolgschaft ist zur unverbrüchlichen Treue verpflichtet, doch sie bindet den Führer nicht. Im Unterschied zu völkischen oder bündischen Idealen war im nazistischen Gemeinschaftsideal nicht nur Unterordnung unter den Führer und Opferwilligkeit gefordert, sondern die Selbstpreisgabe der Persönlichkeit. Daran ändert die sozialdarwinistische Konnotation von Persönlichkeit mit Leistung nichts, wird doch das Geltendmachen eigener Bedürfnisse der Geführten als Eigennutz und Sabotage verfemt. Die Betonung der Idee der Persönlichkeit aber zielt allein auf das Führerprinzip. Vollends absurd wird das Gemeinschaftsideal in der Idee der gezüchteten Persönlichkeit. Die Unfähigkeit der Nazis, den für sie unhintergehbaren Antagonismus zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum anders zu lösen als durch Auslöschung der Individualität gipfelt in der Losung: »Du bist nichts, dein Volk ist alles« und in der ärztlich vorgetragenen Forderung »Entweder Leistungsfähigkeit oder natürliche Ausmerze«. D o c h die Denunziation der Individualität und des Eigennutzes konnte den vorausgesetzten Individualismus der faschistischen Moral nicht aufheben.
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3. Der oberste Führer sollte als Befehlshaber und Gemeinschaftsstifter auch Glaubensführer sein, seine Führerschaft eine sinnstiftende Glaubensbeziehung schaffen. Wurde der Inhalt des Führerwillens der Gesetzlichkeit, also jeder legalen Bindung und Kontrolle entzogen, so im Führermythos auch noch der Einsichtsmöglichkeit. Dazu mußte der Führer deifiziert werden. Als »Gottes Werkzeug« ist er Ausführungsorgan einer ihn transzendierenden Macht, verfügt er über übernatürliche Kräfte. Daher wird von ihm mehr erwartet als ein Mensch leisten kann. Denn nur als Erwählter der »Vorsehung« ist der Führer auch der Erwählte des Volkes. Die Vergöttlichung machte aus Hitler nicht mehr nur den Verkünder, sondern den Messias selbst. Sprachlich wurde diese Deifizierung vor allem von Goebbels vorangetrieben, der vorgab »Wir fühlen ihn in uns und um uns«. 7 Rituell wurde sie alltäglich praktiziert: Zahlreiche Momente des Führerkultes, vom Gruß über den Heilsruf bis zur Anrufung der Vorsehung, von der Heilserwartung bis zur Erlösungsgewißheit, forderten und suggerieren eine gläubige Hingabebereitschaft. Die manipulative Praxis des Führermythos änderte nichts daran, daß in der Realität der Glauben an das »Wunder des Führers« wirksam war. Die Art und Weise, wie Hitler zum »Führer« gemacht wurde, die technische Manipulation eines unterstellten Charismas, hoben die Tatsache und die Wirkungsweise des Führermythos nicht auf Der Einsatz eines Konglomerats von Wahn, Glaube und demagogischer Technik wurde in der Massenpropaganda so zielstrebig manipuliert, wie subjektiv angeeignet und praktiziert. Die Kenntnis und erst recht die Verbreitung der Wahrheit konnte die Wirkung des Führermythos abschwächen, änderten aber nichts an seiner Funktionsweise. Denn die sozialpsychologischen Voraussetzungen des Führerglauben waren durch Aufklärung allein nicht zu beseitigen. Die Deifizierung Hitlers leistete, was kein anderes Element des Führerprinzips zu leisten vermochte: »Führung« wurde unbegreiflich, jeder Einsicht entzogen. 8 Mit dem Ausschluß des Begreifens ist der Ausschluß des Werdens verbunden. Folglich ist »Führer« eine Qualität, die man weder durch Bildung noch durch Entwicklung erwerben kann. So schließt das Führerprinzip nicht nur die Kontrolle der Handlungen und Entschlüsse des »Führers« aus, dieser kann als solcher auch nicht abgesetzt werden.9
Antidemokratisches
Organisationsmodell
aktiver
Entmündigung
In »Mein Kampf« nannte Hitler das Führerprinzip noch das Persönlichkeitsprinzip und setzte es dem Prinzip der Majoritätsentscheidungen entgegen: »Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben«. Wahlen und Abstimmun-
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gen sollten absolut ausgeschlossen sein: »Die Entscheidung trifft ein Mann«. Bereits in diesem Buch faßte Hitler die antidemokratische und antiparlamentarische Stoßrichtung des Führerprinzips zusammen: »die politische Leitung restlos vom parlamentarischen Prinzip der Majoritäts- also Massenbestimmung zu befreien, um an Stelle dessen das Recht der Person einwandfrei sicherzustellen ... die Verantwortung darf immer nur ein Träger besitzen und mithin auch nur dieser allein die Autorität und das Recht der Befehls.« 10 Stets bezeichnete ein derartiges Führerprinzip eine ausschließliche Strukturierung von oben nach unten, den Ausschluß demokratischer Selbstbestimmung auf allen Ebenen und die permanente Entmündigung der Geführten. Die zitierten Forderungen Hitlers bezeichneten aber noch nicht jene besondere Ausgestaltung des Prinzips, die es nach 1933/34 erfuhr. Während das konservative Verständnis des vorgestellten Autokratismus in der Regel das Führerprinzip an staatliche Normative binden und daher als ein von der Person des Führers unabhängiges unpersönliches Regulativ festlegen will, steht innerhalb der Naziideologie der Führer auch über dem Führerprinzip. Dieses ist daher weder mit konservativen Autoritätsvorstellungen vom starken Staat identisch noch zielt es auf durchgängigen Zentralismus. Im Verständnis der Naziideologie war ihr Führer keineswegs die Personifikation bürokratisch-zentralistischer Staatsstrukturen 1 1 , im Gegenteil, das Führerprinzip hatte gravierende antibürokratische und auch antizentralistische Implikationen. Merkmale wie Hierarchisierung, unbedingte Autorität, Ausschluß formeller Kontrolle und Mitbestimmung erfassen die Spezifik des Führerprinzips in N S D A P und Staat nicht hinreichend. Erst deren Verbindung mit der persönlichen gläubigen Bindung und unmittelbaren Unterordnung unter die Führer bezeichnen die Besonderheit. Fassen wir zusammen: 1) Dieses Prinzip ist antidemokratisch, antiliberal und antiparlamentarisch. Alle Entscheidungen werden grundsätzlich nur von oben nach unten und von einer Einzelperson gefällt. Wahlen und Abstimmungen sind strikt ausgeschlossen, formal auch kollektive Beratung. Die grundsätzliche Personalisierung der Entscheidungsbefugnisse ersetzt alle gesetzlichen, formalen und auch bürokratischen Regulierungen. 2) Das Prinzip schließt jeden Zweifel, jede Kritik und jede Kontrolle beliebiger Einzelentscheidungen der Führer durch die Geführten aus. Alle formalen und gesetzlichen Schutzrechte gegen diesen entfallen ebenso wie Mitbestimmungsund Mitentscheidungsrechte. 3) Von den Geführten ist bedingungslose Anerkennung beliebiger Führerentscheidungen gefordert, sie sollen diesen blind und gläubig vertrauen: »Führer befiehl - wir folgen«. Es geht nicht allein um formalisierte Disziplin, sondern um bedin-
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gungslose persönliche Unterordnung. Selbst Pflichterfüllung als bedingungsloser Gehorsam reicht nicht aus, gefordert wird eigene Aktivität als Gefolgschaft und absolute Hingabebereitschaft. 4) Das Prinzip statuiert Willkür und Despotie, weil mit der Personalisierung von Entscheidungsbefugnissen eine strikte Entbindung von den Normen jeglicher Observanz einhergeht. Mit Ausnahme der persönlichen Bindung an den nächsthöheren und an den obersten Führer sind alle unpersönlichen Normative aufgehoben. 5) Die Spezifik des nazistischen Führerprinzips besteht also in der Verknüpfung uneingeschränkter Machtfülle des Führers mit einem persönlichen Abhängigkeits-, Treue- und Gefolgschaftsverhältnis der Geführten. Dies war nicht darum zwangsläufig ein hierarchisches Verhältnis, weil Hitler an der Spitze stand, sondern die persönliche Unmittelbarkeit des Gefolgschaftsverhältnisses zum »Führer« stand über oder sogar außerhalb der hierarchischen Organisationen. 6) Die persönliche Bindung an den Führer sollte blind-gefühlsmäßig sein, rationaler Kontrolle und Einsicht entzogen. Daher kam das nazistische Führerprinzip nicht ohne Führerkult und Führermythos aus, die über die kultische Bindung hinausgehend noch die Funktion religiöser Sinngebung zu erfüllen hatten. Auf der Basis des auf Hitler bezogenen Führermythos wurde daher dessen Vergöttlichung inszeniert, die Volksgemeinschaft als Gemüts- und Glaubensverhältnis und ihr Führer als Kultobjekt des Vertrauens, der Liebe und des Gehorsams dargestellt, der sich jeglicher Beurteilung entzieht. Erst im tatsächlichen Glauben der Massen an die übernatürlichen Kräfte des »Führers« erfüllte sich der Führermythos. Damit allerdings ein Schmierenkomödiant wie Hitler nicht nur als charismatischer Führer inszeniert, sondern auch massenhaft erlebt werden konnte, bedurfte es auf Seiten der Erlebenden bestimmter sozialer wie psychologischer Voraussetzungen, damit sie sich entgegen dem Augenschein, entgegen dem Verstand einem Wahn anvertrauten, der diese Bestätigung des Glaubens sinnlich vergegenwärtigte. Die Forderung gläubigen Gehorsams erscheint so doppelt notwendig, subjektiv als beschwerliche Last, die mit der Weihe des Opfers und der Pflichterfüllung vernebelt wird, objektiv als Zwangsmittel terroristischer Gewalt.
Führer
kontra
Führerprinzip
Das Führerprinzip galt grundsätzlich auf allen Ebenen gesellschaftlicher Organisation. Da es somit als Prinzip unpersönlicher Natur war, führten manche Naziideologen erbitterte Polemiken, um die Person Hitler nicht im allgemeinen »Führergedan-
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ken« bzw. einer Führer-Inflation aufgehen zu lassen: »Verallgemeinern kann man nur etwas, was allgemein vorhanden ist. Da der Führer eine einmalige Erscheinung ist, kann man mithin aus ihm keinen allgemeinen Gedanken ableiten«, ereiferte sich ein Herbert Krüger 1935. 1 2 »Der Führer ist aber nicht nur Einzel-, sondern auch Ausnahmeerscheinung ... Denn seine Eigenschaften, insbesondere seine Begnadung, sind an anderen Menschen nicht einmal denkbar, geschweige denn in einer beliebigen Anzahl von Fällen zu erschaffen. Er ist daher nicht der erste und einzige Fall einer immerhin denkbaren Gattung, sondern er kann als Gattungswesen nicht einmal gedacht werden. Der Führer gehört weder einer vorhandenen noch einer anzunehmenden, sondern überhaupt keiner Gattung an: Er ist einzigartig.« 1 3 Krüger wandte sich daher verbissen gegen jegliches Führerprinzip: »Ist aber der Führer einmalig und einzigartig, so kann er nicht zur Regel werden, kann der Führer nicht zum Führergedanken werden ... Gerade das, was am Führer einmalig und einzigartig ist, die Begnadung, kann der Mensch nicht geben, sondern nur eine übermenschliche Kraft verleihen. Der Führer läßt sich also nicht machen; er ist von einer höheren Instanz den Menschen gegeben. ... Sondern der Führer ist vor allem Führergedanken und allem Führerprinzip da, und nicht die Gefolgschaft wählt den Führer zur Verwirklichung des Führergedankens, sondern der Führer ergreift die Gefolgschaft.« 1 4 Nun konnten alle noch so fanatischen Verbalanstrengungen nicht an der Tatsache des durchgängigen Führerprinzips vorbeigehen. Obwohl Krüger auch auf der Priorität des Führers vor dem »Führergedanken« beharrte, mußte er doch letzteren »als formales Prinzip« zulassen. Andere Naziideologen wie Hans Bernhard Brauße sprachen vom »Führungsaufbau« und einer »Führerordnung«. Durch die Gliederung in klare Verantwortungsbereiche schaffe die Führungsordnung »Raum zu selbständiger Führerschaft«. 1 5 Hier war allerdings der Wunsch Vater des Gedankens, denn Hitlers Verständnis vom Führerprinzip wollte diesem nicht einmal durch eine klare Gliederung von Verantwortungsbereichen Schranken setzen. Vor allem in den ersten Jahren der Nazidiktatur gab es nicht wenige Versuche, die praktische Ausgestaltung des Führerprinzips durch Lösungsvorschläge zu kanalisieren. 1 6 Dabei mußten die widersprüchlichen Wirkungen des Führerprinzips für die staatliche Verwaltung insgesamt und für die Justiz im besonderen zwangsläufig zur Sprache kommen, auch wenn diese Sprache eine juristische Sklavensprache war. Verfassungsrechtler und Verwaltungsjuristen versuchten, das Führerprinzip verwaltungsrechtlich so zu fassen, daß der »Führer« an Normativität, Legalität und Formalität staatlicher Verwaltung gebunden bliebe. Diese Bemühungen wurden mit der These von der Absolutheit der Führergewalt zurückgewiesen. Diese Position formulierte der Verfassungsrechtler Ernst Rudolf Huber 1939 so: »Die Führergewalt ist
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umfassend und total; sie vereinigt in sich alle Mittel der politischen Gestaltung; ... sie ist frei und unabhängig, ausschließlich und unbeschränkt«. Er verneinte, daß es für die allumfassende Führergewalt irgendwelche »Zuständigkeitslücken« gebe. 1 7 Ohne diese Absolutheit selbst in Frage zu stellen, versuchten nazistische wie konservative Juristen, die sich der theoretischen Grundlegung der Rechtslehre des Naziregimes widmeten, dieses Prinzip wenigstens allgemein und fbrmalisierbar zu fassen. Aber als Juristen konnten sie dies, wie Rüthers schreibt, nur mit ihrem professionellem Handwerkszeug tun, also einem »Denken in Normen, die auf Dauer und Verläßlichkeit staatlichen Handels gerichtet sind.« Daher ist kaum einer dieser Autoren von »dem Vorwurf verschont geblieben, selbst ein verabscheuungswürdiger >Normativist< zu sein. Das gilt neben O. Koellreuter und E.R Huber auch für Carl Schmitt«, obwohl gerade von ihnen die Polemik gegen den Rechtsstaat und seinen Normativismus ausgegangen war. 1 8 In Hitlers Aversion gegen die Juristen, die Nazijuristen eingeschlossen, trafen seine persönliche Marotte mit der Konsequenz des nazistischen Führerprinzips zusammen. Dieses Prinzip und eine juristische Festlegung von Normativen, an die auch das Handelns des Führers gebunden bliebe, schließen sich aus. »Reichsrechtsführer« Hans Frank formulierte daher den von Nazijuristen vielfach erörterten Satz: »Der Führer kann nicht hemmbar sein durch ihm allenfalls übergeordnete gesetzliche Normierungen«. 1 9 Krügers Priorität des Führers vor dem Führerprinzip gilt für ideologische wie organisatorische Aspekte. Das durchgängige Führerprinzip wird als nur abgeleitetes bestimmt, in seiner Ursprünglichkeit ist es allein auf Hitler bezogen. Die Abkopplung von allen gesetzlichen, formalen und persönlichen Bindungen bezog sich in voller Konsequenz nur auf Hitler, die Deifizierung ebenfalls. Der Führermythos wurde - ungeachtet aller Verherrlichung des Führerprinzips insgesamt - ausschließlich auf Hitler bezogen. Dessen tatsächliche Kompetenzen faßte Franz Neumann 1942 so zusammen: »Adolf Hitler ist der oberste Führer. Er vereinigt in sich die Funktionen des obersten Gesetzgebers, des obersten Regierenden und des obersten Richters. Er ist der Führer der Partei, der Wehrmacht und des Volkes. In seiner Person ist die Macht des Staates, des Volkes und der Bewegung vereint ... Dieser Mann ist Führer auf Lebenszeit, wenngleich niemand weiß, wovon sich seine Verfassungsrechte herleiten. Er ist von allen Institutionen unabhängig, so daß er den nach Artikel 42 der Verfassung erforderlichen Verfassungseid nicht zu leisten brauchte (und auch nicht leistete). Er kann nicht durch ein Volksbegehren abgesetzt werden, wie das Artikel 43 vorsieht. Er verwaltet die drei Ämter des Präsidenten, des Kanzlers und des Parteiführers nicht, sondern benutzt sie lediglich dazu, seine Macht zu demonstrieren. Die Reichsregierung ist keine Regierung; die 15 Minister sind nur dem Führer verantwortlich. Sie
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sind einzig und allein Verwaltungschefs, die von ihm nach Belieben ernannt und entlassen werden können. Kabinettsitzungen brauchen daher nicht einberufen zu werden und finden tatsächlich auch nur sehr selten statt, so daß der Führer als alleiniger Gesetzgeber übrig bleibt. Regierungsgesetze, die auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes von 1933 erlassen werden, sind keine Gesetze durch die Regierung
sondern Gesetze des Führers .... Dasselbe gilt für Plebiszite und vom
Reichstag erlassene Gesetze. Recht ist, was der Führer will, die Gesetzgebung ist Ausfluß seiner Macht. Ähnlich verkörpert er die administrative Gewalt, die in seinem Namen ausgeübt wird. Er ist Oberbefehlshaber der Wehrmacht ... und ... oberster und unfehlbarer Richter. Seine Macht ist gesetzlich und verfassungsmäßig unbeschränkt; sie entzieht sich jeder Beschreibung. Ein Begriff, der keine Begrenzung hat, kann rational nicht definiert werden.« 2 0 Das Ermächtigungsgesetz von 1933 hatte Hitler das Gesetzgebungsrecht ausgeliefert, er war selbst zu Verfassungsänderungen befugt. Hitler war die alleinige Rechtsquelle und erhielt das Recht unbeschränkter Gesetzgebung. D o c h es ist nicht präzise, mit den Naziideologen zu sagen: »Der Wille des Führers ist oberstes Gesetz«. Denn erstens war der Wille des Führers Gesetz nur für die Gefolgschaft, er selbst stand über dem Gesetz. Zweitens bot das nazistische Führerprinzip den Ansatz, im »autoritären Führerstaat« die Gesetzlichkeit tendenziell überhaupt abzuschaffen. Der »Führerbefehl verdrängte und ersetzte sukzessive das Gesetz: »Gesetz ist heute Akt der Führung«, schrieb Reinhard Höhn 1934. 2 1 Umgekehrt erhalten alle Unterführer ihre Legitimation als Führer ausschließlich von ihm. Zutreffend schrieb Majer: »Der Glanz des Führerprinzips strahlte auf jeden Inhaber einer Führungsposition aus und war die Ursache dafür, daß gerade die Führungskräfte eine besondere Stütze des Regimes waren, da sie von ihm persönlich und beruflich profitierten. Das Machtstreben jedes Inhabers einer Führungsposition war nicht mehr allein beruflicher Ehrgeiz, sondern legitimer Ausdruck sog. Führungseigenschaften. Führer war, wer die Macht »ergriff«. 2 2
Totaler
Staat
oder Führerabsolutismus?
In der Praxis erfolgte die Durchsetzung des Führerprinzips ungleichmäßig und führte zwangsläufig zu widersprüchlichen Wirkungen. In der Nazipropaganda zunächst hinter Forderungen nach Staatsautorität, Verantwortung, Persönlichkeit und Entscheidung versteckt, traten seine Widersprüche im Maße der Entfaltung und Durchsetzung um so krasser hervor. Mit seinen praktisch entfalteten Widersprüchen lagen aber auch die tatsächliche Tragweite und die Gefährlichkeit dieses Prinzips offen
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zutage. Diese Probleme wurden, angefangen von der antifaschistische Forschung im Exil, seither auch in der historischen Literatur behandelt. Ernst Frankel entwickelte einen Kritikansatz, der den Organisationsaufbau des Naziregimes als strukturellen Dualismus darzustellt: Einerseits den durch Führerprinzip und dezisionistischen Charakter bestimmten sog. Maßnahmenstaat, andererseits den partiell weiterwirkenden tradiierten sog. Normenstaat. Frankels »Doppelstaat«, in Deutschland bis 1937 geschrieben, erschien nach seiner Emigration 1941 in den USA und gilt als Standardliteratur. Dieser Dualismus wurde von vielen Autoren übernommen, ohne daß Frankels Ansatz originär fortgeführt wurde. 23 Franz Neumann unterschied in seiner bis heute grundlegend gebliebenen Analyse des Naziregimes von 1942 zwischen dem Leviathan und dem Behemoth als bürgerlichen Staatstypen, wobei der Leviathan den staatlichen Absolutismus symbolisierte und der Behemoth den Nazistaat als Unstaat. 2 4 Der Absolutheitsanspruch des nazistischen Führerprinzips drückte sich in mehreren Momenten aus: Jede rechtliche Eingrenzung wurde geleugnet, jede Mitbestimmung war ausgeschlossen, eine Beteiligung des Volkes nur als nachträgliche Akklamation möglich. Wenn der Führer zum alleinigen Ursprung allen Rechts erklärt, wenn jede rechtliche und materiale Einschränkung seiner Gewalt ausgeschlossen wurde, so war zugleich die Beliebigkeit der Mittel gesetzt, die ihm erlaubt waren. Diese unbeschränkte Despotie ließ den Führer nicht als Interessenvertreter des Volkes oder gar als Repräsentanten seines Willens gelten. Vielmehr hatte das Volk überhaupt keinen originär eigenen Ausdruck, sondern der Führer galt als ursprünglicher, allein möglicher und legitimer Ausdruck des Volkes. Diesem Ansatz nach ist die Entmündigung nicht mehr überbietbar. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß dieses Führerprinzip eine Hypertrophie des Subjektivismus, der Willkür und des Despotismus darstellt. Die durch dieses Prinzip übertragene Machtkonzentration ist nicht Hitler als originäre Kraft und Leistung zuzuschreiben, sondern eine Funktion des Prinzips. Hitler ist nicht der Ursprung und der Schöpfer des Prinzips, sondern Teil und auch Geschöpf seiner Praxis. Der »Führer« steht weder außerhalb noch souverän über jenem Herrschaftszusammenhang, der hier konstituiert wird. Das Führerprinzip lieferte nicht in erster Linie ideologische Rechtfertigungsmuster 2 5 , sondern vor allem praktische Regulierungsmuster. Es kann daher in dieser Funktion nicht begriffen werden, wenn es nicht als Prinzip politischer Bevollmächtigung zu terroristischer Gewalt verstanden wird. Erst seine praktische Funktion, eine Despotie des Bestialismus zu organisieren, erklärt die Hypertrophie des Subjektivismus. Und erst als durchgängiges Prinzip der Ermächtigung und Regulierung terroristischer Gewalt führte die Praxis dieses Prinzips dazu, daß hunderttausende Führer aller Ebenen persönlich Massenverbrechen befohlen und verübt haben.
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Das Führerprinzip wurde von den NSDAP-Führern selbst wie von jenen sie an die Macht schiebenden Kreise der herrschenden Klassen Deutschlands als Modell zur Bevollmächtigung und Regulierung terroristischer Gewalt für unerläßlich erachtet, um die Aufgaben zu lösen, die organisierte Arbeiterbewegung restlos zu zerschlagen und einen Krieg um die Weltvorherrschaft des deutschen Imperialismus vorzubereiten und zu führen. 2 6 Betrachtet man allein die Entscheidung Hitlers für die Radikalisierung des Hochrüstungskurses trotz der Zahlungsbilanzkrise, zu der die Aufrüstung geführt hatte, oder die Entscheidungen für den Einmarsch in die Tschechoslowakei und für den Überfall auf Polen, so ist bereits an diesen Fällen empirisch ersichtlich, daß nur jene im Führerprinzip statuierte subjektive Entscheidungsmacht der Abenteuerlichkeit dieses Kriegskurses Durchsetzungskraft geben konnte. Das Führerprinzip hatte in seiner Praxis zweifellos widersprüchliche Wirkungen, darunter auch kontraproduktive hinsichtlich der Ziele und der Effektivität der Staatsmacht. D o c h auch Wirkungen wie Nichtentscheidung und Vertagung von Prioritätensetzungen, Ämterchaos und interne Machtrivalitäten der Unterführern waren nicht nur persönlichen Eigenschaften Hitlers geschuldet, sondern zwangsläufige Folgen des subjektivistischen Prinzips. Nur wer das nazistische Führerprinzip mit einheitlicher autoritärer Staatsverwaltung gleichsetzt, wird deren Zerstörung nicht als seine Folge ansehen wollen. Deshalb führte seine Durchsetzung keineswegs zu einem »totalen Staat« als einheitlich normativ handelndem Staatsorganismus. Es entsprach durchaus Hitlers Implikationen, daß es faktisch ab 1938 keine Reichsregierung als kollektives Gremium mehr gab und seit Beginn des Krieges faktisch auch keinen Reichskanzler mehr, denn Hitler zog sich auf die Rolle des Feldherrn zurück. Deutlicher noch als in der Staatsverwaltung zeigten sich antibürokratischer Affekt und dezentrale Implikationen des Führerprinzips in der NSDAP. Die persönliche und unmittelbare Unterstellung ihrer Gauleiter unter Hitler führte dazu, daß deren Machtentfaltung auf regionaler Ebene entscheidend die Struktur dieser Partei bestimmte. 2 7 Die organisatorische Spitze dieser Partei kennzeichnete weder eine homogene Parteibürokratie noch ein einheitlicher und straffer Lenkungsmechanismus. Der Parteiapparat tendierte dazu, sich der Kontrolle und dem Zugriff der Parteispitze zu entziehen. »Die jeweilige Position wurde weniger durch das bekleidete Amt bestimmt als durch den Katalog persönlicher und systemimmanenter Qualitäten und Verdienste wie Unterordnung, Führerbindung, Härte, Durchsetzungskraft gegen Konkurrenten, Meriten aus der Kampfzeit etc.« Damit aber entsprach auch dieser vervielfachte regionale Subjektivismus durchaus dem Führerprinzip. Nur wer das nazistische Führerprinzip als Prinzip einheitlicher Regulierung mißversteht, wird über »Polykratie« erstaunt sein. 2 8 Denn »Polykratie« kann nur konstatieren, wer zuvor eine Art strukturelle Gleichartigkeit als »Totalität« unterstellt hat. Doch das
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Führerprinzip implizierte als Prinzip persönlicher Führung von vornherein, daß es auch unter den Gefolgsleuten des Führers keine Gleichheit geben könne, denn sie beziehen ihre Macht von ihm und er dosiert sie unterschiedlich. Martin Moll kam auf der Basis von Hitlers für die Kriegszeit erarbeiteten zivilen »Führererlasse« gegenüber der Polykratie-These zu dem Schluß: »Von einer mitunter behaupteten Verselbständigung einzelner Machtträger des Regimes kann in Anbetracht der eindeutigen Quellen überhaupt keine Rede sein.« 2 9 . Es ließen sich bei der Gruppe der einflußreichsten Paladine des Diktators weder zeitweilig noch partiell Anzeichen einer eigenständigen, den Hitlerschen Intentionen zuwiderlaufenden Politik erkennen. Selbst Göring habe zwar eine zuweilen eigenständige, aber nie eigenmächtige Politik betrieben. Konkurrenz und Machtgerangel aber widersprachen dem Führerprinzip nicht, sondern bestätigten nur, daß Hitler die Richtlinien der Politik bestimmte. Hitler wollte die zwangsläufig widersprüchlichen Wirkungen des subjektivistischen Führerprinzips gar nicht aufheben, noch konnte er die durch dieses Prinzip provozierte eigene Überlastung bewältigen. Der »Führer« als Institution blieb Person, er konnte schon rein physisch dem gesetzten Absolutismus nicht gerecht werden, von der geistigen und politischen Beschränktheit seiner Person abgesehen. Dennoch wäre es falsch, die Praxis des Führerprinzips gerade durch die von Hitler vorgenommene Rechtsetzungen zu unterschätzen. Gestützt auf seine Sammlung der zivilen »Führererlasse« im Kriege wendet sich Moll gegen die These der Auflösung des Normenstaates und resümiert: »Es zeigt sich, daß die Auflösung des Normenstaates - hier verstanden als ein auf gesatztem Recht beruhendes Gemeinwesen - auf dem verwaltungsrechtlichen Gebiet nicht so weit fortgeschritten war, daß schriftlich fixierte Rechtsetzungsakte, auch und gerade solche des Regierungschefs, überflüssig geworden wären ... Es ist ganz unübersehbar, daß der Krieg, konkret vor allem die Administration der eroberten Gebiete und die Steuerung der Kriegswirtschaft einen so gigantischen Regelungs- und Handlungsbedarf hervorriefen, daß dieser ohne schriftlich fixierte Anordnungen des Diktators gar nicht zu befriedigen war.« 3 0
Führergewalt: Substanzverlust
Faschistische des
Machtkonzentration
oder
Staates?
Die jüngeren Forschungen zum Führerprinzip als Organisationsprinzip im Staatsaufbau der faschistischen Diktatur, so von Diemut Majer, Martin Broszat, Wolfgang Benz und anderen, knüpften an Fränkel und Neumann an, griffen die Streitpunkte der Diskussionen über die »Polykratie der Ressorts« im Nazistaates auf, konzentrierten sich aber entscheidend auf die auflösenden Wirkungen des Führerprinzips für
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die Einheitlichkeit und Gesetzlichkeit der Staatsverwaltung, die sie als Erosion oder partielle Entstaatlichung fassen. Denn das nazistische Führerprinzip kollidierte nicht nur mit der Gesetzlichkeit, sondern auch mit der Allgemeinheit, Einheitlichkeit und Formalisierung staatlicher Verwaltung. Alle Kritiker, welche gegenüber dem Ideologem des »totalen Staates« die Spaltung, die tendenzielle Auflösung, die Polykratie der Ressorts, die Rolle von Sonderzuständigkeiten, Sonderrechten und Sonderverwaltungen hervorheben, verweisen auf den grundsätzlich antibürokratischen und dezisionistischen Charakter dieses Prinzips, das sich direkt oder indirekt gegen eine einheitliche Staatsverwaltung richtet. So spricht Martin Broszat davon, »daß die einheitliche politische Staatsidee des Nationalsozialismus, von dem die Befürworter des elitären Konzeps einer nationalsozialistischen Staatsbeamtenschaft ausgingen, eine durchaus unzutreffende Fiktion darstellte.«31 Eine der differenziertesten Analysen jener Veränderungen, die das nazistische Führerprinzip in bezug auf den Staat bedeutete, hat Wolfgang Benz vorgelegt. Anknüpfend an Neumanns »Behemoth« wird jener Prozeß als Erosion »dessen, was herkömmlicherweise als Staat im Sinne von regelhaft und einheitlich organisierter Herrschaftsgewalt verstanden wird«, vorgestellt. Benz nannte diesen Prozeß einen »beträchtlichen Substanzverlust geregelter Staatsorganisation« und unterschied folgende Elemente derartiger Erosion: a) Sonderverwaltungen als Hitler unmittelbar unterstellte Behörden, ohne daß die sachlich zuständigen Ministerien aufgelöst wurden (Generalbevollmächtigte für Arbeitseinsatz, Straßenwesen, Aufbau der Reichshauptstadt). b) Auch Kommissariate oder Pseudoministerien wie z.B. die Dienststelle für den Vierjahresplan, der Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums u.a. leiteten ihre Kompetenz allein oder entscheidend aus einem »Führerauftrag« ab und insistierten auf ihrer »Führerunmittelbarkeit«. c) Manche Ämter der N S D A P wie die Ribbentrops oder Rosenbergs konkurrierten nicht nur mit den zuständigen staatlichen Instanzen, sondern übten teilweise deren Funktionen aus. d) Massenorganisationen wie die Hitlerjugend oder der Reichsarbeitsdienst erhoben erfolgreich einen staatlichen Hoheitsanspruch. e) Halbstaatliche oder quasistaatliche Herrschaftsapparate oder Zwangskartelle wie die Reichskulturkammer erhielten ebenfalls staatliche Hoheitsrechte. 3 2 Zusammengefaßt: Benz diagnostiziert zwei gegenläufige, aber korrelative Prozesse: Einmal die Aushöhlung von Institutionen der Staatsgewalt als Kompetenzverminderung der klassischen Ressorts sowie als faktische Auflösung staatlicher Herrschaft, zweitens die Ausgliederung elementarer staatlicher Hoheitsbereiche und Funktionen aus der Zuständigkeit des Staates, die Privatisierung öffentlicher Gewalt, vor allem als
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sogenannte Führergewalt.33 Begründung und Vermittlung für beide Prozesse war das Führerprinzip. Die These von der Privatisierung der öffentlichen Gewalt in Gestalt der »Führergewalt« ist seit Buchheims Gutachten für das Frankfurter Gericht im Auschwitzprozeß 196434
unter vielen bürgerlichen Faschismusforschern Konsens geworden. Diese
Auffassung einer besonderen Führerexekutive wurde von marxistischen Historikern oft unbegründet abgelehnt bzw. als Sachverhalt geleugnet. O h n e den Kanon eines bürgerlichen Verfassungsstaates als alleiniges Muster staatlich organisierter Herrschaftsordnung verabsolutieren zu wollen, kann man aber an dem in Rede stehenden Sachverhalt nicht einfach vorbeigehen. Broszat wie Benz sprechen von einem »FührerAbsolutismus« und sehen ihn in der Verschmelzung von staatlicher Amtsgewalt und außernormativer Autorität gegeben. Beispiel solcher »Führergewalt« als privatisierte öffentliche Gewalt sind die SS als Sonderexekutive und ihr Verhältnis zur staatlichen Polizei und Hitlers Entscheidung zur Euthanasie und die Exekutive dieser Mordaktion. Ich halte beide Bezeichnungen - »Führergewalt« und »Privatisierung öffentlicher Gewalt« - für inadäquat, um diese fatalen Konsequenzen des Führerprinzips zu qualifizieren. Die von Benz genannten Kriterien Entbindung von den Normen positiven Rechts bzw. Entbindung von den vorstaatlichen Sittengesetzen bleiben dafür als begriffliche Kriterien unzureichend. Schließlich ist die Aufhebung verfassungsrechtlicher Normative staatlichen Handelns gerade mit der Errichtung eines Regimes gesetzt, das dieses Führerprinzip braucht. Auch dürfte es unstreitig sein, daß die derartig konstituierte Staatsmacht nicht die geringste Rücksicht auf irgendwelche Sittengesetze nahm, wenn ihre Ziele nur durch terroristische Massenverbrechen durchsetzbar waren. Die Veränderung sowohl des Staatstypus als auch seiner inneren Regulationsweise bedeutete aber nur dann Staatsauflösung und Privatisierung, wenn unabhängig vom Inhalt der durch die »Führergewalt« durchgesetzten Herrschaftsinteressen Staatlichkeit normativ an formalen Kriterien gemessen wird wie Entscheidungsund Regulierungsformen der Herrschaft nach überpersönlichen Normativen, gesamtstaatlich einheitliche und zentralistisch strukturierte Handlungsnormative und Durchsetzung von Interessen nur mittels formalisierter Verfassungsregeln. Alles dies trifft für den Hitlerstaat nicht zu, deshalb bezeichnete ihn Neumann als Unstaat, Behemoth. Auch wenn das Führerprinzip persönliche Unterordnung bedeutete und der »Führer« Person war, als »Führer« war und blieb er Staatsinstitution selbst dann, wenn er sich als Partei- und »Volksführer« über formalisierte staatliche Normative stellte. Daher blieb auch die »Führergewalt« staatliche Gewalt, nur daß sie auch bestimmter staatlicher Kontrolle entzogen wurde. Die SS als formale Parteigewalt übernahm und usurpierte staatliche Gewaltfunktionen. Darum sollten hinsichtlich des nazistischen Führerprinzips dessen antibürokratische Implikationen und dessen
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Inanspruchnahme öffentlicher Gewalt daraufhin genauer bestimmt werden, welche Interessen dieser Subjektivierung zur Durchsetzung bedurften. Während noch Fränkel die Prozesse der Durchsetzung des Führerprinzips begrifflich als »Maßnahmestaat« zu fassen suchte, nannte Benz dies einen »beträchtlichen Substanzverlust geregelter Staatsorganisation« und Majer sprach sogar von einer »politischen Entmachtung der Reichsverwaltung«. 3 5 Damit aber ist als Staatsnorm eine »regelhaft und einheitlich organisierte Herrschaftsgewalt« unterstellt, der sich der Nazistaat nicht fügt, weil er eine ganz andere Form von Herrschaftsgewalt konstituieren will. Ungeachtet alle widersprüchlichen Wirkungen des nazistischen Führerprinzips für die angestrebten Herrschaftsziele bleibt unbestreitbar, daß es zu einer bis dahin beispiellosen Konzentration der deutschen Staatsmacht führte, durch die allein die genannten Aufgaben dieser Diktatur realisierbar erschienen. Daher ist es paradox, eine Regulierungsform staatlicher Gewalt als Substanzverlust des Staates zu bezeichnen, deren außerordentlich konzentrierte Staatsgewalt die Produktions- und militärischen Potenzen Deutschlands und des besetzten Kontinents für einen verbrecherischen Raubkrieg so mobilisierte, daß sie erst durch die vereinten kriegerischen Anstrengungen der größten Mächte nach sechs Jahren Krieg niedergerungen werden konnte.
A nmerkungen 1 Zitiert nach »Der Spiegel«, Nr. 2/1983, S. 110. ( H . Höhne: Warten auf Hitler) 2 Vgl. Diemut Majer: Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Führerprinzip Sonderrecht - Einheitspartei, Stuttgart 1987, Kap. II, S. 77- 116. 3 Der Führermythos war bis 1945 zweifellos das massenwirksamste Element der Naziideologie. Es bildete unmittelbar das komplementäre, dabei dominante Element zur Demagogie der Volksgemeinschaft. In der praktischen Wirkungsweise dieser Ideologie fungierte das Führerprinzip zugleich als jener Schlüssel, der situativ bestimmte, was andere Elemente wie Nationalchauvinismus, Rassismus etc. konkret bedeuten sollten. Vgl. Werner Röhr: Faschismus und Rassismus. Zur Stellung des Rassenantisemitismus in der nationalsozialistischen Ideologie und Politik. In: Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer, hg. von Werner Röhr in Zusammenarbeit mit Dietrich Eichholtz, Gerhart Hass und Wolfgang Wippermann, Berlin 1992, S. 23 ff. Vgl. Werner Röhr: Überlegungen zu Elementen und zur Spezifik faschistischer Ideologie. In: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte, Nr. 45, Jena 1981, S. 51. 4 Vgl. Der »Führerstaat«. Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, hg. von Gerhard Hirschfeld und Lothar Kettenacker, Stuttgart 1981; Dieter Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939-1945, Stuttgart 1989. 5 Ein erster Versuch einer Synopse des ideologischen und des organisatorischen Aspekts des Führerprinzips wurde von mir auf dem von Manfred Weißbecker veranstalteten Jenenser
Werner Röhr
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Faschismuscolloquium zum Thema »Die führerstaatlichen Strukturen des faschistischen Herrschaftssystems in Deutschland 1933-1945« im Oktober 1990 vorgetragen. 6 Matthias von Hellfeld: Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930-1939 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung, Bd. 3), Köln 1998, S. 57. 7 J o s e p h Goebbels: Reden 1932-1945, hg. von Helmut Heiber, Düsseldorf 1971, S. 455 (Rede vom 19.4.1945). An der Schwelle zum Untergang des blutbesudelten Mörderreiches und seines Führers hatte Goebbels in der Wochenzeitung »Das Reich« v o m 31.12.1944 den Leitartikel »Der Führer«: geschrieben, in dem es heißt: »Er ist der Fels, an dem sich die Sturzwellen des von ihnen aufgepeitschten Ozeans der Leidenschaften brechen. Hinter ihm steht sein Volk wie eine Mauer. Es sieht ihn mit den Augen des Glaubens, auch wenn er nicht sichtbar wird. Es vertraut ihm, wie man einem Menschen überhaupt nur vertrauen kann. Er ist das Wunder der Deutschen. Alles andere bei uns ist erklärlich, er allein ist das Unerklärliche, das Geheimnis und der Mythos unseres Volkes ... Er ist in jedem von uns, auch ohne täglichen Anruf«. 8 Mit dieser Mystifizierung war auch Führung als gesellschaftliches Entwicklungsproblem verdeckt. Das Problem der Führung einer Gesellschaft, die wirklich Entwicklungsprozesse realisiert, besteht zunächst in der Differenzierung zwischen einem Verwaltungshandeln innerhalb der gegebenen Reproduktionsmechanismen und einem Führungshandeln, das für Entwicklung in Richtung nichterprobter Lösungen, nichterfahrungsgestützter Entscheidungen erforderlich ist. Das objektive Führungsproblem erfordert eine Art Kredit, einen Vertrauensvorschuß, der sich im Führermythos als Gläubigkeit an die Person des Führenden darstellt. 9 Hans Freyer, der 1931 die »Revolution von rechts« prognostizierte, hatte bereits 1925 geschrieben: »Die Position des Führers ... ist von der unfaßbarsten Unbestimmtheit für Verstandesbegriffe, aber von der unfehlbarsten Eindeutigkeit im metaphysischen Sinn ... Führerschaft ist die vollste Vollmacht und die grenzenloseste Kompetenz, weil sie unumschränktester Auftrag ist: mache uns reif, tüchtig und würdig zum Staat und bediene dich dazu jedes Mittels, das nötig ist.« Der Staat, Leipzig 1925, S. 113. 10 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1937, S. 500 f. 11 Dies unterstellte z.B. Ernst Gottschling: Der faschistische Staat. Das deutsche Beispiel: In: Faschismusforschung. Positionen-Probleme-Polemik, hg. von Dietrich Eichholtz und Kurt Gossweiler, Berlin 1980, S. 92-96. 12 Herbert Krüger: Führer und Führung, Breslau 1935, S. 25. 13 Ebenda, S. 25 f. 14 Ebenda, S. 25 ff. 15 Hans Bernard Brauße: Die Führungsordnung des deutschen Volkes, H a m b u r g 1940. 16 Vgl. dazu Majer, S.87-95 sowie Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1994, S. 54-98. 17 Ernst Rudolf Huber: Das Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1939, S. 230 und 234. Vgl. auch ders., Das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches: In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 95 (1935), S. 202-229. 18 Rüthers, Entartetes Recht, S. 109/110.; Vgl. Otto Koellreuter: Der deutsche Führerstaat, Tübingen 1934; ders.: Deutsches Verfassungsrecht. Ein Grundriß Berlin, 1938. 19 Hans Frank: Recht und Verwaltung, in: Deutsche Verwaltung, 1938, S. 739.
Leviathan oder Behemoth?
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Neumann, Behemoth, S. 115 £
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Reinhard Höhn: Rechtsgemeinschaft und Volksgemeinschaft, Hamburg 1935. Der überaus ehrgeizige Heidelberger Rechtsprofessor war SS-Sturmbannführer, eng mit dem SD verbunden und benutzte seine SS-Verbindungen insbesondere zu Reinhard Heydrich, um Carl Schmitt als Kronjuristen des Nazireiches zu verdrängen. Nach 1945 gründete und leitete H ö h n eine Akademie für Führungskräfte in Bad Harzburg.
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Majer, Grundlagen, S. 87.
23
Ernst Fränkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt/Main 1974.
24
Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, hg. und mit einem Nachwort von Gert Schäfer, Köln-Frankfürt/Main 1977.
25 Zur Begründung des Führerprinzips in der Naziideologie vgl. Majer, Grundlagen, S. 85 ff. 26 Vgl. dazu Hans Günther: Der Herren eigner Geist. Die Ideologie des Nationalsozialismus, Moskau 1935, Neudruck in: Ders.: Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Röhr unter Mitarbeit von Simone Barck, Berlin 1981, sowie Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung, Berlin 1933. 27 Vgl. Peter Hüttenberger: Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges der NSDAP, Stuttgart 1969. 28 Vgl. Peter Hüttenberger: Nationalsozialistische Polykratie. In: Geschichte und Gesellschaft 2 (1976), S. 417442. 29
»Führer-Erlasse« 1939-1945. Zusammengestellt und eingeleitet von Martin Moll, Stuttgart 1997, S. 34.
30 Ebenda, S. 29. 31
Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, 10. Aufl., München 1983, S. 302.
32 Wolfgang Benz: Partei und Staat. Mechanismen nationalsozialistischer Herrschaft, in: Ders.: Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat, Frankfurt/Main 1990, S. 38 ff. 33 Benz, Partei und Staat, S. 4 2 4 5 . 34 Hans Buchheim: Die SS - das Herrschaftsinstrument. In: Hans Buchheim/ Martin Broszat/ Hans Adolf J a c o b s e n / Helmut Krausnick: Anatomie des SS-Staates, Bd. 1, Frankfurt/ Main 1967, S. 28 f. 35 Majer, Grundlagen, S. 100.
Manfred
Weißbecker
»Wir können alle Lust unterdrücken ...« Briefe aus dem Alltag brauner Schwestern im Zweiten Weltkrieg »Die Hauptaufgabe der NS-Schwester ist der Dienst als Gemeindeschwester und Trägerin der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt.«1
Im Frühjahr 1941 vereinbarten neun Mädchen, nachdem sie gemeinsam einen Kurs an der Reichsschwestern-Schule im thüringischen Städtchen Ilmenau absolviert hatten und in ein sogenanntes praktisches Jahr entlassen worden waren, sich regelmäßig zu schreiben. Die Siebzehn- und Achtzehnjährigen wollten einander Nachricht über die Einsatzorte und ihre berufliche Tätigkeit, über alle Erlebnisse und Gedanken in ihrem neuen Lebensabschnitt geben. Ihre freundschaftlichen Beziehungen, zu denen sie während ihrer Ilmenauer Ausbildungszeit - sie währte vom 1. Oktober 1939 bis zum 1. April 1941 - offensichtlich gefunden hatten, sollten fortgesetzt werden. In den Briefwechsel, für den sie die Form eines Rundbriefes wählten, sollte auch jene NS-Jungschwesternführerin einbezogen werden, von der sie betreut worden waren. Zu ihr blickten sie achtungsvoll empor, und liebevoll galt ihnen die ältere Frau als »Mutti«. Das »Unser Rundbrief« genannte D o k u m e n t - dem Vf. aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt 2 - erlaubt einen tiefen, erhellenden und zugleich erschütternden Einblick in eine ereignisreiche Zeit. In ihm tritt ein durchaus menschliches, auf den eigenen Alltag bezogenes Denken in Erscheinung, zugleich aber eine unzulängliche Urteilsfähigkeit von Menschen, die mit ihrem Beruf eine zutiefst humanistische Aufgabe verbunden sahen, aber dennoch völlig entgegengesetzt über Krieg und Rassen sowie über die »deutsche« und die eigene Zukunft in Osteuropa meditierten. Der Inhalt dieser Briefe fordert den Historiker heraus; wer sich - und gerade Kurt Pätzold hat dies wie kaum ein anderer unter den DDR-Historikern getan - auf die Suche nach den vielgestaltigen Ursachen des übermäßig großen Einflusses der N S D A P auf die Deutschen begeben hat, wird diesen Texten viel entnehmen und sein Bild von den Anhängern des hitlerfaschistischen Regimes erweitern können. Im einzelnen handelt es sich um 38 zwischen dem 18. April 1941 und dem 7. Juli 1942 von Hand geschriebene Briefe. Sie füllen ein schwarz gebundenes Heft im Format D I N A 5 mit 182 Seiten. Verfaßt wurden sie von Adelheid A., Ingeburg B.,
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Ulla C, Veronika D., Ingelore E., Christina F., Anna G., Lieselotte H. und Gerlinde I. 3 Von Erika K. stammen vier dieser Briefe, in denen die NS-Jungschwesternführerin politisch-ideologische Orientierung bot und stets als Erzieherin auftrat. 4 Die zahlreichen Rückblicke auf die Jahre 1939 und 1940, von denen es in den Briefen der Mädchen nur so wimmelt, lassen die Schule und ihren dort verbrachten Lebensabschnitt in einem verklärten Licht erscheinen: »Ilmenau ist alles ... Ilmenau, wir werden Dich nicht vergessen«, hieß es gleich zu Beginn. 5 In ihrer Rückschau wird dem Krieg, der ja bereits in dieser Zeit weit über die deutschen Grenzen hinaus geführt und zahlreiche Opfer gefordert hatte, kein Platz eingeräumt. Auch zum Bund Deutscher Mädel ( B D M ) , dem die jungen Schwestern selbstverständlich angehörten, tauchte in ihren Äußerungen nichts auf; nur einmal wird die Notwendigkeit einer Ummeldung erwähnt. 6 Bei aller Politikferne spiegelt sich aber in dem, was für mitteilenswert gehalten wurde, ein alltägliches, ja geradezu selbstverständliches Denken in politischen und ideologischen Bahnen wider, die das Regime ihnen gewiesen hatte und das schließlich nach dem Überfall auf die U d S S R zu schrecklichen Aussagen führen sollte.
Von Adelheid A. scheint die Initiative der Aktion ausgegangen zu sein. Sie verfaßte das Vorwort, Bestimmungen zu Terminen und Festlegungen zur Reihenfolge, in der die Beteiligten schreiben sollten. Das Ganze stellte sie unter den Wahlspruch »Meine Ehre heißt Treue!« Diese offizielle Parole der SS gleichsam »privatisierend«, hieß es zunächst, wenngleich mit unverkennbar drohendem Unterton: »Wer den Rundbrief vernachlässigt oder gar verläßt, wird untreu seinem Versprechen und, was noch schwerer wiegt, untreu der Kameradschaft.« Ihre Briefe verstanden die jungen Frauen als »Band das alle vereint und in seinem Lauf zusammenhält ... In jeder Runde kommt der Brief einmal nach Ilmenau. In allen Kümmernissen und trüben Stunden wird uns von dort Rat und Hilfe werden.« 7 Indessen geht bereits aus dem ersten Brief, den Adelheid A. am 18. April 1941 begann - aber ebenso aus Briefstellen anderer Verfasserinnen - hervor, in welchem Maße die SS direkt verherrlicht wurde und die Wahl ihrer Leitgedanken für den geplanten Briefwechsel politisch bedingt war. Sie stellte ihrem Schreiben ein »Wort unserer Lernzeit« voran, das da gelautet habe: »Es gibt nur eine Parole, die allen im Herzen brennt. Es gibt nur eine Parole, zu der sich jeder bekennt: Gehorsam und Treue! Die Treue ist das Mark der Ehre! Unser Glaube, unsere Liebe, unserer Hände Arbeit:
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Deutschland, für Dich! Wenn einer von uns müde wird, der andere für ihn wacht. Wenn einer von uns zweifeln wollt, der andere gläubig lacht. Wenn einer von uns fallen sollt, der andere steht für zwei, denn jedem Kämpfer gibt ein Gott den Kameraden bei.« 8 Die Briefschreiberinnen teilten zunächst einander mit, an welchen Einsatzort und in welches Krankenhaus sie gekommen waren und was sie dort angetroffen hatten. Sie beurteilten mehr oder weniger sachlich ihre neue Unterkunft, die Ärzte und anderen Schwestern, die Patienten und überhaupt alle Probleme, mit denen sie sich beschäftigten. Sie lobten oder beklagten die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Arbeitsplätze, sprachen von unterschiedlichsten persönlichen Erlebnissen und ihren Eindrücken, hofften auf gegenseitige Ermunterung und Zuspruch. Großes gegenseitiges Vertrauen sprach aus ihren Zeilen ebenso wie eine totale, von jeglicher kritischen Befragung freie Verinnerlichung faschistisch-rassistischer Parolen. Die ersten Briefe enthalten vor allem zahlreiche Klagen darüber, wie wenig die neuen Arbeitsplätze den Idealen entsprachen, mit denen sie in die rauhe Wirklichkeit entlassen worden waren. Man sei in den Kliniken nicht erwartet, unzureichend begrüßt worden und habe nur eine »öde, schmutzige Bude« zugewiesen bekommen. »O, du Traum vom Vollschwesternzimmer, wo bist du nur geblieben [...]Ich glaubte vergehen zu müssen, es nicht einen Tag aushalten zu können. Furchtbar! Am liebsten wäre ich wieder gegangen«. Gerade von einem Krankenhaus in Weimar als der Hauptstadt des Gaues Thüringen, wohin Adelheid A. versetzt worden war, habe sie einen »Präsentierteller« erwartet, aber »das Gegenteil könnte ich jetzt eher behaupten.« Von den Schwestern seien nur drei »ganz nett ... alles andere ist mies, eher Ausschuß als Auslese ... Die Oberfrau ist falsch, ich hasse sie wie kaum jemanden, obwohl sie mir noch nichts getan hat.« Am 20. April fügte sie dem Brief noch die Nachricht an, daß sie sich auf ein Konzert freue, denn Musik »hilft immer«; danach schloß sie unvermittelt: »Lang lebe unser Führer! Heil Hitler!« 9 Aus Gera berichtete Ingeburg B. ebenfalls von schlechter Unterbringung und unzureichendem Empfang, darüber hinaus von Ungeziefer und ihr äußerst mißfallenden Patienten. Über letztere ließ sie sich voller Empörung und Abscheu aus - sie würden zu 90 % »aus der Unterwelt stammen«. Einige von ihnen seien Zuchthäusler und würden den Aufenthalt im Krankenhaus als eine »Kur« nutzen. Schließlich
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berichtete sie: »Eine ganz berüchtigte frühere Kommunistenführerin ist mit da (Fräulein, 3 Kinder). In ein KZ-Lager gehört sie. Ich habe ihr gehörig die Meinung gesagt, weil sie sich ganz ausfällig über den Staat äußerte. Und so was bekommt noch Kinderzulage, dieses Pack.« 1 0 Veronika D. und Ingelore E. äußerten sich entsetzt über die Verhältnisse, die sie im sächsischen Riesa angetroffen hatten. Ihnen ging es ebenfalls vorwiegend um ihre Quartiere und die allgemeinen Arbeitsbedingungen. Aber auch in anderer Hinsicht beobachteten sie einen Gegensatz zwischen Ideal und Realität: Erstere vermißte vor allem bei den anderen Schwestern den Idealismus, den sie in Thüringen kennen gelernt habe. Man könne sich hier nur »schwer im Schwesternkreis einleben«. 1 1 Eine andere teilte etwas später sogar mit, daß in ihrem Einsatzort, der Stadt des KdFWagens, »ein großer Teil junger Schwestern [...] alles anstellt, um aus der NS-Schwesternschaft rauszukommen.« Die in Ilmenau gelernte Parole »Ausharren und Durchhalten« sei zudem kaum zu verwirklichen, denn »es wird uns ja so gar nichts geboten.« Nur in Braunschweig könne man einkaufen oder ins Kino gehen, doch das liege zu weit weg. 1 2 Aus Masserberg, wohin A l n a G. Anfang 1942 versetzt wurde, teilte sie entrüstet mit, daß es »hier und in der ganzen Umgebung nicht einmal ein Kino oder wenigstens ein Kaffee« gebe. Spöttisch setzte sie hinzu, daß es viel schlimmer in Polen auch nicht sein könne. 1 3 Auf diese Mischung aus privaten Enttäuschungen und politisch deutbaren Zweifeln reagierte die NS-Jungschwesternführerin Erika K. bereits am 16. Juni 1941. Ihren Text kennzeichnen Verwunderung, Enttäuschung und Empörung. Allerdings vermied sie, vordergründig zu argumentieren und suchte vielmehr, familiär und missionarisch-erzieherisch auf ihre früheren Schützlinge einzuwirken. Allgemeine Wertvorstellungen paarten sich mit ausgesprochen nationalsozialistischen Gedankengängen. Man müsse sich doch nun einmal in jeder Situation mit aller Kraft »einsetzen und durchhalten.« Ihr ging es um das, was sie als »Moral« der NS-Schwesternschaft bezeichnete und in der Feststellung gipfelte, daß das zu loben sei, »was hart mache.« Fordernde Selbstverständlichkeit für den Kriegseinsatz - so lassen sich ihre Äußerungen charakterisieren. Frau K. scheute jedoch auch nicht vor Beschimpfung, Einschüchterung und Drohungen zurück; wer den vorgegebenen Idealen nicht entsprach, machte sich verdächtig, ein Feind des nationalsozialistischen Staates und Adolf Hitlers zu sein. 1 4 Erika K. war augenscheinlich bereits seit mehreren Jahren als nationalsozialistische Schwester tätig gewesen. Aus den vorhandenen Unterlagen ist jedoch nicht zu entnehmen, ob sie vor dem 30. Januar 1933 den damals bestehenden Vereinigungen »Braune Schwestern« oder »Rote Hakenkreuzschwestern« angehört hatte. Auf jeden Fall war sie Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), der aufgrund
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einer Anordnung des »Führer-Stellvertreters« Rudolf Heß vom 5. Januar 1934 auch die »Schwesternschaft der NSV« zugeordnet worden war. 15 Daß diese sich als Konkurrentin kirchlicher Diakonie verstand, spielte für sie wohl eine untergeordnete Rolle. Sie nahm kaum Abstand von einigen der vorwiegend christlich geprägten Mustern der Schwesternarbeit. So berief sich Erika K. keineswegs zufällig auf Gott, als sie ihren Elevinnen die Leviten las. Indessen stand für sie die »wahre Volksgemeinschaft« der Deutschen absolut im Vordergrund, nicht das humanistische Anliegen, die Leiden der Kranken zu lindern und Leben retten zu helfen, gleich welcher Nationalität oder »Rasse« der jeweilig Betreute auch sein mochte. Die nationalsozialistischen Schwestern sollten in Ausübung »ihres Berufes am kranken Volksgenossen« dazu beitragen, wie 1943 für den Reichsbund Deutscher Schwestern dessen Oberin Moser formulierte, ihre Kraft »am deutschen Menschen« zu verströmen, wohl wissend, daß »das augenblicklich lebende deutsche Volk nur vorübergehender Träger des ewigen Lebensstromes ist, der aus der Unendlichkeit kommt und nach unserem Willen in die Ewigkeit fließen soll als Ausdruck biologischer Unsterblichkeit.« 1 6 In diesem Sinne wurde von den Mitgliedern der NS-Schwesternschaft verlangt, »nachweislich auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung« zu stehen und »arischer Abstammung« zu sein. 1 7 In den vorliegenden Briefen ist kaum etwas von jenen generellen ideologischen und organisationspolitischen Zielsetzungen zu erkennen, die in den Stäben der N S V und der NS-Schwesternschaft debattiert oder in Statuten oder Konzepten fixiert wurden. Pflege wurde da als »Kampf im volkspolitischen Interesse« verstanden. Sie dürfe kein »Ergebnis persönlicher Mitleidsregungen der Pflegeperson« oder gar von »Weltflucht« sein: »Wer die Welt verläßt und in Mitleid für diejenigen vergeht, denen das irdische Leben schwer gemacht wird, besitzt jedoch nicht die erforderliche klare geistige Einstellung zum unabdingbaren Werte des Lebens. Wer aber das Leben an sich nicht bejaht, ist - bei allem anerkennenswerten Opfermut in der Berufsausbildung - doch nicht voll und ganz dazu fähig, so um jedes Leben zu kämpfen, wie es notwendig ist, um Deutschland vor dem Volkstode, der ihm schon von seinen Gegnern vorhergesagt ist, zu schützen.[...]Der Schutz der deutschen Volkskraft, die Erbgesundheits-Lehre und die Förderung der körperlich und geistig Hochwertigen im Rahmen der planmäßigen Aufartungspolitik können nur aus voller Überzeugung von Menschen durchgeführt und angewandt werden, die sich die glücklichste Gestaltung der diesseitigen Zukunft des deutschen Volkes bewußt zur Lebensaufgabe setzen.« 1 8 N o c h deutlicher hatte J o s e p h Goebbels auf dem Reichsparteitag der N S D A P im September 1938 die Motive des Regimes benannt: »... wir müssen ein gesundes Volk besitzen (sic!), um uns in der Welt durchsetzen zu können.« 1 9
Intern hatte er schon Monate zuvor, im Bunde mit Hermann Göring,
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darauf aufmerksam gemacht, daß »im Falle eines Krieges eine große Zahl ausgebildeter Schwestern lebenswichtig ist.« 2 0
Als der Krieg bereits zwei Jahre andauerte, wurden die NS-Schwesternschaft und der Reichsbund der Freien Schwestern und Pflegerinnen e.V. am 19. Juli 1941 zum Nationalsozialistischen Reichsbund Deutscher Schwestern zusammengefaßt und zu einer von der N S D A P betreuten Berufsorganisation der deutschen Schwestern deklariert. Auch diese Veränderung ging an den jungen Schwestern, deren Briefe hier vorgestellt werden, nahezu spurlos vorüber. Anders verhielt es sich dagegen, als das faschistische Deutschland am 22. Juni 1941 die U d S S R mit Krieg überzog. Alle Nachrichten von diesem neuen Kriegsschauplatz wurden nicht nur interessiert und aufmerksam zur Kenntnis genommen, sondern zugleich mit Betrachtungen zur eigenen individuellen Situation verknüpft. Man verfüge jetzt über ein Radio und habe »das jüngste Geschehen miterleben« können, hieß es in einem Brief von Christina F. am 24. Juni 1941. Diesem folgte die Aussage: »Was sind wir doch klein in dem großen Geschehen. Wiederum ist jeder nötig an seinem Platz.« 2 1 In ihrem Brief vom 1. Juli 1941 notierte Adelheid A., die damit die zweite Runde dieser Briefschreiberei eröffnete, etwas wehmütig, aber ganz und gar erfüllt von der historischen Größe dieser Situation Gedanken, die sowohl in die politische als auch in eine andere, betont individuelle Richtung wiesen: »Das Radio geht ganz leis: Sei gepriesen, du lauschige Nacht ... Angesichts unserer kämpfenden Soldaten ist es schlecht und klein, an das Leben (oder an den Frieden) zu denken. Aber bei der Musik kommen die Gedanken, die Erinnerungen und die Sehnsucht. Wir sind doch noch so jung und haben auch ein Recht auf das Leben.« Es blieb bei solchen Andeutungen. Darüber hinaus ist dem Text zu entnehmen, wie sich die Verfasserin gleichsam selbst ertappt fühlte und nach Gegenargumenten suchte: »Doch, wir können alle Lust unterdrücken ...« Sie sprach damit von ihrer Bereitschaft, auf alles, was ihr im privaten Bereich wichtig war, im Interesse des faschistischen Regimes und seiner Kriegführung zu verzichten. Mit dem Blick auf diesen Krieg nahm sie sich selbst völlig zurück: »Wie spannend waren doch die letzten Wochen und Tage wieder. Zuerst der 22.6. - wenn wir es wohl auch geahnt, so war es doch eine Überraschung, daß es so bald mit Rußland anfing. Und es ist gut, daß es so gekommen ist. Wie der Führer doch alles so im richtigen Moment trifft [...] Wie stolz sind wir doch auf unsere Wehrmacht, auf unsern Führer, der uns mit der Wehrmacht alles erkämpft und ein neues Deutschland wiedergibt. Wie klein sind wir doch hier gegen unsere Soldaten draußen. Ich möchte jetzt in einem Feldlazarett arbeiten, Tag und Nacht. Alles andere kommt mir im Moment fast unwich-
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tig vor und ist es doch nicht. Denn die innere Front muß stehen. Und so tun wir unsere Pflicht an dem Platze, auf den wir gestellt sind.« In den Gedankengängen von Adelheid A. gab es keinerlei Spur, die dem Argument, Deutschland müsse sich verteidigen und führe einen Präventivkrieg, entsprochen hätten: »Die erste Wochenschau aus Rußland sah ich auch schon, den Beginn der Kämpfe. Furchtbar, mit welchem Pack unsere Soldaten kämpfen müssen, wie Idioten, Juden, so richtige Heckenschützen.« In gleicher Weise hoffnungs- und erwartungsvoll fügte sie hinzu: »Die Meldungen sagen schon, wie ihnen der Kampf gegen uns bekommt.« Während bei zahlreichen Deutschen zweifelnde Fragen aufkamen, ob es nicht ein zu großes Unterfängen sei, Rußland bekriegen und besiegen zu wollen, sah keine der zehn Krankenschwestern besorgt in die Zukunft. Adelheid A. schrieb im Gegenteil, sie glaube nicht, daß »der Krieg durch den Rußland-Feldzug sehr verlängert« werde. Von ihrem Bruder berichtete sie stolz, er wolle ja auch noch nach Rußland gehen und sei jetzt in Deutschland zur Ausbildung. Außerdem sei er »tropenverwendungsfähig«, hatte er ihr vermeldet, vielleicht in der Hoffnung, auch einmal in einer der von Deutschland zu erobernden Kolonien eingesetzt zu werden. Die Schwester verband diese Information mit einer Frage, die viel über ihre nationalistische Gedankenwelt verrät, in der deutsche Expansions- und Okkupationspolitik gleichsam zur Selbstverständlichkeit zählte: »Und wohin gehen wir? In die Kolonien oder als Ostlandsiedler an die Wolga? Die Männer lernen doch jetzt schon das Land kennen, können uns dann gleich guten Rat erteilen, wenn wir unser Werk beginnen. B.V.P.22 und Ostlandsiedlung, mit dem dazugehörigen und ebenso bereitwilligen Partner, - ist das dann richtig? - Erfolg der Erziehung und Weltanschauung. Ingeburg, du sagst: nach dem Motiv SS. Also weiterhin danach. Betr. Hummelnest 2 3 hast Du auch recht, es wimmelt hier nur so. Sonntags sind sämtliche Busse aus der Buchenwaldrichtung mit SS SS SS besetzt, Betriebsausflug der Hummeln. - Jedenfalls melde ich mich doch mal wieder nach dem Osten, und zwar nach dem 1.4.42. Da ist meine Gastrolle in der Gauhauptstadt beendet.« 2 4 Ingeburg B. befand ebenfalls, daß die Zukunft der Reiches, aber auch ihre eigene im Osten liegen werde und fragte die anderen direkt: »Wer siedelt mit?!« Man könne ja erst einmal als NS-Schwester dort »die Nase reinstecken« und später dann »ganz erhaben als Vorbild dienen. [...] Ran an den Speck, nicht gleich abhauen. Umsonst will ich nicht in Ilmenau gewesen sein.« 2 5 Gespannt wurde darauf gewartet, wer denn nun als erste »gen Osten rutschen« würde. Diese müsse für die anderen dort »selbstverständlich einen Platz reservieren.« 2 6 Später schrieb Ingelore E., sie habe einen neuen Arbeitsplatz erhalten, doch der liege leider nicht im Osten: »Aber was nicht jetzt ist, kann ja nach dem Krieg noch werden.« 2 7
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Eine der jungen Frauen verfaßte für den »Rundbrief« ein Gedicht über die »Hummeln«, das die anderen als gut gelungen betrachteten und u.a. folgende Zeilen enthielt: »Das Ostland ruft uns ganz gewiß Gern rückt man an zu dem Komiß. Beim Aufbau wollen wir mit ran Und zeigen, was man leisten kann. Sieht man im Osten sich mal um, Hört man schon wieder das Gebrumm. Es sind nicht Heinkel, Stuka-Flieger, Nein, dies' mal sinds die Hummeln wieder. Und wieder ist die Aufgabe (e) Erst recht im Osten B V P. D o c h damit auch klappt der Laden, Muß man den rechten Partner haben. Damit in Zukunft, wärs doch der Fall, Auch fest und stark der östliche Wall.«
Selbstverständlich wollten die jungen Frauen nicht nur arbeiten, sondern auch etwas erleben und sich vergnügen. Ebenso lag ihnen der Gedanke an eine Verlobung oder gar an Heirat sehr nahe. Insbesondere betrachteten sie die »Hummeln« als geeignete Partner, die schwarzgewandeten Männer aus SS-Einheiten, darunter auch die von Buchenwald. Ihnen war das Konzentrationslager bei Weimar bekannt, und dennoch setzten sie ihre eigenen Aufgaben als »braune« Schwestern schlicht und ohne jedes Bedenken mit denen der »schwarzen« Hummeln im Lager gleich. 2 8 Als sich Anna G. verlobte und auch andere mehr als zuvor über Eheschließungen nachdachten, sah Erika K. ihre Aufgabe darin, davor zu warnen, so »bald ins Ehejoch zu steigen und der Schwesternschaft untreu« zu werden. Gerade jetzt im Kriege stehe man »im Ehrendienst an unserem Volke« und müsse »im Geiste des Führers« arbeiten: »Also denkt immer erst noch mal an unsere eigentliche Losung! Damit will ich nicht sagen, daß auch nur eine von Euch mal nicht heiraten sollte - nein Mütter sollt Ihr alle werden - Mütter mit eigenen Söhnen und Töchtern. Ehe aber das vielbesprochene Heirats-Problem für Euch geklärt ist, bitte ich Euch, alle Eure mütterlichen Kräfte, die nun einmal naturgebunden in jedem weiblichen Wesen ruhen, vorerst zum Wohle der Volksgesundheit a u f s Höchste zu entfalten und in diese von uns nur ideal gesehenen Ehrendienste einzusetzen.« 2 9 Am 18. Dezember 1941 formulierte Ingeburg B., inzwischen von Gera nach Eisen-
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ach versetzt, unter dem Eindruck der deutschen Kriegserklärung an die USA: »Der zweite Weltkrieg, ja in diesem Ausmaß und an Bedeutung ist wohl bis jetzt kein Krieg in der Geschichte gewesen. Wir sind die Jugend, Garanten der Zukunft, jeder weiß, wir haben es nicht leicht. D o c h die Gegenwart fordert den ganzen Menschen, Menschen mit Kraft, Energie, Idealismus. Für den Endsieg, der eine Neuordnung Europas, ja vielleicht der Welt bedeutet, sind wir verantwortlich.« In diesem Zusammenhang bedauerte B., daß ausgerechnet die besten Helden ihr Leben opfern und eine Lücke in die Schar der deutschen Kämpfer reißen würden; von Mölders 3 0 und Udet 3 1 war die Rede. Ihre Schlußfolgerung liest sich so: »Unsere feldgrauen Kämpfer streben den toten Helden in ihren Taten nach. Der Sieg wird unser sein. Unsere besten Wünsche begleiten die tapferen Soldaten im Osten. Sie geben ihr alles, ihr Höchstes für uns. Heil! Ihnen eine glückliche Heimkehr. Liebe Kameradinnen! Ihr glaubt ja gar nicht, ich habe einen Idealismus in mir, daß ich manchmal denke, es zersprengt mich.« 3 2 Es scheint in diesem Falle weniger problematisch zu sein, daß sich junge Menschen an überaus schwer erscheinenden Aufgaben messen wollten, eher muß zu bedenken sei, daß in keiner Hinsicht und auch nicht einmal andeutungsweise nach dem Charakter dieser Aufgabenstellungen gefragt worden ist. Die Zukunft erschien ihnen als eine der Deutschen und für Deutsche. Menschen anderer Völker fielen aus dem Raster heraus, obwohl es gerade für Krankenschwestern keinen Unterschied machen sollte, ob sie ihre Hilfe einem Deutschen, Polen, Russen usw. angedeihen lassen. Dennoch erschien dem Regime eine Haltung suspekt, die trotz einer nahezu völligen Verinnerlichung faschistischer Parolen persönliche Interessen - die »Lust« am Leben und eigene Ansprüche an dieses nicht aufgab. Als die jungen Krankenschwestern auch 1942 nicht aufhörten, ab und zu in ihren Briefen zu klagen, bediente sich Erika K. einer neuen Variante ihrer Argumentation. Sie äußerte sich in ihrem Brief vom 4. Juli 1942 zum Thema »Heldentum«, an das sie denken müsse, wenn im Rundfunk eine »Sondermeldung« kommt. Da wisse sie genau, »daß es sich nicht um Gedanken-Konstruktionen, sondern um soldatisches Heldentum handelt, um >Ehrendienst an unserem Volke - im Geiste unseres Führers!< Wenn sich die Soldaten in ihrem heldenmütigen Einsatz zu sportlichen Höchstleistungen in ihrem Siegeswillen hinreißen lassen und dann im K a m p f für das Volk ihre Gesundheit außer Acht lassen, Schäden für das ganze Leben davon tragen, so ist das Heldentum, das wir nicht hoch genug einschätzen können.« Ein solches aufopferungsvolles Heldentum verlangte Erika K auch von ihren ehemaligen Schülerinnen. Sie appellierte an diese, sich ja richtig zu verhalten, weil sonst auch sie selbst Nachteile zu erwarten habe. Voller Erregung - sie ist vor allem
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an den ungelenken Formulierungen abzulesen, die in ihren anderen Briefen kaum auftauchen - berichtete sie von »politischer Überprüfung in Ilmenau« und dem Druck, der auf sie ausgeübt wurde, als sich einige ihrer Zöglinge nicht in gewünschtem Maße regimekonform verhalten hatten und dies nach Ilmenau gemeldet worden war: »Einige von Euch haben schon selbst erfahren, daß ich noch jetzt, nachdem Ihr schon über ein Jahr in einer anderen Arbeit steht - nicht mehr meine Schülerinnen seid - daß ich aber noch heute für meine Beurteilung, die ich 1/4 Jahr vor dem Examen hier abgab, noch heute verantwortlich gemacht werde, verantwortlich für die dienstlichen Leistungen wie für die haltungsmäßigen Angelegenheiten. Ich war dieserhalb erst letzte Woche noch mal wieder um Euch beschäftigt und danach hieß es nicht: Jeder blamiere sich so viel er kann!« Sondern wenn man mir zu den heutigen Dingen meine damaligen >guten< Beurteilungen entgegenhält, so will ich Euch sagen: >Jeder blamiere mich so viel er kann!<« Dann fügte sie noch hinzu: »Also, Kinder, auch wenn Ihr die Grenzen des Gaues Thüringen hinter Euch gebracht habt, kommt alles wieder an uns zurück. >Ehre ist Zwang genug<, denkt bei dem Wort auch mal an mich! Darf ich immer stolz auf Euch sein! Eure Schwester Erika.« 3 3
Über den weiteren Weg der neun Krankenschwestern und ihrer Ausbilderin ist nichts bekannt. Es läßt sich jedoch ein Gedankenexperiment wagen, denn wo auch immer Arzte tätig waren, standen ihnen Schwestern zur Seite. Das gilt in gleicher Weise für jene Mediziner, die Verbrechen begingen, obgleich sie ihr Berufsethos zu anderem verpflichtete. Auch ihnen dienten Krankenschwestern. So läßt sich fragen: Hätte sich eine der Briefschreiberinnen vielleicht geweigert, an der Seite ihrer Vorgesetzten mitzuwirken an der Vernichtung »lebensunwerten« Lebens, an der Ausrottung von »Untermenschen« und als »minderwertig« diskreditierter Völker? 3 4 Hätte sich eine von ihnen aufgelehnt, wenn sie in die Lage gekommen wäre, sich an den »Euthanasie«-Aktionen beteiligen zu müssen? Oder hätten sich diese Schwestern beispielsweise gegen den Gynäkologen Carl Clauberg gestellt, der von 1942 bis 1944 in Auschwitz ätzende Substanzen in die Gebärmutter unbetäubter Frauen einspritzen ließ, um seine Methode einer Massensterilisation ohne Operation zu erproben? 3 5 Solche Fragen zu stellen heißt wohl zugleich, sie verneinen zu müssen. Insofern geben die vorliegenden, Privates und Ideologisches miteinander vermengenden Briefe auch Aufschluß über das, was Menschen in Deutschland dazu gebracht hat, Verbrechen nicht als Verbrechen zu erkennen, diese weitgehend und stillschweigend zu dulden oder sogar aktiv zu unterstützen. Die Schwestern, deren Briefe zufällig erhalten geblieben sind, übten ihre berufliche Pflichten nicht nur in einem streng strukturierten Handlungsrahmen aus, in dem Freiräume für persönliche Entschei-
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dungsmöglichkeiten aufs Äußerste begrenzt waren, nein, von ihnen waren Grundpositionen faschistisch-rassistischer und rassenhygienische Ideologie willig auf- und angenommen worden. A nhang: Aus dem Brief von Edith F. vom 16. Juni 1941: Und nun, meine lieben Mädel, Kinder! Erinnert Euch beim Lesen meiner Zeilen der Worte von unserer geliebten und verehrten Oberin Schnarre: wie es auch sei in der neuen Arbeit: »Mit aller Kraft einsetzen und durchhalten!« Und nun zu Euren Briefen: Habt Ihr alle nur so wenig seelische Kraft, daß der Idealismus, der hier den ganzen Kurs beseelte und der von Eurer Umgebung noch heute nicht ohne Neid betont, ja der sogar bewundert wurde und deshalb schon in den Neuen fortlebt, weil die Patienten davon erzählten - die Konkurrenz anerkennend darüber spricht - habt Ihr keine Kraft oder nicht mehr den Willen, Euch über den lächerlichen neuen Alltag hinwegzusetzen? Ihr hattet Euch nach Polen gewünscht, überlegt bitte - nach Polen - was wäre das geworden, wenn Ihr jetzt schon zagentlich durch die neue Umgebung schleicht! Besonders Christina ist nach den ersten Briefen nur voller Ansprüche an die neue Arbeit gegangen. Nach acht Tagen kommen hier Klagebriefe an mit einer häßlichen Kritik über die neue Umgebung. Wenn ich noch einmal solchen Brief bekomme, kommt derselbe sofort zurück. Die Schilderungen der ersten vier Ausländer waren ja natürlich, trotzdem hätte Riesa es nicht nötig gehabt, in dieser Form an das Krankenhaus zu schreiben! Ich kenne das Haus in Weimar und betone, daß die Schilderungen zu recht waren und ich weiß von Frau Oberin, daß es in Gera wirklich in Ingeburgs Baracke gewimmelt hat usw. Nur Schwester Frieda hat mir das Haus in Riesa genau so hingemalt, wie Ihr beiden es tut. Aber nun ist Christina in ein ganz neues, im »Pavillonsystem« erbautes Haus gekommen und sie schildert immer die Baracken von wüsten Sandhaufen umgeben - innen aber ganz modern eingerichtet und in ihrem Zimmer fehlen selbst die Polstersessel nicht. - Kinder, wenn ein Haus erst am 1.4.41 eröffnet ist, können doch die Sandhaufen der kleinen Christina wegen doch nicht verschwinden. Wer weiß, was diese Sandhaufen später für Dich, liebe Christina, nicht alles Schöne bedeuten!? Und dann diese Kritik an den Schwestern und der Oberschwester - Kinder - ich weiß nicht, wie lange ich hier noch NS-Schwester bin - aber Ihr wißt, daß ich es mit Leib und Seele war und muß mir nun anhören, daß eine von Euch nach acht Tagen in der neuen Arbeit sagt: » O , Moral der NS-Schwesternschaft, wohin bist du entschwunden!« Als ich nach Ilmenau kam - als NS-Jungschwesternführerin - empfingen mich die trostlosen, halbzerfallenen Wiesel'schen Gemäuer, mit Dreckhaufen in den Räumen, beißendem Gewimmel in den Betten, wackelndem Inventar ohne auch nur eine
»Wir können alle Lust unterdrücken...«
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abschließbare Gelegenheit für uns alle, umgeben von wirtschaftlich und moralisch defekten Wesen, an deren Hungertuch ich für hundert Mark im Monat notgedrungen mit nagen mußte, weil sich zunächst absolut keine andere Möglichkeit bot. Und die Möglichkeit, die ich uns allen in Ilmenau inzwischen schaffte, unser schlichtes, schönes Heim, hat auch heute für mich, trotz langer Dienstjahre nur dicke, harte Holzstühle! Meinen Idealismus hat mir weder die Zeit der Arbeitslosigkeit noch irgendwelche Unannehmlichkeit in den Privatpflegen; weder der K a m p f der Gemeindearbeit noch der Ärger in der Erziehungsarbeit (die mir keinen Kummer ersparte) genommen. [...] Meine Mädel, ich habe Euch so lieb und erspare mir nicht den Vorwurf, Euch verwöhnt zu haben, in gewissen Dingen; aber ich glaubte Euch alle trotzdem für das Leben draußen reif und stark gemacht zu haben; denn ich habe Euch nie nur das Schöne, sondern immer auch das Schwere unseres eigenen Berufslebens geschildert und betont, daß gerade das Schwerere das Schönste war, weil es mich hart machte. Kinder, ich hab auch für Euch ringen und kämpfen müssen und viel Verantwortung für Euch getragen, auch für Dich, liebe Christina, habe ich Deine gesundheitlichen Mängel, die den ganzen Beruf in Frage stellten, ganz allein auf meine Schultern genommen und weiß, daß vielleicht schon bald Rückfragen kommen. Nicht Dr. Bettenhäuser hat die Gewähr übernommen - er hat das angeforderte Gutachten nie gemacht - sondern mich nur in meinem Wollen unterstützt. Und nun habt Ihr das Examen und macht Ansprüche und vor allem übt Ihr als jüngste Mitglieder Kritik an der eigenen Schwesternschaft. »Keinem wird's gegeben, ohne zu ringen!« Das war die Losung für Euer weiteres Tun und Handeln, liebe Kameradinnen. Und lauter ernste und gute Wünsche Eurer Führerin begleiten Euch alle, wo Ihr auch seid! Habt Ihr die Bildberichte vom Balkan gesehen, stellt sie Euch noch einmal vor Augen und laßt die Begriffe K a m p f und Opfer einmal ganz ernst werden vor Eurer Seele und seid dann dem Herrgott dankbar für all das Schöne, das Euch alle bestimmt auch umgibt. Ich sehe eben vor mir (Dienstag, den 17.6.41) unsere gefüllten Blumenkästen. Bald werden die roten Himmelsröschen wieder blühen und manche kleine Vase füllen! Und wir werden wieder wandern, daß es eine Lust ist! Leider war das bisher kaum möglich, weil 1. der Wettergott komisch plant und 2. weil die Stimmung hier oft noch komischer war. Die Jungen sahen in den ersten Wochen die Alten leider genau so, wie die Alten die neue Umgebung sahen. Sie sind jetzt gut darüber hin. Helga meldete mir heute, ohne Erschütterung ihres seelischen Gleichgewichts, den 4. Exitus in ihrer Nachtwache. [...] Auf ein Wiedersehen freue ich mich mächtig, aber gelt, nur in der Ilmenauer Prägung! Ihr wart doch immer mein Stolz und draußen sollt Ihr meine Freude und Ehre sein und ich weiß, daß es Heimweh war, was aber nun wohl seine letzte Sprache
Manfred Weißbecker
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gesprochen hat, weil Ihr inzwischen die alten Kräfte angesetzt und schon viel Schönes erlebt habt!? »Gelobt sei, was da hart macht! Immer Eure Schwester Erika.«
A nmerkungen 1 Der Volks-Brockhaus, Leipzig, 9. Aufl. 1941, S. 487. 2
Dank gebührt insbesondere Dr. Max Wolkowicz, der die Briefe auf einem zu entrümpelnden Dachboden fand und sofort ihren Wert als Quelle vertiefender geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen erkannte.
3 Da es im vorliegenden Beitrag weniger um die individuellen Schicksale geht, wurden die Namen der Briefschreiberinnen verändert. In den Zitaten aus ihren Texten sind orthographische und grammatikalische Fehler stillschweigend korrigiert. Landläufige Abkürzungen wurden aufgelöst. 4 Die Briefe datieren v o m 16.06.1941, 30.09-02.10.1941, 27.02.1942 und 04.07.1942. 5 Unser Rundbrief, S. 3. 6 Brief vom 16.06.1941. In: Ebenda, S. 41. 7 Unser Rundbrief, S. 2. 8
Ebenda, S. 7 f.
9 Brief vom 18.04.1941. In: Ebenda, S. 9-17. 10 Brief vom 29.04.1941. In: Ebenda, S. 18-23. 11 Briefe v o m 01.-05.5., 09.05. und 17.05.1941. In: Ebenda, S. 23-32. 12 Brief vom 24.06.1941. In Ebenda, S. 59 f. Ergänzend schrieb Christina F.: »Daß man gleich nach der ersten Enttäuschung die Flügel hängen läßt, begreife ich nicht. Ich meine, für's erste war ich auch erledigt. Aber unterkriegen laß ich mich nicht! Dafür k o m m e ich ja aus Ilmenau! Und wenn wir alle gehen wollten, nur weil es nicht so ist, wie wir es uns dachten, könnte es ja auch nie so werden. Also bleibt es bei unserer Parole: Ausharren und Durchhalten!« 13 Brief v o m 01.03.1942. In: Ebenda, S. 153 f. 14 Siehe den Auszug aus dem Brief vom 16.06.1941 (In: Ebenda, S. 41-53) am Ende dieses Beitrages. 15 Abgedruckt als Dokument Nr. 114 in Herwart Vorländer: Die N S V . Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard 1988, S. 305. Die offizielle Bezeichnung lautete seit dem 17.05.1934: NS-Schwesternschaft. Siehe ebenda, S. 309. 16 Zit. nach Vorländer, Die NSV, S. 403. 17 Richtlinien für die Schwesternschaft der NSV. In: Ebenda, S. 307. 18 Warum Ausbau der NS-Schwesternschaft? In: Nationalsozialistischer Volksdienst 1937/38, S. 95 f. Zit. nach Vorländer, Die NSV, S. 311 f. 19 Zit. nach ebenda, S. 369. 20 Zit. nach ebenda, S. 110. 21
Brief vom 24.06.1941. In: Unser Rundbrief, S. 60.
22
Mit diesem Kürzel meinten die Briefschreiberinnen »Bevölkerungspolitik«.
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Die jungen Frauen bezeichneten SS-Männer als »Hummeln«.
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Brief v o m 01.07.1941. In: Ebenda, S. 61-73.
25
Brief vom 13.07.1941. In: Ebenda, S. 77.
26
Brief vom 22.01.1942. In: Ebenda, S. 139.
27
Brief v o m 04.02.1942. In Ebenda, S. 149.
28
Das Gedicht »Die Hummeln« ist dem »Rundbrief« als Anhang beigefügt worden.
29
Brief v o m 30.09.1941. In: Ebenda, S. 101 f.
30 Der Jagdflieger Werner Mölders, um den sich in besonderem Maße Heldenkult entfaltet hatte, war am 21.11.1941 abgestürzt. 31 Generaloberst Ernst Udet, den Hitler und Göring für das Scheitern des Luftkrieges gegen Großbritannien verantwortlich machten, hatte sich am 18.11.1941 das Leben genommen. Sein Tod wurde in der Presse als Unfall dargestellt. 32
Brief vom 18.12.1941. In: Ebenda, S. 134 f.
33 Brief vom 04.07.1942. In: Ebenda, S. 170 ff.; Hervorhebung v o m Vf. 34 Aus der reichhaltigen Literatur sei hier lediglich verwiesen auf. Medizin unterm Hakenkreuz. Hrsg. von Achim T h o m und Genadij Ivanovic Caregorodcev, Berlin 1989; Birgit Breiding: Die braunen Schwestern. Ideologie - Struktur - Funktion einer nationalsozialistischen Elite, Stuttgart 1998. 35 Zu diesem hier als Beispiel angeführten Fall siehe Wolfgang Benz: Ärzte als Verbrecher. Z u m Jahrestag der Prozesse in Nürnberg. In: Freitag, 25.10.1996, S. 3
Werner Fischer
Zur Entwicklung des Gaues Berlin der NSDAP und seiner Politischen Leiter 1933 bis 1939
Mit dem Jubilar Kurt Pätzold verbinden den Autor mehr als dreißig Jahre gemeinsame Tätigkeit bzw. Interesse an der Erforschung von Faschismus und Zweiten Weltkrieg. Bereits als Student und später als junger Kollege am Institut für deutsche Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin profitierte er von den weitgefächerten Forschungsinteressen des Jubilars, darunter auch zur Parteiengeschichte. Ab Mitte der sechziger Jahre begann die gemeinsame Beschäftigung mit der Geschichte der NSDAP, vor allem im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Hochschullehrbuches zur deutschen Geschichte »Deutschland 1933 - 1939«. Damals wurde am Institut mit der Erarbeitung von Studien zur Parteiengeschichte für die Zeit der Weimarer Republik und speziell auch zur allgemeinen und Berliner NSDAP-Geschichte begonnen. Allerdings wurde die N S D A P nicht über das Jahr 1934 hinaus behandelt. 1 Die Beschäftigung mit der Geschichte der N S D A P konnte von Kurt Pätzold schließlich gemeinsam mit Manfred Weißbecker 1981 mit »Hakenkreuz und Totenkopf«, einer bei allen Problemen und Beschränkungen verdienstvollen Gesamtgeschichte der NSDAP, zu einem ersten Abschluß gebracht werden. Auf einer Tagung 1991 in Berlin mußten allerdings Wolfgang Wippermann und Laurenz Demps feststellen, daß sowohl in Ost- als auch in Westberlin für viele Gebiete der Geschichte Berlins in der Nazi-Diktatur, darunter auch die bereits 1983 von Johannes Tuchel angemahnten Studien zur N S D A P in Berlin, weiterhin fehlten 2 . Als sich der Autor für die vorliegende Festschrift mit dem Thema beschäftigte, mußte er konstatieren, daß sich auch im Jahr 1999 diese Situation nicht geändert hat. Dagegen liegen vor allem zu den süddeutschen Gebiete umfangreiche Regionalstudien zur Entwicklung des Apparates der NSDAP, der Herrschaftstechniken und zu den agierenden Personen zwischen 1933 und 1945 vor. 3
179
Zur Entwicklung des Gaues Berlin der NSDAP...
Zur bisherigen
Erforschung
und zur
Quellenlage
Eine der Ursachen für die bisherige Vernachlässigung des Themas ist ganz sicher die nach wie vor äußerst unbefriedigende Quellenlage. Auf Grund der Kriegs- und Nachkriegssituation in Berlin habe sich offensichtlich nur Bruchstücke der Akten zum Gau Berlin der NSDAP erhalten. In einigen Akten von Reichsdienststellen der NSDAP wurden splitterhafte Unterlagen zum Gau Berlin, u.a. zu der Mitgliederentwicklung bis Mai 1943 gefunden. Die im Archivlager Hoppegarten nachgewiesenen über 2.500 Personalakten zur N S D A P in Berlin waren dem Autor bisher noch nicht zugänglich. Ihr Aussagewert für das Thema kann daher nicht beurteilt werden. Die Unterlagen des ehemaligen Berliner Document Center, die sich jetzt im Bundesarchiv BerlinLichterfelde (BArch) befinden, beinhalten im wesentlichen relativ zufällige Überlieferungssplitter zu einzelnen Personen. Es fehlen nahezu vollständig Angaben unterhalb der Ebene Gau, so daß die Auswirkungen der unterschiedlichen Sozialstruktur, die historischen Voraussetzungen, aber auch die rasanten Veränderungen in der Zeit nach 1933 in Berlin kaum behandelt werden können. Die nun im wesentlichen nahezu vollständig veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen von Joseph Goebbels, des Gauleiters von Berlin, 4 sind eine wichtige Quelle, enthalten aber nur in beschränktem Maße Angaben zur N S D A P Berlin und zum Führerkorps des Gaues, sondern sind in erster Linie Selbstdarstellung. Insgesamt konnten bisher zu etwa 60 Berliner NSDAP-Funktionären der Ebene Gau- und Kreisleiter mehr oder weniger dichten biographische Angaben erfaßt werden. Das sind etwa 10% der rund 600 Politischen Leiter und Amtswalter der Ebene Ortsgruppenleiter und aufwärts. Auch das ist eine relative schmale Basis. Der Autor hat sich entschlossen, trotz vieler nicht geklärter Fragen und Probleme, hier eine erste Überblicksdarstellung über die Entwicklung der N S D A P in Berlin und deren Führerkorps 1933 bis 1939 vorzulegen. Es soll versucht werden, einen Gesamtüberblick zu geben und beispielhaft einzelne Vorgänge und wesentliche Entwicklungen zu charakterisieren. Späteren Untersuchungen muß die weitere Behandlung der Konsolidierungsphase und der N S D A P Berlin im Krieg 1939 bis 1945 und zu den speziellen Aspekten der Organisation und Durchdringung der Hauptstadt durch die Naziorganisationen (SA, SS, NSV, HJ, Frauenschaft) vorbehalten bleiben.
Werner Fischer
180
Die NSDAP Berlin greifung«
und ihre Politischen Leiter in der Phase der »Machter-
und der Konsolidierung der faschistischen
Herrschaft
1933/34
Der Marsch der SA-Kolonnen am 30. Januar 1933 durch das Brandenburger Tor und an dem zum Reichskanzler ernannten NSDAP-Führer Hitler und seinem Berliner Statthalter Goebbels vorbei, sollte auch den Sieg über das »rote« Berlin symbolisieren. Allerdings war der N S D A P und ihrem Gauleiter weder bei den Wahlen zum Reichstag am 5. März, noch bei den Kommunalwahlen am 13. März ein eindeutiger Sieg über das »rote Berlin« gelungen, ein Makel, den Goebbels nie ganz verdrängen konnte. Am 5. März 1933 lag das Wahlergebnis der N S D A P in Berlin trotz des besonders scharfen Terrors mit 34,6% um fast 10% unter dem Reichsdurchschnitt (43,9%). Am 13. März erreichte die N S D A P mit 38,2% nur gemeinsam mit der verbündeten »Kampffront Schwarz-Weiß-Rot« ein ganz knappes Ergebnis über 50%. Heißt das nun, daß Berlin nach 1933 keine nationalsozialistische Hochburg war? Für die Beantwortung dieser Frage ist es auch notwendig, die Entwicklung der Naziorganisationen und deren Wirken in Berlin einzuschätzen. Der Gau Berlin 5 der NSDAP, von Oktober 1926 bis zu seinem Selbstmord im April 1945 unter Leitung J o s e p h G o e b b e l s 6 , war seit 1929 territorial mit dem Stadtgebiet von Berlin identisch und blieb in seiner Ausdehnung bis 1945 gleich. Er gehörte zu den bevölkerungreichsten Gauen (mit 4,2 Million Einwohnern an 3. bzw. 4. Stelle nach Sachsen, Schlesien bzw. Niederschlesien und nach 1939 des »Warthegaus«). Im August 1932 wurde die Untergliederung des Gaugebietes von bisher 4 Bezirksorganisationen auf 10 Parteikreise, ein NSDAP-Kreis für je 2 Stadtbezirke entsprechend der administrativen Gliederung Berlins, ausgebaut 7 . Diese Gliederung blieb für die gesamte Zeit von 1933 bis 1945 bestehen. Die unterhalb der Kreise bestehende Organisation in Ortsgruppen, Straßenzellen, Blöcke war zum Teil in Berlin erstmals erprobt worden und wurde dann für die gesamte N S D A P übernommen. Diese Unterorganisationen wurden ab 1933 erheblich verdichtet und immer wieder den Bedürfnissen nach Durchdringung der Stadt angepaßt 8 . Zahlenmäßig entwickelte sich die Gauorganisation Berlin der N S D A P von wenigen hundert Mitgliedern im Jahre 1926 auf 7.860 am 14. Septemberl931 und 55.604 am 30. Januar 1933. Damit hatte der Gau Berlin den vierten Platz unter allen Gauen inne und stellte 6,5% aller NSDAP-Mitglieder in ganz Deutschland. 9 Unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begann auch in Berlin der Massenzulauf zu den faschistischen Organisationen, der schließlich im Begriff der »Märzgefallenen« für die nach den Reichstags-, Landtags- und Kommunalwahlen im März 1933 eingetretenen Mitglieder seinen ironischen Ausdruck fand. Der Zustrom zur N S D A P führte in Berlin zum Anwachsen innerhalb von 3 Monaten auf etwa 200
Zur Entwicklung des Gaues Berlin der NSDAP...
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Prozent gegenüber dem 31. Januar 1933, d.h. auf rund 110.000 Mitglieder. Bei der NS-Beamten-Abteilung wuchs die Mitgliedschaft in Berlin von 10.000 im Januar auf 70.000 im Mai 1933, also auf 700%. 1 0 Die weitere Entwicklung der Mitglieder im Gau Berlin der N S D A P seit 1933 verlief nach den bisher vorliegenden Angaben des Reichsschatzmeisters wie folgt: 30.01.1933
55 604
(1,3% der Einwohner)
01.01.1935
138 117
(3,2% der Einwohner)
31.12.1937
206 019
(4,8% der Einwohner)
31.03.1939
261 335
(6,2% der Einwohner). 1 1
Ab Mai 1933 galt ein Aufnahmestopp für die NSDAP, der aber für bestimmte Zwekke und zu bestimmten Zeiten, z.B. 1935 und 1937 gelockert wurde, bis der Eintritt von 1939 bis 1942 freigegeben wurde. Die SA-Gruppe Berlin-Brandenburg unter Graf Helldorf erstreckte sich über die beiden Gaue Berlin und Brandenburg (Kurmark) und hatte zum Zeitpunkt der »nationalen Revolution« am 30.1.1933 allein in Berlin rund 30.000 SA-Angehörige. Kurz nach der Aufhahmesperre auch für die SA und SS am 10.7.1933 umfaßte die SAGruppe Berlin-Brandenburg schon um 90.000 Angehörige. 1 2 Das war, wie sich im nächsten Jahr zeigen sollte, ein politisch durchaus ambivalentes Terror- und Machtpotential. Helldorf, der im März 1933 die Führung der SA-Gruppe wegen seiner Berufung zum Polizeipräsidenten von Potsdam niederlegte, kam 1935 als Polizeipräsident wieder nach Berlin zurück und spielte eine Rolle als Vertrauter Goebbels« besonders bei der Judenverfolgung in Berlin und später als Teilnehmer am 20. Juli 1944. Nachfolger wurde Karl Ernst, damals 29 Jahre, eine besonders dubiose Gestalt unter den Berliner SA-Führern, vorher Führer der SA-Untergruppe Berlin-Ost mit damals 8.000 Mann. Die SS, damals Teil der SA und in 2 Standarten gegliedert, verfugte in Berlin Anfang 1933 über etwa 4.000 Angehörige. Die Hitlerjugend hatte Anfang Februar 1933 in Berlin etwa 4.000 Mitglieder. Auch sie nahm beträchtlich zu, so wurde bereits 1933 in jedem der 20 Verwaltungsbezirke ein Bann als Gliederung eingerichtet. Seit 1931 war die NS-Frauenschaft unmittelbar der Gauleitung bzw. den Kreisleitungen der N S D A P unterstellt. Die NS-Frauenschaft, die von 1933 bis 1945 von Sophie Fikentscher geleitet wurde, hatte Anfang 1934 etwa 20.000 Mitglieder, die allerdings nicht alle Mitglieder der N S D A P waren. Umgekehrt waren auch nicht alle weiblichen NSDAP-Mitglieder zu diesem Zeitpunkt in der Frauenschaft verankert. 1 3 Nach den Auseinandersetzungen in den vorhergehenden Jahren hatte sich das NSDAP-Unterführerkorps im Gau Berlin seit Mitte 1932 weitgehend formiert. So hatte der Rücktritt von Gregor Straßer im Dezember 1932 in Berlin keine direkten
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Werner Fischer
Auswirkungen auf die Organisation und das Unterführerkorps der NSDAP. In den ersten Monaten nach der Berufung von Hitler zum Reichskanzler konnte die politische Organisation der N S D A P im Gau Berlin zielgerichtet für die »Machtübernahme« eingesetzt werden, weitgehend, ohne daß es in ihr zu offenen Auseinandersetzungen um Posten und Pfründe kam. Die NSDAP-Gauleitung Berlin hatte Anfang 1933 etwa 150 Mitarbeiter, die als Politische Leiter 1 4 eingestuft waren und eine bisher nicht bekannte Anzahl von meist hauptamtlichen Hilfskräften (Schreibkräfte, Kraftfahrer usw.). In den 10 NSDAP-Kreisleitungen gab es etwa 150 Politische Leiter, dazu kamen noch etwa 100 Ortsgruppen- und Stützpunktleitungen. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es in der Gauleitung, den Kreisleitungen und auch in den Ortsgruppen hauptamtliche Funktionäre, in der Regel zumindest die Geschäftsführer. Die meisten Politischen Leiter waren aber zu dieser Zeit nebenamtlich für die N S D A P tätig. Sie wurden vor allem über die zunächst noch bestehenden Parlamente (so mehr als 20 als Reichstagsmitglieder und ebenfalls soviel im Preußischen Landtag), als Kommunalpolitiker und über die bald okkupierten Institutionen, wie Krankenkassen, öffentliche Betriebe und besonders in Berlin als Kommissare bei den Gewerkschaften und später über die DAF finanziert. Bisher wurden kaum aussagekräf tige Angaben zur Finanzierung der N S D A P im Gau Berlin gefunden. Der 13. März 1933 hatte für die N S D A P Berlin in mehrfacher Hinsicht Auswirkungen, die bis 1945 Bestand haben sollten. Goebbels wurde neben seiner Funktion als Gau- und Reichsleiter an diesem Tag Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, eine dreifache Kombination, die es sonst nicht weiter gab. Er nahm sofort und auch später im Gau Berlin Erprobte in das neue Ministerium mit, so u.a. den späteren Staatssekretär und Gauleiter Karl Hanke als persönlichen Referenten. Erst in zweiter Linie ging es Goebbels um die Beherrschung und Besetzung der Stadtverwaltung von Berlin. Zum Staatskommissar in Berlin wurde der bisherige Hauptschriftleiter des »Angriff« Julius Lippert 1 5 ernannt und für die Schulverwaltung der bisherige stellvertretende Gauleiter Hans Meinshausen 1 6 zunächst kommissarisch zum Stadtschulrat berufen. Dies hatte wiederum ein Revirement in den Parteifunktionen zur Folge. Neuer Stellvertretender Gauleiter wurde der bisherige Gauinspekteur West, Artur Görlitzer 1 7 , an dessen Stelle für kurze Zeit Erich Hilgenfeldt 1 8 trat. Durch Goebbels wurden drei neue Kreisleiter und zwei Gauamtsleiter eingesetzt. Der bisherige Gau-Propagandaleiter und stellvertretende Hauptschriftleiter Karoly Kampmann wurde Hauptschriftleiter des »Angriff«. Die »Machtübernahme« in den Berliner Rathäusern ab März 1933 ist relativ gut dokumentiert. 1 9 Allerdings wurde in den bisherigen Veröffentlichungen auf die Querverbindungen zwischen den Funktionen in der N S D A P und der Kommunalverwaltung kaum oder überhaupt nicht hingewiesen. Eine besondere Rolle spielte dabei
Zur Entwicklung des Gaues Berlin der NSDAP...
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der von Göring als Kommissar z.b.V. zur Organisation der Polizei ins Preußische Innenministerium geholte Berliner »Alte Kämpfer« und SS-Führer Kurt Daluege. 2 0 Sowohl Lippert als auch die Kreisleiter wandten sich mit ihren Wünschen für die Besetzung von Posten an diesen. So wurde z. B. der Führer der Berliner NS Betriebszellenorganisation ( N S B O ) Johannes Engel 2 1 von Lippert mit Hilfe Dalueges als Verkehrsstadtrat von Berlin eingesetzt. 2 2 Auch die NS-Bezirksbürgermeister von Lichtenberg, Karl Mathow, und Köpenick, Herbert Volz erhielten 1933 als »Alte Kämpfer« ihre zunächst kommissarischen Posten über die Intervention des Kreisleiters Erich Schüler bei Daluege und Lippert. 2 1 In dieser Zeit greifen auch weitere politische Funktionäre der NSDAP nach kommunalen Funktionen, wenn auch vielfach zunächst als unbesoldete Stadträte. Dazu gehörten die Kreisleiter Hans von Freyberg 2 4 (Kreis VII) und Alfred Wolfermann 2 5 (Kreis IV) im April 1933 in der Zentralverwaltung und der Kreisleiter Otto Born 2 6 (Kreis V) als Stellv. Bezirksbürgermeister von Mitte. Der nächste Schub für die NSDAP-Funktionäre in Berlin kam mit der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933. In zentrale Stellen rückten mehrere Berliner Funktionäre der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation ( N S B O ) , so der bereits im September 1933 verunglückte Reinhold Muchow als Leiter des Organisationsamtes der DAF und als sein Stellvertreter der damalige NSDAP-Ortsgruppenleiter Wedding, Karl Wollenberg. 2 7 Ein weiteres typisches Beispiel ist der damalige NSDAP-Gauorganisationsleiter Paul Harpe. 2 8 Die N S B O wurde mit der Eingliederung in die DAF als mögliches eigenständiges politisches Gewicht entschärft, sie mutierte zu »SA der Betriebe«. Eine weitere Organisation, die wegen ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrer radikalen Zielsetzung Probleme bei der Festigung der faschistischen Diktatur bereiten konnte, der »Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand«, wurde bereits im August 1933 aufgelöst und seine Mitglieder in die NSHandels- und Gewerbeorganisation und gleichzeitig in die DAF eingegliedert. In Berlin stand der Kampfbund mit etwa 4.000 Mitgliedern unter Leitung von Heinrich Hunke und wurde von diesem ohne weitere Probleme in die neue Organisationsform überführt. H u n k e 2 9 spielte in Zukunft neben seiner Funktion als Gauwirtschaftsberater als Mitarbeiter des Goebbels-Ministeriums und an der Spitze des Werberates der deutschen Wirtschaft eine weit über Berlin hinausgehende Rolle. Die Entwicklung und Rolle der Berliner SA muß einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. Es sei hier nur darauf verwiesen, daß das sowohl von Goebbels als auch vom SA-Führer Graf Helldorf betonte gute Verhältnis zwischen Politischer Organisation und S A 3 0 nach der Ernennung von Karl Ernst zum SA-Gruppenführer Berlin-Brandenburg schnell in heftige Konflikte umschlug. Keine Meinungsverschiedenheiten gab es über den Terror, der von der SA ausgeübt wurde. Dieser wurde von Goebbels und den politischen Leitern der N S D A P durchaus in ihrem Sinne genutzt.
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Es ging vor allem um den politischen Einfluß, der in Berlin aber eindeutig durch die politische Organisation ausgeübt wurde. Ab Herbst 1933 begann in der Gauzeitung »Der Angriff« auf Druck der SA ein stärkeres Herausstellen der SA und ihrer Führer.31
Aber gemeinsame Auftritte zwischen der SA und der politischen Führung der
N S D A P in Berlin wurden zunehmend seltener. 32 Karl Ernst wurde, wie die anderen SA-Gruppenführer, von der SA-Führung als SA-Kommissar in Berlin und Brandenburg eingesetzt. Im Juni 1933 wurde in der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg eine Arbeitsbeschaffungszentrale unter Standartenführer Kunze eingerichtet. In Berlin selbst wurden SA-Leute aber nur in untergeordnete und zudem nur zeitweilige Posten vermittelt. 3 3 Eine der wichtigsten Aktionen in Berlin sowohl für die Unterbringung von SA-Leuten als auch für den zielgerichteten Einsatz des Terrors war ohne Zweifel die Bestellung von 5.000 Angehörigen von SA, SS und Frontbann am 22. Februar 1933 zu Hilfspolizisten. Göring behielt sich den Einsatz dieser Hilfspolizisten in Berlin selbst vor und leitete sie über den SS-Führer Daluege und den Polizeimajor Wecke. Im August 1933 wurde die Hilfspolizei aufgelöst. Nur ein geringer Teil der SA konnte in die von Anhängern der Weimarer Republik »gesäuberte« Polizei einrücken. Die SA-Gruppe Berlin-Brandenburg selbst wuchs trotz Aufnahmesperre bis Anfang 1934 nach Angaben von Karl Ernst auf 180.000 Angehörige. 3 4 Im Laufe des Jahres 1933 und auch später wurde die Situation der N S D A P in Berlin durch die Verlagerung zahlreicher zentraler Einrichtungen der N S D A P aus München sowie die Entstehung zahlreicher neuer Institutionen in Berlin mit bestimmt. So wurden wichtige Teile der NSDAP-Führung, die dem neu ernannten »Stellvertreter des Führers« Rudolf Heß unterstanden, nach Berlin verlegt. Auch der Reichsleiter Alfred Rosenberg siedelte seine vielen Ämter zunehmend in Berlin an. Die Ämter Volkswohlfahrt und die Reichsjugendführung unter Baldur Schirach, der Agrarpolitische Apparat unter dem Reichsleiter Darre und große Teile des Amtes für Beamte hatten ihre Dienstsitze in Berlin. Die DAF hatte ihre gesamte Führung in Berlin auf- und ausgebaut. Mit diesen Institutionen kam eine große Zahl von Politischen Leitern und Amtswaltern nach Berlin. Während die NSDAP-Spitzenfunktionäre in der Sektion Reichsleitung der N S D A P in München organisiert waren, wurde die Masse der Politischen Leiter und Amtswalter Mitglied in der Berliner NSDAP. Es gab von Anfang an Doppelfunktionen in zentralen Institutionen und im Gau Berlin der NSDAP. So war etwa der Gauamtsleiter für Beamte, Hans Fabricius, gleichzeitig als Geschäftsführer der Reichstagsfraktion der N S D A P Reichsamtsleiter. 3 5 In der folgenden Zeit übernahmen Mitarbeiter zentraler Institutionen auch Funktionen wie Ortsgruppenleiter und Kreisamtsleiter. Auch weiterhin gab es Wechsel aus Berliner NSDAP-Ämtern in zentrale Stellen. So wurde Erich Hilgenfeldt im Mai 1933 zum Reichsamtsleiter der NS-Volkswohl-
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fahrt (NSV) ernannt und nahm den Gauamtsleiter für Volkswohlfahrt in Berlin, Hans Bernsee, in das neue Amt mit. An seine Stelle im Gau Berlin trat im September 1933 der nach dem 13. März neu gewählte NSDAP-Stadtverordnetenvorsteher Karl Spiewok. 3 6 Die N S V hatte in Berlin wegen der besonders angespannten sozialen Lage für die Durchdringung und Bindung zahlreicher Schichten eine herausragende Bedeutung. Nicht umsonst zog Goebbels das Winterhilfswerk unmittelbar und damit indirekt auch die N S V als soziale Massenorganisation an sich. In seinen Tagebuchaufzeichnungen wird der propagandistische Aspekt dieser Aktivitäten immer wieder direkt betont. So schaltete sich Goebbels sofort in die ursprünglich von der SA organisierten »Volksweihnachten« 1933 ein, die in den nächsten Jahren in Berlin zum festen Jahresritual sowohl von Goebbels als auch der N S D A P und der N S V wurden. Auch zur N S V muß auf eine spätere Behandlung verwiesen werden. Um die Dimension deutlich zu machen, sollen hier Zahlen von April 1935 angeführt werden. Danach hatte Mitte 30,9%, Horst-Wessel-Stadt 29,5%, Kreuzberg 28,5%, Prenzlauer Berg 27% und Wedding 25,6%, dagegen Zehlendorf nur 6,7% Bedürftige an der Gesamtbevölkerung, die durch die N S V betreut wurden. 3 7 Die Mobilisierung der Massen durch die N S D A P konnte nach der Aufnahmesperre vom Mai 1933 nicht mehr nur durch die innere Organisation oder durch Mitgliederversammlungen erfolgen, sondern in erster Linie durch die Organisierung der öffentlichen Zustimmung und durch den Ausbau der um die N S D A P gruppierten Spezialorganisationen. In Berlin wurden die Massenaufmärsche von der N S D A P zum 1. Mai 1933 und noch mehr zum 1. Mai 1934 mit jeweils über einer Million Teilnehmer Höhepunkte, die sich nicht nur an die Arbeiter richteten, sie sollten vielmehr die oft beschworene Volksgemeinschaft symbolisieren. Dazu kamen z.B. Generalappelle und Ausmärsche der Politischen Leiter 3 8 und der NSDAP-Kreise 3 9 , der Organisationen, wie N S B O , Beamtenbund und N S V mit jeweils 10.000 und mehr Teilnehmern. D e m dienten aber auch die p o m p ö s aufgezogenen Feiern für die »Märtyrer der Bewegung«, z. B. in Berlin jährlich zu Horst Wessel, dessen Nahmen der Stadtbezirk Friedrichshain erhielt. Die Organisation dieser Veranstaltungen im nationalsozialistischem Festzyklus wurde zu einer wichtigen Aufgabe der Gauleitung und der Kreisleitungen, bei der sich eine Reihe junger NSDAP-Funktionäre gegenüber Goebbels profilierten. Dazu gehörte Gerhard Schach, der es 1944 schließlich noch zum stellvertretenden Gauleiter bringen sollte. 4 0 Die Ereignisse um den 30. Juni des Jahres 1934, dem sogenannten Röhmputsch, berührten die N S D A P Berlin nur unmittelbar. Zwar nahm Goebbels in der Umgebung Hitlers an den Ereignissen in Bayern teil, aber in Berlin fungierten Göring, Daluege und Heydrich. Sie veranlaßten neben anderen die Erschießung des SAGruppenführers von Berlin-Brandenburg Karl Ernst und dessen Sanitätschefs, SA-
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Brigadeführer Villain. Weiter wird die Liquidierung des SA-Standartenführers Berthold Hell, Standarte 1 (Charlottenburg), genannt. Hintergrund für die unter dem Vorwurf des Landesverrats erfolgte Erschießung des SA-Arztes Dr. Villain bildeten Auseindersetzungen mit dem Arzt der SS-Obergruppe Ost, Leonardo Conti. 4 1 Conti war neben seiner Tätigkeit im Preußischen Innenministerium auch Gauamtsleiter für Volksgesundheit und C h e f des NS-Ärztebundes in Berlin. Hinter ihm standen Göring und Daluege, während der SA-Führer Karl Ernst die Verhaftung Villains durch die Gestapo verhindert hatte. Die Säuberung der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg übernahm zunächst Kurt Daluege, später der SA-Obergruppenführer Dietrich von Jagow. 4 2 Inwieweit Goebbels und die N S D A P Berlin darin einbezogen wurden, kann zur Zeit nicht beantwortet werden. Der stellvertretende Gauleiter Görlitzer schob jedenfalls die Schuld ausschließlich auf Karl Ernst, der verhindert hätte, daß die N S D A P Berlin ihren sozialen Aufgabe gegenüber der SA nachgekommen wäre. 43 Die SA in Berlin wurde nach dem 30. Juni 1934 erheblich reduziert und ihres politischen Charakters weitgehend entkleidet. Durch den neuen SA-Chefin Berlin, von Jagow, wurde zudem die Mehrzahl der Berliner SA-Führer in andere Gebiete versetzt und von außerhalb neue SA-Führer nach Berlin geholt. Goebbels sperrte sich dagegen, da er offensichtlich auf ihre in der »Kampfzeit« erworbenen terroristischen Qualitäten bei der Eroberung der Arbeiterviertel und bei der Entfachung von antisemitischen Pogromen nicht verzichten wollte. 4 4
Der Gau Berlin der NSDAP und seine Politischen Leiter in der Phase der Konsolidierung und der beginnenden Kriegsvorbereitungen 1935 bis 1939 Die bereits erwähnte »Parteistatistik« von 1935 bietet einen Eindruck von der Konsolidierung und Stabilisierung der faschistischen Organisationen und der Durchdringung der Gesellschaft in Berlin, aber auch von den Problemen. Der Gau Berlin der N S D A P stand danach am 1. Januar 1935 zwar mit 138.117 Mitgliedern an dritter Stelle nach Sachsen und dem Gau Kurmark. Er stellte 5,3% aller NSDAP-Mitglieder. 4 5 Damit war Berlin in der Organisationsdichte gegenüber Anfang 1933 (6,5%) erheblich zurückgefallen. Bei der Anzahl der NSDAP-Mitglieder pro Einwohner bzw. pro wahlberechtigten Einwohner stand der Gau Berlin an 27. bzw. an 31. Stelle von 32 Gauen. In Berlin kam ein Parteimitglied auf 30,4 Einwohner, in Schleswig-Holstein auf 18,1 Einwohner. Nur 4,02% der wahlberechtigten Einwohner waren NSDAPMitglied im Gegensatz etwa zu Schleswig-Holstein, wo 7,48% aller Wahlberechtigten in der N S D A P organisiert waren. Die N S D A P Berlin hatte nach der Parteistatistik zu diesem Zeitpunkt folgende soziale Zusammensetzung (Angaben in Prozent):
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Berlin
Reich
Arbeiter
26,2
30,3
Angestellte
34,2
19,4
Selbständige
15,9
19,9
Beamte
11,1
7,7
Bauern
0,5
10,2
Sonstige
4,2
3,2
Rentner
1,5
1,5
Studenten
2,1
1,3
Hausfrauen
3,8
2,6
Daraus gehen erhebliche Unterschiede zum Reichsdurchschnitt hervor. Besonders auffallend ist das Übergewicht der Angestellten und Beamten und die noch deutlichere Unterrepräsentanz der Arbeiter in Berlin sowohl gegenüber dem Reichsdurchschnitt als besonders auch gegenüber der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung (Berlin 1933: Arbeiter 53%). Verständlich ist der geringe Anteil von Bauern unter den NSDAPMitgliedern in Berlin. Während im Reichsdurchschnitt 8,35% der NSDAP-Mitglieder Handwerker (als Teil der Selbständigen ausgewiesen), waren es in Berlin nur 3,64%. Die Beamten in der NSDAP Berlin waren sowohl gegenüber dem Reichsdurchschnitt als auch gegenüber dem Bevölkerungsanteil (1933: 8,4%) stärker vertreten. Dagegen stellten die Lehrer (als Teil der Beamten) mit 3.090 Angehörigen in Berlin nur 2,24% der NSDAP-Mitglieder, im Reichsdurchschnitt 3,37%. Die Angehörigen der »freien Berufe« (Rechtsanwälte, Arzte usw.) waren in Berlin mit 6,04% fast doppelt so stark unter den Mitgliedern der NSDAP organisiert, wie im Reichsdurchschnitt mit 3,18%. Auch Studenten und Hausfrauen waren in Berlin überrepräsentiert. Bei der Altersgliederung zeigt sich ein starkes Überwiegen der 21 bis 30jährigen (34,1%) und der 31 bis 40jährigen (27,9%) unter den NSDAP-Mitgliedern. Insgesamt war die NSDAP in Berlin nach dem 30. Januar 1933 in geringerem Umfang gewachsen als im Reichsdurchschnitt. Der hohe Anteil der Angestellten und Beamten weit über den Bevölkerungsanteil bestätigt offensichtlich die These von der kleinbürgerlichen Massenbasis der NSDAP. Der höhere Anteil der Mitglieder in den freien Berufen in Berlin zeigt m.E., daß es den Nazis gelungen ist, ihren gerade hier ausgeprägten Antisemitismus in Berlin auf diese Gruppen zu übertragen. Diese Gruppen hatten durch die frühe Ausschaltung der jüdischen Angehörigen dieser Berufsgruppen besonders viel gewonnen. Der unterdurchschnittliche Anteil von Selbständigen und insbesondere von Handwerkern ist möglicherweise den speziellen Bedingungen in der Großstadt Berlin geschuldet. Auch der geringe Anteil von Lehrern in der NSDAP Berlin kann als Spezifikum Berlins
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interpretiert werden. Offensichtlich gab es besonders beim mittleren Führerkorps Widerstände, außerdem wurden sie als örtliche Eliten weniger gebraucht als in Flächenländern. Der NSDAP war es bereits vor 1933 gelungen, Arbeiter (31. Januar 1933: 24 %) an sich zu binden, wie es früher bereits konservativen Parteien gelungen war. Trotz der gerade in Berlin durch Goebbels ausgeprägten sozialen Demagogie war es der NSDAP nach 1933 kaum gelungen, stärker in die Arbeiterschichten einzudringen. Bei den Politischen Leitern und Amtswaltern zeigen sich für Berlin ebenfalls Besonderheiten. Am 1. Januar 1935 gab es in Berlin 24.401 Politische Leiter, davon 16.929 »Hoheitsträger« (rund 14.000 Blockleiter, 2.516 Zellenleiter, 160 Ortsgruppenleiter und Stützpunktleiter und 10 Kreisleiter). Die Hoheitsträger machten fast 7 0 % der Politischen Leiter aus, 3 0 % waren Angehörige von Stäben. 4 6 Während im Reich 20,2% aller NSDAP-Mitglieder als Politische Leiter eingesetzt waren, waren es in Berlin 17,7%. Die Hoheitsträger vom Ortsgruppenleiter/Stützpunktleiter aufwärts, machten in Berlin nur 0,7% der Mitglieder aus, im Reichsdurchschnitt dagegen 4,5%. Obwohl die N S D A P in Berlin in geringerem Umfang nach dem 30. Januar 1933 gewachsen war, waren 6 0 , 1 % der Politischen Leitern nach diesem D a t u m in die N S D A P eingetreten (Reichsdurchschnitt 40,4%). Sie wurden allerdings nur in den untersten Rängen eingesetzt, wo sie sich bewähren mußten. Bei den Hoheitsträgern ab Ortsgruppenleiter/Stützpunktleiter aufwärts waren in Berlin 6 2 % bis 14. September 1930 und 38% bis zum 30. Januar 1933 eingetreten. Im Reichsdurchschnitt waren es dagegen nur 25,5% bis z u m 14. September 1930, 52,1% bis zum 30. Januar 1933 und 22,6% ab diesem Zeitpunkt. Mit 5.087 seit dem 30. Januar 1933 ausgeschiedenen Politischen Leitern hatte Berlin eine deutlich höhere Fluktuation als im Reichsdurchschnitt (40.153), allerdings mit 994 Abgesetzten (19,5%) wesentlich weniger als in der gesamten N S D A P (26,4%). Die soziale Zusammensetzung der Politischen Leiter wird in der Parteistatistik 47 so angegeben: Berlin
Reich (in Prozent)
Arbeiter
22,6
22,4
Angestellte
43,1
22,0
Selbständige
13,3
18,9
Beamte
16,2
17,1
Bauern
0,7
14,3
Sonstige
1,4
2,8
Rentner/Pensionäre
1,2
Hausfrauen
0,6
1,2 1,2
Studenten
0,9
0,4
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Bei der altersmäßigen Zusammensetzung der Politischen Leiter gibt es gegenüber der Gesamt-NSDAP in Berlin eine leichte Verschiebung zu den über 40jährigen. Bei den Hoheitsträgern bis herab zum Ortsgruppenleiter kann die soziale Herkunft teilweise durch weitere Quellen näher erschlossen werden. 4 8 Während bis 1935 die soziale Herkunft von Ortsgruppenleitern und Kreisleitern als Arbeiter im Gau Berlin in der Öffentlichkeit noch gezielt eingesetzt wird, verschwindet später sowohl in den Selbstdarstellungen als auch in der Öffentlichkeit der Hinweis auf die Arbeiterherkunft von Kreisleitern, Ortsgruppenleitern und NS-Kommunalpolitikern u.a. fast vollständig. Dann treten die Eigenschaften »Alter Kämpfer« und sozialer Aufstieg (z. B. Stadtrat, Fachschaftsleiter in der DAF) in den Vordergrund. Für den 1.1.1935 liegen auch die Zahlen der »Gliederungen« (NS-Frauenschaft, SA, SS) und der angeschlossenen Verbände (Deutsche Arbeitsfront, Reichsbund Deutscher Beamter, NS-Volkswohlfahrt usw.) vor: 4 9 NS-Frauenschaft (Berlin)
22.894
(23.Platz von 32 Gauen)
SA: NSDAP-Mitglieder
30.532
34,1%
Nicht-NSDAP-Mitglieder
59.080
65,9%
Gesamt
89.612
SS: NSDAP-Mitglieder
3.244
53,8%
Nicht-NSDAP-Mitglieder
2.783
46,2%
Gesamt
6.027
Deutsche Arbeitsfront
1.012.305
Reichsbund Deutscher Beamter
40.000
NS-Lehrerbund
13.069
NS-Rechtswahrerbund
1.832
NS Bund Deutsche Technik
1.554
NS-Ärztebund NS-Volkswohlfahrt
5950 241.834
Die Politischen Leiter in diesen Organisationen stellte ausschließlich die NSDAP. Diese wurden auch vielfach über diese Organisationen bezahlt. Für solche Organisationen, wie die DAF und NS-Volkswohlfährt reichten die NSDAP-Mitglieder als Funktionäre nicht aus, so daß eine beträchtliche Anzahl der unteren Ränge mit Nichtmitgliedern besetzt werden mußten. Selbst bei solchen Gliederungen der NSDAP, wie NS-Frauenschaft, SA und SS gab es einen beträchtlichen Anteil an Nichtmitgliedern. Die meisten von ihnen wurden allerdings nur durch das Aufnahmeverbot vom Eintritt in die N S D A P abgehalten. In HJ und B D M befanden sich Mitte 1935 in je 10 HJ-Bannen, Jungvolk-Bannen und BDM-Untergauen entsprechend der Parteiglie-
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derung unter Leitung des HJ-Gebietsführers Arthur Axmann 5 1 insgesamt 140.000 Angehörige von 640.000 Jugendlichen in Berlin. 5 2 Ab 1935/1936 also war das System der N S D A P in Berlin mit ihren Kernorganisationen, der eigentlichen Parteiorganisation und den »Gliederungen« (SA, SS, N S K K , Frauenschaft, HJ und DAF), weitgehend gefestigt. Die Berliner N S D A P hatte u.a. die Olympischen Spiel für die Stabilitätspropaganda sowohl nach Innen als auch nach Außen extensiv genutzt. Das Instrumentarium zur Lenkung der Bevölkerung hatte sich soweit differenziert und entwickelt, daß die Maßnahmen der obersten Führung ohne größere Probleme durchgesetzt werden konnten, wie die Einführung der Wehrpflicht, die militärische Besetzung des Rheinlandes und die beginnende militärische Aufrüstung mit ihren ersten Versorgungsproblemen. Dazu gehörte auch die Organisierung der Judenverfolgung nach dem Erlaß der Rassengesetze und das Pogrom v o m November 1938. Weitgehend abgeschlossen war die faschistische Durchdringung der Verwaltung und ihre NS-Überformung. Nun ging es u.a. um die Bestimmung der Rolle der N S D A P bei der weiteren Durchsetzung der innen- und außenpolitischen Ziele, insbesondere die Kriegsvorbereitung (Vierjahresplan, weitere Militarisierung der gesamten Gesellschaft). Leider läßt sich durch das Fehlen differenzierter Angaben bisher noch kein eindeutiges Bild dafür gewinnen, ob und wie die Hinweise von 1935 zur Notwendigkeit der weiteren Gewinnung von Arbeitern für die N S D A P in Berlin verfolgt wurden. Die Ergebnisse der Untersuchung der »Parteistatistischen Erhebung« v o m Juli 1939 scheinen eher das Gegenteil zu beweisen. Danach waren rund 17% Handarbeiter, 4 3 % Angestellte, 16% Beamte 16% Selbständige und ungefähr 8% Rentner, Pensionäre, Studenten und Hausfrauen. 5 3 Für die regionalen Gliederungen kann nur die Organisationsdichte der N S D A P für den Kreis V (Mitte/Kreuzberg) für März 1941 berechnet werden. Danach kamen auf 595.891Einwohner 32.835 NSDAP-Mitglieder. 5 4 In diesem dicht besiedeltem Gebiet mit einem deutlich höheren Arbeiteranteil als im Berliner Durchschnitt betrug der Anteil der NSDAP-Mitglieder an der Bevölkerung etwa 5,5%, also deutlich unter dem Durchschnitt von 6,8% für Berlin. 5 5 Die Verdichtung des Netzes der Ortsgruppen in den Arbeitervierteln 5 6 hatte offenbar nur einen geringen Einfluß auf die soziale Zusammensetzung der NSDAP. Ein, wenn auch unzulängliches, Hilfsmittel zur Beurteilung der Durchdringung kann die Werbekampagne in den Ortsgruppen für den »Reichsschulungsbrief der N S D A P « bieten. Danach bezogen Ende 1938 im Durchschnitt 44% aller Haushalte (wie ausdrücklich betont »ohne jüdische«) dieses Material, im Kreis III (Steglitz/Tempelhof) 54,2% und im Kreis VII (Horst-Wessel-Stadt/Prenzlauer Berg) nur 32,7%. 5 7 In den Jahren 1935 bis 1939 gab es eine Reihe von Personalentscheidungen in der Gauleitung und in den Kreisen, die unterschiedliche Ursachen hatten. So gab es in
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der zweiten Hälfte 1935 einige Fälle von Korruption in der Wirtschaftsabteilung der Gauleitung, die dem stellvertretendem Gauleiter Görlitzer ein Parteigerichtsverfahren einbrachten. Hitler entschied aber, nichts gegen ihn zu unternehmen und Goebbels unterstützte diese Entscheidung. 5 8 Ein weiterer Korruptionsfall betraf den Leiter der Landesstelle Berlin-Brandenburg des Propagandaministeriums, Walther SchulzeWechsungen. 5 9 Goebbels hatte bereits Anfang 1933 13 Gaupropagandaleiter zu Leitern von Landestellen seines Ministeriums gemacht und damit einen großen Teil der NSDAP-Gaupropagandaämter staatlich finanziert. Goebbels wechselte im November 1935 in aller Stille den Gaupropagandaleiter und Landesstellenleiter Berlin-Brandenburg aus und setzte den »Alten Kämpfer« und langjährigen Kreisleiter des Kreises II (Wilmersdorf/Zehlendorf), Werner Wächter 6 0 , ein. Der stellvertretende Gauleiter Görlitzer nutzte die Jahre 1936 bis 1939 für die Festigung seiner Position und verdrängte u.a. den Gaupersonalamtsleiter Rießler und den Gau-Amtsleiter und Leiter der NSV, Spiewok, an deren Stelle er seine Vertrauten Hermann Bodinus 6 1 und Richard Mähler, beides ebenfalls »Alte Kämpfer«, ernannte. Inwieweit Görlitzer bei der Durchsetzung der Forderung des »Stellvertreters des Führers«, Heß, nach Entflechtung von Doppelfunktionen innerhalb der N S D A P und zwischen NSDAPFunktion und Verwaltungsfunktion (Landrat/Bürgermeister und Kreisleiter) eigene Ziele verfocht, kann bisher nur bei Rießler nachvollzogen werden. 6 2 Ende 1937 entschieden sich 7 der 10 Kreisleiter in Berlin für das Beibehalten ihrer kommunalen Ämter und schieden aus ihrer Funktion aus. 6 1 Lediglich der amtierende Bezirksbürgermeister des Stadtbezirkes Mitte, Otto Born, gab seinen Verwaltungsposten auf und wurde hauptamtlicher Kreisleiter. Der Kreisleiter I (Charlottenburg/Spandau), Paul Skoda, der einzige NSDAP-Kreisleiter in Berlin, der von 1933 bis 1945 durchgehend hauptamtlich in dieser Funktion tätig war, erhielt noch das Amt eines GauInspekteurs. 6 4 Die neueingesetzten Kreisleiter 65 wurden von Görlitzer und Goebbels aus dem Bestand der »Alten Kämpfer« ausgewählt. Sie hatten sich bereits vor 1933, aber nun auch bereits fünf Jahre lang als Politische Leiter bei der Durchsetzung der faschistischen Herrschaft in Berlin »bewährt«.
Die NSDAP Berlin und der Judenpogrom 1938 Nur angedeutet werden kann die Rolle der Berliner Naziorganisation und ihrer Unterführer bei der Verfolgung der politischen Gegner und der Juden. Aus den Aufzeichnungen von Goebbels geht hervor, daß er die Berliner N S D A P immer wieder zur Entfachung von Pogromen als Teil der Maßnahmen gegen die jüdischen Einwohner Berlins benutzte. Das begann bereits am 1. April 1933. Aber auch im Juli
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1935 wurden Ausschreitungen gegen Juden organisiert, welche die offensichtlich nicht informierte SA-Führung befürchten ließ, daß ihr die Führung entgleiten könnte. 6 6 Einige Tage später wurde über eine Beratung mit Goebbels, Görlitzer, Lippert, Daluege, dem amtierende C h e f der SA-Gruppe Uhland und dem neuernannten Polizeipräsidenten Graf Helldorf berichtet, daß sie dem »weiteren K a m p f um die Säuberung der Reichshauptstadt von kommunistischer Zersetzung, reaktionären Treibereien und jüdisch-bolschewistischer Anmaßung« gedient habe. 6 7 Einen Höhepunkt erreichte der Einsatz der Berliner N S D A P gegen die Juden in Berlin im Novemberpogrom 1938. Die Rolle von Goebbels bei der Auslösung dieses Pogroms ist allgemein bekannt. Aus seinen Aufzeichnungen geht aber hervor, daß Goebbels bereits Monate zuvor in engem Zusammenwirken mit dem Polizeipräsidenten Helldorf und unter Einsatz der Berliner N S D A P versteckte und offene Maßnahmen gegen die jüdischen Einwohner in Berlin organisierte. 6 8 Am 9. November 1938 wies Goebbels den Gaupropagandaleiter Wächter persönlich an, die Synagoge in der Fasanenstraße zu zerstören. Dieser bezeichnete den Auftrag als »ehrenvoll« und meldete an Goebbels, daß schließlich 15 Synagogen in Berlin brannten. Goebbels zeichnete voll Genugtuung auf, daß es in Berlin zu schwersten Ausschreitungen gekommen sei, die Partei dann seinen Anweisungen auf Beendigung ohne Probleme gefolgt sei. 6 9
Allgemeine
und spezifische Entwicklungen
NSDAP Berlin
in
der
1933 bis 1939
Welches sind allgemeine, welches spezielle Seiten der Entwicklung der N S D A P und ihrer Politischen Leiter in Berlin in der Zeit von 1933 bis 1939? Die Entwicklung der N S D A P in Berlin vollzog sich zeitlich in den gleichen Phasen, wie im übrigen Deutschland. Auch in den Formen gibt es im wesentlichen nur geringe Unterschiede. Aber es gibt auch eine Vielzahl von besonderen Bedingungen. Der Gau Berlin der N S D A P erstreckte sich auf dem Territorium lediglich einer Großstadt. Goebbels hat in der behandelten Zeit nur ein einziges Mal das Problem einer Ausdehnung des Gaues (bis zum Autobahnring) angedacht, aber nie etwa die Vereinigung mit dem Gau Brandenburg vorgeschlagen. Die Gaue des Ruhrgebietes mit einer zum Teil vergleichbaren sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung können auf Grund ihrer anderen Verwaltungsstruktur nur bedingt verglichen werden, auch Hamburg ist nicht mit Berlin vergleichbar. Vergleiche mit den Flächengauen zeigen sowohl bei den Möglichkeiten der Durchdringung als auch von der Intensität des Einwirkens in der Zeit von 1933 bis 1939 einerseits Vorteile, andererseits aber auch Nachteile. So war es für die N S D A P in Berlin sehr viel einfacher, z.B. Massenveran-
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staltungen durchzuführen als in den Flächengauen. Andererseits hat selbst das gerade in Berlin entwickelte Block- und Straßenzellensystem die größere Anonymität der Großstadt nicht aufzuheben vermocht. Eine stärkere Einbindung von Arbeitern in die N S D A P gelang im behandelten Zeitraum gegenüber vor 1933 nur relativ. Die Konzentration der Regierungs- und NSDAP-Institutionen in Berlin hat sicher eine zusätzliche Verdichtung mit sich gebracht. Dennoch gibt es in dem behandeltem Zeitraum kaum unmittelbare Einflußnahmen zentraler NSDAP-Institutionen. Die Führung des Gaues Berlin und Goebbels persönlich haben bei der Auswahl der Politischen Leiter stark auf Kontinuität durch die Einsetzung Berliner »Alter Kämpfer« geachtet. Der überwiegende Teil des NS-Unterführerkorps kam aus kleinbürgerlichen Schichten, insbesondere aus dem Angestelltenbereich. Eine Besonderheit ist bei den mittleren Unterführern (Gauamtsleiter, Kreisleiter) eine Konzentration von Bankbeamten und -angestellten sowie von Beamten aus dem Finanzbereich. Lehrer spielen im Gau Berlin nahezu keine Rolle. Die sozialen Voraussetzungen und die politische Geschichte Berlins brachte in Berlin einen besonderen Typus von Politischen Leiter hervor, den völlig militarisierten »Arbeiterunteroffizier« mit Erfahrungen in deutsch-völkischen Organisationen, vor allem als Kreisleiter in den Arbeiterschwerpunkten. Dabei ist Unteroffizier meist wörtlich zu nehmen, den es handelt sich zum Teil um langjährige Unteroffiziere aus dem ersten Weltkrieg. Ein sozialer Aufstieg gelang durch die Errichtung der NS-Diktatur nur einem relativ geringem Teil der »Alten Kämpfer«, vielleicht einigen Hundert. Für die Masse der etwa 20 000 Politischen Leiter war die Sicherung ihres Status und die Verhinderung des Absinkens möglicherweise schon Erfüllung ihrer Ziele. Jedenfalls garantierten sie zusammen mit den anderen Instrumenten der Nazi-Diktatur die angestrebte Stabilität für die Verfolgung der nun über Deutschland hinausreichenden Ziele.
A nmerkungen 1
Neben Staatsexamens- und Diplomarbeiten entstanden die Dissertationen von Gerhard Neuber: Faschismus in Berlin. Entwicklung und Wirken der N S D A P und ihrer Organisationen in der Reichshauptstadt 1920 - 1934, Phil. Diss., Masch., Humboldt-Universität, 1976 und Christa Olschewski: Die Leitung der Politischen Organisation (PO) der N S D A P und ihre Tätigkeit während der Konsolidierungsphase der faschistischen Diktatur in Deutschland (1933/1934), Phil. Diss., Masch. Berlin 1982.
2 Laurenz Demps: Zum Stand der regionalen Faschismusforschung in Ost-Berlin. In: Werner Röhr (Hrsg.): Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer. Berlin 1992, S. 400 ff; Wolfgang Wippermann: Die Doppelstadt. Anmerkungen über den Stand und die Perspektiven der Erforschung der Geschichte Berlins in der NS-Zeit, in: ebenda, S.
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377-399, hier S. 382; Johannes Tuchel; Berlin im Nationalsozialismus - Ergebnisse und Defizite 50 Jahre danach. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 22, 1986, S. 79-83, hier S. 79. 3 Christine Arbogast/Bettina Gall: Aufgaben und Funktion des Gauinspekteurs, der Kreisleitung und der Kreisgerichtsbarkeit der N S D A P Ein Beitrag zu einer Geschichte der Parteiverwaltung. In: Cornelia Rauh-Kühne/Michael Ruck (Hrsg.): Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930-1952, München 1993, S. 151169; Kurt Düwell: Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS-Staates. In: Horst Möller: Nationalsozialismus in der Region, München 1996, S. 161-174; Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, hrsg. von Michael Kissener und J o a c h i m Scholtyseck, Konstanz, 1997; Hans-Joachim Heinz: N S D A P und Verwaltung in der Pfalz. Allgemeine innere Verwaltung und kommunale Selbstverwaltung im Spannungsfeld nationalsozialistischer Herrschaftspraxis 1933 - 1939. Ein Beitrag zur zeitgeschichtlichen Landeskunde, Mainz 1994; Claudia Roth: Parteikreis und Kreisleiter der N S D A P unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997. 4 Elke Fröhlich (Hrsg.): J o s e p h Goebbels. Die Tagebücher. Sämtliche Fragmente, München 1987, Bd. 1-5; Die Tagebücher, Teil I Aufzeichnungen 1923 - 1941, Band 6 - 9 , Teil II Diktate, Bd. 10 - 24, München 1994 - 1998 (künftig: Goebbels, Teil I oder II und Bandangabe) Wohl nicht zufällig fehlen die Aulzeichnungen zum 30.6.1934 und zum 20.7.1944. 5 Der Gau hieß bis zum 30.7.1936 »Gau Groß-Berlin der N S D A P « und ab 1.7.1936 »Gau Berlin der N S D A P « , was sich u.a. bei alphabetischen Aufstellungen auswirkt. In der vorliegenden Arbeit wird er einheitlich »Berlin« genannt. Siehe: Anordnung 10/36 des Gauorganisationsleiters: In: Der Gau. Folge 15 vom 1.8.1936, Bl. 252. 6 Zu Goebbels liegen mehrere Biographien vor, u.a. von Ralf Georg Reuth: Goebbels, München 1990; David Irving: Goebbels. Macht und Magie, Kiel 1997. In diesen Biographien wird allerdings kaum auf die Tätigkeit Goebbels als Gauleiter nach 1933 eingegangen. 7 Kreis I (Spandau/Charlottenburg), Kreis II (Wilmersdorf/Zehlendorf), Kreis III (Steglitz/ Tempelhof), Kreis IV (Tiergarten/Schöneberg), Kreis V (Mitte/Kreuzberg), Kreis VI (Reinikkendorl/Wedding), Kreis VII (Prenzlauer Berg/Friedrichshain, seit 1934 Horst-Wessel-Stadt), Kreis VIII (Pankow/Weißensee), Kreis IX (Köpenick/Lichtenberg), Kreis X (Neukölln/Treptow). In Zeitungen werden manchmal arabische Ziffern gebraucht. 8
1928: 28, 1930: 69, 1932: 141, 1934: 162, 1935: 207, 1937: 210, 1939: 300 Ortsgruppen.
9 Partei-Statistik. Bd. I. Parteimitglieder. Stand 1935 (ohne Saargebiet), hrsg. v o m Reichsorganisationsleiter, o.O. o. J. [München 1935] (künftig: Partei-Statistik), S. 19 und 24. Z u m Vergleich: Im Januar 1933 hatte die S P D in Berlin etwa 100.000 und die K P D 37.000 Mitglieder. Siehe Margot Pikarski: Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung 1933 - 1939, Berlin 1978, S. 26 und 50. 10 Der Angriff, 30.1.1934. 11 Zur weiteren Entwicklung Juni 1940: 216.046, Dezember 1940: 227.390, Januar 1941: 227.135, Februar 1941: 225.580, März 1941: 225.698, April 1941: 228.305, September 1941: 247.935, Februar 1942: 244.673; März 1943: 242.409; Mai 1943: 242.673. Jeweils »zahlende« Mitglieder, daneben gab es noch »ruhende« Mitglieder, die z.B. in der Wehrmacht dienten. Aktive NSDAP-Mitgliedschaft gab es dagegen in der Polizei, in der Waffen-SS und im Reichsarbeitsdienst. Bis 1939 gab es relativ wenige »ruhende« Mitglieder, erst während des Krieges nahm die Zahl erheblich zu, z.B. betrug sie im September 1941: 67.642 von 312.267, im
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Mai 1943: 89.676 von 326.350. Die Mitgliederzahlen bis 1935 nach: Partei-Statistik. Bd. I, ab 1937 nach BArch, NS 1, Bd. 1116. 12 Der Angriff, 3.7.1933, 8.8.1933. 13 Bezeichnend für den Stellenwert der Frau als NS-Funktionärin erscheint mir, daß über S. Fikentscher in keiner vom mir durchgesehenen Zeitung biographische Angaben zu finden waren. Auch in den Arbeiten über die Geschichte Berlins taucht ihr Namen nirgends auf. 14 Ende 1933 ordnete der Stabsleiter der Politischen Organisation, Robert Ley, an, daß die Leiter der Politischen Organisation nicht mehr Amtswalter, sondern Politische Leiter heißen. Nur noch die mit einem Amt in angeschlossenen Verbänden Beauftragten heißen Amtswalter. Für die territorial zuständigen Leiter (Block-, Zellen-, Stützpunkt-, Ortsgruppen-, Kreisund Gauleiter) wurde der Begriff Hoheitsträger geprägt. Siehe Der Angriff, 27.12.1933. 15 Julius Lippert, *9.7.1895 Basel (Schweiz), ev., Auslandsschule in Genua, Realgymnasium Wiesbaden, Oberrealschule Wiesbaden, Abitur 1914, Kriegsteilnehmer 1914-18, Artillerieltn. d. R, Studium Uni Berlin, politisch seit 1919 tätig, Schriftleiter am »Deutschen Tageblatt« 1923-27, 1927-33 Hauptschriftleiter »Angriff«, 1929-1933 Fraktionsführer in der Stadtverordnetenversammlung. Zu seiner weiteren Entwicklung siehe: Christian Engeli/Wolfgang Ribbe: Berlin in der NS-Zeit (1933 -1945). In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins, Bd. 2, München 1987, S. 973 ff. Die folgenden biographischen Angaben zu den Funktionären der N S D A P Berlin wurden aus einer Vielzahl von Quellen und Veröffentlichungen zusammengestellt und sind daher nicht immer völlig zweifelsfrei. Sie liegen mit Quellenangaben in einer umfängreichen Datei des Autors vor, können aus Platzmangel in dieser Arbeit aber nicht im einzelnen nachgewiesen werden. 16 Hins Meinshausen, *23.2.1881 Eschwege, ev., +19.10.1948 Dresden. 1926 Studienrat am Schiller-Gymnasium Charlottenburg. 1928 NSDAP, 1.11.1930 bis 13.3.1933 Stellv. Gauleiter, 1931- 1933 M d R Als Stellv. Gauleiter abgelöst, weil von Reichskommissar Dr. Rust in den preußischen Staatsdienst berufen. Am 14.3.1933 von Staatskommissar Lippert an Stelle des beurlaubten SPD-Stadtschulrates Nydahl kommissarisch zum Stadtschulrat bestellt, bis 1944 Stadtschulrat in Berlin. Ab 1934 Leiter des Gauamtes für Erzieher und Vorsitzend e r des NS-Lehrerbundes Berlin. Im Juli 1944 kommissarischer Oberbürgermeister von Görlitz. 1948 in Görlitz zum Tode verurteilt und in Dresden hingerichtet. 17 Artur Cörlitzer, *22.6.1893 Frankfurt/Oder als Sohn eines Eisenbahnbeamten. Volksschule/Realschule, Abitur 1919 in franz. Kriegsgefangenschaft nachgeholt, 1914 Kriegsfreiwilliger, 1917-20 in franz. Kriegsgefangenschaft, 1910 Beamtenanwärter der Gemeinde Linkwitz, Beamter der Stadt Berlin 1920 bis Sept. 1922, danach Obersteuersekretär bei der Reichsfinanzverwaltung (Finanzamt Charlottenburg). N S D A P seit Mai 1928, Mitgliedsnr. 92.505, Sektionsleiter Lichterfelde-Lankwitz, Sept. 1930 Bezirksleiter Berlin-Süd, Sept. 1932 Gau-Inspekteur West bis 13.3.1933, dann Stellv. Gauleiter, M d R seit März 1933, Preuß. Staatsrat 1934, Ratsherr von Berlin seit 1934, März 1943 zum Reichsministerium für d i e besetzten Ostgebiete abkommandiert. 18 Erich Hilgenfeldt, *2.7.1897 Heinitz (Kr. Ottweiler) ev., Oberrealschule Saarbrücken, Franckesche Stiftungen Halle bis Obersekunda, Kriegsfreiwilliger 1914, EK II u. I, Fliegerbeobachter, 1928 Behördenangestellter im Statistischen Reichsamt (allg. Wirtschafts- und Konjunkturstatistik), Kreisleiter V in Berlin, seit Mai 1933 Leiter des Amtes/Hauptamtes für Volkswohlfahrt und Reichsbeauftragter für das Winterhilfswerk, SS-Oberführer, Oltn. d . R der Luftwaffe, Leiter des Hauptamtes NS-Frauenschaft, M d R seit 9. WP. 1933.
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19 Christian Engeli/Wolfgang Ribbe: Berlin in der NS-Zeit (1933 -1945). In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins, Bd. 2, München 1987, S. 925 - 1024; Christian Engeli: Die nationalsozialistischen Kommunalpolitiker in Berlin. In: Berlin-Forschungen II (hrsg. von Wolfgang Ribbe), Berlin 1987, S. 111-139. 20 Kurt Daluege, *15.9.1897 in Kreuzberg/Oberschlesien. Notabitur 1916, Kriegsfreiwilliger 7. Garde-IR Studium TH Berlin, Diploming., seit 1924 Beamter für Hoch- und Tiefbau Berlin, Freikorps Roßbach, 1926 NSDAP, Gründer SA für Berlin und Norddeutschland, 26-28 Stellv. Gauleiter Berlin und Führer SA-Gausturm Berlin. 1928 SS Berlin, Sommer 1931 Führer SS-Gruppe Ost, ab 1932 M d L in Preußen. 1933 von Göring als Kommissar z.b.V. zur Säuberung der preuß. Polizei ins Preuß. Innenministerium geholt, Mai 1933 Leiter Polizeiabt., Sept.1933 Befehlshaber der Polizei, 1933 Ministerialdirektor im R u. Pr. Mdl, Preuß. Staatsrat, M d R 1934 SS-Obergruppenführer und 1936 C h e f der Ordnungspolizei. 31.5.1942 Stellv. Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. U.a. wegen Lidice von den Amerikanern ausgeliefert u n d am 23.10.1946 in Prag hingerichtet. 21 Johannes Engel, *15.5.1894 Ernsthausen, evangelisch, Volksschule, bis zum 18. Lebensjahr im elterlichen Schmiede-Betrieb, danach Bergbau in Westfalen, im Krieg bei Garderegimentern, Reichswehr bis März 1920, als Uffz. ausgeschieden, Dreher, Deutsch-Völkische Freiheitspartei, 1927 Gründer der ersten nationalsozialistischen Arbeiterorganisationen bei Knorr-Bremse, N S D A P 1928, seit 1929 Stadtverordneter, Organisationsleiter der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation ( N S B O ) , Stadtrat für Verkehr in Berlin seit April 1933, Mai 1933 Reichsamtsleiter der DAF, bis Anfang April 1934 Treuhänder der Arbeit, bis 4/1933 Gauamtsleiter N S B O , 6/1935 Leiter der Arbeitskammer Berlin-Brandenburg, Leiter der Reichsverkehrsgruppe Schienenbahnen, SS-Mitgliedsnr. 186 488, SS-Ränge: 3.4.1934 SS-Standartenführer, 20.4.1935 SS-Oberführer, 30.1.1942 SS-Brigadeführer. Engel leitete inoffiziell die »Berliner Alte Garde« der NSDAP. 22
BArch, B D C , Parteikorrespondenz, Bd. 0412: Schreiben des Staatskommissars z.b.V. beim Oberbürgermeister, Dr. Lippert, v o m 6.4.1933 an Staatskommissar z.b.V Daluege im Innenministerium: Vorschlag Engel zum Stadtrat für die BVG zu ernennen.
23 BArch, B D C , Ordner Gau Berlin: Schreiben des Kreisleiters der N S D A P an Daluege und an den Führer der NS-Fraktion von Berlin, Lippert, v o m 13.3.1933. 24 Hans von Freyberg, *17.11.1881 Charlottenburg bei Berlin, Handlungsgehilfe, lernte Landwirtschaft, diente freiwillig in d e r Schutztruppe Deutsch-Südwest-Afrika, nahm an den Kämpfen gegen Hottentotten und Hereros sowie am Weltkrieg 1914-1918 teil, 1918 Küstenwehr Cuxhaven. Kalkulator in landw. Maschinenbaubetrieb, Deutschvölkische Freiheitspartei, N S D A P am 26.5.1925, Mitgliedsnr. 5.841, Mitbegründer der Sektion Tegel, Ortsgruppenleiter 1.7.1925, 16.11.1929 Bezirksverordneter in Reinickendorf, 1932 Stellv. Bezirksführer Norden, am 1.10.1932 Kreisleiter VII, März 1933 unbesoldeter Stadtrat der Hauptverwaltung für Markthallen/Marktwesen, am 1.7.1933 besoldeter Stadtrat für Jugendfürsorge in Reinickendorf. Am 31.12.1937 als Kreisleiter ausgeschieden wegen Verordnung gegen Doppelfunktionen. 25 Altred Wolfermann, *21.6.1902 Berlin als Sohn eines Gastwirtes, 1916 Bürobote, Bürodiener, 1932 Büroangestellter, Oktober 1922 Großdeutsche Arbeiterpartei, 1923-1925 Völkischer Trutzbund, Völkische Freiheitspartei, N S D A P seit 4.1.1926, Mitgliedsnr. 27.302, 19261937 Bezirksleiter/Kreisleiter Tiergarten/Schöneberg, 23.3.1926 bis 1928 Gausturm Berlins, 9.11.1937 SA-Sturmbannführer z.b.V., 30.1.1941 Obersturmbannführer, 9.11.1942 Standar-
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tenführer. März 1933 unbesoldeter Stadtrat der Hauptverwaltung für Unfallfürsorge, Feuersozietät, Feuerwehr, 1933/34 Rat beim Berliner Pfandbriefamt, 1934 bis 1945 besoldeter Stadtrat der Hauptverwaltung. Am 31.12.1937 als Kreisleiter ausgeschieden wegen Verordnung gegen Doppelfunktionen. 26 Otto
Born, *26.3.1892 in Löhme/Niederbarnim als Sohn eines Landarbeiters. K a m als
Kutscher nach Berlin, 1912 Freiwilliger 2. Garde-Ulanenregiment, 1914-1918 Soldat, zuletzt Gefreiter, 1919 Deutsch-Soziale Partei, 1922 zu Dietrich Eckhardt nach München, lebte in seinem Haus, lernte dort Hitler kennen. 20.5.1925 Wiedereintritt in NSDAP, Nr. 5.651. Sektionsführer/Ortsgruppenführer Stettiner Bahnhof. Am 13.3.1933 als Nachfolger von Erich Hilgenfeldt Kreisleiter V (Mitte/Kreuzberg). Vom 17.3.1933 zunächst unbesoldeter, dann bis 31.5.1937 1. Bezirksstadtrat im Verwaltungsbezirk Berlin-Mitte. 1937 als stellv. Bezirksbürgermeister ausgeschieden, um als hauptamtlicher Kreisleiter bis 1945 tätig zu sein. SS-Nr. 238.301, seit 15.9.1935: SS-Sturmbannführer, 20.4.1939 Obersturmbannführer, 9.11.1942 Standartenführer. Born war als einziger Kreisleiter in Berlin Mitglied der SS. M d R seit 1933. 27 Karl Wollenberg, *30.4.1903 in Groß Bartelsee bei Bromberg, Volksschule, 1919 Freiwilliger Grenzschutz Ost, Arbeiter, 1923 Prüfung als Heizer, Lagerarbeiter, als 16jähriger Grenzschutz Ost. 1926 in Neukölln erste Kontakte zur NSDAP, NS-Betriebszellenarbeit. 1931 bis 1933 erwerbslos, Ortsgruppenleiter Wedding. Hißte am 8.3.1933 die Hakenkreuzfahne auf dem Bezirksamt Wedding und verbrannte schwarzrotgoldene Fahne öffentlich. Von März 1933 bis 1937 Stellv. Leiter des Organisationsamtes der DAF, 1.1.1936 Bezirksstadtrat Wedding, 1938 Kreisleiter X (Neukölln/Treptow). M d R seit 1933. 28 Paul Harpe, *2.7.1902 Angermünde als Sohn eines Stadtinspektors, Schulbesuch in BerlinLichtenberg, lernt Landwirtschaft, von 1922 bis 1926 als landwirtsch. Berater auf Gütern. 1926 bis 1933 als Arbeiter bzw. Angestellter der Stadt Berlin. N S D A P 1922 und 1926, Mitgliedsnr. 36.815. März 1926 - 31.12.1930 Ortsgruppe Lichtenberg, 1.1.31 - 30.9.1932 Bezirksführer Berlin-Osten, 1.10.32-31.12.1932 Gauinspekteur Berlin-Ost, 1.1.33 - 31.12.1933 Gauorganisationsleiter. Im Mai 1933 »übernahm« er den Deutschen Holzarbeiterverband. Später Reichsgemeinschaftsleiter »Bau« und »Wald und Holz« in der DAF. , 6.1.1934 31.3.1937 Parteiverbindungsführer im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, 1.4.37 - 1.3.1938 Gauamtsleiter z.b.V. 1939/40 bemühte er sich über Daluege vergeblich um ein Amt als Landrat und Kreisleiter im »Warthegau«. Bei Kriegsausbruch freiwillig zur Wehrmacht. Im April 1940 zur Waffen-SS bis zur Erkrankung Ende Oktober 1941. Juli 1942 aus Wehrmacht entlassen. Wieder bei DAF. M d R seit 1933. 29 Dr. Heinrich Hunke, *8.12.1902 Heipke/Lippe, ev, Volksschule, 1917-1923 Lehrerseminar Detmold, 1923 erste Volksschullehrerprüfüng, Studium VW, Geographie, Physik/Mathematik in Münster, Berlin, Göttingen, Halle, 1926 Abitur als Extraneer, 2. Volksschullehrerprüfüng, 1927 Promotion, 1929 Referendar, 1930 Assessor höheres Lehramt, 1927-1933 wissenschaftl. Hilfsarbeiter und Referent im Reichswehrministerium, 1923 NSDAP, 1924/ 25 Kreisleiter in Lippe und Westfalen, 1931/32 Organisationsleiter II im Gau Groß-Berlin, 1932-1933 Leiter des Kampfbundes für den gewerblichen Mittelstand, nach Auflösung NSHago, 1933-1943 Gauwirtschaftsberater, 1933 stellv. und 1939 Präsident des Werberates der deutschen Wirtschaft, 1935 Ministerialrat im Propagandaministerium, 1940 dort Leiter der Abteilung Auslandspropaganda, 10/1943 Leiter der Gauwirtschaftskammer Berlin, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank. Nach 1945 Ministerialdirigent in Hannover.
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198 30 Der Angriff, 7.2.1933.
31 »Der Angriff« brachte eine Beilage »Unsere SA«, in der nahezu alle SA-Führer vorgestellt wurden. Die Namen von Karl Ernst und anderen Berliner SA-Führern tauchen dagegen in den Tagebüchern Goebbels von April 1933 bis Juni 1934 nicht ein einziges Mal auf 32 Im August 1933 nahm Goebbels an einem Generalappell der SS teil, aber nicht an dem kurz vorher stattfindenden Generalappell der SA. Auf dem Appell der SS gab Goebbels bekannt, daß er der SS 150.000 Mark für die Vorbereitung des NSDAP-Parteitages in Nürnberg stiftet. Der SA, die gegenüber der SS eine mehr als zehnfache Stärke hatte, spendierte er ganze 200.000 Mark. Siehe »Der Angriff«; 8.8.1933 und Goebbels, Bd. 2, S. 457. Im September 1933 lud Goebbels 100 Berliner SA-Führer zur Aufführung eines Horst-Wessel-Films in sein Ministerium ein. Ernst nahm wegen »Krankheit« nicht teil, siehe »Der Angriff«, 12.9.1933. 33
Der Angriff, 24.7.1933, 26.5.1934 über den Einsatz eines SA-Sturmführers im Bezirksamt Wedding. Der Angriff, 8.6.1934; N a c h einer Sonderaktion zur Unterbringung der Alten Kämpfer der Bewegung (zwischen OSAF, Reichsleitung der N S D A P und Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung vereinbart) seien 9 0 % in Groß-Berlin in Arbeit, wenn auch z.T. nur als Aushilfen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch 400.000 Arbeitslose in Berlin.
34 Der Angriff, 30.1.1934. 35 Hans Fabricius, *6.4.1891 Berlin, ev, Humanistisches Gymnasium, Studium der Rechte, ab 1913 preuß. Gerichtsreferendar, 1915-1919 Kriegsteilnehmer, Uffz., Offiziersaspirant, 1920 preuß. Gerichtsassessor, Reichsdienst als jur. Referent, 1921-28 gleichzeitig Rechtsanwalt beim Kammergericht, 1928 Beamter, Regierungsrat im Landesfinanzamt Brandenburg in Berlin, 10/1929 vorläufig dienstenthoben wegen NS-Betätigung. 1930-32 Rechtsbeistand der Stadt Sonneberg, seit 11/33 Geschäftsführer der NS-Reichstagsfraktion, seit 1.12.1932 Leiter der Beamtenabteilung beim Gau Berlin der NSDAP, 1.7.1933 Oberregierungsrat, später Ministerialdirektor im Reichsministerium des Innern; gefallen am 28.4.1945 bei den Kämpfen um Berlin. 36 Karl Spiewok, *13.12.1892 Metz, kath., Oberrealschule Metz, kauffn. Lehrling bei A E G Metz, 1914-1918 Westfront, Pionieroffizier, 1918-1933 kaufmänn. Tätigkeit, zuletzt Abteilungsleiter A E G Berlin, NSDAP-Mitglied seit 1.10.1930, Nr. 320.315, Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung April 1933 bis zur Auflösung im Herbst 1933, seit 1.10.1933 Gauamtsleiter des Amtes für Volkswohlfahrt Gau Berlin, Gaubeauftragter W H W Berlin, seit 11/34 Stadtrat, Leiter Landeswohlfahrts- und Jugendamt. 1936 als Gau-Amtsleiter für Volkswohlfahrt entbunden, bis Ende 1937 Gauinspekteur, dann keine Funktion im Gau Berlin der NSDAP. Ab Mai 1938 Leiter des Stadtwirtschaftsamtes/Stadtbetriebsamtes. Seit 1931 SS-Führer, Mitglied-Nr. 6.128, seit 27.2.1934 Führer im S D , 15.5.1934 Hauptsturmführer im S D , 9.11.1935 Sturmbannführer im S D , 30.1.1938 Obersturmbannführer, 20.4.1939 Standartenführer im S D . Mil. Ränge 1.12.1938 Oltn. d.R, Heer, 27.8.39 Hauptmann, 1.8.1943 Major, Reichsredner der NSDAP, M d R seit 9. WP 1933. Seit 26.8.1939 Offizier in der Wehrmacht, zuletzt als Kommandeur eines Pionierbataillons an der Ostfront. 37 Berliner Lokalanzeiger, 26.4.1935. 38 Der Angriff, 29.8.1933: Bericht v o m General-Amtswalter-Appell mit ca. 18.000 Politischen Leitern und Amtswaltern, es sprachen Görlitzer und Lippert. 39 A u f einem Generalappell des Kreises VII mit 6.000 Mitgliedern im Mai 1933 verlangte Görlitzer von den im Jahr 1933 eingetretenen Mitgliedern Arbeit, Disziplin und Treue, siehe Der Angriff, 17.5.1933.
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Gerhard Schach, *8.3.1906 Berlin, Handlungsgehilfe, N S D A P seit 1.8.1928 Mitgliedsnr. 95.576, Zellenobmann, Stützpunktleiter, Ortsgruppenleiter, Kreisleiter , 1932 Gauinspekteur Ost, seit 1934 Gauorganisationsleiter, Febr. 1942 Gaustabsamtsleiter, Marz 1944 mit der Wahrnehmung der Aufgaben des Stellv. Gauleiters beauftragt, Februar 1945 Stellv. Gauleiter. M d R seit 1933, Ratsherr von Berlin 1934.
41 Dr. Leonardo Conti, *24.8.1900 Lugano/Schweiz.
1918 Abitur, anschließend Artillerie,
Med. Studium, 1924 Dr. med Berlin, seit 1925 prakt. Arzt in Berlin-Wilmersdorf. Teilnahme am Kapp-Putsch, 1921/23 Wiking-Bund, 1926 SA, Gründer SA-Sanitätsdienst in Berlin. N S D A P seit 20.12.1927, Mitgliedsnr. 72.225, 3.12.1930 Wechsel von SA zur SS, SSOberarzt Ost, 1930 bis 1939 Gründer und Leiter des NS-Ärztebundes in Berlin, 1933 bis 1939 Gauamtsleiter Volksgesundheit Berlin, Ministerialrat im preuß., dann Reichsinnenministerium, medizinische Vorbereitung Olympiade 1936, 1.11.1936 Stadtmedizinalrat Berlin, 20.4.1939 Reichsgesundheitsführer (bis August 1944) und Staatssekretär für Gesundheitswesen im RMdl. 1933 SS-Brigadeführer, seit 1935 Führer im Stab Reichsführer SS, 20.4.1944 SS-Obergruppenführer, beteiligt an Euthanasie. Erhängte sich am 6.10.1945 in seiner Zelle in Nürnberg. Zu den Auseinandersetzungen mit Villain siehe BArch, B D C , Ordner 240. 42 Dietrich von Jagow,
*23.2.1892
Frankfurt/O. 1912-1920 aktiver Seeoffizier, Kapitänleut-
nant, U-Boot, 1920 ausgeschieden, Marine-Brigade Oberschlesischer Grenzschutz, langjähriger Führer der württembergischen SA, 1931 Führer der SA-Gruppe Südwest. 1933 Kommissar für das Land Württemberg, Herbst 1933 Führer SA-Gruppe West, am 20. Juli 1934 mit der Führung der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg beauftragt, Mitglied des Volksgerichtshofes seit Juli 1934. Vom 1.9.1939 bis 1.5.1941 Dienst in Minensuch- und Vorpostenverbänden. Juni 1941 Deutscher Gesandter in Budapest, März 1944 Entlassung, 1944/45 Führer eines Volkssturmbataillons, 20. Januar 1945 schwere Verletzung, nach Genesung Reise als NS-Kurier nach Südtirol, am 26. April 1945 Selbstmord in Meran. Siehe Barbara Hachmann: Der »Degen«. Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer. In: Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, hrsg. von Michael Kissener und Joachim Scholtyseck, Konstanz, 1997, S. 267-288. 43
Der Angriff, 13.8.1934. Danach sollte ein Ehrengericht aus SA-Führern und Politischen Leitern des Gaues Berlin eingerichtet werden.
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Die Aufzeichnungen zum 30.6.1934 fehlen in den veröffentlichten Goebbels-Tagebüchern. Zum Konflikt mit v. Jagow siehe Tagebücher, Bd. 3, S. 59, 218 f., 226 und 230 f.
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Für diese und die folgenden Angaben siehe Parteistatistik, Bd. I, S. 18 ff, 34 ff, 86 ff, 150 und 155.
46 Parteistatistik, Bd. II, S. 31, 38, 40, 46 f. und 287. 47
Parteistatistk, Bd. III, S. 206 und 247.
48 Adressenwerk 1934, Bd. I Berlin, Tageszeitungen, Adreßbücher Berlin 1933, 1934, 1935. 49
Parteistatistik, Bd. III, S. 56, 58, 59, 82 f. und 89.
50 Die Zahl für den NS-Ärztebund beruht offensichtlich auf einem Druckfehler. Berlin war Gründungsort des NS-Ärztebundes, an dessen Spitze SS-Brigadeführer Dr. Conti stand. 1937 hatte der NS-Ärztebund 1.402 Mitglieder, 1939 1.930. Siehe Ingo Materna u.a.: Geschichte Berlins von den Anfängen bis 1945, Berlin 1987, S. 670. 51 Artur Axmann, *18.2.1913 Hagen/Westf. in einer Arbeiterfamilie, aufgewachsen in BerlinWedding, Realschule, Gründung NS-Schülergruppe, HJ-Gefolgschaftsführer Wedding, 4 Semester Werkstudent Staats- und Rechtswissenschaftern, 1932 Leitung des Aufbaus der
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Jugendbetriebszellen. 1933 Leiter des Sozialamtes der Reichsjugendführung und Leiter des Jugendamtes der DAF, im November 1934 übernahm er auch die Führung des HJ-Gebietes Berlin. Ab Kriegsbeginn bis Mai 1940 Soldat an Westfront, im August 1940 Reichsjugendführer als Nachfolger von Schirachs. 1941 an der sowjetischen Front schwerverwundet (Armverlust). Mai 1945 im Reichskanzleibunker bei Hitler, konnte entkommen. Im Dezember 1945 verhaftet, Mai 1949 von einer Nürnberger Entnazifizierungskammer zu 3 Jahren und drei Monate verurteilt (durch U-Haft verbüßt). Handelsvertreter in Gelsenkirchen und Berlin. 1958 von Entnazifizierungskammer in Westberlin zu Geldstrafe (35.000 D M ) verurteilt. 52
Berliner Lokalanzeiger, 6.8.1935. Eine Analyse der Entwicklung der NS-Jugendorganisationen in Berlin und ihrer Führerschaft muß aus Platzgründen an anderer Stelle erfolgen.
53 Jürgen W. Falter: Die Parteistatistische Erhebung der N S D A P 1939. Einige Ergebnisse aus dem Gau Groß-Berlin. In: Thomas Nipperdey u.a. (Hrsg.): Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Festschrift zum 70. Geburtstag. Frankfurt/M./Berlin 1993, S. 194. Bei der Interpretation des sehr niedrigen Arbeiteranteils, der noch geringer ist, als die 26% in der Parteistatistik 1935, kommt Falter zu keinem Ergebnis. Er hält Zuordnungsprobleme wegen des Begriffs »Handarbeiter«, Ausfalle von Beständen der Fragebögen aus Arbeiterbezirken und auch Resistenz der Arbeiterschaft Berlins für möglich. Falter geht in dieser Untersuchung bei den NSDAP-Mitgliedern des Gaues von einer Hochrechnung (210.000) aus. Diese Zahl liegt erheblich unter den Angaben des Reichsschatzmeisters für Mitglieder (zahlende 261.335, ruhende 4.341, gesamt 265.676) für März 1939, siehe BArch, NS 1, Bd. 1116. 54 BArch, B D C , Parteikanzlei, Ordner 1154: Antrag auf Besoldungsfestsetzung für Kreisleiter Otto Born, Anlage zur Anordnung 11/41 v o m 24.3.1941. 55 Eigene Berechnungen nach BArch, B D C , Parteikanzlei, Ordner 1154; NS 1, Bd. 1116 Reichsschatzmeister. 56 Anfang 1934: Kreis V (Mitte/Kreuzberg): 15, Kreis VI (Reinickendorf/Wedding): 15, Kreis VII (Horst-Wessel/Prenzlauer Berg): 13, Kreis IX (Köpenick/Lichtenberg): 19, Kreis X (Neukölln/Treptow): 15. Im Jahre 1939 waren es: Kreis V: Mitte 17, Kreuzberg 22; Kreis VI: Reinickendorf 15, Wedding 18; Kreis VII: Horst-Wessel 21, Prenzlauer Berg 21; Kreis IX: Köpenick 13, Lichtenberg 13; Kreis X: Neukölln: 19, Treptow 9. Angaben nach: Adressenwerk 1934, Bd. I Berlin; Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP, Reichsband 1939. 57
Der Gau, Folge 73, 15.12.1938, Bl. 275. Der Schulungsbrief kostete 50 Pfennig im Monat. Mitte 1939 hatte sich das Bild nur unwesentlich geändert: Durchschnitt 46,2% der Haushalte, höchster Kreisanteil Kreis III (56, 4%), niedrigstes Ergebnis Kreis VII (35,7%), vorletzter Platz Kreis V (Mitte/Kreuzberg): 38,7%, siehe: Der Gau, Folge 85, 1.6.1939, Bl. 98.
58 Goebbels, Bd. 2, S. 498, 501 f., 553 ff und 555. 59
Ebenda, S. 535 (Eintragung vom 3.11.1935. Die Absetzung wurde nicht öffentlich gemacht. Auch wurde in keiner Tageszeitung die Ernennung Wächters erwähnt. Am 8.11.1935 wird Wächter im Berliner Lokalanzeiger das letzte Mal als Kreisleiter erwähnt, am 30.11.1935 wird er in derselben Zeitung als Gaupropagandaleiter genannt.
60 Werner Wächter, "9.5.1902 Erfurt, 8 Jahre Kadettenkorps Berlin-Lichterfelde bis Unterprima, kaufm. Lehre bei Orenstein&Koppel, seit 1923 Vertreter der Fa. »Olex - Deutsche Benzin- und Petroleum G m b H « , 1919/20 Jugendführer in Demokratischer Partei, seit 1922 NSDAP, dann wieder 1925, Mitgliedsnr. 20.251, 1929 Ortsgruppenleiter, 1932 Kreisleiter II, seit 1932 M d R Nov. 1935 Gaupropagandaleiter und Landesstellenleiter des Propganda-
Zur Entwicklung des Gaues Berlin der NSDAP...
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ministeriums, Organisator des Novemberpogroms 1938 in Berlin, 1940 Beauftragter Goebbels in Paris zum Aufbau einer Propgandadienststelle, 1941 Leiter des Hauptamtes Propaganda in der Reichspropagandaleitung der NSDAP. 1943 Chef des Propagandastabes der Reichspropagandaleitung, 1945 in Berlin von sowjetischer Seite verhaftet und verschollen. 61 Hermann Bodinus, *7.6.1902 Schöneberg b. Berlin, Bankkaufmann, Parteieintritt 1.6.1928, Mitgliedsnr. 90.805, Block-, Zellenleiter, stv. Sektionsführer, seit 1932 stv. Kreisleiter, stv. Gauinspekteur, seit 1936 Gaupersonalamtsleiter, seit 1936 Beisitzer des Ehren- und Disziplinarhofes der DAF Gau Berlin (BA Berlin, B D C Ordner 884, Bl. 280), 1943 Beisitzer im Volksgerichtshof. 62
Die Anordnung Görlitzers zur Entbindung Rießlers als Gaupersonalamtsleiters beruft sich ausdrücklich auf eine Anordnung von Heß: Siehe Der Gau, Folge 14, 15.7.1936, Bl. 236. Auch die Begründung der Abberufung Rießlers als Gauinspekteur, seinem letzten Posten im Gau Berlin, »auf eigenem Antrag, weil er bei der Bank der Deutschen Arbeit angestellt wurde« (BA Berlin, B D C , Ordner 195 II, Bl. 200: Führer-Verfügung 3/38, 8.3.1938), stimmt nach Angaben von Goebbels (Tagebücher, Bd. 3, S. 440, Eintrag vom 15.2.1938: »Görlitzer hat ihn abgebaut. Ich werde ihn aber wieder einspannen.«) nicht.
63 Karl Bombach, *8.7.1891 Schwerin a. W. Beruf: Schneider, Militärdienst 1910-1913 bei Garderegiment, 1914 bis 1920 Soldat, kriegsbeschädigt. N S D A P 1.2.1928, Mitgliedsnr. 75.0447, 1929 NSDAP-Bezirksverord-neter, 2.1930 - Februar 1933 Versicherungsvertreter, 1932 Kreisleiter VIII (Pankow/Weißensee), 1932 Preuß. Landtag, von Februar 1934-1945 Bezirksbürgermeister Prenzlauer Berg, im September 1934 M d R (Nachrücker für Karl Ernst). Hans Fink, *18.12.1898 in Landsberg a. d. W., Banklehrling bis 1919, Bankangestellter bei der Ostbank für Handel und Gewerbe Landsberg, später Direktion der Discontobank. Von 1930 an kaufmänn. Angestellter bei A E G Berlin, N S D A P seit 1930, Mitgliedsnr. 237.422, Handelsvertreter, Kreisleiter X (Treptow/Neukölln) seit August 1932 besoldeter Stadtrat Friedrichshain 6/1933, Stellv. Bürgermeister Neukölln seit Dezember 1935, Bürgermeister seit November 1944. Zu Freyberg siehe Fußnote 24. Karl Pollesch, kaufm. Angestellter, Kreisleiter III (Steglitz/Tempelhof) seit August 1932, Stellv. Bezirksbürgermeister Tempelh o f 1935, Bezirksbürgermeister seit November 1937 bis 1945. Philip Schlicht, *24.5.1902 Göggelsbach. Bankbeamter, N S D A P seit 1925, Mitgliedsnr. 17.167, Stabsleiter im Gauorganisationsamt, seit 13.3.1933 Kreisleiter VI (Reinickendorf/Wedding), 1933 unbesoldeter Stadtrat in der Zentralverwaltung, 1934-1945 besoldeter Stadtrat für Vieh- und Schlachthof für Stiftungswesen und Standesämter, Vorsitzender des Verwaltungsrates der Feuersozietät. Erich Schüler, *31.01.1905 Berlin. Bankbeamter bei Commerz- und Privatbank, Januar 1928 SA, 1.5.1928 N S D A P Nr. 88.687, 3.6.29-30.9.1932 Sektionsführer im Gau Berlin, NSBO-Mitglied Nr. 250, Stellv. Vertrauensratsvorsitzender C o m m e r z b a n k , 1.10.193229.11.1932 Stabsleiter der Gauinspektion I West, 29.11.1932-3.1.1938 Kreisleiter IX Gau Berlin, Juni 33-Juni 35 unbesoldeter Stadtrat Kreuzberg, dann besoldeter Stadtrat Kreuzberg, Stellv. Bezirksbürgermeister seit Januar 1937, ab 3.1.1938 Leiter der Inspektionsdienststelle des Gaupropagandaamtes, ferner Mitarbeiter im Gauorganisationsamt. Vom 10.3.194127.8.1942 Soldat/Gefreiter im BR M d R seit 1936. Zu Wolfermann siehe Fußnote 25. 64 Paul Skoda, *29.6.1901 Schlaney/Glatz. 1916-1919 Lehrling Schuhmacher, 1921-24 Bergarbeiter, seit 1925 Deutsche Reichspost Berlin, Postschaffner. N S D A P seit 1925, Mitgliedsnr. 41.874, seit 1932 Kreisleiter I, M d R seit März 1933, seit 1.1.1938 Gau-Inspekteur, seit 20.4.1945 bei d e n Kämpfen in Berlin vermißt.
Werner Fischer
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Kreisleiter III:
Wilhelm Scheer, vorher Kreisamtsleiter; Kreisleiter IV Hugo Kehrein,
*25.11.1896, Kaufmann, vorher Ortsgruppenleiter; Kreisleiter VI Karl Hoßfeld, Handlungsgehilfe, Mitgliedsnr. 346.920, vorher Kreisorganisationsamtsleiter und Stellv. Kreisleiter; Kreisleiter VII Heinrich Reinecke, *24.6.1905, Bäcker, vorher Ortsgruppenleiter; Kreisleiter VIII Herbert Wricke, "24.6.1905, kfm. Angestellter; vorher Kreispresseamtsleiter; Kreisleiter IX Hans Koch, : : 09.08.1908, kaufm. Angestellter, vorher Ortsgruppenleiter. Außer zu Reinecke konnten über die genannten Personen in den durchgesehenen Tageszeitungen keine biographischen Angaben gefunden werden. Z u m Kreisleiter X Karl Wollenberg siehe Fußnote 27. 66 Der amtierende Chef der SA-Gruppe Uhland befahl nach ersten Ausschreitungen am 17.6.1935 Uniformzwang für alle SA-Angehörige auch während der beruflichen Tätigkeit. Er behauptete, volksfremde und jüdische Elemente wollten die SA in Mißkredit bringen. Siehe Berliner Lokalanzeiger, 17.7.1935 und 19.7.1935. 67
Berliner Lokalanzeiger, 20.7.1935.
68 Goebbels Tagebücher, Bd. 3, S. 448 ff: Aufzeichnungen v o m 4.6., 19.6., 21.6., 22.6., 24.6., 26.6. und 2.7.1938. Als sich Wirtschaftsminister Funk gegen die Aktionen aussprach, gab Goebbels einem Polizeimajor und einem Kreisleiter die Schuld. Sie seien über das Ziel hinaus geschossen. Siehe Die Tagebücher, Bd. 3, S. 465. 69
Ebenda, Teil I, Bd. 6, S. 180 und 183.
Richard
Lakowski
Kriegsbeendigung als Problem Die deutschen Operationsplanungen am Ende des Zweiten Weltkrieges
Bereits 1954 wies Werner Hahlweg daraufhin, daß im Heimatland von Clausewitz, »die politische Seite des Werkes >Vom Kriege« theoretisch kaum, praktisch überhaupt nicht begriffen« worden sei. 1 Über den aktuellen Wert dieser Feststellung kann man nachdenken, für den Zweiten Weltkrieg hingegen ist sie nicht zu bezweifeln. Zu wohl einer der schwierigsten Fragen der »Theorie« des Krieges, seiner Beendigung, hatte Clausewitz geschrieben: »Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muß der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferung bestimmen, womit wir ihn erkaufen wollen ... sobald also der Kraftauf wand so groß wird, daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dies aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein.« 2 Die Ereignisse der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges machen deutlich, daß die politische und militärische Führung des Dritten Reiches das Gedankengut von Clausewitz mißachtet hatte. Die Komplexität der Thematik läßt nur zu, daß hier allein gewisse Konturen der Problematik nachgezeichnet werden können. Ende 1944 bestand nach mehr als 131 Jahren erstmals die Gefahr, daß Deutschland von fremden Heeren besetzt werden könnte. Während des Ersten Weltkrieges war der Einmarsch der Russen in Ostpreußen 1914 noch Episode geblieben, und die Besetzung der rheinischen Gebiete nach dem Waffenstillstand von 1918 war nicht von Kriegshandlungen begleitet sowie zeitlich und örtlich begrenzt. Nach dem Verlust der operativen Initiative im Osten 1943, spätestens aber nach dem Mißlingen der Abwehr der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 und der weitgehenden Vernichtung der Heeresgruppe Mitte im Sommer des gleichen Jahres hätte jedoch über eine Kapitulation nachgedacht werden müssen. 3 Noch am Ende des Ersten Weltkrieges hatte man nach der oben zitierten Clausewitzschen Maxime gehandelt. Als im Herbst 1918 die militärische Lage völlig aussichtslos geworden war, erreichte eine Gruppe differenziert denkender Generalstabsoffiziere, daß die Oberste Heeresleitung ( O H L ) der politischen Führung Verhandlungen mit dem Gegner und den Abschluß eines Waffenstillstandes empfahl. 4 Von seinem Oberquartiermeister General Ludendorff gedrängt, tat der Chef der allmächtigen O H L , Generalfeldmarschall von Hindenburg, den entscheidenden Schritt. In
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seinen Memoiren schilderte der spätere Reichspräsident das Ereignis: »Auf Grund unserer Beratung unterbreiten wir Seiner Majestät dem Kaiser unseren Vorschlag zum Friedensschritt. Mir obliegt es, dem Allerhöchsten Kriegsherrn zur Begründung des politischen Aktes die militärische Lage zu schildern, deren jetziger Ernst dem Kaiser nicht unbekannt ist.« 5 Das war ein Vorgang, der zu keinem Zeitpunkt während des Zweiten Weltkrieges selbst nicht dessen Ende - vorstellbar gewesen wäre. Vor allem 1945 waren dem Worte und Taten der Akteure auf der politischen und militärischen Bühne völlig entgegengesetzt. In diesem Sachverhalt wird die Diskontinuität in der deutschen Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß innerhalb der militärischen Eliten aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges durchaus eine Kontinuitätslinie erhalten blieb, die sowohl für den Verlauf, als auch für die Endphase des Zweiten Weltkrieges von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Der Erste Weltkrieg hatte allen kriegführenden Parteien gezeigt, daß künftige Kriege nicht mehr nur ein »militärfachliches« Problem sein würden. In den militärtheoretischen Denkmodellen der zwanziger Jahre kamen verschiedene Vertreter der herrschenden Eliten zu dem Ergebnis, der moderne Krieg werde ein »totaler Krieg« sein und erfordere deshalb eine Kombination politischer, militärischer, ökonomischer, ideologischer und psychologischer Elemente, die noch vor Beginn des bewaffneten Kampfes organisiert und mobilisiert werden müßten. 6 Die sich zwangsläufig daraus ergebende Frage nach der hierfür günstigsten Staatsform wurde in Deutschland mit diffusen Vorstellungen von wünschenswerten autoritären, diktatorischen Regierungsformen beantwortet, in denen aber stets dem Militär die entscheidende Stellung zufiel. Entgegen diesen Vorstellungen entwickelte sich die seit 1933 bestehende Diktatur jedoch so, daß die Militärelite zu einem zwar machtbestimmenden, jedoch nicht zu dem machtausübenden Faktor wurde. Das einseitige Streben der traditionell politisch einflußreichen Militärelite nach Beherrschung des »technisch-industriellen Krieges« 7 , hatte zur Akzeptanz der nationalsozialistischen Diktatur und mehr oder weniger freiwilligen Unterordnung der Wehrmacht unter die auf den Krieg orientierte Politik des Reiches geführt. Zu den Folgen gehörte die unlösbare Verbindung zwischen Wehrmacht und der von Hitler bestimmten NSDAP-Diktatur. Diese Verkettung war schließlich so eng, daß bei Kriegsende »der Punkt nicht mehr aufzufinden war, von dem aus zwischen der Katastrophe des Nationalsozialismus und Deutschlands unterschieden werden konnte.« 8 Natürlich war nicht jeder Angehörige der Wehrmacht ein Nazi; gleichwohl bildete die Wehrmacht die Streitkraft des nationalsozialistischen Dritten Reiches. Seit der Jahreswende 1942/43 waren sich Hitler sowie führende Offiziere bewußt, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war.9 Die Forderung der Feldmarschälle
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Rommel und Kluge im Sommer 1944, den Krieg zu beenden 1 0 , entsprach der militärischen Lage des Reiches. Ihre Durchsetzung war auf Grund der inneren Entwicklung des Regimes und der Totalisierung des Krieges kaum durchsetzbar. Zielsetzung und die Methoden der Kriegführung durch das Dritte Reich hatten den Rubikon des bisher in diesem Bereich Bekannten überschreiten lassen. Entsprechende Reaktionen der deutschen Gegner führten zu Dimensionen in Kriegführung und Politik, wie sie vor 1939 kaum vorstellbar gewesen wären. Die mit dem Krieg einhergehende Judenvernichtung, der geplante und partiell ausgeführte Genozid an den slawischen Völkern, die Okkupationsregime in den Staaten West-, Nord-, Süd- und Südosteuropas hatten das von der N S D A P geführte Reich zu einem »Unpartner« der übrigen Staaten werden lassen, der die Regeln des Völkerrechts im Kriege nur dort respektierte wo es ihm opportun erschien. Die Folgen von Krieg und Besatzung für Kombattante und Nichtkombattante erreichten ungeahnte Ausmaße. Der Krieg »löste alle Fesseln von Humanität und Völkerrecht. Es begann eine Orgie von Gewalt und Vernichtung, der blutigste K a m p f der Weltgeschichte, der das 20. Jahrhundert in eine neue Richtung stieß.« 1 1 Als Folge dieser Entwicklung wurde die Beendigung des Krieges auf dem Verhandlungswege, d.h. eine politische Lösung ähnlich der des Ersten Weltkrieges, außenund innenpolitisch immer undenkbarer. Ein Kompromißfrieden zwischen der Koalition gegen Hitler und dem von diesem geführten Deutschland war ausgeschlossen. Dazu trugen auch alliierte Beschlüsse und Militärstrategien bei. Mit der Forderung des US-Präsidenten Roosevelt und des britischen Premiers Churchill nach der »unconditional surrender« (bedingungslosen Kapitulation), die sie auf der Casablanca-Konferenz im Januar 1943 formuliert hatten, war das alliierte Kriegsziel auf die einfachste Formel gebracht worden. Diese beinhaltete für Hitler und seine Regierung letztlich nur die Alternative zwischen bedingungsloser Kapitulation oder der Fortsetzung des Kampfes mit immer geringer werdenden Aussichten auf einen siegreichen oder einen für sie nur einigermaßen annehmbaren Ausgang. Die im Januar 1943 veröffentlichte Formel »implizierte die Nichtanerkennung des Gegners als Verhandlungspartner und negierte damit jegliche gemeinsame Ebene, die zwischen den kriegführenden Parteien außerhalb der kriegerischen Gegnerschaft in menschlichen und geistigen Bereichen noch bestehen konnte.« 1 2 Sie bestätigte aber vor allem von außen die von den NS - Funktionären im Inneren durch Demagogie und Terror angestrebte Gleichsetzung des deutschen Volkes mit der Herrschaft Hitlers und seinem System, eine Festschreibung, die noch gegenwärtig eine Grundlage für die Auseinandersetzung um »Schuld«, »Täter« und »Opfer« bildet. Abgesehen von den in der Literatur seit längerem besprochenen Ursachen und
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Folgen der Formel von der »unconditional surrender« wäre zu fragen, ob diese nicht auch ganz allgemein die Totalisierung des Krieges seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. Wird seitdem in jedem begonnenen Krieg schließlich ein Punkt erreicht, von dem aus sich die Kriegführung der »Guten« wegen des Ausmaßes der »Kollateralschäden« dem Unrecht der »Bösen« annähert? Unabhängig von der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen in der Gegenwart gilt für das Ende des Zweiten Weltkrieges, daß die bedingslsose Kapitulation »mit einiger Sicherheit großen Schaden vom deutschen Volk abgewendet« hätte. 1 3 Eine Auffassung, die nicht zuletzt im Hinblick auf die blutigen Schlachten des Jahres 1945 im Osten Deutschlands nicht von der Hand zu weisen ist. Die Folgen der Veränderungen, die in der Totalisierung der politischen Ziele und der hierfür verwendeten militärischen Mittel bestehen, macht ein so in der neueren Geschichte bis dahin nicht dagewesener Vorgang deutlich: Der britische Premier Sir Winston Churchill erklärte im Dezember 1944 die »Vertreibung« zu einem Mittel der Politik und damit auch zum Ziel der Kriegführung. »Die nach unserem Ermessen befriedigendste und dauerhafteste Methode ist die Vertreibung. Sie wird die Vermischung von Bevölkerung abschaffen, die zu endlosen Schwierigkeiten führt ... Man wird reinen Tisch machen. Mich beunruhigen diese großen Umsiedlungen nicht, die unter modernen Verhältnissen besser als je durchgeführt werden können« 1 4 , sagte er in einer Debatte des britischen Unterhauses. D o c h ist die Frage nach Alternativen zur bedingungslosen Kapitulation letztlich irrelevant. Sie stellte sich für Hitler und den größten Teil seiner hohen Militärs überhaupt nicht. Seine und die durch seine Regierung verfolgte Ausrottungspolitik brach gleichsam alle vorhandenen Brücken zur bisherigen Umwelt ab. Alle Bestrebungen richteten sich zwangsläufig auf »Sieg oder Untergang«. 1 5 Biologistischen Rassentheorien folgend, brauchte danach der Unterlegene, selbst wenn es das eigene Volk sein würde, nicht weiter zu existieren. Im Tagebuch des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels tauchen solche Gedankengänge immer wieder auf. Die Fortsetzung des Krieges bis zur sprichwörtlich letzten Minute mußte geistig vorbereitet werden und war eine unerbittliche Konsequenz der Ideologie und Politik des NS-Regimes. Der deutsche Widerstand konnte die zur Abwendung dieser Ereignisse notwendige Breite und Tiefe nicht aufbringen. Die weitgehende Identifikation der Deutschen mit dem mörderischen und selbstmörderischen Regime des Dritten Reiches verhinderte dessen Sturz aus eigner Kraft. Am 3. Februar 1943, unmittelbar nach dem Debakel von Stalingrad, hielt Hitler in Rastenburg ein »fast zweistündiges Referat über die allgemeine Lage« vor den Gauleitern der NSDAP. 1 6 Goebbels notierte: »Es ist erstaunlich, mit welcher Offenheit, um nicht zu sagen Brutalität des Wahrheitsfanatismus der Führer vor diesem
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kleinen Kreis die Lage charakterisiert«. Hitler erklärte: »Wir stehen in diesem Kriege überhaupt nur vor der Alternative, entweder der Herr über Europa zu werden oder eine gänzliche Liquidierung und Ausrottung zu erleben.« Weiter unten notierte wiederum Goebbels: »Es ist ergreifend, als der Führer zum Schluß bemerkt, daß, sollte ein Zusammenbruch über das Deutsche Reich hereinbrechen, das auch die Beendigung seines Lebens darstellen würde. Allerdings könne ein solcher Zusammenbruch nur durch die Schwäche des eigenen Volkes verursacht werden. Würde das deutsche Volk aber einmal schwach werden, so verdiente es nichts anderes als von einem stärkeren Volke ausgelöscht zu werden; dann könne man mit ihm auch kein Mitleid haben.« Wenige Wochen zuvor hatte Goebbels bereits ähnliche Gedanken festgehalten. Am 5. Januar 1943, als es um Meldungen aus Diplomatenkreisen über Nachkriegsforderungen Polens und Jugoslawiens ging, notierte er: »Aus diesen Berichten aber kann man entnehmen, wie notwendig es ist, daß wir siegen. Wenn wir in diesem Krieg unterlägen, so wäre alles verloren.« Was in einem solchen Falle richtig wäre, hielt Goebbels im Zusammenhang mit der Gefangennahme des Generalfeldmarschalls und Oberbefehlshabers der 6. Armee, Friedrich Paulus, der nicht den erwarteten Selbstmord begangen hatte, fest: »Man mag der Meinung Ausdruck geben, daß es leicht ist, von Berlin aus eine solche Sache nach dem ungeschriebenen nationalen Ehrenkodex zu beurteilen; aber immerhin muß hier mit in Betracht gezogen werden, daß der Befehlshaber in Stalingrad die Wahl hatte, entweder 15 oder 20 Jahre länger zu leben oder ein mehrtausendjähriges ewiges Leben in unverwelklichen Ruhm zu gewinnen. Diese Wahl kann meiner Ansicht nach nicht schwer gefallen sein.« Zu einem weit späteren Zeitpunkt, kurz vor dem Ende, notierte der Propagandaminister in seinem Tagebuch: »Jedenfalls muß für uns jetzt der Grundsatz vorherrschen: Wir wollen diesen K a m p f unter allen Umständen erfolgreich meistern; wenn das aber nicht möglich wäre, ihn ehrenvoll bestehen. Wir tun gut daran, mit allem zu rechnen und die Brücken hinter uns abzubrechen.« 1 7 Das Land und seine Bevölkerung, die in einen aussichtslosen Krieg geführt worden waren, fanden keinen Platz in diesen Überlegungen. Es stellt sich die Frage, warum und mit welchen operativ - strategischen Zielen der Krieg dennoch fortgesetzt wurde, oder - um auf Clausewitz zurückzugreifen - warum der Säbel nicht in die Scheide gestoßen worden ist. Die entscheidende Rolle Hitlers in der Operationsplanung hatte die deutsche Militärtheorie begründet. Das »Handbuch für neuzeitliche Wehrwissenschaften« aus dem Jahre 1936 1 8 führte über die Strategie aus, sie »umfaßt also das Gesamtgebiet der militärischen Kriegführung in ihren großen Zusammenhängen, insbesondere die
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Bewegungen (Operationen) und Kämpfe von Heeren und Heeresteilen in ihrer Wechselwirkung und hinsichtlich der Erreichung des militärischen Kriegszieles«. Die Strategie künftiger Kriege, heißt es dann weiter, muß in sich Land-, See- und Luftstrategie vereinigen, und das »nicht auf Grund einer Gemeinschaft dreier Spezialisten, sondern geleitet von einem souverän über allen Dreien stehenden F Ü H R E R « . (Hervorhebung vom Vf.) Zwei Gesichtspunkte aus dem Handbuch sind für das hier zu behandelnde Thema besonders hervorzuheben. Das ist einerseits die dominierende Rolle des »F Ü H R E R S« auf operativ-strategischer Ebene. Der andere ist der Zusammenhang zwischen Operation und Kriegsziel, bei deren Bestimmung dem »Führer«, d.h. Hitler die Entscheidung zufiel. Damit hatte die Militärelite auch auf ihrem ureigensten Gebiet die eigene Zweitrangigkeit begründet. Bereits bei Kriegsbeginn war von der Führung des Reiches die nach Clausewitz »erste, umfassendste aller strategischen Fragen« nicht beachtet worden, die darin bestand, daß der Staatsmann und Feldherr, »den Krieg, welchen er unternimmt,... richtig erkenne, ihn nicht für etwas nehme oder zu etwas machen wolle, was er der Natur der Verhältnisse nach nicht sein kann.« 1 9 Während der Anfangserfolge der Wehrmacht bis 1941 führte die Mißachtung der »ersten, umfassendsten aller strategischen Fragen« zur Überschätzung der eignen operativen Möglichkeiten und zu illusionären strategischen Zielen. Nach der Wende des Krieges, gipfelnd in den Kämpfen 1945, war von strategischen Zielen kaum etwas zu bemerken; die operativen Pläne beruhten auf Fiktionen. Die Führerweisung Nr. 51 vom 3. November 1943 war der letze Versuch der deutschen Seite, eine langfristige strategische Zielsetzung für das Reich auszuarbeit e n 2 0 . Sie trug der Lage des Deutschen Reiches insofern Rechnung, als sie für die Ostfront die Defensive vorsah, um dadurch die Möglichkeit für eine Schwerpunktverlagerung auf den westlichen Kriegsschauplatz zu schaffen. Dabei wurde davon ausgegangen, daß im Osten, »die Größe des Raumes äußersten Falles einen Bodenverlust größeren Ausmaßes zu(läßt), ohne den deutschen Lebensnerv zu treffen.« Anders sei es im Westen. Gelänge dem Feind hier der Einbruch in die deutsche Verteidigung »in breiter Front, so sind die Folgen in kurzer Zeit unabsehbar«. Daher sollte im Westen alles so vorbereitet werden, daß hier die »entscheidende Landungsschlacht« geschlagen und notfalls der gelandete Gegner durch »mit größter Wucht geführte(n) Gegenangriff« ins Meer zurückgeworfen werden konnte. Auch in der Weisung Nr. 51 wurde dem »Gesamtzusammenhang von Politik, Ökonomie und militärischer Operation« 2 1 nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt. Sie lieferte lediglich den Versuch einer Antwort für den Fall, daß es nicht gelingen würde, die Landung der Alliierten zu verhindern. Die Invasion der Westmächte, die am 6. Juni 1944 begann, konnte - wie wir heute
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wissen - nicht abgewehrt werden. Durch den Erfolg der größten triphibischen Operation in der Geschichte der Kriege befand sich das Deutsche Reich nunmehr endgültig in dem gefürchteten Zweifrontenkrieg. Das durch die Schwerpunktverlagerung in den Westen geschwächte Ostheer war zu einem weiträumigen Bewegungskrieg nicht mehr in der Lage. Die am 22. Juni 1944 einsetzende Offensive der Roten Armee gegen die Heeresgruppe Mitte (Operation Bagration) hatte katastrophale Folgen. Anfang Juli brach die Front dieser Heeresgruppe zusammen. Von vier Armeen gingen drei verloren. Achtundzwanzig Divisionen gerieten in den Strudel der Niederlage. Ende des Monats erreichte die Rote Armee südlich Warschau die Weichsel und begann bei Magnuszew und Pulawy Brückenköpfe zu errichten. Erst Ende August stabilisierte sich die deutsche Front nördlich der Karpaten und entlang der Weichsel bis zur Ostsee. In Frankreich war es den anglo - amerikanischen Streitkräften im Juli 1944 gelungen, aus dem Landekopf auszubrechen. Im folgenden Monat geriet die deutsch Verteidigung westlich der Seine ins Wanken. Mitte September kam der deutsche Rückzug an der Linie Albertkanal - westlich Aachen -Trier - Metz - Luneville Beifort zum Stehen. Zu dieser Zeit nun wäre spätestens nach Clausewitz zu fragen gewesen, ob »der Kraftaufwand so groß (geworden war), daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten (konnte) ...«? D o c h dies geschah gerade nicht. Im Gegenteil, hier begann in der deutschen Militärgeschichte eine Phase der Vermischung von Professionalität und Irrationalität, deren Ursachen und Folgen (nahezu) einmalig sind. Der die deutsche Strategie bestimmende »Führer« folgte weiter dem Prinzip des »Alles oder Nichts«, und die Wehrmachtführung gehorchte. Hitler blieb auch Ende des Jahres 1944 dem längst nicht mehr erreichbaren Ziel verhaftet, durch einen militärischen Erfolg im Westen die Koalition seiner Gegner zu zerbrechen. Wenig phantasievoll beabsichtigte er eine Neuauflage des Sichelschnittplanes von 1940. Ein Panzervorstoß auf Antwerpen sollte die alliierten Streitkräfte spalten und so die Front der Gegner auch politisch aufsplittern. Der Realitätsferne dieser »Operation« entsprach die »Strategie«. Das Ergebnis ist bekannt: Die Ardennenoffensive scheiterte und hatte zudem den Effekt, daß die hier eingesetzten Divisionen der Ostfront nicht zur Verfügung gestellt werden konnten. Zugleich machte diese Offensive eine für das deutsche Volk gefährliche Logik sichtbar. Denn dahinter lag ja das Ziel, jede nur mögliche Chance zu nutzen, um den Sturz der Diktatur aufzuhalten oder zu verzögern. Die Devise Hitlers und seines engsten Führungskreises - »Siegen oder Untergehen« - bedeutete den erbarmungslosen Endkampf selbst auf den Trümmern des Reiches.
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Der Scheidepunkt lag Anfang des Jahres 1945. Zu diesem Zeitpunkt war die strategische Lage des Dritten Reiches ohne jeden Funken Hoffnung. Die Armeen der gegnerischen Koalition standen unmittelbar an den deutschen Grenzen. Die Wehrmacht hatte 10 Millionen Mann unter Waffen; damit waren ihre Menschenreserven ausgeschöpft. Die Rüstungswirtschaft erreichte Ende 1944 zwar einen Höhepunkt, aber der abrupte Einbruch stand unmittelbar bevor. Zu Beginn des Jahres 1945 hatte die Ostfront eine Länge von 2.200 Kilometer und verlief von Tukums an der Ostsee über Augustow - Warschau - Kosice - Esztergom - Balaton bis nach Torjanc an der Drau. Hier befand sich die Grenze zum Bereich des Oberbefehlshabers Südost und damit zu einem O K W - Kriegsschauplatz. Zur Deckung dieser Front stand am 1. November 1944 dem Generalstab des Heeres nur ein Teil der Wehrmacht zur Verfügung: 1.840.000 Mann. 2 2 Es gehört zu den sich immer häufiger widersprechenden operativen Plänen und Maßnahmen der deutschen Führung in den letzten Monaten des Krieges, daß die deutschen Truppen in den Nebenrichtungen (bei der Heeresgruppe Mitte und im Kurland) stärker waren als die Heeresgruppe A, deren Front die zu erwartende Januaroffensive treffen mußte. Mit einer durchschlagenden Verstärkung der Kräfte und Mittel konnte die militärische Führung der Wehrmacht nicht mehr rechnen. Dennoch wurden in den einzelnen Stäben immer neue operative Planungen vorgenommen und um deren Verwirklichung mit den Konkurrenten aus den anderen Teilstreitkräften gerungen. Es gehört zu den Phänomenen des Jahres 1945, daß nicht allein Hitler, sondern der größte Teil der hohen und höchsten Stabsoffiziere der Wehrmacht - deren Professionalismus außer Frage steht - sich hieran widerspruchslos beteiligte, ohne nach dem Realitätsgehalt zu fragen. Deutlich wird diese Erscheinung an der seit Januar 1945 besonders gefährdeten und alles entscheidenden Ostfront. In Kenntnis der drohenden Gefahr hatte der Generalstab des Heeres seit den Herbst- und Wintermonaten des Jahres 1944 den Raum zwischen Weichsel und Oder zur Verteidigung vorbereiten lassen. Dabei erachtete er den Ausbau von festen Anlagen und ein über 300 Kilometer tief gegliedertes Stellungssystem für entscheidend. Das Kardinalproblem blieb jedoch der Widerspruch zwischen der relativen Schwäche der eigenen Truppen und der Ausdehnung der zu haltenden Front. Eine Lösung gab es hierfür nicht, dafür erarbeiteten die Stäbe die unterschiedlichsten Varianten, um die Verteidigung zu organisieren. Von besonderem Gewicht hierbei war das »Großkampfverfahren«. Seine Grundgedanken waren bereits in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges zur Abwehr der Offensiven an der Westfront entstanden. Die Heeresgruppe A glaubte, mit diesem 1943 modifizierten System einer flexiblen Verteidigung die Lage meistern zu können.
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Eine andere Variante, die »Operation Schlittenfahrt«, wurde in einer Denkschrift des Generalstabschefs der Heeresgruppe A, Generalleutnant Wolfdietrich Ritter von Xylander, vorgeschlagen. 2 3 Danach sollten sich Teile der 9. Armee noch vor Beginn der sowjetischen Offensive zurückziehen, um dann einen Gegenschlag zu führen. Mit diesem Manöver sollte die »Freiheit des Handelns« wieder gewonnen werden. Letztendlich konnte selbst die militärisch ausgeklügeltste Vorgehensweise den Gegner nur um Tage, bestenfalls Wochen aufhalten, mehr nicht. Bei der Januaroffensive der Roten Armee war nicht einmal dieses der Fall. Die Weichselfront fiel - überraschend für beide Seiten - schnell. Immer noch die Quadratur des Kreises suchend, schlug der erste Mitarbeiter von Generaloberst J o d l Generalleutnant August Winter, stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes - am 19. Januar 1945 vor, eine erneute Schwerpunktverlagerung in der Kriegführung vorzunehmen. Um den »Massenansturm aus dem Osten« zum Stehen zu bringen, wollte er Kräfte aus dem Westen abziehen und diese westlich der allgemeinen Linie Hirschberg - Liegnitz - Posen - Bromberg für eine »große Entscheidungsschlacht« sammeln. 2 4 Das entsprach nicht der Vorstellung Hitlers, der in Ungarn offensiv vorgehen wollte. Ohne die wirtschaftlichen Quellen Südosteuropas, vor allem ohne das ungarische Erdöl und die Kapazitäten des Wiener Beckens, hielt er eine weitere Kriegführung für unmöglich. Kennzeichnend für den Führungsstil in der Spitze des Reiches war, daß es unabhängig davon entgegengesetzte Bestrebungen gab. Laut eines Fernschreibens vom 6. Februar sollte das Panzerarmeekommando 6 mit Armeetruppen in den Raum Fürstenwalde - Frankfurt/Oder verlegt werden. Nach Versammlung von aus dem Westen heranzuführenden Truppen war ein Angriff gegen die zur Oder vordringenden sowjetischen Kräfte zu führen. 2 5 Auch dieses Vorhaben kam nicht zur Durchführung; die letzte deutsche Offensive im Osten begann am 6. März 1945 in Ungarn und scheiterte. D o c h war es nicht das letzte derartige Vabanquespiel und nicht das letzte Anzeichen für die zu einem Intrigenspiel entartete Kriegführung der obersten deutschen Stäbe. Eine der ersten Maßnahmen Hitlers nach dem gegnerischen Durchbrechen der Weichsellinie bestand in der Ablösung führender Offiziere und der Umbenennung der Heeresgruppen im Osten, bzw. in der Bildung der Heeresgruppe Weichsel. Zu deren Oberbefehlshaber wurde Reichsführer SS Heinrich Himmler ernannt. Diese Ernennung war eine mehr als zweifelhafte Entscheidung, die zugleich den desolaten Zustand in der obersten Militärführung sichtbar werden ließ. Der zum Ia der Heeresgruppe ernannte Oberst i.G. Hans-Georg Eismann bemerkte, ihm sei auf Grund seiner Erlebnisse bei der Befehlsübernahme »erst später der Gedanke gekommen
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daß man hiermit auch vom O K H aus Himmler gleich zu Beginn seiner Führung ein Bein stellen wollte.« 2 6 Bis Mitte Februar 1945 gelang es der Heeresführung mit Hilfe von Alarmeinheiten, Neuaufstellungen und aus dem Westen verlegten Kräften, die Front entlang der Oder und Neiße zu stabilisieren. Begünstigt wurde dies dadurch, daß die sowjetische Seite an der Oder zur Verteidigung überging. In den folgenden Wochen der Kriegführung entartete die deutsche Operationsführung zu taktischen Manövern, deren Ziele allein auf illusionären Vorstellungen basierten und den Todeskampf des von den Nazis geführten Deutschen Reiches verlängerte. Charakteristisch hierfür war, daß selbst die zu »Festungen« erklärten Dörfer Klessin und Wuhden auch dann noch gehalten wurden, nachdem ihre Verteidigung keinen taktischen Zweck mehr erfüllte. Noch deutlicher wird dies in dem Umstand, daß es für die erwartete Apriloffensive an der Oder keinen Operationsplan gegeben hat. 2 7 Noch immer konnte die NS-Führung sich der Unterstützung des größten Teils der deutschen Eliten sicher sein. Das führende Generalskorps, das bereits 1918 ein Kriegsende und seine Folgen erlebt hatte, nahm jetzt - am Ende des Zweiten Weltkrieges - eine Haltung ein, welche das Resultat sowohl ihrer Einordnung in die Diktatur Hitlers als auch ihrer Furcht vor einem neuen 1918 bildete. Es war eine Entwicklung, die mit wenigen Ausnahmen zum Verlust jeder realen strategischen oder operativen Zielsetzung geführt hatte. Es war, als hätten die Militärs nicht nur ihr eigenes Handwerk vergessen, sie verstießen auch gegen sich selbst, gegen die hochgehaltenen Ehrenkodizis der preußisch-deutschen Offiziere. Die dem Naziregime direkt oder indirekt anhängenden militärischen Führungsschicht sah zu den Endkampfzielen keine Alternative. Dabei handelten die Personen subjektiv durchaus unterschiedlich. Alles in allem lag der Kriegführung am Ende des Zweiten Weltkrieges keine wie auch immer definierte »Strategie« zugrunde. Sie hatte keine positive operative Zielsetzung. An die Stelle des Professionalismus auf militärischem Gebiet war Aktionismus getreten, dessen Motivation so unterschiedlich war wie die Personen, welche die Entwicklung zu verantworten hatten. Zu den inneren Voraussetzungen für die Fortsetzung des Krieges bis zur letzten Minute trug die Tatsache bei, daß es dem NS-Regime gelungen war, dem größten Teil der Deutschen zu suggerieren, das persönliche Schicksal sei mit dem des Staates identisch. Auch die Regierungen der Staaten der Antihitlerkoalition haben hier nicht ausreichend entgegen gewirkt. Im Westen wie im Osten ging es nur noch um örtliche Ziele, die schließlich im April 1945 zu bloßen taktischen Aufgabenstellungen gerieten. Kennzeichnend für
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das Irreale der letzten Kampfhandlungen war das Operieren mit nicht mehr existenten Verbänden mit Zielen, die das Kriegsende um Tage oder Stunden hinauszögerten, ohne den Untergang des Dritten Reiches verhindern zu können.
A nmerkungen 1 Werner Hahlweg: Lenin und Clausewitz. In: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 36, 1954, S. 385 f. 2 Carl von Clausewitz: Vom Kriege, Berlin 1957, S. 40 f. 3 Frido von Senger und Etterlin: Strategische Kontroversen der Alliierten. In: Andreas Hillgruber (Hrsg.): Probleme des Zweiten Weltkrieges, Köln/Berlin 1967, S. 289. 4 Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 3, November 1917 bis November 1918, Berlin 1969, S. 421 ff. 5 Generalfeldmarschall von Hindenburg: Aus meinem Leben, Leipzig 1920, S. 394. 6 Siehe hierzu Richard Lakowski: Zwischen Professionalismus und Nazismus: Die Wehrmacht des Dritten Reiches vor dem Überfall auf die U d S S R In: Bernd Wegner: Zwei Wege nach Moskau, Zürich 1991, S. 149 ff. 7 Klaus-Jürgen Müller: Armee und Drittes Reich 1933-1939. Darstellung und Dokumentation unter Mitarbeit von Ernst Willi Hansen, Paderborn 1987, S. 26. 8 Manfred Messerschmidt: Militärgeschichtliche Aspekte der Entwicklung des Nationalstaates, Düsseldorf 1988, S. 145. 9 Reiner Hansen: Das Ende des Dritten Reiches. Die deutsche Kapitulation 1945, Stuttgart 1966, S. 36. 10 Ebenda. 11 Rolf-Dieter Müller/Gerd R. Ueberschär: Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt am Main 1995, S. 12. 12 Günter Moltmann: Die Genesis der Unconditional-Surrender-Forderung. In: Probleme des Zweiten Weltkrieges, hrsg. von Andreas Hillgruber, Köln/Berlin 1967, S. 174. 13 Lothar Kettenacker: »Uncoditional Surrender« als Grundlage der angelsächsischen Nachkriegsplanung. In: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, M ü n c h e n / Zürich 1989, S. 185. 14 Winston Churchill am 15. Dezember 1944, Parlamentsdebatte des Unterhauses, Bd. 406, Spalte 1484. Zit. nach Alfred M. de Zayas: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, Frankfurt a. M./Berlin 1988. 15 Mit diesen Überlegungen folgt der Autor Thesen, die Bernd Wegner im Juli 1995 im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam vorgetragen hat. 16 Kopie der Originale des Goebbels-Tagebuch aus dem Nachlaß von Wolfgang. Schumann. Die Kopien wurde dem Vf. freundlicherweise von Rosemarie Schumann zur Verfügung gestellt. 17 Ebenda (Eintrag vom 5. März 1945), S. 41. 18 Hermann Franke: H a n d b u c h der neuzeitlichen Wehrwissenschaften, Bd.l: Wehrpolitik und Kriegführung, Berlin und Leipzig 1936, S. 181 ff. 19 Clausewitz, Vom Kriege, S. 35 f.
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Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939-1945. Dokumente des O b e r k o m m a n d o s der Wehrmacht, hrsg. von Walther Hubatsch, München 1965, S. 270 ff.
21 Günter Roth: Politik und militärische Macht. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Wedig Kolster in Verbindung mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam 1995, S. 265. 22
Deutschland im Zweiten Weltkrieg, Bd. 6, Berlin 1985, S. 498.
23
Clausewitz, Vom Kriege, S. 503 f.
24
Der zweite Weltkrieg. Dokumente, ausgew. u. eingel. von Gerhard Förster und Olaf Groehler, Berlin 1972, S. 291 ff.
25
Richard Lakowski: Oderland ist abgebrannt (Seelower Hefte 2), Frankfurt Oder Edition 1999, S. 16.
26
Bundesarchiv- Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, M s g 1/76, S.19 ff.
27
Richard Lakowski: Die Lage der 9. Armee vor Beginn der Offensive der Roten Armee. In: Seelower H ö h e n 1945, hrsg. von Roland Förster, H a m b u r g 1998, S. 1-120.
Günter
Rosenfeld
Die Initiative Rudolf Nadolnys zur Entspannung der deutsch-sowjetischen Beziehungen im Frühjahr 1934 und das Scheitern seiner diplomatischen Mission
Als Rudolf Nadolny 1 am 14. November 1933 in den Zug nach Moskau stieg, wo er in der Nachfolge Herbert von Dirksens den Posten des deutschen Botschafters übernahm, hatten die deutsch-sowjetischen Beziehungen einen Tiefpunkt erreicht. 2 Obwohl Hitler offiziell erklärte, an den bisherigen Beziehungen zur Sowjetunion auf der Grundlage der Verträge von Rapallo und Berlin festhalten zu wollen, sah die Wirklichkeit anders aus. War die Politik der unter Hitler errichteten faschistischen Diktatur nach innen antirepublikanisch, antidemokratisch und antiliberal 3 , so war sie nach außen extrem antisowjetisch. Weltanschauung und Politik der von Hitler geführten N S D A P richteten sich sowohl auf die Vernichtung des »jüdischen Bolschewismus« in Rußland als auch auf die Eroberung von »Lebensraum« im Osten. 4 Nicht nur die politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit der beiden Länder war dem antisowjetischen Konfrontationskurs der Hitlerführung gewichen. Auch der Austausch in Kultur und Wissenschaft sowie der Reiseverkehr waren fast gänzlich zum Erliegen gekommen. Es kam hinzu, daß die nach dem Reichstagsbrand von den Nazimachthabern entfachte Terrorwelle auch sowjetische Bürger und Institutionen erfaßte.5 Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß das stalinistische Regime, das sich inzwischen in der Sowjetunion herausgebildet hatte, der antisowjetischen Propaganda in Deutschland wie auch in anderen Ländern nicht geringe Nahrung gab. Gerade zum Zeitpunkt des Eintreffens Nadolnys in Moskau hatte die O G P U unter konstruierten Beschuldigungen der Spionage 28 Menschen unterschiedlicher Nationalität verhaftet, die in dem Schweizer Unternehmen »Kontrollko« beschäftigt waren. Es hatte seinen Sitz in Hamburg und stellte in mehreren sowjetischen Häfen Zertifikate über die ins Ausland exportierten Getreidemengen aus, damit sie in den Bestimmungshäfen nicht mehr nachgewogen werden mußten. Zu den Verhafteten gehörten auch zwei Reichsdeutsche in Novorossijsk sowie der deutsche Konsulatssekretär Türk in Odessa. 6 So stand der Beginn der Tätigkeit Nadolnys in Moskau unter keinem guten Stern.
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Dennoch war der Botschafter bis zu einem gewissen Grade optimistisch. Zwar konnte er von den Führungskreisen der Ministerialbürokratie, der Wirtschaft und der Reichswehr, die bisher die Rapallo-Politik befürwortet hatten, im Hinblick auf einen Kurswechsel gegenüber der Sowjetunion nur wenig Unterstützung erwarten. 7 Jedoch schöpfte er offenbar aus seinen Gesprächen mit Vertretern der sowjetischen Führung neue Hoffnungen. Bestätigten sie ihm doch, daß diese unverändert an der Beibehaltung guter Beziehungen zu Deutschland interessiert war. In der Literatur ist oft die Frage erörtert worden, ob dieses Interesse nicht die inzwischen von Stalin eingeleitete Kursnahme auf die »kollektive Sicherheit«, deren Basis die sowjetischfranzösische Zusammenarbeit bildete, ausschloß bzw. ihr entgegenstand. 8 Darauf ist zu antworten, daß es Stalin nach wie vor darauf ankam, die Gegensätze unter den kapitalistischen Ländern auszunutzen und der Sowjetunion unter Vermeidung jeglichen außenpolitischen Risikos ein O p t i m u m an Sicherheit zu bieten. Weder die Kursnahme auf die Annäherung an die Westmächte mit einem möglichen Eintritt in den Völkerbund noch ideologische Gesichtspunkte hinderten ihn daran, weiterhin die Herstellung eines modus vivendi mit Hitlerdeutschland zu verfolgen. Einen solchen und darüber hinaus sogar ein Bündnis sollte er freilich erst im Sommer 1939 erreichen, nachdem er überdies von den Westmächten im Unterschied zu den Offerten Hitlers keinerlei für ihn attraktive Angebote zu erwarten hatte. Angesichts des sowjetischen Interesses an der Beibehaltung der Zusammenarbeit, zumindest aber einer Entspannung der Beziehungen zu Deutschland kam für Nadolny der diplomatische Vorstoß der Sowjetregierung, den ihm Litvinov am 28. März 1934 in Form des Entwurfes für ein Protokoll zur gemeinsamen Garantie der Sicherheit der baltischen Staaten unterbreitete, nicht unerwartet. Wie sehr es der sowjetischen Führung auch immer um die Neutralisierung der baltischen Staaten bzw. um die Einflußnahme auf diesen Raum ging, so zielte sie mit diesem Angebot doch vor allem auf die Entspannung des Verhältnisses zwischen Moskau und Berlin ab. 9 Obwohl Nadolny in den nächsten Tagen und Wochen nichts unversucht ließ, um die verantwortlichen Leute in der Wilhelmstraße zur Annahme des sowjetischen Garantieprojektes zu bewegen, stieß er dort auf Ablehnung. Nachdem Staatssekretär von Bülow bereits am 3. April den sowjetischen Vorschlag seiner »persönlichen Auffassung« nach als unannehmbar bezeichnet hatte, 10 erfolgte am 9. April in Form eines Erlasses die offizielle Antwort des Außenministers von Neurath. 1 1 Er verwies den Botschafter auf die »Notwendigkeit, den Vorschlag in aller Bestimmtheit und Offenheit als unmöglich abzulehnen.« Dabei sparte Neurath nicht mit der höflichen Floskel, daß man die Absicht der Sowjetregierung, »etwas Konkretes zum Zwecke der Wiederherstellung vertrauensvoller Beziehungen zwischen Deutschland und der
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Sowjetunion zu tun«, begrüße, erklärte jedoch, daß der sowjetische Vorschlag »aus verschiedenen Gründen« nicht geeignet sei. Nadolny hatte kaum eine andere Antwort Neuraths erwartet. D o c h suchte er insofern den Stier bei den Hörnern zu packen, als er den in Neuraths Erlaß enthaltenen Hinweis auf den Berliner Vertrag aufgriff und dem Minister vorschlug, unter Verwendung des Artikels 1 des Berliner Vertrages 1 2 sowie mit einem Zusatz über die Bereitschaft, etwaige Vorschläge der Sowjetregierung entgegennehmen und in bester Absicht prüfen zu wollen, eine gemeinsame Erklärung der beiden Regierungen zu veröffentlichen. 1 3 Neurath zeigte sich nun zwar damit einverstanden, daß Nadolny der Litvinov zu übermittelnden abschlägigen Antwort am Schluß noch einige freundliche Sätze hinzufügte, hütete sich jedoch davor, den Vorschlag des Botschafters hinsichtlich einer gemeinsamen öffentlichen Erklärung aufzugreifen. 1 4 Auch Litvinov zeigte sich keineswegs überrascht, als Nadolny ihm am 14. April die Antwort aus Berlin überbrachte. 1 5 Er war zudem schon durch den sowjetischen Botschafter in Berlin, Lev Chincuk, der mit Neurath gesprochen hatte, über dessen ablehnende Haltung informiert worden. 1 6 Am 21. April trug Litvinov dem deutschen Botschafter die sowjetische Entgegnung auf die deutsche Ablehnung vor und übergab ihm zugleich den entsprechenden Text, den die Sowjetregierung, wie Litvinov vermerkte, zusammen mit dem Garantievorschlag und der deutschen Ablehnung den Regierungen der baltischen Staaten übermitteln wollte. 1 7 Am 27. April, nachdem die lettische Presse die sowjetische Entgegnung gebracht hatte, erschien sie auch zusammen mit dem Artikel »Deutschland und das Baltikum« in den »Izvestija«. Ungeachtet der restriktiven Haltung der Hitlerregierung und der damit verbundenen weiteren Zuspitzung der gegenseitigen Beziehungen, zeigte der Ton der sowjetischen Entgegnung erneut, daß der Kreml auch jetzt die Tür zu Berlin weiter offenhalten wollte. Die Ablehnung des sowjetischen Vorschlags zur gemeinsamen Garantie der Sicherheit der baltischen Staaten ließ bereits deutlich die Hindernisse erkennen, die einem osteuropäischen Sicherheitspakt, an dem man inzwischen in den Gesprächen zwischen Moskau und Paris arbeitete, entgegenstanden. Auch die internationale Resonanz, die die Haltung der Hitlerregierung fand, deutete bereits die Konturen der künftigen Auseinandersetzungen um das Ostpakt-Projekt an. Die baltischen Staaten zeigten sich durch die Reaktion Berlins beunruhigt, was der sowjetischen Diplomatie bis zu einem gewissen Grade neue Wirkungsmöglichkeiten bot. In Paris fand man die Haltung Berlins als einen neuen Beweis für die Aggressionsabsichten Hitlerdeutschlands, wobei man dort zugleich die sowjetische Initiative positiv beurteilte. 1 8 Anders war die Reaktion an der Themse, wo Außenminister Simon dem deutschen Botschafter von Hoesch erklärte, »daß ein derartiges Projekt als kaum sehr ange-
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nehm für die baltischen Staaten erscheine.« 1 9 Im italienischen Außenministerium hielt man noch immer eine deutsch-sowjetische Verständigung für wünschenswert und kritisierte die deutsche Ablehnung, obgleich sich Mussolini in einem Gespräch mit Botschafter von Hassell anders geäußert hatte. 2 0 Wie Krestinskij, Stellvertretender Volkskommissar für Äußeres, dem sowjetischen Botschafter in Italien, Potemkin, mitteilte, habe man in Moskau angenommen, im Falle einer positiven Antwort aus Berlin »nicht nur einige Chancen in Osteuropa zu vergrößern, sondern auch eine Verbesserung der sowjetisch-deutschen Beziehungen zu erreichen.« Eine negative Antwort der deutschen Regierung, so habe man weiter angenommen, »hätte der gesellschaftlichen Meinung der ganzen Welt, in erster Linie dem Baltikum, gezeigt, daß die deutsche Regierung gegenüber den baltischen Ländern aggressive Absichten hege und damit die Heuchelei ihrer pazifistischen Erklärungen entlarvt.« Jetzt, nach der deutschen Ablehnung, seien diese Absichten offenbar geworden. 2 1 Wie die angeführten Reaktionen in den Hauptstädten der westlichen Staaten zeigen, waren diese jedoch in der Einschätzung der Politik der Hitlerregierung durchaus nicht so, wie man es in Moskau gewünscht hätte. Vor allem aber mußte Stalin erkennen, daß die von ihm angestrebte Verständigung mit Hitler weiter auf sich warten ließ, wenn nicht überhaupt unmöglich war. Die Ablehnung des sowjetischen Garantieprojekts durch die Hitlerregierung veranlaßte Nadolny nunmehr, unmittelbar in Berlin vorstellig zu werden, um doch noch eine Wende in den Beziehungen zwischen Berlin und Moskau herbeizuführen. A u f seine entsprechende Anfrage in der Wilhelmstraße, die er mit der weiterbestehenden Gesprächsbereitschaft des Kreml sowie mit der Dringlichkeit der Wirtschaftsfragen motivierte, antwortete Neurath am 1. Mai zustimmend. 2 2 Am Abend des 12. Mai stieg Nadolny in den Zug nach Berlin, nicht ohne zuvor noch einmal Litvinov aufgesucht zu haben, der ihm gegenüber erneut den Verständigungswillen der Sowjetführung zum Ausdruck brachte. 2 3 Über die Gespräche, die Nadolny in Berlin führte und die mit einem Besuch Neuraths im Auswärtigen Amt begannen, haben wir vor allem Kenntnis durch die Aussagen, die Nadolny später selbst darüber machte. 2 4 Nadolny hatte sich auf diese Gespräche gründlich vorbereitet und zu diesem Zweck mehrere Denkschriften verfaßt, in denen er, teils in Wiederholung, teils in Weiterfuhrung seines großen Berichts über »die Gestaltung der deutsch-russischen Beziehungen« vom 9. Januar 1934 2 5 die Bedeutung der Sowjetunion als Weltmacht sowie seine Auffassung von der ihr gegenüber zu verfolgenden Politik darlegte. 2 6 Obwohl Sowjetrußland, so argumentierte Nadolny, nach dem Krieg und fruchtlosen Interventionsversuchen des Auslands als »zu isolierender kommunistischer Pestherd« betrachtet wurde, habe es sich in den nachfolgenden Jahren vor allem ökonomisch erfolgreich entwickelt. »Die
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Union nahm somit von Jahr zu Jahr immer mehr den alten Platz Rußlands als europäische Großmacht ein.« Zwar gingen die Meinungen über die Dauerhaftigkeit des Sowjetregimes auseinander, jedoch, so schlußfolgerte Nadolny weiter, habe inzwischen die weltrevolutionäre Tendenz des sowjetischen Kommunismus eine andere Richtung erhalten: sie laufe darauf hinaus, einen solchen übermächtigen Produktionsmechanismus zu gestalten, »daß dadurch die anderen Volkswirtschaften oder wenigstens die der maßgebenden Staaten niedergerungen und ihre Völker dem Bolschewismus in die Arme getrieben werden.« Indem Nadolny weiter die Methoden der sowjetischen Planwirtschaft erörterte, vertrat er die Auffassung, daß trotz allen Nachteils, die sie aufwiesen, sie andererseits doch unter den konkreten Gegebenheiten des riesigen Landes entscheidende Vorteile aufwiesen. »Ja, man kann sich fragen, ob sie nicht in Rußland überhaupt die einzig richtigen sind, wenn das Land in einem einigermaßen sichtbaren Tempo wirtschaftlich vorwärts gebracht werden soll ... Bei der Planwirtschaft und dem Kollektivismus ist es mehr der Antrieb und das Tempo, die dadurch erhöht werden und deren Wert die mit diesen Methoden verbundenen Nachteile überwiegt...« Nadolny verwies weiter auf die Erfolge der raschen Industrialisierung sowie die »mit eiserner Konsequenz und unerhörter Brutalität« durchgeführte Kollektivierung und Intensivierung der Landwirtschaft, wobei »der Hunger amtlich fortgeleugnet« wurde. Angesichts aller dieser Anstrengungen - Nadolny legte hier sehr differenziert die Ergebnisse des Wirtschaftsaufbaus im Rahmen der beiden ersten Fünfjahrpläne dar - werde die Sowjetunion alsbald, obgleich sie nicht im entferntesten die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung befriedige, in der Lage sein, mit preisgünstigen Produkten auf dem Weltmarkt zu erscheinen. Die Sowjetunion, so faßte Nadolny seine Überlegungen zusammen, verstärke von Jahr zu Jahr ihre militärische Macht und nehme »soweit wie möglich an der allgemeinen Weltpolitik als Großmacht teil.« Die von ihr angestrebte Revolutionierung der Welt suche sie hauptsächlich durch die »Revolutionierung ihrer Wirtschaft« zu erreichen. Aus seinen Darlegungen gehe hervor, daß »die Bedeutung der Sowjetunion als kommunistische und weltrevolutionäre Macht durchaus nicht im Schwinden begriffen ist, sondern daß sie im Gegenteil von Jahr zu Jahr wächst und immer mehr auf ihre Auswirkung zugeht.« 2 7 Die Schlußfolgerungen, die sich aus diesen Darlegungen für das deutsch-sowjetische Verhältnis ergaben, umriß Nadolny einer gesonderten Denkschrift. 2 8 Angesichts des von ihm dargelegten enormen Machtzuwachses der Sowjetunion könne es sich nicht mehr darum handeln, in ihre Entwicklung unmittelbar einzugreifen oder sich dem Gedanken der Bildung einer antisowjetischen Front hinzugeben, sondern die von ihr ausgehende Bedrohung, das heißt »die Pläne der Sowjetmachthaber durch entsprechende Gegenmaßnahmen zu durchkreuzen und schließlich auf diese
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Weise die Sowjetunion Schritt für Schritt doch dazu zu bringen, daß sie sich zu einem normalen Großstaat entwickelt, der sich politisch in den allgemeinen Rahmen einfügt und wirtschaftlich ein wichtiges Austausch- und Betätigungsfeld wird.« 2 9 Um der »wirtschaftlichen Revolutionierung der Welt« durch die Sowjetunion erfolgreich entgegentreten zu können, schlug Nadolny die folgenden Gegenmaßnahmen vor: Erstens sollte das Ausland zu einem oder mehreren potentiellen Wirtschaftsgebieten zusammengefaßt werden, damit dem sowjetischen Ausspielen eines Staates gegen den anderen ein Ende bereitet werden könnte; zweitens sollte der wirtschaftliche Vorsprung gewahrt werden, den das Ausland noch immer vor der Sowjetunion besaß, wobei man mindestens »für hochwertige Spezialitäten eine Kontrolle der von der Sowjetregierung angeworbenen Kräfte« organisieren müßte; drittens schließlich sollte man »Schutzmaßnahmen gegenüber gewissen das Ausland schädigenden handelspolitischen Praktiken der Sowjetregierung, insbesondere gegenüber der willkürlichen Handhabung des Außenhandelsmonopols und gegenüber dem Dumping« ergreifen. Diese Abwehrmaßnahmen sollten indes, wie Nadolny betonte, keineswegs bedeuten, »das Verhältnis zu ihr auf offenen Kampf einzustellen.« Denn gerade solche Maßnahmen machten »noch mehr als unser sonstiges Interesse an der Sowjetunion die Unterhaltung eines guten Verhältnisses notwendig.« Wie Nadolny abschließend betonte, forderten die von ihm geschilderten Umstände, »daß wir das heutige gespannte Verhältnis möglichst schnell zu beseitigen suchen und mit der Sowjetunion zu einem auf ihr Wesen und ihre Absichten eingestellten und unseren Interessen Rechnung tragenden Verhältnis gelangen. Dieses muß zweckmäßigerweise folgendes sein: politisch und überhaupt allgemein gute Beziehungen, weltanschaulich und sozial strenge Scheidung, wirtschaftlich Abwehr und rationeller Minenkrieg unter äußerlich guten Beziehungen - so lange, bis unser Ziel erreicht ist.« Nachdem Nadolny seine Berliner Gespräche zunächst im Auswärtigen Amt begonnen hatte, durfte er vorerst optimistisch sein. »Im Auswärtigen Amt fand ich auch einen positiven Willen dafür vor, man wußte nur nicht, wie man vorgehen könnte. Die Meinungen hierüber gingen auseinander, im allgemeinen war man der Ansicht, daß es vor allem darauf ankomme, den Kanzler zu einem positiven Entschluß für die Herstellung guter Beziehungen zu bewegen; das Weitere werde dann im Amt überlegt und gefunden werden. Auch der Reichsminister, dem ich gleich am ersten Tag, Montag den 14. Mai, über die Lage in Rußland, über die Bedeutung der Entsendung von Suritz (Suric, G R ) als neuen Botschafter nach Berlin 3 0 und über die Notwendigkeit der Bereinigung unseres Verhältnisses Vortrag hielt, äußerte mir gegenüber, daß ich im Amt keinen Widerstand finden würde, der Widerstand läge beim Kanzler.« 3 1 Daß sich diesmal auch Neurath mit seinen Auffassungen einverstanden erklärte, durfte Nadolny um so mehr ermutigen. Nicht unwichtig war, daß
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auch der Reichswehrminister von Blomberg in einem Gespräch mit Nadolny »für eine positive Einstellung zur Sowjetunion war.« 3 2 Es war auch Blomberg, der, wie Nadolny vermerkt, Hitler bewog, den Botschafter zum Vortrag zu bestellen. 3 3 Die Unterredung Nadolnys mit Hitler fand am Freitag vor Pfingsten statt. 3 4 Nadolny trug Hitler seine Auffassungen über die Sowjetunion und die Gestaltung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses auf der Grundlage seiner erwähnten Denkschrif ten vor und ließ ihm dieselben zur Lektüre zurück. Zwar erklärte Hitler, daß er »mit den Leuten«, womit er die Sowjetführung meinte, nichts zu tun haben wolle, versprach aber immerhin, die Denkschriften in Berchtesgaden, wo er sich während der Pfingsttage aufhalten wollte, zu studieren. Es nutzte Nadolny offensichtlich wenig, daß er am darauffolgenden Tage auch den Reichspräsidenten aufsuchte, der, bereits schwer krank, ihn fragte, »ob mit Rußland nichts anzufangen sei«, und erstaunt war, von Nadolny das Gegenteil von dem zu hören, was ihm Hitler eingeflüstert hatte. 3 5 Es zeigte jedenfalls die Schwäche Hindenburgs, daß seine gegenüber Nadolny bekundete Absicht, den Kanzler wie den Außenminister sofort zurückkommen und Nadolny gegenübertreten zu lassen, ohne Wirkung blieb. Über die nachfolgenden Tage schreibt Nadolny: »Nach den Feiertagen war ich zusammen mit Ministerialdirektor Meyer 3 6 beim Minister, und wir besprachen erneut die Frage der Initiative, wobei ich für eine Fortsetzung der aus dem BaltenpaktVorschlag entstandenen mündlichen und schriftlichen Unterhaltung mit Litvinov natürlich unter Berücksichtigung der sich aus seinem Genfer Verhalten ergebenden Situation 3 7 - war, während Meyer vorschlug, daß ich zunächst mit Krestinskij die weitere Unterhaltung vorbereiten solle, was ich indessen als zwecklos erklärte. Hierbei erwähnte Meyer auch, daß ich bereits mit dem Kanzler gesprochen hätte. Der Minister schien unangenehm davon berührt zu sein. Ich mitteilte ihm jedoch, daß man mich habe rufen lassen und daß die Unterhaltung nur die Information des Kanzlers über die Verhältnisse in Rußland zum Gegenstand gehabt habe. Am Freitag, den 25. nachmittags, wurde ich vom Sekretär des Ministers angerufen, der mir mitteilte, der Kanzler habe dem Minister gegenüber eine Denkschrift von mir erwähnt, die ich ihm übergeben hätte und die der Minister nicht kenne. Ich möchte sie auch dem Minister übergeben. Ich erwiderte, es handle sich um die Unterlagen meines Vortrags, den ich auch dem Minister gehalten hätte, und ich hätte keine weiteren Exemplare davon. Wenn er sie zu lesen wünsche, so könne er sie sich vom Kanzler geben lassen. - Am Sonntag, den 27., wurde ich vormittags zum Kanzler gerufen. Dieser gab mir die ihm übergebenen Unterlagen wieder zurück und sagte, er sei mit der Darstellung der Verhältnisse und meiner Ansicht darüber einverstanden, aber er könne nicht verstehen, warum wir auf die Herstellung eines guten Verhältnis-
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ses zu den Sowjets Wert legen müßten. In diesem Moment erschien auch der Außenminister, dessen Teilname an der Besprechung mir der Kanzler bereits angekündigt hatte. Der Kanzler verbreitete sich dann in langen Ausführungen über die Außenpolitik, wobei er die russisch-französische Annäherung als eine von ihm vorausgesehene Zwangsläufigkeit darstellte und sich wiederholt gegen eine Initiative zur Herstellung eines guten deutsch-russischen Verhältnisses aussprach. Zu meinem Erstaunen stellte sich der Minister vollständig auf den Standpunkt des Kanzlers und unterstrich diesen sogar wiederholt durch Zwischenbemerkungen. Alsdann wurde ich aufgefordert, meine Gründe für ein deutsches Interesse und eine deutsche Initiative gegenüber Sowjetrußland darzulegen. Ich tat dies, wobei ich wiederholt v o m Kanzler unterbrochen wurde und wobei der Minister sich wiederum ganz dem Kanzler anschloß. Schließlich erklärte der Kanzler, ich möchte konkrete Vorschläge schriftlich formulieren und ihm über den Außenminister vorlegen.« 3 8 Nadolnys Unterredung mit Hitler verlief wohl weitaus dramatischer, als er es selbst in dieser für den Dienstgebrauch gedachten Niederschrift darlegte. »Es gehörten Mut und Selbstvertrauen dazu, den Verfasser von >Mein K a m p f überzeugen zu wollen.« So urteilt Hans von Herwarth, der alsbald, wie auch andere Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Moskau, über diese Unterredung Informationen aus erster Hand erhielt. »Mit den Schweinen paktiere ich nicht!« So habe Hitler gebrüllt, worauf Nadolny entgegnet habe: »Ich bin Sohn eines Landwirts und halte Schweine für nützliche Tiere.« Jedenfalls habe der Botschafter Hitler aus der Fassung gebracht und sei mit diesem um den Tisch herumgelaufen, während beide Männer abwechselnd mit der Faust auf den Tisch geschlagen hätten. 3 9 Der Aufforderung Hitlers folgend, formulierte Nadolny nochmals seine »Vorschläge für die Gestaltung unseres Verhältnisses zur Sowjetunion« und reichte sie über Bülow dem Außenminister ein. Dabei ließ Bülow zusätzlich noch von Meyer und Friedrich Gaus, dem Leiter der Rechtsabteilung, ein Gutachten anfertigen, das den »Vorschlägen« Nadolnys vorangestellt wurde. 4 0 Nadolny hatte seine »Vorschläge« taktisch klug aufgebaut, indem er zunächst auf die »zunehmende feindliche Einstellung der Sowjetregierung gegen Deutschland« hinwies. Die Sowjetunion habe sich inzwischen demonstrativ auf die Seite Frankreichs und der Kleinen Entente gestellt und sei auf ein gutes Verhältnis zu Deutschland nicht mehr angewiesen. Indem Nadolny auf die Notwendigkeit der Bereinigung des gespannten deutsch-sowjetischen Verhältnisses einging, hob er insbesondere das deutsche Interesse an der Entwicklung des Wirtschaftsverkehrs hervor. Weiter verwies er auf die große Furcht, die in der Sowjetunion vor einer Bedrohung durch Deutschland herrschte. Ihr müsse man den Boden entziehen. Da der Berliner Vertrag allein hierfür nicht genüge, worauf auch Litvinov hingewiesen habe, sollten, so
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führte Nadolny weiter aus, beide Staaten eine Vereinbarung schließen, die drei Punkte enthalten könnte: erstens eine Erklärung über die Ausschaltung gegenseitiger Bedrohung, zweitens den Verzicht auf die Unterstützung von Bestrebungen der Emigranten, die sich gegen den jeweils anderen Staat richteten, und drittens die Verpflichtung, weder in Wort noch in Schrift feindliche Äußerungen gegenüber dem jeweils anderen zu dulden. Nadolny empfahl, bei einer solchen Bereinigung des gegenseitigen Verhältnisses so vorzugehen, wie es im Hinblick auf das deutsch-polnische Verhältnis geschehen sei. Nadolny verwies abschließend darauf, daß die vorgeschlagenen Schritte angesichts der tiefgreifenden Spannung im gegenseitigen Verhältnis nicht sogleich und ohne Schwierigkeiten zum Ziele führen würden. D o c h sei auch die sowjetische Seite an einer Normalisierung des Verhältnisses interessiert, und deshalb sollte man nicht davor zurückschrecken, »unsere bisherige Zurückhaltung aufzugeben und die Bereinigung und Normalisierung auf den angegebenen Wegen in Angriff zu nehmen.« Das den »Vorschlägen« Nadolnys vorangestellte Gutachten, das, wie Nadolny urteilte, »noch weiter ging als meine Anträge«, legte die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes »vom Standpunkt unserer allgemeinen politischen Lage« dar. Es verwies auf die Vorteile, die die Verträge von Rapallo und Berlin Deutschland gebracht hatten, auf das inzwischen erhöhte internationale Prestige der Sowjetunion, auf die Furcht, die man in der Sowjetunion vor Expansionsbestrebungen Deutschlands gegenüber dem Baltikum und der Ukraine habe und auf das weiterbestehende sowjetische Interesse an der Unterhaltung guter Beziehungen zu Deutschland. Die Verfasser des Gutachtens griffen die Forderung Nadolnys auf, »jedes Einlassen auf Pläne von Emigranten und ukrainischen Revolutionären« zu vermeiden und empfahlen die Möglichkeit zu prüfen, »das politische Ergebnis des Gedankenaustausches in einem politischen Dokument (Protokoll, Deklaration) niederzulegen.« Schließlich verwies das Gutachten auf die Dringlichkeit der Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen wegen der notwendigen Rohstoffversorgung. Die Verstärkung des Wirtschaftsverkehrs würde dann, wie im Gutachten erklärt wurde, zusammen mit der Verbesserung der politischen Beziehungen auch die Wiederaufnahme der militärischen Zusammenarbeit zur Folge haben. Dieser mit Unterstützung Bülows und Meyers unternommene letzte Vorstoß Nadolnys zur Veränderung des Klimas zwischen Berlin und Moskau wurde jedoch schon durch Neurath torpediert, bevor die »Vorschläge« und das dazugehörige Gutachten Hitler erreichten. Denn Neurath ließ durch seinen Sekretär eine ablehnende Entscheidung formulieren und legte diese Hitler vor, der dieselbe, wie nicht anders zu erwarten, billigte. 4 1 Die Erklärung Nadolnys, daß er, sofern diese Entscheidung nicht rückgängig gemacht würde, seinen Botschafterposten zur Verfügung stellen
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werde, zeigte weder bei Neurath noch bei Hitler Wirkung. Am 11. Juni 1934 wurde Nadolny vom Auswärtigen Amt zur Disposition gestellt. Nicht nur für Nadolny, sondern auch für seine Mitarbeiter an der Botschaft in Moskau war der Ausgang seiner Gespräche in Berlin eine herbe Enttäuschung. 4 2 Seine Entscheidung zur Demission hatte Nadolny nicht nur wegen der von Hitler und Neurath vertretenen und seinen Zielen entgegengesetzten politischen Linie getroffen, sondern auch, wie er rückblickend feststellte, wegen deren Überheblichkeit seiner Person gegenüber. 4 3 Nadolny reiste nach seiner erfolglos gebliebenen Initiative für wenige Tage noch einmal nach Moskau, um sich dort zu verabschieden. Offiziell erfuhr man dort wie insgesamt in der Öffentlichkeit von der Demission Nadolnys durch eine zwischen Neurath und Nadolny abgesprochene Presseerklärung vom 21. Juni 1934, in der zugleich Friedrich Werner Graf von der Schulenburg als sein Nachfolger genannt wurde. 4 4 D e m Präsidenten des sowjetischen Zentralexekutivkomitees teilte Hitler die Abberufung Nadolnys und die Berufung Schulenburgs sodann am 6. September 1934 mit. 4 5 Im Kreml mußte die Abberufung Nadolnys naturgemäß große Enttäuschung hervorrufen. Wußte man doch, daß man in dem Bestreben, die Beziehungen zu Deutschland verbessern, in Nadolny einen wichtigen Verbündeten besaß. 4 6 Das Scheitern der diplomatischen Mission Nadolnys stand in eklatantem Gegensatz zur Berufung von Jakov Suric auf den Botschafterposten in Berlin, die »in aufrichtigem Bestreben nach besseren Beziehungen zu Deutschland« erfolgt war. 47 Nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst widmete sich Nadolny der Landwirtschaft in einem von ihm erworbenen Gut in Mecklenburg. 4 8 Daß er während der Röhm-Affaire nicht auch ein Opfer der von Hitler veranstalteten Verfolgungsjagd wurde, war offenbar nur einem glücklichen Zufall zu verdanken. Und auch nach einem erneuten Zusammenstoß mit Hitler, der nach einem von Nadolny im Jahre 1937 in Tilsit gehaltenen Vortrag »Deutschland und der Osten« im Ergebnis einer Denunziation und der darauf folgenden Forderung von Goebbels, Nadolny zu verhaften, erfolgte, entging Nadolny nur knapp dem Konzentrationslager. 4 9 Immerhin aber schob Neurath einer möglichen Wiederkehr Nadolnys in den Staatsdienst noch insofern einen Riegel vor, als er ihn auf Grund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« endgültig verabschiedete. 5 0 Die Hoffnung, die Litvinov im Herbst 1933 gegenüber Nadolny anläßlich seiner Ernennung zum Botschafter in Moskau ausgedrückt hatte, daß es ihm gelingen möge, in den sowjetisch-deutschen Beziehungen »einigermaßen das Zerstörte wiederherzustellen«, 5 1 erfüllte sich somit nicht. Nach wie vor an einem guten Verhältnis Deutschlands zur Sowjetunion interessiert, hielt Nadolny auch im Ruhestand die Verbindung mit seinem Nachfolger, dem Grafen von der Schulenburg und den Mit-
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arbeitern an der Moskauer Botschaft. 5 2 Auch mit Suric stand er in freundschaftlichem Kontakt und führte mit ihm einen »wertvollen Gedankenaustausch«. 5 1 Als Nadolny seine Demission einreichte, hatte sich der Stand der deutsch-sowjetischen Beziehungen weiter verschlechtert. Wie wenig Hitler an ihrer Verbesserung interessiert war, bewies nicht nur sein Verhalten gegenüber Nadolny, sondern auch seine Rede auf der Tagung der Deutschen Arbeitsfront am 17. Mai, ein Tag vor seiner zweiten Unterredung mit Nadolny. Die in der Rede enthaltenen Ausfälle gegen die Sowjetunion riefen dort heftige Reaktionen hervor. 5 4 Schon am nächsten Tag erschien Botschaftsrat S. A. Bessonov im Auswärtigen Amt, um gegen die sowjetfeindliche Rede Hitlers Protest einzulegen. 5 5 Mit dem Auftrag, gegen die »immer größer werdende antisowjetische Propaganda in Deutschland« zu protestieren, erschien am 27. Juli 1934 Botschaftssekretär Aleksandr Girsfel'd 5 6 im Auswärtigen Amt. »Zur Begründung seines Protestes führte er an der Hand eines ziemlich umfangreichen Manuskriptes eine Anzahl von Büchern an, die angeblich ausgesprochen feindliche Tendenz gegenüber Sowjetrußland verfolgten. Ferner wies er auf eine größere Zahl von Zeitungsausschnitten hin, die ebenfalls als durchaus sowjetrußlandfeindlich zu bewerten seien.« 5 7 Allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt auch in der Sowjetunion die Zahl von Büchern und Presseveröffentlichungen beträchtlich zugenommen, in denen das NS-Regime stark angegriffen wurde, so daß der Pressekrieg zwischen den beiden Staaten jetzt rasch an Schärfe gewann. Es kam hinzu, daß der stalinistische Terror sich zunehmend auch in unbegründeten Verhaftungen von deutschen Staatsangehörigen ausdrückte, wodurch die antisowjetische Propaganda in Deutschland zusätzliche Munition erhielt. Es häufte sich die Zahl der Verbalnoten der deutschen Botschaft an das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, in denen gegen solche unbegründete Verhaftungen Protest eingelegt und zudem daraufhingewiesen wurde, daß die sowjetischen Behörden in den meisten Fällen auch Anträge auf Besuch von Verhafteten durch Vertreter des entsprechenden deutschen Konsulats abschlägig beantworteten. 5 8 Die Ausweitung des stalinistischen Terrors erleichterte es dem NS-Regime, ein »Rußlandbild« aufzubauen, daß die Deutschen auf einen künftigen Krieg gegen die Sowjetunion vorbereiten sollte. Mit dem erfolglosen Ende der Mission Rudolf Nadolnys begann in den deutschsowjetischen Beziehungen eine neue Phase. Zwar hörte das Werben Stalins um einen Kurswechsel Hitlers gegenüber der Sowjetunion nicht auf. Jedoch die Tatsache, daß Hitler seinen neuen Verständigungsversuch mit schroffer Ablehnung beantwortet hatte, ließ ihn die andere Richtungsvariante seiner Außenpolitik, die mit dem Projekt eines osteuropäischen Sicherheitspaktes, des sogenannten Ostpaktes, vor allem auf die Zusammenarbeit mit Frankreich orientiert war, energischer, wenn auch hier bald mit zunehmendem Mißerfolg, vorantreiben.
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A nmerkungen 1 Zu seiner Person siehe Günter Wollstein: Rudolf Nadolny. Außenminister ohne Verwendung. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1980, H. 1, S. 47 - 93; Klaus Meyer: Nadolny und Rußland. In: Rußland - Deutschland - Amerika. Festschrift für Fritz T. E. Epstein zum 80. Geburtstag, Wiesbaden 1978, S. 267 - 278; Rudolf Nadolny: Mein Beitrag, Wiesbaden 1955. 2
Die materialreichste Darstellung der hier behandelten Monate der deutsch-sowjetischen Beziehungen bietet noch immer Dean Scott McMurry: Deutschland und die Sowjetunion 1933-1936, Köln-Wien 1979, S. 169 E
3 Vgl. Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker: Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Leipzig 1995, S. 231. 4 Vgl. Manfred Weißbecker: »Wenn hier Deutsche wohnten ...« Beharrung und Veränderung im Rußlandbild Hitlers und der NSDAP. In: D a s Rußlandbild im Dritten Reich, Hrsg. von Hans-Erich Volkmann, Köln-Weimar-Wien 1994, S. 9- 54. 5 Der Jahresbericht der sowjetischen Botschaft für 1933 vermerkte die Verhaftung von 47 Sowjetbürgern in Deutschland und von 69 Hausdurchsuchungen, darunter von 51 Angestellten sowjetischer Handelsorgane. Weiter habe man in deutschen Häfen 4 sowjetische Dampfer und 3 kleinere Schiffe widerrechtlich durchsucht. Während die Konsularabteilung in den Jahren 1931-1932 noch 16 129 beziehungsweise 12 837 Visa zur Einreise in die U d S S R ausgestellt habe, seien es 1933 nur noch 4 078 gewesen. Archiv Vnesnej Politiki der Russischen Föderation, M o s k a u (im Folgenden abgekürzt AVP RF), F. 82, o p . 17, d. 9. 6 Diese Zahlen gibt Nadolny in seinem Manuskript »Meine amtliche Laufbahn« an (PA Bonn, NL Nadolny, Bd. 17, Nr. 1447). In seinen gedruckten Erinnerungen (Nadolny, Mein Beitrag, S. 155), die auf diesem Manuskript fußen, werden die Zahlen nicht mehr genannt. 7 »Es gab nur wenige Industrieführer, die an ihrem positiven Rußlandbild der Rapallo-Ära auch nach der Machtübernahme Hitlers festhielten ... Im Auswärigen Amt, im Reichswirtschaftsministerium, in den Instituten und anderen Einrichtungen, die sich mit der U d S S R befaßten, setzten sich die Verfechter eines radikalen >Lebensraum<-Programms immer stärker durch.« Rolf-Dieter Müller: Das Rußlandbild der Wirtschaftseliten im »Dritten Reich«: Problemskizze und Hypothesen. In: Das Rußlandbild im Dritten Reich, S. 371-372. 8 Vgl. die zusammenfassende Darlegung dieser Auffassungen bei Teddy J. Uldricks: Soviet Security Policy in the 1930s. In: Soviet Foreign Policy 1917 - 1991. A Retrospective. Edited by Gabriel Gorodetsky, London-Portland 1994, S. 65 - 74. 9 »Litvinov bestätigte mir schließlich kurz, daß eigentlicher Zweck des Protokolls sei, einer Verbesserung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland zu dienen und eine Entspannung zu dokumentieren.« Nadolny an AA, 28.3.1934. In: ADAP, Ser. C, Bd. II/2, Nr. 362, S. 668. 10 Bülow an Nadolny, 3.4.1934. In: Ebenda, Nr. 376, S. 686. 11 Neurath an Nadolny, 9.4.1934. In: Ebenda, Nr. 390, S. 713. 12 Dort heißt es: »Die Deutsche Regierung und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden in freundschaftlicher Fühlung miteinander bleiben, um über alle ihre beiden Länder gemeinsam berührenden Fragen politischer und wirtschaftlicher Art eine Verständigung herbeizuführen.« 13 Nadolny an AA, 12.4.1934. In: ADAP, Ser. C, Bd. II/2, Nr. 396, S. 722.
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14 Neurath an Nadolny, 12.4.1934. In: Ebenda Nr. 398, S. 724. 15 Nadolny an AA, 15.4.1934. In: Ebenda Nr. 401, S. 729; Aufzeichnung Litvinovs, 14.4.1934. In: Dokumenty vnesnej politiki S S S R Bd. XVII, Nr. 126, S. 260. 16 Aufzeichnung Chincuks vom 11.4.1934. In: DVP S S S R Bd. XVII, Nr. 122, S. 253. 17 Nadolny an AA, 21.4.1934. In: ADAP, Ser. C, Bd. II/2, D o k . 414, S. 745; Aufzeichnung Litvinovs, 21.4.1934. In: DVP S S S R Bd. XVII, Nr. 139, S. 280. 18 Forster an AA, 23.5.1934. In: PA Bonn, Geheimakten, Rußland Pol. 2, Bd. 2, Bl. E 497698. 19 Hoesch an AA, 27.4.1934. In: PA Bonn, Deutsche Botschaft Moskau, Litvinov-Vorschlag, A 31 f., Bd. 1, unpag. (Abschrift). 20
»Die deutsche Antwort auf den russischen Vorschlag betreffs Abschluß eines Pakts zur Verbürgung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten wird hier kritisch beurteilt. Mussolini war zwar, wie schon berichtet, bei meinem Gespräch mit ihm über die Angelegenheit noch nicht unterrichtet, hat aber auf Grund des ersten Eindrucks meiner Mitteilungen der Empfindung Ausdruck gegeben, daß es sich bei dem russischen Vorschlag um einen politischen Trick gehandelt habe, und erklärt, daß wir sehr gut geantwortet hätten.« Demgegenüber habe man im Palazzo Chigi die Ablehnung des Vorschlages Litvinovs verurteilt und betont, »daß dieses Ergebnis in Italien als besonders unerwünscht empfunden werde, da eine Besserung der deutsch-russischen Beziehungen mit ihren Rückwirkungen auf Frankreich Mussolini besonders am Herzen liege.« Hassell an AA, 4.5.1934 : »Italien und die deutsche Antwort an Rußland.« In: Ebenda.
21
Krestinskij an Potemkin, 28. 4.1934. In: DVP S S S R Bd. XVII, Nr. 150, S. 308.
22
Nadolny an AA, 25.4.1934. In: ADAP, Ser. C, Bd. II/2, Nr. 424 und Anm., S. 757.
23
Nadolny an AA, 12.5.1934. In: Ebenda Nr. 447, S. 796; R Nadolny, Meine amtliche Laufbahn, a.a.O., Bl. 21.
24 Vgl. Nadolny, Mein Beitrag, S. 167 f.; ausführlicher hat Nadolny über seinen Berlin-Besuch in seiner bereits zitierten Aufzeichnung »Meine amtliche Laufbahn« berichtet, die sich in seinem Nachlaß befindet und die Grundlage für die Herausgabe seiner Erinnerungen nach seinem Tode waren. Dasselbe gilt für eine ebenfalls in seinem Nachlaß befindliche zweieinhalb Maschinenseiten umfassende Aktennotiz, die er nach seinen in Berlin geführten Gesprächen verfaßte ( a . a . O . , Bd. 5, Nr. 170, undatiert). Schließlich schilderte Nadolny ausführlich seinen Berlin-Besuch in einem vom 1. 8.1952 datierten Brief an Gustav Hilger, der ihn über die letzten Wochen seiner Botschaftertätigkeit in Moskau wegen der Abfassung seiner Memoiren befragte und die entsprechenden Passagen aus dem Brief (ebenda, Bd. 9, Nr. 552) sodann in der Memoirenpublikation »Wir und der Kreml« (Frankfurt a.M./ Berlin 1956, S. 254) zitierte. Eine zwar knappe, aber lebendige Darstellung des BerlinBesuches Nadolnys, besonders seiner Auseinandersetzung mit Hitler, vermittelt Hans von Herwarth: Zwischen Hitler und Stalin, Frankfurt a. M. 1982, S. 96. 25 Vgl. Nadolny an AA, 9.1.1934: Politischer Bericht »Die Gestaltung der deutsch-russischen Beziehungen« mit der in der Anlage enthaltenen Aufzeichnung »Unser Verhältnis zu Sowjetrußland«. In: ADAP, Ser. C, , Bd. I I / l , Nr. 171, S. 310 f. 26
»Bevor ich abreiste, verfaßte ich einige Denkschriften, in denen ich meine Auffassungen über die Bedeutung der Sowjetunion, über die Stärke der Roten Armee, über das deutschrussische Verhältnis und andere Themata, die mich in der letzten Zeit beschäftigt hatten und als Unterstützung meiner mündlichen Argumentierung dienen konnten, schriftlich niederlegte.« (Nadolny, Mein Beitrag, S. 167). Im Nachlaß Nadolnys befinden sich aus
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dieser Zeitspanne zwei Denkschriften, und zwar die von »April 1934« datierte und 28 Schreibmaschinenseiten umfassende Denkschrift »Die Bedeutung der Sowjetunion als kommunistische und weltrevolutionäre Macht« (a.a.O., Bd. 5, Nr. 171 a) und die ebenfalls unter »April 1934« datierte und sieben Schreibmaschinenseiten umfassende Denkschrift »Das deutsch-sowjetische Verhältnis« (ebenda, Nr. 171). In ADAP fand lediglich eine von Nadolny mit dem 30.5.1934 datierte Denkschrift Aufnahme, die er auf Anordnung Hitlers nach dem Besuch bei ihm und in Absprache mit dem Auswärtigen Amt unter dem Titel »Vorschläge für die Gestaltung unseres Verhältnisses zur Sowjet-Union« verfaßte. Vgl. ADAP, Ser. C , Bd. II/2, Nr. 476, S. 841. 27
»Die Bedeutung der Sowjetunion als kommunistische und weltrevolutionäre Macht«, a.a.O.
28
»Das deutsch-sowjetische Verhältnis« (April 1934), a.a.O.
29
Es ist bemerkenswert, daß Nadolny hier im Grunde dieselbe politische Konzeption empfahl, die schon 1927 Gustav Stresemann in Auseinandersetzung mit dem damals von der britischen Regierung gegenüber der Sowjetunion verfolgten Konfrontationskurs vorgeschlagen hatte: »Die Entbolschewisierung Rußlands und seine Angliederung an den Westen kann nur auf dem Wege allmählicher, friedlicher, wirtschaftlicher und kultureller Durchdringung erfolgen.« Vgl. Günter Rosenfeld: Sowjetunion und Deutschland 1922-1933, Berlin 1984, S. 283.
30 In dem obengenannten Gespräch, das Nadolny vor seiner Abreise nach Berlin mit Litvinov führte, teilte ihm dieser die Entscheidung mit, Jakov Zacharovic Suric (1882-1952) als sowjetischen Botschafter nach Berlin zu senden. Da Suric, dessen deutschfreundliche Haltung, wie Litvinov hervorhob, bekannt war und in Ankara zu Nadolny freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatte, war dies eine deutliche Geste, um den sowjetischen Verständigungswillen zu unterstreichen. Suric trat seinen Posten in Berlin dann allerdings erst im Oktober an, den er bis 1937 wahrnahm. 31 Aktennotiz Nadolnys über seine Dienstreise nach Berlin, a.a.O., Bd. 5, Nr. 170. 32 33
Ebenda. Ebenda. Daß Blomberg eine Vermittlerrolle spielte, erwähnt Nadolny auch in seinem obengenannten Brief an Hilger.
34 Das genaue Datum ist in den genannten Quellen nicht angegeben, doch ist aus den vorhandenen Aufzeichnungen darauf zu schließen, daß es Freitag, der 18. Mai, war. 35 Nach der Aufzeichnung »Meine amtliche Laufbahn«, a.a.O. 36
Richard Meyer war Leiter der Abteilung IV (Osteuropa, Skandinavien und Ostasien) im Auswärtigen Amt.
37 Gemeint ist hier die bevorstehende Tagung der Generalkommission der Abrüstungskonferenz, auf der Litvinov am 29.5.1934 eine Rede hielt. 38 Aktennotiz Nadolnys, a.a.O. 39 Herwarth, S. 96. 40
Die vom 30.5.1934 datierten »Vorschläge« Nadolnys sowie das dazugehörige Gutachten, dieses allerdings ohne Unterschrift und vom 31.5.1934 datiert, sind abgedruckt in: ADAP, Ser. C , Bd. II/2, Nr. 476, S. 841.
41
Nadolny, Meine amtliche Laufbahn; Nadolny, Mein Beitrag, S. 168.
42 Zuversichtlich hatte Botschaftsrat Fritz von Twardowski noch Ende Mai angenommen, daß man mit Litvinov in Berlin, seinen Rückweg aus Genf nach Moskau nutzend, »die Verhandlungen auf den Weg bringen könnte«, wobei dann vermutlich die Hauptlast der
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Verhandlungen in Moskau liegen würde. Twardowski an Nadolny, 31.5.1934. In: NL Nadolny, Bd. 5, Nr. 163. 43
»Die überhebliche Einstellung gegen meine Person und Arbeit wurde persönlich und sachlich unerträglich, ging auch zu sehr auf Kosten der Politik«. Nadolny an Bülow, 7.6.1934. In: ADAP, Ser. C, Bd. 11/2, Nr. 488, S. 863.
44
Ebenda, Anm. 3.
45 AVP Moskau, F. 82, o p . 18, d. 1, Bl. 153 (Kopie). 46
»Ich bedaure zutiefst, daß Ihre Tätigkeit als Deutscher Botschafter in Moskau nur so kurze Zeit andauerte. Ich habe Sie jedoch in dieser Zeit schätzen gelernt und behalte diese Periode meiner Arbeit mit Ihnen in wärmster Erinnerung.« D. G. Stern, Leiter der II. Westabteilung im Narkomindel, an Nadolny, 26.6.1934. In: Ebenda, Bl. 68.
47
»Suric sagte mir, ... Litvinov, mit dem er seit 30 Jahren eng befreundet, habe seine Ernennung nach Berlin in aufrichtigem Bestreben nach besseren Beziehungen zu Deutschland vorgenommen.« Fabricius an AA, Ankara 18.6.1934. In: Bundesarchiv (Berlin), Film Nr. 15956, Bl. E 666919.
48
Es war das Gut Briesen im Kreis Templin. Wegen Unrentabilität verkaufte er es später, um das Obstgut Katharinenhof bei Gransee zu pachten, wo er das Kriegsende erlebte.
49
Nadolny, Meine amtliche Laufbahn; an einigen Stellen gekürzt auch bei Nadolny, Mein Beitrag, S. 170. Der dort als »Königsberger Professor« bezeichnete Denunziant war, wie Nadolny in der Aufzeichnung »Meine amtliche Laufbahn« vermerkt, Prof. Freiherr Bolko von Richthofen. Dieser tat sich auch bei anderen Gelegenheiten als dem Naziregime ergeben hervor. Vgl. Gerd Voigt: Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843-1945, Berlin 1994, S. 201.
50 Nadolny, Meine amtliche Laufbahn, a.a.O. 51
Litvinov an Nadolny, 7.10.1933. In: NL Nadolny, Bd. V, Nr. 176.
52 »Sie wissen ja, und ich glaube auch die anderen Herren Ihrer Regierung, die sich meiner noch erinnern, werden es wissen, wie sehr ich immer die Politik einer guten Beziehung und Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern vetreten habe und der kindischen und größenwahnsinnigen Politik Hitlers gegenüber der Sowjetunion entgegengetreten bin, ja ihr sogar 1934 meine Stellung geopfert habe. Diese Haltung habe ich auch seitdem nicht aufgegeben. Zusammen mit meinen alten Freunden und Mitarbeitern (Graf Schulenburg, Twardowski und Hilger) habe ich unermüdlich in diesem Sinne weiter gearbeitet, und unsere dauernde Einwirkung hat es erreicht, daß es zu einem Freundschaftsabkommen von 1939 kam. Daß dieses 1941 in gemeinster Weise wieder zerbrochen wurde, war auch für uns ein sehr schwerer Schlag.« Nadolny an Suric, 4.8.1945. In: NL Nadolny, Bd. 9, Nr. 650. 53
Nadolny, Mein Beitrag, S. 172.
54 In entsprechenden Berichten verwies Twardowski insbesondere auf Artikel in der »Pravda« v o m 18. und 20.5.1934, in denen die antisowjetischen Ausfälle Hitlers scharf verurteilt wurden. Twardowski an A A , 19. und 22.5.1934. In: BArch, Film Nr. 13925, Bl. HO 46995. 55 Aufzeichnung Meyers vom 18.5.1934. In: PA Bonn, Büro d. RM, 9 Rußland, Bd. 29, Bl. 47. 56 Girsfel'd (Hirschfeld) stammte aus dem estnischen Dorpat (Tartu) und war mit der deutschen Sprache und Kultur vorzüglich vertraut. Er war in der Botschaft zugleich Verbindungsmann der sowjetischen Gesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland (VOKS) für Deutschland. 1935 wurde er sowjetischer Generalkonsul in Königsberg.
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57 Aufzeichnung des Legationsrats Gustav Wolf vom 27.7.1934 zur Vorlage für Ministerialdirektor Meyer, Staatssekretär von Bülow und Konsul Schönberg. In: BArch, Film Nr. 13925, Bl. HO 47053. 58 Eine Verbalnote v o m 7.5.1934 vermerkte, daß entsprechenden Anträgen seit dem 1.1.1933 nur in zwei Fällen entsprochen worden war. Siehe ebenda, Bl. HO 46992.
Horst
Schützler
Faschismus - ein Thema in der russischen Historiographie der 90er Jahre?
Wenn man sich über längere Zeit mit der heutigen Historiographie Russlands beschäftigt und das weite Forschungs-, Diskussions- und Publikationsspektrum des Jubilars kennt, so lag es nahe, sich auf die Suche nach einem »Faschismus«-Thema in dieser Historiographie zu begeben, um gewonnene Einblicke weiter zu vermitteln. Dabei war die fragmentarische Begrenztheit dieser Einblicke angesichts des zur direkten Verfügung stehenden Materials in Rechnung zu stellen. Die Suche nach einem »Faschismus«-Thema in der russischen Historiographie der 90er Jahre führt in eine Zeit des tiefen, krisenhaften Umbruchs der Geschichtswissenschaft hinein. Er war Teil des Zusammenbruchs des Staatssozialismus, des Zerfalls der U d S S R und der schwierigen Transformationsprozesse im heutigen Rußland. Die herrschende - vielfach dogmatisierte - marxistische Geschichtsauffassung und methodologie wurde an den Rand gedrängt bzw. verworfen. Andere Konzepte wie das Zivilisations- und das Modernisierungskonzept sowie die Totalitarismusauffassung wurden adaptiert. Ein Pluralismus der Meinungen, Methoden und Themen breitete sich aus. Die materiellen und finanziellen Grundlagen verschlechterten sich rapide, gemildert durch einige finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. War unter solchen Verhältnissen ein »Faschismus«-Thema präsent und opportun? Wenn ja, was umfaßte es, wer vertrat es und was wurde publiziert? 1
Zum
Faschismus-Verständnis
Am 23. März 1995 erließ Präsident Boris Jelzin einen Ukas »Über Maßnahmen zur Sicherung eines abgestimmten Vorgehens der Organe der Staatsmacht im K a m p f mit Erscheinungen des Faschismus und anderen Formen des politischen Extremismus in der Russischen Föderation«. In den Massenmedien wurde nach einer wissenschaftlichen Erläuterung des Begriffs »Faschismus« gefragt. Die Gesellschaft war beunruhigt durch wachsende rechtsradikale und »faschistische« Strömungen, zutage getreten bei den Duma-Wahlen 1993 und jetzt am Vorabend der zweiten Parlamentswahl im Dezember 1995. Auch die mehr oder minder offizielle Zuordnung der
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untergegangenen Sowjetunion zum »Totalitarismus« und der damit zumeist verbundene Vergleich mit dem »Faschismus« rückte diesen in das Blickfeld, besonders in das der Gesellschaftswissenschaftler. 2 Vom 20. bis 22. Januar 1995 - also vor Jelzins Ukas - fand in Moskau ein repräsentatives internationales, wissenschaftliches antifaschistisches Forum »Faschismus in der totalitären und posttotalitären Gesellschaft: ideelle Grundlagen, soziale Basis, politische Aktivität« statt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Problematik des Faschismus, seines Wesens, seiner Quellen und Erscheinungsformen, sowie die Frage nach dem Verhältnis von Faschismus und autoritär-totalitären Tendenzen im politischen Leben Rußlands und anderen »posttotalitären« Gesellschatten. 3 Zum ersten Problem wurden viele unterschiedliche Auffassungen geäußert, wobei zwei Tendenzen deutlich wurden: die eine betrachtete den Faschismus als Erscheinung einer Krise der Weltzivilisation, als apokalyptische oder chiliastische Mentalität, hervorgerufen durch diese Krise, die die ganze Gesellschaft erfaßt. Die andere sah die heutige liberal-demokratische Kultur in den Ländern des Westens als sicheren Schutz gegen alle totalitären Tendenzen an, weshalb der Faschismus verurteilt sei, eine sehr marginale Erscheinung zu bleiben. Erörtert wurden verschiedene genetische Eigenheiten des Faschismus, darunter das der faschistischen Ideologie eigene »Feindbild«. Dabei wurde die Frage diskutiert, ob der Antisemitismus ein unerläßliches Kennzeichen des Faschismus bildet. 4 Betrachtet wurden auch psychologische Wurzeln und Möglichkeiten des Faschismus - die Verteidigung der schwachen, unzufriedenen Persönlichkeit, die Ausnutzung der Enttäuschten und national Gekränkten, der Kult der Stärke. Hingewiesen wurde auch auf die Bedingtheit des Begriffes »Faschismus«, auf die Differenz zwischen seinen akademischen Definitionen und der konkreten historischen Realität. Der Faschismus als gesellschaftliches Phänomen sei eine äußerst komplizierte Erscheinung, die nicht auf ein einziges Modell zurückzuführen und in einer kurzen Definition zu erfassen sei. Er erschien in nationalen Varianten, die sich durch deutliche Eigenarten unterschieden; er erfüllte als Ideologie, Massenbewegung, Regime, M e t h o d e zur Lösung innerer und äußerer Probleme sehr verschiedenartige Funktionen. Es sei unmöglich und auch unnötig, eine Erscheinung wie den Faschismus zu definieren, wurde geäußert. 5 Aleksandr Abramovic Galkin (Jg. 1922), Historiker und Politologe, der sich über Jahrzehnte immer wieder mit dem »Phänomen des Faschismus« , besonders dem deutschen, beschäftigt hatte 6 , unterbreitete seine Meinung »Über den Faschismus sein Wesen, Wurzeln, Kennzeichen und Erscheinungsformen«, die danach in einer Art zusammenfassender Gesamtsicht publiziert wurde. 7 Galkins Auffassung sei hier
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beispielhaft ausführlicher rezipiert, zumal er diese im Wesen schon vorher 1992 kund getan hatte und nachher 1998 erneut darlegte. 8 Angesichts der Kompliziertheit des »Phänomens Faschismus« und der Dürftigkeit einer Definition, zog Galkin es vor, nicht von Theorien zu sprechen, die dieses Phänomen zu erfassen versuchten, sondern von »Arbeitshypothesen« der Forscher. Er sah vier Typen solcher Hypothesen und seine eigene 9 : 1. Hypothesen, die den Faschismus als sozial-psychologischen, politischen und ideologischen Ausdruck der Interessen konkreter sozialer Gruppen erfassen. Fast alle diese Hypothesen lägen auf dem Felde der marxistischen Tradition. So dominierte über Jahrzehnte nicht nur in der sowjetischen, sondern auch in der westlichen linken Literatur die Formel vom Faschismus als Bewegung und Regime, das die Interessen und Bestrebungen der äußerst aggressiven Fraktionen des Monopolkapitals realisiert. Heute sei das Areal dieser Auffassung begrenzt, doch sie sei vorhanden, nicht selten in modifizierter Form. Zudem existierte eine andere, weniger bekannte Vorstellung vom Faschismus als Ausdruck einer antikapitalistischen Empörung der ruinierten Kleinbourgeoisie. Weiter wurde in den Arbeiten der bekannten marxistischen Theoretiker nichtkommunistischer Orientierung Otto Bauer und Karl Brandler der Faschismus als spezifische Form des Bonapartismus charakterisiert. Diese Hypothesen widerspiegeln, beschreiben und erklären teilweise einige wichtige Züge des Forschungsobjektes. Aber keine erhielt eine solche gewichtige Untermauerung, um den Status einer wissenschaftlichen Theorie zu erlangen. Großfinanziers und Industrielle Deutschlands waren interessiert an der Übergabe der Macht an die Nationalsozialisten. Jedoch in einer Reihe anderer Länder waren solche Verbindungen nicht zu beobachten. Dort brachten andere soziale und politische Kräfte die Faschisten an die Macht. In den faschistischen Organisationen gab es nicht wenige kleinbürgerliche Elemente. Aber in diesen waren bedeutend mehr Angehörige anderer Schichten vertreten und tätig. Die politischen Institutionen in den Ländern mit faschistischen Regimen hingen wenig von den sozialen Gruppen ab, die sie an die Macht brachten. Jedoch ergab sich dies nicht immer aus dem Gleichgewicht antagonistischer Kräfte, die in der Gesellschaft dominierten. In einer Reihe von Ländern mit faschistischen Regimen gab es ein solches Gleichgewicht nicht, die Selbständigkeit der politischen Macht existierte. 2. Hypothesen, die den Faschismus als Erscheinung eines historisch bedingten, kranken gesellschaftlichen Bewußtseins erfaßten. Einige solcher Hypothesen seien mit der marxistischen Tradition verbunden, andere ihr fremd. So habe Georg Lukäcz, ein Literaturwissenschaftler marxistischer Orientierung, den Faschismus als das Auf-
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lodern einer Krankheit zu erfassen versucht, die das Ergebnis eines langen Prozesses der ideologischen Vergiftung des deutschen Volkes gewesen sei. Diese Vergiftung habe eine besondere moralische und geistige Atmosphäre geschaffen, in der Verstand und moralische Werte eine immer geringere Rolle gespielt hätten. Die praktische Arbeit mit einer Hypothese, die den Faschismus als klinische gesellschaftliche Erscheinung betrachte und ihn streng historisch determiniere, bringe mehr neue Fragen als Antworten. 3. Eine Hypothese, die eine genetische Auffassung vom Faschismus verneint und diesen als Teilerscheinung oder Einzelerscheinungen betrachtet, die nicht miteinander verbunden sind. Nach ihr sei der Faschismus als allgemeines Phänomen nur ein propagandistisches Phantom. In Wirklichkeit entstanden in einer Reihe von Ländern in einer bestimmten Zeit Parteien, Bewegungen und Regime, die wenig Gemeinsames hätten, aber das feindliche Verhältnis zur Sowjetunion und zum Kommunismus einte. Sie seien sich politisch näher gekommen infolge des zeitweiligen Zusammenfallens nationaler Interessen. Auf dieser Hypothese gegründete Forschungen können nach Galkin ihre Ziele nicht verwirklichen und viele Fragen, die er benannte, nicht beantworten. Notwendig sei ein anderes Herangehen, das die Unterschiede zwischen Parteien, Bewegungen und Regimen rechtsradikalen Typs, die man gewöhnlich zu den faschistischen zähle, nicht ignoriere, aber die sie verbindenden genetischen Züge erfasse und bewerte sowie die allgemeinen Gründe ihres Entstehens feststelle. 4. Eine Hypothese, die den Faschismus dem Totalitarismus gleichsetzt, so als ob sich der erste im zweiten auflösen würde. Ihr liege die Vorstellung zugrunde, nach der der Faschismus über keinerlei wesentliche Züge verfüge, die ihn von anderen totalitären Parteien, Bewegungen und Regimen unterscheiden würden, die sich nicht zu den faschistischen zählten und sogar den Faschismus ablehnten. Diese Hypothese sei in liberal-demokratischen Kreisen westlicher Länder geboren worden. Sie ignoriere solche wesentlichen Unterschiede wie die prinzipielle Unvereinbarkeit der Wertesysteme und die Gegensätzlichkeit der Zielsetzungen. Es bleibe nur die Ähnlichkeit des politischen Instrumentariums und der Methoden zur Erreichung des Ziels. Die außerordentliche Politisierung dieser Hypothese, die Faschismus im Totalitarismus auflöse, müsse sich in wissenschaftlicher Hinsicht rächen und mindere den inhaltsreichen Sinn dieses Herangehens, meinte Galkin. Er verwies am Schluß dieser Übersicht darauf, daß er in diese nicht die Anhänger des Faschismus einbezogen habe.
Faschismus - ein Thema in der russischen Historiographie der 90er Jahre?
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Dann stellte er seine eigene Arbeitshypothese dar, die sich aus seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Faschismus in Vergangenheit und Gegenwart ergeben habe. Seine Hypothese negiere nicht die anderen, würde es aber erlauben, adäquater die innersten Grundlagen des faschistischen Phänomens aufzudecken. Nach ihr ist der Faschismus »die irrationale, unangemessene Reaktion der Gesellschaft des XX. Jahrhunderts auf die scharfen Krisenprozesse, die ihre beständigen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ideologischen Strukturen zerstören«. 1 0 Die Besonderheit dieser Reaktion ist im entscheidenden Maße dadurch bedingt, daß sie aus der Auflösung der traditionellen rechtskonservativen Werte erwächst. Mit anderen Worten gesagt, »der Faschismus ist rechtskonservativer Revolutionarismus. Er versucht, ungeachtet der Opfer, die realen Widersprüche der Gesellschaft zu beseitigen und all das zu zerstören, was ihm als Hindernis bei der Bewahrung und Wiedergeburt der spezifisch verstandenen ewigen Grundlagen des Daseins erscheint«. 11 Galkins systematisierendes Nachdenken über den Faschismus fand seine unmittelbare Fortsetzung mit dem Beitrag »Was ist Faschismus?« des französischen Forschers Pierre Milza, der die Faschismus-Sicht erweiterte und bereicherte. 1 2 Ein Doktorand aus England brachte in diese den Hinweis auf die FaschismusArbeiten von Roger Griffin ein, der den Faschismus und seine Ideologie in das Begriffsbild des »palingenetischen Ultranationalismus« stellte. 13 A u f einen wichtigen Aspekt zum Faschismus-Verständnis - und nicht nur dafür machte unlängst der Italien-Spezialist L.S. Belousov mit seinen Überlegungen zum vieldiskutierten Verhältnis von Gewalt/Zwang und Zustimmung/Übereinstimmung/ Einvernehmen, d.h. zum Problem des Konsenses aufmerksam. In dem Versuch, einen Konsens mit dem Regime und seiner Tätigkeit zu formieren, besteht nach Belousovs Ansicht das wirklich Neue des totalitären Modells gegenüber Diktaturen der Vergangenheit. Der faschistische Staat war bestrebt, aktive Untertanen mit festen »Überzeugungen« zu besitzen, die ganze Bevölkerung zu mobilisieren, und hatte dazu die qualitativ neue Aufgabe zu lösen - die Kontrolle über die Motivation und die Lenkung des Verhaltens der Bürger auszuüben. Dazu bediente er sich zweier grundlegender Hebel des Zwanges und des Konsenses, wie Belousov am Beispiel Italiens zeigte. 14
Faschismus-Gefahr
in
Rußland?
Die Sicht auf den Faschismus verband sich fast immer mit der Frage: Wie steht es mit dem Faschismus in Rußland, gibt es eine Faschismus-Gefahr und - wenn ja - wie ist sie zu bannen? Der Meinungsaustausch dazu war auf dem antifaschistischen Forum vom Januar 1995 besonders intensiv und auch gegensätzlich. So wurde die
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These vertreten, daß der Faschismus dem russischen Boden überhaupt fremd sei und daß die derzeitig verbreitete Auffassung von einer faschistischen Bedrohung im Wesen nur ein Mythos sei, der aus der Sorge der Intelligenz vor einer Wiedergeburt des Totalitarismus entstand. Ein Merkmal des Faschismus sei seine Herkunft aus einer bestimmten Massenbewegung, da diese in Rußland fehle, könnten sich für den Faschismus auch autoritäre Tendenzen eignen. Das führte zu der Feststellung von einem »jetzigen russischen Autoritarismus«. Er sei kein Faschismus, enthalte aber die Bedrohung einer Faschisierung. Diese könnte sich realisieren entweder auf dem Wege der autoritären, womöglich auch totalitären Evolution der vorhandenen Machtstrukturen oder durch die Einbindung heute schon existierender, aber noch marginaler Organisationen faschistischen Typs, die der faschistischen Ideologie folgen, in diese Strukturen. Nicht auszuschließen sei auch, daß angesichts des Fehlens einer genügend ausgearbeiteten, mobilisierenden Ideologie bei den russischen Konservativen und Nationalisten - vorhanden sei nur ein äußerst verschwommener, inhaltsloser Nationalismus - der Faschismus zum Lieferanten für diese starke Tendenz im politischen Leben Rußlands wird. 1 5 Faßt man einige Auffassungen personengebunden, so verwies der Historiker K.G. Cholodkovskij darauf, daß die Wende der Macht z u m Autoritarismus noch nicht vollzogen sei - im wesentlichen sind die Freiheiten, parlamentarischen Formen und der politische Pluralismus vorhanden. Darin liege die Kompliziertheit und die Hoffnung. Es sei eine Sackgassenstrategie, auf die »Selbstbegrenzung der Demokratie«, auf den »eigenen« Autoritarismus zu kalkulieren. Das erleichtere nur eine Diktatur in ihrer grausamsten Variante. Die »Beachtung der Proportionen« hänge nur ab vom realen Kräfteverhältnis, nicht von akademischen Berechnungen. Einen »milden« Autoritarismus könne es nur als Ergebnis eines demokratischen Widerstandes geben. 1 6 Sein Kollege G.I. Vajnstejn konstatierte, daß es im Lande eine wachsende Neigung der Bürger zu einer »starken Hand«, zur Schaffung von »Ordnung« gäbe. Doch könne man dies nicht als Orientierung auf ein faschistisches Regime werten. Er sähe, daß in bestimmtem Maße ein Autoritarismus, wenn man darunter Festigkeit der Macht, Härte in der Schaffung von Ordnung verstehe, unter den gegenwärtigen Bedingungen notwendig sei. Zugleich müsse er abgegrenzt werden. Man müsse anerkennen, daß die Lösung der Aufgabe, Demokratie und Ordnung zu verbinden, in Rußland außerordentlich schwer sei. 17 Der Historiker A J u . Zuchin bezeichnete den rechten Radikalismus und den Faschismus als »Produkte der westlichen Zivilisation« und die derzeit im Lande existierenden faschistischen Organisationen als »Importprodukte«. Der Faschismus sei nach seiner Meinung mehr eine vereinbarte Kennzeichnung der Gefahren für die Demokratie in Rußland als Quelle einer realen Bedrohung. 1 8 A.A. Galkin ging in seinem schon genannten Beitrag von der verbreiteten Feststel-
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lung aus, daß Rußland über eine dauerhafte Immunität gegenüber dem Faschismus verfuge. Für diese Position gäbe es genügend Begründungen. Der Große Vaterländische Krieg war vor allem ein Krieg gegen das faschistische Deutschland, das der Sowjetunion ungeheure materielle und menschliche Verluste zufügte. Dies rief in der Gesellschaft eine feste, negative und ablehnende Reaktion auf alles das hervor, was mit Faschismus verbunden war, darunter selbst das Wort und die Symbolik. Gegenwärtig sei diese Immunität offensichtlich schwächer geworden, aber immer noch genügend beständig, um Barrieren gegen eine faschistische Bedrohung zu schaffen. Es gäbe im Lande viele faschistoide Organisationen, sie seien zumeist offen tätig. Im profaschistischen Lager hätten sich im Suchen nach einer adäquaten Ideologie zwei Hauptgruppen gebildet - die »Westler« und die »Bodenständigen«. Die ersten unterstrichen ihre Zugehörigkeit zum internationalen Faschismus, übernähmen seine Postulate und äußeren Attribute, beteiligten sich an Treffen im Ausland und an der Tätigkeit der internationalen Vereinigung der westeuropäischen Neofaschisten. Die zweiten, mehr einflußreicheren, orientierten sich auf die heimischen Bedingungen, enthielten sich der Bezeichnung »Faschismus«, legten mehr Gewicht auf die Idee der eigenständigen Entwicklung Rußlands. Dennoch seien beide Richtungen durch die Gemeinsamkeit der faschistischen Programmatik verbunden. N o c h blieben die faschistischen Organisationen marginal, hätten sie keinen wesentlichen Einfluß auf die Prozesse, die in der Gesellschaft ablaufen. Bedeute das, daß Erörterungen über die Aktualität der faschistischen Bedrohung keinen Boden haben? Natürlich gäbe es um das Problem des Faschismus spekulative Spiele, doch das Problem existiere. Natürlich schaue man dabei auf die Realien der Vergangenheit, besonders der deutschen Geschichte. D o c h das sei ein fehlerhaftes Herangehen. 1. wird der Faschismus in Rußland, wenn es ihm gelingen sollte, Wurzeln zu schlagen, nicht der deutschen, italienischen oder einer anderen Variante gleich sein. In seinen grundlegenden Zügen wird er russisch sein, mit allen sich daraus ergebenden Folgen. 2. wird er zeitgemäß sein. Folglich müssen nicht Sorge und Aufmerksamkeit jene Gruppen rechter Radikaler hervorrufen, die die Vergangenheit nachahmten und in schwarzer und brauner Montur herumliefen, sondern jene, die es verstünden, neue Formen der Verkörperung faschistisch-totalitärer Tradition zu finden, die scharfen Probleme, die vor der Gesellschaft stehen, real zu erfassen und sie heuchlerisch für ihre Ziele zu nutzen. Die Möglichkeiten seien dafür jetzt günstig. Sie lägen im Zerbrechen der sozialen Strukturen, in der Vertiefung der wirtschaftlichen und sozialen Krise und der Verschlechterung der Lebensbedingungen, in der Schwächung der Staatsmacht und der Diskreditierung ihrer Institutionen sowie im Zerfall des Wertesystems der Gesellschaft. Welche Varianten der Entwicklung lassen sich unter diesen Bedingungen vorstellen?, fragte Galkin:
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1. (eine optimale, aber unwahrscheinliche) Den Machtstrukturen gelingt es, die Lage abzuschwächen, die demokratischen Institutionen zu erhalten und mit ihrer Hilfe das Land in ruhiges Wasser zu führen. Auf diese Weise löste in den 30er Jahren Franklin Roosevelt die Krisensituation in den USA. 2. Die regierende Elite versucht, aus der Krise durch die weitere Demontage der demokratischen Institutionen herauszukommen. Auf diesem Weg wird es schwer, anzuhalten. Er führt zum offenen Autoritarismus und eröffnet die Möglichkeit einer totalitären Entartung des Regimes. 3. Die wachsende Glut der sozialen und politischen Spannungen im Lande wird durch rechtsextremistische Kräfte ausgenutzt. Sie bringen einen charismatischen Führer hervor und kommen unter der Losung der nationalen Rettung an die Macht. Das Regime, das errichtet wird, muß nicht unbedingt faschistisch werden. J e d o c h die demokratische Entwicklung des Landes wird aufgehalten. 4. Auf der Welle der sozialen und politischen Unzufriedenheit entsteht eine neue rechtsextremistische Bewegung, in deren Bestand populäre Militärs eingehen. Der Gesellschaft wird eine faschistische Programmatik aufgezwungen. Schwerlich wird sich dieses Regime selbst als faschistisch bezeichnen. 1 9 Vor einigen Jahren, so stellte Galkin 1998 fest, konnte man sich nicht vorstellen, daß die letzten beiden Varianten durchführbar wären. Heute wird diese Überzeugung geringer. 2 0
Faschismus
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Sozialismus/Stalinismus
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Totalitarismus
1996 erschien in Moskau ein sehr bemerkenswertes umfangreiches Buch kollektiven Typs »Totalitarismus in Europa des XX. Jahrhunderts. Aus der Geschichte der Ideologien, Bewegungen, Regime und ihrer Überwindung«. Der Band - Auflage nur 750 Exemplare - war auf der Grundlage des Wirkens eines wissenschaftlich-theoretischen Seminars »Demokratie und Totalitarismus« entstanden. Es vereinte am Institut für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Jakov Samojlovic Drabkin (Jg. 1917) seit 1992 Historiker, Philosophen, Politologen und Soziologen in dem Bemühen, die Problematik des Totalitarismus zu ergründen, was den Faschismus einschloß, und Ergebnisse in die allgemeine Diskussion einzubringen. Das Buch war in Thematik und Anlage das erste dieser Art in der sowjetischen und russischen Historiographie. Die Autoren - nicht immer übereinstimmend in ihren Auffassungen - legten zunächst historische Wurzeln des Totalitarismus - Nationalismus und Etatismus - bloß. Sie verfolgten die Herausbildung einer totalitären stalinistischen Diktatur aus dem autoritären bolschewistischen Regime,
Faschismus - ein Thema in der russischen Historiographie der 90er Jahre?
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ihr Wirken im Zweiten Weltkrieg, die europäische antifaschistische Bewegung, den Nachkriegsstalinismus und seine Überwindung. Sie zeigten - nicht sehr überzeugend - die Entstehung zeitweiser totalitärer Staaten in Osteuropa, deren unterschiedliche Entwicklung und ihren Sturz in einer »antiautoritären Revolution« Ende der 8oer Jahre. Gegenstand der Untersuchung waren weiter das faschistische Italien, das nationalsozialistische Deutschland, Franco-Spanien, das Salazar-Regime in Portugal und das Griechenland der »schwarzen Obristen«. Spezielle Ausführungen galten der Kirche und der Kunst unter dem Totalitarismus. Analysiert wurden die Ursachen des Scheiterns der totalitären Systeme, wie auch die Wege ihrer Überwindung und Alternativen totalitärer Tendenzen. 2 1 Die Autoren gingen - insbesondere bei Stalinismus und Hitlerismus - von dem methodologischen Grundsatz aus, zu vergleichen, aber nicht apriori gleichzusetzen. 2 2 Schon vorher, auf einer russisch-deutschen wissenschaftlichen Konferenz im Mai 1995 in Wolgograd hatte Drabkin in bezug auf das von ihm geführte Seminar erklärt: »Wir negieren nicht die Nützlichkeit des Vergleichs der in unseren beiden Ländern - Deutschland und Rußland - entstandenen zwei ähnlichen, aber verschiedenen diktatorischen Regime - das faschistisch-nazistische und das stalinistische. Aber nur unter der Bedingung, daß streng wissenschaftliche Kriterien beachtet werden, die im vollen Maße sowohl die gemeinsame, als auch eine verschiedene Entwicklung dieser Systeme und ihre Dynamik berücksichtigen«. 2 1 Der Standpunkt des Vergleichs hat nach meiner Einsicht weite Verbreitung unter den tangierten russischen Historikern gefunden. Er wird ohne so große Aufgeregtheiten wie in Deutschland praktiziert. D o c h wird er im Widerstreit verfochten einerseits zur Auffassung, daß Stalinismus und Faschismus zwei wesensfremde Erscheinungen seien, die nicht vergleichbar seien 2 4 , und andererseits zur Sicht, nach der beide vergleichbar seien, vieles gemeinsam hätten und sich im Totalitarismus fanden. Oft wird dem Faschismus, besonders dem Nationalsozialismus, nicht nur der Stalinismus zugeordnet, sondern der Sozialismus/die »totalitäre« Sowjetunion insgesamt. Als Interpreten und Diskutanten pro und kontra des Vergleichs sowie des Totalitarismus-Konzepts waren und sind russische Historiker gern gehörte Gäste auf Veranstaltungen in Deutschland. 2 5 N i m m t man einige Beispiele zur Verdeutlichung der Problematik, so kommt im oben genannten Buch A.V. Subin zu folgenden übereinstimmenden Parametern in der Gesellschaftsstruktur zwischen Hitler- und Stalin-Regime: eine unkontrollierte Elite; ein Überzentralismus; Unterordnung aller legalen Sphären der Gesellschaft unter die Führung der Elite, Vernichtung der Strukturen, die nicht in diese Unterordnung passen; Anwendung von außerökonomischen Formen des Arbeitszwanges für das industrielle Wachstum; Schaffung eines militärisch-industriellen Komplexes gro-
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ßer Staatsunternehmen; eine Politik der kulturellen Nivellierung, Unterdrückung einer »feindlichen Kultur«, Herrschaft einer angewandten Kunst mit Agitationscharakter. D o c h bei all dem, so betont Subin, dürfe man Stalinismus und Hitlerismus nicht gleichsetzen. Der Ideologie dieser zwei Formen des Totalitarismus lagen verschiedene Prinzipien zugrunde. Der Stalinismus als Form der kommunistischen Bewegung ging von einer Klassenherrschaft, der Nazismus von einer Rassenherrschaft aus. Die totale Ganzheit des Sozialismus in der UdSSR wurde erreicht durch Methoden des Zusammenschlusses der gesamten Gesellschaft gegen die »Klassenfeinde«. Dies erforderte eine radikalere als in faschistischen Systemen soziale Transformation und eine Ausrichtung der Aktivitäten des Regimes auf innere und nicht äußere Ziele (zumindest bis Ende der 3oer Jahre). Die Stalinsche Politik verfolgte eine nationale Konsolidierung, sie war nicht verbunden mit rassistischen Säuberungen (Verfolgungen nach nationaler Zugehörigkeit gab es erst in den 4oer Jahren). Die Diktatur in der UdSSR war gezwungen, sich mit hohen Idealen, die im sozialistischen Gedankengut lagen, zu umgeben. Das Hitler-Regime war offen in der Darstellung der aggressiven Ziele seiner Politik. 26 Anfang der 90er Jahre dachten A . N . Mercalov (Jg. 1922) und L A . Mercalova (Jg!947) im Rahmen ihrer Forschungen zu »Stalinismus und Krieg« gemeinsam über Ähnlichkeiten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Stalinismus und Hitlerismus gründlich nach und machten ihre Überlegungen sowohl in Rußland als auch in Deutschland mehr bzw. minder detailliert publik. 2 7 Sie lehnten die »Totalitarismusdoktrin« ab und betrachteten Stalinismus und Hitlerismus als Spielarten des Autoritarismus. Sie sahen Ähnlichkeiten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die hier nicht aufgelistet werden können, im Entstehen der beiden Regime, in der Persönlichkeit Hitlers und Stalins und ihres Führertums, in der Außenpolitik, im Nationalismus, in ihren Verbrechen, in der Ideologie und Propaganda sowie in der Dauer, Überwindung und Nachwirkung beider Regime. Ihre Bilanz ergab, daß »einige gemeinsame Züge zwischen Stalinismus und Hitlerismus zu konstatieren sind, wir aber nicht von einer Kongruenz dieser Systeme sprechen können«. 2 8 S.Z. Sluc sah bezogen auf die sozialistische Sowjetunion und das nationalistische Deutschland in den 30er Jahren »zwei Modelle eines totalitären Regimes, die sich mit einer gewissen Berechtigung als ultralinks und ultrarechts klassifizieren lassen«. 2 9 Er sprach sich - wie auch L A . Mercalova - für eine tiefschürfende vergleichende Analyse der beiden Regime aus und erinnerte an Unterschiede. Die Gefahr besteht, so meine ich, daß im Focus des Totalitarismus das ihm Eigene, Artverwandte, Systembildende gesucht wird und »rechts« und »links« darin Gleichsetzung findet - eine Gefahr, der wohl Politologen eher unterliegen als Historiker. 1 0 Ein abschließender Blick auf die nicht erreichte, aber angezeigte Literatur zum »Faschismus«-Thema zeigt, daß über die schon genannten Publikationen und die
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Kapitelbeiträge im Band »Totalitarismus im XX. Jahrhundert« hinaus einige weitere Arbeiten in bezug auf Deutschland, Italien und Spanien sowie zum Faschismus der russischen Emigration erschienen. 3 1 Faschismus - ein Thema für die russische Historiographie der 9oer Jahre? Ja, ein bescheidenes, aber beachtenswertes, geprägt durch die geistig-politische Situation im Lande, eingeordnet in die internationale Forschung und Debatte über Sozialismus/ Stalinismus - Totalitarismus - Faschismus.
A nmerkungen 1 Es wurde von vornherein darauf verzichtet, den großen Bereich der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den faschistischen Staaten sowie den 2. Weltkrieg einzuordnen. Hier ist eine beachtliche Literatur vorhanden. 2 Siehe zur Totalitarismus-Diskussion in der russischen Historiographie Schützler, H.: Einblicke. Zur »Totalitarismus«-Sicht und -Diskussion in der russischen Historiographie (90er Jahre). In: Loesdau, A., Meier, H. (Hrsg.) Zur Geschichte der Historiographie nach 1945. Beiträge eines Kolloquiums zum 75. Geburtstag von Gerhard Lozek. Gesellschaft - Geschichte - Gegenwart. Schriftenreihe des Vereins »Gesellschaftswissenschaftliches Forum e.V.« Berlin, Bd. 26, Berlin 2000. 3 Ich folge der Berichterstattung und einigen Forumsbeiträgen. In: Polis, 1995, Nr. 2, S. 6 ff 4 Siehe Diligenskij, G.G.: Staryj i novyj oblik fasizma. In: Ebenda, S. 36. 5 Siehe ebenda; Jachimovic, Z.P.: Istoriceskij opyt antifasizma. In: Ebenda, S. 16. 6 Siehe Galkin, A. A.: Germanskij fasizm, Moskau 1967. 7 Siehe Galkin, A. A.: O fasizme - ego suscnosti, kornjach, priznakach i formach projavlenija. In: Polis, a.a.O., S. 6 ff. 8 Siehe derselbe: O fasizme - vser'ez. In: Svobodnaja rnysf, 1992, Nr. 5, S. 13 ff.; derselbe: Razmyslenija o fasizme. In: Social'nye transformacii v Evrope XX veka, Moskau 1998, S. 157 ff. (Der Band - Auflage 3oo Exemplare - ist Ja. S. Drabkin zum 8o. Geburtstag gewidmet). 9 Siehe derselbe: O fasizme, a.a.O., S. 7 ff; derselbe: Razmyslenie, a.a.O., S. 159 ff. 10 Derselbe: Ebenda, S. 10 bzw.S. 163. 11 Derselbe: Ebenda. 12 Siehe Milza, P.: C t o takoe fasizm? In: Polis, 1995, Nr. 2, S. 156 ff 13 Siehe Umland, A.: Staryj vopros, postavlennyj zanovo: cto takoe »fasizm«? (Teorija fasizma Rodzera Griffina), in: Ebenda, 1996, Nr. 1, S. 175 f. In die generelle Faschismus-Sicht gehören - wenn auch nicht von russischen Historikern - das Buch des bulgarischen Philosophen und Staatspräsidenten der 1. Hälfte der 90er Jahre Zelju Zelev: Fasizm. Totalitarnoe gosudarstvo, Moskau 1991, und der Versuch von E. V. Samojlov, eine »Allgemeine Theorie des Faschismus« zu schaffen, der kein großes Echo fand - Samojlov, E. V: Obscaja teorija fàsizma. Fjurery, Kn. I-III, Moskau 1993. 14 Siehe Belousov, L. S.: Repressivnyj apparat rezima Mussolini. In: Novaja i novejsaja istorija, 1999, Nr. 2, S. 29 ff.; derselbe.Sumavan, A.: Istorija fasizma i ego preodolenija v edinoj istorii Evropy XX veka. In: Polis, 1999, Nr. 4, S. 168 ff.
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242 15 Siehe Diligenskij, a.a.O., S. 37.
16 Siehe Cholodkovskij, K G.: Social'nye i social'no-psichologiceskie predposylki fasizma: In: Polis, 1995, Nr. 2, S. 39. 17 Siehe Vajnstejn, G. I.: Rost avtoritarnych nastroennij i fasistkaja opasnost< v sovremennoj Rossii. In: Ebenda, S. 4o f 18 Siehe Zuchin, A. Ju.: Fasizm v Rossii: obrazy i real'nosti novoj opasnosti. In: Ebenda, S. 41 und 43. 19 Siehe Galkin, A. A.: O fasizme, a.a.O., S. 13 ff. 20 Siehe Galkin, A. A.: Razmyslenie o fasizme, a.a.O., S. 172. 21
Siehe Totalitarizm v Evrope XX veka. Iz istorii ideologij, dvizenij, rezimov i ich preodolenija. Rukovoditeli avtorskogo kollektiva Ja. S. Drabkin, N. P. Komolova, Moskau 1996, 540 S.
22 Siehe ebenda, S. 86. 23
Drabkin, Ja. S.: Preodelenie totalitarizma i rossijsko-germanskie otnosenija. In: Vtoraja mirovaja vojna i preodolenie totalitarizma Rossijsko-germanskaja konferencija istorikov v Volgograde, M o s k a u 1997, S. 74.
24
Siehe Diligenskij, S. 34.
25
Siehe u.a. Konferenzberichte in: Novaja i novejsaja istorija, 1993, Nr. 5, S. 253 f.; Tagesspiegel, 4.10.1994; Neues Deutschland, lo.3.1995.
26
Siehe Totalitarizm v Evrope XX veka, S. 86.
27 Siehe Mercalov, A.N., Mercalova, L.A.: Stalinizm i vojna, M o s k a u 1994 (Neuauflage 1998); Mercalowa, L.A.: Stalinismus und Hitlerismus - Versuch einer vergleichenden Analyse. In: Faulenbach, B., Stadelmaier, M. (Hrsg.): Diktatur und Emanzipation: Zur russischen und deutschen Entwicklung 1917-1991, Essen 1993, S. 96 ff. 28
Mercalov, A.N., Mercalova, L.A., S. 38; in der Formulierung abgeschwächt bei Mercalowa, L A . , a.a.O., S. 109.
29
Slutsch, S.: Voraussetzungen des »Hitler-Stalin-Pakts«: Zur Kontinuität totalitärer Außenpolitik. In: Faulenbach, B., Stadelmaier, M. (Hrsg.), S. 144.
30 Siehe Gadshijew, K: Totalitarismus als Phänomen des 2o. Jahrhunderts. In: Jesse, E. (Hrsg.): Totalitarismus im 2o. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1999, 2. erw. Auflage, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 336, S. 354 ff. (Der Beitrag erschien erstmals 1992 in Rußland). Im Bd. wurde auch L A . Mercalowa, a.a.O., nachgedruckt, S. 2 o o ff. 31 Siehe Enciklopedija Tret'ego rejcha. Moskau 1996; Buchanov, V.A.: Evropejskaja strategija germanskogo fasizma. Sverdlovsk 1991; derselbe: Gitlerovskij »novyj porjadok« v Evrope i ego krach 1939-1945, Ekaterinburg 1994; Bezymenskij, L: Operacija »Mif«, ili Skol'ko raz choronili Gitlera, Moskau 1995; Rasplata. Tretij rejch: padenii v propast«, Moskau 1994; Jakusevskij, A.S.: Vnutrennij krizis Germanii v 1944-1945 gg., In: Novaja i novejsaja istorija, 1995, Nr. 2; Belousov, L.S.: Mussolini: diktatura i demagogija, M o s k a u 1993; derselbe: Ital'janskij rabocij klass v gody fasizma, Moskau 1997; Tokareva, E.S.: Fasizm, cerkov< i katoliceskoe dvizenie v Itaiii. 1922-1943 gg., Moskau 1999; Chenkin, S.N.: Ispanija posle diktatury (social'no-politiceskie problemy perechoda k demokratii), Moskau 1993; Stefan, D.: Russkij fasizm: fars i tragedija v emigracii. 1922-1945, Moskau 1992; Sabanov, Ja.V: Rossijskoe Zarubez'e i fasizm v Evrope v 1920-ch - 1930-ch gg. (Po materialam Russkogo obsce-voinskogo Sojuza). Avtoref. dis....kand. ist. nauk. M o s k a u 1997; Olegina, S.V.: Rossijckij fasistskij sojuz v Man'zurii i ego zarubeznye svjazi. In: Voprosy istorii, 1997, Nr. 6.
Teil III Antifaschismus in deutschen Nachkriegszeiten
Hans
Coppi
Der Mythos »Rote Kapelle« oder wie die Politik sich der Geschichte bemächtigte
In den Abendstunden des 22. Dezember wurden Harro Schulze-Boysen und neun seiner Mitstreiter in Plötzensee hingerichtet. 57 Jahre später eröffnete der Minister Hans Eichel im neugestalteten Eingangsbereich des Ministeriums für Finanzen in der Wilhelmstraße eine Ausstellung für Harro Schulze-Boysen und Erwin Gehrts. Die beiden Luftwaffenoffiziere hatten seit Mitte der dreißiger Jahre bis zu ihrer Verhaftung durch die Gestapo im Herbst 1942 im damaligen Reichsluftfahrtmisterium gearbeitet. Das 1936 erbaute weitläufige Gebäude war nach 1945 Sitz von Ministerien und der Staatlichen Plankommission der D D R Seit Anfang der siebziger Jahren gab es im von der Leipziger Straße zugänglichen Eingangsbereich eine Ausstellung über die »Schulze-Boysen/Harnack-Widerstandsorganisation«. Sie wurde 1990 nach Intervention von Hans-Wilhelm Ebeling, einem früheren Pfarrer und Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit im letzten DDR-Kabinett, entfernt. Auf Anregung des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand und in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand entstand Anfang 1993 eine Ausstellung für Harro Schulze-Boysen und Erwin Gehrts in der Treuhandanstalt. 1 Im Zuge der Rekonstruktion des Hauses wurde auch diese Ausstellung überarbeitet und in neuer Form präsentiert. Hans Eichel würdigte am 22. Dezember 1999 das Eintreten der Mitglieder der Berliner Widerstandskreise für Toleranz und humanistische Ideale, ihren Mut und ihre Unbeugsamkeit vor dem Terrorregime des Nationalsozialismus. Hartmut Schulze-Boysen erinnerte an die Jahrzehnte währende Ausgrenzung seines Bruders und der »Roten Kapelle« aus dem deutschen Widerstand in der Bundesrepublik und sprach bewegt von »dem großen Tag, auf den ich zeit meines Lebens gewartet habe.« 2 Die Verfolgung und Diffamierung der Widerstandskämpfer hatten im Herbst 1942 begonnen, als die Gestapo-Sonderkommission »Rote Kapelle« über 120 Beteiligte aus unterschiedlichen Berliner Widerstandskreisen inhaftierte. 3 50 Frauen und Männer wurden entweder in der Voruntersuchung ermordet, nach Gerichtsverfahren hingerichtet oder nahmen sich das Leben. Die von der deutschen Funkabwehr im Jahre 1941 zunächst in Belgien ausge-
Der Mythos »Rote Kapelle«
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machten Funker wurden in ihrem Sprachgebrauch als »Pianisten« bezeichnet und erhielten wegen ihrer an Moskau gerichteten Sendungen den Fahndungsnamen »Rote Kapelle«. Im Zuge der sich auch auf Frankreich und Holland ausdehnenden Fahndungsmaßnahmen und erster Verhaftungen sowie der gleichlaufenden Bemühungen zur Dechifffierung der verschlüsselten Funksprüche ergaben sich im August 1942 erste Hinweise auf Harro Schulze-Boysen. Die im Zuge der Ermittlungen aufgedeckten Widerstandskreise um den Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium Dr. Dr. Arvid Harnack und den Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium Harro Schulze-Boysen ordnete die Gestapo den verhafteten Gruppen des sowjetischen militärischen Nachrichtendienstes in Westeuropa und somit dem Fahndungskomplex »Rote Kapelle« zu. 4 . Auf diese Weise konnte die Gestapo der NS-Führung einen von ihr aufgedeckten brisanten Fall vorführen, und damit vor allem die Wichtigkeit ihrer Tätigkeit unter Beweis stellen. Oppositionelles Verhalten wurde als von außen gesteuert erklärt. Aus den unterschiedlichen Berliner Widerstandsgruppen mit ihren breitgefächerten Aktivitäten gegen das NS-Regime entstand in der Optik der Verfolger ein sowjetisches Agentennetz mit internationaler Verknüpfung. Die nach 1945 tradierte Sicht einer im Dienste einer feindlichen Macht arbeitenden Spionageorganisation bestimmte wesentlich die Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik zum Ort dieser Gruppen im deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Geschichtsschreibung der S E D interpretierte die heterogene Zusammensetzung der Widerstandsgruppierung als Muster praktizierter Volksfrontpolitik, wie sie 1935 auf dem VII. Weltkongreß der Komintern und auf den nachfolgenden Konferenzen der K P D in Brüssel und Bern entwickelt worden war. Neuere Forschungen machen indessen sichtbar, daß diese von der Politik des Kalten Krieges und den Legimationsbedürfnissen in beiden deutschen Staaten beeinflußten Deutungsmuster weit entfernt von den Beweggründen der Beteiligten und der realen Widerstandsgeschichte waren. 5 D e m sich Mitte der dreißiger Jahre herausbildenden Widerstandskreis um Harro Schulze-Boysen 6 gehörten seine Frau Libertas, der Bildhauer Kurt Schumacher und seine Frau Elisabeth, die Ärztin Elfriede Paul, ihr Lebensgefährt Walter Küchenmeister, der Schriftsteller Günther Weisenborn, der Leiter des Berliner Pressebüros von United Press Gösta von Uexkell, seine Mitarbeiterin Gisela von Pöllnitz, die Tänzerin O d a Schottmüller, der im Herbst 1938 aus dem Konzentrationslager Buchenwald entlassene Werkzeugmacher Walter Husemann und seine Frau Marta sowie andere an. Sie halfen politisch Verfolgten, erste Flugblätter entstanden und eine von Schulze-Boysen verfaßte Informationsschrift zirkulierte unter den Freunden. Einige von ihnen waren vor 1933 Mitglieder oder Sympathisanten der K P D gewesen. Es entstand keine fest gefügte Organisation, sondern ein lockerer Kreis von Perso-
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nen mit losen Kontakten zu anderen Hitlergegnern, so zu den früheren Redakteuren der »Roten Fahne« Wilhelm G u d d o r f und J o h n Sieg mit ihren Verbindungen zu Gruppen des kommunistischen Arbeiterwiderstands in Berlin und Hamburg, zu dem Kreis von früheren Schulfreunden der Refbrmschule Scharfenberg um den Arbeiter Hans C o p p i mit seinen Kontakten zu dem Diskussionszirkel um den Schauspieler Wilhelm Schürmann-Horster, zu der Gruppe junger Leute aus dem Heilschen Abendgymnasium um den Psychoanalytiker J o h n Rittmeister aber auch zu dem Vertreter Jonny Graudenz, dem Zahnarzt Helmut Himpel und seiner Verlobten Marie Terwiel. Weit über 150 Personen aus verschiedenen Generationen und unterschiedlichen Berufen kommend, vielfältige Traditionen und Herkunft verkörpernd, mit spezifischen Motivationen, differierenden weltanschaulichen und politischen Positionen können dem Widerstandsnetz der »Rote Kapelle« in Deutschland zugerechnet werden. Widerstand äußerte sich auch in einer Lebenskultur, die sich von der ihrer Umwelt unterschied. Gemeinsame Ausflüge, Diskussionen und Feste bestimmten das Miteinander in einer Gemeinschaft von Gleichsgesinnten. Der »Bund der unentwegten Lebensfreude« - wie ihn der Romanist Werner Krauss in Erinnerung behielt 7 mit seinem spezifischen künstlerischen und intellektuellen Milieu war Ausdruck eines ungebrochenen Lebenswillens, ein Ort der Verständigung und Selbstbehauptung, aber auch Fluchtpunkt aus einer oft unerträglichen Wirklichkeit. Viele Frauen waren gleichberechtigte Partner in dem offenen Miteinander, sie beteiligten sich an den Aktivitäten. Zärtlichkeit, Liebe und Erotik gehörten zu dem Alltag in einer bedrohten Zeit. Die Stärkung des inneren Zusammenhalts und die vorsichtige Erweiterung der Kontakte waren die Regel, nach außen gerichtete Aktionen bildeten die Ausnahme. Viele Fäden des sich erweiternden Netzes von Verbindungen liefen bei Harro Schulze-Boysen zusammen. In Flugschriften 8 und in einer Zettelklebeaktion wollten die Beteiligten Zeichen setzen, riefen sie zum zivilen Ungehorsam, zum passiven Widerstand und zur Desertion auf Ende 1940 begann zwischen Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack ein regelmäßiger Meinungsaustausch. Harnack, Regierungsrat im Wirtschaftsministerium, informierte den an der sowjetischen Botschaft tätigen Mitarbeiter des NKWD-Auslandsnachrichtendienstes Alexander Korotkow wie zuvor auch den Sekretär der amerikanischen Botschaft Donald Heath über Interna seiner Tätigkeit. Harnack betrachtete Korotkow nicht als Agentenführer, sondern als Vertreter eines Landes, mit dem er sich ideell verbunden fühlte und von dem der Hitlergegner Unterstützung erwartete. 9 Er informierte über den bevorstehenden Einfall deutscher Truppen in die Sowjetunion, weigerte sich jedoch Dokumente als Beweis zu beschaffen. Zu den Ge-
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sprächen mit Korotkow zog Harnack ab Ende März 1941 Schulze-Boysen hinzu, der seit Anfang 1941 im Generalstab der Luftwaffe arbeitete und Kenntnisse von den Angriffsvorbeitungen der deutschen Luftwaffe hatte. Stalin mißachtete jedoch die eingehenden Warnungen und bezeichnete am 17. Juni 1941 den Luftwaffenoffizier als »Desinformator«, den der Chef des Komitees des Sicherheitsdienstes N K G B Merkulow zu seiner »Hurenmutter« zurückschicken sollte. 1 0 Die kurz vor dem Einfall der Wehrmacht in die Sowjetunion bereitgestellten zwei Funkgeräte kamen wegen technischer Pannen nicht zum Einsatz. Zur Behebung der Probleme beauftragte die sowjetische Seite Ende August 1941 »Kent«, einen Agenten des militärischen Nachrichtendienstes in Brüssel, nach Berlin zu fahren. In einem verschlüsselten Funkspruch waren ihm die Adressen und Telefonnummern von Schulze-Boysen und Adam Kuckhoff übermittelt worden. Als urugayischer Geschäftsmann getarnt traf dieser Anfang November 1941 mit Schulze-Boysen zu einem Gespräch in dessen Wohnung zusammen. Die Informationen schickte »Kent« aus Brüssel in acht Funksprüchen nach Moskau. Damit erschöpfte sich der Kontakt SchulzeBoysens zum sowjetischen militärischen Nachrichtendienst. Für ihn war die Verbindung nach Moskau von dem Wunsch getragen, den Krieg so schnell wie möglich beenden zu helfen. Im Sommer 1942 suchte er auch nach einer Verbindung in die Schweiz, um den Engländern kriegswichtige Informationen zukommen zu lassen. Der Sturz des NS-Regimes war nur noch mit den Mächten der Anti-Hitlerkoalition möglich. Die Kontakte in die Sowjetunion wurden Harnack, Schulze-Boysen und ihren Freunden nach der Entschlüsselung der Funksprüche zum Verhängnis. Greta Kuckhoff traf in der Nacht vom 19. zum 20. Dezember 1942, nach dem Prozeß gegen die erste Gruppe vor dem Reichskriegsgericht, im Polizeigefängnis am Alexanderplatz Elisabeth Schumacher. Arvid Harnack hatte Elisabeth Schumacher in einer Prozeßpause gebeten, Greta Kuckhoff zu übermitteln, alles zu tun, um zu überleben. Nach dem Sturz des NS-Regimes sollte sie mit den sowjetischen Partnern die Ursachen klären, die zur Verhaftung geführt hätten, und aufklären, ob es Nachlässigkeit oder feindliche Einstellung gegenüber den Widerstandskämpfern in Deutschland gewesen sei." Nach der Befreiung aus dem Zuchthaus Waldheim wandte sich Greta Kuckhoff an die Parteiführung der K P D und bat um Aufklärung der Zusammenhänge. In ihrer Vernehmung hatte die Gestapo sie mit dem Funkspruch aus Moskau konfrontiert, in dem sich der Name und die Adresse Ihres Mannes Adam wiederfand. Die Gestapobeamten hatten ihr bedeutet, daß die »Sache von oben« geplatzt sei. 1 2 Greta Kuckhoff warf der sowjetischen Seite schlechte Vorbereitung eines so wichtigen Unterneh-
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mens, eine falsche Einschätzung der Situation und Leichtfertigkeit im Umgang mit den Namen und Adressen der deutschen Partner vor. Sie führte die Verhaftung und den Tod auch auf die Unfähigkeit seitens des sowjetischen Verbindungsmannes Alexander Erdberg zurück. Erdberg war der Deckname für Alexander Korotkow, der inzwischen in Berlin in leitender Funktion für den Auslandsnachrichtendienst des K G B arbeitete. Rudolf Herrnstadt, von 1932 bis 1942 für den sowjetischen militärischen Nachrichtendienst tätig, gab Greta Kuckhoff zu verstehen, daß sie keinerlei Recht hätte, über die Vorgänge zu sprechen und nachzudenken. 1 3 Es kam zu keiner klärenden Aussprache mit Korotkow über die bedrückenden Unklarheiten. Die sowjetische Seite war nicht an einer Aufarbeitung der Ursachen, die zur Verhaftung der Berliner Gruppe geführt hatten, interessiert. Die Uberlebenden kannten zumeist nur ihren Teil des geleisteten Widerstandes. Wenige Dokumente der Verfolgungsbehörden waren zugänglich. Deshalb wandten sich der Schriftsteller Günther Weisenborn und die Mutter des hingerichteten Bildhauers Kurt Schumacher im Juni 1946 über den »Tagesspiegel« mit der Bitte an alle Beteiligten des Schulze-Boysen/Harnack-Prozesses und an Angehörige der Verurteilten, Tatsachenberichte, Charakteristiken, Photos und Originalmaterial an den Hauptausschuß »Opfer des Faschismus« zu schicken. 1 4 Im Zentralvorstand der S E D stieß dieses Vorgehen auf Unverständnis. Franz Dahlem wandte sich gegen eine leihweise Überlassung des beim Zentralvorstandes befindlichen Materials und verlangte, daß »wir die Übersicht über vorhandene Materialien erhalten«. 1 5 In einer Gedenkveranstaltung im Deutschen Theater, in ersten Büchern 1 6 und Artikeln 1 7 wurde in den ersten Nachkriegsjahren an die Widerstandsgruppe und an die Toten erinnert. Dabei standen die antinazistische Propaganda- und Aufklärungsarbeit, die Verbindungen zu anderen Widerstandsgruppen, die Würdigung der intellektuellen Lauterkeit und der menschlichen Integrität der Widerstandskämpfer im Vordergrund. Konkrete Hinweise auf Verbindungen zur Sowjetunion wurden ausgelassen oder umschrieben. 1 8 In westlichen Veröffentlichungen wurde begonnen, die »Rote Kapelle« wegen ihrer Verbindungen nach Moskau in Gegensatz zu anderen Widerstandsgruppen zu stellen.19 Allen Welsh Dulles bezeichnete Harro Schulze-Boysen als einen der wichtigsten Agenten der Sowjetunion in Deutschland. 2 0 Vor dem Hintergrund des eskalierenden Kalten Krieges nahmen sich der amerikanische Geheimdienst C I C (Counter Intelligence Corps) 2 1 und weitere westliche Nachrichtendienste der »Roten Kapelle« an. Die ehemaligen Verfolger der »Roten Kapelle«, jetzt gefragte Gesprächspartner der ehemaligen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, suggerierten, daß angeblich nicht entdeckte Teile der »Rote Kapelle« weiter aktiv geblieben sein könnten. Die »Rote Kapelle« blieb in der Hochphase des Kalten
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Krieges ein Synonym für fortwährende sowjetische Spionage. Der C h e f des Bundesnachrichtendiestes war davon überzeugt, daß Mitglieder der »Roten Kapelle« unerkannt leitende Positionen in der Bundesrepublik einnehmen würden. 2 2 Die Bemühungen der Überlebenden führen zu Ermittlungen gegen den ehemaligen Anklagevertreter im Reichskriegsgericht Manfred Roeder im Jahre 1948 wegen Aussageerpressung und Körperverletzung im Amt. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg folgte im wesentlichen den Argumenten der ehemaligen Senatspräsidenten, Richter, Staatsanwälte und Gestapobeamten. Der Angeklagte Roeder wurde mit der Feststellung entlastet, daß alle Beschuldigten wegen Landesverrats durchaus zu Recht verurteilt worden seien. 2 3 Damit einher liefen die Bemühungen in westlichen Publikationen, das von der Gestapo geprägte Bild einer großen Spionageorganisation zu revitalisieren. Die Nachkriegsberichte der Täter werden vermarktet. Die »bestürzende Aktualität dieser Aktion zugunsten des roten Moskau« stand im Mittelpunkt von Kolportagegeschichten, die in den Rang von Tatsachenberichten gehoben wurden. 2 4 Die neonazistische Deutsche Reichspartei, der Roeder angehörte, bestritt in Niedersachsen mit dem Thema »Rote Kapelle« im Jahre 1951 ihren Wahlkampf. Roeder brachte 1952 eine kleine Schrift »Die Rote Kapelle« heraus, in der er die Frauen und Männer als Landesverräter per exellance noch einmal politisch und moralisch verurteilte. Die mutmaßlichen Verluste der deutschen Wehrmacht als Opfer des »Krieges im Äther« gab er mit 200 000 an. 2 5 Der Historiker Gerhard Ritter stützte sich auf Roeders Bericht. Folgerichtig hatte diese Gruppe mit dem deutschem Widerstand nichts zu tun: »Sie stand ganz eindeutig im Dienst des feindlichen Auslandes. Wer dazu imstande ist, mitten im K a m p f um Leben und Tod, hat sich von der Sache seines Vaterlandes losgelöst, er ist Landesverräter - nicht nur dem Buchstaben des Gesetzes nach.« 2 6 So standen Diffamierungen und die Ausgrenzung aus dem deutschen Widerstand in Artikelserien und Buchpublikationen der früheren Bundesrepublik vielfach in deutlicher Kontinuität zu Überlieferungen der Gestapo und NSJustiz. Verrat wurde zu einer allgemeinen ethischen Kategorie erhoben. Damit wurde aber zugleich das System legitimiert, das die eigentliche Ursache für den Widerstand darstellte. Günther Weisenborn stellte die Frage auf welcher Seite der »Landesverrat« begangen wurde: »Wer sein Volk soldatisch in das schrecklichste Unheil seiner Geschichte schickte und es belog, beging Landesverrat. Wer die ehrlichen und betrogenen Männer unseres Volkes in Uniformen steckte und sie über die Grenzen jagt, um andere Völker mit Krieg zu überwinden, der beging Verrat an seinem Volk. Wer sein Volk gegen diesen Wahnsinn zu verteidigen suchte, kämpfte gegen die Landesverräter. Und Hitler war ein Landesverräter.« 2 7 Auch bei Margrit Boveri klang verhalten diese Sicht an: »Waren sie alle Verräter,
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nicht nur im nazistischen, sondern im wahren Sinne des Wortes?«. 2 8 D e m Historiker Hans Rothfels schien die Ausgrenzung aus der Opposition gegen Hitler eher fragwürdig. Er warnte davor, »ex post« eine eindeutige Linie zu ziehen zwischen dem, was der »Rettung« des Landes, und dem, was seiner »Preisgabe« dient. 2 9 Karl Barth, der streitbare Theologe, bezog in seiner Rede anläßlich des Volkstrauertages im Jahre 1954 ausdrücklich die geschmähten Widerstandskämpfer um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen ein. Diese Rede löste nicht nur bei den anwesenden Politikern der C D U Empörung aus. Auch der hessische SPD-Ministerpräsident Zinn distanzierte sich von Barths Ehrung der »Roten Kapelle«. 3 0 Uberlebende und auch die nächsten Angehörigen trugen bald wieder das Stigma des Landesverrats. Wiedergutmachungsanträge für Angehörige und Hinterbliebene von Hingerichteten wurden abgelehnt. Günther Weisenborn würdigte in dem von Ricarda Huch begonnenen und von ihm vollendeten Buch über die deutsche Widerstandsbewegung »Der lautlose Aufstand« die Berliner Widerstandskreise um SchulzeBoysen und Harnack. Er unterschied den mit der Nachrichtenübermittlung beschäftigten »äußeren Kreises«, v o m »inneren Kreis«, dem er und die meisten anderen angehört hätten. 3 1 In der D D R wurden Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack, Adam Kuckhoff und ihre Freunde zu Helden des antifaschistischen Widerstandskampfes. 3 2 Die Verbindungen zum sowjetischen Nachrichtendienst blieben bis in die sechziger Jahre weitgehend ausgeblendet. 3 3 Erstmals wurde 1965 in einer sowjetischen Publikation auf die Berliner Widerstandskreise und im Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Nachrichtendienst eingegangen. 3 4 Eine Neubewertung leitete die Mitte der sechziger Jahre erschienene »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« ein. Aus der Widerstandsgruppe um Harnack und Schulze-Boysen wurde eine der größten antifaschistischen Widerstandsorganisationen in Deutschland. 3 5 Nunmehr stand eine zentrale Berliner Leitung an der Spitze einer weit verzweigten Organisation mit Stützpunkten in vielen Orten Deutschlands und Verbindungen nach Frankreich, Griechenland, den Niederlanden, Österreich, in die Schweiz und in die Sowjetunion. Die Tatsache, daß sich unter den Mitgliedern des Widerstandsverbundes auch die früheren KPD-Funktionäre Wilhelm Guddorf, Walter Husemann und J o h n Sieg befanden, galt nun als Beleg für die Führung des Widerstands durch die K P D und deren auf eine breite antifaschistische Front ausgerichtete Generallinie. Der Anfang August 1942 vom sowjetischen Auslandsnachrichtendienst des N K W D nach Berlin mit dem Fallschirm geschickten Albert Hößler wurde der Beauftragte des ZK der KPD, der die neuen Direktiven der Moskauer Parteiführung überbracht habe. Damit wurde der Mythos eines zentral organisierten und durch die emigrierte Führung der
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K P D in Moskau geleiteten Widerstands in Deutschlands gestützt. Diese Interpretation war jedoch von der komplizierten Situation des kommunistischen Widerstands in Deutschland nach der Zerschlagung seiner organisatorischen Basis durch die Gestapo weit entfernt. So folgte auch die offizielle DDR-Historiographie der Gestapoversion mit ihrer beträchtlichen Uberdehnung des Organisationsgrades, nur unter anderem Vorzeichen. Greta Kuckhoff wandte sich an das Institut für Marxismus-Leninismus des ZK der S E D , das diese Neubewertung vorgenommen hatte und versicherte, daß sie in der illegalen Arbeit von der Führung durch Funktionäre der K P D nichts bemerkt hätte. Bis kurz vor der Verhaftung hätte sich ihr Mann Adam Kuckhoff vergeblich um einen Kontakt zu KPD-Leitungsgremien bemüht. Von einer Anleitung durch die Moskauer KPD-Führung könne keine Rede sein. Nach der Befreiung hätte niemand in der KPD-Zentrale die Namen Harnack, Schulze-Boysen und Kuckhoff gekannt. Dort sei man davon ausgegangen, daß es sich bei den Verhafteten um Personen gehandelt habe, die den Kreisen des »20. Juli« nahegestanden hätten. 3 6 Greta Kuckhoffs Einwände führten jedoch zu keiner realitätsnahen Bewertung der Widerstandsgruppe. Der Paradigmenwechsel in den sechziger Jahren war weder durch Erschließung neuer Quellengrundlagen begründet noch Ergebnis sorgfältiger historiographischer Untersuchungen. Mit dem Rückgriff auf den antifaschistischen Widerstand legitimierte die S E D ihre führende Rolle in der D D R und sicherte mit der Berufung auf die Märtyrer ihre moralische Reputation und Unangreifbarkeit. Die Autoren der »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« wußten ohne Verweis auf entsprechende Quellen zu berichten, daß die »Leitung der Widerstandsorganisation ... Verbindung zu sowjetischen Nachrichtenorganen aufnahm. Kämpfer der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation leisteten mit ihrer gefahrvollen Tätigkeit als Kundschafter einen bedeutsam Beitrag zur Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus und zur Verteidigung des ersten sozialistischen Landes der Welt.« 3 7 Das Ministerium für Staatssicherheit betrachtete nach der parteigeschichtlichen Neubewertung die »Rote Kapelle« als ihre Traditionsgruppe. Bereits im Jahre 1965 hatte die Abteilung Agitation des MfS begonnen, die Forschungen zur »Roten Kapelle« zu intensivieren. 38 Es sollte im Jahre 1966 ein Dokumentarbericht über die »Rote Kapelle« beim Dietz-Verlag, Hörspiele für den Rundfunk und ein Film in Coproduktion zwischen Mosfilm, der DEFA und einer französischen Filmgesellschaft entstehen. Nicht alle Vorhaben wurden realisiert, aber die 1967 gegründete Abteilung IX/11 begann, eine Sammlung »Rote Kapelle« mit Kopien von Dokumenten aus Archiven, von Artikeln und Büchern aufzubauen 3 9 und erhielt auch einzelne Berichte aus Moskau. Der Forschung waren diese Materialien jedoch nicht zugänglich.
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Erich Mielke begründete die aktive Beteiligung des Ministeriums bei der Erforschung und Würdigung der Widerstandsorganisation mit der Tatsache, daß in der »Roten Kapelle« mehrere »verdienstvolle Kundschafter der sowjetischen Sicherheitsorgane« tätig gewesen waren. Die »Kundschaftertätigkeit« für die Sowjetunion betrachtete Mielke als die »höchste Form des antifaschistischen Widerstandskampfes«. 4 0 Das MfS schlug dem Komitee für Staatssicherheit in Moskau 1967 vor, die deutschen »Kundschafter« mit sowjetischen Auszeichnungen zu ehren. Diese Ehrung sollte in der Öffentlichkeit den gemeinsamen Kampf deutscher Patrioten mit der Sowjetunion als »proletarischen Internationalismus in Aktion« illustrieren. Außerdem erhoffte sich das MfS mit derartigen Veröffentlichungen über die »Rote Kapelle« eine Außenwirkung nach Westdeutschland. Die Auswertung der Materialien sollte über das Institut für Marxismus-Leninismus erfolgen. 4 1 Nach einer erneuten Absprache mit Vertretern des MfS erarbeitete die Abteilung Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung des Institutes für Marxismus-Leninismus eine Grobkonzeption und eine Vorlage für das Sekretariat des Zentralkomitees der S E D mit Maßnahmen zur Darstellung und Würdigung des antifaschistischen Widerstandskampfes der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation. 4 2 Am 7. Oktober 1969 verlieh die sowjetische Regierung an zwölf Frauen und achtzehn Männer postum Orden des Großen Vaterländischen Krieges. Der sowjetische Botschafter Pjotr Abrassimow übergab in Anwesenheit von Erich Honecker und Erich Mielke Ende Dezember 1969 die Auszeichnungen an die Angehörigen. 4 3 Die »Kundschaftertätigkeit« wurde ein Medienereignis, die problematischen Seiten blieben weiterhin ausgeblendet. Die »Rote Kapelle« fand Eingang in sowjetische Schulbücher, Artikel, Reportagen und Bücher. 4 4 Die Deutungshoheit des antifaschistischen Widerstandskampfes hatte das Institut für Marxismus-Leninismus. Statt einer quellengesättigten Monographie gab das IML 1970 ein Buch mit biographischen Angaben und Briefen der Hingerichteten aus der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe heraus. 4 5 Damit ging zugleich eine »Glättung« ihrer Biographien einher. Die Widerstandskämpfer wurden als makellose Vorbilder dargestellt und betont, daß die D D R ihr Vermächtnis erfüllt sei. Karl-Heinz Biernat entwickelte in der Einleitung eine von der führenden Rolle der K P D geprägte, straff geleitete und deutschlandweit mit Verbindungen in andere europäische Länder agierende Organisation, die ihre Direktiven aus Moskau entweder über das Radio oder über Beauftragte des ZK empfangen haben sollte. Auf die »Kundschaftertätigkeit« wurde nur allgemein eingegangen. Es fehlten die Namen der Nachrichtendienste und ihrer Protagonisten. Bei Julius Mader, der sich mit Veröffentlichungen über deutsche Nachrichtendienste in der NS-Zeit und deren personelle Kontinuitäten in der Bundesrepublik
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einen Namen gemacht hatte, geriet die Geschichte der »Rote Kapelle« zu einem Thema antifaschistischer Spionageliteratur. 4 6 Er übernahm, wo ihm die Quellen fehlten, Passagen aus westlichen Veröffentlichungen, nur mit umgekehrtem Deutungsmuster. Sowohl bei Biernat wie auch bei Mader blieben Fragen nach den Ursachen für die Preisgabe der Berliner Widerstandsgruppe durch das fahrlässige Verhalten der sowjetischen Nachrichtendienste weiterhin tabuisiert. Die Berichte von Alexander Korotkow, in den fünfziger Jahren der Verbindungsmann des K G B zum MfS und 1961 in Moskau verstorben, über seine Gespräche mit Arvid Harnack, Harro Schulze-Boysen, Adam Kuckhoff und anderen deutschen Informanten blieben ebenso unter Verschluß wie die Funksprüche des Agenten »Kent« nach dessen Besuch bei Harro Schulze-Boysen im November 1941 in Berlin. Die Widerstandstätigkeit der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation rückte jetzt mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit der D D R Im Rahmen der »antifaschistischen Traditionspflege« erhielten Straßen, Schulen, FDJ- und Pionierorganisationen, Brigaden aus Betrieben und Institutionen und Einheiten der Nationalen Volksarmee Namen von hingerichteten Mitstreitern aus der »Roten Kapelle«. Die Frauen und Männer, die sich in ihrem Wirken vom »Patriotismus« und »proletarischem Internationalismus« leiten gelassen hatten, wurden in die Reihen der »Sieger der Geschichte« aufgenommen. 4 7 Sie erfuhren in der D D R - der Antifaschismus war zugleich Staatsdoktrin und Machtlegitimation - eine hohe moralische Wertschätzung. Die Erinnerungsberichte von Greta KuckhofP 8 und Elfriede Paul49 bildeten aufgrund ihrer persönlichen Sicht ein Gegengewicht zu der geschichtsoffiziellen Verzeichnung der Widerstandsgruppen. Allerdings trugen auch sie Zeichen von Selbstzensur. Als das MfS erfuhr, daß der Militärverlag die Erinnerungen von Elfriede Paul veröffentlichen wollte, versuchten Vertreter des Ministeriums noch darauf Einfluß nehmen. 5 0 Dies gelang jedoch nur noch teilweise, weil die Drucklegung kurz bevorstand. Greta Kuckhoff weigerte sich, in einer Fernsehdokumentation einen Text zu sprechen, der nicht ihren Erfahrungen und ihrem Wissen entsprach. 5 1 Sie gab noch einmal zu bedenken, daß die Rolle der Partei als führender Kraft erst nach 1945 hineingetragen wurde. 5 2 Auch bei dem viel beachteten Defa-Film »klk an ptx die Rote Kapelle« bemühte sich das MfS um eine Einflußnahme, die den künstlerischen Rahmen zu sprengen drohte. 5 1 Die verstärkten Bemühungen der S E D und des MfS die Geschichte der »Roten Kapelle« stärker in die Öffentlichkeit zu bringen, war auch eine Reaktion auf neue Publikationen in der Bundesrepublik und in Frankreich. Die »Welt« reaktivierte im Oktober 1966 in Artikelserien die »deutsche Spionage für Rußland« mit der eindeutigen Stoßrichtung, die Widerstandskreise um Arvid Harnack und Harro SchulzeBoysen auch weiterhin aus dem Widerstand auszugrenzen. 5 4 Noch immer wurde
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nach den Auswirkungen des Verrats auf den Kriegsverlauf gesucht. Die offizielle Reaktion in der D D R war eher verhalten. Auf den konkreten Gegenstand der Anwürfe wurde kaum eingegangen, sondern die deutschen Antifaschisten kurzum zu nationalen Helden erklärt. 5 5 Der französische Publizist Gilles Perrault leitete 1967 mit seinem Buch über die »Rote Kapelle« im Westen einen Perspektivwechsel ein. Für ihn war die nachrichtendienstliche Tätigkeit ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen die deutsche Besatzungsmacht und zur Überwindung der Hitler-Diktatur. 5 6 Er bezog ausdrücklich die deutschen Widerstandskreise ein. Das antifaschistische Spionagemilieu faszinierte den Franzosen. Auch für Perrault war die Berliner Gruppe Teil eines sowjetischen Nachrichtennetzes. Er hatte Sympathie und Respekt vor den Deutschen, die zu einer Zusammenarbeit mit den Russen gegen ihre eigene Regierung bereit gewesen waren. Das Buch von Gilles Perrault erschien nicht in der D D R Der Spiegelredakteur Heinz H ö h n e erzählte 1968 die Geschichte des sowjetischen Spionageringes »Rote Kapelle« aus der nachrichtendienstlichen Perspektive. 5 7 Daraus entstand ein Buch mit dem Anspruch, »die wahre Geschichte der Roten Kapelle zu erzählen ... befreit von den Selbstrechtfertigungen ihrer Akteure.« 5 8 Über 500 Funksprüche sollen seinen Angaben nach aus Berlin nach Moskau gesendet worden sein. Sie wurden jedoch von Sandor Rados Funkern aus der Schweiz nach Moskau gesendet. 5 9 Ein siebenteiliger Fernsehfilm folgte der Linie des Buches von Höhne. Die Mitte der siebziger Jahre von Patrick Rothmann verfaßten Memoiren von Leo Trepper 6 0 , einem wichtigen Agenten des sowjetischen militärischen Nachrichtendienstes in Belgien und Frankreich in den Jahren 1938 bis 1942, vermitteln die Sicht eines früheren sowjetischen Nachrichtendienstoffiziers. Seine Behauptung, daß ständig Informationen von Berlin über Funkstellen in Belgien und Holland nach Moskau geflossen seien, widerspricht ebenso der historischen Realität wie seine Feststellung, daß in Berlin drei Funkstellen für den sowjetischen militärischen Nachrichtendienst (GRU) gearbeitet hätten und daß Harnack und Schulze-Boysen Agenten der GRU gewesen seien. 6 1 Der C I A brachte im Jahre 1979 seine Version der Geschichte der »Roten Kapelle« heraus. 6 2 Hierin finden sich ohne jeglichen Hinweis auf Quellen völlig neue Gruppen und Länder in einer immer weiter ausufernden Organisation wieder. Ein rechtsgerichteter Verlag veröffentlichte dieses Buch mit einigen Änderungen bereits ein Jahr zuvor in der Bundesrepublik. 6 3 Mitte der achtziger Jahre veröffentlichte der Historiker Heinrich Scheel, ein Mitstreiter aus der »Rote Kapelle« und mit Forschungen zum deutschen Jakobinimus hervorgetreten, Artikel zum Selbstverständnis der Widerstandskreise um Schulze-
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Boysen und Harnack. 6 4 Im Jahre 1987 wurde unter seiner Leitung eine Forschungsgruppe an der Akademie der Wissenschaften der D D R gegründet, die sich mit Forschungen zur Geschichte dieser Widerstandsgruppierung begann. Mit der 1987 erfolgten Einbeziehung der Berliner Widerstandskreise in die ständige Ausstellung Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße begann eine Neubewertung der »Rote Kapelle« in der Bundesrepublik. 6 5 Die eng mit der politischen Entwicklung der Nachkriegsgeschichte verwobenen Deutungsmuster von Spionage und Landesverrat auf der westlichen Seite und von der sich an den Beschlüssen der Führung der K P D in Moskau orientierenden Widerstandsorganisation sowie einer Kundschaftergruppe für die Sowjetunion auf der östlichen Seite hatten sich als Fehlinterpretationen erwiesen.
A nmerkungen 1 Vgl. Peter Kollewe: Ein »Stolperstein der Geschichte«. Erinnerung an Harro Schulze-Boysen und Erwin Gehrts im Foyer der Treuhandanstalt: In: Neues Deutschland vom 11.2.1993; Ausstellung in der Treuhand über Widerstandsgruppe »Rote Kapelle«: In: Welt am Sonntag vom 14.2.1993. 2 Vgl. B o d o Mrozek: Postume Gerechtigkeit. Eine Ausstellung im Bundesfinanzministerium erinnert an Harro Schulze-Boysen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seite, 27.12.1999. 3 Vgl. Regina Griebel, Marlies Coburger, Heinrich Scheel: Erfaßt? Das Gestapo-Album zur Roten Kapelle. Eine Fotodokumentation, Halle 1992. 4 Vgl. National Archives Washington, OSS-Archives, Record-Group 319, IRR-Box 5960, Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD über die Aufrollung der kommunistischen Spionage- und Hochverratsorganisation im Reich und in Westeuropa - »Rote Kapelle«, IV A 2 - B.Nr. 330/42 gRs. Jürgen Danyel konnte den nur in wenigen Exemplaren gefertigten Bericht erstmals 1991 in Washington einsehen. In deutschen Archiven existieren nur Abschriften. Siehe Bundesarchiv Koblenz; R 58, Bd. 1131. 5 Vgl. Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Hrsg. von Hans C o p p i , Jürgen Danyel, Johannes Tuchel, Berlin 1994; Johannes Tuchel: Das Ende der Legenden. Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstands gegen das NS-Regime. Hrsg. von Gerd R Ueberschär, Köln 1994; Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus. Genese, Selbstverständnis und ordnungspolitische Vorstellungen der Widerstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen. In: Widerstand und Nationalsozialismus. Hrsg. von Peter Steinbach, Johannes Tuchel, Bonn 1995; Hans C o p p i : Die »Rote Kapelle« im Spannungsfeld von Widerstand und nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Der »Trepper-Report«: In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 44, 1996, Heft 3. 6 Zu Harro Schulze-Boysen siehe Hans C o p p i : Harro Schulze-Boysen - Wege in den Widerstand. Eine biographische Studie, Koblenz 1995; Dieser Tod paßt zu mir. Harro SchulzeBoysen - Grenzgänger im Widerstand, Briefe 1915 bis 1942. Hrsg. von Hans C o p p i , Geertje Andresen, Berlin 1999.
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7 Vgl. Werner Krauss: PLN. Die Passionen der halykonischen Seele, Berlin 1980. 8 Einige Flugschriften sind veröffentlicht. Vgl. J o h n Sieg. Einer von Millionen spricht. Skizzen, Erzählungen, Reportagen, Flugschriften. Hrsg. von Helmut Schmidt, Berlin 1989; Hans C o p p i : Harro Schulze-Boysen. In: Was aus Deutschland werden sollte. Konzepte des Widerstands, des Exils und der Alliierten. Hrsg. von Reinhard Kühnl, Eckart S p o o , Heilbronn 1995; Harro Schulze-Boysen: Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk. In: Widerstand in Deutschland 1933-1945. Ein historisches Lesebuch. Hrsg. von Peter Steinbach, Johannes Tuchel, München 1994. 9
Diesen Eindruck gewann Alexander Korotkow aus Gesprächen mit Harnack, die er Ende 1940/ Anfang 1941 führte. Siehe Bericht von Korotkow über ein Treffen mit Harnack v o m 17.1.1941. In: Dossier Arvid Harnack, Archiv des Auslandsnachrichtendienstes Moskau, Akte Nr. 34118, Bd. 1, Bl. 113.
10 Vgl. Boris Chawkin, Hans C o p p i , Jurji Zorja: Russische Quellen zur Roten Kapelle. In: Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Hrsg. von Hans C o p p i , Jürgen Danyel, Johannes Tuchel, Berlin 1994, S. 136. 11 Vgl. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (künftig: BArch), N 2506, XI/27-5, Bl. 60/61, Nachlaß Greta Kuckhoff. 12 Vgl. BArch, V 241/3/17, Bl. 3 8 4 1 , Greta Kuckhoffi Rote Kapelle, Oktober 1945. 13 Vgl. BArch, N 2506, XI/27-5, Bl. 131, Nachlaß Greta Kuckhoff. 14 Vgl. Schulze-Boysen/Harnack-Prozeß. In: Der Tagesspiegel v o m 8. 6. 1946. 15 Vgl. BArch, DY 56/V/241/3/17, Bl. 21. Aktennotiz von Hans Seigewasser mit Franz Dahlems handschriftliche Bemerkungen vom 21.6.1946. 16 Vgl. Greta Kuckhoff: Adam Kuckhoff zum Gedenken. Novellen Gedichte Briefe, Berlin 1946; Elsa Boysen: Harro Schulze-Boysen. Das Bild eines Freiheitskämpfers, Düsseldorf 1947; Klaus Lehmann: Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack. Männer und Frauen des illegalen antifaschistischen Kampfes, Berlin 1948; Elfriede Brüning: Damit Du weiterlebst, Halle 1949. 17 Vgl. Friedrich Lenz: In memoriam Arvid Harnack. In: ders.: Wirtschaftsplanung und Planwirtschaft, Berlin 1948; Adolf Grimme: Widerstand vom Geiste her. In: Die Sammlung II, Heft 10; Elffiede Paul: Frauen aus der Widerstandsbewegung. In: Aufbau, 1947, Heft 2; Axel von Harnack: Arvid und Mildred Harnack. In: Die Gegenwart, 1947, Nr. 26/27. 18 Vgl. Greta Kuckhoff: »Rote Kapelle«. In: Aufbau, 1948, Heft 1. Greta Kuckhoff führt eine nicht näher bezeichnete »Arbeit mit den Sendern« an. Vgl. Lehmann, a.a.O., S. 15 f.: »Der Krieg im Äther spielte im letzten Krieg eine große Rolle. Auch die Widerstandsorganisation Schulze-Boysen/Harnack hat versucht mit ihren Sendungen das deutsche Volk von der Aussichtslosigkeit und dem Verbrechen des Krieges zu überzeugen.« Ähnlich setzt Günther Weisenborn in seinem 1946 aufgeführten Drama »Die Illegalen« das Senden künstlerisch in eine Radiosendung um, die sich an die deutsche Bevölkerung richtet. 19 Vgl. Hans Rothfels: The German Opposition to Hitler, Illinois 1948, S. 12. 20 Vgl. Allen Welsh Dulles: Germany's Underground, New York 1947, S. 100 f. 21 Vgl. National Archives Washington, O S S Archives, RG 319, ZA 020253, Box 59 und 60. 22 Vgl. Heinz Felfe: Im Dienst des Gegners. 10 Jahre Moskaus Mann im B N D , H a m b u r g / Zürich 1986, S. 264. 23 Vgl. Niedersächsisches Staatsarchiv Hannover, Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Lüneburg (1 Js 16/49), gegen den ehemaligen Generalrichter der Luftwaffe, Dr. Manfred Roeder, wegen Aussageerpressung.
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24 Vgl. Das Geheimnis der Roten Kapelle. In: Fortschritt, 1951, Nr. 45 - 51; »Die Katze im Kreml« war die Titel-Story der ersten Ausgabe der Illustrierten »Kristall« im Dezember 1950; Rote Agenten mitten unter uns. Ein Bericht über das sowjetische Spionagenetz von der »Roten Kapelle« bis zur Agentenschule Potsdam. In: Der Stern, 1951, Nr. 18 - 26. 25 Vgl. Manfred Roeder: Die Rote Kapelle. Europäische Spionage. Hamburg 1952, S. 27. 26 Vgl. Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, München 1964, S.109 (Erstauflage 1954) 27 Vgl. Günter Weisenborn: Der lautlose Aufstand, Taschenbuchausgabe Hamburg 1962, S. 23. 28 Vgl. Margrit Boveri: Der Verrat im 20. Jahrhundert, Hamburg 1956, S. 62. 29 Vgl. Hans Rothfels: Die deutsche Opposition gegen Hitler, Frankfurt/Main 1960, S. 17. 30 Vgl. Elke Steiner: Karl Barth und die »Rote Kapelle«: In: Standpunkt, 1983, Heft 8. 31 Vgl. Weisenborn, Der lautlose Aufstand, S. 193. 32 Vgl. Stefan Hermlin: Wir sind die erste Reihe, Berlin 1951 (mit biographischen Skizzen zu Walter Husemann, J o h n Sieg und Walter Husemann); siehe ferner Helden des Widerstands gegen Faschismus und Krieg, Berlin 1952; Erkämpft das Menschenrecht. Lebensbilder und letzte Briefe antifaschistischer Widerstandskämpfer. Hrsg. von Heinz Schumann, Gerda Werner, Berlin 1958. 33 Vgl. Walter Ulbricht: Zur Geschichte der Neuesten Zeit, Bd. 1, Berlin 1955; S. 2 2 f ; Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung. Hrsg. vom Ministerium für Nationale Verteidigung, Berlin 1957; Walter A. Schmidt: Damit Deutschland lebe, Berlin 1958. Das Quellenwerk zum deutschen Widerstand von W A . Schmidt bezieht sich vor allem auf die Schrift von Lehmann, a.a.O., Berlin 1948. Auf die 1954 von Günther Weisenborn im »Lautlosen Aufstand« erschienene Darstellung der Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe wird nicht eingegangen. 34 Vgl. S.Milin, T. Fetissow: C o r o ruft Moskau. In Nedelja, 1965, Nr. 1 bis 3. 35 Vgl. Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Band 5: Von Januar 1933 bis Mai 1945. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leininismus beim Zentralkomitee der S E D Berlin 1966, S. 280 f., 310 f. 36 Vgl. BArch, N 2506, XI/27-5, Bl. 257, Nachlaß Greta Kuckhoff. 37 Vgl. Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Band 5, S. 281. 38 Vgl. Archiv des Beauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (künftig: BStU), Forschungsvorgang (künftig: FV) 98/66, Band 322, Bl. 74, Abteilung Agitation an Minister Mielke. 39 Vgl. BStU, MfS HA IX/11, Nr. 10659, Bericht über die geleistete Arbeit der Hauptabteilung IX/11 im Jahre 1967, abgedruckt bei Dagmar Unverhau: Das »NS-Archiv« des Ministeriums für Staatssicherheit, Münster 1998, S. 203 f. 40 Vgl. Johannes Tuchel: Das Bild der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« in der Überlieferung des Ministeriums für Staatssicherheit. Vortrag in Seattle am 12.10.1998. Vgl. auch Harro Schulze-Boysen: » D o c h es war die rechte Front«. Die Schulze-Boysen/HarnackOrganisation im antifaschistischen Widerstandskampf. Dokumentation der Presseabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin 1986. 41 Vgl. BStU, HA IX/11 FV 98/66, Band 320, Bl. 220. Mitte der 80er Jahre erhielt das I M L einen Extrakt der Sammlung, die jetzt im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde einsehbar ist. 42 Vgl. BArch DY 3 0 / IV A 2/9-07/ 370. 43 Vgl. Neues Deutschland v o m 23.12.1969. Die Ausgezeichneten wurden mit einem Foto und einer Kurzbiographie gewürdigt. Mit dem Rotbannerorden: Arvid Harnack, Harro
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Schulze-Boysen, Adam Kuckhoff, Hans Heinrich Kummerow, Ilse Stöbe. Mit dem Orden des Vaterlandischen Krieges erster Stufe: Kurt Schulze, Kurt Schumacher, Elisabeth Schumacher, Mildred Harnack, J o h n Graudnez, Karl Behrens, Erika von Brockdorft, Ingeborg Kummerow, Albert Hößler, Günther Weisenborn. Mit dem Orden des Vaterländischen Krieges zweiter Stufe: Hans C o p p i , Hilde C o p p i , Horst Heilmann, Klara Schabbel, Else Imme, Emil Hübner, Frieda Wesolek, Stanislaus Wesolek. Mit dem Orden des Roten Sterns: Rose Schlösinger, O d a Schottmüller, Anna Krauss, Ehrhard Tohmfor, Richard Weißensteiner. 44 Vgl. Lew Besymenski: Interview mit Greta Kuckhoff, Jenseits der Front. In: Neue Zeit Moskau 1965, Nr. 19, S. 28-31; A. Lavrov: Oni srazalis s fasismom. In : Pravda, Moskva 1969, Nr. 261 vom 8.10.1969; Juri Korolkov: Gde to v germanii, Moskva 1971; V godi bolschoi woini, Moskva 1981 (eine mehr romanhafte Darstellung historischer Vorgänge); Alexander Blank: V serdce »Tret'ego Rejcha«, Wologda 1974 (in dieser mit fehlerhaften historischen Fakten versehenen Arbeit finden sich keine Quellenhinweise); Lew Besymenski: Zähmung des Taifuns, Kapitel 13, Moskva 1978; Lew Ginsberg: Borba nemezkich patriotov protiv fäschisma, Moskwa, 1987 (auch diese Arbeit stützt sich nur auf bereits publizierte Quellen). Ein Quellenstudium in sowjetischen Archiven ist auch dem Historiker Ginsberg nicht möglich gewesen. 45 Vgl. Karl Heinz Biernat/Louise Kraushaar: Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation im antifaschistischen Kampf, Berlin 1970. 46 Vgl. Alexander Blank/Julius Mader: Rote Kapelle gegen Hitler, Berlin 1979. 47 Vgl. Karl-Heinz Biernat: Patriotischer Kampf in Liebe und Treue zur Heimat des Sozialismus. In: Neues Deutschland v o m 28.10.1969; ders.: Z u m antifaschistischen Kampf der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation. In: Einheit 25, 1970, S. 763-774. 48 Vgl. Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle, Berlin 1975; Dies.: Arvid Harnack. In: Die Weltbühne 24, 1969, Nr. 44; Dies.: Hans-Heinrich Kummerow. In: Ebenda, Nr. 48; Dies.: Das letzte Lied. In: Die Weltbühne 25, 1970, Nr. 2. 49 Vgl. Elfriede Paul: Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle, Berlin 1981. 50 Vgl. BStU, SV 23/80, Band 1, Bl. 11 ff. Aktennotiz vom 12.9.1980, Hinweise zum Manuskript: Elfriede Paul »Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle« v o m 22.9.1980. 51
»Überführt der gerechtesten Sache ...« von Heinz Grote und Gerhard Bombal, 1971 aufgeführt. Greta Kuckhoff beschwerte sich Anfang Mai 1970 bei Werner Lamberz über dieses Vorgehen. Diesen Hinweis verdanke ich Frederique Dantonel.
52 Vgl. BStU, Zentralarchiv 13694, MfS - ZAIG, Aktennotiz von K.H. Biernat vom 21.5.1970. 53 Diesen Hinweis verdanke ich ebenfalls Frederique Dantonel. Das Drehbuch des 1971 fertiggestellten Filmes stammte von Claus und Wera Küchenmeister. Regie führte Horst E. Brandt. 54 Vgl. Winfried Martini: Deutsche Spionage für M o s k a u 1939 bis 1945. In: Die Welt vom 15., 17., 18., 19. und 27.10.1966. 55 Vgl. Lothar Berthold/Ernst Diehl: Deutsche Antifaschisten - Nationale Helden. In: Neues Deutschland v o m 29.1.1967. 56 Vgl. Gilles Perrault: L'orchestre rouge, Paris 1967 (deutsch: A u f den Spuren der Roten Kapelle, Hamburg 1969). Das in zwanzig Sprachen übersetzte Buch wurde ein großer Erfolg. G.Perrault interviewte erstmals Leopold Trepper und andere Überlebende sowie Angehörige in Frankreich und Belgien, aber auch frühere Gestapo-Beamte und Mitarbeiter der Abwehr, die im Sonderkommando »Rote Kapelle« tätig gewesen waren.
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57 Vgl. »-.. - ptx ruft moskau .-.«. In: Der Spiegel, 1968, Heft 21 bis 30. Die erste und zweite Fortsetzung schrieb Gilles Perrault, die restlichen Fortsetzungen Heinz Höhne. 58 Vgl. Heinz Höhne: Kennwort Direktor. Die Geschichte der Roten Kapelle, Frankfurt/ Main 1970. In der Taschenbuchausgabe von 1974, S.21. 59 Heinz H ö h n e beruft sich auf eine Sammlung von Funksprüchen, die der Funkhorchspezialist Wilhelm Flicke in Zinna bei Jüterbog im Herbst 1944 eingesehen und abgeschrieben haben will. Es handelt sich dabei jedoch um »die dechiffrierten Funksprüche, die Sandor Rado gegeben oder empfangen hatte. Flicke fertigte von dem ihm am wichtigsten oder am interessantesten erscheinenden Funksprüchen Abschriften an.« Siehe Bericht von Inspektor Schmid an die Schweizerische Bundesanwaltschaft v o m 5.6.1950. 365 dieser Funksprüche liegen im Bundesarchiv Bern, Rote Kapelle, Akte Hamel et consorts, 4320 (B) 1975/ 40. Vgl. auch Sandor Rado, Dora meldet, Berlin 1971. 60 Vgl. Leo Trepper: Die Wahrheit. Autobiographie, München 1975. 61 Vgl. ebenda., S. 114, 117, 127, 149 f. und 153. 62 Vgl. The Rote Kapelle. The CIA's History of Soviet Intelligence and Espionage Networks in Western Europe, 1936-1945. In: Classified Studies in twentieth-century diplomatic and military history, Washingto D.C., Library of Congress, 1979. 63 Vgl. Das Geheimnis der Roten Kapelle. Das US-Dokument 0/7708. Verrat und Verräter gegen Deutschland. Hrsg. von Gerd Sudholt, Leoni am Starnberger See 1978. 64 Vgl. Heinrich Scheel: Ein Schulungsmaterial aus dem illegalen antifaschistischen Widerstand der Roten Kapelle. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (künftig: ZfG), 32, 1984, Heft 1; ders.: Die Rote Kapelle und der 20. Juli 1944. In ZfG, 33, 1985, Heft 4. Ferner ders.: Vor den Schranken des Reichskriegsgerichtes. Mein Weg in den Widerstand, Berlin 1993. 65 Vgl. Johannes Tuchel: Zur weltanschaulichen Motivation in der Harnack/Schulze-BoysenOrganisation. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 1988, Heft 2; Peter Steinbach: Widerstandsorganisation Harnack/Schulze-Boysen. Die »Rote Kapelle« - ein Vergleichsfall für die Widerstandsgeschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 42, 1991, Heft 3.
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Verordnet - verinnerlicht - verdrängt Antifaschismus an der Saar in den Nachkriegsjahrzehnten
Als 1984 zahlreiche Veranstaltungen zum Gedenken an den Widerstand, besonders an das Attentat Graf Stauffenbergs und seiner Mitverschworenen stattgefunden hatten, trat das Meinungsforschungsinstitut Allensbach in Aktion, um Wirkungen in der Bevölkerung festzustellen. Diese waren wohl nicht zu übersehen. 1964 hatten nur 29 Prozent der Bevölkerung geurteilt, die Tätigkeit in einer Widerstandsgruppe spreche für einen Menschen. Die Umfrage im April 1985 ergab, daß nun 60 Prozent der Bevölkerung Widerstandsarbeit als eine Leistung ansehe, die »einen Menschen auszeichnet«. Es hatte sich ein sehr differenziertes Bild bei den verschiedenen Altersgruppen herausgestellt. Schließlich war festgestellt worden, daß »Gedenktage einen Sinn haben und sich deutlich im Bewußtsein der Menschen niederschlagen.« 1 Inzwischen hatte auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede am 8. Mai 1985 einen Beitrag zu einem stärkeren Verständnis für Widerstandskämpfer und Opfer der faschistischen Diktatur geleistet. Dieser Wandel in den Ansichten weiterer Bevölkerungskreise war auch der Rechten aufgefallen. Bereits im Heft 1/1985 der »Deutschen Monatshefte« tönten sie: »Im künftigen Deutschland ist für Antifaschisten kein Platz. Der Weg zur Selbstfindung der Deutschen geht über die Trümmer der KZ-Gedenkstätten.« Ähnlich mag der Berater des damaligen Kanzlers, Michael Stürmer, gedacht haben, als er 1986 formulierte: «... unter den Gespenstern der Vergangenheit wird man neuerdings auch den Antifaschismus wieder gewahr.« Er hatte die Entwicklung der Friedensbewegung und jene zehntausende Demonstranten nicht übersehen, die anläßlich des 40. Jahrestages der Befreiung von Faschismus und Krieg in Hamburg, Köln, Frankfurt und an anderen Orten auf der Straße waren. Ihm paßte die Deutung der jüngeren deutschen Geschichte durch Antifaschisten nicht. Deshalb warnte er: »Wer aber meint, daß alles dies auf Politik und Zukunft keine Wirkung habe, der ignoriert, daß im geschichtslosen Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet«. 2 Gewissermaßen synchron mit dieser Warnung agierten dann mit den Historikern Ernst Nolte, Andreas Hillgruber auch andere gegen jene »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Was in jenen Jahren 1986/87 scheinbar zurückgedrängt worden ist,
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setzte mit der ab 1990 vehement betriebenen Delegitimierung der D D R neu und verstärkt ein und verfolgte das Ziel: Verunglimpfung des Antifaschismus der Vergangenheit für die gegenwärtige und für die zukünftige Bundesrepublik Deutschland. Hatte Michael Stürmer bereits 1986 den Antifaschismus für die erwachsene Bundesrepublik, die eine »weltpolitische und weltwirtschaftliche Verantwortung« trage, als störend empfunden, so mußte der einst erst verordnete, dann gewachsene Antifaschismus in der DDR-Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht als hinderlich erscheinen. Das neue große Deutschland sollte seinen »Platz an der Sonne« ohne antifaschistische Hemmnisse angehen können. Die Hetzkampagne in den Medien, die »Säuberung« von Lehrstühlen an den Universitäten, von Geschichts- und Lesebüchern und nicht zuletzt die Versuche, KZGedenkstätten »umzudrehen«, wie am Beispiel Buchenwalds augenfällig, stehen als Beispiele für den staatlich inszenierten Anti-Antifaschismus unter dem Schlagwort: »Verordneter Antifaschismus«.
Am 1. März 1935 kehrten die Saarländer nach 15jähriger Abtrennung und Unterstellung unter ein Völkerbundsregime »heim ins Reich«. Es war das faschistische deutsche Reich, für das sie sich entschieden hatten. Ob sie wußten oder wenigstens wissen konnten, was für ein Deutschland das geworden war, in das sie nun einkehrten, darüber wird hierzulande noch heute gestritten. Richtig ist, daß die stimmberechtigten Saarländer am 13. Januar mit 90,73 Prozent der gültigen Stimmen de facto für den Anschluß an Hitler-Deutschland votiert hatten. Nur 8,87 Prozent hatten es vorgezogen, den zeitweiligen »Status quo« zu wählen. Fast zwei Jahre lang war ein nationalistisches Trommelfeuer auf die Bevölkerung niedergegangen. Mit Demagogie und Terror, mit Bestechung und Ängsten, nicht zuletzt auch mit Hilfe der Bischöfe von Trier und Speyer war es den Faschisten und ihren Helfern gelungen, die Massen auf ihren Kurs zu bringen und Bedenken zurückzudrängen. Die Faschisten und ihre Helfer - das waren jene Parteigänger der NSDAP, der DSVP, des Zentrums und anderer Gruppierungen, die sich zur »Deutschen Front« zusammengeschlossen hatten und welche die Antifaschisten als »Vaterlandsverräter« und »Franzosenknechte« brandmarkten. Mit ihrem Blockwart-Beobachtungs- und Denunziationssystem hatten sie das ganze Land überzogen. Und sie machten auch nicht Halt vor den Kindern. Theodor Balk schrieb 1934 in seinem Reportagebuch »Hier spricht die Saar - Ein Land wird interviewt«: »Ich war in kaum einem Orte an der Saar, da ein Lehrer nicht ein Spitzenfunktionär der Deutschen Front gewesen wäre ... Ich war in keinem Orte an der Saar, da mir die Kinder nicht von der Hitlerpropaganda ihrer Lehrer etwas zu erzählen hatten ...«
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Die wichtigsten Medien stellten sich in den Dienst der »Deutschen Front«, nannten sich - wie die »Saarbrücker Zeitung« - in ihrem Untertitel gar »Organ der Deutschen Front«. Die nationalistische Trunkenheit, die Übereinstimmung mit dem Regime blieb nicht die folgenden zehn Jahre auf gleicher Höhe, sondern erlebte Rückschläge und Schwankungen. Als die Nazis 1936/37 versuchten, in Bereiche der Kirche einzudringen, deren Organisationen zu isolieren oder ganz auszuschalten, gingen doch manche der zumeist katholischen Saarländer auf partielle Distanz. Als mit dem Bau des Westwalls begonnen wurde, war dann für viele Saarländer ein wirtschaftlicher Aufschwung verbunden, der sie wieder mit dem Regime versöhnte. 1938 kamen indessen Ängste auf, ob denn die Politik Hitlers gegenüber der Tschechoslowakei nicht zum Kriege und damit zur Intervention Frankreichs hier im Grenzgebiet an der Saar führen könne. Nach dem Diktat von München setzte neue Beruhigung ein. Bis zu jenen ersten Septembertagen 1939, als - nach Kriegsbeginn am 1. September und der darauf folgenden Kriegserklärung - viele Tausende Saarländer für gut ein halbes Jahr ihre Heimat verlassen mußten. Die Siege der faschistischen Militärmaschine überdeckten dann eine Zeitlang Sorgen und Ängste, schufen neue Identifizierung mit dem Regime. Die Antifaschisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, ein Teil der ehemaligen Zentrumsleute und Bürgerliche hatten sich 1934/35 den faschistischen und profaschistischen Kräften widersetzt, hatten monatelang Tag und Nacht aufgeklärt - doch die »Deutsche Front« vermochte mit ihrer zugespitzten Losung »Für Deutschland oder für Frankreich« alles zu überrollen. Zwischen sechs- und achttausend Saarländer gingen nun den schweren Weg ins Exil, meist nach Frankreich. Andere setzten den Kampf im Lande fort. Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter fanden Unterstützung durch ihre Genossen und Kollegen vom angrenzenden französischen Lothringen aus. Widerstandsgruppen bzw. ihre Verbindungen wurden immer wieder unterbrochen. Dafür sorgten Verhaftungen durch die Gestapo, die Einberufung in Arbeitsdienst oder Wehrmacht, die Entlassung tausender Berg- und Hüttenarbeiter und ihre Dienstverpflichtung in andere Industriereviere Deutschlands. Große Verhaftungs- und Prozeßwellen trafen die illegale K P D sehr schwer: 1936 wurden Haftstrafen von insgesamt 72 Jahren Zuchthaus und Gefängnis gegen 25 Männer und Frauen ausgesprochen, 1938 Haftstrafen von insgesamt 101 Jahren Zuchthaus und Gefängnis gegen 24 Frauen und Männer. In den Jahren 1935 und 1936 kam es auch zu Verhaftungen ganzer Parteigruppen in den verschiedenen Regionen des Saargebietes. Ab 1940 holten Gestapo, SD und Wehrmacht dann jene kommunistischen und sozialdemokratischen Funktionäre ein, die nach der Beset-
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zung Frankreichs erst von der Vichy-Regierung interniert, dann den faschistischen Häschern ausgeliefert wurden. Todesurteile, hohe Zuchthausstrafen, Einlieferung in Konzentrationslager waren nun die Racheakte der NS-Justiz und der Gestapo. Andere hatten sich im Lande selbst halten können, ein weiterer Teil nahm in Frankreich an der Seite der Resistance an den Kämpfen um die Befreiung vom Faschismus teil, und wiederum andere kämpften in den KZ und Zuchthäusern ums eigene Überleben und um das ihrer Leidensgefährten.
In den Tagen vom 14. bis 21. März 1945 besetzten US-Truppen das Land an der Saar. Sie setzten Antifaschisten oder Nicht-NSDAP-Mitglieder als Bürgermeister ein und nahmen führende Nazis fest, so sie ihrer habhaft werden konnten. Das gesellschaftliche Leben mußte neu organisiert werden. Die Zerstörungen in den Städten und Dörfern, in den zerbombten oder gesprengten Industriebetriebe, von Brücken, Verkehrswegen und Versorgungseinrichtungen waren enorm, die Verstörung in den Köpfen der Menschen, die mehrheitlich den Nazis gefolgt waren, war nicht minder hoch zu veranschlagen. Den Antifaschisten, die aus der Illegalität hervortraten, aus dem KZ zurück kamen und jenen Menschen, die sich dem Druck und den Verlockungen der Faschisten versperrt hatten, oblagen nun große Aufgaben. An die Saar kehrten im Verlaufe des Jahre 1945 die meisten nach Frankreich exilierten Landsleute zurück und verstärkten das antifaschistische Potential »vor Ort«. Denen mußte Antifaschismus nicht verordnet werden. Wohl aber jenen den übriggebliebenen Nazis, den Mitläufern, den Orientierungslosen, der Jugend. Mit der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands, mit dem Potsdamer Abkommen und den Befehlen des Alliierten Kontrollrates waren nun Zug um Zug die neuen Rahmenbedingungen für das Leben, für Reparationen, Wiedergutmachung, für den Aufbau in allen Bereichen gegeben. Für die französische Besatzungszone verkündete der Oberkommandierende General König die notwendigen Befehle und Anordnungen. Das Abkommen von Potsdam, obwohl Frankreich nicht an der Konferenz beteiligt war, und die Kontrollratsbeschlüsse bildeten hierfür die Grundlage. Im Saarland selbst war es der Militärgouverneur Gilbert Grandval, der mit seinen Kreis- und Orts-Kommandanten und weiteren Verantwortlichen für deren Durchsetzung sorgte, sie mit weiteren Erlassen ergänzte oder konkretisierte. Hunderte Funktionäre der NSDAP und ihrer Gliederungen wurden inhaftiert und in Lagern eingesperrt, in denen bis zur Befreiung Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter hatten vegetieren müssen. Solche Maßnahmen dienten gewiß zuerst der militärischen Absicherung des nun befreiten und besetzten Gebietes, waren aber zugleich Voraussetzung für einen neu-
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en Ansatz politischen Lebens. Später überschnitten sich die antimilitaristischen und antifaschistischen Maßnahmen und Anordnungen mit jenen, die von der Absicht der herrschenden Kreise Frankreichs getragen waren, die Region an der Saar vom einheitlichen Deutschland und aus der französischen Zone loszulösen und in ein Sonderverhältnis zu Frankreich zu bringen. Bereits am 4. Mai 1945 war ein Regierungspräsidium Saarbrücken eingerichtet worden, dem nach der offiziellen Zulassung der Parteien und Gewerkschaften sofort ein »konsultativer Ausschuß« als Beratungsgremium zugeordnet wurde. Es setzte sich aus je zwei Vertretern der »christlich-sozialen Partei«, der »sozialistischen Partei«, der »kommunistischen Partei« und »der Gewerkschaft« zusammen. Vertreter dieser Parteien stellten sich im Herbst 1945 in öffentlichen Veranstaltungen der Saarbevölkerung vor. Sie traten gemeinsam auf, wenn auch noch nicht als Parteivertreter ausgewiesen, doch als solche bekannt und anerkannt. Am 27. Oktober 1945 sprachen in einer »ersten öffentlichen demokratischen Kundgebung: Fritz Nickolay, Peter Zimmer, Johannes Hoffmann«. Am 21. März 1946 waren die gleichen Redner aufgeboten zu einer Kundgebung »zur Feier des ersten Jahrestages der Saar-Befreiung«. A u f rufer waren: Christliche Volkspartei des Saarlandes (CVP) deren Vorsitzender Johannes Hoffmann war, die Sozialdemokratische Partei Saar (SPS), für die Peter Zimmer sprach, und die Kommunistische Partei Saar-Nahe, deren Vorsitzender Fritz Nickolay war. Auch die »Einheitsgewerkschaft der Arbeiter, Angestellten und Beamten« hatte zu dieser Kundgebung aufgerufen, bei der die Parteienvertreter die Erfahrungen der saarländischen Geschichte (Abstimmung 1935) streiften und Aufgaben der Gegenwart behandelten. Da gab es schon einen antifaschistischen Konsens, der an dem gemeinsamen Widerstand gegen die Nazis anknüpfte und zugleich übereinstimmende Positionen in vielen Fragen der Gegenwart und Zukunft des Landes offenbarte. Dafür steht auch eine Veranstaltung, zu welcher der »Antifaschistisch-demokratische Aktions-Ausschuß« für den 3. Dezember 1945 aufgerufen hatte. Hier traten der Kommunist August Hey, der Katholik Johannes Hoffmann und der Sozialdemokrat Peter Zimmer als Redner auf Hey war der von der Militärregierung eingesetzte Bürgermeister von Dudweiler, Johannes Hoffmann der spätere Vorsitzende der CVP und Ministerpräsident, und Peter Zimmer der spätere Landtagspräsident und Oberbürgermeister von Saarbrücken. Durch antifaschistische Gemeinsamkeiten war in der Anfangszeit auch die »Neue Saarbrücker Zeitung« von der Zusammensetzung ihrer verantwortlichen Redakteure wie von den dort vertretenen Inhalten bestimmt. Johannes Hoffmann, Peter Zimmer und Hermann Burkhardt (KP) repräsentierten die Parteien in der Chefredaktion des Blattes, das seinem Namen das Wörtchen »Neue« voranstellen mußte. In ihrer Nr. 4 vom 11. September 1945 stellte die »Neue Saarbrücker Zeitung« in
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einem Leitartikel ihre Position unter dem Titel »Rettung durch uns selbst« dar. Da hieß es u.a., die militärische Vernichtung des Nationalsozialismus sei das Werk der Alliierten gewesen, »seine geistige Überwindung aber muß durch das Volk selbst geschehen. Durch die rasche Liquidierung der noch verbliebenen Überreste des Nationalsozialismus kann das Volk beweisen, daß es den Weg zur Demokratie beschreiten will. Auf eine praktische Formel gebracht lautet das: Die noch verbliebenen Nazis müssen aus dem öffentlichen Leben schleunigst verschwinden ... Die Schuldigen ... dürfen einer strengen und gerechten Strafe nicht entgehen ...« Die Zeitung selbst beteiligte sich an der »geistigen Überwindung« durch Artikel, Berichte, Meldungen, Kommentare über die Konzentrations- und Vernichtungslager, über die Prozesse, die gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg, vor dem französischen Militärtribunal in Rastatt, oder an anderen Orten - z.B. auch in Saarbrücken - durchgeführt wurden, so gegen den Völklinger Schwerindustriellen Hermann Röchling und weitere Angeklagte, gegen die Mannschaften des Sonderlagers »KZ Neue Bremm«, wobei 14 Angeklagte zum Tode verurteilt und erschossen wurden, gegen die Wachmannschaft des Arbeitserziehungslagers Etzenhofen (das zum Röchling-Bereich gehört hatte) oder auch gegen jene Nazi-Schergen, die am 8. Und 9. November 1938 in den verschiedenen Orten des Saarlandes Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Mitbürger mißhandelt und terrorisiert hatten. Ehemalige saarländische Häftlinge der KZ veröffentlichten Berichte über ihren Lebens- und Leidensweg und den vieler anderer, die in Zuchthäusern und KZ umgebracht worden waren. Natürlich wurden damals die Verlautbarungen der Militärregierung veröffentlicht, Verordnungen und Anordnungen. Ferner berichtete die Presse über die Ingangsetzung der Betriebe, die Beseitigung der materiellen Trümmer, das Wirken der per Anordnung eingesetzten kommunalen Verwaltungen. Im Saargebiet der Jahre 1945/1946 wurden die wichtigsten Konzernbetriebe unter Sequesterverwaltung gestellt. D a z u gehörten im Juli 1945 die Röchling'schen Eisen- und Stahlwerke in Völklingen, dann die Neunkircher Eisenwerke, vormals Gebr. Stumm und im Januar 1946 die Saargruben AG. (Die AG der Dillinger Hüttenwerke, ARBED-Burbach und die Brebacher Hütte waren lange schon mehrheitlich in französischem Kapitalbesitz gewesen.) In Banken und Sparkassen waren französische Kommissare eingesetzt worden. Ihre Vorstellungen über die weitere Entwicklung der Wirtschaft machte die saarländische Sozialdemokratie in einem Artikel der »Neuen Saarbrücker Zeitung« v o m 11. April 1946 deutlich: »... Die saarländischen Sozialdemokraten sind der Meinung, daß die Kräfte der Reaktion und des Nationalsozialismus nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen Sektor für immer dadurch beseitigt werden können, daß die sozialistische Planwirtschaft, die die Kriegsursachen beseitigt, an die
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Stelle der kapitalistischen Profitwirtschaft treten muß, die immer ein Feind des Friedens war ...« Und sie setzte in ihrer Parteizeitung »Volksstimme« am 12. November 1946 diese Argumentation fort. Unter dem Titel »Entnazifizierung der Wirtschaft sozialdemokratisch gesehen«, der als Aufmacher erschien, wurde geschrieben: »... Die kapitalistische Wirtschaftsordnung war die ökonomische Grundlage, auf der der Nationalsozialismus sein politisches Herrschaftssystem aufbauen konnte. Die expansionistischen Tendenzen der deutschen Wirtschaft bestimmten die Politik des nationalsozialistischen Staates ... Beide: nationalsozialistischer Staat und kapitalistische Wirtschaftsordnung haben so viel Schuld auf sich geladen, daß nicht eine der beiden Ordnungen allein dafür verschwinden muß. Sie müssen beide ausgerottet werden, wenn die Gefahr, die sie mit ihrer bloßen Existenz darstellen, nicht weiter bestehen soll. Wer den Nationalsozialismus beseitigen will, muß auch das wirtschaftliche und gesellschaftliche Gebäude des Kapitalismus stürzen helfen ...« Da gab es Deckungsgleichheit mit den Auffassungen der Kommunisten und den Forderungen der Einheitsgewerkschaft. Erste Zusammentreffen zur Wiedergründung der Gewerkschaften gab es an der Saar schon ab dem 22. April 1945. Bergarbeiter, Bauarbeiter, Hütten- und Metallarbeiter, Eisenbahner usw. schufen ihre Gewerkschaften und den Dachverband »Einheitsgewerkschaft«. Es wurde damals so verfahren, wie es in der »Neuen Saarbrücker Zeitung« am 24. November 1945 dargestellt war: «... Der Aufbau der Gewerkschaften erfolgt parteipolitisch und religiös neutral, auf freier demokratischer Grundlage unter paritätischer Zusammensetzung aller Organe der Gewerkschaft, d.h. die früheren Gewerkschaftrichtungen sind in der gesamten Verwaltung paritätisch vertreten. Insofern hat die Demokratie Grenzen, als alle Funktionäre, ob Betriebsrat oder Vorstandsmiglied, politisch einwandfrei, d.h. Antifaschisten sein müssen ...«
Nicht alles überließ die Militärregierung den von ihnen eingesetzten Bürgermeistern. Die »Entnazifizierung« wurde verordnet, »Säuberungsausschüsse« wurden eingerichtet. Und auch die im Oktober 1946 eingesetzte »Verwaltungskommission« für die Saar handelte in vielen wichtigen Fragen »gemäß Anordnung der Militärregierung«, wie es in den Amtsblättern der Verwaltungskommission hieß. In einer »Rechtsanordnung zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus« vom 15. April 1947 wurde auf entsprechendes Mandat der französischen Militärbehörden Bezug genommen und in Artikel 1 betont: »Der Zweck des vorliegenden Gesetzes ist: a) die Nationalsozialisten, Militaristen und Industriellen, die das nationalsozialistische Regime gefördert und unterstützt haben, zu bestrafen, b) die nationalsozialistischen und militaristischen Organisationen dadurch völlig und dau-
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ernd zu vernichten, daß die maßgebenden Mitglieder der nationalsozialistischen Partei und die Anhänger ihrer Lehre in ihrer persönlichen Freiheit oder Handlungsfreiheit beschränkt werden.« 3 Allerdings hatten eine Reihe Maßnahmen schon früher eingesetzt. Im November 1945 hatten sich die ehemaligen NSDAP-Mitglieder registrieren lassen müssen. Im gleichen Monat waren alle Buchhandlungen und Privatpersonen aufgefordert worden, »alle Werke militärischen, politischen und rassistischen Inhalts« usw. abzuliefern: »Nichtbefolgung bedeutet einen Verstoß gegen die Anordnungen der Militärregierung und wird entsprechend geahndet«. Als im Sommer 1946 die ersten Kommunalwahlen vorbereitet wurden, erließ der französische Oberkommandierende in Deutschland seine Verordnung Nr. 45, in der unter II, Artikel 8 bestimmt wurde, welche Nazi-Chargen von der Eintragung in die Wählerlisten auszuschließen sind. Eine ergänzende Verfügung vom 29. Mai 1946 listete im Artikel 1 alle jene NS-Organisationen und die Funktionen auf, denen eine »Unfähigkeit bezüglich der Eintragung in die Wählerlisten der Gemeinden« bescheinigt wurde. Mehr den Okkupationsinteressen Frankreichs denn einer Entnazifizierung dürften allerdings jene Ausweisungen geschuldet sein, die ab Juli 1946 einsetzten. Aus dem Saarland wurden 1946/1947 1.820 Personen ausgewiesen, die »Nicht-Saarländer« waren oder der französischen Saarpolitik als hinderlich erschienen. Von ihnen waren ein Teil »NSDAP-Beamte«, SS-Angehörige und andere »Verdächtige«. 4 Die drei Parteien wandten sich gemeinsam gegen die Ausweisungspraxis der Militärregierung, mußten sie doch erfahren, daß auch bekannte Antifaschisten ausgewiesen wurden wie Bürgermeister August Hey und der Vorsitzende des Industrie-Verbandes Bergbau der EG, Oskar Müller, die beide der Kommunistischen Partei angehörten. Bis 1950 wurden einem Großteil der Ausgewiesenen die Rückkehr an die Saar wieder erlaubt, im Mai 1950 aber erneute Ausweisungsbefehle gegen kommunistische Gewerkschaftsfunktionäre erlassen. Nach dem Stand von Juli 1947 waren 657 Personen interniert worden, die meist führende Funktionäre der N S D A P und ihrer Gliederungen oder auch Angehörige der Gestapo und des SD gewesen waren. 5 »Gesäubert« wurden damals tausende Angehörige der verschiedenen Bereiche des öffentlichen Dienstes, des Erziehungswesens, der öffentlichen Verwaltung, der Post, des Justizdienstes. Die Amtsblätter listeten in vielen Ausgaben hunderte von Namen auf, verbunden mit der Angabe des Geburtsdatums, der Dienststellung und der jeweiligen Behörde. Sie gaben an, wer »1. entlassen, 2. in den Ruhestand versetzt, 3. versetzt oder zurückversetzt, 4. mit Gehaltskürzungen (Rückstufungen) belegt, 5. nicht eingestellt, 6. unter politische Überwachung gestellt, 7. mit Bewährungsfrist belegt« worden ist.
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Bei den Saargruben waren von den 1.312 führenden Persönlichkeiten 243 zurückgestuft oder versetzt, 215 entlassen und 11 verhaftet worden. Anderen wurde das Gehalt gekürzt. 6 Bei den Völklinger Röchling-Werken waren 983 Personen überprüft worden, 12 % von ihnen wurden entlassen, gegen 35 % »mildere Sanktionen« verhängt. 55 °/o konnten ohne Sanktionen ihre Arbeit fortsetzen. Ähnliche Angaben liegen über die »Säuberungen« in den anderen Werken vor. 7 Militärgouverneur Grandval hatte im März 1946 in einer Ansprache gedroht: »Die Säuberung wird durch uns in Verbindung mit den demokratischen Parteien und Gewerkschaften durchgeführt werden. Ich warne jene Nazis, die noch ihre Stellen innehaben und die vielleicht glauben vergessen worden zu sein, daß sie nicht mit unsere Schwäche rechnen dürfen. Dagegen können die Märtyrer voll auf unsere Menschlichkeit zählen.« 8 D o c h war von Beginn der Entnazifizierung an auch das »Persilschein«-Unwesen im Gange. Das kam den beruflichen Perspektiven, der Karriere der Betreffenden und wohl auch einer gewissen Politik zugute. 1946 drängte die CVP, die bei der Kommunalwahl als stärkste Partei abgeschnitten hatte, auf die Neu-, d.h. eine Andersbesetzung der Epurations- (=Säuberungs) Ausschüsse. Dazu nahm die sozialdemokratische »Volksstimme« am 7. Dezember 1946 Stellung: «... Nach dem Andrang der ehemaligen Pgs und Militaristen auf die Rathäuser auf Grund ihrer neuen Parteizugehörigkeit kann man sich ein Bild davon machen, wie ein Entnazifizierungsausschuss nach den Wünschen der mit Pgs und Militaristen stark durchtränkten CVP aussehen würde ... Mindestens 80 % der Saarbevölkerung waren unter Hitler Nazis oder Militaristen geworden. Darum gehören in die Entnazifizierungsausschüsse nur Antifaschisten, also Gegner des Nazisystems.« 9 Johannes Hoffmann teilte in seinem Erinnerungsband »Das Ziel war Europa Der Weg der Saar 1945 - 1955« 10 mit, daß dem MRS (Mouvement pour le Rattachement de la Sarre a la France = Bewegung für den Anschluss der Saar an Frankreich) mehr als hunderttausend Mitglieder angehört hatten. Sie habe »einen Stab von ca. 5.000 Funktionären, elf durchorganisierte Kreisgruppen, vierhundert Orts- und Bezirkskomitees« gehabt und schon ab 1945 wirken können. Er fand dafür die Begündung: »Als unmittelbare Folgen eines verlorenen Krieges stehen bei der von der Besatzungsmacht abhängigen Bevölkerung zunächst die Angst um das Leben und die berufliche Existenz im Vordergrund. Hinzu kam an der Saar die Angst vor der Ausweisung durch die Militärregierung. In besonderem Maße mußten sich alle die als gefährdet und bedroht fühlen, die aktive Nationalsozialisten gewesen waren.«11 Die führenden Personen des M R S waren allerdings ausgewiesene Nazi-Gegner: Dr. Walter Sender, Fritz Pfordt, Thomas Blanc und andere. Mit den schon erwähnten »Persilscheinen« erschlichen sich manche ehemalige
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Nazis nun die Absolution. Die CVP kam diesen Bestrebungen entgegen, indem sie die ehemaligen Zentrumsleute, die 1933/1935 mit den Nazis in der profaschistischen »Deutschen Front« kollaboriert hatten, als Parteimitglieder aufnahm. Andere hatten durch ihre Mitgliedschaft im MRS ihre Bereitschaft bekundet, einem wie immer gestalteten Anschluß an Frankreich zuzustimmen und verdeutlicht, daß sie geläutert und im neuen Saarland angekommen waren. Damit war einer nachhaltigen Wirkung von »Entnazifizierungsmaßnahmen« entgegengearbeitet worden. Es kamen Amnestien hinzu, bald schon waren viele ehemalige Nazis »wieder in Amt und Würden«.
Ab 1946, nachdem Frankreichs Außenminister Bidault und auch Gouverneur Grandval öffentlich kundgetan hatten, daß das Saarland von Deutschland abgetrennt und Frankreich angeschlossen werden solle, kamen zwischen den Antifaschisten Differenzen in der nun akuten nationalen Frage auf. CVP und SPS traten für den Anschluß an Frankreich ein - die Kommunistische Partei dagegen. 1947 gab es zwar in der inzwischen einberufenen Verfassungskommission noch viele Gemeinsamkeiten und auch sachliche Kompromisse, jedoch nicht in den Fragen, die den künftigen Status des Saarlandes berührten. Das betraf zuerst und vor allem die Präambel, in der »die politische Unabhängigkeit des Saarlandes vom Deutschen Reich, die Landesverteidigung und die Vertretung der saarländischen Interessen im Ausland durch die französische Republik, die Anwendung der französischen Zoll- und Währungsgesetze im Saarland« und weitere Maßnahmen fixiert waren. Andere Verfassungsartikel, die heute noch Bestandteile des Landesverfassung sind, entstanden nach vielen Diskussionen und auch Änderungsanträgen weitgehend im Konsens, so z.B. Artikel aus dem Abschnitt »Wirtschafts- und Sozialordnung«. Hier lautet der Artikel 4 3 / 1 : »Die Wirtschaft hat die Aufgabe, dem Wohle des Volkes und der Befriedigung seines Bedarfes zu dienen«, der Artikel 45: »Die menschliche Arbeitskraft genießt den Schutz des Staates. Jeder hat nach seinen Fähigkeiten ein Recht auf Arbeit«, der Artikel 5 0 / 1 : »Dem Staat obliegen Planung und Durchführung des wirtschaftlichen Aufbaus des Landes nach Maßgabe der Gesetze«, der Artikel 51/1: »Eigentum verpflichtet gegenüber dem Volk. Sein Gebrauch darf nicht dem Gemeinwohl zuwiderlaufen.« Andere Artikel legen fest, daß »Schlüsselunternehmungen der Wirtschaft ... wegen ihrer überragenden Bedeutung für die Wirtschaft des Landes oder ihres Monopolcharakters nicht Gegenstand privaten Eigentums sein« dürfen, daß »Großunternehmen ... durch Gesetz aus dem Privateigentum in das Gemeinschaftseigentum überführt werden« können. Die Saarverfassung wurde keiner Volksabstimmung unterzogen. Bei den Wahlen am 5. Oktober 1947 hatten die Wahlberechtigten nur die Möglichkeit, zwischen den
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Parteien, die für den Anschluß an Frankreich waren (CVP, SPS und Demokratische Partei Saar = DPS) oder der Anschlußgegnerin (KP) zu wählen. So rückte in jenem Sommer/Herbst 1947 die nationale Frage an die erste Stelle. Die Saarbevölkerung unsicher über die weitere Entwicklung für und in Deutschland und unter der Drohung des Gouverneurs stehend, daß auch die Demontage von Industriebetrieben als Reparationsleistung nicht auszuschließen sei - wählte nach dem Motto, daß das »Hemd näher als der Rock« ist. Von 449.718 Stimmen erhielten die Anschlußparteien 411.807 Stimmen, die Kommunistische Partei 37.911 Stimmen. In jenen Jahren gab es in den Kommunen, in den Gewerkschaften, in vielen Organisationen und Vereinen loyale Zusammenarbeit der Antifaschisten in vielen Fragen. Das reichte von den Fragen der praktischen Aufbauarbeit, über Um- und Neubenennung von Straßen mit den Namen von Antifaschisten, über die Gestaltung einer Ausstellung »Hitlers Verbrechen« im Saarland-Museum (1946), der Ausstellung »10 Jahre Nazismus« (1947) in Neunkirchen, bis zur Gründung und der Zusammenarbeit der »Vereinigung >Opfer des Faschismus<, Bezirk Saar«, aus der später die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« wurde. Ehrenpräsident wurde Richard Kirn, der Vorsitzender der SPS und 1943 vom Volksgerichtshof zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Vorsitzender wurde Hermann Ratering, ein Mitglied der Kommunistischen Partei, Interbrigadist in Spanien und Häftling der Gestapo. Zu Stellvertretern bzw. weiteren Vorstandsmitgliedern wurden Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen und Bürgerliche gewählt. Die Gemeinsamkeit hielt in dieser Organisation bis zum Januar 1951. Da hatte offensichtlich wegen der Differenzen in der nationalen Frage - der Antikommunismus, bestärkt durch vermeintliche oder tatsächliche Zuständen in der U d S S R und der S B Z / D D R , überhand genommen. Das Verhältnis zur Sowjetunion und zur D D R war zweifellos der neuralgische Punkt, an dem Kommunisten getroffen werden konnten und zu dem sie nicht schweigen konnten. Es waren allerdings die Differenzen von außerhalb der W N , die auf sie spalterisch einwirkten. Bis dahin war in vielen Bereichen und an vielen Stellen manches erreicht worden. Dazu gehörte dann auch »Erinnerungsarbeit«. Johannes Hoffmann und seine CVP würdigten Willi Graf (Weiße Rose), die Sozialdemokraten ihren Max Braun, der 1945 vor der Rückkehr aus dem Exil in London verstorben war. Parteitage der Sozialdemokraten wie der Kommunisten sowie Gewerkschaftskongresse wurden mit dem Gedenken an die ermordeten Kämpfer aus der Arbeiterbewegung eröffnet. Erinnerungsartikel erschienen. In Völklingen wurde am 28. September 1947 ein »Ehrenmal für sämtliche Opfer des Faschismus« feierlich eingeweiht. Es war ein besonderer Tag in der Stadt und für sie, die in vielen Bereichen durch das Wirken Hermann Röchlings geprägt war. Am Morgen ertönten Choräle vom Rathausturm, anschließend begann
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zu Ehren der O d F ein Wertungssingen von 23 saarländischen Chören mit 1.800 Sängern. Ab 16 Uhr demonstrierten die verschiedenen Ortsgruppen der O d F gemeinsam mit den Sängern zu der Parkanlage, wo das Denkmal mit der Inschrift »Allen Opfern des Faschismus« eingeweiht wurde. Hier sprachen der Bürgermeister, der Vorsitzende der OdF, Hermann Ratering, und der Vertreter des Militärgouverneurs, Oberst Cogombles. Die »Saarbrücker Zeitung« berichtete am 30. September 1947, daß »Tausende von Menschen aus dem gesamten Saarland« die Anlage umsäumt hätten, um Zeuge der Einweihung zu sein. 1.200 Sänger hätten mit dem Lied »Brüder, reicht die Hand zum Bunde« die Veranstaltung eröffnet und zum Abschluß hätte »ein 800-stimmiger C h o r das Lied Beethovens: Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre« gesungen. Eine ähnliche Veranstaltung galt am 11. November 1947 der Einweihung einer Stele, die vor dem ehemaligen Lager »Neue Bremm« errichtet worden war. Gouverneur Grandval würdigte die Opfer und gab das Denkmal in die Obhut des Bürgermeisters der Stadt. In jenen Jahren entstanden in vielen Gemeinden würdige Grabanlagen, in denen ermordete oder verstorbene Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene beigesetzt wurden. Bei der »Ausländergedenkstätte« in Völklingen krönt ein großes Denkmal die Grabstätte der etwa 250 getöteten ehemaligen Sowjetbürger mit Hammer und Sichel die Anlage und informiert in kyrillischer Schrift: »Hier ruhen sowjetische Bürger, die 1941 bis 1945 durch faschistischen Terror und Hunger zugrunde gegangen sind.« Die massenhafte Teilnahme an diesen und an ähnlichen Gedenkveranstaltungen konnten schon als Symptome dafür angesehen werden, daß mehr und mehr Menschen antifaschistische Positionen verstanden und möglicherweise verinnerlicht hatten. Das läßt sich mit Gewißheit vor allem für Jugendliche sagen, die sich in der FDJ (die sich im Saarland nicht als Freie Deutsche Jugend bezeichnen durfte, sich dafür aber Freie Demokratische Jugend nannte mit den gleichen bekannten Symbolen), bei den Falken, in den Gewerkschaftsjugendgruppen oder auch in den katholischen Jugendorganisationen organisiert hatten. Daran hatten auch antinazistische Lehrer mitgewirkt. In manchen Bereichen des öffentlichen Lebens hatten Antifaschisten Positionen eingenommen, von den Kommunen, über die Regierung und die Polizei bis zur Bereitschaftspolizei »Saarbataillon«, dessen zeitweiliger Kommandeur ein Kämpfer aus der Resistance gewesen war und in dem auch einige ehemalige Interbrigadisten bzw. Maqui-Kämpfer Funktionen einnahmen. Nicht zuletzt kamen zumindest zeitweilig Gemeinsamkeiten von Antifaschisten in den Bemühungen um »Wiedergutmachung« zum Ausdruck. Es gab schon ab 1945/46 Sofort hilfemaßnahmen, danach »Verordnungen« und schließlich am 31.
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Juli 1948 ein Wiedergutmachungsgesetz. Aber gerade in der Debatte um dieses Gesetz zeigte sich, daß »Gemeinsamkeiten der Antifaschisten« nicht identisch waren mit der Bewußtseinslage der auf die Wählermassen schielenden Abgeordneten der CVP. Zwar gehörten dem 1947 gewählten Landtag (50 Mitglieder) eine beachtliche Anzahl ehemaliger Nazigegner an, die Widerstand geleistet hatten, im Exil oder/und in Zuchthäusern oder KZ inhaftiert waren, doch nahmen die Versuche zu, die Opfer des Faschismus durch »Kriegsopfer«, »Kriegsgefangene« usw. nicht nur aufzuwiegen sondern zu überdecken. Seit Mai 1950 hatten KP und FDJ unter einem generellen Versammlungsverbot, die Parteizeitung »Neue Zeit« seit ihrem Erscheinen im Jahre 1946 unter der Zensurmaßnahmen und Verboten - letztere bezogen sich auf Einzelausgaben, erstreckten sich zum Teil bis zu vier Wochen erstreckten - zu leiden. 1952 kam es zu Versuchen, »prodeutsche« Parteien zu konstituieren: eine C D U Saar, eine Deutsche Sozialdemokratische Partei (DSP). Die Demokratische Partei Saar (DPS) war schon vorher verboten worden. Sie wurden nicht zugelassen. D o c h zeigten die Ergebnisse der Landtagswahlen vom 30.11.1952 zweierlei: 1. Die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen, 381.288, fielen auf CVP und SPS mit 54,7 und 32,4 %. Die oppositionelle KP erreichte 41.410 (9,5 %) Stimmen und vier Mandate. Die Wählerbasis der »Anschlußparteien« war also noch bestätigt worden. 2. Es zeigten sich neben dem Stimmen- und Mandatsgewinn der KP in der Differenz zwischen der Zahl der Wahlberechtigten 622.397 und den abgegebenen Stimmen 579.226 sowie den gültigen Stimmen 437.434, daß ein beachtlicher Teil der Wähler nicht zur Wahl gegangen war bzw. »weiß« oder ungültig gestimmt hatten, wie es die »deutsche Opposition« empfohlen hatte. Ein erster Meinungsumschwung war sichtbar geworden. Danach wurden die nationalistischen Töne um die Auseinandersetzungen in der Saarfrage immer stärker und waren mit der Zuspitzung auf die »Emigranten«, d.h. die Führungsmitglieder der SP und die Saarregierung, zugleich gegen den Antifaschismus - ob gewollt oder nicht - gerichtet. Einer der Wortführer dabei war Dr. Heinrich Schneider, der einst zeitweilig »Gaupropaganda-Redner« der N S D A P gewirkt hatte. Im Komplex der Pariser Verträge, die Adenauer am 23. Oktober 1954 unterzeichnete, spielte auch das Saarland eine Rolle. Der Bundeskanzler war bereit, für die Zustimmung Frankreichs zur Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die N A T O und die damit verbundene Aufrüstung, das Saarland an Frankreich abzutreten. Allerdings war der Druck so stark, daß er einem Plebiszit über das sogenannte »Europäische Saarstatut« zustimmen mußte. Dieses sollte genau ein Jahr später stattfinden, und drei Monate zuvor sollten Parteien ohne Einschränkung zugelassen werden und Publikationen ohne Zensur erscheinen können. Das Saarstatut fixierte
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u.a.: »Ein europäischer Kommissar nimmt die Vertretung der Saarinteressen auf dem Gebiet der auswärtigen Angelegenheiten und der Landesverteidigung wahr«. Die französische Währung sollte beibehalten werden und eine Erweiterung der Beziehungen zur Bundesrepublik dürfe »die französisch-saarländische Währungsunion und die Durchführung der französisch-saarländischen Konvention über die wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht in Gefahr bringen.« So wurde schließlich die C D U , die D S P und die DPS (später FDP) legalisiert, die auch ihre Parteizeitungen herausgaben. Es erschienen Schriften und Flugblätter en masse. Das Agieren dieser Parteien und ihrer Anhänger, die sich zu einem »Heimatbund« zusammenschlossen, erinnerte in weiten Bereichen an das Auftreten der profaschistischen »Deutschen Front« der Jahre 1933/1935. Davon hob sich die Haltung der Kommunistischen Partei ab, die zwar auch das N E I N zum Saarstatut propagierte, aber dieses in den Gesamtkomplex der Pariser Verträge einordnete und als eine Gefahr für den Frieden in Europa und als eine weitere Vertiefung der Spaltung Deutschland kennzeichnete. Das Plebiszit am 23. Oktober 1955 ergab bei 663.811 Stimmberechtigten und 641.145 (96,6 %) abgegebenen und 625.403 (97,5 %) gültigen Stimmen: 423.421 (67,7 %) für das N E I N und 201.982 (32,3 %) für das JA zum Statut. Noch in der gleichen Nacht trat Ministerpräsident Hoffmann mit seinem Kabinett zurück. Es wurde eine Übergangsregierung gebildet, der Heinrich Welsch vorstand. Der Jurist Welsch hatte eine beachtliche Karriere hinter sich. 1934/35 leitete er die Gestapo-Stelle in Trier. Danach wurde er der Vertreter Deutschlands beim Ob ersten Abstimmungsgericht in Saarbrücken und 1936 Generalstaatsanwalt in Zweibrücken. Er gehörte dann zum Gefolge des NSDAP-Gauleiters Bürckel in Österreich und später in Lothringen, wo er die Justizverwaltung leitete. 1947 wurde er von der Spruchkammer als »entlastet« eingestuft. Er konnte in verschiedenen Bereichen Ehrenämter ausüben und weiter berufliche Karriere machen. In einem Nachruf auf Welsch wurde 1976 u.a. behauptet, »seiner Rechtlichkeit, Redlichkeit und seinem persönlichen Mut« hätten »über 500 Personen ihre Entlassung aus den Konzentrationslagern« zu verdanken. Er war nach 1945 Vorsitzender des D R K Ehrensenator der Universität des Saarlandes, Präsident des Landesversicherungsamtes, des Versorgungsgerichtes geworden. Nun wurde er gar als »Parteiloser« für kurze Zeit Saarländischer Ministerpräsident. Als »Geheimer Oberjustizrat« wurde er später mit dem »Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband« geehrt. Sein Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, Dr. Hubertus Ney, würdigte Welsch im Januar 1956, dieser habe »einige Male in bedeutsamen Zeiten (seine) Laufbahn verlassen (...) um in den Vordergrund zu treten und maßgeblich den Ablauf von politischen Geschehnissen zu beeinflussen ...«. So »bewältigte« der CDU-Ministerpäsident die NS-Vergangenheit seines Vorgängers.
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Die Landtagswahlen am 18. Dezember 1955 hatten folgende Ergebnisse: Von 589.179 gültigen Stimmen erhielt die C D U 149.525 = 25,4 %, die (diesmal noch kandidierende, später in die C D U übergehende) CVP 128.658 = 21,5 %, die D P S / F D P 142.602 = 24,2 o/o, die S P D 84.414 = 14,3 %, die SPS 342.185 = 5,8 % und die KP 38.698 = 6,4 % Stimmen. Eine Konferenz der VVN-Saar stellte am 8. Januar 1956 in einer Erklärung fest: »Von den 33 Abgeordneten der >Heimatbund<-Parteien sind 21 ehemalige Hitleraktivisten, SS- und SA-Führer und Gestapo- und SD-Agenten«. Es wurde auf einen Abgeordneten verwiesen, der lange Zeit als SS-Hauptscharführer beim Wachkommando des KZ-Dachau verbracht habe. Ferner wies auf einen Abgeordneten hin, den die Regierung der C S R wegen seiner Untaten auf die Kriegsverbrecherliste gesetzt habe. 1 2 Dabei handelte es sich um Dr. Erwin Albrecht, der inzwischen schon als Syndikus der Ärztekammer des Saarlandes tätig gewesen war. Er wurde nun Fraktionsvorsitzender der C D U im Landtag und Vorsitzender des Rundfunkrates. Dem 1957 umgebildeten Kabinett gehörte auch ein Jurist an, der zeitweilig bei der Gestapo aktiv und von 1945 bis 1950 »zunächst als Landwirt tätig« gewesen war. Auch er erhielt später den höchsten Orden der Bundesrepublik Deutschland. Ehemalige Nazirichter oder Staatsanwälte hatten inzwischen schon wieder im Justizdienst Unterschlupf gefunden und konnten nun eine neue Karriere anvisieren. Sie wurden Landgerichtsdirektoren, Erster Staatsanwalt, Senatspräsidenten ... Die Kommunalwahlen im Mai 1956 zeitigten auf dieser Ebene ähnliche Kräfteverhältnisse wie bei der Landtagswahl. Antifaschisten wurden aus der Verwaltung verdrängt und Straßen umbenannt. Statt der Max-Braun-Straße hatte Saarbrücken nun wieder seine »Großherzog-Friedrich-Straße«, dazu eine »Straße des 13. Januar« usw. Das Gelände, auf dem das erweiterte Polizeigefängnis »KZ-Neue Bremm« errichtet worden war, wurde nun zur Bebauung freigegeben. Nur durch massive Proteste der VVN und ihrer internationalen Bruderorganisationen konnte ein Teil freigehalten werden, um dort eine Gedenkstätte zu errichten. Was schon Anfang der 50er Jahre begonnen hatte - die schleichende Wiedereingliederung ehemaliger Faschisten in den öffentlichen Dienst - fand nach dem 1. Januar 1957, nachdem das Saarland ein Land der Bundesrepublik Deutschland geworden war, offen und offiziell statt. Dafür mögen zwei Beispiele stehen. Der Altfaschist Willy Schmeicher, der schon 1932 Führer der SS-Standarte 10 Rhein-Pfalz, von 1935 an bis 1943 Polizeipräsident in Saarbrücken sowie von 1940 bis 1942 auch Leiter der Polizeiverwaltung Metz gewesen war, wurde nach vorübergehendem Einsatz in der Sowjetunion 1944 nach Berlin geholt, wo er als SS-Gruppenführer und Generalmajor der Polizei zum »Stab des Reichsführer SS« gehörte. 1945 wurde er interniert, eine Kammer des »Säuberungsrates« stufte ihn jedoch als »minderbelastet« ein. Dazu trug gewiß ein »Persilschein« bei, den der oben erwähnte Heinrich
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Welsch, der inzwischen zum Präsidenten des Landesversicherungsamtes des Saarlandes avanciert war, Ende der 40er Jahre ausgestellt hatte. Darin hieß es: »Herr Schmeicher hat, allgemein gesehen, sein mitunter recht schwieriges Amt in Saarbrücken und Metz anständig und korrekt ausgeübt. Die Grenze zwischen Justiz und Polizei hat er stets gewahrt und sich nie Ubergriffe in Justizangelegenheiten erlaubt ... Der Bevölkerung gegenüber war er höflich und hilfsbereit«. So also war das in der Zeit des Faschismus; durch Höflichkeit und Hilfsbereitschaft wurde man SS-Gruppenführer und Generalmajor der Polizei ... Einen solchen Mann wollte man sich im Innenministerium des Saarlandes nicht entgehen lassen: Ab 1. Mai 1954 stand er in dessen Diensten und erwarb sich »während seiner Zugehörigkeit zum Ministerium des Innern in selbstlosem und verantwortungsbewußten Einsatz bleibende Verdienste ...«, wie es der CDU-Innenminster in seinem Nachruf 1974 betonte. Ein anderer Mann mit faschistischer Vergangenheit, der schon in Bonn »Amt und Würden« erlangt hatte, Staatssekretär Friedrich Karl Viaion, konnte 1961 zum Honorarprofessor für Haushaltsrecht an die Universität des Saarlandes berufen werden. Er wurde dort auch gehalten, obgleich seine »Verstrickung« als Haushaltsexperte und Regierungsdirektor beim »Reichskommissar Ostland« in Riga bekannt gemacht worden war und selbst Simon Wiesenthal interveniert hatte. Das Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1988/89 bot noch immer den Studenten seine Lehrveranstaltungen für »Haushaltsrecht« an. Am 9. April 1957 wurde auch im Saarland die Kommunistische Partei verboten. In der Hochzeit des Kalten Krieges war der Antikommunismus die gemeinsame Grundlage der sogenannten demokratischen Parteien. Daran beteiligt waren auch führende Vertreter der sozialdemokratischen Partei und der in den D G B übergegangenen Einzelgewerkschaften der ehemaligen »Einheitsgewerkschaft«. Systematisch wurden Kommunisten aus Funktionen gedrängt. Das Erinnern an die Widerstandskämpfer und an den gemeinsamen K a m p f fand nun nicht mehr statt. Diese Arbeit blieb viele Jahre der VVN und anderen Kräften, z.B. der Friedensbewegung Saar, überlassen. D o c h waren nun neue Generationen nachgewachsen, die Antifaschismus verinnerlicht hatten, Fragen nach der Vergangenheit stellten und auf Antworten drängten. Nicht wenige Lehrer griffen dabei auf Geschichtsbücher und andere Literatur aus der D D R zurück, soweit sie Gelegenheit dazu hatten; denn in ihrem Umfeld in der Bundesrepublik dominierten »weiße Flecken«.
In jener Zeit, in der sich die eingangs geschilderten Veränderungen gezeigt hatten, vollzogen sich jedoch auch an der Saar in verschiedenen Bereichen Bewußtseinsveränderungen. An der Volkshochschule Saarbrücken wurde z.B. - gemeinsam mit der
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VVN-Bund. Bund der Antifaschisten - ein alternativer Stadtführer zu den Stätten des Widerstandes und der Verfolgung entwickelt. Auf seiner Grundlage wurden Stadtrundfahrten angeboten, die inzwischen von hunderten Schulklassen angenommen worden sind. Diese Fahrten werden im Unterricht vorbereitet, sie werden meist (noch) von Zeitzeugen begleitet und sie finden in Aufsätzen und Berichten ihre »Nachbereitung«. Es wurde das »Historische Museum Saar« gegründet und mit einer Dauerausstellung begonnen, die den Titel »Zehn Jahre statt Tausend Jahre« trägt. Hier erfolgt eine sehr fundierte, kritische Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus an der Saar von 1935 bis 1945 und eine gute Darstellung des antifaschistischen Widerstandskampfes und der Opfer in der Region. In manchen Kommunen fanden und finden Veranstaltungen zum Gedenken an von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfern statt. Jüdischer Mitbürger wird gedacht. Gedenksteine und -tafeln wurden an einstigen Standorten von Synagogen errichtet, ferner an einem Krankenhaus, wo an die ermordeten psychisch Kranken erinnert wird, an Orten ehemaliger Zwangsarbeitslager usw. Anfangs gelegentlich als eine Art »Nestbeschmutzung« verunglimpft, wurde und wird auch dieser Teil der eigenen lokalen Geschichte angenommen. In verschiedenen Städten wurden »Gedenkzimmer« in den Heimatmuseen eingerichtet oder Vortragsreihen veranstaltet, welche die lokale und regionale Geschichte zum Inhalt hatten. Daraus entstanden viele Publikationen. Dabei soll nicht übersehen werden, daß es zugleich eine Flut lokalgeschichtlicher Abhandlungen gibt, in der die Jahre der faschistischen Diktatur im Ort ausgeklammert, geschönt oder nur als Kriegsjahre dargestellt werden, in denen die Bevölkerung vor allem unter dem Bombenhagel der Alliierten und Requirierungen bei der schließlichen Besetzung zu leiden hatten. Auch der Saarländische Rundfunk hat in eigenen Funk- und Fernsehbeiträgen Widerstandskämpfer der Öffentlichkeit vorgestellt und ebenso wie die Landeszentrale für politische Bildung Beiträge zum antifaschistischen Gedenken geleistet. All diese Aktivitäten ermutigen nicht wenige Menschen zu Engagement gegen neofaschistische Erscheinungen, immunisieren andere gegen rechte und konservative Geschichtslegenden, führen zu solidarischem Verhalten gegenüber Asylsuchenden. Es bleibt besonders in unserer Grenzregion eine Aufgabe von Dauer, für Verständigung der Völker, für Verständnis unter den Menschen in ihrer Verschiedenheit, für Toleranz zu wirken.13
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A nmerkungen 1 Frankfurter Rundschau, 19.08.1985. 2 Das Parlament, 17./24.5.1986. 3 Amtsblatt Nr. 21, vom 5. Mai 1947. 4 Siehe Reiner Möhler: Entnazifizierung in Rheinland-Pfalz und im Saarland unter französischer Besetzung von 1945 bis 1952, Mainz 1992. 5
Ebenda.
6 Ebenda, S. 136. 7 Ebenda, S. 140 f. 8 Neue Saarbrücker Zeitung, 19.3.1946. 9 Allerdings hatte Karl Retzlaff in seinem Buch »Spartakus - Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters«, Frankfurt a.M. 1971, auf S. 492 f. auch dies geschrieben: »Als Parteisekretär (der SPS im Saarland, d. Verf.) konnte ich an Hand der Fragebogen, die damals jeder Einwohner des Saargebietes - wie ja auch die Bewohner der anderen deutschen Linder - ausfüllten mußte, die beschämende Entdeckung machen, daß 71 % der Mitglieder der neuen Sozialdemokratischen Partei vorher Mitglieder der Nazipartei gewesen waren ...« 10 München - Wien 1963. 11 Ebenda, S. 59 f. 12 Die Tat, Nr. 2 v o m 14.1.1956. 13 Auswahlliteratur zum Thema: - Rainer Möhler: Entnazifizierung in Rheinland-Pfalz und im Saarland unter französischer Besatzung von 1945 bis 1952, Mainz 1992 - Verfassung des Saarlandes mit Kommentar, Saarbrücken, o. J. - 40 Jahre Landtag des Saarlandes, Hrsg. Der Präsident des Landtages, Saarbrücken 1987 - Hudemann/Jellonek/Rauls (Hrsg.): Grenzfall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945 - 1960, St. Ingbert 1997 - Ulrich Schneider: Zukunftsentwurf Antifaschismus, 50 Jahre Wirken der VVN für »eine neue Welt des Friedens und der Freiheit« - Johannes Hoffmann: Das Ziel war Europa, Der Weg der Saar 1945 - 1955, München 1963 - Robert H. Schmidt: Saarpolitik 1945 - 1957, 3 Bände, Berlin 1959 bis 1962 Benutzte Zeitungen und Zeitschriften: - Neue Saarbrücker Zeitung und Saarbrücker Zeitung, ab Nr. 1 vom 27.8.1945 - Volksstimme (SPS) ab 1946 - Neue Zeit (KP) ab 1946 - Amtsblatt des Regierungspräsidiums Saar - Amtsblatt der Verwaltungskommission des Saarlandes
Elke Reuter
Erfahrung Antifaschismus Die VVN in Ostdeutschland (1947-1953)
Wenn davon auszugehen ist, daß antifaschistische Arbeit auch weiterhin sehr stark historisch orientiert sein wird, so bleibt die Auseinandersetzung über das Bild vom Antifaschismus in der D D R , das Soll und Haben bilanziert, eine Voraussetzung. Die Geschichte des organisierten Antifaschismus in Osten Deutschlands ist für eine Erfolgsdarstellung und eine verklärende Beschwörung des Antifaschismus nicht geeignet. Nicht zu letzt die Auflösung der VVN in der D D R 1953 zwingt zu einem kritischen Umgang. Die VVN-Geschichte eignet sich aber ebensowenig für eine Entsorgung des Antifaschismus als legitimes Erbe der D D R Die Gründung der VVN in der sowjetischen Besatzungszone war Bestandteil des Bestrebens von Widerstandskämpfern und Verfolgten des Naziregimes, in allen vier Besatzungszonen Deutschlands eine einheitliche eigene Organisation zu bilden. Dies vollzog sich vor dem Hintergrund des schnellen Auseinanderfallens der Antihitlerkoalition und dessen Auswirkungen in der politischen Landschaft Deutschlands und war Ausdruck des Willens der Verfolgten des Naziregimes, ihre Gemeinschaft aus der Zeit der Gegnerschaft gegen das NS-Regimes als Kraft in das Ringen um die Erneuerung von Politik in Deutschland und im Nachkriegseuropa einzubringen. Das einstimmig angenommene Programm der Vereinigung basierte auf den überzonalen Vereinbarungen vom Juli 1946 und widerspiegelte den antifaschistischen Gründungskonsens. Es brachte den Willen zum Ausdruck, das deutsche Volk über die Verbrechen des Naziregimes aufzuklären, es umzuerziehen, die Nazis aus den Ämtern und Verwaltungen zu entfernen und so die demokratische Erneuerung des gesamten Lebens zu befördern. Als besondere Verpflichtung betonte es die Aufgabe, die Geschichte des deutschen Widerstandes zu erforschen, darzustellen und zu würdigen. Auf einem breiten Feld konkreter Tätigkeiten leistete die VVN in der D D R mit ihren über 37.000 Mitgliedern in den Landes-, Kreis- und Ortsverbänden Verdienstvolles und Bleibendes für die Erneuerung der Gesellschaft und den Prozeß des Umdenkens der Bevölkerung. Die VVN war Träger breiter antifaschistischer Hoffnungen und verkörperte auf Grund ihrer Zusammensetzung ein hohes moralisches Gewicht. Ihre Vertreter übernahmen Schlüsselstellungen in den neu aufgebauten
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Verwaltungen, in der Justiz und in der Wirtschaft. Sie gehörten zu den politisch führenden Kräften. Mitglieder der VVN wurden in Gemeindevertretungen, Kreisund Landtage gewählt und setzten sich hier mit Nachdruck für die Aufklärung über die beispiellosen Verbrechen des Naziregimes, für eine wirkliche und konsequente Entnazifizierung, für eine ausreichende materielle und soziale Betreuung der O d F und - hier allerdings von Anfang an mit Abstrichen - für Wiedergutmachung bzw. Entschädigung ein. Die geistige, politische und juristische Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus bot eine Grundlage für die Bündelung von Kräften für den Aufbau eines demokratischen Deutschlands. Hier bestanden Möglichkeiten, eine plurale VVNAntifaschismuskultur mit ihren verschiedenen Konsens und Dissens beinhaltenden Ansatzpunkten, Werteorientierungen, Motivationen und Interessenschwerpunkten zu entfalten. Dabei mußte in Rechnung gestellt werden, daß die Vorstellungen darüber, wie diese Auseinandersetzung zu führen sei, unterschiedlich waren, nicht zuletzt deshalb, weil die Ansichten über das Wesen des deutschen Faschismus durchaus auseinandergingen. Daß sich die Organisation bewußt als »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« und nicht etwa als »Antifaschistischer Kampfbund« konstituierte, für den es politisch nicht unbedeutende Fürsprecher gab, signalisiert, daß das Begriffspaar Faschismus und Antifaschismus mit theoretischen Denkmustern und politischen Konzeptionen verbunden war, die vorrangig aus der internationalen kommunistischen und linkssozialistischen Bewegung erwachsen waren. Bei der angestrebten Breite mußte schon der Name der Organisation konsensbildend wirken. So erklärte Vorstandsmitglied Pfarrer Harald Poelchau als Verpflichtung der Mitglieder der VVN, weil sie gegen die Beraubung der menschlichen Freiheitsrechte durch das NS-Regime gekämpft hatten, »auch in Zukunft gegen jede gewalttätige Beschränkung der Freiheit des Individuums und gegen jeden Mißbrauch der staatlichen Macht zu kämpfen«. Und er fügte eine feinsinnig verpackte Kritik hinzu: »Man könne die Dinge auch mit Fremdwörtern ausdrücken, man könne sie mit anti versehen und von Antimilitarismus und Antifaschismus sprechen. Ich möchte lieber, daß wir in diesem Kreise immer miteinander deutsch reden.« 1 Zu den gravierendsten Problemen der Geschichte der VVN in der sowjetischen Besatzungszone und in der D D R gehörte, daß sie den 1947 formulierten Gründungskonsens, daß die WN überparteilich seien mußte, »da sie sonst jeden Sinn verlieren würde« 2 , aufgab und sich damit entscheidend in ihren Wirkungsmöglichkeiten eingrenzte und eingrenzen ließ. Die vornehmlichste Aufgabe der VVN sah sie selbst darin, »Hüter und Mahner der antifaschistischen Einheit zu sein«. Daraus erwachse die Verpflichtung, so stellte Karl Raddatz, Generalsekretär der VVN und aus dem kommunistischen Widerstand kommend, fest, »uns aus den parteipoliti-
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Elke Reuter
schen Gegensätzen herauszuhalten und uns auf die Ziele zu konzentrieren, die in unserem Programm festgelegt sind, damit wir nicht durch parteipolitische Differenzen auseinandergerissen werden«. 3 Die Überparteilichkeit sollte garantieren, daß alle Gruppen der deutschen Widerstandsbewegung in ihr gleichberechtigt und verantwortlich mitarbeiten können. Sie schloß zugleich die Opfer der Verfolgung auf Grund von Rassen- oder Religionszugehörigkeit ein. Das Projekt einer überparteilichen den Zusammenhalt der Verfolgten des Naziregimes bewahrenden gesamtdeutschen Organisation übte große Anziehungskraft aus. Es war aber auch eine große Herausforderung und ein Wagnis, Menschen so unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer und geistiger Prägung in einer Organisation zusammenzufassen, die sich erklärtermaßen als eine politische und keinesfalls karitative Vereinigung verstand. Die angestrebte Überparteilichkeit war indes von Anfang an starken gegenläufigen Tendenzen ausgesetzt. Überparteilichkeit bedeutete die Verpflichtung zur kameradschaftlichen Zusammenarbeit und zur Toleranz. Dazu gehörte, Vorbehalte und Vorurteile auf allen Seiten zurückzustellen. Sie erforderte die Akzeptanz anderer politischer Auffassungen und - darauf aufbauend - die Suche nach gemeinsamen, konsensbildenden Standpunkten in der politischen Arbeit. Die Überparteilichkeit der Organisation war im Statut verankert. Prinzipien der Überparteilichkeit waren allerdings nirgendwo festgeschrieben worden. Das Verständnis, was Überparteilichkeit ist, wie sie zu erreichen und zu sichern ist, war sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die personelle Vorrangstellung der kommunistischen Widerstandskämpfer im Gründungsprozeß der VVN sowie ihre Aktivität und ihr Rückhalt durch die S E D machten das Streben nach Überparteilichkeit nicht leichter. Das betraf vor allem das Problem, daß Majoritäten in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft nicht ausgenutzt werden durften, um Parteistandpunkte innerhalb der VVN durchzusetzen. Angesichts der großen Anzahl von SED-Mitgliedern innerhalb der VVN der sowjetischen Besatzungszone - sie lag oft bei 75 Prozent, in manchen Kreisen sogar bei 90 Prozent - war das eine konstitutive Frage. Mehrheitsbeschlüsse waren in einer überparteilichen Organisation problematisch und nur akzeptabel, wenn in ihnen auch die Auffassungen der Minderheiten Eingang gefunden hatten, also ein Konsens formuliert wurde. Überparteilichkeit war also nicht nur die Frage eines formal ausgleichenden Proporzes bei der Zusammenstellung von Gremien. Nicht selten wurde geradezu fieberhaft versucht, möglichst aus allen politischen Parteien und Verbänden Vertreter in die verschiedenen Organe und Leitungen zu bekommen. Das allein aber war keine Überparteilichkeit im tatsächlichen Sinne, wenn dagegen eine politische Partei die einzuschlagende Richtung zunehmend bestimmte und nichts dem Zufall überließ. Im Westen war es die scharfe Gegnerschaft des SPD-Vorstandes zur VVN, die Unabhängigkeit und Überparteilich-
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keit der Vereinigung beeinträchtigten. Dies hatte bedeutenden Einfluß auf die WN in der Viersektorenstadt Berlin und wirkte zudem in die sowjetische Besatzungszone hinein, wo es seit April 1946 keine S P D mehr gab. Lange vor dem 1948 v o m Parteitag gefaßten Beschluß über die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in S P D und W N , der sozialdemokratische VVN-Mitglieder unter politischen Druck setzte, torpedierte die SPD-Führung aus machtpolitischen Überlegungen die Gründung einer solchen Organisation. Sie bekämpfte die VVN mit einer massiven antikommunistischen Kampagne und gründete im Mai 1948 mit der Zentralstelle für politisch verfolgte Sozialdemokraten eine eigene Verfolgtenorganisation. Daß über die Prinzipien der Überparteilichkeit und darüber, wie sie bei der Schärfe der Parteienauseinandersetzungen in Deutschland in der VVN zu bewahren seien, verschiedene Auffassungen der Protagonisten immer stärkere Ausprägung erfuhren, zeigte sich sehr bald an den auftretenden Konflikten in der VVN. Sowjetische Besatzungsmacht und SED-Führung nahmen angesichts des Auseinanderfallens der Antihitlerkoalition und der sich verhärtenden Fronten im Kalten Krieg immer massiveren Einfluß darauf, daß sich die VVN in der S B Z / D D R und über sie die gesamtdeutsche VVN »positionierte«, das heißt, daß sie eindeutig Partei in den politischen Kämpfen für die Positionen der Sowjetunion und der S E D nahm. Das Drängen dieser Kräfte und ihr wachsender Druck auf die VVN lag im gesellschaftspolitischen Konzept der S E D von einer demokratisch-antifaschistischen Erneuerung Deutschlands begründet, das die S E D mit festen revolutionstheoretischen Konturen und Entwicklungsschritten verband. Mit ihm sollte der Boden für eine grundlegende Gesellschaftsalternative geschaffen werden. Der VVN waren von der S E D Aufgaben zugedacht, welche die Kräfte für tiefgreifende Veränderungen revolutionären Charakters in ganz Deutschland formieren helfen sollten. Forderungen nach Verstärkung antifaschistischer Positionen beinhalteten nach dem Verständnis der S E D immer die Konsequenz dieser revolutionstheoretischen Konzeptionen. Das zeigte sich besonders im komplizierten Verhältnis der VVN zur Volkskongreßbewegung, in ihrer Stellung zur Berlinkrise, zur Gründung beider deutschen Staaten und zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion. 4 Das wurde aber auch deutlich auf dem Feld der Widerstandsforschung, das die VVN als eines ihrer zentralen Aufgaben ihres politischen Wirkens formuliert hatte. Die VVN legte als erste Organisation in der sowjetischen Besatzungszone und in der D D R die Grundlagen für eine systematische Erforschung des Widerstandskampfes gegen das Hitlerregimes; sie erwarb sich gerade mit ihren frühen Arbeiten bleibende Verdienste. 5 Über mehrere Zwischenstufen hatte sich bis Anfang 1948 ein zeitweiliger Konsens darüber herausgebildet, was von der VVN als Widerstand erfaßt werden sollte. In einem Grundsatzdokument der zentralen Forschungsstelle beim Gene-
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ralsekretariat der VVN, das 21 Positionen enthielt, waren die Arbeiterbewegung (Parteien, Gewerkschaften, Betriebe), das Bürgertum, überparteiliche Widerstandsgruppen, die Kirche, die Bibelforscher, der 20. Juli 1944, die Grenzarbeit, KZ und Haftanstalten, die Wehrmacht, Bewährungseinheiten, Partisanen, Kriegsgefangenschaft, Emigration, Spanienkampf, Verbindung mit ausländischen Zwangsarbeitern, rassisch Verfolgte, Jugendwiderstand, Frauenwiderstand, nationale Verbände, Einzelkämpfer und verschiedene Gruppen aufgeführt. 6 Der VVN war es hier gelungen, grundsätzlich zu umreißen, welche Spannbreite der Widerstand in Deutschland hatte. Mit dieser Auflistung waren alle relevanten Verästelungen erfaßbar und ein Spektrum von den großen politischen Parteien und Organisationen bis hin zu den Einzelkämpfern vorgestellt. Erfaßt wurde nicht nur der vielfältige politisch bewußte Widerstand, sondern auch die Verweigerung der Zeugen Jehovas, die Jugendopposition, die christlich motivierte Frontstellung gegen das NS-Regime, die aus humanitären Gründen trotz aller Verbote vorgenommene Unterstützung von Zwangsarbeitern usw. Besonders bemerkenswert war, daß die Selbstbehauptung und die Solidarität der aus rassischen Gründen Verfolgten als Widerstand einbezogen waren, ohne daß die zuvor lange in den OdF-Kreisen einschränkend debattierte Frage, ob wirklich aktiv - »mittels einer Tat« - gegen das Naziregime aufgetreten worden war, zum bestimmenden Kriterium erhoben wurde. Unter massiver Einflußnahme der S E D veränderte sich die Forschungsarbeit bald und wurden neue Schwerpunkte gesetzt. Schon früh war die VVN geharnischter Kritik aus der S E D ausgesetzt. Bestmögliche politische Verwertbarkeit besonders von Darstellungen zur Geschichte des deutschen Widerstandes unter Führung der Kommunisten rangierte vor mühseliger und engagiert betriebener Erfassung und Sicherung von Quellen, vor der Hilfe, die vielen Kameraden mit dem Material gegeben werden konnte. In den Forschungsstellen der Landesverbände führte das zu manchen personellen Konsequenzen. In Mecklenburg wurde die Leiterin der Forschungsstelle Fanny Mütze-Specht 7 abgesetzt. In Brandenburg traf es Walter Hammer, der eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten, Materialien und Publikationen zum Widerstand zusammengetragen und eine Gedenkstätte im Zuchthaus Brandenburg-Görden initiiert hatte. Seine Herangehensweise an die Darstellung von Haft und Widerstand stimmte nicht mit den sich durchsetzenden Vorstellungen überein, die besondere Rolle der »marxistischen Antifaschisten« herauszustellen. Die veränderte Schwerpunktsetzung in der VVN ließ den Verband in Thüringen 1952 sogar formulieren, daß gerade die Forschungen zum Widerstand und die »Wahrung einer fälschen KZ-Tradition [...] zur Untergrabung der politischen Aktivitäten beitrug[en]«. 8 Die VVN wurde mitverantwortlich für die beginnende Einengung der Darstellung
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des Widerstandes und für die Ausgrenzung ganzer Widerstandsgruppen aus der Würdigung. Kommunistischer Widerstand erhielt Maßstabsfunktion gegenüber anderen Widerstandsformen. Hans und Sophie Scholl bis - 1949 bei den »Tagen der jungen Widerstandskämpfer« als leuchtende Vorbilder gewürdigt - wurden im zentralen Artikel für die Tage der jungen Widerstandskämpfer des Jahres 1950 mit keinem Wort mehr erwähnt. 9 Dahinter stand die im Generalsekretariat der WN vorhandene Meinung, die Würdigung der Geschwister Scholl durch Straßenumbenennungen und die Vielzahl von Namensverleihungen an Schulen und Heime stehe in »keinem Verhältnis zu ihrer Tätigkeit und schon gar nicht zu dem Kampf der proletarischen Widerstandskämpfer.« 1 0 Umbenennungen nach den Geschwistern Scholl sollten auf Weisung des Generalsekretariats der VVN an die Landesverbände prinzipiell nicht mehr erfolgen.11 Die VVN sollte sich fortan auf die Erforschung und Darstellung des Lebens und Wirkens der »vorbildlichsten Widerstandskämpfer und Widerstandsgruppen« konzentrieren, d.h. Widerstand sollte zunehmend nur noch am Typus des langjährigen und klassenkampfgestählten Kommunisten gemessen werden.
Hier wurden nur zwei Aspekte der VVN beleuchtet; ihre Rolle, welche sie während ihrer kurzen Existenz im Osten Deutschlands und darüber hinaus in Gesamtdeutschland und international spielte, ist wesentlich facettenreicher. Es bleibt: Die Bilanz ist kritisch und streitbar, aber unbedingt notwendig. Die VVN suchte und fand kaum noch Möglichkeiten, Eigenständigkeit in der von der SED-Führung dominierten politischen Landschaft der D D R zu bewahren oder gar auszuprägen. Politische Losungen und Proklamationen der Verfolgtenorganisation waren - so wurde im Juni 1953 von ehemaligen VVN-Funktionären eingeschätzt - »ein Abklatsch der Beschlüsse und Verlautbarungen der Partei«. 1 2 Die Ausrichtung der VVN-Arbeit an den Vorgaben des Zentralsekretariats bzw. des Politbüros der S E D galt indessen vielen Mitgliedern der Verfolgtenorganisation, die ja Mitglieder der S E D waren, als Selbstverständlichkeit und als Bedingung für die Erfüllung der eigenen Aufgaben ihrer Organisation. Warnende Stimmen, wie jene von Probst Heinrich Grüber, daß eine völlige Gleichsetzung der Ziele der VVN mit denen der S E D zwangsläufig die Breite des ursprünglichen Bündnisses schrumpfen lassen müßte, blieben letztlich unbeachtet. 1 3 Diese Entwicklung gipfelte in der Auflösung der VVN durch die S E D . Das markierte einen tiefen Einschnitt in die Geschichte des organisierten Antifaschismus. Auch wenn Aufgaben der VVN in allen wesentlichen Punkten auf die zentrale Ebene verlagert und hier nahtlos vom Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer, zahlreichen staatlichen Stellen wie auch Massenorganisationen der D D R übernom-
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men wurden, bleibt, daß eine die Nachkriegsjahre im Ostteil Deutschlands nicht unerheblich prägende Mitgliederorganisation der Nazigegner und Naziverfolgten und für die Verbreitung von demokratischen und antifaschistischen Denkweisen wichtige Vereinigung aufgegeben worden ist. Und das gehört ebenfalls zur historischen Bilanz des Antifaschismus in der D D R .
A nmerkungen 1 Archiv des Interessenverbandes ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand und Verfolgter des Naziregimes (künftig: Archiv IVVdN), Akte VVN 1946-1947, Delegiertenkonferenz der O d F Groß-Berlin am 23.11.1946; Referat Poelchau. 2 Archiv IVVdN, Akte VVN 1946-1947. 3 Franz Dahlem/Karl Raddatz: Die Aufgaben der VVN. Referate, gehalten auf der Zonendelegiertenkonferenz am 2 2 / 2 3 . Februar 1947 in Berlin, (Berlin 1947), Referat Raddatz, S. 31. 4 Vgl. Elke Reuter/Detlef Hansel: Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953. Die Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in der sowjetischen Besatzungszone und in der D D R Berlin 1997, besonders Kapitel 3 und 4. 5 Vgl. u.a. die ersten Jahrgänge der VVN-Publikationen »Unser Appell« 1947/48 und »Die Tat« 1949/50. 6 Vgl. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R im Bundesarchiv (künftig: SAPMO-BArch), DY 55/V 2 7 8 / 4 / 4 . 7 Siehe den Beitrag von Erika Schwarz in diesem Band. 8 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bestand Bezirksparteiarchiv der S E D Erfurt, IV/ L/2/3-072. 9 Vgl. Die Tat, Berlin/Potsdam, 18.2.1950 10 SAPMO-BArch, DY 55/V 2 7 8 / 2 / 4 . 11 Vgl. ebenda. Siehe auch Mecklenburgisches Landesarchiv Schwerin, Bestand Bezirksparteiarchiv der S E D , IV/I/2/15/669. Diese Linie wurde in der VVN allerdings nicht voll mitgetragen, wie Veröffentlichungen von VVN-Landesverbänden und die von der VVN unterstützten Geschwister-Scholl-Feiern in verschiedenen Orten auch in den Jahren 1951 und 1952 belegen. 12 Archiv I W d N , Akte WN - Komitee 1953. 13
Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2027/31.
Siegfried
Prokop
Alltag und Widerstand gegen das NS-Regime Interviews mit Berliner Antifaschisten (1996 - 1998)
Eines der Hauptziele der im Dezember 1996 begonnenen Projektarbeit bestand darin, in leitfadengestützten Interviews mit Teilnehmern am antifaschistischen Widerstand zwischen 1933 und 1945 in Berlin vor allem solche persönlichen Erlebnisse, Lebensumstände und Beziehungen aufzuspüren, die verdeutlichen, wie sich Widerstand im Alltag und Alltag im Widerstand vollzogen hat. Es konnte nicht darum gehen, in die großen Forschungsfelder der Alltags- bzw. der Widerstandsforschung einzugreifen, und insofern wurde von einer eher pragmatischen Verwendung der Begriffe Alltag und Widerstand 1 ausgegangen. Im Rahmen dieses Projekts hielt Kurt Pätzold im Frühjahr 1998 eine 20 Stunden umfassende Vorlesung zum Thema »Deutschland 1933 - 1945«. Unter den vielen Problemfeldern, die im Anschluß an die Vorlesungen debattiert wurden, ragte das Thema »Faschismus- und Antifaschismus-Debatten« in der DDR-Zeit hervor. Über den Antifaschismus-Begriff hatte Pätzold ausgeführt: »Der Begriff >Antifaschismus< gehört zu den hochgradig verallgemeinernden. Er faßt sehr verschiedene Ideen, Programme, Bewegungen, Strömungen, Prozesse zusammen, denen gemeinsam war und ist, daß sie sich dem Faschismus konfrontieren - seit dessen frühesten Zeiten. Über diese in sich widerspruchsvolle Vielfalt und Differenziertheit wurde in der DDR-Zeit weniger gesprochen als über antifaschistische Einheit, gemeinsame Überzeugungen und vereintes Handeln, die es in der Geschichte des Antifaschismus nur als einen Sonderfall gab. Wieviele Gegner des Faschismus formierten sich seit den frühen zwanziger Jahren in den Staaten, in denen der Faschismus sein Haupt erhob! Wieviele schlossen sich in den verschiedensten Gruppen, Verbänden und Parteien zusammen! Und wie lange dauerte es, bis sie - und keineswegs alle und überall - zu gemeinsamer Aktion fanden! Wie rasch verlor sich die zeitweilig gewonnene Einheit des Handelns meist wieder! Diese allbekannten Tatsachen bieten bis heute viel Denkstoff. D o c h ihm gegenüber haben sich Propaganda und Publizistik in DDR-Jahren weitgehend verweigert. Die meisten Anstöße für Fragen und für kritische Rückblicke fanden sich seinerzeit in der reichen Romanliteratur, in Lyrik und Novellistik, in Spielfilmen und Theateraufführungen.« 2 Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob die Führung von Interviews mit
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Partnern, die ein Durchschnittsalter von über 82 Jahren haben, noch günstig ist. Viele, die hätten in die Gespräche einbezogen werden müssen, sind nicht mehr am Leben. Aber m.E. besteht heute sehr wohl ein echter Bedarf, ganz im Sinne von Arnold Paucker, der speziell für den jüdischen Widerstand hervorhob, daß mündliche Quellen da unersetzbar sind, wo schriftliche Quellen nur mager sprudeln. 3 Gegen das NS-Regime gab es einen Widerstand, der nicht mit Akten belegt werden kann. Dieser unentdeckte Widerstand bedarf »vieler sozialgeschichtlicher Untersuchungen über persönliche Beziehungen, Erlebnisgemeinschaften und >face to face Gruppen<, um sowohl den >systemimmanenten< Widerstand zu erreichen als auch die Wirkungsstadien der >Widerstandskreise< ermessen zu können.« 4 Gerade auf den Alltag der Widerstandstätigkeit trifft zu, daß schriftliche Quellen rar sind. Alltag wurde erlebt, aber nicht aufgeschrieben. Deshalb ist für die Ausleuchtung des Alltags die mündliche Quelle so wichtig. Es geht praktisch um den in der schriftlichen Quelle nicht überlieferten, d.h. unentdeckten Alltag und in diesem Zusammenhang auch um den unentdeckten Widerstand, der mit Hilfe von Interviews belegt und vor dem Vergessen buchstäblich in letzter Minute bewahrt wird. Die auch von mir geführten Interviews bestätigen das vollauf. In der D D R hatte der Antifaschismus eine große Rolle gespielt. Daran sollte es auch heute nichts zu deuteln geben. Die D D R war ein antifaschistischer Staat, was sich auch am Beispiel ihrer Repräsentanten in Politik, Kultur und Wissenschaft belegen läßt. Es ist aber auch nicht zu leugnen, daß der Antifaschismus in der D D R teilweise einseitig gepflegt wurde. Der Antifaschismus wurde auf die kommunistischen Wurzeln reduziert, während andere Quellen und Wurzeln bis wenige Jahre vor der Wende weitgehend ignoriert wurden. Mißbrauch fand statt mit dem Attribut »antifaschistisch«. Der von Horst Sindermann nach 1961 geprägte Begriff »antifaschistischer Schutzwall« suggerierte die falsche Bewertung der Bundesrepublik als faschistisches Land. Fred Löwenberg sah darin die Entwertung hehrer Begriffe. Antifaschisten, die viele Jahre am Partisanenkampf in Jugoslawien teilgenommen hatten wie der renommierte Leipziger Historiker Walter Markov 5 , wurden Anfang der 50er Jahre mit unzulässigen Beschuldigungen konfrontiert und auf Weisung der SEDFührung aus der Partei ausgeschlossen. Die Rente als Antifaschist wurde ihnen aberkannt. Löwenberg kommentierte diesen Vorgang zutreffend: »Es war für mich kein verordneter Antifaschismus in der D D R , aber ein reduzierter Antifaschismus, reduziert auf bestimmte Klassenwurzeln, während für uns das ist der Charakter unserer Organisation der Antifaschismus von seinen Quellen von Jesus von Nazareth, über Nathan den Weisen, über die Losung der Französischen Revolution bis hin zur Novemberrevolution, bis zum deutschen Widerstand stammt, das heißt, er ist breiter.«6 Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« schrieb am 15. Juli 1998: »Der politisch
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motivierte Widerstand war ... zu 75 Prozent kommunistischer, zu zehn Prozent sozialdemokratischer und nur zu drei Prozent christlich bürgerlicher Widerstand.« Diese zahlenmäßige Gewichtung, die den großen Anteil der Kommunisten belegt, schließt nicht notwendig ein, sozialdemokratischen oder christlich bürgerlichen Widerstand gering zu schätzen. Die Überhöhung des kommunistischen Widerstandes in der D D R führte, wie Gerhart Hass schrieb, zu weiteren Mißdeutungen: »Man verstieg sich sogar dazu, diesen Widerstand im Kriege in den Rang einer Teilnahme am weltweiten K a m p f der Antihitlerkoalition zu erheben. Das trug schließlich zu der grotesken These der Geschichtspropaganda bei, die D D R würde zu den >Siegern der Geschichte< gehören.« 7 In der D D R wurde die Judenvernichtung durch die Nazis kritisch beleuchtet, jedoch blieb die Rolle des Holocaust im Gefüge der nazistischen Terrorherrschaft unterbelichtet. Es fehlte den Herrschenden in der D D R vor allem in der Nachkriegszeit ein Gespür dafür, wie mit den jüdischen Opfern gerecht umzugehen sei und wie die Wellenschläge des politisch motivierten Antisemitismus der Sowjetunion in ihren Auswirkungen auf die D D R abzuwehren seien. Schädlich war die Vorstellung, daß mit dem Übergang zum sozialistischen Aufbau die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime nicht mehr zeitgemäß sei. Zu lange wurde ignoriert, daß jede junge Generation aufs Neue sich mit dem Faschismus auseinandersetzen mußte. Solche Defizite und Lücken erleichterten es dem Neonazismus, auch in der Jugend der D D R Fuß zu fassen. Wie war es nun mit dem Antifaschismus in der alten Bundesrepublik Deutschland bestellt? Es fällt eine Affinität zu solchen NS-Kadern wie Globke, Filbinger und Kiesinger auf, denen es in der Bundesrepublik vergönnt war, als Staatssekretär, Ministerpräsident und Bundeskanzler zu fungieren. Richter des Volksgerichtshofes wurden in keinem einzigen Fall bestraft. Ex-SS-Leute aus Lettland und anderswo erhalten bis heute hohe Renten. Die Elitenkontinuität nahm in der Bundesrepublik erstaunliche Ausmaße an. Das Schlagwort von den »entnazifizierten Nazis«, die bedeutende Schalthebel der Macht in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft bedienten, machte allenthalben die Runde. Die Deutsche Bank, die den Bau des KZ Auschwitz finanziert hatte, raffte sich unter massivem amerikanischen Druck erst in jüngster Zeit zu einer Entschuldigung auf Die Entscheidung über den Bau eines HolocaustDenkmals in Berlin traf nach schier endlosen Debatten der Bundestag im Jahre 1999. Das Feilschen über eine Entschädigung der noch lebenden Zwangsarbeiter durch deutsche Konzerne und Fabriken zog sich bis zum Ende des Jahres 1999 hin. Bis zur Auszahlung werden wiederum ein bis zwei Jahre vergehen. Eine relevante Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazibarbarei setzte in der Bundesrepublik erst im Gefolge der Studentenrevolte von 1968 ein. Die Studen-
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tenbewegung brach Tabus. In verschiedenen Hochschulstädten erschienen Dokumentationen. Ringvorlesungen setzten sich mit den deutschen Verbrechen 1933 bis 1945 auseinander. In Berlin (West) wurde die Gedenkstätte Deutscher Widerstand geschaffen. Aber auch im Westen blieb es bei Defiziten. Indem alle Widerstandstätigkeit gleichgesetzt wurde, wurde nicht selten der antifaschistische Widerstand als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus 8 , der barbarischsten Variante des Faschismus, geleugnet. Die Rolle der Wirtschalt im Herrschaftsgefüge des NS blieb häufig ausgeblendet oder wurde verharmlost. Die Rolle des Holocaust wurde eher widerwillig im Gefolge der intellektuellen Anstöße aus den USA zur Kenntnis genommen, während Neonazis den Slogan von der »Auschwitzlüge« zu verbreiten versuchten, was ihnen erst relativ spät eine Strafe eintrug, falls sich ein Kläger fand. Beide deutsche Staaten hatten 1989 also Fortschritte und Defizite in der Auseinandersetzung mit dem Hitlerfaschismus zu verzeichnen. Die gesellschaftlichen Umbräche nach 1989/90 und verschiedene Gedenk- und Jahrestage Mitte der 90er Jahre haben die wissenschaftliche Diskussion zum antifaschistischen Widerstand in Bewegung gebracht. Diese Diskussion ist »im Fluß«, es gibt viele interessante Ansätze, um sich einer ausgewogenen und differenzierten Einschätzung des Widerstandes gegen die Nazi- Herrschaft anzunähern. Aber in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche gibt es auch immer den Versuch von bestimmten Neu- und Umbewertungen von Geschichte, denen man so nicht folgen kann, weil sie vor allem Ausdruck der Macht über Deutungsmuster und öffentliches Meinungsklima sind. So gibt es nach wie vor Tendenzen, zwischen »gutem« und »schlechtem« Widerstand (dessen Andenken nicht zu pflegen sei) zu unterscheiden und auch den Versuch, Fehler im gesellschaftlichen System der D D R einseitig und pauschal dem Antifaschismus anzulasten. Daß das Verhältnis von Antifaschismus und Antistalinismus im Widerstand neu durchdacht werden muß, wie Franz von Hammerstein im Gespräch z u m Ausdruck brachte, liegt auf der Hand. Es gibt aber keine Rechtfertigung dafür, kommunistische und sozialistische Widerstandskämpfer aus der Traditionspflege deshalb auszuklammern, weil sich viele ihrer Vertreter nicht aus der Verklammerung mit dem Stalinismus zu lösen vermochten. Es bleibt festzuhalten, daß die K P D aus den mörderischen Auseinandersetzungen, denen vor allem sie ausgesetzt war, nicht unbeschädigt hervorging. Sie hatte gegenüber Moskau ihre Souveränität weitgehend eingebüßt, was Folgewirkungen in der Nachkriegszeit hatte, die nicht unterschätzt werden dürfen. Die Auseinandersetzung um das Erbe des deutschen Faschismus vollzieht sich bis heute bekanntlich zwischen politischen Polen. In der Gegenwart nimmt der Einfluß derjenigen Generationen ab, die durch »Verdrängung« die historische Erinnerung bestimmten, während der Einfluß der Generationen, die »die Gnade der späten Geburt« für sich in Anspruch nehmen können, wächst. In diesen Umbruch in der
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Generationenfolge stieß konservative Geschichtspolitik während der Ära Kohl mit ihrem K a m p f um die Interpretationshegemonie. Konservative, neurechte Historiker und Publizisten versuchten nach Kräften, deutsche Geschichte umzudeuten. 9 Die Stichworte lauten: Historisierung des Nationalsozialismus, Relativierung seiner Verbrechen, Beschreibung der bundesdeutschen Geschichte von 1949 bis 1989 als Sonderweg, Ersetzung des antifaschistischen durch den antitotalitären Konsens. Politisch ging es darum, das vereinte Deutschland auf einen nationalen und autoritären Kurs zu bringen. Das deutsche Establishment fordert seinen »angemessenen« Platz in der nach 1989-1991 weltpolitisch veränderten Kräftekonstellation. Schon 1994 konstatierte Verteidigungsminister Volker Rühe das Ende der Nachkriegsordnungen von Versailles und Jalta. Der damalige Außenminister Klaus Kinkel begründete den Anspruch Deutschlands auf einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat mit der Rückkehr zur Normalität. Staatliche Geschichtspolitik bemühte sich um nicht mehr und nicht weniger als um die Legitimierung der »neuen Rolle Deutschlands in der Welt«. Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder beteiligte sich 1999 ohne Wenn und Aber am NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Festzustellen ist, daß die Offensive des konservativen Geschichtsrevisionismus in den vergangenen Jahren wiederholt auf Grenzen stieß. Die geplante »Versöhnung über den Gräbern« fand anläßlich des 50. Jubiläums der westalliierten Invasion (»DDay«) 1994 nicht statt. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl erhielt zu diesem Ereignis auf Grund massiver Proteste der Veteranenverbände der Alliierten keine Einladung. Auch die Debatten um den 8. Mai 1995, um das Goldhagen-Buch und um die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« verliefen nicht so, wie es die Vertreter der konservativen Geschichtspolitik erhofft hatten. Erfreulich ist, daß gerade in der jüngeren Generation kritisches Interesse gegenüber allen Versuchen zur »Entsorgung der Geschichte« vorhanden ist.
Während der Projektarbeiten war es unerläßlich, sich den Defiziten zuzuwenden, die in der Darstellung von antifaschistischem Widerstand in beiden deutschen Staaten zu verzeichnen waren. Nicht wenige Hinweise und Aufschlüsse sind dabei den Interviewpartnern zu danken. Auseinandersetzungen und Debatten, die durch die Praktiken Stalins ausgelöst wurden (wie z. B. durch die Moskauer Prozesse, den mysteriösen Tod Münzenbergs, das Abkommen Stalins mit Hitler), wurden thematisiert. Wir haben viele Aussagen zu diesen Ereignissen erhalten. Wenn beispielhaft der Text Roman Rubinsteins zitiert wird, so nur deshalb, um eine der persönlichen Sichtweisen zu demonstrieren: »Es gab keine großen Diskussionen. Erstens: Wir hatten gesehen, wie Genossen, für die wir die Hand ins Feuer gelegt hätten, in Deutschland
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umgefallen sind. Also unmöglich war es nicht. Zweitens war unser Vertrauen in Stalin und in die sowjetische Partei grenzenlos. Man muß auch verstehen, wie wir lebten. Wir kämpften für etwas, wir hatten ein Ziel, eine Vision, und die Sowjetunion war das erste, das einzige Land, das unserer Meinung nach dieses Ziel erreicht hatte. Wir kannten die ungeheuren Schwierigkeiten. Wir erlebten täglich die Hetze gegen die Russen, nicht nur im >Stürmer<, im >Völkischen Beobachter<, sondern auch in den bürgerlichen Zeitungen. In Frankreich oder in Belgien war es genauso. Für uns war das so, sagen wir mal, wie für die Katholiken die Bibel. So wie der Christ an Gott glaubt, so glaubten wir an die Sowjetunion und an die Partei. Das war auch das, was uns aufrecht hielt. Wenn wir das nicht gehabt hätten, was wäre uns geblieben?« 1 0 Ernst Zeno Ichenhäuser berichtete: »Es kamen diese Moskauer Prozesse, die mich völlig fassungslos machten. Ich fragte mich: Wie ist das möglich? Bucharin und alle diese Leute sollen Spione gewesen sein? Mir kam aber überhaupt kein Verdacht, ich habe mich nur gefragt, wie das war, daß sie Spione geworden sind. Das hielt ich für ausgeschlossen. Ich habe mich dann beruhigt, weil ich mir sagte, sie haben es ja gestanden, Ich war sehr unsicher, aber ich habe es dann akzeptiert, ohne weiter darüber nachzudenken. Natürlich fehlten mir auch nähere Informationen. Die Sowjetunion war für mich der sozialistische Staat, in dem eine neue Zukunft begann, Fünfjahrpläne übererfüllt wurden, der Frieden seine Heimstatt hatte. Das war für mich unbestritten. Und in diesem Land fand ein solcher Prozeß statt! Daß da eine schlimme Sache dahintersteckt, daß da das Recht gebrochen wird, die Leute gefoltert werden, daran dachte ich überhaupt nicht.« Was die Beleuchtung des Alltags, wie ihn unsere Gesprächspartner als Widerstandskämpfer erlebt hatten, betrifft, so unterschied sich dieser natürlich von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, er war unverwechselbar und individuell. Zugleich gab es aber auch den Alltag als etwas Typisches im Widerstand. Dazu bemerkte Robert Hahnheiser: »Es war uns so in Fleisch und Blut übergegangen. Widerstand war das Normale im Alltag.« Gerhard König empfand den Alltag unter Bedingungen des Widerstands als anstrengend: »Insofern war der Alltag praktisch eine Anstrengung, jeden Tag seine Gesinnung trotz alledem aufrechtzuerhalten. Zugleich mußte man, das habe ich später beim Militär gemerkt, immer vorsichtig sein, durfte sich nicht verraten, z.B. durch Redensarten, unbewußtes Pfeifen von bestimmten Liedern.« Vergleichen wir den Alltag derer, die legal wirkten mit denen, die illegal tätig waren, fällt auf, daß gerade die Illegalität einen tiefen Einschnitt bedeutete. Herbert Crüger sagte dazu: »Aber man muß unterscheiden zwischen dem legalen Leben, dem Widerstand und der Illegalität. Beim ersten lief es relativ normal. Du hattest deine Treffs, die du einhalten mußtest, du hattest deine Aufgaben, die Diskussionen, die du führen mußtest, aber sonst hast du relativ normal gelebt. Als junger Mensch bist
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du ins Kino gegangen und warst im Teltow-Kanal schwimmen ... Am Sonntag, oder wenn du Zeit hattest, warst du mit dem Rucksack auf Fahrt, mit Freunden. Also, abgesehen von dem, was direkt mit dem Widerstand zusammenhing, anfertigen oder verteilen von illegalem Material, hast du natürlich normal gelebt. Anders war es, wenn du illegal leben mußtest. Da stand erst - einmal die Frage des Quartiers. Und das war 1935, als ich für zwei Monate in der Illegalität lebte, schon schwieriger geworden. Ich mußte damals drei- oder viermal das Quartier wechseln. Einmal war ich bei einem Freund untergebracht, einmal bekam ich durch die Partei ein Quartier. Nach einigen Tagen machte die Frau dem Mann Vorwürfe, daß das doch zu gefährlich sei. Am Tage darauf mußte ich das Quartier wechseln ... Eigentlich war ich schon voll in der Illegalität, und da war es mit Quartieren für eine längere Zeit sehr problematisch. Da lebtest du natürlich in einer Spannung. Alles, was du hattest, konntest Du nicht in einem großen Koffer tragen. Das alles war schon sehr, sehr kompliziert.« Über die Spezifik der Illegalität sagte Lore Diehr: »Und da wohnte Gerhard Sredzki illegal. Das war natürlich nicht immer so einfach, denn es war ja Fliegeralarm, und man mußte das alles irgendwie bemänteln. Er hat sich ja nicht sehen lassen, aber trotzdem kann man das in solchem Haus nicht immer ganz geheimhalten. Ich habe in meinem ganzen Leben nie so viel geschwindelt wie zu dieser Zeit.« Und über die enorme psychische Belastung in der Illegalität berichtete Erich Hanke: »Die psychischen Belastungen der illegalen Arbeit waren noch stärker als die physischen. Der illegale Widerstandskampf erforderte unablässig geistige Konzentration, die sich über den ganzen Tag erstreckte. Mangelnde Aufmerksamkeit bedeutete äußerste Gefährdung der eigenen Person und der anderen Genossen. Die ständige unauffällige Beobachtung des Straßenbildes, der in der Nähe befindlichen Person beim Treff, wurde zur unerläßlichen Notwendigkeit. Höhepunkte waren die Zusammenkünfte in illegalen Wohnungen mit höchstens drei Personen. Hier wurden die politische Lage besprochen, Kaderfragen gelöst, die Konzeption für den Inhalt der herauszugebenden Zeitungen und die einzelnen Artikel erarbeitet, ihre technische Herstellung unter Beachtung der Konspiration erörtert und der Transport des illegalen Materials festgelegt. Von größter Wichtigkeit war die Erziehung zur Einhaltung der konspirativen Regeln. Unauffällig aufzutreten, viele persönliche Wünsche zurückzustellen, aufopferungsvoll seine Aufgaben zu erfüllen, auch gegenüber den allernächsten Angehörigen schweigen zu können, war außerordentlich schwierig und erforderte große Selbstdisziplin. Wie natürlich ist das Bestreben, sich dem Ehepartner anzuvertrauen. Der darf aber nichts wissen, obwohl er auf die Rückkehr des anderen wartet. Man darf ihm nichts erzählen, von Schwatzhaftigkeit gegenüber den Freunden ganz zu schweigen.«
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Irmgard Klauß arrangierte illegale Treffs in ihrer Wohnung getarnt als »Ringelpiez mit Anfassen«: Sie sagte: »Aber Musik, die wir hatten, die hörten wir laut genug, damit sie wußten, bei uns ist jetzt also >Ringelpiez mit Anfassen«, es ist sehr lustig. Und sie, was vielleicht sehr eigenartig klingen muß, belächelten manchmal, wie viele Männer doch so zu mir kommen. Ich machte mir gar nichts daraus und ließ auch durchblicken: Na ja, ich bin eine junge Frau, ich bin allein, was habe ich zu verantworten?« Es ist festzuhalten: Alltag und Widerstand hatten viele Facetten, die in früheren Interviews kaum erschlossen wurden. Unsere Interviewpartner sprachen in überraschender Offenheit über ihr vielseitiges Leben im Widerstand. Jeder, der v o m heutigen Durchschnittsalter 82 zurück rechnet auf die Zeit seit 1933, bemerkt, daß die Interview- Partner damals junge Menschen waren, Menschen aus Fleisch und Blut. Sie haben auch gefühlt und geliebt, waren keineswegs nur die hehren Helden auf dem Podest, als die sie oft jungen Menschen dargestellt wurden. Aber auch hier gilt, daß jeder diese Seite des Lebens anders wahrgenommen hat. Während uns Alfred Katzenstein freimütig darüber berichtete, welche amourösen Gelegenheiten sich ihm im Widerstandskampf eröffneten, bekannten andere ihr offenbar bis heute andauerndes Bedauern darüber, daß sie solche Gelegenheiten ausgeschlagen hatten oder aber daß es dafür gar keine Zeit gab. Kurt Langendorf erklärte: »Ich habe nach dem Krieg mit 30 Jahren das erste Mal geheiratet, mit 25 Jahren meine erste Frau kennengelernt. Bis dahin habe ich zwar viele Bekanntschaften gehabt, aber gebunden habe ich mich nicht. Es ist eben bei mir anders gewesen als bei anderen. Eine feste Beziehung konnte, aus meiner Erfahrung heraus, gefährlich sein, weil man ja nicht wußte, wie der Partner zu einem steht. Und zum anderen sollte meine feste Beziehung dauerhaft bleiben und verläßlich sein. Ehe ich nicht diese Sicherheit hatte, wollte ich nichts machen.« Ähnlich äußerte sich dazu auch Fred Müller: »Ich hatte so eine Einstellung, daß ich mich nicht binden wollte. Das war in mir so verwurzelt, daß ich später, als ich in der D D R war und meine Frau kennenlernte, nicht heiraten wollte. Ich war bereit, eine eheähnliches Verhältnis einzugehen, aber nicht zu heiraten. Da kam das ganze Sekretariat der Landesleitung der FDJ eines Nachts zu mir und hat mit mir diskutiert.« Über ihre Heirat mit H u g o Graf, der im KZ eingesperrt war, berichtete Herta Graf: »Wir waren ganz allein im Standesamt, es ging alles sehr schnell, es dauerte 15 Minuten. Dann habe ich gesagt, ich weiß nicht, vielleicht war es auch mein Mann, daß wir noch in der Konditorei eine Tasse Kaffee trinken könnten. Wir gingen alle zusammen in das Cafe und haben eine Tasse Kaffee getrunken. Das war unsere Hochzeit ... Mein Mann ging wieder in das KZ zurück ... Da waren ja die zwei Gestapoleute, die waren die ganze Zeit dabei und haben ihn in die >Mathilde< mitge-
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nommen.« Frau Graf berichtete dann auch, daß die Hochzeitsnacht später stattfand. Ein junger SA-Mann hatte ihr einen illegalen Besuch im KZ Colditz ermöglicht. Nach Urlaub und Freizeit befragt, antwortete Sabine Hager: »Tanzen waren wir nicht. Ich bin auch später keine Tänzerin gewesen. Aber wir sind gewandert. Z.B. in der Schweiz bin ich mit meinem Mann mal für acht Tage auf die Insel, wo Crusoe gelebt hat, zelten gefahren. Das war eine sehr schöne Woche. Das waren sozusagen unsere Flitterwochen. Das war eigentlich das einzige. Wir sind viel spazieren gegangen und gewandert. Wir hatten auch die Möglichkeit in der Schweiz, zu einer Hütte zu fahren. Da hatten die Schweizer Genossen so eine Hütte, wohin sie oft zu Weihnachten, zu Ostern oder zu Pfingsten gefahren sind. Dorthin haben sie uns mitgenommen ...« Franz von Hammerstein berichtete über die Spezifik des Lebens der »Sippenhäftlinge« in einer Sonderbaracke im KZ Buchenwald: »Da war kein Stacheldraht, sondern eine Mauer. In der Baracke hatten meine Mutter, meine Schwester und ich eine Zelle. Thyssen mit seiner Frau hatte auch eine Zelle. Aus Frankreich war noch Leon Blum mit seiner Frau da. Sie hatten wie die Stauffenbergs ebenfalls eine Zelle.« Über das Barackenzimmer führte von Hammerstein aus: »Na, da war ein Ofen drin, denn es war ja immer noch kalt. Die Baracke war nicht zentral beheizt, sondern jede Zelle hatte einen kleinen Ofen ... Dann war ein doppelstöckiges und ein einfaches Bett drin, es war für drei Personen eingerichtet. Aber mehr Platz war auch schon nicht. Einen kleinen Tisch hatten wir noch, das war alles. Die Jacke konnte man noch aufhängen ... Wir konnten aus den Baracken raus, aber da war dann eben gleich die Mauer. Über die konnte man nicht wegsehen.« Eine andere Schilderung ihres »Sippenhäftlings«-Lebens hat Edith Bussmann publiziert: »1935 wurde mein Vater verhaftet. Ein Pferdefuhrwerk kam. Einige unserer Möbel wurden aufgeladen - wie Gerümpel zusammen geschmissen. Und man brachte meine Mutter und mich in eine Wohnung, die neben einem Hafen des Dortmund-Ems-Kanals lag. Es waren zwei Räume in einem riesigen Lagerhaus, das leer stand. Nachbarn gab es nicht, nur Kohlenhalden, Kies- und Sandberge und zwei erdrückende Gaskessel in Sichtweite. Mäuse huschten über die Betten und über unsere Gesichter hinweg, Ratten tobten und polterten auf dem Dachboden des Lagerhauses und stießen ihre Pfiffe aus. Dann kam wieder ein Pferdefuhrwerk, das unsere Habseligkeiten fort schaffte. Wieder gingen Mutter, der Tränen über das Gesicht liefen, und wir Kinder hinterher. Es war ein weiter Weg, quer durch die Stadt, und er endete zwischen vier Holzbaracken, von einem Garben umgeben. Gefühlsmäßig war auch uns Kindern klar, wo wir uns befanden.« 1 1 Festgehalten zu werden verdient auch, was Roman Rubinstein über das Alltagsleben im KZ geäußert hat. Hier sei nur auf den Widerspruch eingegangen, den er zur
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tendenziösen Darstellung über die »roten Kapos« durch Lutz Niethammer 1 2 anmeldete: »Bei dem Niethammer ist das so, als wenn die roten Kapos, die Kommunisten, gefühllose Maschinen gewesen wären. Das stimmt nicht. Es gab welche. Ich habe einen gekannt, der war seit 1933 eingesperrt, der ist zum Totschläger geworden. Aber die Genossen, die in der Schreibstube Blockälteste oder Kapos eines Arbeitskommandos waren, haben doch jeden Tag ihr Leben riskiert, jeden Tag. Sie mußten die Wut der SS abfangen ... Die Kriminellen, die haben gemordet. Und wenn die Arbeit nicht schnell genug ging, und der K a p o nicht wie verrückt draufprügelte, dann wurde er von dem SS-Kommandoführer zusammengeschlagen. Aber die kommunistischen Kapos haben nicht geschlagen. Sie ließen sich zusammenschlagen.« Über die Abgründe des Wirkens krimineller Kapos äußerte Rubinstein: »Um den Steinbruch herum war z.B. eine Postenkette. Wer sich der Postenkette auf drei oder fünf Meter näherte, auf den wurde ohne Warnung geschossen: >Auf der Flucht erschossen!< Jetzt gab es ein beliebtes Spiel: Der SS-Mann, der Posten, der einen >auf der Flucht< erschossen hatte, bekam ein oder zwei Tage Urlaub dafür. Er verabredete sich mit dem kriminellen K a p o . Der K a p o nahm eine Schaufel, eine Hacke oder was und stellte sie drei Meter vom Posten entfernt hin. Dann suchte er sich einen Neuen raus, der gerade ins Lager eingeliefert worden war, der noch keine Ahnung hatte. Dann sagte er: >Hol mal die Schaufel!« Der Neue ging nichtsahnend hin und kriegte eine MPi-Salve in den Bauch. Aus! >Auf der Flucht erschossen!« Der Posten kriegte seine zwei Tage Urlaub. Der K a p o kriegte dafür eine Schachtel Zigaretten.« Viele Interviewpartner haben nachvollziehbar gemacht, daß »Alltag im Lager« zugleich auch »Widerstand im Lager« bedeutete. Die heutige Gedenkstätten-Forschung ist leider mitunter bemüht, politischen Widerstand im Lager zu denunzieren. 1 3 Das Ziel derer, die die Interpretationshoheit beanspruchen, besteht offenbar darin, den kommunistischen und sozialistischen Widerstand zu »entzaubern« und die Rolle der Konzentrationslager bei der politischen Gegner des NS-Regimes zu marginalisieren. Das Konzentrationslager wird als »Wolfsgesellschaft« interpretiert, in der nur »beißen und gebissen werden« gegolten habe. 1 4 Unsere Interviews belegen indes, daß es falsch wäre, den politischen Widerstand vieler Häftlinge aus der Geschichte zu streichen. Ebenso wie der Alltag hatte der Widerstand nicht nur eine unverwechselbare Gestalt, z. B. die des politisch bewußten Kämpfens. Martin Broszat hatte dem Begriff des Widerstands den der Resistenz zur Seite gestellt und sich dafür ausgesprochen, vor allem zu zählen, »was getan und was bewirkt, weniger das, was nur gewollt oder beabsichtigt war.« 1 5 Kurt Pätzold sieht in der Konstituierung einer »Zwischengruppe«, die »Resistenz« genannt wird, für berechtigt: »Damit sollten besondere Formen des Widerstehens, des Widerstrebens, der Verweigerung von Ein- und Unterordnung und der Anpassung, der Nichtbeachtung von Weisungen und Befehlen, also
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ein Verhalten im Alltag gekennzeichnet werden, das nicht sogleich erfaßbar war und nicht sofort zum Zugriff der Gestapo aussetzte.« 1 6 Christel Wickert unterschied in dem von ihr herausgegeben Buch »Frauen gegen die Diktatur« Dissens, Resistenz und Widerstand. Andere Autoren wie Günter Buchstab, Brigitte Kaff und Hans Otto Kleinmann zählen zum Widerstand jede Handlung, »die der totalitäre NS- Staat als Opposition gegen Teilbereiche seiner Herrschaft und Weltanschauung kriminalisierte und mit Willkürmaßnahmen und heute kaum noch vorstellbarer Härte verfolgte.« 1 7 Folglich gehen diese Autoren von einer weiteren Aufsplittung des Widerstandsbegriffs aus. Sie unterscheiden: Teilwiderstand, Protest, Resistenz, Widersetzlichkeit, Nonkonformismus, Dissidenz, Widerständigkeit und Verweigerung. Werner Röhr machte hingegen geltend, daß eine zu weite Fassung des Begriffs einer motivationsgeschichtlichen Einseitigkeit den Weg bereiten könne. Seine Forderung lautet schlüssig: »Der Bezug darauf, wogegen Widerstand geleistet wird, erscheint konstitutiv und unverzichtbar.« 1 8 Schließlich belegte Günter Wehner mit Zahlen aus dem Berliner Widerstand, daß in diesem Zentrum des Widerstands nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung Widerstand leistete.19 Es gibt also keinen Grund dafür, durch eine allzu große Aufsplittung des Widerstandsbegriffs alle möglichen nicht völlig konformen Verhaltensweisen als Widerstand auszugeben. Das deutsche Volk stand in seiner überwiegenden Mehrheit bis fünf nach 12 auf der falschen Seite. Anderseits bestätigen die Interviews mit den jüdischen Ehepaaren Katzenstein und Nobel, wie abwegig die Behauptung Raul Hilbergs ist, der vom nahezu vollständigen Fehlen von Widerstand der Juden gesprochen hatte. 2 0 Das Bild Hilbergs, wonach die Juden wie die Lämmer zur Schlachtbank gegangen seien, ist einseitig und ungerecht. Solche Urteile stützen sich ausschließlich auf deutsche Quellen. Die Sicht der Teilnehmer jüdischen Widerstands bleibt dabei unberücksichtigt. Ingrid Strobel hat in ihrem Buch über den Widerstand jüdischer Frauen, dessen Herzstück langjährige Befragungen darstellen, den jüdischen Widerstand eindrucksvoll belegt. 2 1 Den jüdischen Widerstand belegt auch ein umfassender Studienband, den Arno Lustiger herausgegeben hat. 2 2 Arnold Paucker geht davon aus, daß zwischen 1933 und 1945 bis zu 2500 deutsche Juden am Widerstand beteiligt waren. 2 3 Er resümiert: »Und obwohl wir gewisse jüdische Verhaltensweisen (wie auch aus dem gesamten deutschen Widerstand) nicht immer unkritisch behandelten, bemühten wir uns, zu zeigen, daß die These von der Widerstandslosigkeit des deutschen Judentums ganz einfach nicht zutrifft.« Auch die Schilderung der Vorbereitung der SAP auf die Illegalität durch Gerhard Nindl und dessen Kritik an der K P D ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert:
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»Sobald die Faschisten an die Macht kommen, sollten wir nur noch in diesen Gruppen zusammenkommen, und das hat uns sehr, sehr geholfen. Ich weiß aus meinen Erfahrungen später mit Antifaschisten im Zuchthaus und anderswo, daß besonders der KPD-Organisation das alles fehlte. Die haben z.B. Mitgliedslisten geführt und wurden dann massenweise verhaftet, weil das in keiner Weise vorbereitet war. Das Typischste war das unmögliche Verhalten der K P D in Ziegenhals, als ein paar Tage später Ernst Thälmann in Berlin verhaftet wurde. Dazu wäre es nicht gekommen, wenn die Spitze eine richtige illegale Vorbereitung getroffen hätte. Aber das gaben sie ja später zu, sie haben leider die Gefahr des Faschismus in dieser Form überhaupt nicht gesehen.« 2 4
Die Debatte über Alltag und Widerstand ist im Fluß. Schlußfblgerungen, wenn sie überhaupt schon gezogen werden, müssen deshalb als vorläufig angesehen werden. Die Interviews, so umfangreich der bisherige Text auch immer ist, sind im Grunde noch nicht vollständig und ihr Nutzen muß sich noch in der Forschung erweisen. Das trifft auch für die Bildung an den Schulen und anderen Einrichtungen zu. Es bleibt also eine wichtige Aufgabe, die Interviews für die Bildung und Forschung verfügbar zu machen. Mit der im Dezember 1998 übergebenen Dokumentation die im Jahre 2000 in zwei Sonderheften von »Konfliktfbrschung Aktuell« publiziert werden soll - liegt ein reichhaltiges Material vor, das gerade auch hierfür vielfältige Anregungen enthält.
A nmerkungen 1 Werner Röhr wies bereits auf die umgangssprachliche Selbstverständlichkeit hin, daß »Alltag« etwas ist, was jeder kennt. Vgl. Brigitte Berlekamp/Werner Röhr (Hg.): Terror, Herrschaft und Alltag. Probleme einer Sozialgeschichte des deutsche Faschismus. Münster 1995, S. 296. 2
Kurt Pätzold: Erfahrungen aus Faschismus- und Antifaschismus-Debatten, nicht nur aus DDR-Zeit. Mitschrift eines Vortrags in einer Veranstaltungsreihe des Vereins für Angewandte Konfliktforschung e.V. In: Konfliktforschung Aktuell. Berlin 1998, H. 14, S. 8. Z u m Begriff des »Antifaschismus« vgl. auch die zur Debatte vorgelegten Thesen von Ludwig Elm: Antifaschismus an der Schwelle des neuen Jahrtausends. 11 Thesen zur Diskussion, in: antifa-Spezial. Berlin 1999, Nr. 10, S. 17-20.
3 Vgl. Arnold Paucker: Standhalten und Widerstehen. Der Widerstand deutscher und österreichischer Juden gegen die nationalsozialistische Diktatur. Essen 1995, S. 24. 4 Günter Buchstab/Brigitte Kaff/Hans- Otto Kleinmann: Verfolgung und Widerstehen. Der Widerstand deutscher und österreichischer J u d e n gegen die nationalsozialistische Diktatur. Essen 1995, S.24.
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5 Walter Markov (1909-1993) war 1951 wegen »titoistischer Auffassungen« und wegen »Verbindungen zu anglo-amerikanischen Agenten« aus der S E D ausgeschlossen worden. Zugleich wurde ihm der Status eines Opfers des Faschismus aberkannt. 1956 erfolgte eine halbherzige Rehabilitierung von Markov. Sein Status als Opfer des Faschismus wurde wieder hergestellt. Die SED-Bezirksleitung Leipzig bot ihm an, den Parteiausschluß stillschweigend aufzuheben. Markov forderte dagegen einen öffentlichen Widerruf durch die S E D , der abgelehnt wurde. Markov blieb parteilos. Vgl. »Wenn jemand seinen Kopf hinhielt ...« Beiträge zu Werk und Wirken von Walter Markov. Hrsg. von Manfred Neuhaus und Helmut Seidel in Verbindung mit Gerald Diesener und Matthias Middell. Leipzig 1995. S. 43-47. 6 In: Hans-Joachim Fieber: Politische Konflikte und Berliner Vereinigung VdN. Eine Analyse der Jahre 1990 - 1995, Berlin 1995, S. 85 7
In: Hans-Joachim Beth/Reinhard Brühl/Dieter Dreetz: Forschungen zur Militärgeschichte. Probleme und Forschungsergebnisse des Militärgeschichtlichen Instituts der D D R Berlin 1998, S. 106
8 Günter Weisenborn: Der Lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933 - 1945. Verb. Auflage. Frankfurt/M. 1974. 9 Vgl. Johannes Klotz/Ulrich Schneider (Hg.): Die selbstbewußte Nation und ihr Geschichtsbild. Geschichtslegenden der Neuen Rechten. Faschismus/Holocaust/Wehrmacht. Köln 1998. 10
Liste der Interviewpartner: Baier, Erika; Binder, Waldemar; Bock, Heilmut; Bogdan, Herbert; Booth, Elli; Bradtke, Friedrich (Fritz); Brandt, Margarete; Brüning, Elfriede; Brunner, Ernst Dr.; Büren, Rulff von; Crüger, Herbert Dr.; Demel, Rudolf; Diehr, Lore; Dörrier, Rudolf; Dusiska, Emil Prof. Dr.; Ehrhardt, Hermann; Ender, Ina; Feix, Roland Dr.; Fey, Rudolf; Fischer, Margarete; Forszpaniak, Margarete; Frank, Alexander; Froebel, Ernst; Glondajewski, Gertrud; Gossweiler, Kurt Dr.; Graf, Herta; Greulich, Emil Rudolf; Grubitz, Ilse; Grubitz, Richard; Hager, Sabine; Hahne, Ruthild; Hahnheiser, Robert; Hammerstein, Franz Dr. von; Hänisch, Walter; Hanke, Erich Prof; Harnisch, Volkmar; Hartmann, Gerda; Hein, Anni; Hirt, Anni; Hoffrnann, Ernst Prof.; Hortzschansky, Ruth; Ichenhäuser, Ernst Zeno Prof.; Jaeger, Margarete; Kahlert, Herbert; Katzenstein, Alfred Prof. Dr.; Katzenstein, Ursula P. Dr.; Keller, Karl; Klauß, Irmgard; Knapp, Werner; Kohlmey, Georg; Kohlmey, Magdalena; König, Adam; König, Gerhard; Krüger, Annemarie Dr.; Langendorf, Kurt Prof Dr.; Lehmann, Maria; Liesegang, Erwin; Lohberger, Kurt; Löwenberg, Manfred (Fred); Machler, Fritz; Mattis, Willi; Melis, Ernst; Mertens, Gerhard; Mickin, Walter; Mohaupt, Richard; Morgenstern, Herbert; Müller, Fred Prof; Munter, Arnold; Münz, Ilse; Nindl, Gerhard; Nobel, Genia; Nobel, Günter; Nobst, Hildegard; Ostberg, Paul Prof. Dr.; Pudlich, Ernst; Quaas, Elfriede; Reimann, Barbara; Ribbschlaeger, Johanna; Riemer, Kurt; Ritter, Erika; Rubinstein, Roman; Sack, Walter;Schauer, Friedrich; Schaul, Dora; Schmid, Fritz; Schulz, Erwin; Schulze, Käthe; Schwaen, Kurt Prof.; Stenzel, Karl; Stenzel, Leonore; Stillmann, Kurt; Stoof, Magdalena; Strauß, Dora; Szepansky, Wolfgang; Wackernagel, Günter; Wittig, Alfred; Wolff, Gerry; Worner, Heinz; Wronski, Gisela; Zahn, Lola Prof.; Ziegler, Dietlinde; Ziegler, Erich; Ziegler, Karl. Die Interviews werden in vollem Wortlaut in der Bibliothek der Forschungsstelle für sozialhistorische Studien beim Verein für angewandte Konfliktforschung in Berlin- Marzahn, Allee der Kosmonauten 32, aufbewahrt. Drei Interviews (Frank, Hartmann, Sack) wurden bereits publiziert. Vgl. Konfliktforschung Aktuell, H.3-4, Berlin 1998, S. 66 - 120.
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11 Edith Bussmann: Sie hörten den Zigeuner singen. Ausgestoßene des Nationalsozialismus. Illustriert von Armin Maurer. Münster 1988, S. 70. 12 Vgl. Lutz Niethammer (Hg.): Der >gesäuberte< Antifaschismus. Die S E D und die roten K a p o s von Buchenwald. Berlin 1994. 13 Vgl. Hans Daniel: Fragwürdiges aus Buchenwald. Was heißt >neues Konzept des Gedenkens«? In: junge Welt, 17.12.1999. 14 Ulrich Schneider: Widerstand in den KZ und Haftstätten 1933 - 1945? Wo verlaufen die hauptsächlichen Konfliktlinien? (Auszüge) In: GeschichtsKorrespondenz - Mitteilungsblatt, Nr. 4, Berlin 1998, S. 21. 15 Martin Broszat: Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojektes. In: Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Gesellschaft. Bd. IV, S.697. 16 Kurt Pätzold: Erfahrungen aus Faschismus- und Antifaschismus - Debatten
S.
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17 Günter Buchstab/Brigitte Kaff/Hans- Otto Kleinmann: Verfolgung und Widerstand 1933 - 1945. Christliche Demokraten gegen Hitler. 2. Erg. Auflage. Düsseldorf 1990, S. 6. 18 Werner Röhr: Deutsche Widerstandsforschung 1994/95. Fragen, Probleme, Kritiken. In: Bulletin, Nr. 8. Berlin 1997, S. 13. 19 Vgl. Günter Wehner: Berlin - ein Zentrum des antifaschistischen Widerstandes. In: Konfliktforschung Aktuell, H. 3- 4, Berlin 1998, S. 28 - 38. 20 Vgl. Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933 - 1945. Frankfurt/M. 1992. 21 Vgl. Ingrid Strobel: Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939 1945. Frankfurt/M. 1998. 22 Vgl. Arno Lustiger: Zum K a m p f auf Leben und Tod! Vom Widerstand der J u d e n 1933 1945. Köln 1994. 23 Vgl. Paucker, Standhalten und Widerstehen, S. 24. 24 Arnold Paucker: Deutsche J u d e n im Widerstand 1933 - 1945. Tatsachen und Probleme. Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Berlin 1999, S. 33.
Günther
Wieland
Verdienst und Defizit der DDR-Justiz beim Verfolgen von Naziverbrechen
Der ostdeutsche Anteil am Aufdecken, Aufklären und Ahnden der vom Nazifaschismus verübten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist bislang recht differenziert und - vergleicht man die bis 1989 erschienenen Publikationen mit späteren Veröffentlichungen - oft sogar zutiefst gegensätzlich bewertet worden.
Die Dokumentation
von
1965
Erstmals gab die D D R am 25. Januar 1965 eine Übersicht über die bis dahin hier angestrengten Strafverfahren bekannt 1 , auf die sich alle künftigen DDR-Autoren stützten. Der Vorzug der Dokumentation bestand in ihren Statistiken, die sowohl die Gesamtzahl der Strafsachen als auch deren Zuordnung in den Grenzen der bis 1952 existierenden Länder auswiesen. Zugleich schlüsselten sie die Ostberliner Urteile seit Spaltung der dortigen Justiz Anfang 1949 aus. Unbeschadet mancher der Öffentlichkeit bis 1965 bereits anderweit im Detail vermittelter Prozesse 2 verzichtete man damals auf eine erschöpfende Analyse der Verfahren. Das mag dem redlichen Bemühen geschuldet gewesen sein, die ostdeutschen Zahlen rechtzeitig zu veröffentlichen, um auch damit vor dem von der Bundesregierung unter Ludwig Erhard per 9. Mai 1965 geplanten Verjähren selbst der schwersten Naziverbrechen zu warnen. Daß jedoch weder zuvor noch danach eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung der eigenen Verfolgungspraxis präsentiert wurde, war vor allem drei Faktoren geschuldet: Erstens betrachtete die D D R das Ahnden der nazistischen Systemkriminalität auf ihrem Territorium längst als im wesentlichen abgeschlossen. Zweitens sah sie sich insoweit auch in der Konfrontation mit dem anderen deutschen Nachkriegsstaat, der sie ja durchaus hohe Priorität beimaß, nicht zu tiefgründiger Analyse veranlaßt, verzichtete doch die B R D ebenso darauf, detailliert Rechenschaft abzulegen. Und drittens besaßen hierzulande weder die Justiz noch die Rechtswissenschaft, deren beider Stellenwert im Gesellschaftsgefüge ohnehin recht reduziert blieb, die personelle Ausstattung für ein derart anspruchsvolles Vorhaben.
Günther Wieland
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So waren in der Generalstaatsanwaltschaft selbst in Spitzenzeiten allenfalls sechs Juristen mit dem Aufklären von Naziverbrechen befaßt. Sie arbeiteten zudem meist in der Abteilung, die für die Kooperation mit analogen Behörden in Ost und West zuständig war. Eine Arbeitsgruppe, die ausschließlich Untersuchungen gegen hier lebende NS-Verdächtige führte, hat die Staatsanwaltschaft nie besessen. Damit betraute Sachbearbeiter waren »Einzelkämpfer«, die sich freilich auf Recherchen stützen konnten, die ihnen zunächst die Dezernate K5 der Polizei und später die Staatssicherheit präsentierten oder die jene ihrer Kollegen beizogen hatten, die für die Zusammenarbeit mit anderen Staaten verantwortlich waren und deren Zuständigkeit erlosch, sobald ein Verdächtiger hier identifiziert wurde.
DDR-Praxis
im
Spiegel jüngster
Veröffentlichungen
Gab es bis 1989 in Ostdeutschland - im Gegensatz zur Summe der Artikel über Fehlleistungen westlicher Justizbehörden auf jenem Felde - nur relativ wenige Arbeiten über die eigene Verfolgungspraxis, hat sich das seitdem grundlegend geändert. Bereits 1990 erschienen, zunächst noch vorwiegend aus der Feder hiesiger Autoren und auf nunmehr zugängige Akten des SED-Zentralkomitees gestützt, mehrere Studien, die den Prozessen 1950 im sächsischen Waldheim 3 galten. Bald waren es vor allem Verfasser aus der alten Bundesrepublik, die sich als entschiedene Kritiker der gesamten ostdeutschen Judikatur gegen NS-Tatverdächtige zu Wort meldeten. So meinte eine Hamburger Juristin, hier hätten »neben wenigen wirklichen NS-Tätern, die zumeist nur Mitläufer waren, weil die echten NS- oder Kriegsverbrecher in ihrer überwiegenden Mehrheit vor den Sowjets in den Westen geflohen waren, im wesentlichen die Klassenfeinde des kommunistischen Regimes vor Gericht gestanden«. 4 Zwar würdigten im Gegensatz dazu andere altbundesdeutsche Autoren zumindest den Anteil des Ostens beim Ahnden der in KZ und zu Vernichtungsanstalten umfunktionierten psychiatrischen Kliniken verübten Untaten, reduzierten aber die übrige einschlägige hiesige Praxis auf das Bestrafen tatsächlicher oder vermeintlicher Funktionsträger des Naziregimes wegen deren Organisationszugehörigkeit. 5 Weitere Arbeiten widmeten sich dem Einfluß, den die Parteiführung der S E D auf das Beantragen und Vollstrecken von Todesurteilen nahm. 6 Schließlich erschienen Beiträge über MfS-Ermittlungen. 7 Freilich gehen - was deren Autoren meist verschweigen gerade fünf Prozent der hiesigen Hauptverhandlungen auf Recherchen der Staatssicherheit zurück, die erstmals im Frühjahr 1950 mit zunächst vereinzelten NS-Ermittlungen befaßt war.8 Stützten sich fast alle bislang erwähnten Arbeiten auf Akten der S E D und des
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MfS, hebt sich davon eine von der Freien Universität angenommene Dissertation ab, die auf Aufsichtsakten der Deutschen Justizverwaltung (künftig: DJV) und der hier zunächst bestehenden ostdeutschen Landesjustizministerien beruht (das letzte löste man 1952 in Thüringen auf; Mecklenburg-Vorpommern kannte nur eine dem Ministerpräsidenten unterstellte Abteilung). Der Autor hat etwa eintausend Urteile aus den Jahren 1945 bis 1949 ausgewertet und stellt sich - im Gegensatz zur Mehrzahl anderer Publikationen - dem Vergleich mit der westdeutschen Anklage- und Spruchpraxis jener Jahre. Aufschlußreich ist das Resümee, zu dem er trotz deutlicher partieller Kritik an der SBZ-Judikatur gelangt: »Anhand der Rechtsprechung nach Befehl 201 läßt sich eine Vorstellung davon gewinnen, wie deutsche Ahndung von NS-Unrecht sich im Einklang mit Geist und Wortlaut alliierter Bestimmungen hätte vollziehen können.« 9 Im Gegensatz dazu behauptete Rolf-Rüdiger Henrich, dem allerdings zuzugestehen ist, daß ihn seine Anwaltstätigkeit in der D D R wohl nie mit Verfahren gegen NSBeschuldigte konfrontierte, diesbezügliche hiesige Urteile würden »einer gründlichen Prüfung nur in den seltensten Fällen standhalten«. Sein agitatorischer Rundumschlag gipfelte in der Frage: »Konnte die DDR-Strafjustiz in Prozessen dieser Art überhaupt ein im Ergebnis offenes, faires und unter strikter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze und Normen durchgeführtes Verfahren gegen die Betroffenen gewährleisten?« 1 0 Solche Vorbehalte, die sich dem Charakter des Vorurteils zumindest nähern, können nur die Quellen ausräumen oder bestätigen.
Die geplante
Edition
»DDR-Justiz
und NS-Verbrechen«
Es ist daher außerordentlich zu begrüßen, daß der renommierte Münchener Verlag K.G. Saur, der neuerdings die Edition westdeutscher Urteile gegen die Tatbeteiligten nazistischer Tötungsverbrechen 1 1 herausgibt, den Druck von etwa zehn Bänden analoger ostdeutscher Entscheidungen in sein Programm aufgenommen hat. Die Sammlung »DDR-Justiz und NS-Verbrechen« wird sich von den BRD-Bänden, die nur die Kriegszeit betreffende Urteile enthalten, in zweifacher Hinsicht unterscheiden. Erstens werden alle hiesigen Richtersprüche über NS-Tötungsverbrechen veröffentlicht, also auch jene, die sich auf vor dem 1. September 1939 verübte Delikte beziehen. Zweitens finden, soweit Urteile seit dem 3. Oktober 1990 im Wege der Kassation oder gemäß dem Rehabilitierungsgesetz angegriffen und ganz bzw. teilweise aufgehoben oder aber bestätigt wurden, auch diese Entscheidungen im Anschluß an den früheren ostdeutschen Richterspruch Aufnahme, so daß die beiderseitigen Rechtspositionen im jeweiligen Einzelfall vergleichbar sind.
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Da sich die Edition auf vollendete und versuchte Tötungsdelikte erstreckt, wird sie zwar die justizielle Auseinandersetzung mit den schwerwiegendsten Naziverbrechen darstellen, gleichwohl kann und will sie - ebensowenig wie das die Herausgeber hinsichtlich der westdeutschen Spruchpraxis vermögen - eine erschöpfende Analyse der hiesigen Rechtspraxis bieten, was den ohnehin immensen Umfang des Vorhabens noch potenziert hätte. Das muß hingenommen werden, auch wenn es in mancher Hinsicht bedauerlich sein mag. So kann die Sammlung zwar den zuweilen erhobenen Vorwurf entkräften, »in der Regel« wären in Ostdeutschland »aber die Jüdinnen und Juden, als die eigentlichen Opfer der NS-Machthaber, nicht Gegenstand der Verfahren« 1 2 gewesen. Diese Bezichtigung widerlegen zahlreiche Prozesse, die hier gegen Verantwortliche der Deportation und Ermordung der Juden von Breslau und Dresden oder der Opfer der Ghettos von Brest, Warschau, Lemberg, Stanislau, Siedice, Drohobycz, Sarnaki, Kobryn, Libau, Mogilew, Mielec und Trawniki anhängig waren. Allein wie frühzeitig man im Osten die an Mißhandlungen und Zerstörungen während der Pogromnacht im November 1938 in Aue, Beierfeld, Berlin, Brandenburg, Calvörde, Chemnitz, Cottbus, Glauchau, Grimma, Jeßnitz, Leipzig, Löcknitz, Marisfeld, Neuruppin, Oberlungwitz, Potsdam, Themar, Walldorf, Wurzen, Wüstenbrand und anderen Orten Beteiligten abstrafte 1 3 , wird nicht ersichtlich. Das gilt auch für eine Reihe von Verbrechen in den frühen KZ und anderen Marterstätten, in denen SA und SS Antifaschisten sadistisch quälten, diese jedoch - wie etwa in den sächsischen Lagern Hainichen und Pappenheim - die Torturen überlebten, so daß die Sammlung die gegen die dortigen Folterer ergangenen Urteile ebensowenig ausweist wie Prozesse gegen jene Täter, die abgeschossene anglo-amerikanische und kanadische Flieger mißhandelten. Trotz dieser Grenzen wird die Edition ein unvoreingenommenes Bild über Vorzüge und Nachteile der SBZ- und DDR-Judikatur sowie über die Positionen der bundesdeutschen Kassationssenate und Rehabilitierungskammern in den meist von den Erben der seinerzeit hier Verurteilten angestrengten Verfahren vermitteln. 1 4
Vorzüge und Nachteile im
Widerstreit
Zwar verkörpern beide Begriffe Gegensätze, gleichwohl korrespondieren sie zuweilen miteinander. Besteht unstreitig der erste Vorzug der ostdeutschen Recherchen gegen NS-Tatbeteiligte im raschen Beginn nach dem militärischen Ende des Hitlerreiches, ist deren baldiger (von den Alliierten verfügter) Stopp der gleichermaßen früheste Nachteil. Benjamin u.a. verwiesen auf regionale Initiativen in Bernau, Stralsund und vor
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allem Wittenberg, wo man schon im Juni 1945 Denunzianten aburteilte. 1 5 In Leipzig fand im September 1945 gegen einen Nazi, der unmittelbar vor dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen eigenhändig ein Opfer erschoß, die Hauptverhandlung statt. 1 6 Im gleichen Monat verkündete das eigens dazu von der Landesverwaltung Sachsen eingesetzte 1 7 und ein einziges Mal tagende Volksgericht Dresden das Urteil im Radebergprozeß. 1 8 Mit dem Gesetz Nr. 4 1 9 entzog der Alliierte Kontrollrat die Ahndung von Naziverbrechen völlig der inländischen Justiz, gestand aber mit dem Gesetz Nr.10 2 0 den vier Befehlshabern zu, jeweils in ihrer Zone die deutsche Justiz zu ermächtigen, derartige Straftaten zu verfolgen, die Deutsche an Deutschen und Staatenlosen begangen hatten. Erteilten dazu am 30. August 1946 die Briten 2 1 und am 5. Oktober 1948 die Franzosen 2 2 (sie unter Ausschluß der gegen Staatenlose gerichteten Delikte) allgemeine Ermächtigungen, beschränkten sich die beiden anderen Mächte zunächst darauf, das von Fall zu Fall zu erlauben. 2 3 Die Sowjets hielten sich aus nicht durchweg unbegründetem Mißtrauen gegen hiesige Spruchkörper 2 4 besonders zurück. Dabei hatte ihnen - was übrigens die offizielle DDR-Rechtsgeschichte unerwähnt ließ - bereits am 30. Oktober 1945 der zum Präsidenten der DJV ernannte liberale Reichsminister a.D. Eugen Schiffer als wohl erstes in den vier Zonen entstandenes diesbezügliche inländische Projekt den Entwurf einer aus sechs Paragraphen bestehenden »Verordnung über die Bestrafung der Naziverbrecher« vorgelegt. Ihr Paragraph 1 lautete: »Als Naziverbrecher wird bestraft, wer aus nazistischer Gesinnung durch Handlungen oder Unterlassungen gröblich gegen die Gebote der Menschlichkeit oder der Sittlichkeit verstoßen oder als öffentlicher Beamter, als Vorgesetzter oder als Sanitäts- oder Aufsichtsperson in Ausübung seiner Dienstobliegenheiten solche Verstöße geduldet oder gutgeheißen hat.« 2 5 Gewiß zeichnete Schiffers Entwurf nicht jene völkerstrafrechtliche Qualität aus, welche die Alliierten im Londoner Statut für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 2 6 normiert hatten, doch war er Ausdruck ernstlichen Strebens, die inländische Justiz zu befähigen, einen gewichtigen Beitrag zur Ahndung der Naziverbrechen zu leisten. Dennoch blieb der ostdeutsche Anteil daran in den ersten zwei Jahren nach der Befreiung recht bescheiden. Zwar hatten sich vor den Landgerichten Schwerin und Dresden Verantwortliche der an Patienten der Heil- und Pflegeanstalten verübten Morde zu verantworten 2 7 , fanden erste Prozesse gegen Tatbeteiligte der in KZ und anderen Haftstätten verübten Untaten statt 2 8 - vorwiegend aber richteten sich die inländischen Strafverfähren gegen Denunzianten, wobei der Prozeß gegen den Finanzamtsangestellten J o s e f Puttfarcken in Nordhausen zu Aufsehen und Kontroversen führte. 2 9 Da die Besatzungsmacht weitgehend die Verfolgungskompetenz gegen NS-Delin-
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quenten beanspruchte, hatten sich diese zunächst meist vor sowjetischen Militärtribunalen zu verantworten, wie die Statistik per 31. Dezember 1946 ausweist: 17.175 von jenen Tribunalen Verurteilten 3 0 standen 129 von deutschen Gerichten rechtskräftig Bestrafte gegenüber. 3 1 Diese Relation änderte sich, als der C h e f des Sowjetischen Militärverwaltung am 16. August 1947 mit Befehl 201 »Richtlinien zur Anwendung der Direktiven Nr. 24 und Nr. 38 des Kontrollrats über die Entnazifizierung« erließ. 3 2 Die Besatzungsmacht behielt zwar die Zuständigkeit für »besonders schwere Fälle« und strengte noch verschiedentlich Verfahren an (so vor dem Militärtribunal der Sowjetischen Streitkräfte im Herbst 1947 gegen 13 SS-Männer und drei Zivilisten wegen im KZ Sachsenhausen verübter Verbrechen). 3 3 De facto aber stellte der Befehl 201 - ohne es expressis verbis zu sagen - für die inländische Justiz die nahezu uneingeschränkte Ermächtigung dar, jene Naziverbrechen zu ahnden, die in Deutschland verübt worden waren. So stieg die Zahl der hier rechtskräftig Verurteilten rapide an: Schloß man 1947 gegen weitere 744 Personen die Verfahren ab, belief sich die Zahl 1948 - dem Jahr des höchsten Anfalls - auf 4.549 und 1949 nochmals auf 2.633. 3 4 Der Befehl 201 ist differenziert zu bewerten: Zwar leitete er - wenn auch auf moralisch unangreifbarem Gebiet - die Zentralisierung der ostdeutschen Justiz ein. Zugleich erhöhte er aber deren Kompetenz. Den Betroffenen eröffnete er Rechtsgarantien (Öffentlichkeit, freie Anwaltswahl, ordentliche Rechtsmittel), welche die Militärtribunale selbst in Ausnahmefällen nur begrenzt gewährten. Andererseits führte er Elemente sowjetischer Judikatur ein: Das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft wurde insoweit aufgehoben. Anklagen verfaßte die Polizei. Haftbefehle bedurften nicht richterlicher Prüfung, zudem band man die Gerichte an knappe Fristen: Binnen 15 Tagen nach Eingang der Anklage war zu verhandeln. Wohl mag heute nicht jede Entscheidung jener zum Teil mit im Eiltempo ausgebildeten Juristen besetzten Spruchkammern nachvollziehbar sein, jedoch haben verschiedentlich gerade Volksrichter ausgewogene und zeitgeschichtlich wertvolle Urteile verkündet. 3 5 Rechtsgrundlagen bildeten dabei zwei Kontrollratsnormen: das Gesetz 10 und die nur im Osten strafjustitiell umgesetzte Direktive 38. 3 6 Sie war USamerikanischen Ursprungs und nahm einleitend auf das KG 10 Bezug. Dennoch unterschieden sich beide: War letzteres unstreitig ein Strafgesetz, sah die Direktive für politisches Fehlverhalten während der Nazizeit Sühnemaßnahmen vor. Sie waren nach dem Grad der individuellen Belastung abgestuft und reichten für Hauptschuldige von fünf Jahren bis zur Todesstrafe, bei Belasteten bis zu zehn Jahren Gefängnis oder Internierung. In der SBZ ist die Direktive als echtes Strafgesetz behandelt worden, wie später das Oberste Gericht der D D R ausdrücklich bestätigte. 37 So sind bis Oktober 1949 mehr als 1.100 Führer der SA, 1.055 SS-Leute, 737 Politische Leiter und über 3000
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Angehörige anderer NS-Organisationen von Strafkammern gemäß Befehl 201 zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, die oft drei Jahre nicht überstiegen. 3 8 Mit dieser Spruchpraxis war die S M A D unzufrieden. So kritisierte deren Rechtsabteilung wiederholt zu viele Freisprüche, milde Strafen, großen Zeitaufwand und zu wenig staatsanwaltschaftliche Rechtsmittel. 3 9 Mag das bereits die These von »ausschließlich mit loyalen Parteimitgliedern besetzten 201-Kammern« 4 0 in Zweifel ziehen, widerlegen die Personalakten sie vollends. So gehörten 1947 von den 20 in diesen Spruchkörpern in Thüringen tätigen Richtern sechs der S E D an. 4 1 Wägt man die gesamte Spruchtätigkeit der 201er-Strafkammern ab, ist dem Fazit von Meyer-Seitz zuzustimmen: Die »frühe Verfolgung und Ahndung von NS-Straftaten in der SBZ war im wesentlichen frei von Eingriffen der Besatzungsmacht, der S E D und der staatlichen Justizverwaltung« und »der überpositive Ansatz der ostzonalen Rechtsprechung zum KG 10 kam den alliierten Vorgaben wesentlich näher als die milden Urteile zahlreicher westdeutscher Gerichte.« 4 2 Das gilt jedoch nicht für die Strafverfahren, die wenig später gegen aus der Internierung Übergeführte vor eigens dazu gebildeten, sich gleichfalls auf Befehl 201 berufenden und jetzt in der Tat durchweg aus der S E D angehörenden Richtern gebildeten Strafkammern angestrengt wurden.
Die
Waldheim-Prozesse
Als die Besatzungsmacht Anfang 1950 die Betroffenen aus Buchenwald, Bautzen und Sachsenhausen überstellte, bot das der D D R die Chance, mit rechtlichen Verhandlungen gegen schwerbelastete Nazirepräsentanten ihr erklärtes antifaschistisches Grundanliegen strafjustitiell unter Beweis zu stellen. Verfahren gegen Spitzen der faschistischen Ausnahmejustiz - unter ihnen der Generalstaatsanwalt am Oberlandesgericht Naumburg und mehrere Ankläger am Volksgerichtshof - wäre ebenso wie Prozessen gegen Tatbeteiligte am Völkermord in Osteuropa nationale Pilotwirkung zugekommen, zumal die aus westlicher Internierung Entlassenen (die letzten - unter ihnen ein stellvertretender Gauleiter, acht Kreisleiter und ein Teilnehmer am Pogrom 1938 - ließen die Franzosen Weihnachten 1949 frei 4 3 ) bundesdeutsche Verfahren nicht zu gewärtigen hatten. Wohl gab es im Januar 1950 DDR-Verlautbarungen, die Internierten würden einem normalen deutschen Untersuchungsverfahren unterzogen und kämen frei (Staatssekretär Warnke), »wenn sich die Beschuldigungen nicht bewahrheiten«. 4 4 Tatsächlich ist die Chance dazu willkürlich vertan worden, als zwischen 26. April und 29. Juni 1950 unter Aufsicht und Kontrolle einer aus Vertretern des SED-Parteivorstan-
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des, des Innen- und Justizministeriums sowie der Staatsanwaltschaft gebildeten Kommission Verhandlungen gegen 3.324 Angeklagte stattfanden, von denen sieben freikamen, während man die übrigen zu durchweg hohen Strafen verurteilte. Walter Ulbricht hatte am 13. April 1950 verlangt, die Prozesse binnen sechs Wochen »durchzuziehen.« 4 5 Die Relation zwischen der letztlich benötigten Zeit und der Verurteiltenzahl erlaubt Rückschlüsse auf Oberflächlichkeit und Hektik der Judikatur, die einer Doppelstrategie diente: Sollten drakonische Strafen Antifaschismus verbürgen, trachtete man im Wettlauf um Herzen und Hirne von Millionen nomineller NSDAPMitglieder, das Ende der Entnazifizierung zu verkünden. Jutta Limbach hat den damals Verantwortlichen den »ehrlichen Wunsch« attestiert, Nazi- und Kriegsverbrechen zu ahnden und zugleich betont: »Ein Studium der Analysen und Berichte über diese Prozesse macht aber erschreckend deutlich, wohin das führt, wenn man sich aus Gründen der Effizienz und der Beschleunigung von rechtsstaatlichen Prinzipien verabschiedet.« 4 6 Das Bezirksgericht Dresden erklärte am 28. Oktober 1991 alle Waldheim-Urteile für nichtig, ohne sich zu Schuld oder Nichtschuld der Betroffenen äußern zu können. 4 7 Die Richter entnahmen 160 ihnen vorliegenden Fällen, »daß den Verurteilten nur selten spezielle Straftaten vorgeworfen wurden«. Problematisch bleibt, daß sie den zehn vor erweiterter Öffentlichkeit im Rathaus der Kleinstadt angestrengten Verfahren nicht gesondertes Augenmerk schenkten. Warum man z.B. das - von jenem Richter Otto Fuchs, der 1992 mit seiner Frau aus einem Dresdener Hochhaus in den Tod sprang, als die Bundesjustiz gegen ihn wegen seiner Waldheimer Tätigkeit ermittelte - verkündete Urteil gegen SS-Hauptsturmführer Otto Baumann vom berüchtigten »Limbacher Mordsturm« aufhob, den 16 Zeugen der Teilnahme an Tötungsverbrechen überführten 4 8 , bleibt nicht nachvollziehbar. Wohl vermag dieses Urteil die Waldheim-Prozedur nicht generell in günstigeres Licht zu versetzen, Rückschlüsse auf Umfang und Tiefe der dem Dresdener Nichtigkeitsbeschluss zugrundliegenden Recherchen erlaubt es aber wohl. 4 9 Zwar fand Wäldheim - sieht man von etwa 70 Verhandlungsunfähigen ab, die man später mit erheblich reduzierten Strafen belegte - keine Fortsetzung, gleichwohl ist nicht zu übersehen: Dort tätig gewesene Juristen kehrten in ihre frühere Tätigkeit zurück und fänden verschiedentlich in 201er-Kammern Verwendung. Zwar unterschieden sich deren Verhandlungen, dennoch dürften nicht aus jedem Verhandlungsaal und Beratungszimmer gewisse Denkstrukturen verbannt gewesen sein. Darauf deuten jedenfalls einige der danach gefällten Urteile hin, so z.B. das Verfahren gegen Christel Jankowsky. Sie verurteilte man am 14. Juli 1954 zum Tode, weil die KZ-Aufseherin (»zuletzt Scharführerin«) 1943 »cirka 6 bis 7 Mal« an Vergasungen im KZ Ravensbrück teilgenommen habe. 5 0 Daß die SS eine Männerorganisation war, in
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der Frauen zwar Angestelltenstatus aber niemals einen Dienstrang erlangten, blieb Anklägern und Richtern verborgen. Mag das eher sekundär sein, so gewiß nicht die letztlich wohl zur Begnadigung führende Tatsache, daß die J. zwar 1943 einige Monate in jenem Lager war. Als man aber dort Anfang 1945 die Gaskammer eröffnete, war sie längst Hunderte von Kilometern vom Tatort entlernt. Solche gravierenden Recherchemängel hafteten den ostdeutschen NS-Ermittlungen der letzten Jahrzehnte der Existenz der D D R nicht an. Anders ist hingegen die Strafpolitik zu bewerten, der es verschiedentlich an angemessener Differenzierung fehlte. Laut Statistik ergingen gegen Nazitäter in der D D R in den letzten 20 Jahren 6 Todesurteile (zuletzt 1977) 5 1 , 28 lebenslange Freiheitsstrafen, 15 zwischen zehn und 15 Jahren und vier bis zu zehn Jahren. Gewiß war es richtig, die nazistischen Massenverbrechen als »entsprechend dem Mechanismus der faschistischen Diktatur durch ein Heer von Einzelpersonen verwirklicht« zu werten, »deren zielgerichtetes, planmäßiges, aufeinander abgestimmtes und arbeitsteiliges Zusammenwirken erst den verbrecherischen Gesamterfolg herbeiführen konnte.« 5 2 Dennoch bleibt zu fragen, ob mehr als 40 Jahre nach den inkriminierten Handlungen selbst gegen oft Hochbetagte, meist Geständige, erinnert sei an Mannschaftsdienstgrade der Polizeibataillone, das Strafmaß nahezu durchweg an der gesetzlichen Obergrenze liegen mußte, während deren einstige Vorgesetzte in aller Regel in der Bundesrepublik lebten und dort - soweit sie nicht gänzlich straflos blieben - erheblich milder verurteilt worden waren. Dabei ist letztlich nicht zu übersehen, daß die Gnadenpraxis der D D R in diesen Fällen recht restriktiv war und NS-Verurteilte von den Amnestien der letzten Jahrzehnte generell ausgeschlossen blieben. Als Fazit bleibt: Sieht man von der weitaus überwiegenden Zahl der WaldheimFälle ab, konzentrierten sich die ostdeutschen Prozesse darauf, ob, wie und an welchen Straftaten die Angeklagten teilnahmen. Die Antwort ist den Urteilen - zugestanden: in juristisch und sprachlich unterschiedlicher Qualität - zu entnehmen, wie die demnächst erscheinende Sammlung »DDR-Justiz und NS-Verbrechen« belegen wird.
A nmerkungen 1 Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu den Nazi- und Kriegsverbrechen. Eine Dokumentation. Hrsg.: Generalstaatsanwalt und Ministerium der Justiz der D D R Berlin 1965. Die veröffentlichten Zahlen gehen auf Angaben regionaler Staatsanwaltschaften zurück und sind zum Teil unvollständig. So wird für Thüringen 1946 kein Verfahren ausgewiesen, obwohl es dort damals eine Reihe von Prozessen gab. 2 In den ersten Nachkriegsjahren fanden zahlreiche Hauptverhandlungen vor erweiterter Öffentlichkeit statt. Verschiedene Urteile (so über die HASAG-Prozesse in Leipzig, das
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Osterstein-Verfahren in Zwickau und die Berliner Verhandlung gegen Tatbeteiligte der Köpenicker Blutwoche) wurden gedruckt oder vervielfältigt. Später erschienen in Ost und West populärwissenschaftliche Publikationen, die Erkenntnisse hiesiger Prozesse verarbeiteten: Peter Przybylski/Horst Busse: Mörder von Oradour, Berlin 1984; Horst B u s s e / U d o Krause: Lebenslänglich für den Gestapokommissar, Berlin 1988; Günter Schwarberg: Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser D a m m , Göttingen 1988; Lea Rosh/Günter Schwarberg: Der letzte Tag von Oradour, Göttingen 1988. Zu einigen Verfahren gab es wissenschaftliche Studien, so z.B. Eva Seeber: Der Anteil der Minderheitsorganisation »Selbstschutz« an den faschistischen Vernichtungsaktionen im Herbst und Winter 1939 in Polen. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Berlin 1969, S. 3 ff. und Klaus Geßner: Geheime Feldpolizei. Zur Funktion und Organisation der geheimpolizeilichen Exekutivorgane der faschistischen Wehrmacht. In: Militärhistorische Studien 24. Neue Folge, Berlin 1986. 3 Vgl. Wolfgang Eisert: Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz. München 1993; Wilfriede Otto: Die »Waldheimer Prozesse« - altes Erbe und neue Sichten. In: Neue Justiz, Berlin 1991/8, S. 355 ff.; Falco Werkentin: Scheinjustiz in der frühen D D R Aus den Regieheften der »Waldheimer Prozesse des Jahres 1950«. In: Kritische Justiz, Baden-Baden 1991/3, S. 333 ff. 4 Helge Grabitz: Die Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik und der D D R In: Claudia Kuretsidis-Haider / Winfried R Garscha (Hrsg.): Keine »Abrechnung«. NSVerbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig und Wien 1998, S. 144 ff. (160 f.). 5 So der damalige C h e f der Zentralen Stelle Ludwigsburg, Leitender Oberstaatsanwalt Alfred Streim in: Neues Deutschland, 24.4.1995, S.12. 6 Falco Werkentin: Strafjustiz im politischen System der D D R Fundstücke zur Steuerungsund Eingriffpraxis des zentralen Parteiapparates der S E D . In: Hubert Rottleuthner unter Mitarbeit von Andrea Baer u.a.: Steuerung der Justiz in der D D R Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994 S. 93 ff. 7 Insa Eschebach: »Ermittlungskomplex Ravensbrück«. Das Frauenkonzentrationslager in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). In: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin Juni 1997, H. 2. Bei den in den letzten beiden Jahrzehnten der D D R angestrengten MfS-Ermittlungen handelt es sich wohl durchweg um sorgsam geführte Recherchen, wie selbst recht kritische Betrachter betonen, so u.a. der Mitarbeiter der Gauckbehörde Henry Leide, in: antifa, Berlin 1994/8, Beilage antifa special. 8 Das erste vom MfS ermittelte - zunächst wohl wegen anderer Vorwürfe eingeleitete - Verfahren richtete sich gegen den stellvertretenden Leiter des Judendezernats der Gestapo in Breslau, Hans Müller. In: Landgericht (künftig: LG) Meiningen, Az. StKs 28/50 (86/50). 9 Christian Meyer-Seitz: Die Verfolgung der NS-Straftaten in der sowjetischen Besatzungszone (Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie, Bd. 3), Berlin 1998, S. 358. 10
Rolf-Rüdiger Henrich: Die Justiz im totalitären Staat - Gerichtspraxis in der D D R In: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der S E D . Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, Leipzig 1994, S. 209 ff. (216); siehe auch den Beitrag Henrichs in der »Deutschen Richterzeitung« (1992, S. 85). Zu inhaltlichen Ungereimheiten (so: die D D R habe stets dann NS-Täter angeklagt, wenn in der B R D die
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Verjährung drohte): Europa unterm Hakenkreuz. Bd. 8 (Ergänzungsband 2). Analysen Quellen Register. Zusammengestellt und eingeleitet von Werner Röhr, Heidelberg 1996, S. 404 ff. 11 Adelheid Rüter-Ehlermann/Christian F. Rüter (Hrsg.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966. Die ersten 22 Bände erschienen zwischen 1968 und 1981 in Amsterdam. Die Bände 23 und 24 wurden 1999 ausgeliefert, etwa 20 weitere werden folgen. Eine Gesamtübersicht enthält: C.F. Rüter/D.W. de Mildt: Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1997. Eine systematische Verfährensbeschreibung mit Karten und Registern. Amsterdam - München 1998. 12 Grabitz, Die Verfolgung, S. 161. 13 Urteile befinden sich in den Beständen des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde (künftig: BArch): D P I / V A 409, VA 865, VA 867, VA 868, VA 868-1, VA 1097 und D P 1 / S E 3588, SE 3590; weitere Nachweise enthält: Die Haltung der beiden deutschen Staaten (Fußnote 1), S. 55 f. 14 Selbst Erben Schwerbelasteter (SA-Schläger der Köpenicker Blutwoche und eines Anführers des Novemberpogroms in Cottbus) erstrebten - in diesen Fällen erfolglos - die Rehabilitierung der Verurteilten. Abschlägige Beschlüsse des LG Berlin und des Brandenburgischen Oberlandesgerichts (künftig: O L G ) sind zu lesen in: Neue Justiz, Berlin, (künftig: NJ) 1992/12 S. 588 ff u. 1996/11 S. 596; OLG-Rechtsprechung Neue Länder für Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen 1995/3, S. 69 f. 15 Zur Geschichte der Rechtspflege der D D R 1945-1949, Hg. Autorenkollektiv, Leitung: Hilde Benjamin, Berlin 1976, S. 47 ff. 16 LG Leipzig, Az. 19 StKs 3/49. 17 Amtliche Nachrichten der Landesverwaltung Sachsen, 1 Jg., Nr.5 vom 24.9.1945. 18 Az.: Vos 1/45. 19 Amtsblatt des Alliierten Kontrollrates (künftig AB1KR) Nr. 2 v o m 30.11.1945, S. 25 ff. 20 AB1KR Nr. 3 vom 31.01.1946, S. 50 ff. 21 Justizblatt für Aurich, Oldenburg und Osnabrück 1946, Nr. 14, S. 129. 22 Journal Officiel. Amtsblatt des Französischen Oberkommandos in Deutschland, Nr. 206 vom 5.10.1948, S. 1684 ff 23 Eine UdSSR-Ermächtigung, die auch Verbrechen an Opfern unbekannter Nationalität einschloß. Siehe Günther Wieland: Der Jahrhundertprozeß von Nürnberg, Berlin 1986, S. 113 ff. 24 So verurteilte das LG Rudolstadt (KLs 117/46) zwei Denunzianten eines 1944 in Buchenwald Umgekommenen zu lediglich je sechs Monaten Gefängnis, weil doch dessen gute gesundheitliche Betreuung im KZ gewährleistet gewesen sei (BArch/DP 1/VA 5823). 25 B A r c h / D P 1/VA 7347/5. 26
Internationales Militärtribunal, Bd. I, Nürnberg 1947, S. 7 ff
27 LG Schwerin, 1 Ks 3/46; LG Dresden, 1 Ks 57/47 - (S) 35/47. 28
U.a.: LG Eberswalde, 2 Ks 2/46; LG Dresden, 1 Ks 19/46, 1 Ks 33/46, 1 Ks 35/46; LG Chemnitz, (3) StKs 1/47; LG Leipzig, 14 Ks 14/47; LG Neuruppin, KLs 26/47.
29
LG Erfurt-Nordhausen, 3 Ks 1/46. Kritik daran übte Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung, Heidelberg 1947/5, S. 105 ff. (108).
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30 S.I. Tulpanow: Die Rolle der S M A D bei der Demokratisierung Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1967, H. 2, S. 240 ff. In welchem Maße die Verurteilten konkreter Verbrechen überführt oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu Naziorganisationen bzw. wegen ihres Verhaltens nach dem 8.5.1945 bestraft wurden, ist nicht erkennbar. 31 Siehe Fußnote 1, S. 32. 32
Zentralverordnungsblatt ( ZVOB1.) 1947, Nr. 13, S. 153 f. und Nr.18, S. 188 f.
33 Todeslager Sachsenhausen. Ein Dokumentarbericht v o m Sachsenhausenprozeß. Zusammengestellt von F. Sigl. Berlin 1948. 34 Siehe Fußnote 1, S. 32. 35 Siehe Brief des »Central Committee of Liberated Jews in the American occupied zone in Germany« an das LG Leipzig v o m 30.11.1948; a.a.O., S. 40. 36 AB1KR Nr. 11 vom 31.10.1946, S. 184 ff. 37 Entscheidungen des Obersten Gerichts der D D R in Strafsachen, Bd. 1, Berlin 1951, S. 192. 38 BArch, DP 1/VA 6229/S. 11. 39 BArch, DP 1/VA 11/131; VA14/77; VA 19/15. 40 41
So Annette Weinke in Berliner Zeitung v o m 30.4./1.5.1999. BArch, DP 1/VA 840-1/18. Zwar mag sich in der Folge die Proportion etwas verlagert haben, mehr als 1500 rechtskräftige Freisprüche sprechen jedoch gegen eine willfährige Justiz.
42
Meyer-Seitz, Die Verfolgung, S. 345.
43
Rainer Möhler: Entnazifizierung in Rheinland-Pfalz und im Saarland unter französischer Besatzung von 1945 bis 1952. Mainz 1992, S. 388 f.
44
Neues Deutschland, 12.1.1950, S. 1.
45 Eisert, Die Waldheimer Prozesse, S. 62. 46 Jutta Limbach: Vergangenheitsbewältigung durch die Justiz. In: Deutsch-Deutsche Rechtszeitschrift 1993/3, S.66 ff. (70). 47
NJ 1992/2, S. 69 £
48 LG Chemnitz, StKs 167/50. 49
Gleichwohl unterscheidet sich dieser Beschluß wohltuend von der Entscheidung des Kammergerichts in Berlin v o m 15.7.1954, mit der zwar einerseits die Waldheim-Urteile bereits damals dort für nichtig erklärt, anderseits aber die westdeutsche Strafverfolgung pharisäerhaft verklärt und der D D R jede Anstrengung zur Ahndung von Naziverbrechen abgesprochen wurde (Neue Juristische Wochenschrift 1954/50, S. 1901 f)
50 LG Gera, 1 Ks 124/54. 51 Die letzte Höchststrafe wegen Kriegs- und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verkündete das Stadtgericht Berlin (101a BS 4/77) am 28.3.1977. Die Strafe wurde im Gnadenwege in lebenslange Haft umgewandelt. 52
NJ 1982/1, S. 35 ff.
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J üdisches Erbe in der DDR 1
Es ist keine neue Erkenntnis, daß sich die Gesellschaft in Deutschland stets schwer getan hat im Umgang mit ihren Bürgern jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft. Ebensowenig wird auch der Meinung zu widersprechen sein, daß die D D R da keineswegs eine Ausnahme bildete. Forschungen und kritische Diskussionen nach dem Umbruch von 1989/90, im letzten Jahrzehnt, haben nachdrücklich auf gravierende Verfehlungen aufmerksam gemacht, auf Benachteiligungen von Opfern des Holocaust, auf Verweigerungen, Einschränkungen bis hin zu zeitweiligen Repressionen wie zu Beginn der fünfziger Jahre, die dazu führten, daß zahlreiche jüdische Mitbürger die D D R verließen; auch gab es - zumal in den achtziger Jahren - Erscheinungen des Antisemitismus. 2 D o c h geht fehl, wer - wie bisweilen geschehen - die D D R und ihre offizielle Politik deshalb in Gänze kurzschlüssig des Antisemitismus zeiht. 3 D e m ist auch in der genannten Debatte zurecht deutlich widersprochen worden. 4 Beträchtliche Unzulänglichkeiten und Defizite gab es natürlich gleichermaßen, was die Beschäftigung der DDR-Gesellschaft mit der Geschichte der Juden in Deutschland, mit ihrer Rolle und ihrem Schicksal in der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter betrifft. Gleichwohl entsteht, wenn man sich mit dieser Frage näher befaßt, wie also dazu geforscht, wie Wissen darüber vermittelt wurde, welchen Platz die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Judenverfolgung und Genozid an den Juden im gesellschaftlichen Leben einnahm, ein differenziertes Bild. Es soll versucht werden, dem in gebotener Kürze, die nur eine holzschnittartige Linienführung gestattet, historisch nachzugehen, die verschiedenen Entwicklungsetappen des Umgangs in der D D R mit jüdischem Erbe und die Wandlungen auf diesem Felde nachzuzeichnen, um so Leistungen wie Grenzen, Verdienste wie Versäumnisse und Defizite zu benennen. 5 Dabei werden Aktivitäten wie Publikationen im gesellschaftspolitischen Raum und kulturellen Bereich der D D R sowie Arbeiten der DDR-Historiographie, unter denen die Untersuchungen des Jubilars ohne Frage einen herausragenden Platz einnehmen 6 , den Schwerpunkt bilden, während die in den letzten Jahren erst intensiv erforschten Bemühungen der Evangelischen Kirche um die Vermittlung jüdischen Erbes 7 nur summarisch Erwähnung finden.
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Es liegt auf der Hand, daß angesichts des ungeheuerlichen Verbrechens des Völkermords an den deutschen und europäischen Juden durch den Hitlerfaschismus es zur dringlichen Aufgabe jeder ehrlichen deutschen Politik nach 1945 werden mußte, mit dieser Erblast kompromißlos abzurechnen, deren soziale, politische und geistige Wurzeln aufzudecken und Sorge zu tragen, daß sich dies nicht wiederholt. Es ging nicht nur darum, der millionenfachen jüdischen Opfer zu gedenken und gegenüber den Überlebenden Wiedergutmachung zu leisten, sondern auch Schuld und Verantwortung bewußt zu machen, zumal da die erdrückende Mehrheit der Deutschen dieses Verbrechen passiv geduldet, sich gleichgültig und nicht selten zustimmend verhalten, ja nicht wenige in gläubiger Gefolgschaft aktiv darin verstrickt waren. 8 Leiden, Verfolgung und Vernichtung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus und - damit verbunden - die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und jeglichem Rassismus waren daher auch die zentralen Themen, von denen aus sich die Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der D D R nach der Zerschlagung des Faschismus der Geschichte der Juden in Deutschland näherte. Diese Thematik bildete auch den Hauptinhalt der Bemühungen um jüdisches Erbe in der ersten Periode, die, so meine ich, bis etwa zur Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren reicht.9 Historische Forschungen wird man in dieser Zeit allerdings kaum ausmachen können. Die Veröffentlichungen zum Genozid an den Juden in Deutschland und in Europa, erschienen zumeist im Verlag des Verbandes der Verfolgten des Naziregimes, stammten durchweg aus der Feder von Zeitzeugen oder von Journalisten, so etwa Tagebücher aus dem Ghetto. 1 0 Großen Einfluß hatte insbesondere unter jungen Menschen, Schülern und Studierenden wie bei Intellektuellen - so glaube ich nach eigenen Erfahrungen sagen zu können - Viktor Klemperers berühmt gewordenes LTI, das Notizbuch eines Philologen." Es war in besonderer Weise dazu angetan, Abscheu gegen den Faschismus zu entwickeln. Der Literaturwissenschaftler Walter Nowojski erinnerte sich vier Jahrzehnte später der Wirkung von Klemperers LTI auf junge Menschen: »Dieses Buch ging von Hand zu Hand, es machte uns, die wir, Studenten der ABF, nun erst mit Sprache und Geist umzugehen lernten, sensibel für die Worte und ihre Inhalte überhaupt. Und es half uns, den bedenkenlosen Gebrauch mancher Begriffe und die damit verbundene Denk- und Empfindungsweise zu prüfen. Uns beeindruckte ... das unbeugsame Trotzalledem im tiefsten Leid.« 1 2 Es erschienen Aufsätze von Probst Heinrich Grüber und Memoiren des Rabbiners Martin Riesenburger 1 3 , die freilich kaum massenhafte Verbreitung fanden; auch Protokolle oder Berichte von Prozessen gegen Akteure des Judenmords. Lediglich zwei Arbeiten, eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Siegbert Kahn und eine Untersuchung des Politikers Stefan Heymann, beide übrigens jüdischer
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Herkunft, suchten bereits am Ende der vierziger Jahre theoretisch und historisch tiefer zu loten und die geschichtlichen Wurzeln des faschistischen Antisemitismus aufzudecken. 1 4 Sie waren die Ausnahme und wurden auch später nicht wieder aufgelegt. Erst Mitte der fünfziger Jahre kamen erste übergreifende Darstellungen an die Öffentlichkeit: eine aus dem Polnischen übersetzte Studie des Direktors des Wärschauer Jüdischen Museums über den Aufstand des Warschauer Ghettos 1 5 , eine umfassendere Dokumentation über die Verbrechen der SS, in der ein umfangreiches Kapitel der »Verfolgung und Vernichtung jüdischer Menschen« gewidmet war 1 6 und schließlich 1960 eine ebenfalls vom Warschauer Jüdischen Historischen Institut übernommene Dokumentation über Faschismus, Ghetto und Massenmord. 1 7 Überblickt man die historisch angelegten Publikationen dieser 15 Jahre zu unserem Thema, dann fällt dreierlei ins Auge: Erstens sind es herzlich wenig Veröffentlichungen, die sich speziell mit der jüdischen Problematik befassen. Zweitens ist das Schicksal der Juden, sofern es gesondert behandelt wird, immer fest eingebunden in die generelle Auseinandersetzung mit faschistischen Verbrechen und nationalsozialistischer Ideologie und dem untergeordnet. Es nimmt keineswegs einen angesichts des Genozids am jüdischen Volk zu erwartenden vorderen Platz ein, ja trat später sogar zurück zugunsten des zunehmend in den Vordergrund gerückten kommunistischen Widerstands. Drittens wird Geschichte und Kultur der Juden in Deutschland überhaupt nicht thematisiert. Auf letztgenanntem Felde wirkten die wenigen jüdischen Gemeinden in der D D R , die sich nach 1945 wieder konstituierten, als Träger jüdischer Religion, Geschichte und Kultur sicher von Anfang an. 1 8 D o c h waren ihre Möglichkeiten überaus eng begrenzt. Nur ganz wenige Gemeindemitglieder hatten den Holocaust überlebt. Nur in Berlin und in Leipzig bestanden etwas größere Gemeinden; in vielen der früheren jüdischen Zentren kamen Gemeinden überhaupt nicht mehr zustande. In ihren Gemeinden wurden unter schwierigen Bedingungen Religion, Kultur und Tradition des deutschen Judentums gepflegt und namentlich seit den sechziger Jahren auch Anstrengungen unternommen, über den innerkirchlichen Rahmen hinaus jüdische Geschichte und Tradition zu vermitteln. D o c h konnte von den jüdischen Gemeinden eine signifikante und nachhaltige Ausstrahlung in die Gesellschaft aufgrund der Schwäche der Gemeinden, der geringen Publikationsmöglichkeiten, auch staatlicher Restriktionen und nicht zuletzt des in den ersten Jahrzehnten offiziell eher begünstigten öffentlichen Desinteresses an jüdischer Kultur und Tradition nicht stattfinden. Was an Wissensvermittlung seit den sechziger Jahren aus den Gemeindekreisen erfolgte, war die Tat einzelner wie etwa von Vorsitzenden einzelner jüdischer Gemeinden oder von Helmut Eschwege, der seit den sechziger Jahren zahlreiche Vorträge hielt und vor allem den christlich-jüdischen Dialog förderte. 1 9
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Freilich korrigiert sich dieses fürwahr nicht gerade günstige, recht dürre Bild über die Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte im gesellschaftspolitischen Bereich ganz wesentlich, wenn man über die historisch-politische Publizistik und die Dokumentationen hinaus das geistig-kulturelle Leben in der Sowjetischen Besatzungszone und in der D D R befragt. In Literatur, bildender K u n s t 2 0 , Malerei, Film, auch Presse und Rundfunk, vor allem aber dann in dem seit Mitte der fünfziger Jahre Massenwirksamkeit erlangenden Fernsehen spielte die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der deutschen Geschichte, namentlich mit der Verfolgung und Vernichtung der Juden eine teilweise geradezu herausragende Rolle. 2 1 Und es waren dies Bereiche, die natürlich wesentlich stärkeren und intensiveren Einfluß auf das Bewußtsein der Menschen ausübten als historische Abhandlungen. Zu nennen ist da insbesondere der Film, der sich bereits sehr früh diesem Thema zuwandte. Nach »Die Mörder sind unter uns« von Staudte setzte sich bereits der zweite Film, den die in Babelsberg angesiedelte DEFA 1947 herausbrachte, »Ehe im Schatten« unter der Regie von Kurt Mätzig 2 2 mit der faschistischen Judenverfolgung auseinander. Er behandelte das Schicksal der Ehe zwischen der jüdischen Schauspielerin Meta Wölf und ihrem nichtjüdischen Gatten Joachim Gottschalk, die unter dem Druck der faschistischen Verfolgungen nur im gemeinsamen Freitod mit ihrem Sohn einen Ausweg sahen. Dieser Streifen hatte mehr als zehn Millionen Besucher, doppelt so viele wie andere erfolgreiche DEFA-Filme. Keiner der DEFA-Filme erreichte mehr ein solche Massenresonanz und starke emotionale Wirkung: »Wie die Zuschauer >im Innersten gepackt« waren, >in langer schweigender Ergriffenheit verharrten«, »schweigend und beschämt nach Hause gingen«
davon schrieben danach fast alle Rezensenten.« 2 3
Es ist bekannt, daß die DEFA diesem Thema auch in den folgenden Jahrzehnten verpflichtet blieb. Zu verweisen ist auf Erich Engels »Affäre Blum« (1948), auf »Sterne« (1958) und »Professor Mamlock« (1961) von Konrad Wolf, die »Bilder des Zeugen Schattmann« nach dem Buch von Peter Edel (1972) bis zu den Fernsehfilmen »Jakob der Lügner« nach Jurek Beckers Erzählung und »Hotel Polonia« nach J a n Koplowitz« Buch »Bohemia« und dem Spielfilm »Die Schauspielerin« von Regine und Siegfried Kühne von 1988, der den Weg einer gefeierten nichtjüdischen Schauspielerin, die aus Liebe zu einem jüdischen Schauspieler nach fiktivem Tod in das bis 1941 noch bestehende Theater des Jüdischen Kulturbundes eintrat. 2 4 Auf der Opernbühne sorgte Walter Felsenstein mit dem »Fiedler auf dem Dach« nach Alechjems »Tewje der M i l c h m a n n « 2 5 , der zwischen 1971 und 1988 über 500 Aufführungen erlebte, für die Vermittlung jüdischen Literatur- und Kulturerbes. 1960 komponierten Paul Dessau, Rudolf Wagner-Regeny, Boris Blacha, Karl Amadeus Hartmann und Hans Werner Henze gemeinsam eine »Jüdische Chronik« als Appell gegen die Gefahr eines wiedererstehenden Antisemitismus.
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Wesentlich beteiligt an der geistigen Auseinandersetzung um das Schicksal der Juden in Deutschland waren Schriftsteller, und dies nicht allein mit ihren Romanen, sondern oft zugleich mit Lebenserinnerungen. 2 6 Allerdings erschienen letztgenannte zumeist erst seit Ende der fünfziger Jahre. Die historischen Romane Lion Feuchtwangers, in denen es immer wieder um jüdische Geschichte geht, waren indes schon seit den vierziger Jahre zugänglich. Gleiches gilt für Romane und Erzählungen von Anna Seghers 2 7 , Stefan Heym, Stephan Hermlin und Arnold Zweig, ebenfalls Literaten jüdischer Herkunft, und für Friedrich Wolfs Drama »Professor Mamlock«. Bereits 1950 brachte Stephan Hermlin in der »Zeit der Gemeinsamkeit« den Aufstand im Warschauer Ghetto deutschen Lesern nahe und zeichnete 1951 in »Die erste Reihe« ein Bild des jüdisch-kommunistischen Widerstandskämpfers Bruno Baum. 1951 und erneut 1961 kam Arnold Zweigs »Fahrt zum Acheron« auf den Büchermarkt, ein bereits 1947 in Haifa veröffentlichter Bericht über das Schicksal einer tschechoslowakischen Jüdin im faschistischen Deutschland. Ende der fünfziger Jahre erschienen Lea Grundigs »Gesichte und Geschichte« und Bruno Apitz »Nackt unter Wölfen«, 1962 Franz Fühmanns »Judenauto«; in den siebziger und achtziger Jahren die Memoiren von Mischket Liebermann, Ruth Lubitsch, Lin Jaldati, Stephan Hermlins »Abendlicht«, die Bücher Heinz Knoblochs über Moses Mendelssohn und Mathilde Jacob, die Sekretärin und Freundin Rosa Luxemburgs 2 8 , eine Biographie des Malers und Graphikers Leo Haas. 2 9 Das seit 1961 mit einer Auflage von knapp 2000 erscheinende »Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der D D R und der Jüdischen Gemeinde von Groß-Berlin«, dessen Rezensionsteil einen Uberblick über die in der D D R erschienene Literatur jüdischer Schriftsteller und zum Schicksal der Juden bot, verzeichnete in jeder der alle Vierteljahre erschienenen Ausgabe vier bis sechs Titel, darunter jüdische Märchen 3 0 , die Werke der Klassiker der jiddischen Literatur, der Lyrik Gertrud Kolmars 3 1 und Aron Wergelis 3 2 sowie israelischer Schriftsteller wie Ephraim Kishon und Abraham B. Jehoschua. 3 3 Ein Wort an dieser Stelle zum Geschichtsunterricht an den Schulen, durch den in jedem Lande jeder obligatorisch mit Historie vertraut gemacht wird, weswegen ihm sicher ein besonderer Platz bei der Entwicklung von Geschichtsbewußtsein zukommt. Ohne Frage wies der Geschichtsunterricht in der D D R markante Mängel auf, die schon zu DDR-Zeiten kritisch reflektiert und in den Jahren nach ihrem Untergang wiederholt unmißverständlich benannt wurden. Geschichte wurde vereinfacht, ihre Vermittlung litt unter dem Schematismus stereotyper Gesetzmäßigkeitsformeln, das interessanten Unterricht behinderte und oft verhinderte. Und er war hochgradig politisch instrumentalisiert, zumindest stärker als es mit diesem Unterrichtsfach überall gemeinhin geschieht. Was unser Thema betrifft, so läßt sich - zumindest nach den
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zugelassenen Lehrbüchern zu urteilen und was die Zeit von 1933 bis 1945 betrifft 3 4 - allerdings eine relativ positive Aussage treffen. Auch hier war das vorrangige generelle Anliegen die Abrechnung mit der faschistischen Judenverfolgung und -Vernichtung. Behandelt wurden die Nürnberger Gesetze und die Judenverfolgungen der dreißiger Jahre, der Pogrom von 1938 und der Massenmord seit der Wannsee-Konferenz; genannt sind die Verbrechen der Einsatzkommandos, die barbarischen Mordmethoden von den Erschießungen bis zu den Gaskammern; ausführlicher eingegangen ist auf die sog. Arisierung, d.h. den Raub jüdischen Eigentums und die Ausbeutung der KZ-Häftlinge durch die deutschen Konzerne, was in den Geschichtslehrbüchern der B R D durchweg fehlte 3 5 ; erwähnt auch der jüdische Widerstand am Beispiel des Warschauer Ghetto-Aufstands und der Berliner G r u p p e um Herbert B a u m . 3 6 Eins bleibt bis zuletzt gleichwohl defizitär: Die Haltung der Mehrheit der Deutschen gegenüber Judenverfolgung und Judenmord wird in den Schulbüchern - anders als in den vierziger Jahren, als die Schuldfrage noch offen und in der Öffentlichkeit ausgesprochen wurde - nicht nachdrücklich benannt. Erst im Lehrbuch der Klasse 9 von 1988 findet sich die Feststelllung, daß die faschistische Ideologie, namentlich die Rassenlehre bei vielen Deutschen verhängnisvolle Spuren hinterließ. 3 7 Auch darf nicht vergessen werden, daß die Geschichtslehrbücher auf zwei Komplexe überhaupt nicht eingingen. Einmal wird die Geschichte der Emanzipation und Integration der Juden in der Epoche der bürgerlichen Umwälzung und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, ihr bedeutender Anteil an der Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ebenso wenig behandelt wie der neuzeitliche Antisemitismus und die inneren Auseinandersetzungen um jüdische Identitätsfindung. Z u m anderen ist eine Geschichte des Staates Israel gänzlich ausgespart. Er taucht lediglich im Zusammenhang mit den Nahostkriegen von 1956 und 1967 und dabei ausschließlich in negativem Licht als Agressor gegenüber den als fortschrittlich bewerteten und positiv abgehobenen arabischen Staaten auf. 3 8 Unerforscht blieb bis heute freilich, welchen Erfolg der Aufklärungsarbeit in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen tatsächlich beschieden war, ob bzw. wieweit sie das Bewußtsein wievieler wirklich beeinflußten, positiv veränderten; und was davon bis in die Gegenwart blieb. Zwar weisen Befragungen der frühen neunziger Jahre aus, daß Antisemitismus in den neuen Bundesländern eine geringere Verbreitung hat. 3 9 D o c h wird man angesichts der antisemitischen und mehr noch generell fremdenfeindlichen Aktivitäten in Schulen und anderen Orts in den achtziger Jahren 4 0 illusionslos wohl doch eine recht kritische Sonde anlegen müssen.
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Die sechziger und siebziger Jahre lassen sich in meiner Sicht als eine zweite Periode der Beschäftigung mit dem jüdischen Erbe fassen. In den sechziger Jahren setzte nämlich erst die historische Forschung zu diesem Thema ein, nicht zuletzt - wie wohl auch in der Bundesrepublik - wesentlich stimuliert durch den Jerusalemer Eichmann- und den Frankfurter Auschwitzprozeß. Nach mehreren Dokumentationen und kleineren Arbeiten zu Eichmann, den Verbrechen der Arzte, zur Arisierung 4 1 und zum Antisemitismus in Deutschland 4 2 leitete Helmut Eschweges, von Arnold Zweig mit einem Geleitwort versehene Dokumentation: »Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933-1945« 4 3 , die heilich erst nach Überwindung großer Hemmnisse erscheinen konnte, die Phase einer intensiven Beschäftigung mit Judenverfolgung und Holocaust ein. Es erschienen jetzt erste monographische Untersuchungen und Übersichtsdarstellungen. Drei Publikationen der frühen siebziger Jahre lassen einen gewissen Durchbruch bei der Erörterung dieses Themas erkennen. Walter Mohrmanns Studie über den Antisemitismus in der Weimarer Republik 4 4 , die sicher nicht frei war von Vereinseitigungen und manchen Verabsolutierungen; der von Helmut Eschwege auf den Weg gebrachte und im ersten Entwurf erarbeitete 4 5 , dann von einem Autorenkollektiv (Klaus Drobisch, Rudi Goguel, Werner Müller und Horst Dohle) verfaßte erste Versuch einer Gesamtdarstellung der Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 4 6 und Kurt Pätzolds Monographie zur faschistischen Judenverfolgung in den ersten Jahren der Herrschaft des Nationalsozialismus (bis zu den Nürnberger Rassegesetzen) 4 7 , eine Arbeit, die nach den ökonomischen, politischen und ideologischen Hintergründen und Zielen der Judenverfolgung hagte und sich dabei gegen allzu lineare Vorstellungen von einer Zwangsläufigkeit der faschistischen Judenpolitik wandte; statt dessen auch Alternativen offen ließ. Der Fortschritt in der Forschung war unübersehbar. Die Beschäftigung mit der faschistischen Judenpolitik gewann wissenschaftliches Profil und wurde zu einem eigenen Forschungsgebiet im Rahmen der historischen Faschismusforschung. Überblickt man die Publikationen der endsechziger Jahre zu unserem Thema, dann erweist sich die These, daß die proarabische und antiisraelische Haltung der offiziellen D D R wie der sozialistischen Staaten nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 zu einem Rückgang der Beschäftigung mit der jüdischen Problematik geführt hätte, als nicht zutreffend. Auch der jüdische Widerstand, der bis dahin - sieht man ab von der übersetzten polnischen Arbeit über den Warschauer Ghettoaufstand - nicht beachtet worden war, wurde in dieser Zeit erstmals thematisiert, und zwar in einer Geschichte der Berliner Gruppe um Herbert B a u m 4 8 ; allerdings mit einer für diese Zeit charakteristischen Vernachlässigung gerade der jüdischen Komponente. Die Aktivi-
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täten dieser vornehmlich aus Juden zusammengesetzten Gruppe wurden einseitig und vorrangig als kommunistischer Widerstand vorgestellt, wie denn die besondere Herausstellung und Überhöhung des kommunistischen Widerstands zahlreichen historischen Schriften dieser Jahre als Mangel anhafteten. Die von der Politik Ende der achtziger Jahre formulierte Einsicht, daß viele als Kommunisten und als Juden aktiven Widerstand gegen den Faschismus leisteten, als - wie es nun hieß - »Brüder im K a m p f die einer doppelten Unterdrückung standhielten, als Kommunisten und als J u d e n « 4 9 war in den sechziger Jahren nichts weniger als Allgemeingut. Bis zum Ende der siebziger Jahre war indes die ganze Geschichte der Juden in Deutschland, der Weg von der mittelalterlichen Unterdrückung und Ghettoisierung über die schrittweise Emanzipation im Zeitalter der bürgerlichen Umwälzung und den antisemitischen Rückschlag bis zur offenen Verfolgung und Vernichtung durch den Hitlerfaschismus, die Erschließung der Leistungen jüdischer Deutscher in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur im Grunde kein Thema, weder in der Forschung noch in der Geschichtsvermittlung. Das war bis dahin und im Grunde bis zuletzt einer der gravierendsten Defizite in der Geschichtskultur der D D R Er hing zusammen mit der einseitigen Konzentration aufsog, progressive und revolutionäre Traditionen, wobei das Wirken der sogenannten herrschenden Klassen - grob gesprochen - mehr oder weniger links liegengelassen wurde. Ganz abgesehen davon, daß jüdische Religion ganz ausgeklammert war. Sieht man von der schönen Literatur ab, die dem interessierten Leser manches über jüdische Geschichte, Kultur und Tradition bieten mochte, so war die Vermittlung von Wissen darüber im Grunde allein den jüdischen Gemeinden überlassen, die mit ihren überdies wenigen Veröffentlichungen über ihre Mitglieder hinaus freilich kaum Einfluß erlangen konnten. Auch der Schulunterricht in Geschichte und Literatur, in dem - wenn sicher auch recht knapp - die Judenverfolgungen und der Holocaust vermittelt wurden, blieb in dieser Beziehung alles schuldig. 5 0 Allerdings eins sei auch nicht vergessen: Seit 1968 wurden offiziell geförderte Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen zu den Zehnjahrestagen des Novemberpogroms von 1938 in der D D R zu einer festen Tradition. 5 1 Das galt auch für die Evangelischen Kirchen in der D D R In der Evangelischen Kirche hatten die Auseinandersetzungen um die Haltung gegenüber den Juden in den Jahren der Naziherrschaft ebenfalls bereits 1945 eingesetzt. Sie verbanden sich mit zunehmenden Bemühungen um ein neues Verhältnis des Protestantismus zum Judentum und um Verständnis für jüdische Religion und Kultur. In den sechziger Jahren gewannen diese Bestrebungen stärker gesamtgesellschaftliches Gewicht. 5 2 Wiewohl die faschistische Judenverfolgung und -Vernichtung auch hier den eigentlichen Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit jüdischem Erbe bildeten, hob sich die Auseinandersetzung mit der jüdischen Problema-
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tik im kirchlichen Raum zumindest in dreierlei Hinsicht ab von den Anstrengungen in der gesellschaftspolitischen und historiographischen Sphäre in der D D R . 5 1
Erstens spielten natürlich theologische Probleme eine bedeutende Rolle, was mit dem Ubergang von der herkömmlichen sogenannten Judenmission, der Gewinnung jüdischer Gläubiger für den Protestantismus, zur Versöhnung zwischen Juden und Christen und zum nach 1945 angestrebten und schrittweise durchgesetzten Dialog und Miteinander beider Religionen eng verknüpft war. Zweitens wurde die Frage von Schuld und Versagen von Christen gegenüber dem nationalsozialistischen Judenmord zwar in unterschiedlichem Maße und keineswegs ohne anfängliche Zurückhaltung, aber doch relativ früh und zunehmend klarer artikuliert 5 4 , während in der offiziellen D D R - nach dem anfänglichen, auf das ganze deutsche Volk bezogenen Schuldbekenntnis der ersten Jahre nach 1945 - dieser Aspekt zugunsten einer sich durch gesellschaftliche Umgestaltung und mithin angeblich erfolgte Ausrottung der Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus gleichsam legitimierten »Freisprechung« von Verantwortung gegenüber den Verbrechen in der deutschen Geschichte zurücktrat und erst im Gefolge der Erbedikusssion der achtziger Jahre wieder eine freilich immer noch zaghaft-zögerliche Besinnung auf die unaufbebbare Verantwortung der D D R gegenüber der ganzen deutschen Geschichte einsetzte. Bei aller auch hier zunächst dominierenden kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit den faschistischen Verbrechen an den deutschen und europäischen Juden begann in den Kirchen drittens doch früher als im gesellschaftspolitischen Raum die Beschäftigung mit jüdischer Religion, Geschichte, Kultur und Tradition. Nachdem Anfang der sechziger Jahre die »theologische Wende« von der traditionellen »Judenmission« zum Konzept partnerschaftlicher Beziehungen zwischen Christen und Juden erfolgt war 5 5 , wurden etwa seit Mitte der siebziger Jahre in den einzelnen Landeskirchen in durchaus unterschiedlicher Intensität Anstrengungen unternommen, sich auch mit jüdischer Religion, Geschichte und Kultur vertraut zu machen und einen christlich-jüdischen Dialog zu entwickeln. Einen wesentlichen Anstoß erhielten diese Bestrebungen durch den UNO-Beschluß vom 10. November 1975, der - bar jeder Differenzierung - Zionismus schlankweg zu einer »Form von Rassismus und Rassendiskriminierung« erklärt hatte. 5 6 Während die Regierung der D D R zwar zu keinem Zeitpunkt die Existenzberechtigung des Staates Israel in Frage stellte, der UNO-Resolution indes unter einseitigem Verweis auf rechte expansionistische und nationalistische Tendenzen im Zionismus und auf die Rolle Israels als Hauptverbündeter der USA gegen die von der D D R seit den sechziger Jahren im Interesse diplomatischer Anerkennung umworbenen arabischen Staaten des Nahen Ostens zustimmte, protestierten führende Kreise der Evangelischen Kirche energisch gegen diesen UNO-Beschluß und mahnten, nicht zu vergessen, »als Deutsche haben
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wir in der Vergangenheit das Existenzrecht des jüdischen Volkes in einem erschrekkenden Maße verneint«. 5 7 Namentlich im Rahmen zweier kirchlicher Organisationsformen nahm die Haltung zu Judentum und jüdischem Erbe einen vorderen Platz ein. Seit 1975 ergriff die 1958 auf Vorschlag von Präses Lothar Kreyssig gegründete »Aktion Sühnezeichen« 5 8 erneut die Initiative zur Pflege jüdischer Friedhöfe zunächst in Berlin und bald auch an anderen Orten in der D D R die in der Mitte der fünfziger Jahre nach einem von evangelischen Jugendgruppen, den Falken und der Freien Deutschen Jugend positiv beantworteten Aufruf von Probst Heinrich Grüber zur Betreuung des größten jüdischen Friedhofs in Europa in Berlin-Weißensee an der Ablehnung der Berliner Jüdischen Gemeinde gescheitert war. 59 In den entsprechenden Sommerlagern der »Aktion« wurde der Arbeitseinsatz jedoch jederzeit verbunden mit der Vermittlung von Wissen über jüdische religiöse Bräuche, die Geschichte der Juden in Deutschland und ihre kulturellen Traditionen. Erörtert wurden Themen wie das jüdische Festjahr, die Geschichte Israels und Israel und der Nahe Osten, die Judenverfolgungen im Dritten Reich, das Verhältnis von Juden und Christen. 6 0 Auch gehörten Besuche der Judenvernichtungslager in Auschwitz, Majdanek und Theresienstadt und Arbeitseinsätze vor Ort zum Programm. Darüber hinaus führte die »Aktion« besondere Veranstaltungen zum Judentum, zum Staat Israel sowie zur aktuellen Situation der Juden in der D D R und in anderen sozialistischen Ländern durch und widmete ihre in 1000-1500 Exemplaren verbreiteten Monatsbriefe wiederholt der jüdischen Erbethematik. Über die »Aktion« wurde auch die kritische Stellungnahme der Evangelischen Kirche zur Zionismus-Resolution der U N O von November 1975 verbreitet und eine entsprechende, auf Verständnis und Verständigung ausgerichtete Aufklärungsarbeit über den Zionismus und den Staat Israel geleistet. Ebenfalls seit Mitte der siebziger Jahre formierten sich in den einzelnen Landeskirchen auf Initiative einzelner Pfarrer Arbeitsgemeinschaften »Kirche und Judentum«, die ihrerseits engagiert den Dialog mit jüdischen Gemeinden und eine freilich unterschiedlich intensive Aufklärungsarbeit über Geschichte und Kultur des Judentums auf den Weg brachten. Irena Ostmeyer hat die Verdienste und Leistungen dieser Arbeitsgemeinschaften in den verschiedenen Zentren erstmals materialreich und umfassend aus den Quellen heraus dargestellt. 6 1 Besondere Aktivitäten entwickelte die vom Berliner Pfarrer Johannes Hildebrandt ins Leben gerufene Berlin-Brandenburgische Arbeitsgemeinschaft, nicht zuletzt auch durch den nachdrücklichen Widerstand gegen den schließlich verhinderten Bau einer Schnellstraße durch den Weißenseer jüdischen Friedhof in den achtziger Jahren. Größere Wirkung erzielte auch der von Christfried Berger in Magdeburg gebildete Arbeitskreis, der anläßlich des 40. Jahrestags der Pogromnacht von 1938 mit zwei umfangreichen Arbeitsheften unter
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dem Titel: »Als die Synagogen brannten ...« an die kirchliche Öffentlichkeit trat und dort auf starkes Echo stieß. In Erfurt bildete sich ein Arbeitskreis »Spurensuche«, der mit Materialien über das Schicksal der Juden in Erfurt und an anderen thüringischen Orten hervortrat und - wie auch der Magdeburger Arbeitskreis - Wanderausstellungen zur Judenverfolgung in Nazideutschland wie zum Leben der Juden an verschiedenen Orten organisierte.
Als dritte Periode im Umgang der D D R mit jüdischem Erbe läßt sich ihr letztes Jahrzehnt, die achtziger Jahre ausmachen. Seit Ende der siebziger Jahre - als Datum könnte man den 40. Jahrestag des Novemberpogroms 1978 nehmen 6 2 - zeichnen sich neue Tendenzen ab. 6 3 Es erfolgte nun offiziell eine allmähliche Hinwendung zum ganzen jüdischen Erbe deutscher Geschichte, eine Öffnung, die die bisherige vornehmliche, ja fast ausschließliche Beschäftigung mit dem Thema der faschistischen Judenverfolgung aufzubrechen schien. Und es fand auch das besondere Schicksal der Juden unter dem Nationalsozialismus stärkere Berücksichtigung, wurde deutlicher aus der proletarisch-kommunistisch dominierten antifaschistischen Traditionspflege herausgehoben. Das hatte sicher nicht zuletzt auch politische Gründe, hing wesentlich zusammen mit bestimmten außenpolitischen Ambitionen der DDR-Führung, die nun derartige Bestrebungen offiziell förderte. 6 4 Aber diese Veränderung war ebenso sicher auch eine Folge der sich mit der Erbe-Debatte anbahnenden Wandlungen des Geschichtsverständnisses in der D D R . 6 5 Es wurde Front gemacht gegen die bisherige Enge einer Pflege nur der revolutionären und vor allem proletarisch-kommunistischen Traditionen. Die ganze deutsche Geschichte, alle ihre Bereiche und das Wirken aller sozialen Schichten mit ihren Leistungen und Verdiensten wie ihren Grenzen sollten ins Bild gerückt und differenziert gewürdigt werden. Was das jüdische Erbe anging, so waren - wie schon genannt - Defizite vor allem auf zwei Feldern unverkennbar und sollten nun angegangen werden. Erstens war das besondere Schicksal, das Juden im Nationalsozialismus zu erleiden hatten, kaum hervorgehoben worden und darum auch nicht genügend ins gesellschaftliche Bewußtsein gedrungen. Die antifaschistische Tradition der revolutionären Arbeiterbewegung dominierte so stark, daß alles andere, namentlich der Widerstand aus bürgerlichen und adligen Kreisen und so auch Leiden und Widerstand jüdischer Bürger, weitgehend bis gänzlich überdeckt wurde. Ungenügend bekannt, weil nicht vermittelt aber war zweitens der unverwechselbare Anteil jüdischer Bürger an deutscher Geschichte, ihre bedeutenden Leistungen vor allem auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet, gar nicht zu reden von jüdischer Kultur, Religion und Tradition.
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Sicher hat das »Nachrichtenblatt« der jüdischen Gemeinden in der D D R seit längerem daran gearbeitet, diese verschütteten Traditionen ins Bewußtsein zu heben. Die Zeitung lieferte neben Beiträgen zur Geschichte der Juden in mehreren Städten wie Erfurt und Magdeburg biographische Skizzen über jüdische Gelehrte, Künstler und Ärzte wie Albert Einstein, Moses Mendelssohn, Max Ring, Salomon Neumann, Louis Lewin, Hermann Schwab, August Paul von Wassermann, Aron Isak und befaßte sich generell mit dem Einfluß jüdischer Ärzte auf die deutsche Medizin. 6 6 Aber der Einfluß des Blattes blieb fast ausschließlich auf die Mitglieder der Gemeinden begrenzt; es vermochte kaum darüber hinaus auszustrahlen. Auch hatten - wie bereits genannt - Organisationen in der Evangelischen Kirche in dieser Richtung Vorarbeit geleistet. D o c h waren diese Bemühungen, überdies oft durch staatliche Restriktionen gehemmt, bislang kaum in die breite gesellschaftliche Öffentlichkeit der D D R gedrungen. Das begann sich nun zu ändern. Seit Ende der siebziger Jahre nahm in den Kirchen die Beschäftigung mit jüdischem Erbe einen spürbaren Aufschwung und wurde, begünstigt durch die veränderte offizielle Haltung zum ganzen Erbe deutscher Geschichte, etwa seit Mitte der achtziger Jahre auch von der außerkirchlichen Öffentlichkeit stärker zur Kenntnis genommen. Zum 40. Jahrestag der Pogromnacht 1978 fänden erstmals an zahlreichen Orten der D D R öffentliche kirchliche Gedenkveranstaltungen und -gottesdienste mit starker Beteiligung statt. Neben den schon erwähnten Magdeburger Arbeitsheften »Als die Synagogen brannten ...« gab die Erfurter Studentengemeinde ein Heft über die »Kristallnacht in Erfurt. Informationen, Dokumente, Hintergründe« heraus. 1978, so resümierte Irena Ostmeyer, »bildete einen Wendepunkt in der innerkirchlichen Auseinandersetzung mit dem Judentum und bei der Entstehung und Entwicklung der jüdisch-christlichen Begegnung an vielen Orten in der D D R « 6 7 Seit 1978 wurde es in der Evangelischen Kirche zu einer festen Tradition, in den Buß- und Bettag bzw. den Totensonntag das Gedenken an die Pogromnacht von 1938 zu integrieren. Die Zahl der öffentlichen Vorträge »zum Verstehen des Judentums« nahm zu. Es wurden Wanderausstellungen organisiert und von kirchlicher Seite Anstöße für Gedenktafeln und Mahnmale für die jüdischen Opfer gegeben und bisweilen in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen realisiert. Als Ende der siebziger Jahre der Vorstoß Dresdner Freunde der jüdischen Kultur, namentlich des Musikwissenschaftlers Peter Zander, einen speziellen Arbeitskreis »Kultur des Judentums« im Rahmen des Kulturbunds der D D R zu bilden, an der Ablehnung des Staatssekretariats für Kirchenfragen scheiterte, entstand hier unter kirchlichem Dach ein Arbeitskreis »Begegnung mit dem Judentum«, der allen offenstand und mit großem Erfolg regelmäßig Veranstaltungen zur Jüdischen Geschichte und Kultur durchführte. 6 8
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In den achtziger Jahren nahmen sich erstmals in größerem Umfang, wenngleich immer noch zu wenig, die Medien der D D R der Sache an. Jüdisches Erbe wurde zu einer öffentlichen Angelegenheit. Es erschienen jetzt mehr Bücher, Broschüren und Zeitungsartikel zu vergangener jüdischer Geschichte in Deutschland wie zu jüdischer Kultur als in den Jahrzehnten zuvor, kaum jedoch zur jüdischen Religion. Seit 1980 übernahmen Studentengruppen und die FDJ die Pflege jüdischer Friedhöfe. Dazu hatte nicht zuletzt wiederum die Literatur angeregt. 1980 brachte Heinz Knobloch zusammen mit Alfred Etzold und Peter Kirchner eine Schrift über die jüdischen Friedhöfe in Berlin heraus, die einen Einblick in jüdische Trauerbräuche vermittelte und den hohen Stellenwert der Friedhöfe in den jüdischen Traditionen erklärte. 69 Eine ähnliche Arbeit war auch für Weimar erschienen. 70 Helmut Eschwege legte ebenfalls 1980 eine umfangreiche Dokumentation über die Synagoge in der deutschen Geschichte vor 7 1 , an der er seit 1967 gearbeitet hatte und die erst nach Überwindung zahlreicher, durch mehrfache Gutachten aufgerichteter Hindernisse erscheinen konnte. 7 2 Das Werk erlebte bis 1988 drei Auflagen und bezeugte ebenso wie das gut verkaufte Buch über die Berliner Friedhöfe, das 1987 erneut aufgelegt wurde, ein wachsendes Interesse in der Gesellschaft an jüdischer Geschichte und Kultur. Die Publikation einer von Helmut Eschwege in den achtziger Jahren erarbeiteten und bereits fertiggestellten Geschichte der jüdischen Friedhöfe auf dem Gebiet der D D R fiel dem Untergang des entsprechenden Verlags in den Wendewirren 1989/90 zum Opfer. 7 3 Höhepunkt auf dem Wege hin zu einem besseren Verständnis jüdischer Geschichte und Gegenwart war ohne Frage der 50. Jahrestag der Pogromnacht von 1938 7 4 , der nun als ein Ereignis »von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung« 7 5 begriffen und staatsoffiziell begangen wurde. Er wurde übrigens Anlaß auch für eine Sondersitzung der Volkskammer - der ersten Veranstaltung dieser Institution zu Ehren des verfolgten Judentums. 7 6 In diesem Zusammenhang wurde auch die Stiftung »Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum« errichtet, in deren Gründungspräambel es hieß, daß die neugegründete Stiftung dem Gedenken an die Millionen jüdischer Opfer des deutschen Faschismus und der »Wahrung und Pflege jüdischer Kultur« dienen soll. 7 7 Das Fernsehen strahlte mehrere Dokumentarfilme und Filmessays zur Judenverfolgung in Nazideutschland aus. Neben zahlreichen Gedenkveranstaltungen in vielen Orten der D D R wurde in Berlin im wiederaufgebauten Ephraim-Palais die Ausstellung »Und lehrt sie: Gedächtnis!« eröffnet, die den bisher umfassendsten Einblick in Geschichte und Kultur der Juden in Deutschland in der D D R bot. 7 8 Sie stieß auf ein außerordentlich starkes Echo, nicht zuletzt bei jungen Menschen. Der Besucherstrom war nicht geringer als bei den anderen in den achtziger Jahren veranstalteten historisch-kulturellen Expositionen wie der Schinkel-Ausstellung im Berliner Alten
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Museum oder der Ausstellung über Friedrich II. im Potsdamer Neuen Palais. Man mußte sich nicht selten lange in der Schlange anstellen, um in die Ausstellung zu kommen. Die Evangelische Kirche nutzte die mit der offiziellen Hinwendung zur Erschließung des gesamten Erbes jüdischer Kultur und Geschichte entstandenen politischen Freiräume, um stärker als zuvor, oft in Konkurrenz, bisweilen aber auch in Kooperation mit einzelnen staatlichen Stellen mit Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen, christlichen Mahnmalen und erstmals auch mit eigenen Publikationen zur jüdischen Geschichte an die Öffentlichkeit zu treten. Initiatoren waren zumeist die Arbeitsgemeinschaften »Kirche und Judentum«. Im Unterschied zur D D R , die sich offiziell immer noch als frei von Schuld am Holocaust erklärte, formulierte die Evangelische Kirche erstmals »nicht allein ihre menschliche, sondern auch ihre theologische Schuld an der Schoah im gemeinsamen Wort der E K D [Evangelische Kirche in Deutschland] und des B E K [Bundes der Evangelischen Kirchen in der D D R ] zum 9. November 1988«. 7 9 Die DDR-Historiographie wartete in den achtziger Jahren und speziell zum Jahrestag des Novemberprogroms mit mehreren Publikationen auf. 1983 erschien eine Dokumentation zur Verfolgung und Vernichtung der Juden. 8 0 Erstmals nahm sich jetzt auch die heimatgeschichtliche Forschung in größerem Umfang des jüdischen Themas an, so etwa in Rostock 8 1 , aber auch in anderen Städten wie Magdeburg und Plauen 8 2 , Erfurt, Wittenberg, Heiligenstadt und Gröbzig, wozu in den historischen Heimatzeitschriften Artikel erschienen. Größere Aufmerksamkeit wurde dem jüdischen Widerstand geschenkt. 8 3 Mit speziellen Untersuchungen zur Geschichte der Juden und des Novemberpogroms in Sonneberg, Eisenach, Gotha und Schmalkalden traten die Arbeitsgemeinschaften »Kirche und Judentum« der Evangelischen Kirche, die sich mit internen, nicht publizierten Materialien schon seit der Mitte der siebziger Jahre mit dem Thema auseinandergesetzt hatten, sowie eine Arbeitsgruppe beim Landesjugendpfarramt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Thüringens in Eisenach an die Öffentlichkeit. 8 4 Aufmerksamkeit erregte eine von Irene Runge und Kurt Pätzold herausgegebene Dokumentation über die Pogromnacht 8 5 , die das Verbrechen in die »normalen Alltagsereignisse« dieser Zeit einordnete und der Frage nachging, wie sich die Menschen in Deutschland dazu verhielten und welches die Hintergründe und Ziele dieser Naziaktion waren. Historische Periodika widmeten sich insbesondere 1988 mit zahlreichen Beiträgen der Geschichte der Juden in Deutschland und namentlich der Judenverfolgung und -Vernichtung in der Zeit des Nationalsozialismus. 8 6 Die Universitäten und Akademien führten wissenschaftliche Veranstaltungen durch, in denen erstmals durchweg der Anteil jüdischer Bürger an der Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur in Deutschland im Zentrum
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stand. Eine interdisziplinäre Konferenz der Akademie der Wissenschaften war Anfang November 1988 dem Thema: Juden in den sozialen, politischen und geistigkulturellen Auseinandersetzungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gewidmet. 8 7 Kurt Pätzold benannte in seinem Referat über den Pogrom v o m 9. November 1938 nachdrücklich den »moralischen Abstieg der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die danach weitergearbeitet hat, als wäre nichts geschehen«. Verlangt wurde hier, nicht nur die Erinnerung an die Verbrechen lebendig zu halten, sondern auch die humanistischen und religiösen Motive derer, die dem Antisemitismus die Stirn boten und sich für ihre verfolgten jüdischen Mitbürger einsetzten, zu erforschen. Ins Lexikon der Parteiengeschichte fanden nun die meisten der zentralen jüdischen Vereine im 20. Jahrhundert Aufnahme. 8 8 Die evangelisch-theologische Kirchengeschichtsschreibung in der D D R legte seit Ende der sechziger Jahre eine Reihe von Untersuchungen zur Haltung der evangelischen Kirche zum Judentum in der Geschichte, speziell während der Weimarer Republik, und zu den nationalsozialistischen Judenverfolgungen vor. 8 9 Mehrere Publikationen zielten in die Richtung, jüdische Geschichte nahe zu bringen, so Reprints wie Ludwig Geigers »Geschichte der Juden in Berlin« 9 0 , Heinrich und Maria Simons »Geschichte der jüdischen Philosophie« 9 1 , Hermann Simons »Geschichte des Berliner Jüdischen M u s e u m s « 9 2 , die Lizenzausgabe des in der Bundesrepublik erschienenen Buches von Bernt Engelmann »Deutschland ohne Juden«. 9 3 Ein außerordentlich starkes Echo fanden nicht zuletzt die literarischen Essays, mit denen Rudolf Hirsch und Rosemarie Schuder in dem Band: »Der gelbe Fleck« 9 4 den historischen Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte aufhellten und zugleich Bausteine für eine Geschichte der Juden in Deutschland zu liefern sich bemühten. Dies alles waren freilich kaum mehr als Neuansätze, kleine, wenn auch bemerkenswerte Fortschritte. Ein wirklicher Durchbruch hin zu einer systematischen Rezeption und massenwirksamen Verbreitung jüdischen Erbes in der deutschen Geschichte gelang bis zum Ende der D D R nicht. Im letzten Jahr, nach dem Umbruch des Herbstes 1989 und den Wahlen vom 18. März 1990, allerdings wurde ein entscheidender Schritt zur Neugestaltung der Beziehungen zum Judentum vollzogen. Die freigewählte Volkskammer entschuldigte sich in einer am 12. April 1990 einmütig angenommenen Erklärung für die Verbrechen, die in deutschem Namen jüdischen Mitbürgern in Deutschland und den Juden in Europa angetan wurden. Erst jetzt wurde das notwendige Schuldbekenntnis klar ausgesprochen: »Das erste freigewählte Parlament der D D R bekennt sich im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder. Wir empfinden
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Trauer und Scham und bekennen uns zu dieser Last der deutschen Geschichte. Wir bitten die J u d e n in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk von Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.« 9 5 Bereits die Regierung Modrow hatte Schritte in dieser Richtung unternommen, nicht zuletzt von den »Arbeitsgemeinschaften Kirche und J u d e n t u m und der Aktion Sühnezeichen im Bereich des Bundes der Evangelischen Kirchen in der D D R « in einem Schreiben v o m 26. Januar 1990 gedrängt, die Zustimmung der D D R zur Resolution der U N O v o m 10. November 1975 zu widerrufen und diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen. 9 6 Die Regierung de Maiziere suchte dann nachdrücklich die Beziehungen zu Israel auf neue Grundlagen zu stellen. Mit dem Beitritt der D D R zur Bundesrepublik erledigten sich diese selbständigen Bemühungen des zweiten deutschen Staates von selbst. Angelika T i m m hat in ihrer Monographie über das »gestörte Verhältnis der D D R zu Zionismus und Staat Israel« diese Entwicklungen nachgezeichnet. 9 7
Überblickt man die Jahrzehnte der Existenz der D D R und ihre Vorgeschichte seit 1945, so wird nüchtern festzustellen sein, daß Wissenschaft, Literatur und Kunst wie die mediale Publizistik einen eigenständigen Beitrag bei der Aufarbeitung der Verbrechen des Faschismus an den Juden und zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus geleistet haben, wenngleich die Vermittlung richtiger Einsichten und Erkenntnisse, auch über die Schule sicher zu wünschen übrig ließ. Nicht übersehen werden dürfen die nachhaltigen Bemühungen der Evangelischen Kirche, namentlich in Gestalt der Aktion »Sühnezeichen« und der Arbeitsgemeinschaften »Kirche und Judentum« um Verständnis für das Schicksal der jüdischen Mitbürger, wobei für den kirchlichen Bereich positiv ins Gewicht fällt, daß hier von Anbeginn stärker jüdische Kultur, Tradition und Religion vermittelt wurde. Die Erfahrungen der neunziger Jahre unter einem anderen gesellschaftlichen Milieu lassen gleichwohl die Grenzen der angestrebten Bewußtseinsveränderungen nicht zuletzt bei jungen Menschen deutlich hervortreten. Gänzlich unbefriedigend blieb in der D D R - gesamtgesellschaftlich gesehen - bis zuletzt die Aneignung und Vermittlung vom Wissen und Erkenntnissen über den Anteil jüdischer Bürger an der ganzen deutschen Geschichte, in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, wie bei der Durchsetzung demokratischen und sozialen Fortschritts. Eine Durchsicht historischer Lehrbücher, auch der Geschichtsbücher der Schulen, von Sachwörterbüchern und Lexika auf diese Frage hin führt zu einem
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herben kritischen Urteil. Um selbstkritisch zu schließen: Auch ein von mir verantworteter Band der Deutschen Geschichte, zur Geschichte des 19. Jh., in den endsiebziger und frühen achtziger Jahren verfaßt und 1984 erschienen 9 8 , sagt über die in dieser Epoche höchst wichtige Problematik der Judenemanzipation im Grunde nichts aus. Eine zweite Auflage sollte dies wettmachen und war schon vorbereitet, doch sie erschien nicht mehr.
Auch nach dem Umbruch von 1989/90 und dem Ende einer selbständigen DDRGeschichtswissenschaft haben ostdeutsche Historiker, die seit längerem die Erforschung des Schicksals der Juden in Deutschland zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatten, systematisch an dieser Thematik weiter gearbeitet und bemerkenswerte Publikationen vorgelegt. Viele von ihnen waren »abgewickelt« und so aus dem offiziellen Wissenschaftsbetrieb verdrängt, forschten gleichwohl zumeist auf eigene Kosten. So auch und vor allem der Jubilar, der bereits 1991 Arnold Zweigs »Bilanz der Judenheit« herausbrachte, sich weiterhin intensiv mit der Geschichte und verschiedenen Aspekten der faschististischen Judenpolitik befaßte und sich mit der Diskussion um das Buch Goldhagens auseinandersetzte. 9 9 Andere Historiker, darunter auch manche bisher nicht auf diesem Felde Forschende, fanden im Rahmen von ABM-Projekten zeitweilig Forschungsmöglichkeiten, nicht selten gemeinsam mit Historikern aus den alten Bundesländern; vereinzelte konnten ihrem Forschungsanliegen in zeitweiliger oder fester institutioneller Bindung nachgehen. In der recht weit gefächerten Themenpalette wurde jetzt an vorderer Stelle das Verhältnis der D D R gegenüber den Juden und zum Staat Israel behandelt. 1 0 0 Den wohl größten Raum nehmen kleinere lokalgeschichtliche Darstellungen zum Schicksal der Juden in verschiedenen Städten und in Berliner Stadtbezirken ein.101 Darüber hinaus erschienen Arbeiten über jüdische Gedenkstätten und zur Vermittlung von Kenntnissen über die Geschichte der deutschen Juden. 1 0 2 Neues wurde vorgelegt zur Geschichte jüdischer Zwangsarbeit im Faschismus, zur antijüdischen Gesetzgebung der Nationalsozialisten, zum Rassismus in der faschistischen Ideologie 1 0 3 zum jüdischen Widerstand im Faschismus 1 0 4 , zur Haltung von Deutschen gegenüber verfolgten J u d e n 1 0 5 sowie Erinnerungen und Memoiren von Zeitzeugen. 1 0 6 Hermann Simon publizierte zahlreiche Untersuchungen zur Geschichte des Berliner Judentums und zur Judenverfolgung. 1 0 7 Nicht zu vergessen schließlich die Bücher von Schriftstellern zur jüdischen Geschichte. 1 0 8 Im Rahmen der historischen Faschismusforschung, die sich in der »Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V.« in Berlin zu regelmäßiger wissenschaftlicher Kommunikation zusammenschloß 1 0 9 , nehmen Forschungen zur
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Verfolgung der J u d e n unter dem Faschismus einen wichtigen Platz ein. 1 1 0 Nach nunmehr einem Jahrzehnt unabhängiger ostdeutscher Forschungen auf den verschiedensten Wissenschaftsgebieten und so auch auf unterschiedlichen historischen Feldern scheint es geboten, die Resultate in der inzwischen formierten, von offiziellen Wissenschaftsbetrieb der Bundesrepublik zumeist freilich nicht zur Kenntnis genommenen »zweiten Wissenschaftskultur« (Mitja R a p o p o r t ) 1 1 1 in Deutschland kritisch zu bilanzieren.
A nmerkungen 1 Der Beitrag ist die bearbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, der auf einer Veranstaltung des Vereins »Porta Pacis« am 7.11.1998 in Berlin gehalten wurde und - ergänzt zunächst erschien in: November 1938. Vom Pogrom zum Völkermord. Dokumentation einer Veranstaltung des Vereins Porta Pacis am 7. November 1998 im Gedenken an die Reichspogromnacht vor 60 Jahren, o.O. o.J. [Berlin 1999], S. 57-72. 2 Johannes Glasneck/Angelika Timm: Israel. Die Geschichte des Staates seit seiner Gründung, Bonn-Berlin 1992; Olaf Groehler: Erblasten. Der Umgang mit dem Holocaust in der D D R , in: H a n n o Loewy (Hg.), Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek b. Hamburg 1992, S. 110 ff; ders., Integration und Ausgrenzung von NS-Opfern. Zur Anerkennungs- und Entschädigungsdebatte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945 bis 1949, in: Historische DDR-Forschung. Aulsätze und Studien, hg. von Jürgen Kocka, Berlin 1993, S.105 ff; ders., Die Diskussion um die Judenverfolgung in SBZ und D D R in: Mario Keßler, Antisemitismus und Arbeiterbewegung. Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert, Berlin 1993, S. 79 ff.; ders., S E D , WN und J u d e n in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1945-1949), in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, hg. von Wolfgang Benz, Bd. 3, Frankfurt a.M./ New York 1995, S. 282 ff; ders., Zur Gedenkstättenpolitik und zum Umgang mit der »Reichskristallnacht« in der S B Z und D D R (1945-1988), in: Werner Bergmann, Rainer Erb, Albert Lichtblau (Hg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der D D R und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Main/New York 1995, S. 285 ff.; T h o m a s Schüler: Das Wiedergutmachungsgesetz vom 14. September 1945, in Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 2, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 116 ff.; Nora Goldenbogen: Antisemitismus und »Säuberungen« in Sachsen (1949-1953), in: Mario Keßler (Hg.), Antisemitismus und Arbeiterbewegung, S. 121 ff; Jeffrey Herf: Antisemitismus in der S E D . Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED - und MfS-Akten, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1994, H. 4, S. 643 ff.; Olaf Groehler/ Mario Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die J u d e n in der S B Z und der frühen D D R hefte zur ddr-geschichte, Nr. 26, Berlin 1995; Mario Keßler: Die S E D und die Juden - zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995; ders., Antisemitismus in der S E D 1952/53. Verdrängung der Geschichte bis ans Ende, in: Utopie kreativ, H. 85/86 (November/Dezember 1997), S. 158 ff; Angelika Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der D D R zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997; Lothar Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, Hildesheim/ Zürich/New York 1997.
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3 Michael Wolffsohn: Die Deutschlandakte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden, München 1995; dazu Mario Keßler: Tatsachen und Legenden ? Die S E D und die Juden, in: Deutschland-Archiv, 1996, H. 3, S. 486 ff. 4 Olaf Groehler: »Aber sie haben nicht gekämpft«, in: Konkret, 5/1992, S. 38 ff; Jürgen Kuczynski: Material fürs Siegertribunal ? Wo wäre das anders gewesen, in: Konkret 8/1992, S. 44 ff; Kurt Gossweiler: Aus dem Arsenal des Kalten Krieges, in: Ebenda, S. 46 ff; Kurt Pätzold: Antifaschismus und NS-Geschichte, in: Ebenda, 11/1992, S. 52 ff; Olaf Groehler: »Juden erkennen wir nicht an«, in: Ebenda, 3/1993, S. 59 ff; Reinhard Pitsch: Antisemitismus in der D D R - Fakten und Fiktionen, in: Neues Deutschland, 26.5.1995. 5 Ich stütze mich dabei auf eigene Vorarbeiten in Walter Schmidt: Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- und Traditionsverständnis der D D R in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), 37, 1989, H. 8, S. 692 ff.; siehe ferner Kurt Pätzold: Persecution and Holocaust. A Provisional Review of GDR-Historiography, in: Leo-Baeck-Institute, Year Book, Nr. XL, 1995, S.291 ff; zum Thema siehe auch Konrad Kwiet: Historians of the German Democratic Republic on Antisemitism and Persecution, in: Leo-Baeck-Institute, Year Book, Nr. XI, 1976, S. 173 ff. 6 Siehe Margarete Piesche: Bibliographie Kurt Pätzold, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Nr. 5, 1995, sowie die Bibliographie in diesem Band. 7 Zu nennen ist in erster Linie die verdienstvolle Dissertation von Irena Ostmeyer: Zwischen Schuld und Sühne. Evangelische Kirche und J u d e n in S B Z und D D R 1945-1990, Phil. Diss. Potsdam 1997; ferner biographische Arbeiten über den Gründer von »Aktion Sühnezeichen« Lothar Kreißig von Susanne Willems/Lothar Kreyssig: Vom eigenen verantwortlichen Handeln. Eine biographische Studie zum Protest gegen die Euthanasieverbrechen in Nazi-Deutschland, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste o.O. 1995; Konrad Weiß: Lothar Kreißig. Prophet der Versöhnung, Gerlingen 1998, insbes. S.329 ff. 8 Vgl. dazu den jüngsten Beitrag von Wolfgang Benz: Der inszenierte Pogrom - Rückfall in die Barbarei, in: November 1938. Vom Pogrom zum Völkermord, S. 7 ff. 9 Vgl. auch Mario Keßler: Die S E D und die Juden, S. 106 ff: Die Juden und die Vergangenheitsaufarbeitung in der D D R 10 Samuel Graumann: Deportiert! Ein Wiener J u d e berichtet, Potsdam 1947; Heinrich Grüben »Ich will rühmen Gottes Wort«. Ansprachen und Predigten, Berlin/Potsdam 1948; Hans Frey: Die Hölle von Kamienna, Berlin/Potsdam 1949; »...besonders jetzt tu Deine Pflicht!«, Berlin/Potsdam 1949; Zivia Lubetkin: Die letzten Tage des Warschauer Ghettos. Mit einem Nachwort von Friedrich Wolf, Berlin/Potsdam 1949; Rolf Weinstock: »Rolf, K o p f hoch!«. Die Geschichte eines jungen Juden, Berlin/Potsdam 1950; Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto. Mit einem Vorwort von Arnold Zweig, Berlin 1958. 11 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947. 12 Walter Nowojski: Der gelbe Fleck, in: neue deutsche Literatur, 1988, H. 10, S. 5 f 13 Heinrich Grüber: D o n a nobis pacem! Predigten und Aufsätze aus zwanzig Jahren, hg. von seinen Freunden, Berlin 1956; An der Stechbahn. Erlebnisse und Berichte aus dem Büro Heinrich Grüber in den Jahren der Verfolgung, Berlin 1957; Martin Riesenburger: Also spricht Dein Bruder, Berlin 1958; ders.. Das Licht verlöschte nicht. Dokumente aus der Nacht des Nazismus, Berlin 1960. 14 Siegbert Kahn: Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland, Berlin 1948; Stefan Heymann: Marxismus und Rassenfrage, Berlin 1948.
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330 15 Bernard Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, Berlin 1957.
16 SS im Einsatz. Eine Dokumentation über die Verbrechen der SS. Hg. v o m Komitee der Antifaschistischen Widerstandskampfer in der D D R , Redaktion: Horst S c h u m a n n / H e i n z Kühnrich, Berlin 1956. Das Buch erlebte mehr als zehn Auflagen; siehe auch Heinz Kühnrich: Der KZ-Staat. Rolle und Entwicklung der faschistischen Konzentrationslager 1933 bis 1945, Berlin 1960; Ghetto. Berichte aus dem Warschauer Ghetto, Berlin 1966. 17 Faschismus - Ghetto - Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der J u d e n in Polen wahrend des Zweiten Weltkriegs, hg. vom Jüdischen Historischen Institut Wärschau, Berlin 1960; siehe ferner Das Tagebuch des David Rubinowicz, Berlin 1961; Maria Bienas: Begegnungen mit Edith Stein, Leipzig 1963; Mascha Rolnikaite: Mein Tagebuch, Berlin 1967. 18 Zu verweisen ist hier vor allem auf die aus einer Dissertation an der Freien Universität Berlin hervorgegangene Publikation von Ulrike Offenberg: »Seid vorsichtig gegen die Machthaber«. Die jüdischen Gemeinden in der D D R 1945-1990, Berlin 1998, in der indes das Schwergewicht der Darstellung zeitgeistgemäß mehr auf die Beziehungen zwischen den Staatsorganen und den jüdischen Gemeinden als auf deren inneres Leben und kulturpolitische Aktivitäten gelegt wird. Zur »Entwicklung des Gemeindelebens« vgl. die Seiten 115129. Informationen über das Wirken der Dresdner jüdischen Gemeinde und vor allem über seine eigenen kulturgeschichtlichen Arbeiten vermittelt Helmut Eschwege: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991, insbes. S. 131 ff. Nicht berücksichtigt habe ich die umfängliche, nur in einigen Bibliotheken im Manuskript überlieferte Arbeit Eschweges: Geschichte der Juden im Territorium der D D R Dresden, insgesamt 1343 S. Siehe auch Erica Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung - J u d e n in Deutschland nach 1945, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 137-164. 19 Eschwege: Fremd unter meinesgleichen, S. 152 ff. und S. 167 ff. 20
Peter H. Feist: Zur künstlerischen Abrechnung mit der Judenverfolgung in Kunstwerken der D D R Vortrag auf der Konferenz der Akademie der Wissenschaften der D D R »Juden in den sozialen, politischen und geistig-kulturellen Auseinandersetzungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts«, 1.11.1988. (MS).
21
Dazu siehe Rolf Richter: Zur politischen und geistigen Abrechnung in der D D R mit der faschistischen Judenverfolgung und mit dem Antisemitismus, Vortrag auf der Konferenz der Akademie der Wissenschaften der D D R , 1.11.1988. (MS).
22
Die Uraufführung des Films, der nach der Novelle Hans Schweikarts »Es wird schon nicht so schlimm« entstand, fand am 3.10.1947 statt. Mätzig, Sohn einer jüdischen Mutter, debütierte mit diesem Film als Regisseur. Dazu siehe 1946-1964. DEFA-Spielfilme. Filmographie. Zusammengestellt vom Staatlichen Filmarchiv der D D R Bearbeiter: G. Schulz/W. Klaue [Berlin 1966], S. 5 ff. sowie »Und lehrt sie: Gedächtnis!«, Berlin 1980, S. 107. Zu Joachim Gottschalk siehe Horst Knietzsch: Für einen Augenblick wieder leben. Erinnerung an den Schauspieler J o a c h i m Gottschalk. In: Neues Deutschland, 14.4.1999, S. 9.
23
Film und Fernsehkunst der D D R Traditionen, Beispiele, Tendenzen, Berlin 1979, S. 98.
24
Filmspiegel, 1988, H. 9.
25
Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann, Leipzig 1984; ders., Der behexte Schneider, Berlin 1969.
26 Vgl. Dieter Schiller: Alltag, Widerstand und jüdisches Schicksal. Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in der literarischen Öffentlichkeit der SBZ und frühen
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D D R , in: Werner Bergmann, Rainer Erb, Albert Lichtblau (Hg.), Schwieriges Erbe, S. 393 ff. Er entreißt eine Reihe von literarischen Arbeiten der ersten Jahre nach 1945 der Vergessenheit, so u.a. Cläre Jung: Aus der Tiefe rufe ich, Berlin 1946; Ernst Sommer: Revolte der Heiligen, Berlin 1946, Adam Kuckhoff zum Gedenken. Novellen. Gedichte. Briefe, Berlin 1946; Nico Rost: Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit, Berlin 1948. Siehe auch Inge Münz-Koenen: Literaturverhältnisse und literarische Öffentlichkeit 1945 bis 1949, in: Literarisches Leben in der D D R 1945 bis 1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme, Berlin 1979; Christel Berger: Traditionen der DDR-Literatur. Gewissensffage Antifaschismus. Analysen, Interpretationen, Interessen, Berlin 1990. 27 Siehe Sigrid Bock: Die Last der Widersprüche. Erzählen für eine gerechte, friedliche, menschenwürdige Welt - Trotz alledem, in: Weimarer Beiträge, 36, 1990, H. 10, S. 1554-1571; Christel Berger: Anna kehrt heim. Unbekanntes von einer guten Bekannten. Zum 99. Geburtstag der Seghers am 19. November, in: Neues Deutschland, 20/21.11.1999, S. 14. 28
Heinz Knobloch: Herr Moses in Berlin, Berlin 1979; ders, Meine liebste Mathilde. Geschichte zum Berühren, Berlin 1985.
29 Wolf H. Wagner: Der Hölle entronnen. Stationen eines Lebens. Eine Biographie des Malers und Graphikers Leo Haas, Berlin 1987; siehe auch Inge Unikower: Suche nach dem gelobten Land. Biographie, Berlin 1978. 30 Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen, hrsg. von Micha Josef Bin Gorion, Leipzig 1978. 31 Gertrud Kolmar: Die Kerze von Arras. Ausgewählte Gedichte. Auswahl und Nachwort von Uwe Berger, Berlin/Weimar 1968; dies., Das Wort der Stummen. Nachgelassene Gedichte. Nachwort von Uwe Berger, Berlin 1978. 32 Aron Wergelis: K o m m in meine Welt. Jiddische Lyrik. Hg. und nachgedichtet von W. Günzerodt, Leipzig 1978. 33 Ephraim Kishon: Kain und Abel, Berlin 1980; ders., Der Blaumilchkanal. Humoresken und Satiren, Berlin 1986; Abraham B. Jehoschua, Der Liebhaber, Berlin 1988. 34 Geschichtslesebuch für die 8. Klasse. Redaktion Günter Wettstädt, Berlin 1954, S. 149 ff; Lehrbuch für den Geschichtsunterricht. 8. Schuljahr. Ausgabe 1956, Berlin 1958, S. 130, 132 f., 158 f, 160, 161.; Geschichte. Lehrbuch für Klasse 9, Berlin 1970 (in Gebrauch bis 1987), S. 157 f., 205 f., 221; dasselbe., Berlin 1988, S. 105 f., 142 f., 168f., 172; Geschichte in Übersichten. Wissensspeicher für den Unterricht, Berlin 1982, S. 382, 404; Der Lehrplan für den Literaturunterricht enthielt: Johannes R Bechers »Kinderschuhe von Lublin«; Friedrich Wolfs »Professor Mamlock«, Bert Brechts »Die jüdische Frau« aus: Furcht und Elend des Dritten Reichs. Berührt wurde das Schicksal von Juden auch bei der Behandlung von Anna Seghers »Das siebte Kreuz« und Bechers »Abschied«. 35 Chaim Schatzker: Juden, Judentum und Staat Israel in den Geschichtsbüchern der D D R Bonn 1994, S. 32-35. 36 Vgl. dazu Kurt Pätzold: Die D D R und die öffentliche Aufarbeitung des Völkermords an den Juden. Vortrag auf der Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg in Potsdam am 7.11.1998. (MS).; siehe auch ders., Soll und Haben. Nazistische Judenverfolgung im DDR-Schulbuch, in: Neues Deutschland, 5.11.1998, S. 12; Kurt Finker: Faschismus, Antifaschismus und »verordneter Antifaschismus«, in: Ansichten zur Geschichte der D D R hrsg. von Ludwig Elm, Dietmar Keller und Reinhard Mocek, Bd. 11, Bonn/Berlin 1998, S. 178 ff.
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332 37 Lehrbuch Geschichte. Klasse 9, S. 220 und 229 f. 38 Vgl. dazu Schatzker, S. 40 ff.
39 Vgl. Stephan Maßner: Rechtsextreme Orientierung unter Ostberliner Jugendlichen. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung, Berlin 1992; Rolf Richter, Peter Finke, Simone Greiser, Petra Warschat, Simone Hölig: Uber politische Einstellungen Schuljugendlicher aus Ostberliner Neubaubezirken zu Demokratie, Antifaschismus und Rechtsextremismus, Berlin 1993, S. 40 ff; Werner Bergmann/Rainer Erb: Antisemitismus in Deutschland 19451996, in: Wolfgang Benz/Werner Bergmann, Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg 1997, S. 406 ff; Angelika Timm: Die D D R die Schoah und der offizielle Antizionismus, in: Mario Keßler (Hg.), Antisemitismus und Arbeiterbewegung, S. 65; Dieter Schmidt-Sinns, Einleitung zu Schatzker, S. 8 f. 40
Dazu und zu kritischen Stellungnahmen der Evangelischen Kirche, der Jüdischen Gemeinden, aber auch von DDR-Künstlern und Schriftstellern wie Stefan Hermlin vgl. Ostmeyer, S. 49 ff; Offenberg S. 190 ff; Der antifaschistische Widerstandskämpfer, 1988, H. 8, S. 10; Stefan Hermlin: Dies ist das Schicksal der Antifaschisten: Sisyphus sein, in: Junge Welt, 16.09.1988.
41
Friedrich Karl Kaul: Der Fall Eichmann, Berlin 1963; ders., Arzte in Auschwitz, Berlin 1968; Heinz Kühnrich: Judenmörder Eichmann. Kein Fall der Vergangenheit, Berlin 1961; Fall 5. Anklageplädoyer, ausgewählte Dokumente. Urteil des Flickprozesses mit einer Studie über die »Arisierungen« des Flickkonzerns. Hg. von Karl-Heinz Thieleck, eingeleitet von Klaus Drobisch, Berlin 1965; IG-Farben, Auschwitz, Massenmord. Dokumentation zum Auschwitz-Prozeß, [Berlin] o.J.
42 Siegbert Kahn: Dokumente des Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung gegen Antisemitismus und Judenverfolgung, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (BzG), 2, 1960, H. 3, S. 552 ff; Jürgen Kuczynski: Die Barbarei - extremster Ausdruck der Monopolherrschaft in Deutschland, in: ZfG, 9, 1961, H. 7, S. 1484 ff; Hans Schleier/Gustav Seeber: Zur Entwicklung und Rolle des Antisemitismus in Deutschland von 1871-1914, in: Ebenda, S. 1592 ff; Manfred Unger: Die »Endlösung« in Leipzig. Dokumente zur Geschichte der Judenverfolgung 1933-1945, in: ZfG, 11, 1963, H.5, S. 941 ff. 43
Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen J u d e n 1933-1945, hg. von Helmut Eschwege. Mit einem Geleitwort von Arnold Zweig, einer Einleitung von Rudi Goguel und einer Chronik der faschistischen Judenverfolgungen von Klaus Drobisch, Berlin 1966, 2. Aufl. 1981. Den überaus langen und schwierigen, infolge gegensätzlicher Gutachten äußerst steinigen Weg der Herausgabe dieses Buches, an dem der Autor seit 1956 gearbeitet hatte, beschreibt Helmut Eschwege detailliert in seinem Manuskript Fremd unter meinesgleichen, S. 184 ff.
44 Walter Mohrmann: Antisemitismus, Ideologie und Geschichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin 1972. 45
Eschwege: Fremd unter meinesgleichen, S. 207 ff.
46 Klaus Drobisch/Rudi Goguel/Werner Müller unter Mitwirkung von Horst Dohle: Juden unterm Hakenkreuz. Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 1933-1945, Berlin 1973. Die ursprüngliche Grundlage für diese Publikation bildete das Manuskript Eschweges für einen Textband zu »Kennzeichen J « . 47
Kurt Pätzold: Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Stra-
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tegie des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935), Berlin 1975. Für die Zeit nach 1935 siehe ders., Von der Vertreibung zum Genocid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus, in: Faschismusforschung, Positionen, Probleme, Polemik, hg. von Dietrich Eichholtz/Kurt Gossweiler, Berlin 1980. 48
Margot Pikarski: Sie bleiben unvergessen, Berlin 1968; 2. Aufl. unter dem Titel: Jugend im Berliner Widerstand. Herbert Baum und Kampfgefährten, Berlin 1978.
49 Horst Sindermann: Rede zum 50. Jahrestag der faschistischen Pogromnacht von 1938 in der Volkskammer, in: Neues Deutschland, 9.11.1988. 50 Darauf machte bereits 1978 das von Günther Arndt, Christfried Berger, Jürgen Dehel, Helmut Hartmann, Stefan Schreuer und Ulrich Schröter erarbeitete Arbeitsheft der Magdeburger Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen »für Ö k u m e n e und Mission«, Heft II: »Als die Synagogen brannten ...« mit der Bemerkung aufmerksam: Die Schüler erfahren etwas über die Judenverfolgung, »aber nichts über die Geschichte dieses Volkes, nichts über Kunst und Kultur.« (EZA Berlin, Bestand 97, Nr. 1009) 51 Aus diesem Anlaß erschienen 1968 neben der Studie über die Berliner Baumgruppe die Sammlung: Welch ein Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht. Ausgewählt und hg. von H. Seydel, Berlin 1968 und aus christlicher Sicht: Stärker als die Angst. Den sechs Millionen, die keinen Retter fänden. Mit einem Geleitwort von Emil Fuchs, hg. von Heinrich Fink, Berlin 1968. 52 Für Hinweise auf dieses Feld der Rezeption jüdischen Erbes in der D D R sowie auf Material und erst jüngst entstandene Forschungsarbeiten zu diesem Thema danke ich Ulrich Schröter und Edeltraut Romberg, Johannes Hildebrandt und Christfried Berger. Unberücksichtigt bleibt in dieser Studie die Stellung der katholischen Kirche in der D D R zu Judenverfolgung, Holocaust und jüdischem Erbe. Spezielle Untersuchungen liegen hierzu nach meiner Kenntnis nicht vor. Hinweise darauf bietet: Katholische Kirche - sozialistischer Staat D D R Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945-1990, hg. von Gerhard Lange, Ursula Pruß, Franz Schrader, Siegfried Seifert, 2. Aufl. Leipzig 1993. Die Dokumentation enthält drei Stellungnahmen zu unserem Thema: 1. Das Hirtenwort der deutschen Bischöfe v o m 23.8.1945, in dem der Katholiken gedacht wird, »die ihr kärgliches Brot mit einem unschuldig verfolgten Nichtarier teilten« (S. 2); 2. Das gemeinsame Hirtenwort der deutschen Bischöfe zum Eichmannprozeß vom 2.6.1961, das Wiedergutmachung für die Verbrechen am jüdischen Volk verlangt und appelliert, »im Geiste der Sühne Gott um Verzeihung anzuflehen für die Sünden, die durch Angehörige unseres Volkes geschehen sind, und um die Gesinnung des Friedens und der Versöhnung zu bitten.« (S.186 f.); 3. Das Hirtenwort der Mitglieder der Berliner Bischofskonferenz zur 50. Wiederkehr der Reichspogromnacht vom 6.11.1988, das im Sinne der Erklärung »Nostra Aetate« des 11. Vatikanischen Konzils aufruft, »die ,gegenseitige Kenntnis und Achtung« von Christen und Juden zu fördern, »das gemeinsame Erbe« von Juden und Christen hervorhebt und Grundsätze formuliert für Gespräche zwischen Juden und Christen, »um jahrhundertealte Vorurteile abzubauen«, darunter nicht zuletzt: »Die falsche religiöse Sicht des jüdischen Volkes, welche die Verkennung und Verfolgungen im Laufe der Geschichte zum Teil mitverursachte, ist zu korrigieren.« (S.348-350) 53 Zum folgenden vgl. vor allem die Dissertation Ostmeyers.
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334 54 Ebenda, S. 26 ff.
55 Ebenda, S. 199 f. und 308: »1960/61 vollzog sich eine theologische Wende in Fragen der Beziehungen zum Judentum und zu Juden: Die Judenmission mußte dem jüdisch-christlichen Dialog den Platz räumen.« 56 Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 251 f. 57 Vgl. zur undifferenzierten Haltung der offiziellen D D R gegen den Zionismus, zur antizionistischen Kampagne in der D D R in den endsechziger und siebziger Jahren und zu den Auseinandersetzungen zwischen Staat und evangelischer Kirche um das Dokument ebenda, S. 246 ff., insbes. S. 251 f. und S. 546 f.: Erklärung der Leitenden Geistlichen der Gliedkirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der D D R vom 27.11.1975; auch dies., Die D D R die Schoah und der offizielle Antizionismus, in: M. Keßler (Hg.), Antisemitismus und Arbeiterbewegung, S. 71 und 75: »Der Antizionismus diente der Verbräm u n g einer pragmatisch auf die arabischen Staaten ausgerichteten Außenpolitik.« Siehe auch: Ostmeyer, S. 45 ff., insbes. 48f; ferner: Keßler, Die S E D und die Juden, S. 132 ff 58 Zur Entstehung und Geschichte der »Aktion Sühnezeichen Friedensdienste« vgl. neben der Kreyssig-Biographie von auch Ostmeyer, S. 213-220 sowie die Broschüren »Sommerlager« 1996 und 1998 und weitere Materialien der »Aktion Sühnezeichen Friedensdienste«, die ich durch Vermittlung von Wolf J u n g und Frau Romberg einsehen durfte. Eine eigenständige Geschichte der »Aktion« ist leider noch nicht geschrieben; die verdienstvollen Passagen bei Ostmeyer dürften nur ein Einstieg sein. 59 Ostmeyer, S. 126. 60 Vgl. dazu und zum folgenden die Verzeichnisse der »Aktion« über Sommerlager in Gedenkstätten und auf jüdischen Friedhöfen im In- und Ausland, namentlich in Polen und in der Tschechoslowakei, sowie zahlreiche Einladungen für und Berichte über Einsätze auf jüdischen Friedhöfen, Bildungsveranstaltungen über das Judentum, gemeinsame Zusammenkünfte mit jüdischen Gemeinden und Bezirkstreffen aus den Jahren von 1968 bis 1988 in: EZA Berlin, Bestand 97/884, 886, 927, 994, 995, 996. 61 Ostmeyer, S. 232 ff; von jüdischer Seite vgl. die Memoiren Eschweges, Fremd unter meinesgleichen, namentlich den Abschnitt über »christlich-jüdische Zusammenarbeit«, S. 167 ff, hier bes. S. 173 ff. 62 Auszüge aus einem Beschluß des ZK der S E D v o m 12.10.1978 zur Durchführung von Veranstaltung zu diesem Gedenktag finden sich bei Ostmeyer, S. 158, A n m . 39. Der Verband der Jüdischen Gemeinden gab eine Dokumentation heraus: Gedenke! Vergiß nie! 40. Jahrestag des faschistischen »Kristallnacht«-Pogroms. Eine Dokumentation, Berlin 1979. Das M u s e u m für Deutsche Geschichte im Zeughaus gestaltete erstmals eine zentrale Sonderausstellung »40 Jahre >Kristallnacht<««. Neben einer zentralen Gedenkveranstaltung in Dresden fanden weitere Veranstaltungen in Berlin, Erfurt, Magdeburg, Leipzig, Suhl, Rätzlingen, Haldensleben und Parchim statt. Z u m Gedenken an den 9.11.1938 in der D D R vgl. auch Mario Keßler: Der 9. November in der Erinnerungskultur der D D R in: Der 9. November als deutscher Erinnerungstag. D o k u m e n t a t i o n einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Brandenburg, am 3. November 1998 in Potsdam, [Bonn 1999], S. 27 ff., der jedoch die Zäsur 1978 unbeachtet läßt und erst seit Mitte der achtziger Jahre eine Hinwendung zu jüdischer Geschichte und deren Neubewertung datiert. 63 Von bundesdeutscher Seite erstmals näher analysiert in: Deutschland-Archiv, 1986, H. 11,
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S. 1192 ff.: Lothar Mertens: Juden in der D D R Eine verschwindende Minderheit und 1988, H. 7, S. 699 ff: T h o m a s Ammer, Wandlungen im Verhältnis der DDR-Führung zum Judentum. 64 Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 293 ff.; Offenberg, S. 208 ff; Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 275 ff. 65 Erbe und Tradition in der D D R Die Diskussion der Historiker, hg. von Helmut Meier und Walter Schmidt, Berlin 1988; Georgi Verbeeck: Erbe- und Traditionsverständnis in Deutschland - Beurteilungsversuch aus nichtdeutscher Sicht, in: Vom Beitritt zur Vereinigung. Schwierigkeiten beim Umgang mit deutsch-deutscher Geschichte, hg. von Eberhard Fromm und Hans-Jürgen Mende, Berlin 1993, S. 98 ff; J a n Herman Brinks: Die D D R zwischen Einheit und Abgrenzung. Höhepunkte aus der deutschen Geschichte als Paradigmen politischen Wandels. Luther, Friedrich II. und Bismarck, Diss. Groningen 1991; Wilter Schmidt: Die Erbedebatte in der DDR-Historiographie. Versuch einer kritischen Bilanz, Rosa-Luxemburg-Verein Leipzig 1995. 66 Vgl. insbesondere das Nachrichtenblatt in den Jahren 1978-1988. 67 Ostmeyer, S. 169. 68 Ebenda, S. 257 ff". 69 Alfred Etzold/Peter Kirchner/Heinz Knobloch: Jüdische Friedhöfe in Berlin, Berlin 1980; 2. A u l l 1987; auch Jürgen Rennert: Der gute Ort in Weißensee, Berlin 1987. Siehe auch Andreas N a c h a m a / H e r m a n n S i m o n (Hg.): Jüdische Grabstätten und Friedhöfe in Berlin. Eine Dokumentation mit Beiträgen von Alfred Etzold und Heinrich Simon, Berlin 1992. 70 Eva Schmidt: Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik und ihr Friedhof. Tradition und Gegenwart, Weimar 1984. 71 Helmut Eschwege: Die Synagoge in der deutschen Geschichte. Eine Dokumentation, Dresden 1980; 3. Aufl. 1988. 72 Eschwege: Fremd unter meinesgleichen, S. 212 ff. 73 Ebenda, S. 262 ff. 74 Zum Platz dieses Jahrestags in der Evangelischen Kirche vgl. Ostmeyer, S. 161 ff.; zu den staatlichen Vorbereitungen und durchgeführten Veranstaltungen erstmals zusammenfassend Offenberg, S. 234 ff; ferner Mertens: Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 182 ff. 75 So in Anlage Nr. 11 zum Protokoll Nr. 13 der Politbürositzung vom 29.3.1988. Zit. nach Offenberg, S. 235 und 319, Anm. 71. 76 Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 308 ff. 77 Verordnung über die Errichtung einer Stiftung »Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum« vom 16.6.1988, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, Nr. 13, S. 145, 4.7.1988. 78 »Und lehrt sie: Gedächtnis!« Eine Ausstellung des Ministeriums für Kultur und des Staatssekretariats für Kirchenfragen in Zusammenarbeit mit dem Verband der Jüdischen Gemeinden in der D D R zum Gedenken an den faschistischen Novemberpogrom vor fünfzig Jahren. Katalog, Berlin 1988. 79 Ostmeyer, S. 169. 80 Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 19331942, hg. von Kurt Pätzold, Leipzig 1983, 2. Aufl. 1988. 81 Frank Schröder/Ingrid Ehlers: Zwischen Emanzipation und Vernichtung. Zur Geschichte
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der J u d e n in Rostock. Schriftenreihe des Stadtarchivs Rostock, Heft 9, Rostock 1988. Der faschistische Pogrom vom 9./10. November 1938. Zur Geschichte der Juden in Pommern. Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1989; H. Dehmelt: Antisemitismus und Judenverfolgung in Mecklenburg von 1933 bis 1938, Diplomarbeit Rostock 1987. 82 Das Licht verlöschte nicht. Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur im Bezirk Magdeburg, hg. v o m Kulturbund der D D R 1988; Hans Schmidt: Zur Geschichte der Israelitischen Religionsgemeinschaft Plauen i.V. (Vogtlandmuseum Plauen, Schriftenreihe, H. 57), Plauen 1988. 83 Marie-Thérèse Kerschbauer: Der weibliche Name des Widerstands. Mit einem Nachwort von Silvia Schlenstedt, Berlin 1986; Silvia Nickel: Jüdische Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen und ihr Anteil am antifaschistischen Widerstand, Jahresarbeit der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität Berlin 1988. Bereits 1984 hatte Helmut Eschwege zusammen mit Konrad Kwiet eine Darstellung des jüdischen Widerstands in Hamburg publiziert. Siehe: Konrad Kwiet/Helmut Eschwege: Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im K a m p f um Existenz und Menschenwürde 1933-1945 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. XIX), Hamburg 1984. 84 Jürgen Reich: Die Erinnerung verblaßt ... aber es lebten auch in Sonneberg Juden: Hg. Arbeitsgemeinschaft Kirche und J u d e n t u m (Arbeitsgruppe Thüringen) o.O. 1988; Die Novemberpogrome. Gegen das Vergessen. Eisenach-Gotha-Schmalkalden. Spuren jüdischen Lebens, erarbeitet von einer Arbeitsgruppe beim Landesjugendpfarramt der EvangelischLutherischen Kirche Thüringens. Hg. Jüdische Landesgemeinde Thüringen, o.O. 1988. Von der Arbeitsgruppe war gleichzeitig eine Ausstellung in Eisenach veranstaltet worden. 85 Kurt Pätzold/Irene Runge: Pogromnacht 1938, Berlin 1988; siehe auch Kurt Pätzold: Der Platz des Pogroms vom 9./10. November 1938. Zu einer Kontroverse, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 26, Berlin 1983. 86 Siehe etwa den Band: Die Humboldt-Universität und ihre Geschichte. Aus der Arbeit der universitätshistorischen Kolloquien 1987-1989 (Beiträge zur Geschichte der HumboldtUniversität zu Berlin, Nr. 23), Berlin 1989 mit Beiträgen von Laurenz Demps: Fortschritte und Hemmnisse bei der Emanzipation der Juden in Berlin (S. 59 ff); Hannelore Bernhard: Z u m Andenken jüdischer Studenten unserer Universität; Renate Gollmitz: Max Herrmann, ein jüdischer Germanist an der Berliner Universität (S. 77 ff); Ilse Jahn: Z u m Gedenken an jüdische Biologen der Berliner Universität (S. 86 ff). Siehe auch Kurt Pätzold: Gustav Mayer und Erika Schwartz: Hedwig Hintze, in: Berliner Historiker. Die neuere deutsche Geschichte in Forschung und Lehre an der Berliner Universität (Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, Nr. 13), Berlin 1985. 87 Siehe den Bericht von Carmen Bossenz: 50. Jahrestag des faschistischen Pogroms, in: BzG, 31, 1989, H. 2, S. 256 f. Vgl. auch Keßler, Der 9. November in der Erinnerungskultur der D D R S. 35. 88
Bereits 1968 war im von Dieter Fricke herausgegebenen Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien ... , Bd. I, S. 236 ff. erschienen: »Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« (von Willy Menke). Das in Erweiterung des Handbuches 1983-1988 erschienene vierbändige Lexikon zur Parteiengeschichte 1789-1945 enthielt neben dem von Kurt Pätzold verfaßten Beitrag über den »Centraiverein« (Bd. 1, S. 418 ff.) nun auch: In Bd. 4, S. 90 ff: die »Reichsvertretung der deutschen Juden« (von Kurt Pätzold), Bd. 4, S.
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84 ff. die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« (von Kurt Pätzold), Bd. 4, S. 636 ff. die »Zionistische Vereinigung für Deutschland« (von Kurt Pätzold), Bd. 3, S. 125 ff. den »Hilfsverein der deutschen Juden« (von Kurt Pätzold und Katharina Riege); Bd. 4. S. 375 ff. den »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« (von Werner Fritsch). 89 Kurt Meier: Kirche und Judentum. Die Haltung der evangelischen Kirche zur Judenpolitik des Dritten Reiches, Halle 1968; ders., Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 1-3, Halle 1976, 1984; ders., Luthers Judenschriften als Forschungsproblem, in: Theologische Literaturzeitung, 110, 1985; Stefan Schreiner: Von den theologischen Zwangsdeputationen des Mittelalters zum christlich-jüdischen Dialog heute, in: Judaica, 42, 1986; Protestantismus und J u d e n t u m in der Weimarer Republik. Studien zur Geschichte ihrer Verhältnisses, hg, von Kurt Nowak/Gerard Rauler, Berlin/Paris 1989 ; aus marxistischer Sicht: Horst Dohle: Die Stellung der evangelischen Kirche in Deutschland zum Antisemitismus und zur Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945. Phil. Diss. Berlin 1963. 90 Ludwig Geiger: Geschichte der Juden in Berlin. Vorwort von Hermann Simon, Leipzig 1988. 91 Heinrich/Maria Simon: Geschichte der jüdischen Philosophie, Berlin 1984; bereits 1978 war als Reprint in Leipzig erschienen Aron Friedman: Der synagogale Gesang. 92 Hermann Simon: Das Berliner Jüdische Museum in der Oranienburger Straße. Geschichte einer zerstörten Kulturstätte, Berlin 1988. 93 Bernt Engelmann: Deutschland ohne Juden. Eine Bilanz, Berlin 1988. 94 Rosemarie Schuder/Rudolf Hirsch: Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte, Berlin 1987. 95 Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 589. 96 Kopie des Schreibens in: EZA Berlin, Bestand 97/885. 97 Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 333 ff. 98 Deutsche Geschichte , Bd. 4: Die bürgerliche Umwälzung von 1789 bis 1871, Berlin 1984, Köln 1984. 99 Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit. Ein Versuch, hg. und mit einem Nachwort versehen von Kurt Pätzold, Leipzig 1991; Kurt Pätzold: Die verweigerte Herausforderung. Daniel J. Goldhagen und seine Kritiker, in: Initial, 1993, H.5 sowie in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Nr. 7, 1996, S. 26-67; ders., Judenmord und Kriegsaufwand, in: »Neuordnung Europas«. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992-1996, Berlin 1996, S. 289 ff; ders., Holocaust an den deutschen Juden, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät Berlin, Bd. 19, 1997, H. 4, S. 37 ff; ders., Endlösung, in: Historisch kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von Wolfgang Fritz Haug, Bd. 3, Berlin 1997, Sp. 346 ff; ders., Der Platz des Pogroms gegen die Juden am 9./ 10. November 1938 auf dem Weg in den Krieg. Vortrag am 7.11.1998 aus Anlaß des 60. Jahrestags des Pogroms in einer Veranstaltung des Bundes der Antifaschisten (MS.); ders., Die D D R und die öffentliche Aufarbeitung des Völkermords an den Juden. Vortrag auf der Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg in Potsdam am 7.11.1998 (MS); ders., Zweierlei Debatten. Von Goldhagen zu Courtois, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung. Wissenschaftliche Halbjahresschrift, hg. von Werner Röhr, Nr. 12, 1999, S. 66-73; Kurt Pätzold/Erika Schwarz: Tagesordnung Judenmord. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung« (Dokumente, Texte, Materialien, hg. v o m Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 3), Berlin 1992; Han-
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ne H i o b und Gerd Koller: » ... Wir verreisen in die Vernichtung.« Briefe 1937-1944. Eingeleitet und mit Erläuterungen versehen von Kurt Pätzold und Erika Schwarz, Hamburg 1993; Kurt Pätzold/Erika Schwarz: Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof. Franz Nowak - der Transportführer Adolf Eichmanns (Dokumente, Texte, Materialien, hg. vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 13), Berlin 1994; Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker: Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Leipzig 1995, S. 477 ff.: Kapitel »Vorkämpfer des Judenmords«; Kurt Pätzold/M. Weißbecker: Rudolf" Heß - der Mann an Hitlers Seite, Leipzig 1999. 100 Vgl. die bereits genannten Arbeiten von Johannes Glasneck, Olaf Groehler, Mario Keßler, Dieter Schiller und Angelika Timm. 101 Zu Berlin siehe Frank Schumann: Die Szene. Neue Geschichten aus dem Scheunenviertel, Berlin 1993; Ulrike Steglich/Peter Kratz: Das fälsche Scheunenviertel, Berlin 1994; Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Berlins. Erarbeitet im Auftrag des Vereins zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e.V. von Thomas Raschke (Gesamtredaktion), Horst Helas, Frank Morgner, Dieter Weigert, Berlin 1994; Horst Helas, Helgard Behrendt, Birgit Gregor, Sabine Krusen: Juden in Berlin Mitte, Berlin 2000; Christa Hübner: J u d e n in Weißensee. »Ich hatte einst ein schönes Vaterland«, Berlin 1994; Bernt Roder (Leitung), Regina Scheer, Larissa Dämmig, Birgit Järke u.a., Leben mit Erinnerung. Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Berlin 1997; Inge Lamme) (Redaktion): Jüdisches Leben in Pankow. Eine zeitgeschichtliche Dokumention, hg. v o m Bund der Antifaschisten Berlin-Pankow, Berlin 1993; dies., Jüdische Lebensbilder aus Pankow. Familiengeschichten. Lebensläufe. Kurzporträts, Berlin 1997; Norbert Stein und Thea Koberstein: J u d e n in Lichtenberg mit den früheren Ortsteilen in Friedrichsfelde, Hellersdorf und Marzahn, Berlin 1995; Gerd Lüdersdorf: Juden in Köpenick 1812-1945. Versuch einer Rekonstruktion, Berlin; ders., Es war ihr Zuhause. J u d e n in Köpenick, Berlin 1998. Siehe ferner Roland Otto: Die Verfolgung der J u d e n in Görlitz unter der faschistischen Diktatur 1933-1945 (Schriften des Ratsarchivs der Stadt Görlitz, Bd. 14), Görlitz 1990; ders., Im Zentrum der Oberlausitzer Juden - Görlitz, in: J u d e n in der Oberlausitz, Bautzen 1998, S. 104 ff.; H u g o Jensch: J u d e n in Pirna, Pirna 1997; J u d e n in Leipzig. Eine Dokumentation, Leipzig 1988; Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der J u d e n in Leipzig, Leipzig 1994. 102 Stefanie Endlich/Thomas Lutz: Gedenken und lernen an historischen Orten. Ein Wegweiser zu den Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Berlin 1995; Zeugnisse jüdischer Kultur. Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Berlin 1992; Michael Brocke/Eckehart Ruthenberg/Kai Uwe Schulenburg (Hg.): Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland, Berlin 1994; Harry Stein: Juden in Buchenwald, hg. von der Gedenkstätte Buchenwald, Weimar 1992; Horst Helas: Uber die Geschichte der deutschen Juden. Fürstenwalder Jugendliche fragen, hg. vom Berlin-Brandenburger Bildungswerk e.V. Berlin 2000. 103 Wolf Gruner: Judenverfolgung in Berlin 1933-1945. Eine Chronologie der Behördenmaßnahmen, in: Arbeitsmarkt und Sondererlaß. Menschenverwertung, Rassenpolitik und Arbeitsamt. Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 8, Berlin 1990; ders., Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher J u d e n zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938-1943 (Dokumente, Texte, Materialien, hg. vom Zentruni für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 20), Berlin 1997; Almuth Paschel: » ... Der Angeklagte ist Jude«. Die Auswirkungen der antisemitischen Gesetzgebung
Jüdisches Erbe in der D D R
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auf Bürger der Provinz Brandenburg 1933-1945, hg. von der Brandenburgischen Landeszentrale für Politische Bildung, Potsdam 1996; Werner Röhr in Zusammenarbeit mit Dietrich Eichholtz, Gerhard Haß und Wolfgang Wippermann (Hg.): Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer, Berlin 1992; Manfred Weißbecker: Alfred Rosenberg - » ... die antisemitische Bewegung war nur eine Schutzmaßnahme ...«, in Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker: Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen, Leipzig 1996, S. 173 ff. 104 Eva Seeber/Marian Feldman: Beiträge zur Geschichte des Warschauer Ghettos, Leipzig 1994. 105 Irene Runge: Onkel Max ist jüdisch. Neun Gespräche mit Deutschen, die Juden halfen, Berlin 1991; dies. Und Uwe Stellbrink: Georg Mosse - »Ich bleibe Emigrant«, Berlin. 106 Wolfgang Herzberg: Überleben heißt Erinnern. Lebensgeschichten deutscher Juden, Berlin und Weimar 1990; Salomea Genin: Scheindl und Salomea. Von Lemberg nach Berlin, Frankfürt a.M. 1992; Rosemarie Schuder/Rudolf Hirsch: Nummer 58866 Judenkönig, Berlin 1996; Jüdische Memoiren, hg. von Hermann Simon. 107 Hermann Simon: Die neue Synagoge Berlin. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Berlin 1992; Hermann Simon/Jochen Boberg (Hg.): »Tuet auf die Pforten«. Die Neue Synagoge 18661995, Berlin 1995; Hermann Simon: »Bilder, an die Dante nicht im Traum gedacht hätte« - Neue Quellen zum Novemberpogrom in Berlin, in: November 1938. Vom Pogrom zum Völkermord, S. 16 ff. 108 Günter Görlich: Die verfluchte Judenstraße, Berlin 1992; Rudolf Hirsch: Die arische Jüdin, Berlin 1992; Heinz Knobloch: Der arme Epstein. Wie der Tod zu Horst Wessel kam, Berlin 1993; Regina Scheer: AHAWAH. Das vergessenen Haus. Spurensuche in der Berliner Auguststraße, Berlin und Weimar 1992; dies., Es gingen Wisser wild über unsere Seele, Berlin 1999. 109 Die Gesellschaft veröffentlicht das »Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung«, hg. von Werner Röhr, Redaktion: Brigitte Berlekamp, Nr. 1-13, 1993-1999 und »Neuordnung Europas«. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992-1996, hg. von Werner Röhr und Brigitte Berlekamp, Berlin 1996. Vgl. auch: Wissenschaftliche Veranstaltungen der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992-1998, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Nr. 12, 1999, S. 132-138. 110 Neben mehreren schon genannten Titeln Bernward Dörnen Judenmord und die deutsche Justiz, in: »Neuordnung Europas«. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismusund Weltkriegsforschung 1992-1996, Berlin 1996; Susanne Willems, Die Neugestaltung Berlins als Reichshauptstadt - auf Kosten der Berliner J u d e n 1938-1942, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Nr. 10, 1998, S. 3-22. 111 Samuel Mitja Rapoport: Rede zum Leibniz-Tag am 2.7.1998, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 23, J g . 1998, H. 4, S. 118.
Angelika
Timm
Der Eichmann-Prozeß - eine Zäsur für den Umgang mit der Schoah in der DDR 1
Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der nationalsozialistischen Judenverfolgung bzw. deren Stellenwert in der Historiographie und politischen Kultur der D D R 2 folgten widersprüchlichen politischen Prämissen und nicht selten innen- oder außenpolitischen Nützlichkeitserwägungen. So verging nach den frühen Veröffentlichungen von Stefan Heymann 3 und Siegbert Kahn 4 mehr als ein Jahrzehnt, bis mehrere Publikationen ediert wurden, die sich mit der Schoah befaßten. Einen politischen Anstoß und gleichermaßen eine Zäsur für die intensivere Beschäftigung mit der Judenvernichtung bildete Anfang der sechziger Jahre insbesondere der Eichmann-Prozeß in Jerusalem. Am 23. Mai 1960 hatte der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion vor der Knesset bekanntgegeben, daß sich Adolf Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen für die »Endlösung der Judenfrage« in Europa, seit einigen Tagen in israelischem Gewahrsam befände und in Jerusalem vor Gericht gestellt würde. Die Anklage gegen Eichmann, verbunden mit der Anhörung Hunderter von Zeugen, seine Verurteilung am 15. Dezember 1961 und die Hinrichtung am 31. Mai 1962 blieben nicht ohne Auswirkungen auf die internationale Politik. Sie waren von zahlreichen politischen Stellungnahmen begleitet, führten zu einer Flut von Medienberichten und initiierten umfängliche wissenschaftliche Debatten über Nationalsozialismus und Judenmord. Auch in der D D R zeichneten sich Modifikationen bisheriger Positionen ab: Auf »das Jahrzehnt der Verdrängung zwischen 1949 und 1959« folgte ab 1960 eine »Phase der weitgehend politisch instrumentalisierten Auseinandersetzung mit dem Holocaust [...], während der gleichwohl erste historische Dokumentationen und Erinnerungsberichte erschienen«. 5 Die Außenpolitik des ostdeutschen Staates war Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre durch die internationale Grundkonfrontation und durch deutschdeutsche Querelen im Kalten Krieg dominiert. Innenpolitisch sah sich die SEDFührung mit der zunehmenden und bis zum 13. August 1961 anhaltenden Fluchtbewegung von DDR-Bürgern in den deutschen Westen 6 konfrontiert, der sie sozial
Der Eichmann-Prozeß
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und politisch nur wenig entgegenzusetzen vermochte. Sie ging daher in die ideologische Offensive, mittels der die D D R , als makelloser antifaschistischer Staat idealisiert, der Bundesrepublik als Staat der Nazi-Täter gegenüber gestellt wurde. Argumentativ konnten antisemitische Vorkommnisse und Hakenkreuzschmierereien im Westen Deutschlands, die öffentlich geführten Diskussionen über eine Verjährung von nationalsozialistischen Verbrechen und die ausbleibende oder begrenzte strafrechtliche Verfolgung von im nationalsozialistischen Staat schuldig gewordenen ehemaligen Beamten und Offizieren des Dritten Reiches genutzt werden. Ostdeutsche Veröffentlichungen über den »Antisemitismus in Westdeutschland« 7 sollten die These von der »Refäschisierung« der Bundesrepublik glaubhaft machen; der Verweis auf Hans-Maria Globke oder Theodor Oberländer - nationalsozialistische »SchreibtischTäter«, die in Spitzenpositionen der Bundesrepublik aufgestiegen waren - schien geeignet, die Kontinuität deutscher Geschichte von Adolf Hitler bis Konrad Adenauer nachzuweisen. Seit dem Sommer 1960 bot insbesondere der Eichmann-Prozeß vor dem Bezirksgericht in Jerusalem vielfältige Gelegenheit, die skizzierten Argumentationsketten medien- und öffentlichkeitswirksam auszubauen. Bereits wenige Tage nach der Erklärung Ben Gurions informierte SED-Politbüromitglied Albert Norden den Ersten Sekretär des Zentralkomitees, Walter Ulbricht, über Bemühungen, »den Fall Eichmann, der international so großes Aufsehen erregt, maximal gegen das Bonner Regime zuzuspitzen«. Norden schlug vor, konkrete Überlegungen anzustellen, »ob und wie die D D R direkt in die Prozeßvorbereitung eingreifen« könne; er teilte mit, sich »wegen Beschaffung von Materialien [...] bereits mit Genossen Mielke in Verbindung gesetzt« 8 zu haben. Der »Fall Eichmann« interessierte nicht nur die S E D als ideologische Waffe in der Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik; er beeinflußte auch Propaganda und Politik anderer Staaten des Warschauer Vertrages. Das ungarische Außenministerium übernahm z. B. die Aufgabe, »im Zusammenhang mit der Affäre Eichmann« eine politische Standortbestimmung zu erarbeiten. Ein entsprechendes Papier vom 19. Juli 1960 mit dem Titel »Konsultationshagen des Außenministeriums der Ungarischen Volksrepublik an das Außenministerium der Sowjetunion, Polens, der Tschechoslowakei, der Deutschen Demokratischen Republik und Rumäniens im Zusammenhang mit der Affäre Eichmann« formulierte als »politische Richtlinie« den Angriff »gegen a) den westdeutschen Neofaschismus, b) den Zionismus, c) den Vatikan - Eichmann gelangte unter Beihilfe des Vatikans nach Argentinien«. 9 Das SED-Politbüro diskutierte am 16. August 1960 eine vom DDR-Außenministerium verfaßte Stellungnahme zur ungarischen Argumentation. Dabei wurde deutlich, daß primär Informationen an die Öffentlichkeit gebracht werden sollten, die eine Diskreditierung der Bundesregierung bewirken konnten; Zionismus und Vatikan wurden in
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diesem Kontext zu Randfaktoren. Die Position des MfAA lautete: »Es muß unser Ziel sein, aus dem Prozeß gegen Eichmann im K a m p f gegen den westdeutschen Neofaschismus so viel wie möglich herauszuholen. Um das zu erreichen, sind wir an der Aufdeckung folgender Fakten und Zusammenhänge interessiert: a) die von Eichmann und seinen heute noch im Bonner Staatsapparat tätigen Komplizen (Globke) begangenen Verbrechen, b) wer Eichmann von 1945 bis zu seiner Verhaftung gedeckt hat, c) daß die Politik, der Eichmann gedient hat, heute in Westdeutschland fortgesetzt wird, d) die Anstrengungen der in Westdeutschland herrschenden Kreise, um die Darlegung des gesamten Komplexes der Judenverfolgung und der Verbrechen des Faschismus zu hintertreiben, das Zusammenspiel zwischen Bonn und Israel dabei.« 1 0 Arne Rehahn, im SED-Zentralkomitee für gesamtdeutsche Fragen zuständig, schlug Albert Norden im September 1960 vor, namhafte jüdische Bürger der D D R zu gewinnen, sich mit einem Brief an die DDR-Regierung zu wenden, um die Verurteilung Globkes zu fordern. Darüber hinaus sei anzustreben, daß drei oder vier von ihnen als Nebenkläger im Eichmann-Prozeß zugelassen würden." Die archivierten Unterlagen lassen wenig Sensibilität im Umgang mit den jüdischen Opfern nationalsozialistischer Verfolgung erkennen. Nicht die Ahndung des faschistischen Verbrechens, sondern die politische Nutzung des Jerusalemer Tribunals wurde zum bestimmenden Kalkül. In erster Linie - so die zentralen Weisungen - galt es, die Glaubwürdigkeit der DDR-Positionen zu stärken und entsprechende Veröffentlichungen in die in- und ausländische Presse zu lancieren. D e m widerspricht nicht, daß der Eichmannprozeß auch eine innergesellschaftliche Funktion erlangte; er wurde zum Anlaß genommen, um nachzuweisen, daß der Entnazifizierungsprozeß in der D D R wesentlich rigoroser erfolgt sei als im Westen Deutschlands und diente somit der Legitimierung der D D R als einzigem deutschen Staat, der die Lehren aus der Geschichte gezogen habe.
Ostdeutscher
»Staranwalt«
in Jerusalem
Die DDR-Führung war bestrebt, mit einem prominenten Nebenkläger am Eichmann-Prozeß beteiligt zu sein und sah dafür den bekannten Berliner Rechtsanwalt und Strafverteidiger Friedrich Karl Kaul vor. Norden begründete den Personalvorschlag gegenüber Ulbricht folgendermaßen: »Erstens würde dadurch der Charakter der D D R und ihrer Bürger als antifaschistisch und humanitär hervortreten. Der eine
Der Eichmann-Prozeß
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deutsche Staat stellt den Verteidiger des weltberüchtigten Mörders, der zum Symbol der Untaten des Faschismus geworden ist. Bürger des anderen deutschen Staates klagen in der Person des Mörders die ganze fluchwürdige Tradition des deutschen Militarismus an. Praktisch sähe das so aus, daß (im Falle der Zustimmung durch die israelische Regierung) Dr. Kaul an dem Verfahren teilnimmt und jeweils vor dem westdeutschen Verteidiger das Wort erhält. Das würde ihm die Möglichkeit geben, auch den Fall Globke in den Prozeß einzubeziehen und die Rolle des Bonner Regimes als Fortsetzer der Hitler-Politik aufzudecken.« 1 2 Mit dem Auftrag, die erforderlichen Formalitäten einzuleiten, reiste Kaul im Februar 1961 nach Israel. Seine politische Direktive, formuliert durch das SED-Politbüro, lautete: »Unser Interesse besteht darin, im Zusammenhang mit dem EichmannProzeß und den Machenschaften von Servatius [westdeutscher Verteidiger Eichmanns - d. Verf.] das Bonner Regime bloßzustellen und die Rolle Globkes zu enthüllen. Wir haben dagegen nicht die Absicht, den Anschein irgendwelcher offiziellen Beziehungen DDR-Israel aufkommen zu lassen.« 13 Von einer übergeordneten deutschen Pflicht und Verantwortung, sich anhand des Eichmann-Prozesses grundsätzlich mit dem nationalsozialistischen Judenmord auseinander zu setzen, ohne Hintergedanken oder Eigennutz der Wahrheitsfindung zu dienen und das historisch einzigartige Verbrechen des Genozids am jüdischen Volk ahnden zu helfen, war in der Direktive nicht die Rede. Kaul wurde am 20. Februar 1961 1 4 vom israelischen Justizminister Pinchas Rosen und vom israelischen Generalstaatsanwalt Gideon Hausner empfangen, denen er seinen Antrag auf Nebenklage vortrug. Die israelische Seite lehnte dieses Ansinnen jedoch mit der Begründung ab, im Prozeß gegen Adolf Eichmann könnten keine Nebenklagen privater Ansprüche geltend gemacht werden. 1 5 Kaul mußte sich daher mit einem Beobachterstatus zufrieden geben. Der »Staranwalt aus Ostdeutschland«, wie die Histadrut-Zeitung Davar Friedrich Karl Kaul bezeichnete 1 6 , führte auch während der zweiten Israelreise im Frühjahr 1961 Gespräche mit Repräsentanten der israelischen Justiz; u. a. übermittelte er mehrere Dokumente an Generalstaatsanwalt Gideon Hausner 1 7 bzw. gab zahlreiche Interviews und Pressekonferenzen. Nicht immer verlief die »Öffentlichkeitsarbeit« allerdings in der gewünschten Richtung. So drohte Kauls Auftritt im israelischen Journalistenverband am 2. Mai 1961 in einem Tumult zu enden, als westdeutsche Reporter den DDR-Juristen mit Fragen zur ostdeutschen Haltung gegenüber israelischen Wiedergutmachungsforderungen in die Ecke drängten und die von ihm angekündigten neuen Beweismaterialien über Globke hinterfragten. 1 8 Neues Deutschland berichtete drei Tage später von »westdeutschen Pressevertretern«, die versucht hätten, »in alter SA-Manier Verwirrung zu stiften«.19
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Die deutsch-deutsche Konfrontation im Kalten Krieg hinterließ somit auch in Jerusalem ihre Spuren. Propst Heinrich Grüber 2 0 , der im Mai 1961 als einziger deutscher Zeuge im Eichmann-Prozeß ausgesagt hatte, brachte es Anfang Juni in einem Brief an Kaul auf den Punkt: »Das nimmt Ihnen, Herr Professor, in Israel und auch von den ausländischen Journalisten, die ich gesprochen habe, keiner ab, daß die Dokumentationen, die Sie und im Verfolg auch die Vertreter der Bundesrepublik vorlegten, nur dem Zweck einer »restlosen Aufklärung« dienten, daß vielmehr die wesentliche Absicht die war, der anderen Seite etwas anzuhängen. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn man von beiden Seiten, anstatt die schmutzige Wäsche des anderen auszubreiten, etwas Positives gebracht hätte.« 2 1 Die aus dem Fiasko vom 2. Mai gezogene Schlußfolgerung bestand für Kaul darin, bei der nächsten Pressekonferenz, die für Ende Juni 1961 anberaumt war, auf den israelischen Journalistenverband als Organisator zu verzichten, sie für einen ausgewählten Besucherkreis durchzuführen und keine Journalisten aus der Bundesrepublik einzuladen. Obwohl es der DDR-Führung letztlich nicht gelang, das während des EichmannProzesses angespannte westdeutsch-israelische Verhältnis zu ihren Gunsten auszunutzen, hielt sie an der gegen die Bundesregierung gerichteten propagandistischen Stoßrichtung fest. Möglicherweise zogen SED-Politiker sogar in Erwägung, Dokumente zu fälschen oder neue anzufertigen. Albert Norden vermerkte zumindest in einer Notiz, die er zur Vorbereitung einer »Besprechung mit Gen. Ulbricht« im Juni 1961 anfertigte, es sollten »in Zusammenarbeit mit Mielke bestimmte Materialien besorgt bzw. hergestellt werden«. Weiter hieß es im betreffenden Skript: »Wir brauchten unbedingt ein Dokument, das in irgendeiner Form die direkte Zusammenarbeit Eichmanns mit Globke beweist. Kaul informierte uns, daß Gen. Ulbricht damit einverstanden sei und eine entsprechende Weisung an Gen. Mielke geben wollte.« 2 2
Publizistische Aufarbeitung
des
Prozesses
Nach Beginn des Eichmann-Prozesses am 11. April 1961 forcierte die SED-Führung die gegen die Bonner Regierung gerichtete politische Kampagne. In diesem Sinne erklärte Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann bereits einen Tag später auf der 17. Tagung des DDR-Parlaments: »Der Prozeß gegen Eichmann ist mehr als nur ein Gericht über die hitlerfaschistische Vergangenheit. Er ist zugleich eine Anklage gegen das auf westdeutschem Boden fortbestehende militaristische System. [...] M ö g e der Prozeß gegen Eichmann die Welt erkennen lassen, daß in Westdeutschland das Hitlersystem immer noch nicht überwunden ist!« 2 3 Die DDR-Presse berichtete in den Folgemonaten umfassend über den Prozeß in Jerusalem und versäumte es nicht,
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immer wieder auf die »Eichmänner« in Bonn zu verweisen, die noch zur Verantwortung zu ziehen seien. Die vielgelesene Zeitschrift »Wochenpost« veröffentlichte eine zwölfteilige Artikelserie zum Fall Eichmann. 2 4 Insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 kam der SEDFührung die Tatsache gelegen, daß in der Bundesrepublik die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nur zögerlich und inkonsequent erfolgt war. Der DDR-Bevölkerung wurde ein tiefbraunes Bild des westdeutschen Staates gezeichnet, um daraus die Notwendigkeit abzuleiten, sich stärker von der »neonazistischen Bundesrepublik« abzugrenzen und einen »antifaschistischen Schutzwall« zu errichten. Sowohl die Tagespresse als auch Wochen- und Monatszeitschriften nahmen die Ergreifung Eichmanns und das nachfolgende Gerichtsverfahren in Jerusalem zum Anlaß, sich ausführlich immer wieder mit beiden Argumentationspolen zu befassen. Die Kommissionen für gesamtdeutsche Arbeit und für Agitation beim SED-Politbüro sowie eine am 13. April 1961 speziell zum Eichmann-Prozeß gebildete Arbeitsgruppe beim Nationalrat der Nationalen Front erhielten den Auftrag, Materialien für Presse, Rundfunk und Fernsehen zusammenzustellen. In einem Argumentationspapier der Arbeitsgruppe wurden die Akzente folgendermaßen gesetzt: »Unsere Zeitungen dürfen die Aufgabe nicht aus den Augen verlieren, den Eichmann-Prozeß systematisch zu nutzen, um größere Klarheit über den verbrecherischen Charakter des deutschen Imperialismus und Militarismus, über die aggressive Politik des Bonner Staates, über den Neonazismus in Westdeutschland zu schaffen. Es gilt, auf lange Sicht eine prinzipielle, breite Kampagne über die >unbewältigte Vergangenheit< zu führen, darüber, wie und warum in Westdeutschland die militaristische und nazistische Vergangenheit wieder zur gefährlichen Gegenwart geworden ist, und wie und warum demgegenüber in der D D R die Vergangenheit zum Nutzen für ganz Deutschland und den Frieden bewältigt, der Faschismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurde.« 2 5 Die politischen Intentionen, die letztlich kaum noch Bezüge zum Geschehen in Jerusalem hatten, mögen vordergründig gewesen sein. Es wäre dennoch oberflächlich und einseitig, alle im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß in der D D R publizierten Artikel auf utilaristische politische Beweggründe oder Anweisungen der Parteiführung zu reduzieren. Meinungsäußerungen von Auschwitz-Überlebenden, wie Peter Edel, und vielen anderen überzeugten Antifaschisten widerspiegelten ernste Besorgnis, verständliche Unruhe und historisches Rechtsbewußtsein. 2 6 Ihre Forderung, Globke als Kommentator der Nürnberger Gesetze zur Verantwortung zu ziehen, resultierte nicht selten aus subjektiver bitterer Erfahrung und war ehrlicher Empörung geschuldet. Vielen jüdischen wie nichtjüdischen DDR-Bürgern schien die Bundesrepublik keine Alternative zum ostdeutschen Staat - nicht zuletzt wegen
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eines Hans Globke. Sie folgten nicht dem zeitweilig expandierenden Exodus gen Westen. Die antisemitische Aufwallung der Jahre 1952/53 in Osteuropa wurde von ihnen verdrängt bzw. erschien nach dem Tod Stalins und dem selbstkritischen XX. Parteitag der KPdSU überwunden. Es ist somit nicht verwunderlich, daß der Korrespondent der israelischen Tageszeitung ha-Arez, Schimon Samet, im August 1962 bei Gesprächen mit Juden in der D D R immer wieder hörte: »Antisemiten gibt es, aber keinen Antisemitismus.« 2 7 Die umfangreiche Berichterstattung über den Eichmannprozeß in den ostdeutschen Medien sowie Meldungen über Begegnungen von Vertretern der D D R und Israels führten bei manchem DDR-Bürger für kurze Zeit sogar zu der Annahme, es sei eine gewisse Entkrampfung des Verhältnisses zwischen beiden Staaten eingetreten oder zu erwarten. Zu den Kontaktnahmen des Jahres 1960 gehört ob seiner Sensibilität der Brief einer Sächsischen Oberschule, gerichtet an den Bürgermeister von Beerscheva. Lehrer und Schüler einer 6. Klasse schrieben, sie schämten sich der Unmenschen, die sich Deutsche genannt und vor wenigen Jahren schreckliche Verbrechen am jüdischen Volk begangen hätten. Niemals wieder dürfe in Deutschland so etwas geschehen. Als Zeichen guten Willens übersandten sie dem Bürgermeister Ansichtskarten von Leipzig, »der Stadt, die nicht zuletzt durch die rege Handelstätigkeit und Aktivität ihrer jüdischen Bürger zu einer weltbekannten Handels- und Messestadt geworden ist«. 2 8 Es ist wohl auch kein Zufall, daß ausgerechnet in dieser Phase - im Herbst 1961 - der israelische Botschafter in Prag seinen Vorgesetzten in Jerusalem vorschlug, »ein Manöver in Form eines »Flirts« mit Ostdeutschland durch[zu]führen«. 2 9 Parallele Überlegungen wurden in der israelischen Vertretung in Warschau angestellt, die in der Zentrale anfragte, ob es - »trotz verschiedener Vorbehalte gegen die Herstellung irgendwelcher Kontakte zur Regierung von Pankow« nicht an der Zeit sei, »eine freundschaftliche Geste gegenüber Ostdeutschland« zu wagen. 3 0 Im Jerusalemer Außenministerium stießen diese Vorschläge angesichts der unnachgiebigen Haltung der D D R in der Wiedergutmachungsfrage und wohl auch der eindeutigen Positionierung Israels im internationalen Kräftespiel auf Ablehnung.
Eine
Meinungsumfrage
von
infratest
Die ideellen Auswirkungen der in Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß geführten Medienkampagne auf die DDR-Bevölkerung sind in vierzigjähriger Rückschau nur schwer erfaßbar und nachzuvollziehen. Einen mittelbaren Zugang bietet die Befragung von Personen, die im Frühjahr 1961 die D D R verlassen hatten. Im Auftrage des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen suchte das Münche-
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ner Meinungsforschungsinstitut infratest zu ergründen, welchen Platz der EichmannProzeß im Meinungsbild dieser ehemaligen DDR-Bürger einnahm. Befragt wurden 389 Personen im Zeitraum vom 18. bis 28. April 1961." Da es sich um Personen handelte, die illegal ausgereist waren und die der offiziellen Politik in der D D R in der Regel kritisch gegenüberstanden, kann die Befragung nicht als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung des ostdeutschen Staates gewertet werden. Dennoch erbrachte sie Aussagen, die Rückschlüsse auf politische Stimmungen und in gewissem Maße einen Vergleich zur Bundesrepublik ermöglichen. 72 Prozent der befragten ehemaligen DDR-Bürger hatten Kenntnis vom Eichmann-Prozeß; 63 Prozent fühlten sich gut informiert. Als wichtigste Informationsquelle wurden die DDR-Medien angegeben. 81 Prozent der sich informiert fühlenden Gewährspersonen standen auf dem Standpunkt, es sei richtig, Eichmann den Prozeß zu machen; lediglich ein knappes Fünftel zog die Anklage und den Prozeß in Zweifel. Die Frage, ob es gerechtfertigt sei, Eichmann in Israel vor Gericht zu stellen, wurde von 46 Prozent der Personen bejaht; 41 Prozent hielten dagegen ein internationales, neutrales oder deutsches Gericht für zuständig. Etwa die Hälfte aller Befragten folgte der DDR-These von einem »Refaschisierungsprozeß« in der Bundesrepublik, nur ein Drittel wies sie kategorisch zurück. Nach Personen befragt, bei denen die seitens der D D R erhobenen Anschuldigen zu Recht bestünden, wurden an erster Stelle Globke und Oberländer genannt. Besonders aufschlußreich sind die Aussagen zum deutsch-jüdischen Verhältnis. 62 Prozent der 389 befragten DDR-Bürger waren davon überzeugt, daß der Antisemitismus in der D D R seit 1945 abgenommen habe; zwei Prozent glaubten, es gäbe keinen Antisemitismus mehr; 21 Prozent äußerten sich nicht zu dieser Frage. Für eine gerichtliche Verfolgung antisemitischer Äußerungen und Handlungen sprachen sich 43 Prozent aus, 27 Prozent lehnten sie ab, während 30 Prozent unentschieden waren. Antisemitische Vorbehalte und Vorurteile unterschiedlichen Ausmaßes wurden bei einem Fünftel der Testpersonen festgestellt. Die Meinungsforscher gingen davon aus, daß dieses Fünftel weitgehend identisch war mit jener gleich großen Gruppe, die dem Nationalsozialismus distanzlos gegenüberstand. Die Lösung der »deutsch-jüdischen Frage« sahen ein Zehntel der Befragten in der Auswanderung und ein Fünftel in der Assimilation der jüdischen Minderheit; zwei Drittel hielten dagegen ein Neben- und Miteinanderleben durchaus für möglich. Die Untersuchung läßt trotz ihres für die DDR-Bevölkerung eingeschränkten Aussagewertes einige Schlußfolgerungen bezüglich der Situation im ostdeutschen Staat Anfang der sechziger Jahre zu. Zunächst wird sichtbar, daß der Antisemitismus in der D D R nicht »mit Stumpf und Stiel ausgerottet« war, wie in offizieller Lesart behauptet wurde. Offen antijüdische Vorbehalte zeigten sich zwar nur bei einem
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geringen Teil der Befragten; da sie in abgeschwächter Form aber immerhin bei knapp 20 Prozent der Testpersonen nachgewiesen werden konnten, läßt sich das Weiterwirken nationalsozialistischer Propaganda oder länger wirkender antisemitischer Komplexe - trotz strikter Verbote im Osten Deutschlands - nicht leugnen. Auch die Tatsache, daß etwa 30 Prozent der befragten ehemaligen DDR-Bürger eine Auswanderung oder die Assimilation der Juden für erstrebenswert hielten, spricht gegen eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Die konkrete Situation der Befragten als deutsch-deutsche Migranten läßt Äußerungen, wie »die bauschen alles auf«, »der Osten übertreibt immer«, »die nützen ja jede Gelegenheit nur gegen die Bundesrepublik«, verständlich erscheinen; auch für größere Kreise der DDR-Bevölkerung handelte es sich um nicht untypische Stimmungen im Vorfeld des Mauerbaus. Die Befragungen lassen zugleich die Deutung zu, daß die mit Beginn des Eichmann-Prozesses forcierte Propagandakampagne der S E D gegen die Bundesregierung in erster Linie wegen ihrer politischen Vordergründigkeit und weniger, weil man sie für unberechtigt hielt, abgelehnt wurde. Um einen Vergleich mit der westdeutschen Bevölkerung zu ermöglichen, zog infratest eine Untersuchung von Zuschauerreaktionen auf Sonderberichte über den Eichmann-Prozeß, die im April 1961 im Ersten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden waren, heran. Das Fazit: Ein Drittel der einbezogenen Bundesbürger war nicht über den Prozeß informiert - ein höherer Prozentsatz als in der D D R Etwa ein Fünftel lehnte den Prozeß ab; diese Aussage entsprach weitgehend den auf die D D R bezogenen Ergebnissen. Anderen 1961 in der Bundesrepublik vorgenommenen breiter angelegten Tests zufolge mußten zu diesem Zeitpunkt 47 Prozent der befragten Bundesbürger als antisemitisch eingestuft werden, wobei die zugrunde gelegten Wertungskriterien diskutabel waren. 3 2 Zwei Jahre später - 1963 - sprachen sich 54 Prozent der befragten Westdeutschen dafür aus, einen Schlußstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit zu ziehen. 3 3
Nationalsozialistischer Antisemitismus
als
öffentliches
Thema
Der Eichmann-Prozeß in Jerusalem wurde für Ost- wie Westdeutsche zum Impuls, sich erneut und eindeutiger als zuvor der jüngsten deutschen Geschichte und insbesondere der deutschen Verantwortung für den Holocaust zu stellen. Die Führung im ostdeutschen Staat nahm diese Herausforderung an, da sie die politisch-propagandistische Chance bot, die unterschiedliche Intensität der »Bewältigung« nationalsozialistischer Vergangenheit in beiden deutschen Staaten sichtbar zu machen und daraus ein - für die D D R günstiges - erkennbares Ergebnisgefälle abzuleiten. Sie bezog die
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Judenverfolgungen stärker als bisher in Darstellungen über die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft ein bzw. initiierte eine Reihe von Veröffentlichungen mit aktuellem politischen Bezug. Publikationen über das Dritte Reich, die in der D D R während der ersten Dekade nach der Staatsgründung erschienen waren, hatten dem Holocaust nur begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt; gesonderte Monographien zu diesem Thema fehlten völlig. Erst Ende der 50er Jahre, als sich das politische Interesse verstärkt dem Zweiten Weltkrieg zuwandte und themenrelevante Publikationen erschienen, deuteten sich Veränderungen an. Als sich der Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, beispielsweise am 17. Februar 1960 ein Verzeichnis der in der D D R edierten neueren Publikationen über Antisemitismus und nationalsozialistische Judenverfolgung zusammenstellen ließ, konnte ihm eine Liste mit lediglich acht Titeln vorgelegt werden. 3 4 Fünf der Publikationen stammten aus den Jahren 1958 und 1959, darunter die Monographie des Direktors des Jüdischen Historischen Instituts Wärschau, Bernard Mark, über den Aufstand im Warschauer Ghetto 3 5 und die Memoiren der Malerin Lea Grundig 3 6 . Der in der D D R lebende ehemalige Palästina-Emigrant Arnold Zweig verwies in seinem Vorwort für das 1958 im Verlag Rütten und Loening erschienene Buch »Im Feuer vergangen« darauf, daß in Buchenwald, der größten auf dem Territorium der D D R befindlichen Gedenkstätte, die Tragödie des jüdischen Volkes kaum Erwähnung fand. An den Schluß seines markanten Vorworts rückte Zweig ein Bekenntnis: »Unter den 21 Völkern, welche sich auf dem Ettersberg zusammenfanden, um das unauslöschliche Gedenken der Helden und Märtyrer mit dem Kamphuf gegen die Wiederkehr der Barbarei zu verbinden, fehlte die Fahne mit dem uralten Emblem des Davidsterns, welche die jüdischen Opfer des faschistischen Terrors vertreten hätte. Hier, in diesem Buche ist sie neben der roten gehißt.« 3 7 Kritische Worte wie diese verwiesen auf ein gesellschaftliches Symptom bzw. auf eine politisch gewollte Negation; sie bildeten jedoch eine Ausnahme. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung des Eichmannprozesses in Jerusalem bzw. seinen Nachwirkungen erschienen in der D D R mehrere Publikationen, die sich mit dem faschistischen Judenmord befaßten. Ihr Hauptanliegen war es, das Wesen und die Brutalität des Faschismus aufzuzeigen und die D D R als einen Staat zu präsentieren, der - im Unterschied zur Bundesrepublik unwiderruflich und konsequent mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gebrochen habe. Insbesondere der Ausschuß für Deutsche Einheit widmete dieser Frage große Aufmerksamkeit und veröffentlichte eine Reihe von Broschüren über die Globke-Eichmann-Connection, z.B. »Neue Beweise für Globkes Verbrechen gegen die Juden« (1960); »Globke und die Ausrottung der Juden« (1960); »Eichmann. Henker. Handlanger. Hintermänner. Eine Dokumentation« (1961); »Globke, der
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Bürokrat des Todes. Eine Dokumentation über die Blutschuld des höchsten Bonner Staatsbeamten bei der Ausrottung der Juden. Neue Dokumente« (1963). Haupttenor war der Nachweis, daß eine erkennbare »Blutspur« von Hitler zu Adenauer existiere: »Wo Hitlers Generale, Hitlers Blutrichter, Hitlers Diplomaten und Hitlers Ideologen das Zepter führen, da wird wieder Hitlers Politik gemacht.« 3 8 »Bonner Staat - Staat der SS« betitelte Heinz Kühnrich ein Kapitel in seinem 1961 im Dietz-Verlag veröffentlichten Band »Judenmörder Eichmann - Kein Fall der Vergangenheit«. 3 9 Die Studie enthielt zahlreiche Dokumente und Zeitzeugnisse, u.a. den erschütternden Bericht eines Uberlebenden aus dem Ghetto Theresienstadt. Die Hintergründe der publizistischen Welle waren zunächst und vor allem deutschlandpolitischer Natur; sie zeitigten jedoch gesellschaftliche Wirkung und waren mit innenpolitischen Modifizierungen verbunden. Die SED-Führung maß beispielsweise den jüdischen Gemeinden der D D R , die in den fünfziger Jahren öffentlich wenig in Erscheinung getreten waren und bis dahin nur als Segment der Religionspolitik galten, seit Anfang der sechziger Jahre größere innen- wie außenpolitische Bedeutung bei. Eindeutiger als zuvor wurde das jüdische Thema in den Dienst der deutschdeutschen Auseinandersetzung gestellt. Die jährlichen Gedenkfeiern zur Erinnerung an die »Reichskristallnacht« von 1938, die während des vergangenen Jahrzehnts fast ausschließlich Angelegenheit der Gemeinden geblieben waren 4 0 , erlangten größere öffentliche Resonanz. Im November 1960 verabschiedete das Präsidium des Nationalrates der Nationalen Front erstmals eine Erklärung zum Gedenken an die Opfer der »Kristallnacht«. Sie enthielt die zentrale Forderung, Hans Globke, den Staatssekretär von Bundeskanzler Konrad Adenauer, sofort abzulösen: »An diesem Jahrestag der Kristallnacht fordern wir im Namen der Sauberkeit des politischen Lebens unserer Nation, im Namen aller Deutschen in der D D R des deutschen Staates, der ein für allemal Schluß gemacht hat mit dem deutschen Militarismus und Faschismus, im Namen aller anständigen Deutschen: Globke muß gehen! Und gehen müssen mit ihm alle Kriegsverbrecher, Hitler-Generale, Blutrichter und Polizeischergen, die unser Vaterland in das Unglück eines neuen Krieges stürzen wollen.« 4 1 Drei Jahre später veröffentlichte der Verband der Jüdischen Gemeinden in der D D R einen »Aufruf an die Juden in der Welt und alle Menschen guten Willens«, in dem der Gegensatz zwischen der D D R - »der neuen Gesellschaftsordnung des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der Humanität« - und der Bundesrepublik, wo »die Mörder von sechs Millionen Juden [...] wieder in einflußreichen, ja entscheidenden Positionen des Staates und der Wirtschaft sitzen«, betont wurde. 4 2 Als im April 1961 die Gedenkstätte Sachsenhausen bei Oranienburg eingeweiht wurde, fehlte in der Eröffnungsrede Walter Ulbrichts eine ausdrückliche Würdigung der jüdischen Häftlinge des Konzentrationslagers. Statt dessen nutzte Ulbricht auch
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diese Gelegenheit, um die Bonner Regierung anzugreifen. Er zitierte bemerkenswerterweise den israelischen Generalstaatsanwalt Hausner, der Recht habe, »wenn er in Zurückweisung gewisser Erklärungen der Bonner Regierung feststellte, durch das Reparationsabkommen Bonns mit Israel seien die Verbrechen des deutschen Faschismus gegen das jüdische Volk weder ausgelöscht noch auszulöschen«. Zum Thema der moralischen wie materiellen Wiedergutmachungsverpflichtungen des ostdeutschen Staates enthielt die Rede die übliche Wendung, daß Nazismus und Militarismus in der D D R mit der Wurzel ausgerottet seien; daher habe die D D R »Wiedergutmachung geleistet, soweit das überhaupt möglich war«. 4 3
Wissenschaftliche
Beschäftigung
mit
der
Schoah
Das im Umfeld des Eichmannprozesses stärker akzentuierte politische Interesse an der nationalsozialistischen Judenverfolgung fand eine Entsprechung in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema. 4 4 1960 erschien in deutscher Übersetzung »Faschismus - Getto - Massenmord«, eine Dokumentation des Jüdischen Historischen Instituts Warschau über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des Zweiten Weltkrieges. 4 5 Die Zeitschrift »Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung« (BzG) publizierte im selben Jahr unter dem Titel »Dokumente des Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung gegen Antisemitismus und Judenverfolgung« eine erste Quellensammlung, zusammengestellt durch Siegbert Kahn, den Autor der 1948 publizierten Monographie »Antisemitismus und Rassenhetze«. 4 6 Eine internationale Historikerkonferenz, 1961 nach Berlin einberufen, stellte sich das Ziel, den Eichmann-Prozeß als »Ausgangspunkt« für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Imperialismus zu nutzen. 4 7 1963 veröffentlichte die »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« (ZfG) mehrere Dokumente über die Verfolgung der Juden in Leipzig. Auch in Fachzeitschriften, wie »Der Bibliothekar« und »Das Hochschulwesen«, erschienen 1960 Artikel zur Thematik Antisemitismus und Imperialismus. Die Beschäftigung mit der Schoah implizierte nicht automatisch Publikationsmöglichkeiten. So hatte der Dresdner Historiker Helmut Eschwege - unabhängig von aktuellen politischen Nützlichkeitserwägungen - seit 1958 versucht, Bilder, Dokumente und Berichte zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu veröffentlichen. Erst 1966 gelangte sein gemeinsam mit Mitarbeitern des Instituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften herausgegebener Band »Kennzeichen J« zum Druck und in die Buchläden der D D R 4 8 Für die in den siebziger Jahren einsetzende umfangreichere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem
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Holocaust stehen mehrere im Verlag der Wissenschaften erschienene Editionen. Neben dem von einem Autorenkollektiv verfaßten Werk »Juden unterm Hakenkreuz« 4 9 gebührt der Habilitationsschrift Kurt Pätzolds »Faschismus - Rassenwahn - Judenverfolgung« besondere Aufmerksamkeit. 5 0 Es gehört zu den Verdiensten Pätzolds, daß er nicht nur die verbrecherische Politik der nationalsozialistischen Eliten untersuchte, sondern die schrittweise juristische Entrechtung der Juden dokumentierte, die bereits in den ersten zwei Jahren nach der Machtergreifung Hitlers stattgefunden hatte und den Weg zum Holocaust ebnete. Insbesondere ob ihrer gründlichen Auswertung von bisher unveröffentlichten Archivmaterialien wurde die Arbeit von international renommierten Historikern als »eine wichtige Studie« gewürdigt, die eine weitere Lücke in der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung schließe. 51 Grundtenor der meisten DDR-Veröffentlichungen in den sechziger und siebziger Jahren war die Wertung des Mordes an sechs Millionen europäischer Juden als Ausdruck und Ergebnis der »offene[n] terroristische[n] Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« 5 2 . Die Schoah wurde zwar thematisiert, ihre Singularität, ihr Ausmaß und ihre Bedeutung sowohl für jüdische als auch deutsche Geschichte blieben jedoch weitgehend unerkannt bzw. unerwähnt. Die Schuld bzw. die Mitverantwortung für den Holocaust wurden vom Individuum auf den Staat und dessen führende Repräsentanten übertragen bzw. auf das Gesellschaftssystem schlechthin projiziert; die Impulse aus erkannter Geschichte für die Aufarbeitung individueller Verantwortung ostdeutscher Menschen blieben weitgehend außerhalb der Darstellungen. In der offiziellen Sicht der DDR-Eliten auf Faschismus und Antisemitismus wurde der Kampf der Kommunisten und der mit ihnen verbundenen Antifaschisten verabsolutiert. Für andere Facetten der Verfolgung und des Widerstands blieb wenig Raum. Bewußt wurde eine wertende Differenz zwischen aktiven »antifaschistischen Widerstandskämpfern« und passiven »Opfern des Faschismus« betont, wobei sich die politischen Traditionslinien der D D R eindeutig an ersterer orientierten. Auf diese Weise suchte sich die Führung des ostdeutschen Staates, deren wichtigste Repräsentanten den Nationalsozialismus in Konzentrationslagern bzw. im Exil überlebt hatten, historisch zu legitimieren; die D D R wurde als »Staat der Antifaschisten« bzw. bedingt auch als »Staat der Opfer« - im Gegensatz zur Bundesrepublik als »Staat der Täter« - dargestellt. Auschwitz galt weniger als Synonym für konkreten Judenmord denn überhöht als Ausdruck faschistischen Völkermords schlechthin. Gleichberechtigte Schuld und Verantwortung des gesamten deutschen Volkes, gleich in welchem Nachfolgestaat lebend, für den Holocaust wurden letztlich negiert; eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum der verordnete Antisemitismus des Dritten Reiches in der deutschen Bevölkerung eine außerordentlich große Breitenwirkung und Verin-
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nerlichung erfuhr, erfolgte kaum - konform übrigens in beiden deutschen Staaten. Die Kenntnis westdeutscher Veröffentlichungen über Antisemitismus und nationalsozialistische Judenverfolgung blieb in der D D R auf enge wissenschaftliche Kreise beschränkt. Gleiches betraf auch die 1968 in der Bundesrepublik einsetzende intensivere Befragung und Neubewertung deutscher Geschichte bzw. das Bekenntnis der »68er« zu deutscher Schuld und Verantwortung für den Holocaust. Da die SED-Führung den Antisemitismus somit vor allem auf systemgeprägte, sozialökonomisch determinierte Ursachen zurückführte, konnte sie in öffentlichen Verlautbarungen kundtun, daß im ostdeutschen Staat mit der Beseitigung der kapitalistischen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich auch die gesellschaftlichen Wurzeln für Antisemitismus und Rassismus »ein für allemal« ausgerottet worden seien. Dem entsprach, daß in der D D R Antisemitismus und Rassenhetze streng unter Strafe gestellt und juristisch verfolgt wurden. Gleichzeitig implizierte diese Sicht eine weitgehende Unterschätzung des nachwirkenden alten Antisemitismus und neuer antisemitischer bzw. fremdenfeindlicher Tendenzen. Die kritisch-öffentliche Auseinandersetzung mit Negativ-Erfahrungen aus deutscher Geschichte wurde minimiert bzw. zunehmend in die Form historischer Gedenkkampagnen gepreßt, in denen Erinnerung häufig der politischen Selbstdarstellung bzw. aktuellen Politikbezügen untergeordnet wurde. Trotz eingeengter historischer Sicht der ostdeutschen Führung auf den Holocaust, systemverpflichteter Verbundenheit ihrer Innen- und Außenpolitik und Dominanz der Abgrenzung vom westdeutschen Staat bildete der Eichmann-Prozeß eine Zäsur für den politischen Umgang bzw. für die wissenschaftliche und publizistische Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung in der D D R . Diese Wertung wird auch dadurch nicht in Frage gestellt, daß die Auseinandersetzung mit der belasteten Vergangenheit einseitig blieb, viel stärker die Eichmann-Globke-Connection denn die gemeinsame Verantwortung beider deutscher Staaten für die Aufarbeitung der antisemitischen Exzesse beschworen wurde und letztlich keine gültigen, die Vergangenheit wertenden und gleichzeitig in die Zukunft weisenden gesellschaftlichen Schlußfolgerungen aus dem Schicksal der europäischen Judenheit gezogen wurden. Eine Chance für die tiefgreifende und umfassende Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Judenmord wurde letztlich vertan. Zugleich jedoch öffnete sich ein Fenster, das einen genaueren Blick auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zuließ. Nicht zuletzt wurde ein Impuls gegeben, um eines der dunkelsten Kapitel jüngster deutscher Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten und den vielfältigen Verdrängungskomplexen zu begegnen. Die vier Jahrzehnte nach dem Eichmannprozeß bezeugen, daß dieser durchaus einen Stellenwert im deutschen Selbstfindungsprozeß erlangte; sie belegen jedoch auch, daß eine breit akzeptierte
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Benennung historischer Schuld und fortwährender Verantwortung als Schlußfolgerung aus dem Holocaust eine permanente Herausforderung bleiben wird.
A nmerkungen 1 Der Artikel basiert auf Recherchen der Vf. für die Monographie: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der D D R zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997. 2 Zum Umgang mit der Schoah in der Historiographie der D D R vgl. u.a. Jürgen Danyel (Hrsg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995; Olaf Groehler: Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der D D R In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost, Frankfurt a.M. 1993, S. 47 - 65; Ulrich Herbert/Olaf Groehler: Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992; Konrat Kwiet: Historians of the G D R on Antisemitism. In: Yearbook of the Leo-Baeck-Institute (XXI), London 1976, pp. 173-198; Kurt Pätzold: Persecution and the Holocaust. A Provisional Review of G D R Historiography. In: Yearbook of the Leo-Baeck-Institute (XXXIX), London 1995, pp. 291-312. 3 Stefan Heymann: Marxismus und Rassenfrage, Berlin 1948. 4 Siegbert Kahn: Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland, Berlin 1948. 5 Olaf Groehler: Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der D D R In: Ulrich Herbert/ Olaf Groehler, Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992, S. 42. 6
Internen Angaben zufolge betrug allein im Jahre 1960 die Zahl der DDR-Bürger, die ihr Land verließen und in die Bundesrepublik gingen, 202.734. Vgl. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R im Bundesarchiv, Berlin, (künftig: SAPMO-BArch), DY 30/J IV 2 / 2 / 7 7 5 .
7 Vgl. Neues Deutschland, 29.12.1956 und 12.4.1958; Dokumentation der Zeit, 167/1958; Note des DDR-Außenministeriums an die Bandung-Staaten, Januar 1960, MfAA, A 12608. 8 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2 / 2 / 2 . 0 2 8 / 2 . 9 SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2 / 2 A/767 und DY 30/IV 2/2/716. 10 SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/716. 11 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/21. 12 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/2. Hervorhebungen im Original. 13 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/21. 14 Kaul gibt mehrfach, u.a. in seinem 1963 veröffentlichten Buch »Der Fall Eichmann«, an, daß die Begegnung mit dem israelischen Justizminister am 21.2.1961 in Jerusalem stattgefunden habe. Wahrscheinlicher ist jedoch das im Reisebericht und im hebräischen Durchschlag seines Briefes an Rosen vom 22.2.1961 angegebene Datum 20.2.1961. Der Reisebericht ist archiviert unter SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/57. 15 Der Briefwechsel zwischen Friedrich Karl Kaul und dem israelischen Justizminister Pinchas Rosen ist vollständig abgedruckt in: Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern, S. 500-504. Die Dokumente sind archiviert in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/57. 16 Davar schrieb: »Sein N a m e geht ihm voraus. Er ist der Star-Anwalt Ostdeutschlands, und
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in jedem wichtigen Prozeß mit politischem Einschlag, und selbst in Prozessen, denen mit einiger Anstrengung politischer Charakter verliehen werden kann, tritt er, der J u d e Dr. Friedrich Karl Kaul, als Delegierter und Bevollmächtigter der kommunistischen Macht Pankows auf.« Die Übersetzung des Artikels aus Davar (ohne Datumsangabe) befindet sich in SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/57. 17 Vgl. Kauls Reisebericht in SAPMO-BArch, DY 30/FV 2/2.028/57. 18 Vgl. Vogel: Der deutsch-israelische Dialog, Teil I, Bd. 1, S. 187ff; Karl Friedrich Kaul: Der Fall Eichmann, Berlin 1963, S. 214-221. 19 Neues Deutschland, 5.5.1961; Vgl. Kaul, Eichmann, S. 216. 20 Grüber war von 1949 bis 1958 Bevollmächtigter der E K D bei der Regierung der D D R in Westberlin lebend, wurde ihm 1958 untersagt, in die D D R einzureisen. 21 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/57 und I.S.A./F.M., 3352/6. 22 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/3. 23 Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik. 3. Wahlperiode. 17. Sitzung, 12.4.1961. Stenografische Niederschrift, S. 585. 24 Klaus Polkehn: Der Hauptbuchhalter des Todes. Der Fall Eichmann. Nach authentischen Unterlagen geschildert, T. 1-12. In: Wochenpost, Nr. 32-43/1960. 25 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.028/21. 26 Vgl. die Artikel von Peter Edel in »Die Weltbühne«, 15(1960)35, 15(1960)45, 16(1961)19 u. 16(1961)28. 27 Ha-Arez, 13.8.1962. 28 Israel State Archives/ Foreign Ministry (I.S.A./F.M.), 3309/4. 29 Botschafter Eliaju Livneh an den Direktor des Osteuropa-Abteilung im israelischen Außenministerium, 31.10.1961, I.S.A./F.M., 3309/3. 30 S. Lavav an die Osteuropa-Abteilung des israelischen Außenministeriums, 8.1.1961, I.S.A./ E M . , 3309/3. 31 Die Untersuchung liegt in Form eines unveröffentlichten 249 Seiten umfassenden Maschinenmanuskripts vor. Siehe Ludwig Auerbach: Der Eichmann-Prozeß im Meinungsbild von SBZ-Flüchtlingen, München 1961. 32 Vgl. Werner Bergmann/Rainer Erb: Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946-1989, Opladen 1991, S. 59. Die Autoren zitieren eine 1962 angefertigte Studie von Melvin Tumin, wonach 4 7 % der Deutschen und 4 6 % der Engländer und Franzosen als antisemitisch eingestuft wurden. 33 Ebenda, S. 236. 34 Vgl. Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (BArchP), DO 4, 280. 35 Bernard Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, Berlin 1959. 36 Lea Grundig: Gesichte und Geschichte, Berlin 1958. 37 Im Feuer vergangen, Berlin 1960, S. 9; vgl. A d K AZA 2368. 38 Ausschuß für Deutsche Einheit: Neue Beweise für Globkes Verbrechen gegen die Juden, Berlin 1960, S. 4. 39 Heinz Kühnrich: Judenmörder Eichmann. Kein Fall der Vergangenheit. Berlin 1961, S. 107. 40
1958 standen im Mittelpunkt des Gedenkens an den 9. November nicht die 20 Jahre zuvor begangenen Judenpogrome, sondern es wurde fast ausschließlich des 40. Jahrestages der Novemberrevolution gedacht. Bei den Gedenkveranstaltungen des Verbandes der Jüdischen Gemeinden waren weder Vertreter des Staatsapparates noch der Öffentlichkeit zugegen.
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Globke m u ß gehen! Erklärung des Präsidiums des Nationalrats, in: Neues Deutschland, 9.11.1960.
42 BArchP, DO 4, 1333. 43 SAPMO-BArch, DY 3 0 / J IV 2 / 2 / 7 5 9 . 44 Vgl. dazu Olaf Groehler: Der Umgang mit dem Holocaust in der D D R . In: Rolf Steininger (Hrsg.): Der Umgang mit dem Holocaust, Europa - USA - Israel (Schriften des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des Jüdischen Museums Hohenems, Bd. 1), Wien/Köln/Weimar 1994, S. 233-245. 45 Faschismus, Ghetto, Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des zweiten Weltkrieges, Berlin 1960. 46 Siegbert Kahn: Dokumente des Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung gegen Antisemitismus und Judenverfolgung, in: BzG, 2(1960)3, S. 552-564. Heinz Heitzer: Die Barbarei - extremster Ausdruck der Monopolherrschaft in Deutschland. In: ZfG, IX( 1961)7, S. 1632. 48
Helmut Eschwege: Kennzeichen J - Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden, Berlin 1966; zur Entstehungsgeschichte und den staatlicherseits bereiteten Hindernissen siehe Helmut Eschwege: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991.
49 Klaus Drobisch/Rudi Goguel/Werner Müller unter Mitwirkung von Horst Dohle: J u d e n unterm Hakenkreuz, Berlin 1973. 50
Kurt Pätzold: Faschismus - Rassenwahn - Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933 - 1935). Berlin 1975.
51 Konrad Kwiet: Historians of the German Democratic Republic on Antisemitism and Persecution. In: Leo Baeck Year Book, London 1976, S. 196. 52 Faschismus-Definition von Georgi Dimitroff, zit. nach: Wörterbuch der Geschichte, Berlin 1984, S. 290.
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Sind Einsichten Ansichtssache? Oder: Das Verkennen der jüdischen Frage
Die historische Zunft, ihr Arbeitsethos und Forschungsstrategien, der akademische und weitere Umgang mit dem, was für mich zeitlebens deutscher Faschismus hieß, hat in den Jahren der D D R Einsichten geschaffen und verhindert. Warum kam die Alltäglichkeit jener Vergangenheit, als diese fast noch Gegenwart war, in den Lehren nicht vor? Bis heute habe ich dazu nur halbherzige Ausflüchte gehört, aber auch diese Frage ist ein Schlüssel zum Verstehen des Nichtverstehens der vorgelagerten Geschichte. Jede Vergangenheit ist ausdeutbar. Zu den Binsenweisheiten gehört, daß dokumentierte Hinterlassenschaft stets nur Teil des Gewesenen ist. Zu lange konnte sich in der D D R die Aversion der Zunft gegen Erfahrungswissen und die nicht selten unpassenden Erinnerungen an die ureigenste Vergangenheit behaupten. Energisch und unter dem Schutz einer Definitionsübermacht wurde über lange DDR-Jahre die vergangene Alltagswirklichkeit der kleinen Leute ins Private gedrängt, die öffentliche Debatte war um zahlreiche Details bereinigt, vom Katheder herab und zwischen Buchrücken gepreßt, gereicht dies der DDR-Historiographie nicht zur Ehre. Darüber täuschen auch international anerkannte Spitzenleistungen nicht hinweg. Schade, daß dieses Thema verschwiegen wurde. Die individuelle Bereitschaft zur Verdrängung ist dabei nicht weniger aufschlußreich als die logische Analyse des politischen Dogmas. Man nannte antifaschistisches Credo, was meine kindliche Weltsicht und Lebensweise gebildet hat. Die D D R war die einzig politische Wahrheit für unsereins, zumindest wurde sie uns Kindern als alternativlos vorgeführt. Emigrantenkinder wie ich, von historisch optimistisch gestimmten Eltern aus deren Exil in deren ehemalige Heimat gebracht, projizierten nach Schulbuch- und Erwachsenenlogik das faschistische Erbe nebst seiner Quellen auf ein anderes Deutschland. Dort tummelten sich ungeschoren jene, die die schwarzen Jahre der Verfolgung und Vertreibung auch meiner Familie hätten verantworten sollen. Die neudeutsche Welt war aus dieser Sicht anschaulich geteilt. Für uns blieb die Vergangenheit aktuell; am Eingang der neuen Zeit wachte der Generalissimus mit scharfsichtigen Augen. D o c h nichts wog mehr als die Heldentaten der Überlebenden faschistischer Internierungs- und Konzentrationslager, Kamp-
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fer in Zuchthäusern, Illegalität und Roter Armee. (Die Alliierten Streitkräfte verschwanden hinter dem Horizont.) Solche Männer und Frauen hatten das Recht ungerecht zu sein, beispielsweise, wenn Kinder wie ich ihre heftigen Debatten störten. Der Gegner hieß Faschist. Manche Leute wurden als Nazi bezeichnet. Dieser erweiterte sich im naiven Gebrauch durch mich und meinesgleichen zum erkennbar häßlichen Potentaten, auch aus der Nachbarschaft, zum Kolonialherren, der Kinder in Afrika verhungern ließ, zum bedrohlichen Monster einer kapitalen Weltverschwörung mit Zentrum Bonn. Wir waren unbedingt im Recht, wir waren Sieger der Geschichte, und der Sieg mußte vor alten und neuen Feinden geschützt werden.
Es hat lange gedauert, bevor ich verstand, daß wir keine Mehrheit der Bevölkerung, sondern deren Außenseiter, eine winzige Minderheit, die fremd geworden, genaugenommen Fremde geblieben waren. Rückblickend würde ich vermuten, man habe sich damals denen, die der Sog nicht gen Westen gezogen hat, nur bedingt verständlich machen können. Was hat die Generation der Überlebenden so wenige Jahre nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, deren Judenmord inzwischen auf Deutsch Shoah und zuvor Holocaust genannt worden ist, in ihren Landsleuten gesehen? Überzeugungstäter, Mitmacher, Mitläufer, Mitbürger? Verführte und aus Scham Verstummte? Die vom verhinderten Widerstand und aus dem inneren Exil? Die Lebenskünstler, denen es gelungen war, sich einzurichten und die neue Zeit mit neuem Elan anzunehmen? Haben sie deren Übergang zum Business-as-usual, den gewendeten Alltag mit verstecktem oder offenem Mißtrauen verfolgt, nahmen sie das Verschweigen und die gesammelte Unschuld der Nation zumindest irritiert auf? Machte sie die Selbstdisziplin hart oder waren sie gehärtet zurückgekehrt und aufgetaucht? Kurz vor und nach 1989 kam dieser Konflikt zur Sprache. Vorübergehend war es für die Nachfragen zu spät geworden. Die Geschichte wurde gerade ganz anders umgeschrieben. Die Verwandtschaft meiner Kinderfreunde, selbst der Lehrerstand plauderte damals, das war Anfang der 50er Jahre, dann und wann vom guten Früher und aus der Soldatenzeit. Meine Erwachsenen reagierten empfindlich, sie wurden auf dem Amtsweg vorstellig und entschieden: zu spielen ist mit unseresgleichen. Es schickte sich nicht, die Wohnungen der anderen aufzusuchen, wo Fotos von Männern in Uniform die Anrichten zierten. Jedes mich besuchende Kind wurde nach dem Woher des Vaters ausgefragt. Die meisten Kinder aber hatten zu jener Zeit keine Väter; sie waren gefallen, vermißt oder in Gefangenschaft. Diese Vergangenheit nahm meiner Gegenwart die Luft.
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Heute würde ich Kulturkonflikt sagen und ihn unter jenen historischen Konstellationen für unvermeidlich ansehen. Meine role models blieben Männer wie Frauen, die den Faschisten widerstanden, die verfolgt und inhaftiert, die im Exil von einem besseren Deutschland geträumt hatten. Auch das grenzte aus. Manche Erinnerungen wurden wieder und wieder und gern erzählt, über andere sprach man leise oder in Abwesenheit von Kindern. Wir lauschten, platt an den Boden gepreßt, und konnten nichts verstehen. Für mich gab es keinen Grund, den Helden der Kindheit zu mißtrauen. Sie erschienen in Filmen und Büchern, galten in Schulstunden als Zeit-
zeugen (das Wort kannten wir noch nicht). Wie im Holzschnitt erschienen solche Lebensgeschichten, das zarte Pastell und den kräftigen Strich entdeckte ich eher zufällig, beim Teetrinken oder beim Spazierengehen. Die Zeugen jener Zeit haben den Geschichtsschreibern offenbar nicht im Weg gestanden, als diese sich aufgefordert sahen, aus der Erfahrungsvielfalt die dogmatisierte Lesart für die Zeit des Faschismus zu entwerfen. Ihr sattes Schwarz-Weiß enthielt kaum alltägliche Dimension. Altmeister Jürgen Kuczynski fand eingangs wenig Freunde in der Zunft, als er der Geschichte der kleinen Leute, ihren alltäglichen Nebensächlichkeiten, den Fest- und Feierlichkeiten im privaten wie öffentlichen Bereich eine ganz eigene Größe und Vielfalt zuerkannte. Die vorherrschenden Lebensarten in jenen zwölf Nazi-Jahren blieben zu lange von Widerstand, Verrat und kommunistischer Parteidisziplin verdeckt. Das war zwar die Geschichte meiner Helden, doch nicht die Geschichte der Deutschen, die nunmehr die Menschenmehrheit der D D R bildeten. So war das antifaschistische Erbe zwar Staatseigentum und beliebig geworden, aber es verband nur jene, die aus dieser Geschichte ihre Zukunft ableiteten. Warum nur haben die legitimen Erben eine so reiche Hinterlassenschaft versteckt? War es ihre Unfähigkeit oder bewußter politischer Wille, interner Machtkampf, private Fehde? War es die Flucht vor dem Schmerz der Erinnerung oder der Stolz auf eigene Aktivität, warum wurde so wenig mitgeteilt, wo doch die Lehre das Lernen voraussetzte? Hier wäre noch immer anzusetzen, an der widersprüchlichen Rolle jener Persönlichkeiten, an die psychische und kulturelle Spezifika, an die soziale Funktion und den Faktor Zeit, der in der Rückschau die Legendenbildung durch Auslassen und Hinzufügen befördert.
Als sich die persönliche Erfahrung in die geordnete Nacherzählung der deutschen Geschichte schob, da ließen Konflikte nicht auf sich warten. Für mich war das Bombardement der schönen Stadt Dresden vor allem die Chance des Überlebens
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jener, deren Deportationsunterlagen in dieser Nacht verbrannt sind. Das entsprach nicht der kollektiven Erinnerung. Mich empörte ein Schild im Berliner Nikolaiviertel, das den anglo-amerikanischen Terrorangriff auf die Kirche verurteilt. Für andere war endlich die lang ersehnte Wahrheit öffentlich geworden. Ich hatte den Terror der Deutschen im Sinn. Meine Mitbürger sprachen hinter vorgehaltener Hand v o m Terror der Russen ... Bevor ich bemerkt hatte, daß in der Rückschau der D D R eigentlich keine Juden vorkamen, verging viel Zeit. Bei uns gehörte das geheimnisvoll Jüdische zur Geschichte der Großeltern, doch Großeltern, Onkel, Tanten und weitere Verwandtschaft hatten vor allem die Anderen. In Geschichtsbüchern und historischen Debatten war das Jüdische kein Thema, die Biographien mancher jüdischer Emigranten in der Sowjetunion waren lückenhaft. Was hieß Sibirien? Mich rügten von dort Zurückgekehrte wegen der Vernachlässigung meiner Pionierpflicht, die Sprache des Sowjetvolkes zu erlernen. Mein Bild wurde sinnlicher: Dort hatte die Sonne geblendet, in Nazideutschland verdüsterte grauverhangener Himmel den Alltag. Es ging um einen ideologischen, nicht um den gelebten Alltag. Das engte die Kategorien und das Verständnis ein. Es gab den Alltag derer, die in der Nazizeit kämpfend ausgegrenzt und ausgesperrt, eingeschlossen und eingesperrt waren, aber Michail R o m m s großartiger Dokumentarstreifen »Der gewöhnliche Faschismus« verschwand so schnell wie er gekommen war aus den Kinos der D D R Ohne Erklärung. Verhindert wurde über lange Jahre die Veröffentlichung der Forschungen von Helmut Eschwege »Kennzeichen J « . Warum? Es gab nicht nur keine nachlesbare Alltagsgeschichte der Deutschen, ihres Lebens zwischen 1933 und 1945, keine Darstellung, wie sie zur Schule gegangen, gearbeitet, gedient, geliebt, eingekauft und sich amüsiert hatten, als die Nazikinderbewegung den Nachwuchs organisierte, Kraft durch Freude florierte, Filme gemacht und Schlager zu Ohrwürmern wurden. All das, woran Menschen sich erinnern, war übertüncht. Das Volk hatte keine außerpolitische Vergangenheit. Und sie entkamen so auch der Rückbesinnung auf das, woran sie nicht erinnert werden wollten: das Verschwinden ihrer jüdischen Mitschüler, Nachbarn, Kollegen, Ärzte, Händler usw. Die »Kristallnacht« wurde zum jüdischen Gedenktag. Es gab keinen Tag deutscher Erinnerung und Mahnung, an dem diese unangenehmen Fragen hätten gestellt werden können. Vor allem aber gab es auch keine Geschichte des jüdischen Alltags jenseits von Verfolgung, Ausgrenzung, Deportation und Massenmord, keinen jüdischen Widerstand. In der historischen Rückschau fehlten zionistische wie religiöse Jugend- und Frauenverbände, jüdische Sportvereine und deren Feste, jüdische Kinder- und Altersheime, der Religionsstreit und säkulare Gegner, politische jüdische Gruppierungen,
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die jüdische Wohlfahrt und das Mäzenatentum, aber auch die osteuropäische jüdische Arbeiterbewegung als Massenorganisation. Eine weitreichende und reiche Geschichte wurde systematisch vereinfacht, ausgeblendet, umgedeutet und verfälscht. Aus Juden war das bedauernswerte Schlachtvieh geworden, verschwiegen wurde der verzweifelte Kampf, aber auch der vielseitige Verrat. An Herbert Baum und seine Gruppe erinnerten in Berlin zwei Gedenksteine: Der im Lustgarten rief jungkommunistische Kämpfer in Erinnerung, der auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee gedachte der jungen jüdischen Widerstandsgruppe. In den letzten Jahren der D D R hatten sich Gralshüter des Antifaschismus herabgelassen, von jüdischen Kommunisten oder kommunistischen Juden zu sprechen und Kränze an beiden Steinen niederzulegen. Das Exil war problematisch geblieben, auch die stalinistische Unterdrückung der Westemigranten, lange verheimlicht, war kaum erklärbar. Aus Palästina wurde in der DDR-Lesart niemals ein rechtmäßiges Israel. Als ich noch Kind war, besuchten uns oft nach Warschau durchreisende Gäste aus New York, die ein sonderbares Deutsch sprachen. Es waren Ghettokämpfer, Partisanen, Jiddischisten, Sozialisten. Sie verlangten, ich solle das Aleph Bet lernen, denn wenige nur hätten wie sie den Faschismus überlebt. Kinder wie ich stünden daher in der Pflicht. Mein Vater war entsetzt. Er glaubte wie andere Eltern auch, es wäre besser, uns Kinder vor dem Jüdischen zu bewahren. Sie übersahen, daß ihre Entscheidung für Deutschland uns längst zu Judenkindern gemacht hatte. Die Russischlehrerein gab jüdischen Kindern eine bessere Note. Wegen des Leids. Ich fand das praktisch.
Da die jüdische Frage von der Tagesordnung gestrichen und der antifaschistische K a m p f als Sammelbegriff erstarrt war, blieben die Emotionen ausgespart. Für das geteilte Deutschland aber hätte die nationale Frage dauerhaft gestellt werden müssen. Angesichts der deutschen Geschichte wurde sie durchaus nachvollziehbar verdrängt. Da die jüdische Frage keine nationale sein konnte und als Klassenfrage gelöst schien, entfielen auch Themen wie RückÜbertragung geraubten jüdischen Eigentums. Kein Kapitalist konnte auf Nachsicht rechnen. Im DDR-Dogma waren die Juden Opfer. Mit niedrigeren Ehrenrenten säuberlich von politisch bewußten Kämpfern unterschieden. Der ideologische Apparat hatte die historische Rückschau festgeschrieben, wegweisend für alle Ebenen und hochritualisiert. Als ab 1989 die Folgen öffentlich vorgeführt wurden, schien diese neue Vergangenheit mit Macht auf ihre Träger zurückzufallen. Die vorgelagerten Ursachen aber wurden erneut ausgespart.
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Da bleibt Hoffnung auf kommende Generationen, die auf zwei Hinterlassenschaften zurückschauen und sich nicht nur der Dokumente der Macht, sondern mehr und mehr der Erinnerungen, All- und Festtag und Nebensächlichkeiten annehmen müssen, wollen sie das Geschichtsbild jener Zeit fügen, die heute noch Gegenwart ist.
Was mich lange umtrieb, war die Frage nach der Sozialisation. Wie hatten denn nun die Jahrgänge zwischen 1918 und 1930 ihre Kindheit und Jugend wirklich erlebt? Mich machte die Antwort wütend, wenn mir Historiker erklärten, zwölf Jahre wären zu kurz, um kulturelle Verfestigungen zu hinterlassen. Es war vielen schlicht unmöglich, sich selbst infrage zu stellen. Für mich war genauso undenkbar, den Antisemitismus allein als politische, ökonomische, ideologische Angelegenheit zu sehen, wo ich doch im Alltag erlebte, wie latente und zunehmend offenere antisemitische Vorurteile entsprechende Verhaltensnormen stützten. Der Abbruch der Ökonomie und Politik des Faschismus hatte die kulturellen Gewohnheiten bis in die Sprache des Alltags, Lieder und Witze, Erinnerungen und Stereotype nicht beendet. In den Familien wurde auch dieses Erbe bewahrt, es wurde weitergegeben, was nicht vergessen werden sollte. In den familieninternen Fremd- und Selbstbildern wurde nicht automatisch eine historische Dimension vermutet. Der Öffentlichkeit entzogen, wucherten zahlreiche Klischees als Selbstverständlichkeiten in den Nischen der Familien, sie brachen sich Bahn, wo die Gemeinschaft tümelte, wo getrunken, deutsches Liedgut gesungen, wo entspannt von der Pflicht des Verdrängens heiter der eigenen Geschichte nachgesonnen wurde. Der Umgang mit Familiengeschichten hatte zum Prüfstein werden können. Aber wer wollte richten? Also gab es die Ereignis- und Parteiengeschichte ohne das Volk, ohne dessen Alltag, ohne erkennbare Bedeutung für jene, die dabei gewesen waren und sich nicht darin spiegeln lassen wollten. Damit hatte auch die jüdische Bevölkerung in Deutschland keinen Stand zu erwarten, ganz zu schweigen von den Zigeunern, die politisch korrekt Sinti und Roma heißen, von den Schwulen, Bibelforschern usw. Die Geschichte der Minderheiten paßte sehr lange nicht in die DDRGeschichtsforschung. Wer konnte das eigentlich entscheiden? Was die jüdische Seite angeht, so war die Rede, wenn überhaupt, von jüdisch
Herkünftigen,
Glaubensgenossen und Mif-Bürgern. In der jüdischen Geschichte gibt
es das jüdische Volk, Jüdinnen und Juden, eine jüdische Selbstdefinition als Nation und Religion, jüdische Identität und viele Zweifel und Fragen. Wird, wie in der DDR-Historiographie, die Religion - am christlichen D o g m a orientiert - zum Judentum »an sich« erklärt, und diese zur Privatsache, kann die Geschichte nicht mehr
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erzählt werden. Dann entfällt der säkulare politische jüdische Widerstand, dann ist der Zusammenhang von Juden und Zionisten unklar (und die antizionistische jüdische Gegnerschaft aus religiösen und säkularen Gründen), dann gibt es keinen nationalen Befreiungskampf für einen unabhängigen jüdischen Staat Israel, keine Untergrundarmee und keine sozialistische Kibbuzbewegung. Wer die nationale Frage für gelöst hält, erkennt keine Anspannung zwischen den Ethnien und nationalen Gruppen, erklärt diese allein als ideologisches Konstrukt und summiert Ereignisse und Fakten unter anderer Überschrift. Das Nationale war eben nicht im Internationalismus aufgegangen, und die nationalistischen Massaker wie Nationalitätenkonflikte ließen sich in der D D R daher nur als Überbleibsel oder Feindpropaganda erklären.
Das alles sind inzwischen gesamtdeutsche Themen. Alexander Brenner schrieb in einem Essay in der »Süddeutschen Zeitung« unter »Die Konfusion um die Konfession - Wo sind die deutschen Staatsbürger deutschen Unglaubens?« und erwähnte die Diskussionen der Großen Französischen Nationalversammlung von 1789. Stanislas de Clermomt-Tonnerre prägte damals den nach Bedarf zitierten oder verdrängten Satz, den Juden als Individuen sei alles, ihnen als Nation nichts zu gewähren. Diese Sicht, so Brenner, habe zur Konfessionalisierung, zum Staatsbürger jüdischen Glau-
bens geführt. Lästerten die frühen Zionisten, im »Centraiverein« ginge es um »deutsche Staatsjuden bürgerlichen Glaubens«, hat die Einengung der »jüdischen Frage« auf Vernichtung des Volks und Religion als Privatsache für zwei Generationen nachgeborener Deutscher den Blick auf jüdische Geschichte, jüdischen Alltag, aber auch auf ein über Jahrhunderte stabiles Netzwerk deutsch-jüdischer und jüdisch-deutscher Verwobenheit verstellt. In der Phantasie der Nachgeborenen, so Brenner, gab es demnach in Deutschland nie einen jüdischen Alltag zwischen orthodoxer Abgrenzung und assimilierter Lebensart. Das Unvorstellbare eines Massenmords im 20. Jahrhundert ließ keine gesonderte jüdische Lebensweise mehr zu - im verkehrt gewendeten Bild der Gleichheit erfolgte nachträgliche Zwangseingliederung: die jüdische Selbstbestimmung war zur Abweichung von menschlicher N o r m , sprich kultureller Gängigkeit, umgedeutet worden.
Es gab nun die jüdische Erklärungsnot. Wie, wenn nicht genealogisch und familienintern, läßt sich diese Art Zugehörigkeit erzählen? Zu viele derer, die hätten reden können, zogen es jedoch vor, über ihr nichtreligiöses Judentum nur im engen Freundeskreis zu sprechen.
Wir unter uns. Das war auch das Motto, in dem sich die nächste jüdische Gene-
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ration Mitte der 80er Jahre in der D D R traf. Der jüdische Freundeskreis innerhalb der Jüdischen Gemeinde Ostberlin blieb zugleich randständig. Die nichtjüdische Außenwelt wiederum erlebte diese jüdische Neu- und Selbstbesinnung nicht selten als Störfäktor, da man sich das jüdische Thema geradezu aufgeteilt hatte. Nach der Wende des Jahres 1989 veränderte sich einiges. Kommunistische Widerstandskämpfer und Funktionäre der D D R werden ebenso wie die Führer der Arbeiterbewegung gern als Nachkommen jüdisch-orthodoxer Elternhäusern dargestellt, gesucht wird nach den Zeichen einer traditionell eingebundenen Kindheit, Zusammenhänge erschließen sich oder werden auch nur behauptet, wenn verschollen geglaubte oder nicht akzeptierte Verwandte in aller Welt, gemiedene Freunde, K a m p f und Leidensgenossen beispielsweise den Kameras der Steven-Spielberg-Foun-
dation ihre Memoiren für die Nachwelt hinterlassen. Wohlgemerkt: US-amerikanische Forscher finden sich ein, die Nähe zur Geschichte hat in Deutschland noch immer den Umgang beschwert. Deutschland hat heute dank Einwanderung die am schnellsten wachsende jüdische Bevölkerung Europas. Die neue jüdische Bevölkerung macht sich bemerkbar, spricht gut Russisch und ist meist säkular und bewußt jüdisch. Sie lebt es vor, daß säkular nicht religiös heißt, und religiös zwischen liberal, halb- und ganzkonservativ, neu- und streng orthodoxem Judentum zu unterscheiden ist. Die Traditionalisten, Drei-Tage-Juden, säkulare und dem Volk wie der Religion fernerstehende Jüdinnen und Juden eint und trennt vieles. Es werden interne Debatten geführt, um Definitionen gerungen, Spaltungen liegen in der Luft, eingefordert ist neben dem jüdischen auch der nichtjüdische Blick auf die gemeinsame wie getrennte Geschichte. Die nichtjüdische Umwelt, einschließlich der Historiker, wird daraus neue Einsichten gewinnen und alte Erkenntnisse umschreiben oder ergänzen müssen. Es findet durchaus Bemerkenswertes statt, ohne daß sich die Zeithistoriker, Soziologen, Kulturwissenschaftler und andere dafür sonderlich zu interessieren scheinen. Das muß ein deutsches Problem sein. Ist es nicht traurig, daß diese erstaunlich vielfältige jüdische Realität nunmehr dem deutschen Trübsinn geopfert wird?
Rolf Richter
Versöhnungsarbeit mit Polen Zu einer vom Vergessen bedrohten Leistung der Evangelischen Kirchen in der D D R
Arbeiten zur Geschichte der Kirchen in der D D R haben Konjunktur. Die entsprechende Literatur ist politisch stark differenziert, teils gar polarisiert, oft nicht frei von außerwissenschaftlichem Ballast. Ein historiographischer Segmentierungs- und Parzellierungsprozeß ist unübersehbar. Die politisch-strategische Dimension der einschlägigen historiographischen Anstrengungen umriß der Kirchenhistoriker Gerhard Besier 1993 mit den akzentuiert-kämpferischen Worten: »Welche Geschichtsinterpretation sich als >historische Wahrheit< durchsetzen wird, hat enorme Bedeutung für Parteien und Institutionen in der Gegenwart.« 1 Manche Themen erweisen sich dabei ob ihrer signifikanten politischen, historischen oder historiographischen Spezifika als geradezu vielproblematisch. Im vorliegenden Falle ist es nicht nur und nicht zu allererst die NS-Zeit selbst, die sich in der deutschen Geschichtswissenschaft in veränderten Akzenten als ein Feld intensiver Forschungen und Diskussionen erweist 2 und zu der ein »Erinnerungskampf« 3 anhält, sondern der Umgang mit ihr. Wenn heute der Blick auf das ostpolitische Denken der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg gerichtet wird, so wird in aller Regel auf die Bedeutung Willy Brandts und seiner Ostpolitik sowie auf die Denkschrift der E K D 4 aus dem Jahre 1965 verwiesen. Das Gesichtsfeld bleibt auf die alte Bundesrepublik begrenzt. Über die Anstrengungen im Osten, in der D D R , wird entschieden zu wenig nachgedacht. Das gilt in besonderem Maße für die Arbeit der evangelischen Christen und für deren Kirchen. Symptomatisch war dafür ein Vortrag des Präses der E K D , Jürgen Schmude, der im September 1995 in einer Gedenkveranstaltung zu »30 Jahre Ostdenkschrift der EKD« die Leistungen der Kirchen in der D D R schlankweg »vergaß« und sich erst nach Einspruch ostdeutscher Kirchenvertreter zu einer rückversichernden Fußnote durchrang, die zurückhaltend auf Versöhnungsanstrengungen der Kirchen in der D D R verwies. 5 Es droht ein zweiter Vergessensprozeß: Die von der S E D geführte Geschichtsschreibung war in ihrer dominierenden Intention darauf angelegt, daß sich Kirchen und Religionsgemeinschaften, daß sich die Christen und andere religiöse Menschen
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in den historischen Hauptdarstellungen kaum oder gar nicht wiedererkennen konnten. Gewiß, als »Werktätige« tauchten sie schon auf - aber als Christen mit ihrem spezifischen Antlitz und ihrem religiösen Interessenfeld waren sie kaum zu finden. Hier sollen anders konzipierte Darstellungen theologischer Fakultäten nicht vergessen sein; ebensowenig jene Darstellungen von DDR-Historikern, die um größere Sorgfalt bemüht waren. 6 Die heute in Ostdeutschland, d.h. dem ehemaligen Staatsgebiet der D D R lebende Bevölkerung hat in einer übergroßen Mehrheit kein deutliches Bild von der Geschichte der Kirchen, dem christlichen Leben und dem Weg der Christen in der D D R Die Gefahr, daß hier einseitige, nichtadäquate und gar ungerechte Generalurteile und Bilder im historischen Alltagsbewußtsein vieler Menschen entstehen und haftenbleiben, dürfte hoch zu veranschlagen sein. Ganz offensichtlich existiert eine sich verfestigende Tendenz, eine Art »LetheWirkung«, in der neuesten Historiographie in Deutschland darin, Arbeiten und Leistungen der evangelischen Kirchen und Christen in der D D R vergessen zu machen. Gegen dieses doppelte Vergessen anzudenken bleibt eine langfristige und schwierige Aufgabe. Auch für die Gegenwart und überschaubare Zukunft dürfte die 1986 vorgetragene Überlegung des Historikers und Beraters von Bundeskanzler Kohl, Michael Stürmer, nicht aus dem Blick geraten: »Orientierungsverlust und Identitätssuche sind Geschwister. Wer aber meint, daß alles dies auf Politik und Zukunft keine Wirkung habe, der ignoriert, daß in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.« 7
Schuldbekenntnis
und
Erfassen
neuer politischer
Realitäten
Eine Leistung der evangelischen Kirchen in der D D R die historiographisch aufgearbeitet zu werden verdient, besteht in ihren Anstrengungen zur Versöhnung mit Polen. Im Jahre 1945 hieß es in der Stuttgarter Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland: »Mit großem Schmerz sagen wir: durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden ... Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.« 8 In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Befreiung erbrachten die evangelischen Kirchen manches, was der Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung, mit Neufindung u nd Verständigung mit Polen dienen konnte. Das Wort des Bruderrates der E K i D zum politischen Weg unseres Volkes vom 8. August 1947 wurde getragen von den theologischen Begriffen Buße und Versöh-
Versöhnungsarbeit mit Polen
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nung. In einem Schreiben der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg an den Kontrollrat für Deutschland vom 4. Dezember 1947 wurde vor unerträglichen Grenzziehungen im Osten und Westen sowie vor der Zerreißung Deutschlands gewarnt. Das Wort der Kirchenversammlung der E K i D zum Frieden vom 13Juli 1948 warnte vor gewaltsamen Lösungen politischer Fragen. Weiterhin sei vor allem auch auf die Weißenseer Friedenssynode vom 1950 verwiesen. In einem Telegramm der Kirchenkonferenz vom 12. Februar 1954 an die vier Außenminister der USA, der UdSSR Großbritanniens und Frankreichs wurde das Sicherheitsbedürfnis der Nachbarvölker der Deutschen betont. 9 Zu den Stationen auf dem Wege der Versöhnung mit Polen gehörten auch solche Ereignisse wie der Besuch Bischof Wantulas 1956 in der D D R der Aufenthalt einer Delegation des B E K anläßlich der Einweihung der Trinitatiskirche in Warschau im Jahre 1957 und die hingebungsvolle Pionierarbeit von Aktion Sühnezeichen. Der Görlitzer Vertrag, 1950 zwischen der D D R und der Volksrepublik Polen unterzeichnet, gehörte zu jenen Ansätzen, auf einer staatlichen Ebene zu einer Verständigung mit dem östlichen Nachbarn zu gelangen. Ungeachtet der in Görlitz proklamierten Friedensgrenze, ein für viele DDR-Bürger schmerzlicher Akt, für manchen aber auch schon mit bitteren historischen Einsichten und Erkenntnissen verbunden, blieben im Ost-West-Gegensatz viele Hoffnungen und Illusionen in bezug auf die Vorläufigkeit der Oder-Neiße-Grenze existent oder wurden neu genährt. Von diesen objektiven Umständen konnte sich offensichtlich auch kirchliche Arbeit nicht unbeeinflußt entwickeln. Unergründet wird bleiben, wie viele Pfarrer den in der D D R untergekommenen Umsiedlern und Flüchtlingen geistlichen Beistand gaben, ihnen Lebensmut vermittelten und ihnen rieten, hier Wurzeln zu schlagen und ihre neuen Lebensumstände anzunehmen und beherzt neu zu gestalten. In den sechziger und siebziger Jahren erwuchsen im Zuge der neuen Ostpolitik und der Veränderungen im internationalen Klima Möglichkeiten und Notwendigkeiten für eine Verständigung mit Polen. Die Ostdenkschrift der E K D 1 0 im Jahre 1965 »sprach die entscheidenden und bisher tabuisierten Punkte« 1 1 an und löste in der Bundesrepublik eine leidenschaftliche öffentliche Debatte aus. Im vielschichtigen Entspannungsprozeß der siebziger Jahre gewann das Wort der Kirchen neue Bedeutung und Ausstrahlungskraft. Es beförderte den innergesellschaftlichen Dialog wie den deutsch-deutschen und europäischen Lernprozeß. In den sechziger Jahren hatten mehrere Pfarrer der evangelischen Kirchen und Theologen in der D D R sich mit der Schuldfrage weiter auseinandergesetzt 1 2 und auch Positionen zur Oder-NeißeGrenze formuliert." Das gewann nunmehr an Wert.
Rolf Richter
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Gründung des BEK - klare Aufgaben in neuen
Strukturen
Am 10. Juni 1969 schlossen sich die acht Landeskirchen der D D R zum Bund der Evangelischen Kirchen in der D D R (BEK) zusammen. In der Auftragsbestimmung des Kirchenbundes waren von Anfang an gewichtige theologische und weltliche Schwerpunkte fixiert. Im Jahre 1970 stellte die Bundessynode fest: »Der Bund wird sich als eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirche in der sozialistischen Gesellschaft der D D R bewähren müssen.« 1 4 Damit war ein theologisch ungewöhnlich weitgespannter, perspektivreicher und vielschichtiger Arbeitsansatz gewonnen worden. Die Synode von 1971 vertiefte ihn.15 Geschichtlich waren dabei zwei Bezugspunkte evident: die nachwirkenden Leistungen der Bekennenden Kirche, insbesondere das Werk Dietrich Bonhoeffers und sein Wort über das »Beten und Tun des Gerechten« als Auftrag an den Christen, sowie die Barmer Theologische Erklärung vom Mai 1934. Vor allem durch Barmen erhielten Zeugnis und Dienst deutliche Anregungen. Die »Ordnung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 10. J u n i 1969« akzentuierte ihre Aktualität und Zukunftsfähigkeit. Die Auffassung von der Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst realisierte sich in verschiedenen Ausformungen. Erstens wurde in Rezeption eines Bonhoeffer-Wortes, nach dem Kirche nur Kirche ist, wenn sie für andere da ist, die theologische Orientierung auf Zeugnis und Dienst mit dem Gedanken »Kirche für andere« verknüpft. Zweitens wurde, so auf der Synode 1974, die Aufgabe formuliert, »Kirche als Lerngemeinschaft« zu begreifen und dies auf dem weiteren Wege zu praktizieren. Drittens erfolgte ein deutliches Bekenntnis zu Ökumenizität der Kirche als Gabe und Aufgabe, die in der Universalität des Heilsangebotes Gottes in Christus begründet ist und allen Menschen gilt. 1 6 Viertens gewann in diesem Zusammenhang theologischer Vorstellungen der biblische Gedanke von der Versöhnung schrittweise an Gewicht. D e m Kirchenbund war daran gelegen, sich über neue Strukturen zu definieren und »sich auf tragfähige, der spezifischen Aufgabe entsprechende theologische Grundlagen zu besinnen. Zu diesen Grundlagen gehört(e) das Darmstädter Wort.« 1 7 Fünftens erwies sich neben dem Stuttgarter Schuldbekenntnis das Darmstädter Wort nicht nur als bedeutsames geistliches Dokument der deutschen Nachkriegszeit, sondern bildete mit seinem Versöhnungsauftrag, den die Christen »annehmen, tun und ausrichten« 1 8 sollten, eine theologisch wie historisch-politisch anspruchsvolle Handlungsgrundlage.
Versöhnungsarbeit mit Polen
Versöhnung
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als Auftrag
Mit dem Überfall auf Polen begann der Zweite Weltkrieg. Eine ungeheure Schuld wurde mit Terror, Ausrottungs- und Versklavungsprogramm, mit dem Okkupationsregime auf deutscher Seite angesammelt. Vor diesem Hintergrund der Geschichte blieb Versöhnung ein schwieriges Unterfangen. Versöhnung ist in christlicher Sicht ein »sozialer Beziehungsbegriff« 1 9 . Er drückt die Hoffnung aus, daß Gemeinschaft trotz und in der Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit von Menschen zustande kommen kann. Versöhnung meint zuerst eine Beendigung eines durch Sünde und Schuld entstandenen Konflikts im Innersten, nämlich im Gottesverhältnis des Menschen. Das Neue Testament hat im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11-32) ein gültiges Modell von Versöhnung geformt. Es handelt sich um einen wechselseitigen, komplizierten und in vielem höchst dialektischen Vorgang, bei dem ein tiefer Bruch seitens beider Beteiligter überwunden wird. Versöhnung heißt: in sich gehen und sich zur Verfehlung bekennen. Versöhnung heißt stets auch: umfassende Verwandlung. Versöhnung realisiert sich im Wechsel von Ablösung und Zusammengehen, in Korrespondenz von Geständnis und Verzeihung - und der Begegnung auf einer neuen Ebene. Versöhnung ist kein Normbegriff; sie läßt sich nicht verordnen. »Wo es im tiefsten Sinne um Versöhnung geht, nämlich um die Wiederherstellung einer Beziehung über den Abgrund von Schuld hinweg, da setzt Versöhnung das unkalkulierbare Zusammentreffen von Geständnis und Vergebung voraus - und damit eine zweiseitige, freie, veränderbare Einsicht.« 2 0 Versöhnung ist als zukunftsoffenes Geschehen gedacht. Die anfängliche Versöhnung bedarf immer neu der Verwirklichung. Die Versöhnungsvorstellung entzieht sich jeder vorschnellen und vereinfachenden Interpretation. So gehören Sündenvergebung und Lebenshilfe zusammen. Der Mensch ist einerseits Partner Gottes, andererseits Partner des Mitmenschen. Schuld ist die Kehrseite von Verantwortung. 21 Versöhnung bedeutet konstruktive Zukunftsperspektive in Konflikten. 2 2 Sie bleibt der Opfer der Gewalt eingedenk, indem sie den Gewaltzirkel durchbricht. Versöhnung setzt Sühne voraus. Mit dem Versöhnungsgedanken mußten die evangelischen Kirchen in der D D R vom Ansatz her schon quer stehen zur in der D D R herrschenden Ideologie. Diese war zum einen geprägt von Vorstellungen und Begriffen von »Kampf« und »Unversöhnlichkeit von Ideologien«. Da mußte bereits das Wort »Versöhnung« provokativ wirken. Zweitens waren in der dominierenden kommunistischen Parteigeschichtsschreibung Ausnahmen sollen hier unbeachtet bleiben - »Versöhnler« als Opportunisten und gar als Feinde der Arbeiterbewegung stigmatisiert. Drittens war im marxistischen Denken der Versöhnungsgedanke nicht genuin angesiedelt, kaum thematisiert und ausgearbei-
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tet worden. Punktuell wurde wohl gesehen, welchem Mißbrauch er durch politische Kräfte erfahren kann. Positiv behandelt wurde er aber wohl nicht. Dieses Defizit dürfte bis zur Gegenwart nachwirken. 2 3 Der Versöhnungsgedanke wurde nicht geprüft in seiner Bedeutung für das Alltagsleben des einzelnen Menschen, für die Gesellschaft, für das Gemeinwesen; für die Auseinandersetzung mit relativ abgeschlossenen Geschichtsabschnitten und wohl auch nicht für die neuen Fragen in bezug auf die Bewahrung der Zivilisation vor den Kosten des Raubbaus. Viertens mußte sich erschwerend auswirken, daß der DDR-Staat mit seiner politischen Herrschaftskultur das ständige, normale, korrekte und kontroverse Gespräch mit der Kirche nicht als selbstverständliche Tradition, Sitte und Norm mit Ausstrahlung in die Gesellschaft hervorgebracht hat. Ein bedeutendes Kräftepotential, das in einer solchen, völlig neuen Begegnungsebene hätte zum Nutzen aller liegen können, blieb unausgelotet. Die Kirche hatte es also mit der Versöhnungsarbeit so leicht nicht. Der Staat hätte wohl lieber eine millimetergenaue Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen von »Internationalismus« und »Antifaschismus« gesehen. Als in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Pfarrer Christfried Berger im Berliner Magistrat seine Versöhnungsarbeit erwähnte, wurde ihm barsch - gleichwohl symptomatisch - beschieden: »Zwischen der Volksrepublik Polen und der D D R gibt es nichts zu versöhnen«. 2 4 So stießen der Versöhnungsgedanke und die damit verbundene praktische theologische Arbeit des B E K seitens des Staates auf eine Mischung von Distanz, Mißtrauen, Geringschätzung und repressiver Begrenzung.
Beginnende Aktivitäten
des
BEK
Zu Beginn der siebziger Jahre wurden deutliche Anstrengungen seitens des B E K unternommen, um in der Verständigung mit Polen voranzukommen und um die Zusammenarbeit mit polnischen Instanzen zu vertiefen. Es entstand 1970 die Kontaktgruppe Polen beim BEK; 1970 wurde die Arbeitsgruppe P O L E N beim Ökumenisch-missionarischen Amt gegründet; die Reisetätigkeit nahm zu; es kam zu Begegnungen auf hoher Ebene; eine Fülle von Erfahrungen wurden an der Basis der Gemeinden gewonnen. Nachdem im Mai 1970 eine Delegation des Polnischen Ökumenischen Rates (PÖR) die evangelischen Kirchen in der D D R besucht hatte, weilte vom 15. bis zum 23. November 1971 erstmals eine offizielle Delegation des B E K in Polen. Sie stand unter Leitung von Bischof Schönherr. In dieser ersten Begegnung in Polen wurden sehr viele Fragen behandelt. Unter dem Gesichtspunkt der Versöhnung gewann der Gedankenaustausch über ökumenische Arbeit und über den Warschauer Vertrag ein
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besonderes Gewicht. 2 5 Gesprochen wurde auch über die Oder-Neiße-Grenze. 2 6 Von grundsätzlicher Aussagekraft war der Besuch in Auschwitz. In einem Pressebeitrag für »Die Kirche« hieß es später dazu: »Wir werden diesen Aufenthalt in Auschwitz nicht vergessen ... die Erschießungsmauer neben dem berüchtigten Block 11, an der etwa 10.000 Menschen ihr Leben durch die Erschießungskommandos verloren. Hier wird auch unser Blumengebinde niedergelegt. Wir sind still und tiefbewegt. In einer Zelle sehen wir christliche Symbole und Zeichnungen, die Häftlinge mit den Fingernägeln in die Wand und in die Tür geritzt haben ...« 2 7 Diese Begegnungen der Delegation mit der Vergangenheit und ihre Äußerungen zu Gegenwartsfragen der Kirche, darunter mehrere Predigten, stießen in Polen auf eine nachhaltige Resonanz. Von wertsetzender Kraft in allen Versöhnungsanstrengungen erwiesen sich das Wirken und die Ausstrahlungskraft der Persönlichkeit von Bischof D. Albrecht Schönherr.28 »Versöhnung« wurde unter seiner verantwortlichen Führung zu dem zentralen Anliegen, wenn es um Polen ging. Am Ewigkeitssonntag 1971 predigte Albrecht Schönherr, inzwischen Vorsitzender der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der D D R in der Trinitatiskirche in Wärschau, der lutherischen Hauptkirche in Polen. Er sprach über Matthäus 25, über das Gleichnis von den Brautjungfern. Bischof Schönherr setzte Vergangenheit und die Freude, im Reich Gottes eingeladen zu sein, in Beziehung. »Aber wir wissen: Am Ende erwartet uns nicht das Chaos, sondern die Freude. Darum macht es Sinn, miteinander über die Vergangenheit nachzudenken, gemeinsam zu fragen, welche Fehler gemacht worden sind. Darum macht es Sinn, für einen dauerhaften Frieden, für bessere Gerechtigkeit, für die Überwindung des Hungers zu arbeiten.« Schönherr endete: »Klug sind wir, wenn wir unverzagt für seine (Gottes - R R ) Sache, für Gerechtigkeit und Frieden eintreten ...« 2 9 Für andere da sein, sich der Geschichte stellen, Schuld erfassen, Versöhnung mit Polen konkret - damit sind Akkorde angestimmt, die die Entwicklung der evangelischen Kirchen in der D D R in den siebziger Jahren wesentlich geformt haben.
Weitere Anstrengungen
im Dienste der Versöhnung
Eine neue Aufgabe eröffnete sich, als die Regierungen der D D R und der VR Polen vereinbarten, mit Wirkung des 1. Januar 1972 neue Reisebestimmungen festzulegen. Diese führten schnell zu einem ungeahnten Anwachsen des Reiseverkehrs und von Einkäufen der Besucher jenseits der Grenzen, so daß bereits Ende November 1972 der Umtausch von Geld ab 1. Januar 1973 drastisch eingeschränkt wurde. 5 0 Im April 1972 entstand auf Anregung von Bischof Schönherr eine Orientierungs-
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hilfe für die Gemeinden, verfaßt von der Ökumenischen Kommission des BEK, für Besuchsreisen in das sozialistische Ausland. 3 1 Sie betonte den Wert ökumenischer Begegnungen und das welchselseitige Gebrauchtwerden. Es wurde die Bedeutung von internationalen Aufeinandertreffen von Menschen hervorgehoben, um einander besser verstehen zu lernen. Neben praktischen Hinweisen akzentuierte die Orientierungshilfe den Gedanken, daß der Reisende ein Land und seine Menschen mit neu zu gewinnenden Maßstäben und »mit Liebe« erleben müsse. Wichtig auch hier der Hinweis: »Wir können die leidvolle Geschichte der Beziehungen zwischen unserem Volk und unseren Nachbarvölkern nicht verlassen. Distanz von der Geschichte ist nicht nur unerlaubt, sie ist unmöglich. In unseren Nachbarländern tritt sie uns sehr konkret entgegen. Wir müssen wissen, was geschehen ist, was Auschwitz, Lidice und Theresienstadt noch heute bedeuten.« Die Gemeindeglieder wurden aufgefordert, an einem Gottesdienst oder einer Gemeindeveranstaltung im Ausland teilzunehmen. Eine Fülle von Aktivitäten folgten dieser Orientierungshilfe: - Der Bußtag 1972 stand unter dem Thema »Die Würde des Anderen« - »Die Würde des Nachbarn« - Kirchenblätter in der D D R berichteten verstärkt über Polen. - Polnische Theologen erhielten Einladungen zu Pastoralkollegs, insbesondere der Grenzkirchen Görlitz, Berlin-Brandenburg und Greifswald. - Ökumenisch angelegte gemeinsame Vorbereitungen der Bibelwochen wurden von der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste organisiert. - Ein Stipendiatenaustausch begann. - Die Studienabteilung des P Ö R erhielt Literatur über das Ökumenisch-missionarische Amt. - Auf Initiative des Ökumenisch-missionarischen Zentrums wurde jedes Jahr polnischen Gästen eine gewisse Anzahl von Erholungsplätzen angeboten, was wiederum vortreffliche Möglichkeiten zum ausgedehnten individuellen Gespräch bot. - Es formten sich gewichtige Publikationen, so z.B. der 1979 beendete und 1982 in der Evangelischen Verlagsanstalt von dem Berliner Theologen Gerhard Bassarak und dem P Ö R herausgegebene Band »Ökumene in Polen« - ein Band, der in seinem Bildungswert für die christliche DDR-Bevölkerung gar nicht hoch genug bewertet werden kann. - Wichtige polnische Arbeiten erreichten die D D R so der Band zu der Arbeit mit Blinden im polnischen Laski (1975) und 1977 die Arbeit von Januz Tazbir über die Geschichte der polnischen Toleranz. - Vom 2. bis zum 4. Dezember 1972 fand in Buckow eine erste Begegnungstagung des Arbeitskreises P O L E N des Ökumenisch-missionarischen Amtes statt, die unter dem Thema stand »Engagement in der Freundschaft - Christen aus der
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Volksrepublik Polen und der D D R wollen eine gemeinsame Zukunft«. Zwei Referate galten dem Thema »Unser Dienst für die Völkerfreundschaft«. Der Warschauer Schriftsteller Jan Zaborowski, der als Jurist an der Aufklärung der NS-Verbrechen in Polen mitgearbeitet hatte, stellte das wechselvolle Verhältnis zwischen Polen und Deutschen im Laufe der Geschichte dar und wies darauf hin, daß erst die Befreiung Polens vom Hitlerfaschismus und das Potsdamer Abkommen eine durch Jahrhunderte latente und im zweiten Weltkrieg unmittelbare Bedrohung vom polnischen Volk genommen und seine westlichen Grenzen gesichert habe. »Weil wir nun eine sichere Grenze haben, kann sie als offene Grenze gelebt werden«, sagte er. Pfarrer Bruno Schottstädt, Ökumenisch-missionarisches Amt in Berlin, sah seinen persönlichen Standort in der Friedensarbeit, herkommend vom Stuttgarter Schuldbekenntnis und vom Darmstädter Wort. Er sagte dort: »Die christliche Gemeinde darf Salz der Gesellschaft sein. Die neue Grenze sei eine Grenze ohne Gefahr - eine offene Grenze.« 3 2
Publikationen
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die praktische Arbeit
Die Versöhnungsarbeit der evangelischen Christen in der D D R entfaltete sich am Anfang der siebziger Jahre auf verschiedenen Feldern. Dabei wurden bislang nicht gekannte Wege gegangen. Es mußte auch ständig nach neuen Formen, die das Anliegen beleben und vorantreiben konnten, gesucht werden. Die Teilnehmer einer Studienfahrt nach Polen - Kandidaten des Predigerseminars beim Domstift zu Brandenburg an der Havel - erfuhren im Sommer 1972, wie Historisches und Ökumenisches im kirchlichen Leben in Polen ineinandergesetzt, miteinander verknüpft und auch mit inneren Widersprüchen versehen sind. Die Kandidaten waren hier mit Fragen konfrontiert, die sie aus der deutschen Geschichte und der Gegenwart der D D R nicht kannten. An diesem Beispiel wird pars pro toto deutlich, daß innerhalb der evangelischen Kirchen in der D D R die historische Informations-und Bildungsarbeit zu einer eigenständigen Aufgabe wuchs. 33 Neben der - unten noch näher zu charakterisierenden - Arbeitshilfe »Deutsche und Polen. Verhängnis und Hoffnung einer Nachbarschaft« (1976) dienten diesem Anliegen eine Reihe von Publikationen unterschiedlichen Umfangs aus der Feder der deutschen Autoren Lorenz Schreiner, Pfarrer Werner Liedtke und Gerhard Bassarak und der polnischen Verfasser Jan Niewieczerzal, Karol Karski, Zdzislaw Pawlik, Andrzej Wojtowicz und Woldemar Gastpary. Drei Leistungen dieser Autoren verdienen besonders hervorgehoben zu werden, da sie unmittelbar praktisch wirksam wurden:
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Die interessierten evangelischen Christen erhielten einen sehr genauen Überblick über die Struktur und Geschichte der Kirchen in Polen. Sie lernten dabei besonders drei Kirchengruppen zu unterscheiden: die römisch-katholische Kirche; die Kirchen, die dem Polnischen Ökumenischen Rat angehörten; weitere Glaubensgemeinschaften. Dies war, gedrängt auf kleinem Raum, eine vortreffliche Orientierungshilfe. 3 4 Aus der Feder von Lorenz Schreiner stammte die 1975 zusammenhängend publizierte wissenschaftliche Studie »Der polnische Protestanismus«. In diesem »Versuch einer kurzen Darstellung« ging der Verfasser der Frage nach, wie es zu dem Wandel im Einfluß des Protestantismus in Polen gekommen war. So waren 1569 die Evangelischen unter den Angehörigen des polnischen Senats in der Überzahl 58:55. Schreiner spannte dabei den Bogen über Reformation und Gegenreformation, über die Zeit des freien Wahlkönigtums und die Zeit der Teilungen bis 1945. 3 5 Von beträchtlichem Informationswert für die interessierten DDR-Bürger war ein sorgfältig zusammengestellter Überblick über die Ökumene in Polen, der 1979 beendet und 1982 auf dem Büchermarkt erscheinen konnte. Gerhard Bassarak hatte ihn gemeinsam mit dem Polnischen Ökumenischen Rat herausgegeben. Der Band vermittelte einen Einblick in die Bekenntnisstrukturen in Polen in Geschichte und Gegenwart, verdeutlichte stark die Traditionen des Ökumenismus und die neuesten Strukturen ökumenischen Wirkens und schloß mit Betrachtungen über Disapora, Diakonie und Friedensengagement der Kirchen. Manchem erschien es, als vermittele das Buch Bassaraks falsche Bilder, indem es im Erscheinungsjahr 1982 Normalität in Polen suggeriert habe, währenddessen die polnischen Autoren des Bandes zu dieser Zeit scharfen Repressionen in ihrem Heimatland unterworfen gewesen seien. 3 6
Über
die Arbeit des Arbeitskreises POLEN des
Ökumenisch-missionarischen
Zentrums
Ein wichtiges Tätigkeitsfeld des Arbeitskreises P O L E N des Ökumenisch-missionarischen Zentrums der EKU, wie sich die Institution seit dem 1. Juli 1974 nannte, bestand darin, den Prozeß der Aussöhnung durch pädagogische und theoretische Ausarbeitungen und wissenschaftliche Diskussionen zu begleiten. Es sollte den Gemeinden direkte Hilfe und Anregung gegeben werden, über deutsch-polnische Geschichte nachzudenken und über die Belastungen der Verhältnisse zu sprechen. Auf diese Arbeiten wirkten zumindest folgende Erfahrungen ein: Erstens hatten sich im Gefolge der Reiseerleichterungen zahlreiche Begegnungen zwischen Polen und DDR-Bürgern vollzogen, was seit Ende des Zweiten Weltkrieges einzigartig war. Die Arbeitsgruppe P O L E N stand hier in einer besonderen Pflicht.
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Sie hatte selbst mehrere Kontaktreisen nach Polen unternommen, so im April 1971, im April 1972, im Oktober 1972 und im Dezember 1973. Aus vielen Erfahrungen und Beobachtungen schöpfend, versuchte Pfarrer C.J. Heinemann-Grüder, Mitglied der Arbeitsgruppe P O L E N , im November 1973 in einem Verständigungspapier für die Gruppe einige zentrale Gedanken zu akzentuieren. »Zum Dialog zwischen Deutschen und Polen« überschrieb Heinemann-Grüder sein vierseitiges Papier. Praktische Erfahrungen stellte er voran: »Immer wieder gibt es bei internen Gesprächen von Deutschen untereinander, erst recht in Gegenwart von Polen, aber auch im Gespräch mit Polen kontroverse Meinungen, ob man von den Toten - 6 020.000 polnische Staatsbürger fanden durch Krieg und Okkupation den Tod, davon 1 800.000 wehrlose Kinder bis zu 16 Jahren - reden solle oder nicht.« Oft hörte man Redewendungen wie »Laßt die Toten ruhen!«, »Bohrt nicht widernatürlich in den Wunden!«, »Wieviel Deutsche wußten denn wirklich was geschah ?«, »Wir haben damals noch nicht gelebt!« Heinemann-Grüder stellte alledem - dem Schweigen oder Verdrängen, dem Untertauchen oder der Entschuldigung - unmißverständlich entgegen: »Schweigt man, so täuscht man sich über das Trauma der polnischen Seele. Diese aber wird sprechen.« Und er setzte nach: »An wen sollten sich sonst Polen und Juden im Gedenken ihrer Toten halten, wenn sie auf keinen verantwortlichen Deutschen stießen, der zu sagen bereit wäre: >Hier bin ich!< « Auf jene blickend, die es nicht gewesen sind, die nichts gewußt haben oder die damals noch nicht gelebt haben - der Pfarrer nahm alle in die Pflicht -, schrieb er: »Wie Jesus pars pro toto der Menschheit vor Gott in dessen Gericht am Kreuz ist, so sollte jeder von uns pars pro toto seines Volkes vor Juden, Polen, Russen und anderen in der Haftung für den Wert der Toten sein.« Die jüngste Geschichte deutend, führ Heinemann-Grüder fort: »Die Ermordeten sind es, die uns verbinden und zu einem besseren Tun in gemeinsamer Zukunft von Deutschen und Polen verpflichten.« Die Erörterung klang mit einem welt- und globalgeschichtlichen Bezug aus: »Eine Verständigung zwischen Deutschen und Polen aus Einsetzung der Opfer in die Versöhnung Christi wird Kräfte zur Aktivierung guter europäischer Traditionen freisetzen und dem Systemantagonismus unter dem Atomschwert angesichts der Herausforderung durch die Unterentwicklung der sogenannten Dritten Welt Einhalt gebieten.« 3 7 Die Ausarbeitung von Pfarrer Heinemann-Grüder dürfte zu den wichtigsten Zeugnissen der geistigen Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus in der D D R der siebziger Jahre gehören. Es ist ein Dokument von zentraler Bedeutung in den Anstrengungen der protestantischen Kirchen in der D D R zur Verständigung mit Polen. Es zählt zu jenen theologischen Leistungen, die bewußt danach strebten, deutsche Geschichte adäquat zu verarbeiten. In seiner moralischen Substanz indes
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wies es objektiv weit über den Christen hinaus, indem es Fragen artikulierte, die für die gesamte Gesellschaft von Wert waren. Die Wirkungsgeschichte solchen Geschichtsdenkens und einer solchen Moralauffassung in der D D R war indes komplizierter. Hier sei nur dies ausgeführt: Fragen wie die nach Schuld, Haftung, Trauerarbeit wurden seit Ende der sechziger Jahre mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen Denken (besonders in den Schulen und Medien) ausgeblendet zugunsten eines einseitigen, also fälschen historischen Siegerbewußtseins. Dabei wurde vergessen, daß nach Auschwitz die deutsche Geschichte auch in jenem Staat, in dem ein Weg ohne die belasteten Eliten aus Wirtschaft, Militär, Staat und Kultur und mit einer neuen sozialökonomischen Grundlage beschritten wurde, nicht ohne eine immer wieder neu zu leistende Trauerarbeit und Schuldabarbeitung möglich ist und daß in jedem Falle eine Haftungspflicht besteht, die die Losung »Wir sind die Sieger der Geschichte« moralisch und geistig nicht abdecken konnte und durfte. 3 8 Symptomatisch mag die Tatsache sein, daß in dem 1978 in Berlin erschienenen, weit verbreiteten Buch »Geschichte der S E D . Abriß« 3 9 die differenzierte Behandlung der Schuldproblematik durch die K P D in ihrem Aufruf vom 11. J u n i 1945, eingeschlossen das eigene Schuldbekenntnis, nicht mehr erwähnt wurde. Insofern kam den Überlegungen von Pfarrer Heinemann-Grüder wie den sensiblen Versöhnungsdiskussionen in den DDR-Kirchen in den siebziger Jahren Neuwert und eine eigenständige Bedeutung zu. Zweitens erfaßten die Mitglieder der Arbeitsgruppe P O L E N schrittweise auch die Tatsache, daß einseitiges, nationalistisches und fremdenfeindliches Denken keinen Bogen um die protestantischen Gemeinden der D D R machte. In einer Umfrage, die möglicherweise strengen soziologischen Kriterien nicht standzuhalten vermochte, die gleichwohl der Arbeitsgruppe aufschlußreiches Material vermittelte, fand Pfarrer Werner Lischke folgendes heraus: In einer Wertetabelle, in der Konfirmanden, Angehörige der Frauenhilfe und der Jungen Gemeinde andere Völker zu plazieren hatten, rangierten Österreicher, Schweizer, Holländer auf den vorderen Plätzen. Russen, Polen, Tschechen und Ungarn hingegen nahmen deutlich hintere Plätze ein. 4 0 Drittens konnte sich die Arbeitsgruppe bei der Fertigstellung der »Seminarmappe« (»Handreichung«) auf umfangreiche Erfahrungen inhaltlicher wie methodischer Art stützen, die vor allem mit dem Wirken von Christfried Berger (als Pfarrer in BerlinSchmöckwitz in den sechziger und siebziger Jahren) und Pfarrer Liedtke (in der Aktion Sühnezeichen) gesammelt worden waren. Berger hatte in Schmöckwitz bereits 1969 mit der Vorbereitung sogenannter Polen-Seminare in seiner Gemeinde begonnen. 4 1 Im Gefolge solcher Anstrengungen und auch der Erfahrungen der Aktion Sühnezeichen waren 1971 bis 1973 verschiedene Seminarpläne, Modelle, Rahmenkonzep-
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Versöhnungsarbeit mit Polen
tionen für die Bildungs- und Versöhnungsarbeit als Anregungen für die Gemeinden entstanden. Sie waren oft reich bestückt mit anregenden Fragen, die auf einen freimütigen, unverstellten Gedankenaustausch ausgerichtet waren. Dazu gehörten Fragen, wie »Was fallt Ihnen spontan und ohne langes Nachdenken ein, wenn Sie das Wort >Polen< hören?«; »Welche Eigenschaften sind Ihnen an den Polen sympathisch?«; »Auf welche Eigenschaften der Polen müssen Deutsche bei Begegnungen besonders Rücksicht nehmen?« Auf diese oder eine ähnliche Weise entstanden mehrere »Handreichungen für den innerkirchlichen Dienstgebrauch«, die für die Basisarbeit gedacht waren. Es waren dies vor allem die Information »Deutsche und Polen« (1972), herausgegeben von der Aktion Sühnezeichen; und die bereits erwähnte Arbeitshilfe »Deutsche und Polen. Verhängnis und Hoffnung einer Nachbarschaft« (1976), herausgegeben vom Ö M Z , Arbeitsgruppe P O L E N . In Korrespondenz damit entstanden auch Arbeiten mit ökumenischen Akzenten, so »Leben aus der Versöhnung« (1975) und die Handreichung »Partner Polen« (1975), herausgegeben von der Jugendkammer der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen und dem Jugendseelsorgeamt Magdeburg. Anregungen vermittelten die parallelen katholischen Arbeiten »Erneuerung und Versöhnung« (1974) und »Im Dienste der Versöhnung« (1973).
Erfahrungen
der Aktion
Sühnezeichen
genutzt
Die von der Aktion Sühnezeichen verantwortete Schrift »Deutsche und Polen« (1972) wollte einer relativ differenzierten Leserschicht in den Gemeinden einige Schwerpunkte aufzeigen, »die für den Prozeß einer Verständigung mit Polen« als wichtig erachtet wurden. In der Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen wurde jene Linie in den Vordergrund gestellt, die Polen als Objekt europäischer Machtpolitik zeichnete und die preußische Macht- und Germanisierungspolitik betonte. 4 2 In politisch-aktueller Hinsicht hob die Broschüre besonders das Jahr 1972 hervor. Es habe eine neue Situation für das deutsch-polnische Verhältnis geschaffen: den uneingeschränkten Reiseverkehr, die freien Grenzen. »Eine deutsch-polnische Beziehung an der Basis als Begegnung von Mensch zu Mensch ist in einem Maße in Gang gekommen, wie nie zuvor in der Geschichte.« In diese neue Phase ordnete der Verfasser auch den am 17.Mai 1972 vom Deutschen Bundestag ratifizierten Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen ein. Er würdigte ihn als Grundlage für eine friedliches Zusammenleben und für die Entwicklung normaler, guter Beziehungen. Selbstbewußt wurde das christliche Zeugnis betont, das mit dazu beigetragen habe, politisches Handeln zu ermöglichen.
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Vor dem aktuellen Hintergrund der Grenzöffnung enthielt die Schrift ein gedankliches Angebot zum Zusammenhang von Schulderkenntnis und Versöhnungsbereitschaft. Interessant war zweifellos jener Ansatz, der voraussetzte, daß junge Menschen natürlich nicht persönlich juristisch für die Verbrechen des Krieges verantwortlich sind. Indes: Junge Deutsche sollten »die Last geschichtlicher (Hervorhebung von R.R.) Schuldverstrickung, die Generationen miteinander verband und die Söhne die Schuld ihrer Väter sühnen heißt, bejahen und für sich übernehmen«. 4 3 Damit war für den Leser ein sehr weitreichendes und höchst anspruchsvolles Verständnis von historischer Verantwortung formuliert worden. Auf spontane und breite Akzeptanz durfte es auch im kirchlichen Raum nicht so ohne weiteres hoffen. Der Autor vermochte jedoch hier aus einer spezifischen Erfahrung zu schöpfen: der Arbeit von Jugendgruppen der Aktion Sühnezeichen in Polen, in Stätten des von Deutschen verantworteten Terrors. »Daß diese Jugend in kleinen Gruppen gerade die Stätten grausamster Verbrechen aufsuchte, um dort zu arbeiten und zu beten - durch Schweigen und nicht durch Lautstärke auffallend - das hat vielen Polen das Bild eines Deutschen vermittelt, das im Gegensatz steht zur Vorstellung bisheriger Erfahrungen...« 44 Das Verständnis von Schuld und Haftung wurde hier untrennbar verknüpft mit einer Absage an jedwede Form historischer Vergeßlichkeit und mit der Warnung, mögliche eigene Vergeßlichkeit auf den anderen zu projizieren. Dieses Warnen vor einem schnellen Ubergang zu einer anderen Tagesordnung untersetzte der Verfasser wiederum durch eine persönliche Beobachtung: die Teilnahme an einem Gottesdienst in einer polnischen Gemeinde, in der über eine halbe Stunde die Namen der 2 0 0 Opfer dieses Dorfes aus der Okkupationszeit vorgelesen wurden. Diese Geschichte - so ein zentraler Gedanke der Arbeit - trennt nicht, sondern verbindet vielmehr. Verständigung ist eine große und schwere Aufgabe. Jahrhunderte an Versäumnissen wie Belastungen können nicht durch einen neuen Vertrag und durch eine deutliche Reiseverbesserung unvermittelt eine neue Qualität erhalten. Generell aber wird auf diesem mühseligen Weg das Verständnis der Christen gefordert: »Sie glauben ja mit dem Blick auf das Kreuz, daß der Gemordete der Erlöser auch seiner Mörder ist.« 4 5 Weiterhin wurde dem Leser die Bedeutung polnischen Nationalbewußtseins und die nationale Bedeutung der Religion in Polen verdeutlicht. Religion wurde als Teil polnischer Identität verstanden. In der Verschiedenartigkeit der Situation wurde nicht nur Belastendes, sondern es wurden auch Chancen ausgemacht. Er wurde auf ein zukunftsreiches, fruchtbares Gespräch zwischen Christen beider Seiten orientiert, etwa über die Glaubensgestaltung von morgen. Dabei gälte es, religionskritische, emanzipatorische und reformatorische Tendenzen in Polen ebenso zu beachten wie es sich als Deutscher von selbst verbieten müsse, sich als wegweisender Reformator aufzuwerfen.
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Sich als Christ den neuen Herausforderungen zu stellen - dies war auch Anliegen der bereits erwähnten fast achtzigseitigen Schrift »Deutsche und Polen. Verhängnis und Hoffnung einer Nachbarschaft« (1976) der Arbeitsgruppe P O L E N des Ö M Z . Sie wollte die geistliche Besinnung und die aktive geistige Auseinandersetzung in den Gemeinden deutlich entwickeln helfen. Im Teil C (28 S.) der Broschüre wurden Sachinformationen geboten, die für die Behandlung der deutsch-polnischen Nachbarschaft benötigt wurden. Dazu gehörten ein kurzer geschichtlicher Überblick, Notizen zur polnischen Literaturgeschichte, eine Erörterung aus der Feder des Polen Jan Majdecki über die offene Grenze als Aufgabe für die Christen, der Appell des Ehrenkomitees für den Bau des Warschauer Kinderkrankenhauses, eine Betrachtung »Gott und die Kinder«, eine auf die Schrift von 1972 gestützte Ausführung über polnische Mentalität sowie Kartenskizzen. Im Teil B (36 S.) waren unterschiedlich verwendbare »Bausteine« zusammengefaßt: Materialien für einen historischen Gemeindeabend, eine methodische Aufbereitung zur polnischen Wirtschaft und Material zum Problem der Vorurteile. Teil A (14 S.) enthielt Modelle für Gottesdienste und Gemeindeabende und Wochenendseminare anderer Art. In ihm fand der Interessierte methodische Hilfen: Ablaufpläne, Paradigmen, Meditationen, Psalme, Episteln, Fürbittgebete, Reflexionen, Kollektenankündigungen, weitere Lieder sowie Angebote, Informationen aus anderen Teilen in die verschiedenartigen Veranstaltungen gezielt einzubauen. In inhaltlicher Hinsicht war folgendes auffällig: Die Handreichung enthielt einen kräftigen Aktualitätsbezug. Er äußerte sich nicht nur im erneuten, konzentrierten Vergegenwärtigen von Spezifika polnischer Lebensweise und Mentalität, sondern griff ein solch heißes Eisen wie die polnische Wirtschaft auf. Hier beeindruckte vor allem die Fähigkeit, auf beschränktem Räume historische Linien zu ziehen, Fakten in ansprechender Weise zu vermitteln: über Entwicklungsbedingungen der polnischen Landwirtschaft, zur bäuerlichen Lebensweise, zur europäischen Wanderbewegung polnischer Arbeiter, zur polnischen Schnittermentalität, zur ökonomischen und sozialen Struktur Polen nach 1918, zum - sehr hohen - Anteil ausländischen Kapitals an der polnischen Wirtschaft etwa im Jahre 1931. Um dies alles anschaulich und lesbar zu gestalten, bezogen die Autoren auch Zeugnisse aus der Literatur (z.B. Freytag, Bobrowski, Fallada) ein. Es wurden auch Fragen folgender Art an den Leser gestellt: »Die Jahre zwischen 1919 und 1939 hätten einen Neuanfang im deutsch-polnischen Verhältnis mit sich bringen können. An welchen - auch wirtschaftlichen - Belastungen krankte Ihrer Meinung nach dieser Neuansatz?« 4 6 Solche methodisch wertvollen Erkenntnisschritte, die übrigens im Gespräch auch die Möglichkeiten schufen, über den von der offiziellen Politik der U d S S R und der
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D D R tabuisierten geheimen Zusatzvertrag zum Deutsch-Sowjetischen-Vertrag von 1939 Meinungen und Informationen auszutauschen, wurden ergänzt durch eine Veranschaulichung der Schäden aus faschistischer Kriegs- und Okkupationspolitik. Einen besonderen Platz nahm dabei das Thema »(Polnische) Kinder im zweiten Weltkrieg« ein. Die entsprechenden Opfer wurden mit Bezug auf Matthäus 19, 1315, »als extrem schwere Last« der Geschichte empfunden. Nach Verweis z.B. auf Hunderte von erschossenen Kinder in Katowice am 4. September 1939 und der Opfer des faschistischen Euthanasie-Programms in Deutschland, etwa in Bernburg oder in Pirna-Sonnenstein, hieß es: »Rufen wir Gott um Erbarmen an, daß wir dieses Wissen ertragen können und so etwas nicht noch einmal erleben. Herr, erbarme Dich.« 4 7 Schließlich lieferte diese Arbeitshilfe eine gute Unterstützung für eine Auseinandersetzung mit historisch gewachsenen, also recht beharrungsstarken Vorurteilen. Dafür wurde ein Wochenendseminar empfohlen, welches mit der Einstiegsffage eröffnet werden konnte: »Welches dieser europäischen Völker (11 waren an der Tafel vorgegeben - R R ) ist Ihnen besonders sympathisch?« Der Gesprächsgang sollte dabei die historischen Wurzeln von Vorurteilen in ihrer Mischung von Halbwahrheit und Halblüge aufdecken. Zugleich sollte besonders unterschiedlichen Lebensweisen und -gewohnheiten nachgespürt werden. Interessant war die Orientierung: »Ziel der Gruppenarbeit sollte es sein, die polnische und die deutsche Mentalität als gleichwertige Lebensstile zu verdeutlichen, bei denen jeweils andere positive Eigenschaften besonders entwickelt wurden. Ein vergleichendes Werturteil ist daher nicht möglich.« 4 8 Die verschiedenartigen Materialien fanden in vielen kirchlichen Gemeinden eine gute Resonanz. Sie entsprachen ganz offensichtlich in ihrer Intention, ihrem inhaltlichen Niveau und in ihrem Aufbau den Interessen vieler Christen. Sie waren darauf bedacht, den einzelnen Christen stark zu machen gegen jedwede Anfechtung in Form von Nationalismus; sie wollte ihm Mut und Zuversicht vermitteln für Beharrrlichkeit auf dem langen Wege der Aussöhnung.
Diskussionen
über die
Geschichte
»Soll sich ... die Vergangenheit nicht immer wieder auf dem Wege in die Zukunft derart belastend an die Fersen heften, daß wir unfähig zum nächsten Schritt werden«, schrieb Dr. Heinz Blauert, Direktor des Ökumenisch-missionarischen Zentrums, im Jahre 1978, »so bedarf es darüber hinaus der redlichen Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit. Das gilt in hohem Maße für die deutsch-polnischen kirchlichen Beziehungen.« 4 9
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Auf Anregung von Prof. Dr. Woldemar Gastpary, dem Nestor der polnischen evangelischen Kirchenhistoriker, und auf Einladung des Arbeitskreises P O L E N des Ökumenisch-missionarischen Zentrums der E K U und der Herrenhuter Bruderunität begannen 1973 Vorarbeiten für Konsultationen zwischen Kirchenhistorikern der Volksrepublik Polen und der D D R . Über die moralische Dimension dieser Gespräche äußerte sich der Leiter dieses Arbeitskreises, Oberkonsistorialrat Christfried Berger: »Die Mitglieder des Arbeitskreises Polen betrachten diese Arbeit als einen Beitrag zur Konkretisierung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses und als eine der ganz wichtigen Voraussetzungen dafür, daß das ökumenische Gespräch und die ökumenische Zusammenarbeit zwischen den Kirchen der VR Polen und der D D R noch effektiver, eindringlicher und brüderlicher werden.« 5 0 In den Jahren 1975, 1976, 1977 in Ferch (Ferch I bis III genannt), 1978 in Gnadau, 1979 in Groß Bademeusel und 1981 wieder in Gnadau kam es zu Historikertreffen, auf denen folgende Themenkreise eine herausgehobene Rolle spielten: - das evangelische Polen in der Zwischenkriegszeit, - deutscher Protestantismus und Polen im 19. und 20. Jahrhundert, - der Toleranzgedanke in der polnischen Geschichte, - die deutsch-polnischen Kirchenbeziehungen in der Zwischenkriegszeit, - markante Kirchendaten, so die Lodzer Synode 1917, die internationale kirchliche Konferenz in Uppsala 1921 und der Kirchenvertrag von 1936 in Polen. Um die politische, theologische und historiographische Brisanz dieser Themen zu ermessen, müssen zumindest zwei Ebenen beachtet werden: Zum einen die schuldbeladene Verwobenheit der evangelischen Kirchen und der meisten Christen in Deutschland in die Politik des deutschen Faschismus, zum anderen Spezifika in den deutsch-polnischen kirchlichen Beziehungen zwischen 1918 und 1945. Nach 1918 gerieten die evangelischen Kirchen im damaligen Polen in schwere Differenzen wegen ihrer unterschiedlichen nationalen Bindungen. Während des Ersten Weltkrieges wurde die Evangelisch-Augsburgische Kirche faktisch in eine deutsche Kirche umfunktioniert. Zwischen der Synode in Lodz 1917 bis 1939 traten die tiefgreifenden Konflikte zwischen dem deutschen und dem polnischen Teil der Kirche scharf zutage. Ökumenische Vermittlungsversuche scheiterten. Generalsuperintendent Julius Bursche, eine der hervorragendsten Persönlichkeiten des polnischen Protestantismus, war nach 1918 besonders besorgt um die Sicherung der rechtlichen Stellung der evangelischen Kirche in Polen. Er gründete in einigen Wojewodschaften polnisch-evangelische Parallelgemeinden, obgleich dort schon deutsch-evangelische Gemeinden bestanden. Bursche geriet mit seiner Politik nicht nur in Widerspruch zu den römisch-katholischen Kreisen der polnischen Ge-
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sellschaft, die alle anderen Konfessionen zu bedeutungsschwachen religiösen Vereinen degradieren wollten, sondern auch zu Teilen des evangelischen Lagers. Neben dem von Bursche repräsentierten Protestantismus gab es zwei evangelische Kirchen mit einer lutherischen Mehrheit: die Unierte Evangelische Kirche in Polen unter Leitung von Generalsuperintendent Paul Blau in Posen sowie die Evangelische Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekentnisses in Polen mit Sitz in Stanislaus unter Leitung Theodor Zöcklers. Die von Blau vertretene Linie operierte stark unter deutsch-nationalem Vorzeichen, fühlte sich mit der preußischen Kirche verbunden, die sich wiederum stark als Staatskirche etabliert hatte. Die von Zöckler repräsentierte Kirche hatte keinen Zusammenhang mit der preußischen Kirche. Aber das Problem der deutschen Volkszugehörigkeit beschäftigte auch ihn. Bursche wurde im In- und im Ausland angefeindet, als am 25. November 1936 durch ein Dekret des Staatspräsidenten der Republik Polen das Verhältnis des polnischen Staates zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche geregelt wurde. Es galt dabei der Grundsatz der in der Staatsverfassung festgelegten Gleichberechtigung der Kirchen. Bischof Bursche wurde als Verräter des Protestantismus in Polen gebrandmarkt. Diese Propaganda wurde besonders von den nationalistischen Kreisen in Deutschland genährt. Nach der Besetzung Polens durch die deutschen Truppen wurde Bursche im Pfarrhaus in Lublin verhaftet, nach Deutschland verbracht und im KZ Oranienburg bis zu seinem Tod 1942 in Einzelhaft gehalten. 5 1 Vor diesem - hier nur skizzierten - historischen Hintergrund wird es verständlich, daß es 1974 in dem ersten Konzeptions-Entwurf der DDR-Theologen hieß: Das erste Treffen möge einen »Beitrag zum besseren gegenseitigen Verstehen leisten« und zugleich helfen, »die schweren Belastungen einer unseligen Vergangenheit hinsichtlich ihrer kirchlichen Tragweite und Auswirkungen zumindest erträglicher zu machen«. 5 2 Einen besonderen Akzent hatte die Aussprache von Anfang an dadurch, daß mit Professor Gastpary ein Anhänger Bursches anwesend war, daß sich aber unter den deutschen Teilnehmern Theologen befänden, die biographisch mit der Kirche unter Blaus Führung verbunden gewesen waren. Da diese Aktivitäten von vornherein in den Dienst der Versöhnung gestellt worden waren, müssen sie auch daran gemessen werden. Die erste Konsultation am 14. November 1973 in Ferch stand bei ihrer Eröffnung unter einer »inneren Spannung«. 5 3 Dabei dürfte auch die Tatsache ein eigenes Gewicht erlangt haben, daß mit Gastpary ein polnischer Wissenschaftler von Rang anwesend war, der von den deutschen Okkupanten verfolgt worden war. Er hatte sich widersetzt, evangelische kirchliche Arbeit in Polen mit der deutschen Nationalität zu identifizieren und hatte sich für die Einheit des Protestantismus in Polen engagiert. Wegen seines Widerstandes gegen den Mißbrauch der protestantischen
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Kirchen durch den Nazismus wurde er 1939 verhaftet und bis 1945 im Konzentrationslager Dachau eingekerkert. In den sechziger Jahren war er Rektor der Christlichen Theologischen Akademie in Warschau. 5 4 Nach den Beitragen von Prof. Woldemar Gastpary und Dr. Günther Ott entstand indes eine »geistlich-brüderliche«, eine außerordentlich gute Arbeitsatmosphäre, »in der sich alle Beteiligten verbunden wußten«. 5 5 Die Tatsache allein, daß die Gespräche eröffnet und über Jahre hinweg fortgeführt werden konnten, war ein weithin sichtbarer Erfolg. Die Treffen wurden dabei mit den deutsch-polnischen Jahrestagungen verbunden, so daß ein größerer Personenkreis in die historischen Debatten einbezogen werden konnte. In den deutschen Beiträgen wurde im Sinne des Stuttgarter Schuldbekenntnisses die schuldhafte Verstrickung in die Nazi-Politik akzentuiert. Das war für die Gesamtatmosphäre und für das historische Grundverständnis von großem Gewicht. Die politische, psychologische und moralische Schwere, die auf den Gesprächen lag, war den Teilnehmern voll bewußt. Die deutschen Theologen hatten bereits 1974 in einem Manuskript festgehalten: »Gerade deshalb ist es wichtig, daß das Gespräch in Gang kommt.« 5 6 Ein wesentliches Ergebnis der Treffen bestand in der Analyse der unter dem Stichwort »Vorurteile« gekennzeichneten besonderen Belastung der deutsch-polnischen kirchlichen Beziehungen. Um Helfer sein zu können für gute Nachbarschaft deutscher und polnischer Christen, so lautete eine gemeinsame Auffassung, müssen Vorurteile abgebaut und überwunden werden, und das heißt, es müssen Verhältnisse und Situationen erkundet werden, die zu solchen Vorurteilen führten und führen. Das wieder ist ohne historische Kenntnisse unmöglich. »Wir haben versucht«, so sagte 1996 Pfarrer Konrad Hüttel von Heidenfeld im Rückblick, »die polnische Geschichte zu verstehen. Dabei half uns die Hinwendung zur Toleranzproblematik in der polnischen Geschichte.« 5 7 D e m diente 1981 eine Begegnungstagung in Gnadau. Diese stand unter Leitung von Woldemar Gastpary und Pfarrer von Heidenfeld. In dem Bemühen, Besonderheiten polnischer Geschichte zu erfassen und für die Versöhnung zu nutzen, dies aber auch den Kirchengliedern faßbar zu machen, half spürbar die Darstellung »Geschichte der polnischen Toleranz« von Janusz Tazbir. Sein zentraler Gedanke gab hinreichend Stoff zum Nachdenken. Er lautete: Polen gewährt den Bürgern Gewissens- und Glaubensfreiheit. »Ähnliche Formulierungen finden wir in den Verfassungen vieler heutiger europäischer Staaten. Polen unterscheidet sich jedoch von den meisten dadurch, daß das Prinzip der religiösen Toleranz in den Grundgesetzen bereits im 16. Jahrhundert verankert wurde, zu einer Zeit also, als in anderen Staaten die religiösen Verfolgungen noch andauerten. Durch den 1573 beschlossenen Akt der Warschauer Konföderati-
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on gingen wir allen anderen Völkern Europas - außer dem ungarischen - im Kampf um die Glaubenstoleranz voran.« 5 8 Die Hinwendung zu den kirchlichen deutsch-polnischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit war auch für die ökumenische Verständigung zwischen den Kirchen der D D R und denen der VR Polen wesentlich: als Signal, als Beispiel, als Anstrengung. Ein Teil der Referate, die auf den Historikertreffen gehalten wurden, wurden publiziert und standen so für die interessierte Öffentlichkeit zur Verfügung. 5 9
Versöhnung konkret -
Hilfe für das staatliche Kinderkrankenhaus
in Warschau Versöhnung war in der Sicht der evangelischen Christen in der D D R stets auch eine höchst praktische Angelegenheit. Bischof Schönherr fragte: »Wie kann man Zorn, Scham, alten Hader und Haß besser verarbeiten, als daß man sie in Hoffnung und Taten der Hoffnung umsetzt?« 6 0 Auf seine Initiative ging die Beteiligung des B E K an der internationalen Unterstützungsaktion für den Aufbau des Kinderkrankenhauses, einer weltlichen Einrichtung, in Wärschau zurück. Es wurde als Denkmal für die von den Nazis verschleppten und ermordeten Kinder konzipiert. Die Unterstützungsaktion wurde vom B E K unter die Versöhnungsbotschaft gestellt und zu Ostern 1976 verkündet. Im Unterschied zu anderen finanziellen Hilfsaktionen für Notleidende, die aus zentralen Fonds gedeckt wurden, vollzog sich hier in den Gemeinden eine beispielhafte Basisarbeit, wobei sich die geistliche Annäherung an die Versöhnung mit historisch-politischer Auseinandersetzung und mit einer ausgedehnten Geldsammlung verband. In den evangelischen Gemeinden erfolgte eine höchst aktive Reaktion auf den Vorschlag des Bischofs. Die erste quellenmäßig gesicherte Erwähnung einer Reaktion dürfte der im Evangelischen Zentralarchiv aufbewahrte Brief des Stadtjugendpfarrers Joachim Rißmann aus Berlin sein. 6 1 Erwachsene und Kinder aus den Gemeinden, Pfarrer, ganze Gemeinden, Familien meldeten sich mit Spenden - von einer Mark angefangen. Nur zwei Beispiele: Alfred Meyer aus Neuwersdorf schrieb an die Steuerungsgruppe, daß er als Schwerkriegsbeschädigter die Leiden des Krieges kenne, und 10 Mark spenden wolle. Er schloß seinen Brief: »Hilfe ist stets vonnöten. Gott befohlen!« 6 2 Pfarrer Heyroth aus Halle-Neustadt berichtete, daß viel Bereitschaft vorhanden sei, »ein Stück deutscher Vergangenheit, das Tun unserer Eltern und Großeltern aufzuarbeiten.« 6 3 Eine bemerkenswerte Bereicherung erhielt das Unternehmen durch die künstlerische Mitwirkung des Fürstenwalder Künstlers Friedrich Stachat. Er gestaltete ohne
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Honorar zwei Krankenhaushöfe als therapeutische Fläche und als Bühnen für freies und gelenktes Spiel, besonders auch für behinderte Kinder. Dabei verwandte er Motive aus Korczaks König-Hänschen-Büchern. 6 4 Indes: Die Medien der D D R schwiegen diese Aktion tot. Oder sie berichteten mit Ausnahme der CDU-Zeitung »Neue Zeit« - ohne Bezug zur Kirche. Bereits in der Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen war den Kirchenvertretern eine die Aktion stark herabmindernde Position aufgefallen. Die Kirche hatte vorher nicht um Zustimmung gebeten und war zudem durch ihre von der Staatsposition abweichenden Haltung in Sachen Israel außenpolitisch negativ aufgefallen. Darüber hinaus befürchtete wohl die Propaganda der S E D einen allgemeinen Popularitätsgewinn der evangelischen Kirchen, die mit diesem Engagement nicht zuletzt auch Zeugnis von ihrem Selbstbewußtsein, ihrem Geschichtsverständnis und ihrer sozialethischen Praxis ablegte. Schließlich - vielleicht war dies gar der Hauptgrund - wurde ein kontinuierlicher Kontakt von christlichen Jugendgruppen - über Arbeitseinsätze mit oppositionellen Jugendlichen aus Polen und auch aus der Bundesrepublik befürchtet. Der Staat half jedoch mit seinen ökonomischen Möglichkeiten und vor allem auch in der Person des Ministers für Leichtindustrie, Dr. Karl Bettin, bei der Beschaffung der Sachspenden. Innerhalb eines Dreivierteljahres waren in den Kirchen 568.898,95 Mark gespendet worden. Auch die Freikirchen und die Quäker beteiligten sich mit eigenständigen Spenden. Später wuchs die Summe insgesamt auf 1,5 Millionen Mark. Das Geld wurde vor allem für Tische, Sessel, Liegen, Bettbezüge, Decken, Strampelhosen und Jüpchen verwendet. Später - die Aktion wurde über den geplanten Zeitpunkt hinweg fortgesetzt - kamen optische Instrumente und Geräte, Handwerksmaschinen und auch Therapiestühle hinzu. In der Gegenwart ist die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland e.V. mit der Unterstützung des Warschauer Kinderkrankenhaus befaßt.
Die
Versöhnungsarbeit als Erbe
Die Anstrengungen der evangelischen Kirchen in der D D R legen Zeugnis von christlicher Konsequenz, ausgeprägtem Geschichtsbewußtsein, moralischer Verantwortung und von Haftungsbereitschaft ab. Die evangelische Kirchen in der D D R haben sich um die Versöhnung mit Polen verdient gemacht. Sie gewannen dabei an innerer Kraft, verbanden sich auch enger mit dem europäischen Christentum, sie stärkten ihre Glieder in Sachen historischer Verantwortung und bewußt gelebter Nachbarschaft. Sie legten Friedensbausteine, und sie stellten sich der Trauerarbeit. Auch das
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gehört, was Präses Schmude so schwer begreifen wollte, zu ihrem geschichtlichen Weg. Die Versöhnungsarbeit des B E K in der D D R gehört zum kirchlichen Erbe. In seiner moralischen Dimension, seinen Fragestellungen und in seinen Antworten reicht diese christlich motivierte Auseinandersetzung mit der Geschichte indes weit über den kirchlichen Raum und über den einzelnen Christen hinaus in den Alltag auch dieser Gesellschaft. Die Bedeutung dieses Erbes tritt schärfer hervor, wenn das denunziatorische Wort v o m »Vaterlandsverräter« gegenüber dem um Versöhnung bemühten Bundespräsidenten Herzog und die dahinter stehenden rechtsextremen Denk- und Einstellungsmuster beachtet werden 6 5 ; wenn nüchtern an jene ca. dreizehn Prozent der Bevölkerung gedacht wird, die 1981 in der Bundesrepublik Deutschland über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügten 6 6 , wenn organisierte Rechtsextreme das politische Klima und das politische Kräfteverhältnis in Staat und Gesellschaft verändern wollen. Hier geht es nicht um Versöhnung, sondern hier ist die Präsentation einer handlungsfähigen demokratischen Gegenposition gefordert. 6 7 Zugleich ist auf jene Tendenz außerhalb der extremen Rechten zu verweisen, die eine Art Schlußstrich unter der Auschwitz-Geschichte anstreben. Weitere Themen und Fragestellungen harren einer Beantwortung. Dazu gehören die Geschichte der Aktion Sühnezeichen. 6 8 Fühlbar sind auch Forschungsdefizite über die Geschichte der evangelischen Kirchen und deren Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in den Phasen zwischen 1945 und 1969. 6 9 Was geschah in den Kirchen real an Entnazifizierung nach dem Stuttgarter Schuldbekenntnis? Es ist zu erwarten, daß aus neuen Forschungen zu diesen Fragen auch genauere Sichten auf die Versöhnungsanstrengungen entstehen werden. Objektiv gehören die christlichen Versöhnungsbemühungen zum antifaschistischen Erbe. In der D D R konnte dieser eigenständige und unverwechselbare Beitrag der evangelischen Kirchen und Christen nicht in der gesamten Gesellschaft bekannt, diskutiert und aufgenommen werden. Das politische System hatte dafür keine ausreichende Gesprächs- und Umgangskultur bereitgestellt. Es gehört zu den tragischen Seiten in der Geschichte des deutschen Antifaschismus, daß er offensichtlich von den Anfängen bis zur Gegenwart in sich parzelliert und segmentiert wirkt und daß in ihm oft sektiererisch und egozentrisch gehandelt wird, auch indem Beiträge »von dem Anderen« entschieden zu wenig ernst genommen wurden. Die wertvolle Chance, den Reichtum des Besonderen - hier der theologische Zugang zum Thema zum Nutzen der Gesellschaft erschließen, wurde vertan.
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Aufgaben
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für die Forschung
In der Gegenwart indes besteht die Gefahr, daß durch politische Einseitigkeit und fundamentalistisch-konservativen Zeitgeist ein völlig verzerrtes Bild - erstens - vom Weg der evangelischen Kirchen in der D D R und ihren Gliedern, die nach der Wende 1989/90 kein Schuldbekenntnis 7 0 abgegeben haben, vermittelt wird. Und zweitens: Es sollen diejenigen aus kirchlichen Kreisen und von den linken Wissenschaftlern verteufelt werden, die im kritischen und selbstkritischen Dialog eine Chance für kulturvolle gesellschaftliche Gedächtnisbewahrung und Geschichtsbetrachtung erblicken. Wir begegnen hier einem Grundanliegen dieser Richtung konservativer Forschung der Gegenwart: die Chance der Stunde zu nutzen, um ihre Positionen als die einzig wahren anzubieten und Landgewinn zu erzielen, indem die linken (einschließlich marxistischen) Forscher in ihrer Dialogkraft handlungsunfähig gemacht werden und gar als kriminell oder unmoralisch hingestellt werden. Gerhard Besier wird von der Sorge geplagt, daß in der öffentlichen Meinung eine »Umwertung des unmittelbaren Erschreckens über die SED-Diktatur« einsetzt und »auf die Zielgerade der >Normalisierungs-Strecke< zurückgekehrt wird.« 7 1 Die linksorientierten Forscher, die sich auch an der Aufarbeitung des Stalinismus mühen und an einer solchen Art von Normalisierung gar nicht interessiert sind, sollten sich davon nicht beirren lassen. Gerhard Besier befürchtet offensichtlich einen Erkenntiszuwachs, ja wohl auch einen Energiezufluß und die Etablierung einer möglicherweise völlig neuen Forschungs- und Diskussionskultur in Deutschland zwischen linken und anderen Vertretern, zum Beispiel einigen Repräsentanten der evangelischen Kirchen. Mehr noch. Bei ihm tritt eine Form des »totalitären Antikommunismus« auf: »eine fugenlose, abgekapselte, keine Relationen akzeptierende Weltanschauung, die ... die deutsche Art des gegenwärtig weltweiten Fundamentalismus ist.« 7 2 Eine normale Diskussion zwischen linken (einschließlich marxistischen) Forschern und anderen (natürlich bis ins konservative Lager) wäre ein fühlbarer Beitrag zur Bindung Deutschlands an die westeuropäische Zivilisation. Zu den größten Fehlern der Geschichtswissenschaft und der gesellschaftlichen und staatlichen Geschichtsvermittlung in der D D R dürfte zu rechnen sein, daß das Geschichtsdenken christlicher und anderer religiöser Bürgerinnen und Bürger gar nicht wahrgenommen, problematisiert und akzeptiert worden ist. Dabei gab es zeitweise gute Ansätze. Es gehört zweifellos zu der Verdiensten von D D R - Historikern, relativ früh - zehn Jahre vor Helsinki- auf dem Internationalen Historikerkongreß in Wien 1965 für Zusammenarbeit, sachlichen Meinungsstreit (z.B. auf dem Felde der Geschichtstheorie), Meinungsaustausch (z.B. über die Spezifik historischer Erkenntnis, über die Geschichte der Geschichtswissenschaft), für die Gleichberechtigung
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unterschiedlicher Standpunkte plädiert und sich gegen Gedankengut des kalten Krieges gewendet zu haben. 7 3 Diese wichtigen Ansätze wurden nicht für den Gebrauch nach innen, für das wissenschaftliche pluralistische Gespräch innerhalb der D D R nutzbar gemacht. Pfarrer Klaus Roeber, einst in der Evangelischen Kirche in der D D R aktiv in der Versöhnungsarbeit mit Polen engagiert, schrieb 1996 rückblickend: »Es war doch eher so, daß unser religiös-kirchlicher Ansatz zur Geschichtsbetrachtung nicht akzeptiert wurde«, sondern wohl eher als »mystifizierende Geschichtsbetrachtung« bezeichnet wurde: »Wir hatten dem marxistisch-leninistischen Geschichtsverständnis und Werten nicht nur etwas entgegenzusetzen, sondern auch hinzuzufügen.« 7 4 Es gehört zu den tragischen Seiten auch in der Entwicklung der marxistischen Geschichtswissenschaft in der D D R derartige Möglichkeiten ungenutzt gelassen zu haben. Die Folgen waren verhängnisvoll. Gegen das Vergessen, namentlich des eigenen Versagens, sollte die linksorientierte Geschichtsschreibung immer wieder - ungeachtet Besiers Position - bewußt, freimütig und mit Anstand antreten. Am Ausgang des 20. Jahrhunderts gehört in der deutschen Historiographie und in der Öffentlichkeit in verstärktem Maße die Frage, wie mit der Geschichte der NSZeit umgegangen werden wird. Die Nazizeit bleibt eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Die Erforschung der zweiten Ebene, d.h. die Erforschung des Umgangs mit und der Rezeption von Geschichte in einer sich verändernden Geschichtskultur, sich wandelnden Geschichtsbildern und neuen Zugängen zum gesellschaftlichen Gedächtnis, wird zunehmend zu einem eigenständigen Arbeits- und Forschungsfeld, gewinnt einen eigenen wissenschaftlichen Platz, ein kulturelles Profil und eine nachhaltige Ausstrahlungskraft. 7 5 Es tritt ein in der Wissenschaftsgeschichte wohl oft beobachtete Erscheinung auf: der Gegenstand der forscherischen Bemühungen verändert sich (d.h. der deutsche Faschismus, mit dem sich die Forschung am Ende der neunziger Jahre befaßt, ist nicht mehr nur der der fünfziger Jahre, weil das Wissen über ihn bedeutend gewachsen ist). Zugleich aber wandeln sich die Konstellationen für den Forschenden und Den-sich-Erinnernden: die objektiven Umstände der Zeit, in der er sich bewegt und in der er seine Fragen stellt, verändern sich (oder haben sich verändert) und seine individuelle Situation hat sich gewandelt (in bezug auf Lebens- und Forschungserfahrungen, Lebensumstände, Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten, finanzielle und technische Arbeitskonditionen u.a.). Vor diesem Hintergrund bleibt die Erforschung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit eine eigene Aufgabe, eine Pflicht und eine wissenschaftliche Herausforderung an die Historiographie und an das Geschichtsdenken. Die Anstrengungen der evangelischen Christen in der D D R gehören dazu.
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A nmerkungen 1 Gerhard Besier: Der SED-Staat und die Kirche, Bd. I. Der Weg in die Anpassung, München 1993, S. 10. 2 Der Judenmord war das Kernereignis des Jahrhunderts. Interview mit Prof. Dr. Ulrich Herbert: In: Die Welt, 16.3.1998, S. 9. 3 Norbert Frei: Erinnerungskampf. In: Damals, Heft 7/94, S.20 f. 4 Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift, Hannover 1965. 5 Jürgen Schmude: 30 Jahre Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. In: epd-Dokumentationsdienst, Nr. 52/95, S. 11. 6 Als eine Ausnahme kann angesehen werden der Band: Bündnispolitik im Sozialismus, hrsg,. von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der S E D , Institut für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Red.: Heinz Hümmler, Rolf Leonhardt, Rolf Stöckigt, Berlin 1981, S.249-256. 7 Michael Stürmer: Geschichte in geschichtslosem Land. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.4.1986. 8 Die Stuttgarter Erklärung vom 19.10.1945. In: Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus, hrsg. von Karl Kupisch, München - Hamburg 1965, S. 309. 9 Vgl. die Dokumentation »Europäische Sicherheit/Oder-Neiße-Grenze/Die Deutsche Frage«, erarbeitet von der Studiengruppe für Internationale Fragen der Christlichen Friedenskonferenz in der D D R - Arbeitsgruppe Berlin, o.J., S. 78 ff. 10 Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn, a.a.O. 11 Manfred Stolpe: In der Verantwortung für die Zukunft Europas - 30 Jahre Ostdenkschrift: In: epd-Dokumentationsdienst, Nr. 52/95, 11. Dezember 1995, S.4. 12 Vgl. z.B. Evangelische Selbsthilfe. Tagungsbericht, o . O , o.J. (Dresden 1964/65). 13 Zur Frage der Oder-Neiße-Grenze. In: Dokumentation »Europäische Sicherheit...«, a.a.O., S. 52 ff: 14 Kirchliches Jahrbuch 1970, Gütersloh 1971, S. 301. 15 Kirchliches Jahrbuch 1971, Gütersloh 1972, S. 254. 16 Grundprobleme der ökumenischen Arbeit des Bundes und seiner Gliedkirchen (1978). In: Kirche als Lerngemeinschaft, Berlin 1981, S. 63. 17 Albrecht Schönherr: Die Rezeption des Darmstädter Wortes in den Kirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der D D R In: Schriftenreihe des Instituts für Staat-KircheForschung, Berlin 1997, Heft 4, S. 40. 18 Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes (Darmstadt 1947). I: Schriftenreihe des Instituts für vergleichende Staat-KircheForschung, a.a.O., S. 5. 19 Wolfgang Huber / Hans-Richard Reuter: Friedensethik, Stuttgart-Berlin-Köln 1990, S. 224. Die folgenden Ausführungen fußen vor allem auf dieser Arbeit. 20 Ebenda, S. 227. 21 Günter Krusche: Schuld und Vergebung - eine theologische Grundlegung: In: Versöhnung - Aktuelle Aspekte eines biblischen Themas, Berlin-Altenburg 1990, S. 19 und 21. 22 Zum Konfliktreichtum des Problems siehe: ebenda; Grenzen der Versöhnung. Handreichung zur Friedensdekade, Göttingen 1995.
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Neuerdings gibt es Anstrengungen zur Aufarbeitung. Siehe Heinz Engelstädter: Schuld und Versöhnung, eine Anfrage an Christen und Marxisten mit Blick auf eine gemeinsame Zukunft. In: Berliner Dialog-Hefte, Heft 1/1995, S. 15-22.
24
Pfarrer Christfried Berger am 17.12.1997 im Gespräch mit Rolf Richter. Die Gesprächsnotiz liegt im Privatarchiv Richter vor (Mappe »Versöhnung: B E K und Polen. 70er Jahre«).
25
Bemerkungen aus der Delegation. In: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 101/ 1405. Gemeint war der am 7.12.1970 in Warschau unterzeichnete »Vertrag über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland«.
26 Auszug aus dem Protokoll der 7. Tagung der KK des Bundes vom 13.1.1972 bis 14.1.1972: In: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 101/1404. 27
Die Kirche, Nr.3/1972.
28
Die Leistung von Albrecht Schönherr wurde vom Vf. in einem Abendvortrag anläßlich des 85. Geburtstages des Altbischofs in Berlin gewürdigt.- Siehe: Berliner Dialog-Hefte, 8. Jg., Heft 1/1997, S. 47-56.
29 Albrecht Schönherr: Predigt in der Tinitatiskirche in Warschau, 21.11.1971. In: Privatarchiv Richter ( M a p p e » B E K und Polen«), 30 Manfred Hellmann: Daten der polnischen Geschichte, München 1985, S. 240. 31 Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 101/1383. 32
Berichte über Buckow 1972. In: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 101/1405; Berliner Missionswerk, Archiv, Bestand Ö M Z I, Polen (Protokolle 1970-1985/Informationen 1971-1985).
33
Bericht über Studienfahrt des Predigerseminars. In: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 101 / 1405.
34 Siehe: Polnische Kirchen im Überblick. In: Deutsche und Polen, o.O., o.J. (Berlin 1972), S. 24 f.; Jan Niewieczerzal: Polnische Ö k u m e n e zwischen sozialistisch regiertem Staat und katholisch geprägtem Volk. In: Zeichen der Zeit, Heft 12/1972, S. 430 ff.; Karol Karski: Polnische Kirchen im Überblick. In: ebenda, S.446-449; Zdzislaw Pawlik: Der Polnische Ökumenische Rat. In: ebenda, S.449 ff; Andrzej Wojtowicz: Ö k u m e n e in Polen. In: ebenda, S.451 - 454; Woldemar Gastpary: Die christliche theologische Akademie in Warszawa. In: ebenda, S. 454 f. 35
Lorenz Schreiner: Der polnische Protestantismus, in: Leben aus der Versöhnung, o.O., o.J. (Berlin 1975), S. 66.
36 So Ludwig Mehlhorn in der Diskussion des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung Berlin am 26.9.1996. 37
Berliner Missionswerk (BMW), Archiv, Ö M Z , AK Polen, Akte Protokolle 1970-1991; Arbeitsmaterial 1970-1989.
38 Zur Auseinandersetzung des Vf mit diesem Thema vgl. Rolf Richter: Antifaschismus als Tradition und als Aufgabe. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), 3/ 1989; ders.: Antifaschismus vor neuen Herausforderungen. In: BzG, H. 6/1990; ders.: Über Geschichte und Gegenwärtiges des Antifaschismus aus ostdeutscher Sicht. In: In der Diskussion Neofaschismus, Bonn 1991; ders.: Antifaschismus - kritisch befragen. In: Ideen, Frankfurt a.M., H. 7/1992; ders.: Antifaschismus als Erfahrungsgeschichte. In: 1933-1993, Jena 1993; ders.: Über das Uneingelöste im Antifaschismus der deutschen kommunistischen Bewegung. In: Gibt es erledigte Fragen an die Geschichte?, Berlin 1996, S. 58-64.
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39 Geschichte der S E D . Abriß, Berlin 1978, S. 76 ff. 40 Berliner Missionswerk (BMW), Archiv, Ö M Z , I, Polen, Akte Protokolle (1970-1985); Informationen 1971-1985. 41
Polen-Programm Gemeinde Schmöckwitz, in: BMW, Archiv, AK Polen, Akte Protokolle 1970-1991; Arbeitsmaterial 1970-1989.
42
Deutsche und Polen, Ms.-Druck,o.O.,o.J., S. 13 f.
43 Ebenda, S. 9. 44
Ebenda.
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Ebenda, S. 10 f.
46
Deutsche und Polen. Verhängnis und Hoffnung einer Nachbarschaft. Eine Arbeitshilfe des Ökumenisch-missionarischen Zentrums, 1. Auflage, Berlin 1976, S. B 27. - Als Autoren fungierten unter Christfried Bergers Leitung Erich Busse, Martin Gregor, Gerda Hildebrand, Heinz Lischke, Günther Ott, Rudolf Otto, Hans-Peter Peter, Ute Poerschke, Lorenz Schreiner und Ernst Waltsgott.
47
Ebenda, S. A 2.
48
Ebenda, S. A 11.
49 Zeichen der Zeit, Heft 2-3/1978, S. 41. 50
Ebenda.
51 Woldemar Gastparay: Biskup Bursche i Sprawa Polska, Warszawa 1972, S. 127 - 130; deutsch: ders.: Bischof Bursche und die polnische Sache, Berlin 1979, S. 130ff.; ders.: Das internationale Engagement der evanglischen Polen in der Zwischenkriegszeit. In: Zeichen der Zeit, Heft 2-3/1978; S. 4 1 4 5 ; Gert Haendler: Das Luthertum in Polen 1918-1923. In: Ebenda, S. 51-57. 52 So zitiert im »Memorandum. Stand und Aufgaben der Konsultationen des Arbeitskreises P O L E N des Ökumenisch-missionarischen Zentrums mit Kirchenhistorikern und Theologen aus der VR Polen und der D D R « : In: Archiv des BMW, Akte Historikertreffen. 53 Ebenda, S. 3. 54 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Bereich Wissenschaftlicher Rat, Akte Ehrenpromotion Adolf Woldemar Gastpary, 4.1.1979; Zum 70. Geburtstag von Professor Dr. Woldemar Gastpary. In: Zeichen der Zeit, Heft 7-8/1978, S. 308. 55 Memorandum, a.a.O., S. 3. 56 Memorandum, a.a.O., S. 1. 57 Gespräch mit Pfarrer Konrad Hüttel von Heidenfeld (Berlin-Buch) am 6.2.1996. Gesprächsnotiz in: Privatarchiv Richter, M a p p e »Versöhnung: B E K und Polen. 70er Jahre«. 58 Janusz Tazbir: Geschichte der polnischen Toleranz, Warszawa 1977, S. 197. 59 Neben den in Fußnote 51 genannten Beiträgen handelt es sich um folgende: Bernt Satlow: Die deutsch-polnischen Kirchenbeziehungen 1919-1932 im Spiegel der »Christlichen Welt«; Karol Karski: Zur Vorgeschichte von Uppsala 1921; Ernst Wilsgott: Die internationale kirchliche Konferenz von Uppsala und ihre Vorgeschichte im Spiegel der »Evangelischen Diaspora«; Bernt Satlow: Die Konferenz von Uppsala in der Berichterstattung des »Kirchlichen Jahrbuchs«; Günther Ott: Staat und Kirche, Nation und Konfession in den Verhandlungen der unierten evangelischen Kirche in Polen 1927- Alle veröffentlicht in: Zeichen der Zeit, Heft 2-3/1978. 60 Zit: nach: Versöhnung konkret, Berlin 1978, S. 2. 61 Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Bestand 101/1066.
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Ebenda, Bestand 101/1067.
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Ebenda, Bestand 101/1072; Protokoll eines Gesprächs mit Herrn Friedrich Stachat am 2.4.1996. In: Archiv des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung Berlin, Akte »Versöhnung: B E K und Polen. 70er Jahre«.
65 Neues Deutschland, 9.9.1996. 66
5 Millionen Deutscher: »Wir sollten wieder einen Führer haben ...! Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 8.
67 Verfassungsschutzbericht 1997, Bonn 1998; Bernd Wagner: Rechtsextremismus und kulturelle Subversion in den neuen Ländern, Berlin 1998; Norbert Madloch: »Superwahljahr 1994«, Berlin 1995; Handbuch Rechtsextremismus, hrsg. von Bernd Wagner, Reinbek bei Hamburg 1994; Richard Stöss: Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, Bonn 1999. 68 Verwiesen sei hier auf die Arbeit von Konrad Weiss: Lothar Kreyssig - Prophet der Versöhnung, Gerlingen 1998. 69 Jürgen Seidel: »Neubeginn« in der Kirche? Die evangelischen Landes- und Provizialkirchen in der S B Z / D D R im gesellschaftspolitischen Kontext der Nachkriegszeit (1945-1953), Göttingen 1989. 70 N A C H - D E N K E N . Zum Weg des Bundes der Evangelischen Kirchen in der D D R Im Auftrag des Kirchenamtes der E K D für die Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der Vergangenheit, hrsg. von Ulrich Schröter und Helmut Zeddies, Hannover 1995. 71 Gerhard Besier: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993, S. 10. 72 Günter Gaus: Aberglaube: In: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Berlin, 5.3.1990, S. 1. 73 Gerhard Lozek: Über die Strukturelemente des Geschichtsdenkens und die internationale Zusammenarbeit der Historiker. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 1/1966, S. 100-103. 74 Klaus Roeber: Anmerkungen zu Rolf Richter: »Zwischen Verhängnis und Hoffnung.« Der Bund der Evangelischen Kirchen in der D D R auf dem Weg der Aussöhnung mit Polen (1969-1979/80), unveröff. Ms., Hamburg, 15.04.1996: In: Privatarchiv Richter, M a p p e » B E K und Versöhnung«. 75 Nur als eine Auswahl: Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München-Wien 1999; Jeffrey Herf: Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Frankfurt am Main 1998; Rolf Richter: Über das Uneingelöste im Antifaschismus der deutschen kommunistischen Bewegung. In: Gibt es erledigte Fragen an die Geschichte? Beiträge eins wissenschaftlichen Kolloquiums aus Anlaß des 65. Geburtstages von Wilter Schmidt am 1. Juli 1995 in Berlin, hrsg. von Wolfgang Küttler und Helmut Meier, Berlin 1996, S. 58-64; Schwieriges Erbe, hrsg. von Werner Bergmann u.a., Frankfurt am Main 1995; Klaus Naumann: Zwischen Tabu und Skandal. Zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. In: NS-Vergangenheit, Antisemitismus und Nationalismus in Deutschland, hrsg. von Christoph Butterwegge, Baden-Baden 1997, S. 3 9 4 9 ; Edgar Wolf rum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg der bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999.
Teil IV Lebenswege und Spurensuche
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Keßler
Vom KPD-Apparat zum stillen Weggang aus der DDR Der Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Josef Winternitz (1896 - 1952)
Es war ungewöhnlich, im »Neuen Deutschland« den Nachruf über einen Mann zu lesen, dessen Rückkehr nach Ostdeutschland schließlich ein erneuter - endgültiger Weggang gefolgt war. Am 26. März 1952 berichtete das SED-Zentralorgan über den plötzlichen Tod von Genossen Dr. Josef Winternitz, der ihn im Alter von nur 56 Jahren in England ereilt hatte. »Mit seinem Tod verlieren wir einen Genossen, der vor allen Dingen durch seine wissenschaftliche und propagandistische Tätigkeit über die Grenzen unsere Partei, vor allem in den kommunistischen Parteien der Tschechoslowakei und Englands, bekannt war.« Nach einer recht ausführlichen Darstellung des Lebensweges von Winternitz hieß es jedoch: »Seine Herkunft mag mit von Einfluß gewesen sein, daß er trotz seiner hervorragenden Kenntnisse der Theorie des Marxismus-Leninismus sich von gewissen Schwankungen nicht ganz frei machen konnte. Das hat ihm manchmal den richtigen Entschluß erschwert und ihn nicht immer die entschieden klare Stellung finden lassen. Trotz dieser persönlichen Schwächen war er ein treuer, aufrechter Kampfgefährte der Partei der Arbeiterklasse und ein aufrichtiger Freund der Sowjetunion.« Die Partei betrauere mit Winternitz einen treuen und ergebenen Mitstreiter. »Wir werden ihm ein bleibendes Andenken bewahren«, hieß es abschließend. 1 Zumindest die letztgenannte Versicherung blieb ein bloßes Versprechen. Denn weder in der sehr detaillierten achtbändigen »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« aus dem Jahre 1966, noch in dem vier Jahre darauf erschienenen »Biographischen Lexikon zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« findet sich auch nur der geringste Hinweis auf den Historiker, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker. Warum dies so war, wird durch das Studium von Leben und Werk des Josef Winternitz deutlich.
J o s e f Winternitz wurde am 18. Februar 1896 in Oxford geboren. Dort arbeitete sein
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Vater Moritz Winternitz, ein bekannter Indologe, mehrere Jahre als Professor. Durch die Lehr- und Forschungstätigkeit des Wissenschaftlers, die ihn an zahlreiche Universitäten führte, hatten Josefs Geschwister die unterschiedlichsten Geburtsorte: Sein Bruder Arthur wurde 1892 in Oxford geboren, seine Schwester Ida 1895 in Chicago, sein Bruder Georg 1898 in Prag, schließlich das jüngste Kind, Max, 1900 in Aussig. Moritz Winternitz und seine Frau Franziska geb. Reich kamen aus dem deutschsprachigen jüdischen Bürgertum der tschechischen Länder. Durch seinen Geburtsort war und blieb J o s e f Winternitz jedoch britischer Staatsbürger; ein Umstand, der ihm später nützlich sein sollte. Winternitz besaß auch die österreichische und zwischen 1918 und 1938 die Staatsbürgerschaft der C S R Er wuchs dreisprachig auf und lernte außerdem Französisch und Russisch. 2 Winternitz besuchte von 1902 bis 1906 die deutsche Volksschule in Prag, daran anschließend das Gymnasium in Prag-Smichov, das er 1914 mit Auszeichnung absolvierte. Zwischen 1914 und 1920 studierte er an der Deutschen Universität in Prag. »Als ich nach zwei Jahren Universitätsstudium (1914-16) und zwei Jahren Dienst in der österreichischen Armee (1916-18) nach Prag zurückkehrte, hatte ich aus dem Kriegserlebnis genug gelernt, um mich der Arbeiterbewegung anzuschließen«, schrieb Winternitz im Juni 1949.3 Er trat 1918 der Sozialdemokratischen Partei bei und war 1920 Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. »Neben meinem Universitätsstudium in Philosophie, Physik und Mathematik widmete ich mich intensiv dem Studium der Theorie des Marxismus-Leninismus, habe immer mit meiner wissenschaftlichen Arbeit publizistische und Lehr- und Propagandaarbeit in der Arbeiterbewegung verbunden.« 4 Winternitz promovierte 1920 in Prag über »Kausalität, Relativität und Stetigkeit« und veröffentlichte zwei Jahre darauf eine Zusammenfassung der Dissertation in den »Kantstudien«. Nach der Promotion setzte er seine Studien in Berlin, Kiel und Frankfurt a.M. fort. 1923 erschien bei Teubner in Leipzig sein Buch über »Relativitätstheorie und Erkenntnislehre«. 5 Aber spätestens mit dem Auseinanderbrechen der Donaumonarchie Ende 1918 wurde Winternitz vor allem zum politischen Aktivisten und zum Parteiintellektuellen. In einer neuen Arbeit heißt es: »Im gleichen Maße, wie sich die tschechoslowakische Sozialdemokratie in der Zeit des Weltkriegs mit der nationalen Stimmung der Tschechen identifizierte, fühlten sich die Juden in ihren Assimilierungsbestrebungen erneut im Stich gelassen. So zog es manchen Sozialdemokraten jüdischer Abstammung zum >internationalen< Parteiflügel, wo die Kritik am Nationalismus... und die Ideen einer orthodox internationalen Arbeiterpartei lebendig geblieben waren.« 6 Ein wichtiges Entstehungszentren der kommunistischen Partei war das Marxisticke sdruzeni (Marxistische Vereinigung), das 1919 aus der linken Studentenorganisation der Tschechischen Sozialdemokratie hervorgegangen war. Zur Führung dieser Gruppe
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zählten Rudolf Kohn, Zikmund Stein, der Schriftsteller R C. Weisskopf Rudolf Slänsky, J a n Sverma, Frantisek Kopecky, Josef Guttmann sowie die Brüder Max und Josef Winternitz. 7 Damit waren wichtige Vertreter der späteren Parteipolitik in diesem Kreis bereits versammelt. Winternitz wurde Redakteur des deutschsprachigen theoretischen Parteiorgans »Der Funke«. D o c h es zog ihn nach Deutschland, dem Zentrum des europäischen Klassenkampfes und der marxistischen Debatten. »In Deutschland lebte ich mit einigen Unterbrechungen von 1920 bis Ende 1933«, so Winternitz in seiner 1949 verfaßten Vita. 8 Er verzichtete darauf, seine Parteifunktionen anzuführen, obwohl dies ihm in Ostdeutschland normalerweise genützt hätte. Dabei betrieb Winternitz in den zwanziger Jahren durchaus die Politik des »Thälmannschen ZK«. Zunächst arbeitete Winternitz, wie er später angab, in Deutschland »als freier Schriftsteller und Leiter von Arbeiterhochschulen« in der politischen Bildungsarbeit der K P D . 9 Er schrieb, beinahe ausschließlich unter seinem Pseudonym »Lenz«, für die »Internationale«, die Theorie-Zeitschrift der K P D , und war zeitweilig deren Chefredakteur. Auf dem X. Parteitag 1924 wurde er Sekretär der Politischen Kommission und Kandidat des Zentralkomitees. 1925 heiratete er Matilda Koranyi, eine 1902 in der Slowakei geborene Ärztin. Sie sollte in England entscheidend zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, besonders nach der Geburt der beiden Töchter Vera (geboren 1932) und Elizabeth (geboren 1943). Das Familienleben wurde von der Politik absorbiert. Im April 1924 hatte der von Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Ernst Thälmann bestimmte linke Flügel der K P D die Leitung der Partei übernommen. Nur ein Jahr darauf spaltete sich diese Führung, ihr ultralinker Teil um Iwan Katz, Werner Scholem und (damals noch) Arthur Rosenberg weigerte sich, die durch die Wirtschaftskonjunktur notwendig gewordene Änderung der Taktik zu akzeptieren. Nur ein weiteres Vierteljahr später, im August 1925, wurde die in sich zerstrittene KPD-Führung durch einen vom EKKI aus Moskau kommenden »Offenen Brief« diszipliniert. Der Brief kritisierte die Führung um Ruth Fischer, sie habe den ultralinken Tendenzen nicht energisch entgegengewirkt. N o c h härter war der Vorwurf, die K P D habe die Politik des EKKI nicht genügend mitgetragen. 1 0 Winternitz stellte sich der Linie der Komintern-Zentrale entgegen; er stimmte in einer ZK-Sitzung als einziger gegen den Offenen Brief." Die darauf folgende Entfernung von Ruth Fischer und ihrer politischen Freunde von der Parteiführung betraf auch Winternitz: er verlor seine Funktion als ZK-Abteilungsleiter für ideologische Fragen, blieb aber Kandidat des ZK. Nur wenig später schloß er sich der neuen Führungsgruppe um Thälmann an, deren »Linie« er jetzt als richtig anerkannte. 1 2 Auf dem XL KPD-Parteitag wurde er 1927 ZK-Mitglied und Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda (Agitprop).
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Winternitz verteidigte Thälmann auch in der Wittorf-Affare, als eine Mehrheit des ZK im September 1928 den in dieser Unterschlagungsaffäre schwer belasteten Parteivorsitzenden absetzte, auf Intervention des EKKI ihn aber wiederum als Parteiführer akzeptieren mußte." Auf der II. Parteikonferenz der K P D Anfang November 1928 referierte Winternitz über das vom VI. Weltkongreß der Komintern verabschiedete Programm und legte es ganz im Sinne des innerparteilichen Kampfes gegen die sogenannten Rechten um Heinrich Brandler und August Thalheimer sowie die »Versöhnler« um Ernst Meyer und Arthur Ewert aus. Letztere wehrten sich auf einer ZKSitzung am 13./14. Dezember und wandten sich gegen eine »pseudolinke Gruppierung« innerhalb der Parteileitung, zu der sie auch Winternitz zählten. 1 4 Schon im September 1928 entdeckte Winternitz, getreu der Vorgaben des EKKI, bei der S P D eine »immer mehr zum Vorschein kommende sozialfaschistische Tendenz.« 1 5 Wie kann die K P D mit dem Konglomerat aus Faschisten und Sozialfaschisten fertig werden? Winternitz' Antwort war klar: »Eine einheitliche, zentralistische Organisation mit einer - wie Lenin sagte - militärischen Disziplin ist notwendig für eine Partei, die im Feuer des Feindes die Massen sammelt.« 1 6 Auf dem XII. Parteitag, der im Juni 1929 in Berlin zusammentrat, und die ultralinke Politik der KPD bestätigte, verlangte Winternitz, »daß der Parteitag geschlossen die Hegemonie der russischen Partei anerkennen muß. Unsere russischen Genossen haben größere Erfahrungen auf dem Gebiet der revolutionären Politik und Taktik. Wir müssen diese Hegemonie aufs vollste anerkennen und fordern.« 1 7 Winternitz wurde auf dem Parteitag wieder Mitglied des ZK und behielt, unter dem Pseudonym »Kraus«, die Leitung der AgitpropAbteilung. D o c h im Dezember 1931 wurden Winternitz und Alexander Emel (Moissej Lurje) aus dem ZK entfernt, da sie angeblich Lenin verunglimpft und Stalin falsch ausgelegt hätten. Dies stand im Zusammenhang mit Stalins Brief an die »Proletarskaja Rewoljuzija«, in dem die Auffassungen der 1919 ermordeten Rosa Luxemburg in eine gefährliche Nähe zu Trotzki gerückt wurden. Winternitz verblieb bis 1933 in untergeordneten Funktionen im Parteiapparat. Seit Mitte der zwanziger Jahre machte sich Winternitz als politischer Publizist einen Namen. 1927 veröffentlichte er eine Broschüre, die sich unter dem Titel »Was wollen die Kommunisten?« an nichtkommunistische Arbeiter, wohl eher indes an kommunistische Funktionäre wandte. Ein Anliegen der Schrift bestand in der Beweisführung, die K P D könne in einer nichtrevolutionären Phase ihren revolutionären Charakter nur dann bewahren, wenn sie eine unverfälschte Arbeiterpartei bleibe. Ganz im Sinne Thälmanns postulierte Winternitz, die Produktionsarbeiter müßten in der Partei den Ton angeben. »Der ausschlaggebende Einfluß der im Produktionsprozeß stehenden Proletarier wird auf doppelte Weise gesichert. Erstens durch den Beschluß, daß in jeder leitenden Körperschaft die Mehrheit aus Arbeitern, die noch
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im Betriebe stehen, gebildet wird; zweitens durch den Aufbau der Partei auf Betriebszellen.« 1 8
Auch die zweite Kernfrage der damaligen innerparteilichen Disziplinie-
rungskampagne beantwortete Winternitz im gewünschten und geforderten Sinn, als er schrieb, »daß die russischen Genossen, die Vertretung der bolschewistischen Partei, in der Exekutive und auf dem Weltkongreß, obwohl sie zahlenmäßig eine kleine Minderheit darstellen, den größten Einfluß haben.« 1 9 Interessanter in dieser Broschüre waren die Untersuchungen zum neuen deutschen Imperialismus. Deutschland sei aufgrund der restriktiven Bestimmungen des Versailler Vertrages zu schwach, um sich gewaltsam gegen die anderen imperialistischen Mächte durchsetzen zu können. »Daher muß sich die imperialistische Politik der deutschen Bourgeoisie zunächst darauf beschränken, die Gegensätze zwischen den anderen Staaten auszunützen und zu versuchen, im Gefolge der großen Räuber mitzurauben. Dazu bietet der englische Feldzug gegen die Sowjetunion eine günstige Gelegenheit. Die deutsche Bourgeoisie will ihre Mithilfe möglichst teuer verkaufen, diesen Anlaß zur Verstärkung ihrer militärischen Rüstungen ausnützen und, wenn die Blütenträume der Imperialisten reifen, die Frage der Neuverteilung der Welt aufrollen.« 2 0 Deutschland habe sich durch den Beitritt zum Völkerbund und den Locarno-Vertrag zur Unterstützung eines Krieges gegen die Sowjetunion verpflichtet, den die Völkerbundsatzung in ihren Artikeln 15 und 16 ermögliche. In diesem Kontext kommentierte Winternitz die Entsendung deutscher Militärsachverständiger zu englischen und amerikanischen Manövern, den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und den Völkerbundsrat sowie in die Kolonialkommission des Völkerbundes. »Alle bürgerlichen Parteien sind einig in der Unterstützung dieser Politik, deren nächste Perspektive der Interventionskrieg gegen die Sowjetunion, deren weitere Perspektive der Krieg um die Teilung der Beute zwischen den Imperialisten ist. Auch die S P D unterstützt diese Politik.« 2 1 Ungeachtet aller pseudopatriotischen Phrasen sei diese Politik der deutschen Bourgeoisie »nicht eine Politik der Befreiung, sondern eine Abenteurerpolitik, die das deutsche Volk in Elend, Knechtschaft und Unterdrückung führen muß. Würde Deutschland dazu helfen, daß die Sowjetmacht gestürzt wird, wäre das Unmögliche möglich, daß das deutsche und das internationale Proletariat ein solches Verbrechen duldete, was wäre die Folge?«, fragte Winternitz. »Wäre die einzige antiimperialistische Macht niedergerungen, dann würde das britische und das amerikanische Finanzkapital triumphieren, es würde als Hyäne des Schlachtfelds auf den Leichenstätten des europäischen Kontinents seinen Gewinn suchen. Die Folgen des letzten Weltgemetzels sollten denen zu denken geben, die leichtfertig mit dem Gedanken des Krieges spielen. Nicht nur Deutschland, das besiegte Land, ist verelendet und versklavt aus dem Kriege hervorgegangen. Auch die Siegerstaaten sind in schwerer ökonomischer Krise und in tiefer Verschuldung an
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den einzigen wirklichen Sieger, die Vereinigten Staaten Amerikas. England hat für ein paar Jahre die deutsche Konkurrenz zurückgeschlagen, aber inzwischen ist die amerikanische Konkurrenz übermächtig geworden, die französische Konkurrenz erstarkt und es wird nicht lange dauern, bis auch Deutschland wieder den englischen Handel ähnlich wie vor dem Kriege bedroht.« 2 2 Im gleichen Jahr, 1927, veröffentlichte Winternitz das Buch über »Aktuelle Probleme der proletarischen Politik«, das als Material in der politischen Bildungsarbeit der K P D verwendet werden sollte. Am interessantesten liest sich der Abschnitt über »Bürgerblock, Faschismus und Sozialdemokratie«. Die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie bilden, laut Winternitz, »gegenüber der sozialen Revolution eine Front der Konterrevolution. Auf dieser Grundlage wurde 1918 das Bündnis Hindenburg-Groener-Ebert-Scheidemann geschlossen, dieselbe Einheitsfront trat 1923 beim Reichswehreinmarsch und Ermächtigungsgesetz in Aktion.« 2 3 Aber trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung gebe es wesentliche Meinungsverschiedenheiten in wichtigen taktischen und praktischen Fragen, die auf Interessengegensätzen innerhalb des Bürgertums und auf Differenzen zwischen Bürgerblock und SPD beruhten. Winternitz warnte vor der in der K P D auch damals anzutreffenden Stimmung, hinter jeder reaktionären politischen Maßnahme sogleich die Gefahr des Faschismus lauern zu sehen. »Wenn der Kappist Keudell Innenminister ist, braucht die Bourgeoisie keinen neuen Kapp-Putsch. Sie hat das Ziel des Kapp-Putsches im wesentlichen auf legalem Wege bereits erreicht. Die wichtigsten Machtpositionen dieses Staates (Regierung, Bureaukratie, Reichswehr) sind bereits in den Händen zuverlässiger Reaktionäre.« Der Faschismus habe bis 1923 »die illegalen Kampftruppen der Bourgeoisie nicht nur gegen die Arbeiterschaft, sondern auch gegen die Republik« gestellt. Die faschistische Bewegung »rekrutierte sich damals hauptsächlich aus den durch die Inflation ruinierten und entwurzelten Kleinbürgern, die instinktiv gegen den Kapitalismus rebellierten, aber ihren Haß nur gegen die >volksfremden< Repräsentanten des Kapitalismus richteten (Juden und Franzosen<) und nicht vorwärts wollten vom Kapitalismus zum Sozialismus, sondern zurück zu einer mittelalterlichen berufsständischen Gesellschafts- und Staatsordnung.« 2 4 Die Stabilisierung des Kapitalismus habe die Zersetzung dieser Schichten jedoch gebremst, der Bourgeoisie genügte andererseits vollkommen die legalen Formen der Niederhaltung des Proletariats. Die Folge sei, daß der Faschismus nunmehr die »Eroberung der Staatsmacht von innen« plane und sich einstweilen auf den Boden der verfassungsmäßigen Ordnung begebe. Winternitz hatte selbstverständlich eher die halbfaschistischen Bünde wie den Stahlhelm und den Jungdeutschen Orden im Auge, als die damals sehr schwache NSDAP. Nur eine gemeinsame antifaschistische Politik der beiden großen Arbeiterparteien sei imstande, die faschistische Gefahr gänzlich zu beseitigen. Dazu
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sei jedoch ein grundsätzlicher Wandel der »reformistischen« S P D unerläßlich. Die radikalen Losungen der SPD-Linken um Paul Levi seien indes nichts als das Feigenblatt der offiziellen sozialdemokratischen Politik; die Strömung um Levi könne »nichts anderes bewirken als eine Bindung der klassenbewußten Arbeiter der SPD, die mit der Parteipolitik unzufrieden sind, an die Partei, also eine Stärkung und Festigung des reformistischen Einflusses.« 2 5 Im Jahre 1930erschien »Die Zweite Internationale und ihr Erbe«, das Hauptwerk von Josef Winternitz. 2 6 Es behandelte die Geschichte der internationalen Sozialdemokratie von der Gründung der Zweiten Internationale 1889 bis zur damaligen Gegenwart. Das Buch blieb natürlich von der Komintern-Politik nicht unbeeinflußt - im Gegenteil. Die Kapitelüberschriften zeigen, wie unerbittlich die Kommunisten gegen die Sozialdemokratie auch im Bereich der historischen Darstellungsweise Front bezogen hatten. Winternitz spannte den Bogen von der »Blütezeit« der Zweiten Internationale, der Zeit von 1889 bis 1904, über die »opportunistische Entartung« vor dem Ersten Weltkrieg, dem Zusammenbruch bis zur »Galvanisierung des Leichnams der II. Internationale«, also ihrer Rekonstituierung zwischen 1919 und 1923, und ihrer neuen Rolle als der »Internationale der kapitalistischen Reaktion«. Im Schlußkapitel verglich Winternitz die im Sommer 1928 gleichzeitig anberaumten Kongresse der Komintern und der Sozialistischen Arbeiter-Internationale. »Währen der Brüsseler Kongreß zum hundertsten Male die Weltrevolution tot sagte und die versammelten sozialdemokratischen Vertreter kapitalistischer Regierungen sich mit der Aussicht auf einen neuen Aufschwung des Kapitalismus trösteten, stellte der 6. Kongreß der Komintern fest, daß nach einer kurzen Periode der relativen Erstarkung des Kapitalismus, nach der Überschreitung des Vorkriegsniveaus der Produktion, nach einer zeitweiligen Depression in der europäischen Arbeiterbewegung auf der Grundlage der Steigerung der Produktivkräfte die inneren Gegensätze des kapitalistischen Systems auf einer höheren Stufe in verschärfter Form reproduziert werden.« 2 7 Winternitz übersteigerte seine durchaus zutreffender Kritik an den Defiziten sozialdemokratischer Politik - so im Bereich des antikolonialen Kampfes - , als er schrieb: »Der Reformismus ist keine selbständige Klassenkraft, er kann keine selb-
ständige Rolle im Kampf der Klassen spielen, er ist nur ein Anhängsel der imperialistischen Bourgeoisie. Er spiegelt die Interessen jener vom Proletariat völlig losgelösten arbeiteraristokratischen und kleinbürgerlichen Schichten wider, die sich in der Zeit verschärfter Klassenkämpfe immer fester mit dem Unternehmertum und dem bürgerlichen Staat gegen das revolutionäre Proletariat verbünden. In den Nachkriegsjahren ist ein Stab von Funktionären der Arbeiterbewegung in alle möglichen staatlichen und kommunalen Stellungen aufgerückt. Die Tausende und Hunderttausende gut bezahlter Funktionäre beherrschen den reformistischen Apparat der Partei
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und der Massenorganisationen. Sie stellen diesen bürokratischen Apparat völlig in den Dienst der imperialistischen Politik. In dem Maße, wie die imperialistische Bourgeoisie von demokratisch-parlamentarischen zu faschistisch-terroristischen Herrschaftsmethoden übergeht, wandeln sich auch die Ideologien und die Kampfmethoden der Sozialimperialisten in der Richtung zum Faschismus. Die reformistische Idee der Wirtschaftsdemokratie entspricht der faschistischen Idee des >Korporativstaates<, in dem die Syndikate der Unternehmer und der Arbeiter unter der Leitung des Staates gemeinsam die Interessen der Produktion fördern und den Klassenkampf ausschalten sollen.« 2 8 In Winternitz' Charakterisierung der sozialdemokratischen Parteibürokratie fanden sich unfreiwillig Anklänge an Christian Rakowskis »Brief an Walentinow«, der damals in russischen Oppositionskreisen kursierte. In der Astrachaner Verbannung hatte sich Rakowski im August 1928 über die »professionellen Gefahren der Bürokratie« Rechenschaft abgelegt. 2 9 Die Partei und ihre Führung, schrieb Rakowski, hätten sich im Prozeß der Machtausübung weitgehend verselbständigt. Ein Kommunist, der mit Leitungsaufgaben beschäftigt sei, besitze ein anderes Bewußtsein als derjenige Kommunist, der in einer Kohlengrube arbeite. Der Parteiapparat sei seiner doppelten Aufgabe - der Schutz- und der Erzieherrolle - nicht gewachsen gewesen. Die habe zu einer Gleichgültigkeit der Arbeiterklasse, also der machtausübenden Klasse, gegenüber Fragen der Politik geführt. Das Problem sei, so Rakowski, prinzipieller Natur: »Tatsächlich unterscheidet sich die Lage einer Klasse, die um die Erringung der Macht kämpft, von derjenigen einer Klasse, die die Macht innehat ... Sobald eine Klasse zur Macht gelangt, verwandelt sich ein Teil von ihr in Agenten der Macht.« Dieser Teil höre auf, objektiv Teil der Klasse, also hier der Arbeiterklasse, zu sein. Die Differenzierung sei zunächst nur funktional, werde jedoch allmählich zu einem sozialen Phänomen: »Dadurch entsteht die Bürokratie.« 3 0 Die Bürokratie entwickle sich im Laufe eines längeren Prozesses zu einer eigenständigen soziologischen Kategorie; ihre Herausbildung führe zu neuen Antagonismen in der vorgeblich klassenlosen Sowjetgesellschaft. Sollte Winternitz Kenntnis von diesem explosiven Papier Rakowskis gehabt haben, mußte er alles vermeiden, was auch nur Anklänge an die Analyse des kommunistischen Dissidenten zeigte. Dabei lag auch in Winternitz' Kritik der bürokratisierten Sozialdemokratie ein analytisches Instrumentarium verborgen, mit man recht genau die gesellschaftlichen Widersprüche der Sowjetunion hätte untersuchen können. Im Jahre 1931 erschien Winternitz' Buch über »Proletarische Politik im Zeitalter des Imperialismus und der sozialistischen Revolution«. 3 1 Damit schaltete sich Winternitz in die innerkommunistischen Debatten zur nationalen und kolonialen Frage
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ein. 3 2 Von der marxistischen Grundthese ausgehend, daß »eine Nation nicht frei werden und zugleich fortfahren (kann), andre Nationen zu unterdrücken« 3 3 , begründete Winternitz das Recht auf Lostrennung von Nationen im Prozeß ihres Emanzipationskampfes, er entwarf jedoch auch ein Zukunftsbild einer übernationalen sozialistischen Weltföderation, als deren Prototyp er die Sowjetunion sah. Bestünden mehrere sozialistische Staaten in Europa, dann sei es gleich, »ob ein freies SowjetElsaß-Lothringen entsteht, daß sich an Sowjet-Deutschland anschließt, oder ob die nationale und soziale Befreiung im Rahmen eines Sowjet-Frankreich erfolgt.« 3 4 Winternitz verband seine Analysen über Industrialisierung und Klassenbildungsprozesse in kolonialen und halbkolonialen Ländern mit revolutionstheoretischen Fragen. Ihrem Klassencharakter nach sei die Revolution in kolonialen Ländern eine bürgerlichdemokratische Revolution, gleichzeitig jedoch eine nationale Revolution gegen den Imperialismus wie eine Agrarrevolution zur Lösung der Landfrage. Das Proletariat könne »selbstverständlich... noch nicht sein sozialistisches Endziel verwirklichen«; dürfe aber nicht auf unmittelbare Tagesforderungen verzichten. Das Proletariat, hob Winternitz hervor, »wird stets mit allen Klassen und Parteien zusammengehen, die einen revolutionären Kampf gegen den Imperialismus fuhren. So ist es auch absolut richtig und notwendig, zeitweilig mit jenen Teilen der Bourgeoisie zusammenzugehen, die den revolutionären Kampf gegen den Imperialismus wirklich führen.« 3 5
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Recht berief sich Winternitz hierbei auf Lenins Rede zur nationalen und kolonialen Frage vom II. Komintern-Kongreß 1920. Dies entsprach jedoch keinesfalls mehr der 1931 aktuellen Komintern-Politik, die auf den Ausschluß aller national-bürgerlichen Kräfte aus dem antikolonialen Befreiungskampf orientierte. 3 6 Es scheint, daß Winternitz ein zunehmendes Unbehagen über den isolationistischen Kurs der Komintern verspürte und diesem Unbehagen in einer impliziten Kritik an diesem Kurs Ausdruck verleihen wollte. Jedenfalls wurde er dadurch als unsicherer Kantonist sichtbar. Sein Ausschluß aus dem ZK kurze Zeit nach Erscheinen der Schrift überraschte in einer Zeit immer schärferer innerparteilicher Disziplinierung nicht mehr. 3 7 Diese Degradierung traf einen Mann, der auch in der geschichtspropagandistischen Arbeit für die K P D bis dahin immer wichtiger geworden war. Im Frühjahr 1927 referierte Winternitz als Leiter der Agitprop-Abteilung vor der Parteiführung über die Vorbereitung der Kampagne »Zehn Jahre Sowjetunion« 3 8 . Neben Werner Hirsch schrieb er im Oktober 1928 an zentraler Stelle, im Parteiorgan »Rote Fahne«, über den fünfzigsten Jahrestag des Bismarckschen Sozialistengesetzes. 3 9 Anläßlich der Gedenkfeiern für Lenin, Liebknecht und Luxemburg orientierte Winternitz die Parteimitgliedschaft auf eine Verstärkung der »revolutionären Massenmobilisierung«. 4 0 Nach seinem Ausscheiden aus dem ZK verschwand Winternitz' Name aus der Parteiöffentlichkeit, jedoch blieb er weiterhin wissenschaftlich tätig. So begutachtete er
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gemeinsam mit Hermann Duncker Kurt Sauerlands Buch über den dialektischen Materialismus. 4 1 Sauerland hatte die Entwicklung des Marxismus von den Gründervätern bis zur Gegenwart als Prozeß einer theoretischen Verflachung dargestellt; eine Position, die innerhalb der K P D - und sicher auch durch Winternitz - sehr scharf kritisiert wurde. 4 2 All diese Debatten wurden brutal durch den Machtantritt des Hitler-Regimes abgebrochen. Winternitz, den seine britische wie tschechoslowakische Staatsangehörigkeit noch schützte, beteiligte sich nach eigenen Aussagen am antifaschistischen Kampf in Berlin. Er verfaßte illegale Antinazi-Schriften, so eine Broschüre über den Reichstagsbrand: »Im Zeichen des Kreuzes«. 4 3 Ende 1933 mußte er Deutschland verlassen. Von Berlin begab sich Winternitz nach Prag. Dort arbeitete er als Redakteur der deutschsprachigen »Roten Fahne«. 1934 gehörte er zu den Gründern des BrechtKlubs, einer Vereinigung deutschsprachiger Schriftsteller, in der Exilanten mit tschechoslowakischen Staatsbürgern zusammenwirkten und der offiziell als Sportverein eingetragen war. Mitglieder des Klubs waren unter anderem Theodor Balk, Ernst Bloch, Hermann Budzislawski, Bruno Frei, Louis Fürnberg, Oskar Maria Graf, Wieland Herzfelde, Kurt Hiller, Kurt Kersten, Egon Erwin Kisch, Thomas Mann, Paul Reimann, Lenka Reinerová, Alex Wedding, F.C. Weisskopf und eben Josef Winternitz. Da Winternitz auch der deutschen Kulturkommission der KP der Tschechoslowakei angehörte, sorgte er für die Kontakte zwischen der Parteiführung und dem Brecht-Klub 4 4 Diese intensive Arbeit fand im März 1939 ein Ende, als die deutsche Wehrmacht das gebeutelte Land besetzte. Winternitz mußte erneut fliehen. Mit seinem britischen Paß ging er nach England. Dort stellte er sich wiederum der Partei zur Verfügung. Er erhielt eine Anstellung am Karl-Marx-Haus in London, während seine Frau eine Arztpraxis eröffnete. »In England«, so schrieb er, »arbeitete ich mit der tschechoslowakischen Emigration in der Propaganda für die Wiederherstellung der C S R gehörte aber auch dem British Council for German Democracy an, das für Solidarität mit den deutschen Antifaschisten und für die Einheit Deutschlands wirkt.« 4 5 Winternitz unterhielt im Auftrag der Partei auch Kontakte zur sudetendeutschen Sozialdemokratie um Wenzel Jaksch. 4 6 Er war verantwortlicher Redakteur der deutschsprachigen Zeitung »Scheinwerfer über Deutschland« und schrieb für für die Komintern-Zeitschrift »World News and Views«, die britische KP-Zeitschirft »Labour Monthly« und das Fachblatt »The Economic J o u r n a l « 4 7 . Im Karl-Marx-Haus hielt Winternitz eine Reihe von Vorlesungen und Vorträgen, von denen einige in der Broschüre »The Problem of Full Employment« zusammengefaßt sind. Er untersuchte »die Verdienste und Mängel« des Wahlprogramms der Labour Party, »Let us face the future«, das am 5. Juli 1945 zur Grundlage eines überraschenden Wahlsieges geworden war. Winternitz' Schlußfolgerung konn-
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te kaum überraschen: »Die sozialistische Wirtschaft der U d S S R hat, seit ihrer vollen Entfaltung, die Arbeitslosigkeit beseitigt, die Nachfrage nach Arbeit übersteigt immer das Angebot, und die Zahl der Arbeiter und Angestellten hat sich von elf Millionen aus der Zeit vor der Revolution von 1917 auf 30,4 Millionen im Jahre 1940 erhöht. Die kapitalistischen Staaten erreichen Vollbeschäftigung nur in Kriegszeiten, wenn der Staat die Warenlieferung selbst organisiert, plant und kontrolliert und selbst zum größten Einkäufer wird.« 4 8 Angesichts der Leistungsfähigkeit der sowjetischen Kriegswirtschaft klang eine solche Argumentation kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchaus überzeugend. Winternitz' politische Haltung wurde auch in seiner Schrift »United Germany or Divided Europe« deutlich, die 1947 erschien. »Die Zukunft Deutschlands wird letztendlich vom deutschen Volk selbst entschieden«, schrieb er. »Aber solange Britannien eine der vier Besatzungsmächte ist, trägt das britische Volk einen Teil der Verantwortung für das, was dort geschieht.« 4 9 Im Sinne einer Solidarität mit dem deutschen Volk müsse die britische Verwaltung für eine Ankurbelung der Industrieproduktion Sorge tragen; nicht im Sinne der Nazis, sondern für die vielen Deutschen, die dem Nazismus ablehnend bis feindlich gegenübergestanden hätten. D o c h gäbe es dafür noch einen wichtigen Grund: »Verzweiflung ist ein Nährboden für Reaktion und Faschismus«, warnte Winternitz. »Die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit trieben Millionen von Deutschen 1930 bis 1932 in das Lager Hitlers. Hunger und das Scheitern eines Besatzungsregimes, das für die Deutschen die Demokratie verkörpert, haben schon eine gefährliche Wiederbelebung des Nazismus hervorgerufen.« 5 0 Man müsse die Dinge sehen, wie sie sind: Achteinhalb Millionen Mitglieder der NSDAP, eine halbe Million SS-Angehöriger, unzählige Mitläufer sowie die gänzliche Ausrichtung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens auf die Pläne der Nazi-Elite - all das habe mehr als bloße Spuren bei den Deutschen hinterlassen. Das gefahrvolle Potential sei unter der Oberfläche noch lebendig. Alte Nazis würden sich zwar den westlichen Besatzungsmächten andienen, aber nur zur Verwirklichung eines sehr einfachen Programms: »Amerikanische und britische Unterstützung für einen Revanchekrieg gegen Rußland zu gewinnen.« 5 1 Als Ursache nannte Winternitz; daß »die Schlüsselpositionen nicht in den Händen von Anti-Nazis sind.« Wirklich glaubwürdige deutsche Demokraten sollten Kontrollfunktionen in allen Bereichen des Lebens ausüben, denn es sei offensichtlich, daß achteinhalb Millionen ehemalige Nazis und die Mitläufer nicht von jeder Arbeit ausgeschlossen werden könnten. 5 2 Winternitz brachte Beispiele für die schleichende Wiederbesetzung wichtiger lokaler Verwaltungsfunktionen durch alte Nazis - oft unter den Augen der britischen Besatzungsmacht. Diese wären teilweise an einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage interessiert, um deren Folgen den Besatzungsmächten in
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die Schuhe schieben zu können. Aber vor allem die amerikanische Politik sei eher an einer Wiederverwendung alter Nazis in einer künftigen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion interessiert, statt an einer dauerhaften Beseitigung der Ursachen des Nazismus. Ihre Bundesgenossen seien die alten Eliten, die Hitler zur Macht verhalfen, nicht jene Kräfte, die eine Wiederbelebung des Nazismus verhindern könnten: die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, progressive Intellektuelle und ausgewiesene Antifaschisten. Die Sozialisierung der Schlüsselindustrien sei überfällig. Eine der wenigen positiven Entscheidungen der Moskauer Außenministerkonferenz sei die für eine Landreform gewesen. Die Art und Weise ihrer Durchführung lasse jedoch in den Westzonen den Großgrundbesitz unangetastet. Enteignungen sollten nur auf der Basis großzügiger Entschädigungen erfolgen. »Unter diesen Bedingungen haben weder die mittellosen deutschen Bauern, die aus Polen und der Tschechoslowakei vertrieben wurden, eine Chance auf Neuansiedlung, noch werden die armen Bauern und Landarbeiter aus dieser Landreform einen Nutzen ziehen. Aber die Junker, die reaktionären Großgrundbesitzer, die aus Ostdeutschland flohen und einen Teil ihres Vermögens retteten, werden gute Möglichkeiten zum Erwerb neuen Grundbesitzes bekommen.« 5 3 Die USA zielten, so Winternitz, auf eine Spaltung Deutschlands ab. D o c h »die ökonomische und politische Einheit eines demokratischen Deutschland ist der einzige Weg zur ökonomischen Lebensfähigkeit Deutschlands und zur Verhinderung des Wiederauflebens einer gewalttätigen, chauvinistischen Bewegung zur Wiedervereinigung Deutschlands durch einen neuen Krieg. Eine demokratische Einheit in
Deutschland, die Zusammenarbeit aller progressiven Kräfte, die Einheit der deutschen Arbeiterklasse, sollte als Grundbedingung eines demokratischen Neuanfangs der deutschen Nation angestrebt werden. Und all dies setzt eine Einheit über Deutsch-
land voraus, ein Übereinkommen der Alliierten, die den Krieg durch militärische Zusammenarbeit gewonnen haben, und die den Frieden nur durch die Wiederbelebung ihrer politischen Zusammenarbeit gewinnen werden.« 5 4 Die britische Arbeiterbewegung mit der Labour Party als Regierungspartei trage hierbei eine besondere Verantwortung. Nicht nur Winternitz konstatierte die Mängel angelsächsischer Besatzungspolitik. Der amerikanische Historiker Saul Padover, der bei Kriegsende für den US-Geheimdienst Deutsche im Raum Aachen vernahm, bekam vom antifaschistischen Bürgermeister eines kleinen Ortes zu hören. »Die Amerikaner sind seit mehreren Wochen hier, und noch immer treiben sich die Nazis herum, manche so arrogant wie eh und ]e ... Die Leute fragen mich, warum das so ist, und ich verspreche, daß ich mich bei dem Herrn Major danach erkundigen werde. Wenn ich bei dem Herrn Kommandanten vorspreche, sagt er nur, daß ich seine Befehle zu befolgen habe.« 5 5 Isaac
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Deutscher, der 1945 für den »Observer« Deutschland bereiste, berichtete über »die Verwirrung der Menschen, die nicht verstehen können, warum die Alliierten in allen Lebensbereichen wohlbekannte Nazis tolerieren. Deutsche stellen sehr oft fest, daß dieselben Leute, von denen sie zwölf Jahre lang herumkommandiert und eingeschüchtert wurden, in ihren Ämtern geblieben sind und sie noch immer herumkommandieren und unter Druck setzen.« 5 6 Winternitz gehörte zu jenen Kommunisten, die entschieden gegen die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei Stellung bezogen. »Nachdem die deutsche Frage in der C S R so gelöst, dann dort kein Boden für deutschsprachige Genossen«, schrieb er 5 7 und er zog die entscheidende Konsequenz: Er wollte nicht mehr nach Prag zurückkehren. Vielmehr betrieb er seine Übersiedlung in den sowjetischen Sektor von Berlin. »Obwohl ich englischer Staatsbürger bin«, schrieb Winternitz, »bin ich im Oktober 1948 auf eine Einladung der Deutschen Verwaltung für Volksbildung nach Deutschland gekommen, um mich für den demokratischen Aufbau hier zur Verfügung zu stellen.« 5 8 Nach seiner Rückkehr wohnte er zunächst bei Alexander Abusch, seine Frau blieb mit den beiden Kindern jedoch noch in London. 5 9 Am 12. Oktober hatte Franz Dahlem unter Bezugnahme auf Winternitz' Rückkehr notiert, Winternitz solle gegenüber der Abteilung Personalpolitik beim Parteivorstand angeben, »a) wer als absolut zuverlässig gilt, auf dessen Rückkehr man rechnen kann, b) wer nicht zurückkommt, c) wer feindlich eingestellt ist, als Agent arbeitet usw.« 6 0 Ob und wie Winternitz darauf reagierte, ist nicht überliefert. Der als Zeithistoriker und Wirtschaftswissenschaftler mit vielen Publikationen ausgewiesene Wissenschaftler sollte zunächst eine Hochschullehrer-Stelle an der Universität Jena vermittelt bekommen. Dafür setzte sich namentlich der Thüringer SED-Landessekretär Stefan Heymann ein, der darin von Marie Torhorst (1888-1990), der Volksbildungsministerin des Landes Thüringen, unterstützt wurde. 6 1 Doch Winternitz wollte in Berlin arbeiten. Das SED-Zentralsekretariat stimmte am 11. Oktober 1948 seiner Berufung zum ordentlichen Professor für Wirtschaftswissenschaften an die Berliner Universität und zum Abteilungsleiter für Politische Ökonomie am Forschungsinstitut der Parteihochschule zu. 6 2 Für die Berufung zum Universitätsprofessor mußten Gutachten eingeholt werden. Da Winternitz zunächst für Jena in Erwägung gezogen worden war, schrieb Jürgen Kuczynski am 6. Januar 1948: »Die geplante Berufung von Dr. Winternitz auf einen Lehrstuhl in Jena erscheint mir eine überaus glückliche Wahl, die das Ansehen des wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbetriebes in Jena außerordentlich heben wird.« Kuczynski begründete dies mit den fachlichen, namentlich den Sprachkenntnissen von Winternitz und mit seiner »ungewöhnlichen Kenntnis sowohl der sowjetrussi-
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sehen und tschechischen wie auch der englischen, französischen und amerikanischen Literatur besitzt. Da er außerdem auf den Gebieten der Philosophie und Naturwissenschaften weit über dem Durchschnitt auch der Fachwissenschaftler hinaus Kenntnisse hat, wird er einer jeden Universität zur Zierde gereichen.« 6 3 Ähnlich äußerte sich Robert Rompe, der Winternitz' Berufung als »besonders dringlich« ansah. 6 4 Fritz Behrens rühmte Winternitz' Anwendung mathematischer Methoden in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung 6 5 und Maurice D o b b , den Kuczynski um ein Urteil gebeten hatte, sah Winternitz gleichfalls als »sehr geeignet zur Übernahme einer akademischen Lehrtätigkeit«; Winternitz' Kenntnis der europäischen Literatur »ist bemerkenswert besser als meine eigene«, schrieb D o b b . 6 6 Am 1. Februar 1949 wurde Winternitz zum ordentlichen Professor für Politische Ökonomie an die Humboldt-Universität berufen. 6 7 Sofort nach seiner Rückkehr nahm Winternitz die Publikationstätigkeit wieder auf In einer Schrift über »Probleme der Planwirtschaft« setzte er den in London vorgenommenen Vergleich zwischen der britischen und der sowjetischen Wirtschaftsplanung fort und ermittelte, wie kaum anders anzunehmen, das sowjetische Wirtschaftsmodell als das überlegene. 6 8 Er bekräftige diese Ansicht in einer öffentlichen Debatte mit seinem Kollegen Mellerowicz, einem Betriebswirtschaftler, der kurz darauf in den Westen ging. 6 9 Sein Schwerpunkt verlagerte sich allerdings von der Ökonomie zur Zeitgeschichte. Er schrieb vor allem zur nationalen und zur Agrarfrage. In seiner Broschüre »Marxismus und Nation« wandte sich Winternitz einem brennend aktuellen und ihn tief bewegenden Thema zu. Er schrieb: »Ein richtiges Verständnis für das Wesen einer Nation ist auch zur Lösung der Judenfrage erforderlich. Es ist offenbar unrichtig, die Juden, die über die ganze Welt zerstreut sind, die Dutzende verschiedene Sprachen sprechen und nichts gemein haben außer gewissen religiösen Traditionen, der Gemeinschaft der Verfolgung und einer sehr problematischen gemeinsamen Abstammung, als eine Nation anzusehen. Die Möglichkeit kann jedoch nicht bestritten werden, daß in Palästina, wo die Juden eine Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums und des Wirtschaftslebens herausbilden, eine jüdische Nation sich entwickeln kann. Die 600.000 Juden, die jetzt dort leben, können allerdings kaum >eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft< genannt werden. 7 0 Wenn jedoch der Staat Israel sich erfolgreich gegen die imperialistischen Angriffe und Intrigen verteidigt und eine freundschaftliche Verständigung mit der demokratischen nationalen Befreiungsbewegung der Araber herbeiführt, dann wird in Palästina eine jüdische Nation neu erstehen.« 7 1 Diese Worte standen im Einklang mit der sowjetischen Position zur Gründung des Staates Israel, wie sie von Andrej Gromyko im April und November 1947 vor der U N O formuliert worden war. Aber Winternitz' Vorwort zu seiner Schrift trug das
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Datum vom 10. März 1949. Seit Ende des Jahres 1948 hatte die Sowjetunion ihre Haltung gegenüber Israel revidiert. Spontane Freudenkundgebungen Moskauer Juden auf dem Roten Platz, die den jüdischen Versöhnungstag und die zeitgleiche Akkreditierung der israelischen Botschafterin Golda Meir im September 1948 feierten, hatten Stalins Zorn hervorgerufen. Der Diktator handelte umgehend: Noch vor Ende des Jahres 1948 wurde das Jüdische Antifaschistische Komitee aufgelöst, jüdische Kultureinrichtungen wurden geschlossen, zahlreiche Schriftsteller und Künstler jüdischer Herkunft wurden verhaftet. Die sowjetische Presse »enthüllte« russische Künstlernamen als Pseudonyme von Trägern jüdischer Namen. Viele Juden verloren ihren Arbeitsplatz. Der stalinistische Antisemitismus begann sich zu entfalten. 7 2 Vielleicht wußten die Lektoren des Dietz-Verlages, in dem Winternitz' Broschüre erschienen war, über diese Zusammenhänge nicht genug Bescheid. Winternitz selbst dürften die schlimmen Nachrichten aus der Sowjetunion kaum entgangen sein. Im März 1949 hätte niemand in der Sowjetunion noch Dinge über die Juden schreiben können, wie Winternitz es in Ostdeutschland tat. Ob er eine Ahnung von den möglichen Konsequenzen seiner Haltung hatte? Jedenfalls besaß Winternitz als britischer Staatsbürger, der er immer noch war, einen gewissen Schutz vor unmittelbaren Repressalien und konnte sogar mit Erlaubnis der Abteilung Personalpolitik beim SED-Sekretariat nach England fahren. 7 3 Dort dürfte ihn seine Frau vor einer Rückkehr gewarnt haben; jedenfalls war im Parteiapparat bekannt, daß sie nicht nach Berlin wollte. 7 4 Die familiären Verhältnisse blieben in der Schwebe. Winternitz wollte aber durchaus in der jungen D D R arbeiten. Ihm war inzwischen eine neue, prestigereiche Stellung übertragen worden: die Berufung zum Leiter des neu gebildeten MarxEngels-Lenin-Instituts, des künftigen Instituts für Marxismus-Leninismus. D o c h noch bevor sich Winternitz in seine neue Aufgabe einarbeiten konnte, verlor er seinen Posten wieder. Eine Sitzung des SED-Politbüros vom 21. Februar 1950 beschloß, Winternitz von der Leitung des Instituts abzuberufen. 7 5 Ursache dafür war Winternitz' Besprechung des ersten Bandes der Stalin-Werke in der »Einheit«, obwohl der Artikel es am geforderten amtlichen Lob nicht fehlen ließ. Was war geschehen? Winternitz wies auf einige Punkte hin, in denen Stalin 1906 nicht mit Lenin übereingestimmt hatte: Stalin trat damals, ungleich Lenin, nicht nur für die Nationalisierung des Bodens ein, sondern auch für seine Aufteilung unter den Bauern. Stalin hatte, so Winternitz, »sich damals die Leninsche Konzeption des Hinüberwachsens der bürgerlichen in die sozialistische Revolution noch nicht genügend zu eigen gemacht, um die Schlußfolgerung zu ziehen, daß auch die Frage der Nationalisierung des Bodens unter diesem Gesichtspunkt neu zu stellen ist.« 7 6 Nicht genug damit: Winternitz zitierte Stalins Frühschrift »Anarchismus oder Sozialismus?«, worin Stalin den Gedanken geäußert hatte, der Sozialismus könne erst verwirklicht
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werden, wenn die Mehrheit der Gesellschaft proletarisiert sei. Dies war ein allgemeiner Glaubensartikel innerhalb der Zweiten Internationale gewesen, der sich auf gewichtige Aussagen der marxistischen Gründerväter stützte. Lenin habe hingegen nachgewiesen, schrieb Winternitz, »daß in einem rückständigen Land, in dem die Arbeiterklasse nur eine Minderheit der werktätigen Bevölkerung darstellt, ... nicht nur die proletarische Revolution siegen, sondern auch der Sozialismus errichtet werden kann. Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus ermöglicht die Durchbrechung der Kette des Imperialismus zuerst an seinem schwächsten Glied«; eine einprägsame Wendung Stalins aus späteren Jahren, der dann Lenins Ansichten teilte. 7 7 Mit der Herausarbeitung von zeitbedingten und unvermeidlichen Gegensätzen zwischen Lenin und Stalin hatte Winternitz aber ein wahres Sakrileg begangen. Lenin und Stalin bildeten in der stalinistischen Mythologie eine von Anfang an untrennbare Einheit. Wie Athene in voller Rüstung dem Haupte des Zeus entstiegen, so war Stalin, der Heldenlegende gemäß, Lenins alter ego, von seinen Anfängen an bereit zur Verteidigung des Marxismus-Leninismus gegen alle trotzkistischen und bucharinistischen Erbschleicher. Winternitz hatte den Stalinschen Kanon mißachtet. Zwar erhielt Winternitz die Chance, in einer historischen Monographie über »Stalin und die nationale Frage« seinen »Fehler« wiedergutzumachen. Doch er nutzte sie wohl - in den Augen der Partei-Ideologen - schlecht, wenn er schrieb: »Während des ersten imperialistischen Weltkrieges zeigte es sich, daß der imperialistische Chauvinismus nicht nur die Massen des deutschen Kleinbürgertums beherrschte, sondern auch tief in die deutsche Arbeiterklasse eingedrungen war. Wäre das nicht so gewesen, so wäre es dem rechten Flügel der Sozialdemokratie nicht gelungen, Partei und Gewerkschaften in den Dienst der imperialistischen Kriegspolitik zu stellen.« 7 8 Das entsprach zweifellos den Tatsachen, aber nicht der parteiamtlichen Lesart, wonach es den herrschenden Klassen zwar gelungen sei, die »Arbeiteraristokratie« zu »bestechen«, die proletarischen Massen aber dem Hurrapatriotismus im August 1914 widerstanden hätten. Noch Jahre später sollte Jürgen Kuczynski mit einer ähnlich ketzerischen Ansicht einen ungewollten Arger mit den Parteioberen bekommen. 7 9 Es gelang Winternitz von England aus, im September 1950 die Bewilligung seines Aufenthaltes durch das ZK-Sekretariat zu erreichen. Kurt Hager sollte die Frage seiner Vertretung an der Humboldt-Universität einstweilen regeln. 8 0 Winternitz faßte dann den Entschluß, nicht nach Berlin zurückzukehren. Nach Mitteilung von Jürgen Kuczynski war es eine Flucht. 8 1 D o c h wollte Winternitz möglichst nicht mit der S E D brechen, sondern seine Entscheidung mit weniger schmerzlichen Konsequenzen verbinden. Er beantragte deshalb seine RückÜberweisung an die britische KP, der das ZK-Sekretariat am 5. Januar 1951 zustimmte. 8 2 Dies ersparte beiden Seiten den offenen Konflikt.
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Auch die Beziehung zur Humboldt-Universität wollte Winternitz in einvernehmlicher Weise lösen. Er begründete seinen Schritt, vom Lehramt zurückzutreten, mit familiären Problemen. »Ich kann gegenwärtig weder meine Familie nach Deutschland bringen noch sie auf unbestimmte Zeit hier allein lassen«, schrieb er dem Rektor im April 1951 aus London. 8 3 Das stimmte sicher, war aber nicht die ganze Wahrheit. Über Winternitz' letztes Jahr in England ist nichts bekannt. Wahrscheinlich betätigte er sich in der britischen KP, möglicherweise wiederum am Karl-Marx-Haus. Er verstarb am 22. März 1952. An der Trauerfeier in Golders Green nahm die britische KP-Prominenz teil. J. R Campbell hielt die Trauerrede, unter den Gästen wurden Harry Pollitt und Rajani Palme Dutt genannt. 8 4 Winternitz erlebte nicht mehr den antisemitischen Slänsky-Prozeß in Prag, der mit der Ermordung so vieler seiner einstigen Kampfgefährten endete. Der offene Bruch mit dem Stalinismus blieb ihm erspart. Dennoch wurde sein N a m e in der D D R beinahe dem Vergessenwerden anheimgegeben.
A nmerkungen 1 Genosse Dr. Josef Winternitz gestorben, in: Neues Deutschland, 26.3.1952. 2 Zu den Angaben über Winternitz' Familie und seinen eigenen Lebenslauf siehe die Personalakte (PA)J. Winternitz. In: Archiv der Humboldt-Universität Berlin ( H U B , UA). 3 J. Winternitz, Lebenslauf (29.6.1949), in: H U B , UA, PA Winternitz (im folgenden: Winternitz, Lebenslauf), Bl. 6. 4
Ebenda.
5 Siehe die Publikationsliste. In: Ebenda, Bl. 10. 6 Thomas Weiser: Arbeiterführer in der Tschechoslowakei. Eine Kollektivbiographie sozialdemokratischer und kommunistischer Parteifunktionäre 1918-1938, München 1998, S. 120. 7 Siehe ebenda. 8 Winternitz, Lebenslauf, Bl. 6. 9 Personal-Fragebogen zur Bewerbung als Universitätsprofessor. In: Ebenda, Bl. 4. Hiernach auch die folgenden Angaben über die Familie. 10 Der Offene Brief des EKKI ist u. a. abgedruckt in: Inprekorr, 1925, Nr. 128, S. 1863 ff. 11 Vgl. die Erklärung von Lenz (d. i. Winternitz), in: Die Rote Fahne, 4.9.1925, und Wilhelm Ersil/Ernst Laboor: Die Parteidiskussion im September-Oktober 1925 und ihre Bedeutung für die marxistisch-leninistische Entwicklung der Partei. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1966, H. 3, S. 598. 12 Vgl. Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, S. 127 f., 138. Für weitere Angaben siehe dort auch den biographischen Anhang, Bd. 2, S. 344 f. 13 Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 202. 14 Ebenda, S. 215f. 15 Die Kommunistische Internationale, 12. 9.1928, S. 2311. 16 Die Rote Fahne, 30.12.1928.
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17 Protokoll der Verhandlungen des 12. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), Berlin-Wedding, 9. Bis 16. Juni 1929, Berlin (1929), S. 245. 18 J. Lenz: Was wollen die Kommunisten?, Berlin 1927, S. 56. 19
Ebenda.
20 Ebenda, S. 29. 21 Ebenda, S. 30. 22 Ebenda, S. 31. Hervorhebung im Text. 23 J. Lenz: Aktuelle Probleme der proletarischen Politik, Berlin 1927, S. 55. 24
Ebenda, S. 61 f.
25
Ebenda, S. 75.
26 J. Lenz: Die Zweite Internationale und ihr Erbe 1889-1929, Hamburg/Berlin 1930. Eine russische Ausgabe »Istorija II Internacionala« kam (mit einem Vorwort von Karl Radek) 1931 in Moskau heraus, eine amerikanische Ausgabe erschien unter dem Titel »Rise and Fall of the Second International« 1932 in New York. 27 J. Lenz: Die Zweite Internationale und ihr Erbe, S. 270. 28
Ebenda, S. 275. Hervorhebungen im Text. An anderer Stelle warnte Winternitz jedoch davor, daß »man in der ganzen Geschichte der Zweiten Internationale nichts sieht als die reformistische Entartung und den Verrat von 1914 ...« Josef Lenz: Vom Opportunismus zum Sozialfaschismus. Zum 40. Jahrestag der II. Internationale. In: Die Internationale, 1929, Nr. 14, S. 449457, Zitat S. 450.
29 Christian Rakovsky: The Professional Dangers< of Power. In: Tariq Ali (Hg.), The Legacy of Stalinism. Its Impact on 20th Century World Politics, Harmondsworth 1984, S. 47-59. 30 Ebenda, S. 48 f. 31 J. Lenz: Proletarische Politik im Zeitalter des Imperialismus und der sozialistischen Revolution, 1. Teil, Berlin 1931. Ein zweiter Teil erschien nicht. 32 Zum aktuellen Diskussionsstand siehe Kai Schmidt-Soltau: Eine Welt zu gewinnen! Die antikoloniale Strategie-Debatte in der Kommunistischen Internationale zwischen 1917 und 1929 unter besonderer Berücksichtigung der Theorien von Manabendra Nath Roy, Bonn 1994. 33 Friedrich Engels: Rede über Polen (29.11.1847). In: MEW, Bd. 4, S. 417. Für widersprüchliche, auch gegenteilige Äußerungen Engels«, vor allem bezüglich Polens, siehe Wilter Grab: Deutschnationale Vorurteile. In: T h e o d o r Bergmann u. a. (Hg.): Zwischen Utopie und Kritik. Friedrich Engels - ein »Klassiker« nach 100 Jahren, H a m b u r g 1996, S. 118123. 34
Lenz, Proletarische Politik ... , S. 123.
35 Ebenda, S. 135. Hervorhebungen im Text. 36 Siehe Uwe Rüdiger: Rolle und Inhalt der Dekolonisierungsdebatte in der Kommunistischen Internationale, und Mustafa Haikai: Die Kommunistische Internationale und die »Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit«, beide in: Theodor Bergm a n n / M a r i o Keßler (Hg.): Aufstieg und Zerfall der Komintern. Studien zur Geschichte ihrer Transformation (1919-1943), Mainz 1992, S. 225-2238 und 239-252. 37 Der mit Winternitz gemaßregelte Alexander Emel (Moissej Lurje) hatte 1929 einen »Leitfaden zur Geschichte der Arbeiterbewegung bis 1914« veröffentlicht. Auch hier erschien ein geplanter zweiter Teil nicht.
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38 Siehe Klaus Kinner: Marxistische deutsche Geschichtswissenschaft 1917 bis 1933, Berlin (Ost) 1982, S. 309. 39 Josef Lenz: 50 Jahre nach dem Sozialistengesetz (Leitartikel). In: Die Rote Fahne, 20.10.1928. Zur Gesamtdebatte vgl. Kinner, S. 255 ff. 40 J o s e f Kraus (Winternitz): Die K P D nistet zur Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Woche. In: Inprekorr, 1930, Nr. 3, S. 57. 41
Die Kritik von Duncker und Winternitz wurde nicht veröffentlicht. Vgl. Kinner, S. 428.
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Kurt Sauerland: Der dialektische Materialismus. Dogmatischer oder schöpferischer Marxismus, Berlin 1932. Hierzu auch Julius Alpari (Gyula Sas), Kurt Sauerland: Der dialektische Materialismus. Kritische Bemerkungen. In: Inprekorr, 1932, Nr. 96 bis 98. Vgl. auch Kinner, S. 426 f.
43 Winternitz, Lebenslauf, Bl. 6. 44 Siehe Hansjörg Schneider: Exil in der Tschechoslowakei. In: Werner Mittenzwei u.a.: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil, Bd. 5, Leipzig 1980, S. 133. Dies war die wohl einzige postume Erwähnung von Winternitz in einer DDR-Publikation. 45 Winternitz, Lebenslauf, Bl. 6. 46
Siehe Martin K Bachstein: Wenzel Jaksch und die sudetendeutsche Sozialdemokratie, München/Wien 1974, S. 261.
47 Winternitz an Paul Wandel, 16.10.1947. In: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO-BArch), DY 30/IV 2/11/v. 505, Bl. 5. 48 J. Winternitz: The Problem of Full Employment. A Marxist Analysis in four Lessions, London 1947, S. 23. 49 J. Winternitz: United Germany or Divided Europe, London 1947, S. 1. 50 Ebenda, S. 4. 51 Ebenda, S. 5. 52 Ebenda, S. 6. 53 Ebenda, S. 19. 54 Ebenda, S. 20. Hervorhebungen im Text. 55 Saul K Padover: Lügendetektor, Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, Frankfurt a. M. 1999, S. 60 (amerikan. Ausgabe 1946). 56
Isaac Deutscher: Reportagen aus Nachkriegsdeutschland, H a m b u r g 1980, S. 4L
57 So Winternitz in einem undatierten Bericht. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/11/v. 505, Bl. 2. 58 Winternitz, Lebenslauf Bl. 7. 59 Ebenda, Bl. 19. 60
Ebenda, Bl. 21.
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Ebenda, Bl. 6. Für die folgenden Abschnitte siehe Mario Keßler: Sozialisten jüdischer Herkunft zwischen Ost und West: Ernst Bloch, Hans Mayer, Alfred Kantorowicz, Leo Kotier, Josef Winternitz. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, Bd, 6, Berlin 1997, S. 159-178, hierzu S. 167 ff
62 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/11/v. 505, ohne Paginierung (o. P). 63 Jürgen Kuczynski an Alfons Steiniger, Zentralverwaltung für Volksbildung, 6.1.1948. In: H U B , UA, PA J. Winternitz, Bl. 1 2 / 1 . 64 Ebenda, Bl. 20. 65 Ebenda, Bl. 29.
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66 Ebenda, Bl. 37 (Gutachten in Englisch). 67 Winternitz, Lebenslauf, in: Ebenda, Bl. 7. 68 J. Winternitz: Probleme der Planwirtschaft, Berlin 1949. Ähnlich auch ders.: Zweierlei Wahlen. Zu den Wahlen in Großbritannien und in der Sowjetunion. In: Einheit, 1950, Nr. 3, S. 251-264. 69 Siehe Wolfgang Greß: Ein Professor ging. In: Auditorium (Studentenzeitung der Humboldt-Universität), Nr. 4, o.J. (1950). In: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin (ABBAW), Nachlaß (NL) A. Meusel, Nr. 1. 70 Winternitz bezog sich hier auf Stalins Definition aus dem Jahre 1913. Siehe J. W. Stalin: Marxismus und nationale Frage. In: Ders., Werke, Bd. 2, Berlin (Ost) 1950, S. 272. 71 J o s e f Winternitz: Marxismus und Nation, Berlin 1949, S. 11 f 72 Für den aktuellen Forschungs- und Diskussionsstand vgl. Leonid Luks (Hg.): Der Spätstalinismus und die »jüdische Frage«. Zur antisemitischen Wendung des Kommunismus, Köln etc. 1998. 73 Mitteilung der Abteilung Personalpolitik, 10.3.1949. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/11/v. 505, o. P. 74 Mitteilung von Hans Siebert, 1.10.1947. In: Ebenda, Bl. 3. 75 Ebenda, o. P. 76 Joseph (!) Winternitz: Von Stalin lernen! Zum Erscheinen des 1. Bandes der Werke Stalins. In: Einheit, 1950, Nr. 2, S. 163. Hervorhebung im Text. 77
Ebenda.
78 J. Winternitz: Stalin und die nationale Frage, Berlin (Ost) 1950, S. 119. In einem Brief (vom 21.5.1950) an Albert Schreiner wies dessen Assistent Werner Müller auf einige sachliche Ungenauigkeiten in Winternitz' Darstellung hin, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Vgl. das entsprechende Schriftstück im Nachlaß Albert Schreiners. In: S A P M O BArch, NY 4198/85, Bl. 259-262. 79 Vgl. Jürgen Kuczynski: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie, Berlin (Ost) 1957, und hierzu dessen teilweise subjektiv gefärbten, aber gut dokumentierten Erinnerungen: Frost nach dem Tauwetter. Mein Historikerstreit, Berlin 1993, S. 91 f. 80 Sekretariatsmitteilung, 18.9.1950. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/11/v. 505, o. P. 81 Prof Dr. Dr. Jürgen Kuczynski im Gespräch mit dem Verfasser, 18.12.1996. 82 Sekretariatsmittelung, 5.1.1951. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/11/v. 505, o. P. 83 Winternitz an den Rektor der Humboldt-Universität, 10.4.1951. In: H U B , UA, PA J. Winternitz, Bl. 52. 84 Mitteilung der ZK-Abteilung Internationale Verbindung, 9.4.1952. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/11/v. 505, o. P.
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B oris Angeluschev alias Bruno Fuck Ein bulgarischer Internationalist und Antifaschist in Deutschland (1924-1933)
»Er gehörte weder zu jenen, die mit Vorliebe die Aufmerksamkeit auf sich lenken, Aufsehen erregen, sich aufzwingen wollen, noch zu den Künstlern, die in gewissen Zeitabständen Verlautbarungen über ihre geschaffenen oder geplanten Werke verbreiten. Trotzdem aber war er immer mit und unter uns, immer anwesend in unseren Tagen«, so schrieb der Kunstkritiker Bogomil Rajnov über Boris Angeluschev (1902 - 1966) im Vorwort des Kataloges zu dessen retrospektiver Ausstellung 1975 am Berliner Fernsehturm. 1 Ein ganzes Leben lang schuf, »machte« Angeluschev »Dinge für die Menschen«, wie er selbst seine vielseitige künstlerische Tätigkeit bezeichnete. Er war Maler und Graphiker, Karikaturist, Illustrator, Plakat- und Buchgestalter. Wofür sich Boris Angeluschev auch immer einsetzte, stets war er ein politischer Künstler, der mit seiner Kunst polemisierte, Beweise antrat, Standpunkte behauptete, plädierte, postulierte, ironisierte, vor allem jedoch kämpfte. Sein selbstbestimmtes Lebensziel bestand darin, so banal das heute klingen mag, mit der Kunst dem Volke zu dienen. Das, was er künstlerisch bewegte und hervorbrachte, wollte er als »Aktionskunst«, als »anwendbare Kunst« verstanden wissen. Der aus Plovdiv stammende Humanist, Zeitzeuge, Mensch und Künstler Angeluschev kam 1924 zum Studium nach Berlin, wo er das Fach Graphik bei Ferdinand Spiegel und Hans Meid an der Hochschule für Bildende Künste belegte und dann abschloß. Vermittelt durch seinen Bruder Shivko Angeluschev, der in engem Kontakt zur Kommunistischen Partei Deutschlands stand und mit Albert Schreiner befreundet war, dem Redakteur der »Roten Fahne«, erhielt Boris Angeluschev noch als Kunststudent Aufträge für das Zentralorgan der KPD. Die politischen Ereignisse, insbesondere den aufkommenden und erstarkenden Faschismus empfand er zunehmend als moralische Herausforderung, sich mit seiner Kunst sowohl der kapitalistischen Misere als auch diesem gefährlichen Zeitstrom entgegenzustellen. D o c h die Mitarbeit in der progressiven Presse gefährdete seine soziale Existenz. Deshalb nahm er, um der polizeilichen Verfolgung als »unerwünschter Ausländer« zu entgehen, das Pseudonym »Bruno Fuck« bzw. »Fuk« an, ebenso wie der mit ihm befreundete
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ungarische Künstler Sandor Ek, der sich als Alex Keil aktiv an der proletarischrevolutionären Bewegung beteiligte. Über seine künstlerische Entwicklung vor dem Studium in Berlin erzählte Angeluschev 1961 in einem Rundtischgespräch: »Im Gymnasium malte ich akademischtrocken wie ein Vertreter des Naturalismus. Meine ersten Lehrer waren Ivan Mrkvicka und Jaroslav Weschin ... Bei der Aufnahmeprüfung in die Akademie der Künste in Sofia wurde mir beinah der erste Platz für eine geistlose, flache Arbeit zugesprochen. Bis heute empfinde ich diesen Erfolg nicht als Kompliment«. 2 Als Angeluschev nach Deutschland kam, wurde die dortige Kunstszene von Expressionismus, Futurismus und Dada, der Neuen Sachlickeit und dem sozial-kritischen Verismus dominiert. Er begriff die antibourgeoise Haltung, den progressiven Protest, die herausfordernde Agressivität vieler linker deutscher Künstler und ihr Nicht-Einverstanden-Sein mit den herrschenden Zuständen, erkannte aber auch ihre oftmals sektiererische Plakativität und ihren teilweise spielerischen Hang zum Linksradikalismus. Der junge Kunststudent sah sich deshalb zu produktiver Auseinandersetzung mit den wirklichen Problemen der damaligen deutschen Moderne gezwungen und zur Klärung der eigenen künstlerischen Absichten veranlaßt. Den Anschluß an die für ihn neue kulturelle Situation zu finden, half ihm die karikierende Zeitsatire von Georg Grosz. Die agressiv-demaskierende Bildsprache des großen Malers und Graphikers, sein Themenkreis - die makabren Seiten des großstädtischen Lebens, die Welt der Dirnen, Ganoven und Spießer - imponierten Angeluschev. Grosz's starker Einfluß schlug sich bei Angeluschev in der zupackenden Energie des Satirikers und im berichtenden Zeichenstil des kritischen Zeitbeobachters nieder. Später war es das Werk von Käthe Kollwitz, das ihn beeindruckte: die Tiefe ihrer künstlerischen Wirklichkeitsanalyse, die meisterhaften Komposition und die karge, aber verdichtenden Kontur ihrer Zeichnungen. Er hatte die großartige Frau und Künstlerin über einen Landsmann, den Graphiker Alexander Shendov, kennengelernt. »Der Künstler muß das machen, was die Menschen brauchen«. Diese Worte Angeluschevs charakterisieren sein schöpferisches Credo, ziehen sich wie ein roten Faden durch sein Leben und sind das Leitmotiv seines künstlerisches Schaffens. Nicht die museale Kunst, nicht für Museen bestimmte Gemälde und freie graphische Blätter lagen ihm am Herzen. Er fühlte sich zur aktuellen Pressezeichnung hingezogen, zum »klischierten, neuen, nach Druckerschwärze duftenden tausendfachen Doppelgänger, der auf den weißen Flügeln der Zeitungsblätter zu den Menschen flog« (B. Rajnov). 3 Sein Themenkreis in diesen Jahren waren die deutschen Arbeiter, ihr Lebensalltag und Klassenkampf waren Demonstrationen, politische Zusammenstöße, Aktionen des Tages und historische Persönlichkeiten. So entstand auch das fasziniernde Thälmann-Porträt von 1932.
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Während ihres Berliner Aufenthalt bildeten die Brüder Shivko, der Medizin studierte, und Boris Angeluschev das geistige Zentrum einer Gruppe progressiver bulgarischer Studenten. Die beiden gaben sogar eine kleine Zeitschrift der antifaschistischen bulgarischen Studenten im Ausland heraus, den »Narstud« (Abkürzung von Naroden Student = Student des Volkes). Sie brachte häufig Zeichnungen Angeluschevs, so unter dem Pseudonym Vasil Stojanov Illustrationen zu Geo Milevs Poem »September 1923«, das in Bulgarien verboten war.4 Angeluschev veröffentlichte seine kämpferische revolutionäre Graphik vor allem auf den Seiten der bulgarischen humoristisch-satirischen Zeitschriften »Tscherven smjach« (Rotes Lachen) und »Shupel« (Flüssiger Schwefel), dann in der »Roten Fahne«, der »Welt am Abend », in der satirischen Wochenschrift »Der Knüppel«, wo er zusammen mit J o h n Heartfield, Georg Grosz und Otto Dix zu den Hauptmitarbeitern gehörte, außerdem im »Roten Pfeffer« und in der »Arbeiter-Illustrierten-Zeitung« (»AIZ«). Weil zweckbestimmt und aus konkretem Anlaß geschaffen, besitzen Angeluschevs Plakate und Pressezeichnungen ihren besonderen Eigenwert, denn sie sind über das Künstlerische hinaus Dokumente von politisch-historischer und chronikalischer Bedeutung. Ideen für die Pressezeichnungen lieferten ihm das Zeitgeschehen und das eigene politische Engagement. Er war der K P D beigetreten, gehörte als ständiger Mitarbeiter dem graphischen Atelier im Hause des ZK an und zählte im Frühjahr 1928 zu den Mitbegründern der »Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands« (ARBKD = ASSO). Als mit Beginn der 30er Jahre die Gefahr des Faschismus immer deutlicher wurde und immer näher rückte, schob sich in Angeluschevs Schaffen das antifaschistische Element in dominanter Weise nach vorn. Zielbewußt suchte Angeluschev die Gegensätze der Klassenkräfte sichtbar zu machen, das Individuum als Teil der gesellschaftlichen Bewegung darzustellen. Durch die starke Verallgemeinerungskraft der zeichnerischen Form erlangte sein tagespolitisches Illustrationsmaterial eine ganz spezifische agitatorische Note. Der Verzicht auf überflüssige Details konzentrierte die Aussage auf das Wesentliche. Doch die Wiedergabe des Geschehens im realen zeitlich und örtlich bestimmten Raum, in einem konkreten, präzis gestalteten, dem zeitgenössischen Betrachter vertrauten Milieu steigerte die Überzeugungskraft der Aussage zusätzlich. Der Betrachter wird gezwungen, Position zu beziehen, sich mit der widergespiegelten Situation geistig auseinanderzusetzen. Zu Angeluschevs Pressezeichnungen gehört meistens ein sie ergänzender prägnanter Text als verbale Komponente. Dadurch ergab sich ein intensiveres Zusammenwirken von Zeichnung und Wort, des graphisch-linearen Ausdrucks und des politischen wie sozialen Standpunktes des Künstlers, so dass ein überzeugendes ästhetisches Ganzes von stark suggestiver Kraft entstand. Ihr konnte sich der Rezipient nur schwer entziehen, sogar dann nicht, wenn er vielleicht anderer politischer Meinung war.
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Angeluschev, der mitten im Zeitgeschehen stand, der uneingeschränkt und unbekümmert für die sozial Benachteiligten und Schwachen Partei ergriff, dessen Ideal eine von Ausbeutung und jeder Unterdrückung freie Gesellschaft war, reagierte sensibel auf das, was sich in den 1920er-1930er Jahren an den unterschiedlichen Fronten des sich in Europa zuspitzenden Klassenkampfes tat. Als es beispielsweise 1930 in Turin zum Generalstreik der FIAT-Arbeiter kam, erschien umgehend eine ganzseitige Zeichnung in der »AIZ«, in der er auch kleine Erzählungen oder feuilletonistische Artikel illustrierte. 5 Wahrheitsgetreue Widerspiegelung der Epoche, politische Aktualität und Entschlossenheit des Revolutionärs charakterisierten auch Angeluschevs Arbeit für das »Proletarische Theater«, das 1919 von Erwin Piscator gegründet wurde. Die Ziele dieses Theaters, so wie Piscator sie in seinem 1929 erschienenen Buch »Das politische Theater« formulierte, entsprachen Angeluschevs Vorstellungen von der Aufgabe der Kunst. »Das Theater sollte nicht mehr allein gefühlsmäßig auf den Zuschauer wirken ... Nicht nur Aufschwung, Begeisterung, Hingerissenheit, sondern Aufldärung, Wissen, Erkenntnis sollte es vermitteln« (Piscator). Nach der Machtübernahme Hitlers setzte Angeluschev im Exil in Prag und Zürich seinen K a m p f gegen den deutschen Nationalsozialismus auf den Seiten der »AIZ«, des »Simplizissimus« (beide erschienen in der Tschechoslowakei) und des »Nebelspalters« (erschien in der Schweiz) fort, in den Reihen der deutschen Emigration, der er sich politisch zugehörig fühlte. Treffsicher, prägnant-klassisch entlarvte er in seinen Karikaturen und Pressezeichnungen das wahre Gesicht der Nazidiktatur. Es gab auch im Ausland genug Menschen, die, selbst wenn sie v o m Faschismus nichts wissen wollten und ihn passiv ablehnten, dennoch bereit waren, sich mit ihm abzufinden. Sie mußten aufgeklärt, aufgerüttelt werden, ging es doch um Frieden oder Krieg, um Freiheit oder Sklaverei, um Leben oder Tod, und jede »Rücksicht auf die Gefühle« der Faschisten, die Kurt Tucholsky in dem Chanson »Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft« scharf verspottete, führte zur Legitimierung ihrer mörderischen, menschenfeindlichen Politik. 1934 erschienen im »Simplizissimus«, »Der Kämpfer«, »Nebelspalter« und in der »AIZ« Zeichnungen und Karikaturen, die auf geradezu unheimliche und - wie wir heute wissen - hellseherische Art den deutschen Nationalsozialismus demaskierten, seine Menschenfeindlichkeit und Gefährlichkeit bloßlegten. Der Antifaschist und Internationalist Angeluschev wollte den Blick der europäischen Öffentlichkeit auf den wahren Charakter des Naziregimes schärfen helfen. Bereits 1934/1935, als die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in und viele Menschen außerhalb Deutschlands im Rausch der Illusion zu Befürwortern und Mitläufern des Faschismus wurden, ließ er mit seiner Kunst keinen Zweifel, wohin die nationalsozialistische Herr-
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schaft das eigene Volk und Europa fuhren würde und wo sie auch tatsächlich endete. Auf die elementare Aussage reduziert, lakonisch, von bedrückender Schwere, ohne jedes Beiwerk enthüllte er zeichnerisch den wahren Sinn dreier faschistischer Losungen - Brot und Freiheit, Blut und Boden, Volk und Ehre - oder Hitlers Rezept zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit, das über Arbeitsdienst, Krieg (»Mit Parademarsch gegen den Bolschewismus«) direkt ins Massengrab führte. Noch 1933 war im »Der Kämpfer« und in der »AIZ« die Karikatur »>Volksgericht< in Berlin« publiziert worden. An die Stelle der Richterköpfe hatte Angelusev bluttriefende Henkersbeile gesetzt. 6 Nur eines konnte er nicht erahnen und voraussehen, weil es sich - damals menschlicher Vorstellungskraft entzog: Buchenwald, Theresienstadt, Auschwitz. Seine geradezu teuflisch klaren Karikaturen wurden zu Negativzeichen des deutschen Nationalsozialismus, zu Gegensymbolen, und sie sind es bis heute geblieben. 1935 kehrte Angeluschev nach Bulgarien zurück, wo er sich der zu jener Zeit progressivsten Künstlergruppe »Novi chudoshnizi« (Neue Künstler) anschloß, sein proletarisch-revolutionäres Schaffen in den Dienst der Heimat stellte und als Mitarbeiter vornehmlich linker, aber auch liberaler Zeitschriften und Zeitungen von seinem K a m p f gegen Faschismus und Krieg nicht abließ.
A nmerkungen 1
B. Raijnov: Boris Angeluschew. In: Boris Angeluschew/Bruno Fuck, Katalog zur Ausstellung im Ausstellungszentrum am Fernsehturm Berlin, Berlin 1975, S. 3.
2
Boris Angeluschev za risunkata. In: Izkustvo 1961, Heft 9/10, S. 6 - 13.
3
B. Rajnov, a.a.O., S. 3.
4
In: Narstud, 1926, Hefte 3 - 5.
5
Die Pressezeichnung zum Turiner Generalstreik in »AIZ« Jg. 9, 1930, Nr. 33, S. 643; weitere Illustrationen Angeluschev/Fucks u.a. ebenda, J g . 9, 1930, Nr. 22, S. 443, Nr. 36, S. 715; J g . 10, Nr. 27, S. 543.
6
Die Zeichnungen und Karikaturen siehe in A. Stoijkov: Balgarskata karikatura, Sofia 1970, S. 177 f. / Abb. 1 f., S. 181 / Abb. 7; auch im Katalog von 1975 (Fußnote 1), S.19 - 21 (dort aber mit ungenauen Zeitangaben).
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A nhang
Generalstreik der Fiat-Arbeiter in Turin
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Blut
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Brot und Freiheit
Volksgericht
Volk und Ehre
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Rezept zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit
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Ulrich Wilcken in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft 1933-1943
Die am 19. Januar 1863 gegründete Berliner Mittwochs-Gesellschaft war von Anfang an - bei statutarisch 16 Mitgliedern - ein im höchsten Maße elitärer Kreis von großen Gelehrten und hohen Beamten. 1 An den Zweck dieser, wie sie sich noch nannte, »Freien Gesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung« erinnerte expressis verbis der Geograph Albrecht Penck (Mitglied seit 1906) in seiner auf der 900. Sitzung vom 8. November 1933 gehaltenen Festansprache. »Unsere Gesellschaft«, betonte er, »... vereint Männer der verschiedensten Richtungen und Weltanschauungen auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung ihres sittlichen Charakters und aufrichtiger Liebe zur Wahrheit, sie ist eine geistige Gemeinschaft, bei der es auch für entgegenstehende und nicht ohne weiteres auszugleichende Ansichten ein Gebiet gemeinsamer Überzeugungen gibt, begründet zum Zwecke des freien Austausches wissenschaftlicher Gedanken über die mannigfachsten Gegenstände mit alleiniger Ausnahme der Tagespolitik«. 2 Pencks Worte betrafen die vergangene und die damals gegenwärtige Existenz der Gesellschaft. Sie konnten gedacht sein und verstanden werden als Reminiszenz und zugleich Mahnung, ja Verpflichtung, unter den seit Januar 1933 neuen politischen Verhältnissen unbedingt am erprobten Wertekodex dieser »geistigen Gemeinschaft« festzuhalten. Aber, so ist zu fragen, war es den Mitgliedern der Mittwochs-Gesellschaft angesichts der nun einschneidenden gesellschaftlichen, ideologischen und innenpolitischen Veränderungen in Deutschland, der zunehmenden Militarisierung des Landes, seiner weitgehenden äußeren Isolierung, des Krieges (seit 1939), der Gewalt und der Verbrechen des faschistischen Regimes überhaupt möglich, sich der tagespolitische Wirklichkeit zu verschließen? War die Tagespolitik mit einigen ihrer für Deutschland geradezu katastrophalen Folgen auf Dauer v o m elitären Zirkel der Mittwochs-Gesellschaft fernzuhalten? Die dort versammelten Männer, diese akademisch geschulten Gelehrten von Rang und hohen Beamten, besaßen genug analytischen Verstand, Kenntnisse und Einsichten, vielleicht auch zuviel Charakter und Ethos, um nicht das, was sich in und um Deutschland tat, wahrzunehmen und in seiner Menschen- wie Kulturfeindlichkeit beurteilen zu können.
Ulrich Wilcken in der Berliner Mittwochs-Gesellschaf't 1933-1943
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In Berichten der Gestapo vom 1. August 1944 wird die Gesellschaft als »einer der Treffpunkte« bezeichnet, »an denen auf gesellschaftlicher Basis im Anschluß an wissenschaftliche Facherörterungen in kritischer, zum Teil ausgesprochen pessimistischer Art Fragen der politischen und militärischen Lage des Reiches erörtert wurden«. Am 23. August heißt es dann, daß sich die Mittwochs-Gesellschaft »tatsächlich« als Kristallisationspunkt darstellt, »in dem sich Persönlichkeiten defaitistischer und dem Nationalsozialismus feindlicher Flaltung zusammenfanden und sich gegenseitig in ihrer Haltung bestärkten«. 3 Zwischen dem Ende 1933 von Penck fast beschwörend in Erinnerung gebrachten Grundsatz der Gesellschaft, auf ihren Zusammenkünften die Tagespolitik zu meiden, und den Feststellungen der Gestapoberichte 1944 liegt ein Spannungsbogen, der Widersprüchliches signalisiert, konsequenten Widerstand auf der einen, Angepaßtheit, geistige Mittäterschaft auf der anderen Seite. Die Mittwochs-Gesellschaft war weder ein »Klub von Hochverrätern«, wie von der Gestapo behauptet 4 , noch ein elitärer Kreis von Parteigängern des Nationalsozialismus. Ihr gehörten Männer des 20. Juli an, desgleichen sogenannte innere Emigranten, Zweifler, auf das Hitlerregime Hoffende und seine über längere oder kürzere Zeit Befürworter. Wie Klaus Scholder, der Herausgeber einer grundlegenden Dokumentation über die Mittwochs-Gesellschaft, meint, bewegten sich ihre Mitglieder namentlich in den Jahren 1935 - 1938 in dem damals für viele Deutsche zeitbedingt typischen Dilemma, »sich zwischen der Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Vertreter und der Anerkennung der unbezweifelbaren außen- und innenpolitischen Erfolge entscheiden zu müssen«. Er konstatiert eine »gewisse Unsicherheit und Unentschiedenheit«, von der auch ein Mann wie der im Februar 1945 hingerichtete preußische Finanzminister und Universitätsprofessor Johannes Popitz (Mitglied seit 1932) nicht frei war, aber auch unverkennbaren Optimismus. 5 Der Rassenforscher Eugen Fischer (Mitglied seit 1927) blieb bis zu seiner Emeritierung Mitglied der Gesellschaft und dem faschistischen Regime treu. Es gab ohne Zweifel Unüberbrückbares im Verhältnis zum Nationalsozialismus, das jedoch einen ungeschriebenen Ehrenkodex im Umgang miteinander nicht außer Kraft zu setzen vermochte. Nur so erklärt sich, was der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger (Mitglied seit 1934) rückblickend konstatierte: Der Mittwochs-Gesellschaft gehörten »auch solche an, die Hitler bewunderten, mindestens sein System und seinen Kurs für richtig hielten ... Es ist aber kein Fall von Indiskredition bekannt geworden«. 6
Die akademische Laufbahn führte den 1862 geborenen Ulrich Wilcken von Berlin, wo er 1888 als Privatdozent lehrte, über Breslau (1889 - 1900), Würzburg (1900 -
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1902), Halle (1903 - 1905), Leipzig (1906 - 1912), Bonn (1912 - 1915), München (1915 - 1917) wieder nach Berlin. 7 Als er hier im Jahre 1918 die Stelle des Althistorikers und Epigraphikers Otto Hirschfeld übernahm, war Wilcken ein allseits anerkannter Gelehrter mit in der wissenschaftlichen Welt weitgefächerten Verbindungen. Er, der als »Meister und Vater der Papyrusforschung« galt, zumindest in Deutschland, hatte besonders durch die Herausgabe des »Archivs für Papyrusforschung« (seit 1901), durch seine Werke »Griechische Ostraka aus Aegypten und Nubien« (1899), »Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde« (1912, mit L. Mitteis) und durch seine - auch über Deutschlands Grenzen hinaus - unermüdliche Förderung altertumskundlicher Forschung bleibenden Ruhm und internationale Anerkennung errungen. 8 1926 wurde Wilcken in die Mittwochs-Gesellschaft aufgenommen, in die er sich mit seinem soliden Persönlichkeits- und Gelehrtenprofil gut einfügte. Er hatte sich selbst - 1897 in einem Brief an Theodor M o m m s e n - als Nationalliberalen bezeichnet. 9 Das paßte zu seiner Bewunderung Bismarcks und zu seiner deutsch-nationalen Einstellung. 1 0 Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und den sich daran knüpfenden revolutionären Veränderungen in Deutschland und Osteuropa, die den Sturz der Hohenzollern-, Habsburger- und Romanow-Dynastien einschlossen, scheint sich dann eine stärkere Hinwendung zu konservativen Standpunkten vollzogen zu haben. Das drückt sich deutlich in der 1931 veröffentlichten Geschichte Alexanders des Großen aus." Der makedonische König wird dort stark idealisiert. Unverkennbar sind Wilckens Sympathien für die monarchische Staatsordnung. Seiner einerseits konservativen Grundhaltung, die über die politische Komponente hinaus auch einen entsprechenden Wertekonsens einschloß, entsprach andererseits die Ablehnung aller »Roten«. 1 2 Die sich dahinter verbergende Abscheu vor politischen Extremen und damit verbundenen moralischen Rigorismen ließ ihn gleichzeitig Distanz zur nationalsozialistischen Bewegung halten. Er blieb »schwarz-weiß-rot«, ohne jegliche »braune« Einfärbung.
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, war Wilcken über 70 Jahre alt. Zehn Jahre lang gehörte er noch der Mittwochs-Gesellschaft an, ehe er, um dem Bombenangriffen zu entfliehen, 1943 Berlin verließ, und all diese Jahre beteiligte er sich aktiv an dem in diesem Gremium üblichen wissenschaftlichen Gedankenaustausch, ganz im Sinne einer Universitas litterarum. 13 In jener Zeit sahen sich die Mitglieder der Gesellschaft einzeln und als korporative elitäre »geistige Gemeinschaft« mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die auf die eine oder andere Weise - ihr zustimmend, sich ihr versagend oder sie kritisch-negierend - zur Stellungnahme herausforderte.
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Schon kurz nach der nationalsozialistischen Wende 1933 vollzog sich eine offenbar nicht zu umgehende, vorerst vorsichtige, mit dem Kriegsbeginn 1939 dann aber zunehmende Öffnung der Mittwochs-Gesellschaft hin zu jenen für Deutschland akut werdenden Schicksalsfragen, denen gegenüber ihre Mitglieder nicht mehr gleichgültig bleiben konnten und durften. Nicht daß deshalb ihre Sitzungen zu Debattierabenden wurden, aber sowohl die Thematik der Vortrage als auch die sich daran - in geselliger Runde - knüpfenden Gespräche offenbarten in der Tat von etwa 1935 an immer stärker werdende aktuelle Bezüge. Wie der Journalist und Literaturhistoriker Paul Fechter (Mitglied seit 1938) mitteilt, war es namentlich Johannes Popitz, der aus der Gesellschaft »langsam und vorsichtig eine unauffällige Zelle des Widerstandes machte«. Er war es auch, der bestimmte Persönlichkeiten »in bewußter politischer Absicht« in die MittwochsGesellschaft holte, so Ende 1939 Ludwig Beck, Generaloberst und ehemaliger Chef des Generalstabes, und Ende 1940 den Diplomaten Ulrich von Hasseil, der im engen Kreis der Sitzungen »kein Hehl aus seinen Gefühlen gegen die Herren des Dritten Reiches« machte. 1 4 Alle drei, Popitz, Beck und von Hassell, bezahlten ihren Widerstand gegen das Hitler-Regime mit dem Leben. Kein Wunder also, daß die Gestapo die Mittwochs-Gesellschaft zu einem »Klub von Hochverrätern« erklärte. Wenn Beck am 28. November 1940 »Über den deutschen Kriegsplan 1914« referierte, so war das zu diesem Zeitpunkt gewiß kein Zufall. Der Luftkrieg gegen England war gescheitert. Deutschland, Italien und Japan hatten sich zum Dreimächtepakt verbunden, dem noch im November 1940 Ungarn, Rumänien und die Slowakei beitraten. Die Italiener kämpften glücklos in der Kyrenaika, Hitler plante, wie Beck gewußt haben dürfte, bereits den Überfall auf die Sowjetunion. Beck führte aus, daß es der Sinn eines Kriegsplanes sei, den gesamten Kriegsverlauf bis zu dessem angestrebten Ende zu durchdenken, d.h. auch Alternativen zu berücksichtigen, falls bestimmte Kriegsziele nicht oder nur teilweise erreicht würden. Politischer Zweck und militärisches Ziel seien dabei klar zu unterscheiden und immer gegeneinander abzuwägen. Er sprach weiter über die Bedeutung der englischen Kriegsgegnerschaft, des Umfangs des Gesamtkriegstheaters, über die Einflüsse eines Wirtschaftskrieges auf den Kriegsablauf (dahinter stand die Frage der deutschen wirtschaftlichen wie militärischen Ressourcen) und gelangte abschließend zu der Feststellung, »daß Deutschland ohne einen eigentlichen Kriegsplan in den (Ersten - A. J.) Weltkrieg gegangen ist«. Beck, so Fechter (wie Wilcken einer der 11 Zuhörer), »sprach von der Vergangenheit als Mann der historischen Kritik: man spürte wieder zugleich den Spiegel, den er der Gegenwart vorhielt«. 1 5 Auch seine beiden nachfolgenden Vorträge »Über die Frage: West- oder Ostoffensive 1914« am 11. Juni 1941 (Wilcken war anwesend) und »Die Lehre vom totalen Krieg (eine kritische Auseinandersetzung)« am 17. Juni 1942
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waren - rückblickend - von bedrückender Gegenwartsnahe, denn nur wenige Tage nach dem ersten Vortrag überrollte die deutsche Kriegsmaschine die sowjetischen Grenzen (Beck war informiert und wird sicher hoffnungsvoll optimistisch gewesen sein). Acht Monate nach dem zweiten, am 18. Februar 1943, erklärte Joseph Goebbels den »totalen Krieg«. Der Wirklichkeitsbezug, der in Becks genannten Vorträgen so offensichtlich ist, fällt auch in einigen Referaten auf, die von Johannes Popitz (u.a. »Über die jüngste deutsche Entwicklung« am 26. April 1933), dem Juristen Bill Drews (u.a. »Über die Entwicklung der Meinungsfreiheit in Deutschland« am 6. November 1935), dem Kunsthistoriker Wilhelm Pinder (u.a. »Über die Rolle der österreichischen Kunst innerhalb der gesamtdeutschen« am 20. April 1938) oder Ulrich von Hassells (u.a. »Über die Persönlichkeit Mussolinis« am 26. November 1941) gehalten wurden. 1 6 Nicht viel anders war es bei einzelnen der von Wilcken behandelten Themen. Am 7. März 1934 referierte er über »Die staatsrechtlichen Formen der römischen Dictatur«, wobei er insbesondere auf die Dictatur Sullas und Caesars einging, deren römische Spezifik herausstrich und ihre Zeitweiligkeit hervorhob. Das eigentliche Problem war ihm anscheinend aber der dictator perpetuus, der, so wie es mit Caesar geschah, nur gewaltsam beseitigt werden könne. Als er das Thema nach sechs Jahren in der Preußischen Akademie erneut aufgriff, zitierte er im Hinblick auf Caesar den Gedanken Theodor Mommsens, »daß gegen den legalisierten Absolutismus es schließlich keine Hülfe giebt als die illegale Selbsthülfe der Einzelnen«. Er fügt hinzu: »Angewendet auf Caesars Ermordung aus Anlaß der Übernahme der lebenslänglichen Diktatur, durch die sein Absolutismus legalisiert wurde, trifft dieser gefährliche Satz in der Tat den Nagel auf den Kopf«. Er war vielleicht schon 1934 geäußert worden. 1 7 In eindrucksvoller Weise jedoch reflektierte bzw. berührte sein Vortrag über »Die Juden in der Diaspora Ägyptens und das Problem des antiken Antisemitismus« den im nazistischen Deutschland üblich gewordenen, ja geradezu als gesellschaftliche N o r m eingeforderten militanten Judenhaß (gehalten am 4. Mai 1938). 1 8 Das Thema an sich war für Wilcken nicht neu. Schon 1909 hatte er sich dazu in seiner Schrift »Zum Alexandrinischen Antisemitismus« geäußert. Auch im ersten Band der »Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde« (1912) war er kurz darauf eingegangen. 1 9 Gewiß, seither war neues Material hinzugekommen, aber es scheint ganz ohne Zweifel noch einen Anstoß von außen gegeben zu haben, um sich der Problematik erneut anzunehmen. Dieser äußere Anstoß war offenbar ein doppelter. Er dürfte zum einen aus der Mittwochs-Gesellschaft selbst herrühren, wo Eugen Fischer, den man »heute einen »Rassisten« nennen würde« (K Scholder) 2 0 wiederholt in durchaus akademischem Stil zu Fragen der Rasse, der Vererbung und der Rassenhygiene referierte. 2 1 Zum anderen gab es seit 1935 die sogenannten Nürnberger Gesetze, jene auf
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der Rassentheorie fußenden, vornehmlich gegen die jüdischen Deutschen gerichteten Ausnahmebestimmungen, die später die Rechtsgrundlage für die von den Nazis europaweit praktizierte Judenausrottung bildeten, vorläufig jedoch die Stigmatisierung, Entsozialisierung und teilweise Vertreibung des deutschen jüdischen Bevölkerungsteils bedeuteten. Wie weit die Auswirkungen dieser Gesetze reichten und wie sie ausnahmslos keinen Bereich gesellschaftlichen Lebens unberührt ließen, mußten auch die Mitglieder der Mittwochs-Gesellschaft sehr direkt erfahren. Der Kunsthistoriker Werner Weisbach (Mitglied seit 1910) wurde 1933 - wie viele andere - aus rassischen Gründen aus der Berliner Universität entlassen. Im März 1935 untersagte ihm die Reichsschrifttumskammer die Veröffentlichung seiner Arbeiten mit folgender Begründung: »Bei der hohen Bedeutung geistiger und kulturschöpferischer Arbeit für Leben und Zukunftsentwicklung des deutschen Volkes sind zweifellos nur die Persönlichkeiten geeignet, eine solche Tätigkeit auszuüben, die dem deutschen Volke nicht nur als Staatsbürger, sondern auch durch die tiefe Verbundenheit der Art und des Blutes angehören ... Durch Ihre Eigenschaft als Nichtarier sind Sie außerstande, eine solche Verpflichtung zu empfinden und anzuerkennen«. 2 2 Da Weisbach das kopierte Schreiben der Reichsschrifttumskammer zusammen mit einer eigenen Stellungnahme jedem Mitglied der Gesellschaft zusandte, sahen sich jeder Einzelne und das Ganze mit einer zweifellos als unangenehm empfundenen Wirklichkeit unmittelbar konfrontiert und durch sie herausgefordert. 2 3 Albrecht Penck, Kanzler der Gesellschaft seit 1924, teilte daraufhin im April 1935 Weisbach das mit, was als einhellige Meinung wohl aller ihrer Mitglieder zu gelten hatte: »In unserem Kreis herrscht noch die alte Auffassung von Recht und Gerechtigkeit. Wir sehen daher keine Veranlassung, unsere Stellungnahme Ihnen gegenüber irgendwie zu ändern«. Einige Mitglieder der Gesellschaft erklärten sich darüber hinaus in persönlichen Zuschriften solidarisch mit Weisbach und bedauerten den für Deutschland schändlichen Vorgang. Auch als er am 12. Dezember 1935 über seine nun inzwischen erfolgte Emigration in die Schweiz und den damit verbundenen Austritt aus der Mittwochs-Gesellschaft informierte, fand er Verständnis und Zustimmung. 2 4 Bedeutsam in diesem Zusammenhang war Eduard Sprangers Vortrag vom 17. April 1935 zum Thema »Gibt es eine >liberale< Wissenschaft?« Laut Sitzungsprotokoll (Wilcken war anwesend) äußerte er sich u.a. zur Behauptung der nationalsozialistischen »aktuellen Bewegung«, daß »Wissenschaft ... im Charakter« wurzele, »ja schon im Blute des Forschers. Nur der rassisch reine, der körperlich gesunde, der soldatische und willensstarke Mensch könne mit Erfolg Wissenschaft treiben ... Einen solchen Menschentyp müsse man gewinnen durch Auslese, durch Charakterschulung, zuletzt durch Züchtung. Dieser Forderung«, so nun Spranger, »kann die liberale Wis-
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senschaft nur mit dem Hinweis antworten, daß sie auch im 19. Jahrhundert charaktervolle Vertreter gehabt habe«. Weiter verwies er auf den im Nationalsozialismus »ungelösten Kontrast zwischen Rassenideologie (übrigens künstlicher!) und Rassenwissenschaft«, um letztlich deutlich zu machen, daß, wer eine gläubige, aktivistische politische Ideologie gegen die kritische, wirklichkeitsnahe Wissenschaft setzt, »im Grunde überhaupt nicht Wissenschaft« will. »Denn der Wille zur Macht ist wesensmäßig etwas anderes als der Wille zur Wahrheit«. 2 5 Nach Auflassung Scholders bedeutete dieses, seine Zuhörer zweifellos beeindrukkende Referat eine klare Abgrenzung vom nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnis und zugleich eine Zäsur für das Selbstempfinden der Mittwochs-Gesellschaft: »Deutlicher konnte man es, deutlicher mußte man es aber auch nicht sagen, was die Herrschaft des Dritten Reiches für jene Tradition bedeutete, aus der dieser Kreis lebte«. 2 6 Ulrich Wilcken hat in diesem für die Selbstfindung der Gesellschaft so wichtigen Jahr 1935 an fast allen Sitzungen teilgenommen, so auch an der am 9. Januar, als Eugen Fischer über das »Problem der Rassenkreuzung beim Menschen« sprach und für das selbstverfaßte Protokoll als Quintessenz festhielt: »Geistig minderwertige Rassen (z.B. Neger) setzen in Kreuzung mit hochwertigen deren Leistung herab. Geistig andersartige (Juden gegen Europäer), ändern die geistige Richtung der Leistung (Kultur)«. 2 7 Gut zwei Jahre später (20. Januar 1937), Wilcken war wiederum anwesend, schloß Fischer seinen Vortrag »Über Ursachen und Vorgang der Rassenbildung in der Menschheit« mit dem Gedanken ab, daß letztlich von der Rassenbildung »die kulturelle Leistungsfähigkeit der Völker« abhängt »und damit deren Schicksal«. 2 8 Wilcken geht in seinem Vortrag von der Tatsache aus, daß es im Altertum seit längerem schon eine Zuwanderung von Juden (Judäern) nach Ägypten gab und im 5. Jahrhundert v. Chr. an dessen Südgrenze sogar eine jüdische Militärkolonie eingerichtet wurde. Der sich in dieser ersten Phase ägyptisch-jüdischen Nebeneinanders zeigende Gegensatz, so Wilcken, war religiöser Natur, denn beide, Ägypter wie Juden sahen sich als unrein an. Als politischer Grund kam hinzu, daß die Juden im persisch beherrschten Ägypten loyale Untertanen waren, während die Ägypter den Persern feindlich gegenüberstanden. Nachdem Alexander der Große das Land quasi befreit hatte, wurden die zahlreicher werdenden und zum großen Teil in Alexandreia ansässigen Juden die loyalsten Untertanen der ptolemäischen Regierung und genossen deshalb auch eine Reihe von Privilegien. Folgerichtig sieht Wilcken die Wohnsituation der Juden in Alexandreia, anfangs als Ganzes in einem der fünf Wohnviertel, nicht als Manko, nicht als, wie er ausdrücklich betont, ghettogleich an, sondern als seitens der Zentralgewalt zugestandenes Vorrecht. Auch das Bürgerrecht wurde ihnen nicht willkürlich vorenthalten. Die damit verbundenen kultischen Pflichten waren
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mit ihrer Religion schlicht unvereinbar. Dafür organisierten sie sich in einem Politeuma, in einer sich selbst verwaltenden Sondergemeinde. Noch etwas hebt Wilcken hervor. Viele der ägyptischen Juden hellenisierten sich, übernahmen das Griechische und paßten sich, von konservativen Glaubensgenossen argwöhnisch beäugt, der griechischen Kultur an. Sie waren Intellektuelle, Grundbesitzer, Pächter (Königsbauern), Handwerker, Steuerpächter, auch Geldleiher. Aber sie waren nicht, wie Wilcken einer stereotypen Vorstellung entgegenhält, »das Haupthandelsvolk der alten Welt«. Die beidseitige Exklusivität von Griechen und Juden, bei (nicht durchgängiger) griechischer antisemitischer Gesinnung hier und jüdischer Apologetik (ebenfalls begrenzt) dort, mußte seiner Meinung nach ihren Grund »in etwas« gehabt haben, »daß nur den Juden eigentümlich war, und das kann nur die Religion gewesen sein, diese nur ihnen eigene hochstehende monotheistische Religion, die sie von einem Gemeinschaftsleben mit den Griechen ausschloß«. 2 9 Natürlich steuerte auch der wirtschaftliche und soziale Konkurrenzneid der Griechen seinen Anteil bei, zumal nicht wenige der Juden in Alexandreia große Reichtümer angehäuft hatten. Eines jedoch schließt Wilcken kategorisch aus: irgendeine Rassenproblematik, denn »daß die Rassenfrage keine Rolle gespielt hat, dafür spricht u.a. die Tatsache, daß, sobald ein J u d e seinen Glauben aufgab, ihm alle Ehren und Ämter offenstanden. Beispiel: Titus Julius Alexander, ein geborener Jude, aber Renegat, ist Vizekönig von Ägypten geworden«. 3 0 Er geht dann noch auf die vor allem im politischen Bereich zu suchenden Beweggründe ein, die 28 n. Chr. in Alexandreia zum ersten Mal zu einem Judenpogrom führten. Das lag daran, daß die alexandrinischen Juden sich ausgesprochen römerfreundlich verhielten, die alexandrinischen Griechen der Römerherrschaft aber besonders feindselig gegenüberstanden. Eine Veränderung trat ein, nachdem sich 115 n. Chr. die Juden von Mesopotamien bis hin zur Kyrenaika gegen die Römer erhoben hatten. Dennoch verschwanden die antisemitischen Tendenzen unter den alexandrinischen Griechen nicht ganz. 3 1 Wilckens Vortrag - zumindest das von ihm hinterlassene Protokoll - zeichnet sich durch jene kühle akademische Sachlichkeit aus, die für die in der Mittwochs-Gesellschaft gehaltenen Referate typisch war. Es fehlt jeder, aber auch jeder Anklang an die damals zeitgemäße faschistische antisemitische Sprachpraxis. Vermieden wird der Begriff des Rassischen. Das Wort Rassenffage gebraucht er nur, um zu zeigen, daß im hellenistisch-römischen Alexandreia rassistisch motivierte Ressentiments zwischen Juden und Griechen nicht existierten und Rassenzugehörigkeit kein das Zusammenleben der Völker dominierender Faktor war. Wilcken begab sich nicht auf die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland klar
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vorgezeichnete, rassistisch determinierte antisemitische Grundlinie. Das schließt nicht aus, daß er sich möglicherweise bestimmten tatsächlichen oder vermeintlichen Eigenheiten seiner Mitbürger mosaischen Glaubens gegenüber voreingenommen verhielt, Verhaltensweisen, die ihm aber genauso mißfielen, wenn sie sich bei deutschen Katholiken oder Protestanten zeigten. Als princeps papyrologorum nahm er in der internationalen Gemeinschaft der Altertumswissenschaftler eine so zentrale Stellung ein, daß ihn der Alltag seines europaweiten gelehrten Umgangs deutlich über nationale Borniertheit und rassistisches Vorurteil hinaushob. Folgerichtig lehnte er - wie andere Historiker auch 3 2 - Alfred Rosenbergs Machwerk »Der Mythos des 20. Jahrhunderts« (1930) ab, sprach gar - zumindest im Kreise der Familie - von Geschichtsfälschung. 33
Ulrich Wilcken war kein Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie, kein Befürworter faschistischer Rassenpolitik, kein Parteigänger der Nazis. Er hielt nichts von ihnen und verweigerte sich auf seine Art dem braunen Regime. Das dürfte ihm in seinem Alter leicht gefallen sein, zeugt aber dennoch von Mut, charakterlicher Integrität und einem hohen Maß an Selbstachtung. Verständlicherweise hielt er sich mit öffentlichen Äußerungen zurück, so daß sich nur wenige Zeugnisse erhalten haben, die sein kritisch-ablehnendes Verhältnis zur politischen Entwicklung des Nazireiches belegen. Seine offenbar grundsätzliche Parteienfeindlichkeit drücken der eigenhändige Vermerk »Bin nie Mitglied einer Partei gewesen« in der Fragebogenrubrik über politische Betätigung in seiner UniversitätsPersonalakte (begonnen am 18. März 1936) und das in Majuskeln geschriebene »NEIN« an gleicher Stelle - »Zugehörigkeit zu politischen Parteien und Verbänden« - in der im Archiv der Akademie der Wissenschaften aufbewahrten Akte aus. Respekt verdient, daß er das ihm 1938 angetragene Treudienst-Ehrenabzeichen mit der Begründung ablehnte, er sei als Emeritus dienstlich nicht mehr tätig, komme »also für diese Angelegenheit nicht in Betracht«. Andererseits nahm er 1942 die ihm anläßlich seines 80. Geburtstages von Hitler verliehene Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft entgegen. 3 4 So fragwürdig heute die Annahme dieser Auszeichnung erscheinen mag, aus der Sicht Wilckens dürfte sie sich auf den Namen des von ihm geschätzten Dichterfürsten Goethe und das eigene Selbstbewußtsein zurückführen lassen, diese Medaille durch eine gewaltige wissenschaftiche Lebensleistung verdient zu haben. Der N a m e Goethe überstrahlte die Zeiten, stand für das geistige Deutschland, dem Wilcken sich verbunden fühlte. Der »Führer« dagegen war ohne Belang. 1936 war Wilcken zum Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften ernannt worden. Da er seine Zustimmung gegeben hatte, ohne zuvor das Einver-
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ständnis des zuständigen Ministers eingeholt zu haben, mußte er sich seiner Eigenmächtigkeit wegen schriftlich rechtfertigen. 3 5 1938, im Mai, wählte ihn die American Academy of Arts and Sciences in Boston zum Ehrenmitglied. Dieses Mal war er vorsichtiger. Wilcken bedankte sich für die ihm erwiesene Ehre, merkte aber zugleich an, daß er noch die »ministerielle Genehmigung der Annahme dieser ausländischen Ehrung« abwarten müsse. Im September 1938 informierte der Rektor der Berliner Universität Wilcken über die vom Minister getroffene Entscheidung: »Der Herr Reichserziehungsminister teilt mir durch Erlaß vom 12. September 1938 ... folgendes mit: Nach einem amtlichen Bericht hat die American Academy of Arts and Sciences kürzlich den früheren deutschen Reichskanzler Dr. Brüning zu ihrem Ehrenmitglied ernannt. Da ich der Ansicht bin, daß aus diesem Grunde jeder Hochschullehrer des neuen Deutschlands von sich aus auf eine Ehrung verzichten wird, ersuche ich, Prof. Dr. Wilcken die Ablehnung nahe zu legen. Die erbetene Annahmegenehmigung vermag ich nicht zu erteilen«. Wilcken fügte sich, machte aber in seinem Schreiben nach Boston deutlich, daß nicht er die Wahl ablehne, sondern der Minister. Was wäre geschehen, wenn Wilcken über seine für ihn selbstverständliche Disziplin als Beamter hinaus gewachsen wäre? 3 6 Wilcken stand mit seinem kritisch-ablehnenden Verhältnis zum Nationalsozialismus zwischen den zwei Polen, die im Bereich der deutschen Altertumswissenschaft zum einem durch den Althistoriker Ulrich Kahrstedt, der in seiner am 18. Januar 1934 an der Göttinger Universität gehaltenen Festrede zur Reichsgründungsfeier zur Absage an die internationale Wissenschaft aufrief, denn der deutsche Gelehrte gehöre »nur zum deutschen Volk ... und zu keiner internationalen Gelehrtenrepublik« 3 7 , zum anderen durch den in Rostock tätigen klassischen Philologen und Wissenschaftshistoriker Ernst von Fritz verkörpert wurden. 1935 verweigerte dieser den Gehorsamseid auf Hitler - ein wohl singulärer Fall unter den deutschen Altertumskundlern - und wurde daraufhin aus dem Universitätsdienst entfernt; 1936 emigrierte er nach England. 3 8 Wilcken tendierte zu keiner der beiden Seiten hin, trotz seiner prominenten Zugehörigkeit zur internationalen Gelehrtenrepublik und ungeachtet seiner nicht zu bezweifelnden, politisch wie mental bedingten Sympathien für Männer wie von Fritz oder dem von ihm geförderten Fachkollegen Elias Bickerman, Privatdozent an der Berliner Universität, der 1933 entlassen wurde und 1934 aus Protest Deutschland verließ. 3 9 Ob als Mitglied der Mittwochs-Gesellschaft, ob als führender, in Ehren ergrauter Vertreter der deutschen Altertumswissenschaft, er gehörte zu jener akademischen Opposition in Deutschland, die, so der regimekritische Frankfurter Altphilologe Karl Reinhardt, »ohne Resonanz, ohne Zusammenschluß in einem dumpfen Umsinken und Sichverkriechen in privaten, wirkungslosen Zirkeln« verharrte. 4 0 Wilcken zählte aber nicht zu dem großen Heer deutscher Akademiker, die sich den Nazis, der
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deutschen Kriegsmaschinerie und im Kampf gegen »Bolschewismus und Weltjudentum« nützlich machten. 4 1 Die Lage, in der sich er und Persönlichkeiten seines Schlages befanden, war schwierig und führte zu der fatalen Ambivalenz, dagegen zu sein und zugleich das Unvermeidliche hinnehmen zu müssen. »Mit Zorn und Sorgen« erfüllten ihn die politischen Ereignisse seines letzten Lebensjahrzehntes, schrieb Matthias Geizer 1950 in der Gedächtnisrede auf Wilcken. 4 2 Dessen Zorn jedoch verhallte, auch wenn er aus tiefster Seele kam, ohne Wirkung, die Sorgen waren die begreifliche Reaktion auf eine für Deutschland existentiell gefährliche Entwicklung, die scheinbar unaufhaltsam ablief. Übrig blieben Ratlosigkeit und Resignation. Werner Weisbach wollte als Betroffener, als Opfer quasi »objektiver« Zeitumstände, dieses sich mehr oder weniger widerstandslos in die Verhältnisse Fügen der anderen nicht einfach so gelten lassen und äußerte - mit Blick auf die Mitglieder der Mittwochs-Gesellschaft - voller Bitterkeit: »Wie sollte mein Inneres tiefer berührt werden durch bloße Worte der Sympathie von Männern, die, selbst in gesicherter Position befindlich, meine Auswanderung wie etwas Unabwendbares - fast möchte ich sagen Selbstverständliches hinnahmen?« 4 3
A nmerkungen 1 Die 1863 gegründete Mittwochs-Gesellschaft ist nicht mit der gleichnamigen Gesellschaft zu verwechseln, die sich in Berlin 1783 konstituierte und im Mai 1800 wieder auflöste. Vielleicht kann sie als Vorläuferin der späteren Mittwochs-Gesellschaft gesehen werden, obwohl sie im Gegensatz zu ihr stärker politisch motiviert war. D o c h beide verhielten sich letztlich staatstreu, und während die eine als Geheimgesellschaft entstand, wurde die andere am Ende zwar nicht zu einem Kreis des aktiven Widerstandes gegen Hitler, aber zu einem Kreis, dem auch Mitglieder der Verschwörung vom 20. Juli 1944 angehörten. 2 Zur Mittwochs-Gesellschaft siehe das grundlegende Werk von Klaus Scholder: Die Mittwochs-Gesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 bis 1944, Berlin 1982. Albrecht Penck wurde zitiert nach ebenda, S. 16. 3 Zit. nach ebenda, S. 43; siehe auch S. 12. 4 F. Krüger: Der 20. Juli und seine Vorgeschichte, Berlin 1946, S. 18 (wiedergegeben bei S. Fechter: Paul Fechter. Wege und Formen der Opposition im dritten Reich: In: Publizistik 1964/1, S. 4). 5 Scholder, a.a.O., S. 29. 6 Eduard Spranger: Generaloberst Beck in der Mittwochs-Gesellschaft. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur 1956 (11. Jg.), Bd.l, H. 1, S. 189 (zit. nach Scholder, a.a.O., S. 22). 7 W. Schubart: Ulrich Wilcken +. In: G n o m o n 21, 1949, S. 89; zur Persönlichkeit und wissenschaftlichen Leistung Wilckens siehe M. Geizer: Gedächtnisrede auf Ulrich Wilcken. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946 - 1949, Berlin 1951, S. 244 - 251, nachgedruckt in G. Audring (Hrsg.): Ulrich Wilcken. Briefe an Eduard Meyer 1889 - 1930, Konstanz 1994, S. 102 - 109 (Xenia 36); F. Zucker: Nachruf auf Ulrich
Ulrich Wilcken in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft 1933-1943
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Wilcken. In: Archiv für Papyrusfbrschung, 15, Leipzig 1953, S. 1 - 3; Tradition und Fortschritt in der deutschen Altertumswissenschaft. Materialien eines Kolloquiums zu Ehren des 100. Geburtstages von Ulrich Wilcken. In: Wissenschaftliche. Zeitschrift der KarlMarx-Universität Leipzig, 12. Jg., 1963, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 2; F. Oertel: Ulrich Wilcken 1862 - 1944. In: 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818 - 1968. Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Geisteswissenschaft, Bonn 1968, S. 334 ff; siehe auch die Einleitung in G. Audring, Wilcken. Briefe, S. 11 - 21. 8 Ulrich Wilcken: Ostraka aus Aegypten und Nubien, Bd. 1 - 2, Leipzig/Berlin 1899; ders./ L. Mitteis: Grundzüge und Chresthomatie der Papyruskunde, Bd. 1 - 2, Leipzig/Berlin 1912. 9 G. Audring, Wilcken. Briefe, S. 21. 10 Die Bewunderung für Bismarck, seine konservative, deutsch-nationale Gesinnung bestätigten dem Verfasser auch die Enkel Wilckens, Frau Ellen Sallet (Köln) und Herr Prof Ulrich Trendelenburg (Tübingen), denen an dieser Stelle für ihre Informationen herzlich gedankt wird. 11 Ulrich Wilcken: Alexander der Große, Leipzig 1931. 12 Siehe G. Audring, Wilcken. Briefe, S. 21, der in diesem Zusammenhang auf die Ausgrenzung des Althistorikers und ehemaligen kommunistischen Reichstagsabgeordneten Arthur Rosenberg aus dem universitären Lehrbetrieb eingeht (im September 1939 wurde Rosenberg die Lehrbefugnis an der Berliner an der Berliner Universität aberkannt); dazu ebenda, S. 82 f., 91 - 94 (aus dem Briefwechsel mit Eduard Meyer); siehe auch ders., Zu den Briefen Ulrich Wilckens an Eduard Meyer. In: Eduard Meyer (1855 - 1930). Zu Werk und Zeit. 3. Berliner Kolloquium zur Geschichte der deutschen Altertumswissenschaften. Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Geistes- u. Sozialwissenschaften. 40, 1991, S. 57 f. 13 Wilcken nahm am 5. Mai 1943 das letzte Mal an einer Sitzung der Gesellschaft teil. Er verstarb am 10. Dezember 1944. 14 P. Fechter: Menschen und Zeiten. Begegnungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin/Darmstadt 1951, S. 355, zu von Hasseil siehe S. 369. 15 Ebenda, S. 368 f. 16 Scholder, a.a.O.: Vorträge Beck, S. 257 - 260, 270 - 273, 292 ff; Vortrag Popitz, S. 66 - 69, Drews, S. 125 - 128, Pinder, S. 187 - 190, von Hassell, S. 278 ff. 17 Ebenda, S. 87 ff; Wertung des Vortrages durch Scholder, S. 23 f.; Ulrich Wilcken: Zur Entwicklung der römischen Diktatur, Berlin 1940 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, J g . 1940, Nr. 1), S. 27 (Zitat). 18 Scholder, a.a.O., S. 190 - 193. 19 Ulrich Wilcken: Zum alexandrinischen Antisemitismus, Leipzig 1909 (Abhandlungen der Königlichen Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaft. Philol.-Hist. Klasse, Bd. 27, N o . 23); d e r s , L. Mitteis, a.a.O., Bd. 1, S. 24 - 26, 62 - 65 und 112. 20 Scholder, a.a.O., S. 21 f. 21 Die Protokolle der Vorträge Fischers (nicht aller) siehe ebenda, S. 69 f, 101, 160 f., 179 f., 210 f., 268 ff. und 291 f. 22 Ebenda, S. 25 f. und 109. 23 Das Schreiben des Präsidenten der Reichsschrifttumkanimer v o m 28.2.1935 und und Weisbergs Schreiben an die Mitglieder der Mittwochs-Gesellschaft ebenda, S. 109 ff.
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Ebenda, S. 26 f. und 28.
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Ebenda, S. 107 - 113.
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Ebenda, S. 27.
27
Ebenda, S. 101.
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Ebenda, S. 161. Merkwürdigerweise lassen sich in den noch folgenden vier Vortragen Fischers - sein letzter fand am 27. Mai 1942 statt - eine Abkehr von der pauschalen rassenideologischen Problematik und wieder stärkere Zuwendung zu Fragen der menschlichen Erblehre konstatieren.
29
Ebenda, S. 190 ff.
30
Ebenda, S. 192.
31
Ebenda, S. 192 f.
32 So der Rußlandhistoriker Martin Winkler (1893 - 1986), der 1934 (Königsberg) und 1938 (Wien) aus dem Universitätsdienst entlassen wurde und seine »Russische Kulturgeschichte« vor allem deshalb nicht veröffentlichen durfte, weil er nicht willens war, sein Werk »an den Grunderkenntnissen des Rosenbergschen »Mythos des XX. Jahrhunderts« abzustimmen. Siehe M. Winkler: Zwischen M o s k a u und Archangelsk, hrsg. von G. und E. Voigt, Berlin 1996, S. 28 und 192 (Schreiben des »Zensors« Dr. I. Geiger v o m 3.10.1942 an Winkler). 33 Frau Ellen Sallet, Enkelin Wilckens, teilte dem Vf. brieflich mit, daß ihr der Band »Mythos des 20. Jahrhunderts« von A. Rosenberg erinnerlich sei: »...kaum eine Seite ohne Unterstreichungen, Ausrufungszeichen oder ablehnende Bemerkungen. Er (Wilcken - A J . ) sprach von Verfälschung der Geschichte«. 34
Diese Fakten finden sich bei G. Audring, Wilcken. Briefe, S. 21, Anm. 40 gesammelt.
35
Ebenda.
36 Das Bostoner Schreiben, den Dankesbrief Wilckens, die Information über die ministerielle Stellungnahme und Wilckens Verzichterklärung fand Herr Prof Trendelenburg vor erst kurzer Zeit in einem von seiner Mutter ererbten Buch. Er stellte mir die Kopien der von Wilcken gemachten Kopien liebenswürdigerweise zur Verfügung. 37 C. Wegeier: »...wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921 - 1952, Wien etc. 1996, S. 160 f., 357 - 368 (mit dem Wortlaut der gesamten Rede Kahrstedts). 38 Zu Kurt von Fritz siehe ebenda, S. 201 f., 369 - 372 (seine eigene Darstellung der Entlassung und Emigration 1935/36). 39
Ebenda, S. 384.
40
Ebenda, S. 202. Reinhardt war willens, im Mai 1933 aus Protest gegen die an der Frankfurter Universität hohe Zahl von Entlassungen und den NS-Terror von seinem Lehramt zurückzutreten. Sein Rücktritt wurde nicht akzeptiert.
41
Dazu F.-R Hausmann: Deutsche Geisteswissenschaft im Zweiten Weltkrieg, München 1998; Max Weinreich: Hitler's Professors. The Part of Scholarship in Germany's Crimes against the Jewish People, New Haven 1999; M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Baden-Baden 1999.
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Siehe die neuabgedruckte Rede Geizers, einst Schüler Wilckens, bei G. Audring, Wilcken. Briefe, S. 109.
43 Scholder, a.a.O., S. 28.
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Dokument B
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D as nahezu vergessene, aber denkwürdige Leben der Fanny Mütze-Specht (1896 - 1979)
Im Nachlaß Erich Weinerts findet sich die Korrespondenz mit einer Frau, die ihm in nicht zu vermutender Offenheit und Vertrautheit ihre persönlichen Sorgen und Gedanken mitteilte. Sechs Briefe an den Schriftsteller und Politiker und drei von diesem an Fanny Mütze-Specht sind aus den Jahren zwischen 1946 und 1951 erhalten. 1 Der Fund kann ebenso das Interesse von Historikern wie auch das von Literaturwissenschaftlern erregen. Fanny Mütze-Specht zählte sich, wie sie einmal schrieb, zu den »Kleinen«. 2 Das bezog sie vor allem auf ihr schriftstellerisches Schaffen. In Erich Weinert sah sie den erfahrenen, bekannten und von ihr verehrten Dichter, dessen Rat ihr äußerst wichtig war. Gleichzeitig wußte sie in ihm einen Freund, der auch in einer Zeit, da ihr Verhalten und ihre Haltung unter ungerechtfertigten Verdacht gerieten, »keinen Augenblick seine Einstellung zu mir als Genosse aus dem Auge verlor«. 3 Anhand der überlieferten Briefe läßt sich ein Abschnitt im Leben einer Frau verfolgen, über den sie zwanzig Jahre später lakonisch urteilte: »Es waren schwer zu bewältigende Zeiten damals um 1950«.4 Fanny Mütze-Specht, 65jährig, schrieb über sich: »Es ist charakteristisch für mein Leben, daß ich immer aus kleinsten Anfängen, unter oft unerträglich harten Bedingungen Neues aufbauen mußte«. 5 Viele Deutsche hatten ein ähnliches Schicksal durchlebt. D o c h Fanny Mütze-Spechts Wirken hinterließ vor allem in den Jahren nach 1945 Spuren, die mit dem Neubeginn im Land Mecklenburg verbunden sind: mit der Arbeit der Antifaschistischen Frauenausschüsse, der Forschungsstelle der Widerstandsbewegung beim Landessekretariat der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), der ersten Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, mit Studien über die ehemalige Heeresversuchsanstalt Peenemünde sowie über Barth, ein Außenlager des KZ Ravensbrück und eine Filiale des Heinkel Flugzeugkonzerns. Diese Spuren fuhren auch zur Arbeit an einem Buch, mit dem sie versuchte, das Erlebte einem größeren Menschenkreis nahezubringen. 6
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Fanny Berta Adele Specht wurde am 10. Januar 1896 im westfälischen Herdecke an der Ruhr geboren. Sie war das zweite Kind des Arztes Karl Friedrich Specht und der Luise Alwine Emma, geb. Frielinghaus, Tochter des vermögenden Juristen Wilhelm Frielinghaus, Landgerichtsrat in Münster. Nach dem frühen Tod der Mutter wuchsen die Kinder sehr selbständig auf und gingen recht unterschiedliche Wege. Der ältere Bruder Karl Wilhelm wurde Berufssoldat, brachte es in der Wehrmacht bis zum General und starb 1953 in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager bei Moskau. Die Schwester Amalie wurde eine Anhängerin des evangelischen Pfarrers Martin Niemöller. Sie ging 1937 als Ordensschwester des Johanniter-Ordens nach Chile. Fanny Specht entschloß sich nach Beendigung des Lyceums zu einer Ausbildung als wissenschaftliche Assistentin für Röntgenologie, Bakteriologie und Serologie. Ihr Examen legte sie 1915 am Institut zur Ausbildung wissenschaftlicher Hilfsarbeiterinnen Dr. Weski in Berlin am Kurfürstendamm ab. Ihre Eindrücke während des Ersten Weltkrieges als Rote-Kreuz-Helferin, gewonnen u.a. in Galizien und Frankreich, beschrieb sie im April 1960: »Meine romantische Vorstellung vom Heldentod auf grünem Rasen endete in der Erkenntnis, daß sehr viel mehr brave Landser typhusund ruhrkrank auf der Bettschüssel den Tod erlitten, als >ehrenvoll vor dem Feind<. Ich lernte den Krieg hassen, und tat es stärker noch, als ich die Zusammenhänge zwischen Machtgier und Kriegen erkennen lernte«. 7 Bis zur Mitte der 20er Jahre arbeitete Fanny Mütze-Specht als technische Assistentin im Johannstadt Krankenhaus in Dresden. 1921 heiratete sie den Maler Walter Mütze. Vier Jahre später wird die Tochter Ingris geboren. Die Familie siedelte 1927 nach Oldenburg über. Hier begann die 31jährige sich, auch politisch zu engagieren. Im gleichen Jahr wurde sie Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und alsbald Frauenleiterin der Unterbezirksleitung sowie Kultursekretärin der Bezirksleitung. Sie trat der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) bei und übernahm eine Kindergruppe. Aus der Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges, das genaue Datum ist noch zu ermitteln, rührte ihre Bekanntschaft mit dem Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf, der einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterließ. 1930 schloß sie sich dem zwei Jahre zuvor gegründeten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller an, ein Schritt, der sich aus ihrer Neigung ergab, sich selbst schreibend zu betätigen. Ihr erster Roman »Die Seele Weihnacht« war schon 1922 im Propa-Verlag Dresden erschienen. Fanny Mütze-Specht hat sich jedoch später nie darüber geäußert, wie sie zum Schreiben kam, doch war und blieb es ihr zeitlebens ein Bedürfnis, Gedanken, Ansichten und Gefühle dem Papier anzuvertrauen. Sie verfaßte bis ins hohe Alter zahlreiche literarische und publizistische Manuskripte, von denen nur wenige veröffentlicht wurden. Als freie Mitarbeiterin linker Zeitungen begann Fanny Mütze-Specht gegen
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Ende der Weimarer Republik ihre Beobachtungen über die sozialen Zustände in Deutschland niederzuschreiben. Sie publizierte Warnungen vor dem zunehmenden Einfluß der NSDAP. 8 Später empfand sie den Lebensabschnitt zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Machtantritt der Faschisten für sich als eine »wunderbar reiche und turbulente Zeit«. 9 Fanny Mütze-Specht war an ihrem Wohnort offenbar schon vor dem 30. Januar 1933 in den Blickwinkel der Nazis geraten, die sie gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Unterbezirksleitung der K P D in Oldenburg vom 3. März 1933 an mehrere Wochen lang in »Schutzhaft« hielten. 10 Sofort nach ihrer Entlassung setzte MützeSpecht jedoch ihre politische Arbeit illegal fort. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Ehemann der N S D A P beigetreten. Das bedeutete für die selbständige und selbstbewußte Frau den Bruch. Die Ehe wurde geschieden. Auf Anraten ihrer Genossen zog sie 1935 mit ihrer Tochter nach Weimar. Dort hätte für beide, so äußerte sie sich Jahre später, ein unsagbar schwerer Existenzkampf begonnen, die härteste und schwerste Zeit ihres Lebens." Sie wurde unter Polizeiaufsicht gestellt. Den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter verdiente sie durch private Aufwartungen und Nachtwachen im städtischen Krankenhaus. Die Arbeit als Sprechstundenhilfe in der Praxis des Nervenarztes Dr. Armin Müller, eines Stabsarztes und Mitgliedes der NSDAP, der auch neurologisch erkrankte SS-Leute aus der Totenkopf-Einheit im Konzentrationslager Buchenwald behandelte, nutzte Fanny Mütze-Specht, um Informationen über das im Juli 1937 eingerichtete Lager und dessen Insassen zu beschaffen. Sie kam erneut für einige Monate in »Schutzhaft«, weil sie die Frau eines Häftlings in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, ohne die Polizei darüber zu informieren. 1 2 1940 wurde Fanny Mütze-Specht aus Weimar ausgewiesen und in die Ernst-Ludwig Heilstätte Höchst/Odenwald, ein Institut der Landesversicherungsanstalt Hessen, als Röntgenassistentin dienstverpflichtet. Tochter Ingris erhielt die seltene Möglichkeit einer kostenlosen Ausbildung in der Schule der Tanzpädagogin Mary Wigmann in Dresden. Mütze-Specht gehörte auch in der westdeutschen Heilstätte einer antifaschistischen Zelle an, die Verbindung zu ausländischen Zwangsarbeitern herstellte und Kontakte zu anderen illegalen Gruppen in der Region knüpfte. Indessen paßte sie nach der Befreiung Deutschlands mit ihrer Haltung und ihrem Interesse, antifaschistische Veränderungen einzuleiten, nicht in diese ihre Umwelt. Am 6. Juni 1945 mußte sie die Heilstätte verlassen. Literarische oder publizistische Schriften sind aus jenen Jahren nicht bekannt. »Damals waren wir in erster Linie Parteimitglieder, dann erst Schriftsteller«, äußerte sie sich später. 1 3 Es dauerte jedoch nur ein Jahr und sie begann, ihre Eindrücke und Erfahrungen aus den Jahren ihrer Arbeit in der Heilstätte in einem Roman zu verarbeiten. Zu-
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gleich wurde sie wieder als Journalistin tätig. N o c h im August 1945 äußerte sich Mütze-Specht, nun als freie Mitarbeiterin für die »Frankfurter Rundschau«, deren erste Nummer war am 2. des Monats erschien, über Schuld und Verantwortung der Deutschen an Krieg und Unterdrückung anderer Völker. »Das Volk muß lernen, die Geschehnisse seines Alltags in ihrer Tragweite durchzudenken, so erst schafft es sich selbst Gesetze und ist auch bereit, sie ohne Kommandogebrüll von oben zu respektieren«, schrieb sie. 1 4 Mütze-Specht trug sich mit der Absicht, in die sowjetische Besatzungszone zu gehen und nach Weimar zurückzukehren. D o c h aus unaufgeklärten Gründen wandte sie sich, ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben sowjetischer Kriegsgefangener sowie einem Ausweis für die Opfer des Faschismus (OdF), den ihr die Geschäftsstelle in Oldenburg ausgestellt hatte, Anfang Oktober nach Rostock. Hier erkannte sie ein Ausschuß ebenfalls als O d F an und stellte ihr darüber am 14. Dezember 1945 ein offizielles Dokument aus. 1 5 Noch im gleichen Monat, in der ihr völlig fremden Stadt, so erinnern sich Zeitzeugen, hätte die Zugereiste gemeinsam mit sozialdemokratischen Frauen weitere Helferinnen mobilisiert, um den Kindern ein würdiges Weihnachtsfest auszurichten. 1 6 Anfang 1946 wurde ihr die Leitung des Antifaschistischen Frauenausschusses in Rostock übertragen, einer Einrichtung, die sich hier - wie in der gesamten sowjetischen Besatzungszone - aufgrund eines Befehls der Sowjetischen Militäradministration vom November 1945 bei den Stadtverwaltungen gebildet hatte. Zwei Jahre lang saß sie außerdem u.a. in den Ausschüssen für Handel und Versorgung, Kultur und Volksbildung der Stadtvertretung, im Beratungsausschuß des Arbeitsamtes sowie in einer Entnazifizierungskommission. Am 11. Januar 1946 schrieb sie hochgestimmt an Friedrich Wolf, wie sehr sie sich über sein Überleben freue und übermittelte ihm Informationen für sein Poem »Lilo Hermann«. 1 7 Mit Begeisterung widmete sie sich dem Aufbau und der Ausgestaltung einer Begegnungs- und Wohnstätte für Frauen. Diese beherbergte eine der damals wichtigsten sozialen Einrichtungen, eine Nähstube. Drei Tage nach der Einweihung des Hauses, am 8. Mai 1946, verschickte Mütze-Specht, hier noch in einem eher offiziellen Stil als Leiterin des Antifaschistischen Frauenausschusses, ihren ersten Brief an Erich Weinert, der damals Vizepräsident der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone war. Beide hatten sich in den 20er Jahren auf Veranstaltungen in Oldenburg kennengelernt. Nun bat sie den Schriftsteller um ein Exemplar seiner gerade erschienenen Gedichtbände für die Bibliothek des Frauenhauses. Weinerts Zusage teilte er ihr am 27. Juni mit. 1 8 Nach der Ende Februar 1947 erfolgten Gründung der VVN für die sowjetische Besatzungszone bildeten sich Vertretungen in den einzelnen Ländern. Mütze-Specht gehörte seit dem 13. April dem an diesem Tage im Lande Mecklenburg gewählten
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inneren Vorstand der VVN an. Im Mai beschloß dann der Interzonale Beirat der VVN, bei den Landes- bzw. Zonensekretariaten Forschungsstellen einzurichten, die vor allem die Geschichte des Widerstandes nachzeichnen sollten. Die Gründung dieser Stelle für das Land Mecklenburg erfolgte am 4. Februar 1948 und MützeSpecht wurde mit deren Leitung beauftragt. 19 Sie stürzte sich in die neue und schwierige Aufgabe, die sie körperlich wie geistig herausfordern sollte. Einen vollständigen Überblick über ihre Forschungstätigkeit geben zu wollen, würde weitere Quellenstudien und einen gesonderten Beitrag erfordern. Jedoch bezeugt schon ein unvollständiger und auswahlweiser Bericht von ihren Aktivitäten und deren Ergebnissen, mit welcher Energie und Umsicht sie sich ihrer Aufgabe widmete und zugleich, daß sie mit der Art, in der sie ihren Auftrag verstand, in Konflikte geriet. Am 17. April 1948 besichtigte Fanny Mütze-Specht das damals im Lande Mecklenburg gelegene ehemalige Frauen-Konzentrationslager des »Dritten Reiches«, Ravensbrück bei Fürstenberg/Havel. Über den unhaltbaren Zustand des Geländes berichtete sie sofort dem Generalsekretariat der W N . 2 0 In gesonderten Schreiben an den Kommandanten der sowjetischen Militäradministration in Schwerin sowie den Chef der Landespolizei wirkte sie daraufhin, das Gelände vor weiterer Demontage und Zerstörung zu schützen. Auf Zusammenkünften des Antifaschistischen Blocks der Parteien und Organisationen der Stadt Fürstenberg sowie mit Vertreten der VVN-Zentrale und ehemaligen Häftlingen setzte sie sich vehement für die »Herrichtung eines Ehren- und Mahnmals« für die Opfer von Ravensbrück ein. Es war der Beharrlichkeit und des oft und wohl meist zu Unrecht kritisierten eigenständigen Handelns der ideenreichen Leiterin der Forschungsstelle, der jeder sich rückversichernde Bürostil fremd war und fernlag, zu danken, daß sich am 14. September 1948, das erste Mal nach der Befreiung des Lagers auf einer provisorischen Gedenkstätte ehemalige Häftlinge mit der Fürstenberger Bevölkerung treffen konnten, um der ermordeten Frauen, Männer und Kinder zu gedenken. 2 1 Mütze-Specht beschaffte und übergab Material für die am 1. September 1948 in Berlin eröffnete und durch die VVN organisierte Ausstellung »Das andere Deutschland«. Einen Monat später mobilisierte sie die Kreissekretariate der VVN in Mecklenburg, Mitglieder der ehemaligen Bewährungsdivision 999 ausfindig zu machen, um ein Treffen vorzubereiten. Vom 6. bis 11. November reiste sie zu den ehemaligen Rüstungsbetrieben in Barth und Peenemünde. In ihrem Bericht schilderte sie »die Auffindung eines Massengrabes von 200 Konzentrationären«, das sich sechs Kilometer vor der Stadt Barth befand. Später unterbreitete sie den Vorschlag, auf dem Gelände der Fabrik und des KZ-Außenlagers mit Überresten der Anlage ein Denkmal aufzurichten. Einen von einem Architekten gestalteten Entwurf reichte sie nach Berlin ein. Doch ihr Vorschlag wurde aus ungeklärten Gründen nie realisiert. Über
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Peenemünde heißt es: »Die V I und V II Anlagen in Peenemünde sind ebenfalls durch Flugzeuge vernichtet und werden jetzt noch durch die Rote Armee gesprengt, doch gelang es der Forschungsstelle Aufnahmen zu machen von einmaligem Wert für die Entlarvung des Militarismus und Kapitalismus von entscheidender Anklage.« 2 2 Die gesammelten Eindrücke verwendete sie bei Vorträgen z.B. über »Hitlers Wunderwaffen« oder »Rüstungsbetriebe - Ausländerlager - Konzentrationslager - gestern. Landeseigene Betriebe und Volksdemokratie heute«. 2 3 Mütze-Specht entdeckte bei ihren unermüdlichen Recherchen und Expeditionen im Lande zahlreiche Massengräber und forderte die Identifizierung der Toten. Sie begann, die Tötung von Geisteskranken in Mecklenburg aufzuklären und konnte dabei einige Täter namhaft machen. In Bad Doberan ermittelte sie, daß fünf Fallschirmspringer des N K F D im März 1945 durch Bürger des Ortes denunziert worden waren. Auf ihr Wirken hin wurden Mahnmale auf der Strecke des Todesmarsches von Sachsenhausen nach Schwerin aufgestellt. Sie sammelte auch Material über das Gefängnis Bützow-Dreibergen. 2 4 Noch im Gründungsjahr der Forschungsstelle hatte sie erste Ergebnisse in einer Broschüre veröffentlicht. 25 Eine zweite war fertiggestellt, wurde aber nicht mehr gedruckt. Auf dem Höhepunkt ihrer Forschungstätigkeit schrieb Fanny Mütze-Specht am 5. August 1950 an Erich Weinert in einem Geburtstagsbrief: »Mecklenburg ist ein großer Friedhof, immer wieder stoßen wir auf offene Massengräber ... Die Arbeit ist vielseitig und interessant ... Viel Freude macht mir, daß die einfachen Leute in Rostock wissen, bei der Mütze-Specht finden wir ein offenes Ohr«. 2 6 D o c h dann fand ihre Arbeit ein abruptes und für sie böses Ende. Mit der Begründung, die Forschungsstelle würde von Rostock nach Schwerin verlegt, drangen am 16. Oktober 1950 die Sekretärin des Landesvorstandes der VVN sowie Funktionäre der Partei in die Räumlichkeiten der Landesforschungsstelle ein und nahmen eine »Sicherstellung des vorhandenen Materials« vor. 2 7 Zwar wurde ein neuer Leiter eingesetzt, doch auf allgemeine Anweisung des Generalsekretariats der VVN sollte die Forschungstätigkeit generell eingestellt werden und sich nur noch auf die Sicherung des Vorhandenen beschränken. Nun sollte der Schwerpunkt des Wirkens auf dessen propagandistische Auswertung gelegt werden. Jedoch wurde das, was Mütze-Specht an Dokumenten, Fotos, Interviews von Zeitzeugen, Berichten u.a. zusammengetragen hatte, nur teilweise überliefert. Wichtige Materialien der Forschungsstelle gelten bis heute als verschollen. Vorgeworfen wurde der Forschungsstellenleiterin ein »unsachgemäßer Umgang« mit den ihr zur Verfügung gestellten Geldern. Außerdem wurde sie beschuldigt, dem ehemaligen Leiter der Landesforschungsstelle Brandenburg, Walter Hammer, der 1950 die D D R verließ, wichtiges Material überlassen zu haben. Herausgefunden wurde
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nun, daß es Fanny Mütze-Specht seit dem Ausfüllen ihres ersten Fragebogens 1947 nicht gelungen war, Nachweise über ihre Haftzeit in Weimar beizubringen. Die Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes wurde ihr versagt, weil sich nur vier Monate anstatt der sechs geforderten aus den Akten belegen ließen. So wurde ihr schließlich auch vorgehalten, sie habe ihre Anerkennung als Opfer des Faschismus durch falsche Angaben erwirkt. 2 8 Ebenso wurde nun der 1950 erschienene Roman »Heimliches Leuchten«, den der Hinstorff Verlag publiziert hatte, zum Gegenstand von Angriffen auf die Autorin gemacht. In der Zeitung »Die Tat«, herausgegeben von der VVN im VVN-Verlag, erhielt er eine vernichtende Kritik. Die Rezensentin bezeichnete den Roman als »schändliches und schamloses Machwerk« und war bestrebt nachzuweisen, daß MützeSpechts Darstellung über kommunistisches Heldentum im Widerstand erheblich von der Realität abwiche. Das betraf vor allem die Darstellung der in den Vordergrund der Handlung gerückten antifaschistischen Mitstreiter, von Offizieren des 20. Juli, wie von französischen und den Quälereien hilflos ausgelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Das Buch sprengte offenbar die Grenzen des vorherrschenden Geschichtsverständnisses. 2 9 Fanny Mütze-Specht wurde auf der Landesdelegiertenkonferenz der VVN am 7. April 1951 aus der Organisation ausgeschlossen. Der Status eines Opfers des Faschismus und einer Verfolgten des Naziregimes wurde ihr aberkannt, sie verlor alle ihre Amter. Am 30. April 1951 beschloß die Landesparteikontrollkommission sogar ihren Ausschluß aus der S E D . 3 0 In ihrem Antwortschreiben bewies Mütze-Specht, daß sie nicht von jenem Typ war, der zu Kreuze kroch. Sie machte deutlich, daß es im Grunde darum ging, jemanden wie sie los zu werden, weil er nicht zu feige gewesen wäre, die Dinge »beim Namen zu nennen«. 3 1 Zweifellos gehört der »Fall Mütze-Specht« ebenso zu den um diese Zeit ablaufenden allgemeinen Überprüfungen der Mitglieder der S E D , wie auch zu jenem Politikwandel, der die Selbständigkeit und die Handlungsräume der VVN zunehmend einschränkte und ihre Tätigkeit ganz an die jeweilige Parteilinie band. In den folgenden fünf Monaten verdiente die 55jährige ihren Lebensunterhalt als Hilfsarbeiterin in der Neptun-Werft. Erich Weinert hatte die Debatte um Mütze-Spechts Roman verfolgt und bat im Mai 1951 die Autorin, ihm das Buch zu schicken: »Ich urteile nie nach Kritiken (denn wir haben fast keine Kritiker), daher möchte ich den Roman selbst einmal lesen«. 3 2 Am 15. Juni 1951 schilderte Mütze-Specht Weinert ihre Lage: »Ja, das «Heimliche Leuchten< macht mir viel Sorge!... Man schießt mich so gründlich ab, daß mir oft die Luft zum Atmen nicht bleibt ... Aber das alles ist so unverständlich«. 3 3 In einem weiteren Brief vom 3. Juli deutete sie ihm ihre Verzweiflung an und daß sie
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aller Lebensmut verlassen habe. Man werfe ihr »Eitelkeit, Geltungsbedürfnis und Effekthascherei« vor. In düsteren Gedanken bat sie ihn um Rat und Hilfe. 34 Jedoch in ihren Geburtstagsgrüßen vom 1. August kümmerte sich die Arzttochter wieder besorgt vor allem um den Gesundheitszustand des 61jährigen. Später übersandte sie ihm das einzige Exemplar einer von ihr 1941 in der Heilstätte angefertigten wissenschaftlichen Studie über das Blutbild. 3 5 Den für Mütze-Specht wohl wichtigsten Brief Weinerts übermittelte dieser am 21. Oktober 1951. Er sei über ihre Parteiangelegenheit erschüttert: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß man eine alte Genossin wegen so alberner Unterstellungen, wie dies der Fall gewesen zu sein scheint, und ohne sie anzuhören mit einem Dekret aus unserer Partei ausschließen kann«. In seinem Urteil über den Roman »Heimliches Leuchten« schließe er sich zwar nicht den Kritikern an, die herausgefunden hätten, daß die positiven Helden entstellt und die negativen zu gut wegkommen sein würden. Die Figuren seien seiner Ansicht nach jedoch fälsch gezeichnet, nicht durch ein »dichterisches Auge« gesehen, sondern einer »abstrakten Phantasie« entsprungen. Deshalb wirkten sie »politisch nicht so, wie wir es wünschen. Aber die Ursache zu diesem Mangel (erlaube mir, das ganz offen auszusprechen) beruht darin, daß Dir leider jedes Talent zur Romanschriftstellerin fehlt. Ich gebe Dir den freundschaftlichen Rat, Dich auf diesem Gebiet nicht mehr zu betätigen.« 3 6 Mütze-Specht war inzwischen nach Leipzig verzogen. Nun lebte sie bei der Tochter Ingris, die an der Hochschule für Körperkultur und Sport zu arbeiten begann und half ihr bei der Betreuung des Enkelkindes. Ihr Befinden nach dem Lesen von Weinerts Zeilen teilte sie ihm am 5. November mit: »Dein lieber Brief war für mich ein harter Krusten Brot, an dem ich noch lange zu beißen haben werde! - Denn was Du mir sagst, ist zwar so herrlich offen und freundschaftlich, für mich bedeutet seine Verwirklichung aber das in die Luftsprengen eines Gebäudes im Innern, an dem ich ein Leben lang baute«. 3 7 Die Aufforderung, das Schreiben zu unterlassen, betraf nicht nur ihr inneres Bedürfnis zur Feder zu greifen, sondern direkt auch ihre Arbeit an einem größeren Romanmanuskript. Indessen endet die überlieferte Korrespondenz mit diesem letzten Brief. Ein Jahr später wurde eine Befürchtung wahr, die Mütze-Specht schon in einem früheren Brief an Weinert geäußert hatte. Aufgrund von Gutachten über eine von ihr verfaßte Erzählung wurde der Autorin bescheinigt, daß sie »erzählerisch« nicht »unbegabt« aber ein »unsicheres Talent« sei, dem man zur Entwicklung helfen könne. 3 8 Nichtsdestoweniger wurde sie durch die Leitung des Leipziger Schriftstellerverbandes am 10. Dezember 1952 aus dem Verband ausgeschlossen. 3 9 Mütze-Specht erhob gegen das ohne ihr Wissen praktizierte Vorgehen Einspruch und ließ keinen Zweifel darüber, daß sie weiter schreiben und weiter mitarbeiten werde. 4 0
Das nahezu vergessene, aber denkwürdige Leben der Fanny Mütze-Specht
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Der renommierte Schriftsteller verstarb am 12. April 1953. Der Tod Weinerts mochte Fanny Mütze-Specht sehr getroffen haben, war Weinert doch für sie, als sie sich in einer tiefen persönlichen Krise befand, ein Vertrauter und ehrlicher Freund. Der uns bis jetzt überlieferte letzte Brief an ihn hatte dieses Verhältnis im Schlußsatz deutlich ausgedrückt: »Ich danke Dir, lieber Erich Weinert, für Deine Freundschaft, die mir gerade jetzt etwas Wunderbares ist«. 4 1 Ihren Vorsatz, weiter schriftstellerisch zu wirken, machte Fanny Mütze-Specht wahr. 1955 erschien im Kinderbuchverlag ihr Buch »Der Strom der Millionen Schiffchen«. Und 1960 beteiligte sie sich mit drei Beiträgen an einem Kinderbuch zum 40. Jahrestag der Gründung der revolutionären Kinderbewegung. 4 2 1957 - ein Jahr nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - überprüfte das Zentralkomitee der S E D die Ursachen ihres Parteiausschlusses und rehabilitierte Fanny Mütze-Specht. Ende der 50er Jahre traten ehemalige Häftlinge des KZ Ravensbrück mit der Bitte an sie heran, sie möge ihre Erfahrungen und auch Dokumente aus der Zeit ihrer Arbeit als Forschungsstellenleiterin für die Gestaltung des Museums für die im Entstehen begriffene Nationale Mahn- und Gedenkstätte zur Verfügung stellen. Offensichtlich waren die durch Mütze-Specht gesammelten Dokumente, Fotos und Materialien jedoch nirgendwo auffindbar. Ihre wiederholten Anträge, sie als Verfolgte des Naziregimes anzuerkennen, blieben jedoch auch 1961 erfolglos. Ihr wurde erklärt, daß alles, was sie getan hätte, zwar eine gute menschliche Tat gewesen sei, aber zu einer Anerkennung als V d N nicht ausreichen würde. 4 2 Dagegen wurde ihrem Antrag auf Wiederaufnahme in den Deutschen Schriftstellerverband am 1. März 1961 stattgegeben. Als Schöffin eines Stadtbezirkes - nominiert durch den Kulturbund - setzte sie sich vor allem für die kulturelle Bildung jugendlicher Straftäter ein. Sie appellierte auch an Künstler und Wissenschaftler, sich bedeutend mehr in den Parlamenten zu engagieren. 4 3 Aufgrund ihrer »positiven Vergangenheit« und ihrer »literarischen Veröffentlichungen« beantragte der Schriftstellerverband im Dezember 1962 beim Ministerrat eine Ehrenrente, die ihr gewährt wurde. 4 4 Die Einladung, die an sie zu einer Veranstaltung in Berlin anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller erging, nahm Fanny Mütze-Specht trotz Krankheit mit Begeisterung an. 1972 schrieb sie, einen Fragebogen für den Deutschen Schriftstellerverband ergänzend: »Ich habe das Ziel, eine Schriftstellerin von Bedeutung zu werden, nicht erreicht ... Mein Lebensabend ist ausgeglichen, pekuniäre Nöte habe ich dank meiner Genossen nicht. Und für meine verlorenen Manuskripte wachsen zwei sehr begabte Enkelinnen heran, die langsam anfangen, gelegentlich in dem Papierwust zu blättern. Das ist etwas sehr Positives«. 4 5 Fanny Mütze-Specht starb am 5. Mai 1979 in Berlin.
Erika Schwarz
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A nmerkungen 1 Stiftung Archiv der Akademie der Künste (SAdK), Erich Weinert-Archiv, Nr. 218. Brief Mütze-Specht an den Schriftstellerverband (SV) vom 2.10.1968, SAdK, SV (neu), Nr. 408, Bl. 192. 2
Ebenda.
3 Schreiben Fanny Mütze-Specht an den Rat des Bezirkes Leipzig vom 3.3.1961. In: Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (StAL), Bezirkstag/Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 12902. 4 Ergänzende Daten zum Fragebogen 1972 v o m 28.3.1972. In: SAdK (alt), Nr. 802. 5 Siehe Fußnote 3. 6
Brief Mütze-Specht an Weinert vom 3.7.1951. In: S A d K Erich Weinen Archiv, a.a.O.
7 Lebenslauf vom April 1960, Privatbesitz Ditte von Arnim. 8 Vgl. Artikel: Ausgesteuert. In: Oldenburger Zeitung, o.D. wahrscheinlich 1928 oder 1929, Privatbesitz Ditte von Arnim; siehe ferner Nationaler Nachwuchs. In: Dortmunder Generalanzeiger, September 1932, Nachdruck in: Stimme der Frau, Mitteilungsblatt Nr.2, 10.9.1946, S. 2. 9 Siehe Fußnote 2. 10 Acht Tage verbrachte sie davon im Gerichtsgefängnis in Oldenburg. Vgl. Stammbuch Polizeihaftgefangene 1933-1938. In: Niedersächsisches Staatsarchiv in Oldenburg, Best. 145-1, acc.9/84 Nr. 23. 11 Siehe Fußnote 3. 12 Siehe Fußnote 7. 13 Siehe Fußnote 2. 14 Gespräche auf der Landstraße. In: Frankfurter Rundschau, 28.8.1945, Nr. 9, S. 2; siehe auch Die Bank. In: ebenda, 4.8.1945, Nr. 2, S. 4; Die Schuld. In: Frau von heute, März 1947, Nr. 5, S. 23. 15 Vgl. Schreiben des Ausschusses Opfer des Faschismus Rostock Stadt und Land an MützeSpecht v o m 14.12.1945. In: StAL, a.a.O. 16 Vgl. Bericht von Ilse Kollwitz. In: Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, B L / V / 138. 17 Vgl. S A d K Friedrich Wolf Archiv, Nr. 125. 18 Vgl. S A d K Erich Weinert Archiv, a.a.O. 19 Vgl. Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, Landesleitung der S E D , I V / L / 2 / 1 5 / 669, Bl. 94. 20 Vgl. Sammlungen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten ( M G R / S B G ) , RAI/3-5 K XXXVI, Bl. 42. 21 Vgl. Erika Schwarz / Simone Steppan: Zur Entstehung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück 1945-1959. In: Die Sprache des Gedenkens. Hrsg. Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Susanne Lanwerd (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 11), Berlin 1999. 22 Siehe Fußnote 18, Bl 139. 23
Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, Landesleitung der S E D , IV/2/15/671, Bl. 309.
24 Vgl. Jahresbericht über die Arbeit der ehemaligen Landesforschungsstelle der VVN, verfaßt von Mütze-Specht, vom 6.1.1951. In: Landesarchiv Greifswald, Rep. 296a, Nr. 623. 25 Aus dem Antifaschistischen Widerstandskampf in Mecklenburg gegen das Naziregime, hrsg. v o m Landessekretariat W N Mecklenburg, o . O 1948.
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26 S A d K Erich Weinert Archiv a.a.O. 27 Vgl. Schreiben Fanny Mütze-Specht an das Generalsekretariat der VVN vom 17.10.1950. In: Mecklenburgisches Lindeshauptarchiv Schwerin, Landesleitung der S E D , LV/2/15/671, Bl. 73 f. Vgl. auch Bericht von G. van Perlstein, 7.12.1950. In: Ebenda, Bl. 44 ff. 28 Vgl. Schreiben des Landesprüfungsausschusses bei der VVN, Landesvorstand Thüringen v o m 6.12.1948. In: StAL a.a.O. Hier erhält Mütze-Specht die Mitteilung, daß die Nachforschungen ohne Ergebnis verliefen und mit Sicherheit anzunehmen sei, daß die infolge kommenden Gestapoakten (über ihre »Schutzhaft« in Weimar) vernichtet worden sind. Siehe dazu Fußnote 7. Man bezog sich weiterhin auf die »Richtlinien für die Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes vom 10.2.1950, G B L , Nr.14, §5a. 29 Die Tat, Berlin/Potsdam, 24.3.1953. Siehe auch Fanny Mütze-Specht: Heimliches Leuchten, Hinstorff Verlag 1950, S. 86, 195, 251, 317. Mütze-Specht hatte ihr Manuskript schon drei Jahre vorher dem Generalsekretariat der VVN vorgelegt und dem VVN Verlag angeboten. 30 Vgl. Protokoll über die Sitzung des V d N Stadt-Prüfungsausschusses v o m 11.4.1951. In: StAL, a.a.O. Siehe auch Protokoll der Sitzung der L P K K In: Landeshauptarchiv Schwerin, BPA, S N , IV.2/2/4/143, Bl. 95 f. 31 Vgl. Schreiben vom 29.12.1951. In: S t A L a.a.O. 32 Brief Weinert an Mütze-Specht v o m 7.5.1951. In: SAdK, Erich Weinert Archiv, a.a.O. 33
Ebenda.
34
Ebenda.
35 »Über Wert und Wesen der >Toxischen Granula< im toxisch leucozytären H äm o g r a m m « vom 13.12.1941 (Beilage zum Brief an Weinert vom 5.11.1952. In: S A d K Erich Weinert Archiv). 36
Ebenda.
37
Ebenda.
38 Vgl. Gutachten von Helmut Bartuschek. Weitere Gutachter waren Georg Maurer und Heinz Rusch. Es handelt sich um die Erzählung »Blumen für Thalmann«. 39 Vgl. Brief des Schriftstellerverbandes, Bezirk Leipzig, Vorsitzender Erich Loest, an Mütze Specht v o m 10.12.1952. In: S A d K SV (alt), Nr. 802. 40 Brief Mütze-Specht an den Vorstand, Bezirk Leipzig, DSV, vom 2.1.1953, S A d K SV (alt) a.a.O. 41 Siehe Fußnote 35. 42 Fanny Mütze-Specht: Auf kühnen Wegen, Kinderbuchverlag, Berlin 1960. 43 Vgl. Schreiben Mütze-Specht an den DSV, Wahlkommission, v o m 4.8.1961, mit Bericht als Jugendbetreuer. In: S A d K SV (neu), Nr. 368, Bd. 3, Bl. 21 ff. 44 S A d K SV (alt), Nr. 802. 45
Ebenda.
Gedankt sei an dieser Stelle Frau Ingris Pötzsch und Frau Ditte von Arnim, deren Entgegenkommen und Hinweise für mich sehr wertvoll waren; ebenso Frau Simone Steppan für die Hilfe beim mühevollen Zusammentragen der benötigten Informationen.
Almuth
Püschel
»Es gibt verschiedene Erinnerungen, meistens sehr schwere ...« Fremdarbeiter in Potsdam-Babelsberg
»Der Beobachter sieht nichts« ist der Titel einer Reportage, in der eine Amerikanerin in den siebziger Jahren nach langer Abwesenheit die Wiederbegegnung mit ihrer alten Heimat beschrieb. Ähnlich ergeht es dem, der heute in deutschen Städten die Spuren ehemaliger Zwangsarbeiter verfolgt. Die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam ist dabei keine Ausnahme. Über das Leben der Fremdarbeiter und ihre Anwesenheit in der Stadt gibt es nur noch wenige Zeugnisse. Die elenden Baracken sind zumeist abgerissen worden und die Plätze überbaut. Nur an wenigen Orten lassen sich noch Strukturen der einstigen Lager erkennen. Auf den Friedhöfen zeugen z.T. namenlose Gräber, obwohl aus den Friedhofsregistraturen hervorgeht, wer dort begraben liegt, davon, daß Potsdam oft auch zur letzten Station im Leben dieser ausländischen Arbeitskräfte wurde. Erst im Sommer 1998 wurde nach einem längeren Prozedere durch die Friedhofsverwaltung Potsdam aus Mitteln der Deutschen Kriegsgräberfürsorge auf dem Friedhof in der Babelsberger Goethestraße ein Gedenkstein errichtet, der Namen der beim Luftangriff auf Potsdam im April 1945 ums Leben gekommenen Fremdarbeiter ausweist und die Umstände ihres Aufenthaltes in Deutschland benennt. Persönliche Erinnerungen von Fremdarbeitern vor allem aus der ehemaligen U d S S R an ihr Leben in Potsdam-Babelsberg, sind rar. A u f der Suche nach Zeitzeugen in Osteuropa fand ich Georgi) Nikolaewitsch Koshewnikow. Mit seiner Hilfe kamen die in diesem Beitrag erstmals veröffentlichten Erinnerungen ehemaliger Fremdarbeiterinnen aus Pskow, die 1943/44 nach Deutschland verschleppt wurden, zustande, denen von mir ergänzenden Hintergrundbemerkungen vorangestellt wurden.
Georgij Nikolajewitsch Koshewnikow war zwei Jahre alt, als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfiel. Seine Eltern, der Vater war Arbeiter, die Mutter stammte aus einer Bauernfamilie, lebten in Pskow. 1942 wurden in Folge einer Denunziation elf Mitglieder der Familie Koshewnikow verhaftet und in das örtliche Gefängnis ge-
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bracht. Vier Familienmitglieder kamen dabei ums Leben. Die anderen sieben wurden nach einigen Monaten zur Zwangsarbeit deportiert. Georgij kam mit seiner 39 jährigen Mutter Irina Fjodorowna und seiner fast seiner 60jährigen Großmutter nach Potsdam Babelsberg. Georgij hatte Glück, er hat, im Gegensatz zu vielen anderen mit ihren Eltern nach Deutschland verbrachten Kindern, das Lager überlebt. Es war eines der Lager in Potsdam, in dem die Kindersterblichkeit besonders hoch war. Die Familie kehrte nach dem Krieg nach Pskow zurück, wo Georgij heute mit seiner hochbetagten Mutter Irina und seiner Frau Nelli lebt. Die Erinnerung an die gestohlenen Kinderjahre und das Leid seiner Familie haben ihn für sein Leben geprägt. Er hat einen Klub ehemaliger Gefangener des Faschismus gegründet und diesen als Verein registrieren lassen. Der Klub vereint Menschen mit gemeinsamen Schicksal als Kinder und Jugendliche im Krieg. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, Kenntnis über ihr Schicksal zu geben, wer sie waren und wie sie zusammen mit ihren Eltern in die deutschen Lager gekommen sind. Angesichts der jahrzehntelangen Verdrängung des Schicksals der zivilen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die durch die stalinistisch geprägte Politik und Propaganda lange im Verdacht standen, mit dem Feind kollaboriert zu haben und so vielfachen Benachteiligungen, Verletzungen und Verfolgungen ausgesetzt waren, ist es von elementarer Bedeutung um diesen Menschen ihre wahre Geschichte und Ehre wiederzugeben. Sie treten in Schulen auf und nehmen am gesellschaftlichen Leben der Stadt teil. Über den Rahmen der Aufarbeitung ihrer Geschichte hinaus, unterstützen sie den Fond der Kinder des Roten Kreuzes und helfen Alten und Kranken, obwohl die Mitglieder des Klubs selbst nicht mehr zu den Jüngsten zählen. Doch Aufklärung ist nicht nur in den Ländern der Opfer notwendig. Um den Opfern ihre wahre Biographie wiederzugeben, ist es mehr als nur eine moralische Pflicht, daß von deutscher Seite das Unrecht benannt wird, das den Fremdarbeitern angetan wurde. Doch auch im Land der Täter - und nicht nur in dessen Westen - ist diese Geschichte über Jahrzehnte verdrängt worden. Wer heute als Tourist nach Potsdam kommt, erfährt, daß die Schönheiten der Stadt ohne das Wirken ausländischer Arbeitskräfte nicht denkbar wären. Die Traditionslinie der von Toleranz und Pragmatismus gleichermaßen geprägten Einwanderungs- und Asylpolitik der preußischen Herrscher im 16., 17. und 18. Jahrhundert wird heute von der brandenburgischen Landesregierung bemüht, um ein Gegengewicht zu fremdenfeindlichen Übergriffen, die ein erschreckendes Ausmaß angenommen haben, zu schaffen. Franzosen, Schweizer, Böhmen, in ihren Heimatländern aus religiösen Gründen verfolgt, fanden im Brandenburgischen Asyl und günstige Möglichkeiten, sich zu entfalten. Die Erfahrungen niederländischer Bauhandwerker wurden geschätzt. Ihnen bot Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, Arbeit und gutes Salär, um durch
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qualifizierte Arbeitskräfte die Stadt erweitern zu lassen. Die Spuren und Zeugnisse des Wirkens dieser ausländischen Arbeitskräfte gehören heute zum Pflichtprogramm jedes Potsdam-Touristen. Ausstellungen und Publikationen zeugen von ihrem Leben und Wirken. Geschwiegen wird dagegen über jene Arbeitskräfte, die zwischen 1939 und 1945 in Potsdam zur Arbeit gezwungen wurden, Frauen, wie die Mutter und Großmutter von Georgij, über Kinder wie den 13jährigen Nikolai Nowikow aus der Nähe von Smolensk, der getrennt von seiner Familie im Lager der UFA starb. In den Regale füllenden stadtgeschichtlichen Forschungen und Veröffentlichungen zu Potsdam ist das Thema der Zwangsarbeit bisher nur marginal betrachtet worden. Auffällig ist, daß das Schicksal der Fremdarbeiter stets im Kontext zum Wirken deutscher Antifaschisten, die sich um die Erleichterung der Situation der Fremdarbeiter bemühten, fokussiert wurde. Dieses Vorgehen führte zu der paradoxen Situation, daß nicht die Situation der Fremdarbeiter im Vordergrund stand, sondern das Wirken meist kommunistischer Widerstandsgruppen und Einzelpersonen. Mit einer derartigen Historiographie wurde zwar facettenreich über den Widerstandskampf berichtet; die Fremdarbeiter gaben den Hintergrund dafür, ihre eigenen Schicksale und ihre Situation wurden aber nur in geringem Umfang thematisiert. Eine Ursache für diese Entwicklung ist in dem eindimensionalen Verständnis der DDR-Führung zu sehen, die D D R sei aus dem antifaschistischen Widerstandskampf gegen Hitler erwachsen. Mit dieser Sichtweise wurde eine Politik der Nichtverantwortung der D D R für die nationalsozialistische Vergangenheit begründet. Das im Aufruf der K P D vom 11. Juni 1945 enthaltene Schuldbekenntnis zum Nationalsozialismus verschwand zunehmend aus der öffentlichen Diskussion und war spätestens mit Beginn der 60er Jahren nicht mehr präsent. Der Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus in der D D R führte zu der paradoxen Situation, daß vor allem die nachgeborenen Generationen das Gefühl entwickelten, daß ihre Vorfahren a priori nicht zur Täterinnengeneration gehört haben, sondern immer auf der »Siegerseite« gestanden oder mit den Ereignissen nichts zu tun hätten. Ein öffentliches Hinterfragen von biographischen Wurzeln im Nationalsozialismus erfolgte nicht. Die Situation der Fremdarbeiter wurde aber nicht nur durch die NS-Machthaber und die Industrieunternehmungen bestimmt. Ihr Einsatz hatte sich im Gegensatz zu anderen nationalsozialistischen Verbrechen vor aller Augen vollzogen. Die Lager waren nicht versteckt, sondern befanden sich in mitten von zum Teil dicht besiedelten Gebieten, und das Leben der Fremdarbeiter wurde auch durch das Verhalten vieler Deutscher geprägt, die ihnen u. a. als Vorarbeiter im Betrieb oder als Wachmannschaften in den Lagern am Ort ihres Einsatzes begegneten. Bei der Befragung von Zeitzeugen wird deutlich, daß die Anwesenheit der auslän-
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dischen Arbeitskräfte sehr wohl wahrgenommen, aber bis zum heutigen Tag, von Ausnahmen abgesehen, das ungeheuerliche dieses Vorgangs nicht reflektiert wurde. Ähnlich wie hinsichtlich der Juden wird betont, wie gut man zu den ausländischen Arbeitskräften war. Ein ehemaliger Vorarbeiter von Orenstein & Koppel erzählt, daß er beim Einmarsch der Roten Armee nicht wie sein Meister im Betrieb in Babelsberg erschossen wurde, weil sich ein Fremdarbeiter aus der Sowjetunion schützend vor ihn stellte. Er hatte ihn an Wochenenden mit nach Hause genommen, Gartenarbeit verrichten lassen und dafür belegte Brote gegeben. Daß er auf diese Weise aber, wie Tausende andere auch, im Kleinen am Fremdarbeitereinsatz partizipiert hatte, spiegelt sich in den Erinnerungen nicht. Die Geschichte der Fremdarbeiter wurde nach dem Krieg verdrängt und nicht öffentlich thematisiert. Die meisten der ausländischen Arbeiter hatten Deutschland bei Kriegsende verlassen. Die vorhandenen Lager wurden als Notunterkünfte für Bombenopfer und Zwangsausgesiedelte aus den infolge des Potsdamer Abkommens an Polen und der C S R abgetretenen Gebieten genutzt. 1950 kam es, durch die Potsdamer Presse ausgelöst, in der Stadtverordnetenversammlung zu Diskussionen über die unhaltbaren hygienischen Verhältnisse in den Baracken in der Babelsberger Grünstraße und am Bahnhof Drewitz, die zum Fremdarbeiterlager der Maschinenbau und Bahnbedarf A.-G. (Orenstein&Koppel) gehörten. Das Lager in der Grünstraße war 1943/44 errichtet worden. Der Diskussion um die Unterbringung der Vertriebenen verdanken wir interessante Einblicke in die Qualität der Babelsberger Barackenlager, die aus billigsten Materialien errichtet wurden. Es wird über große Luftspalten in den Außenwänden berichtet. Die vorhandenen Öfen waren nie angeschlossen und die Fußböden nur aus Stein. Die ursprüngliche Entstehungsgeschichte dieser Baracken und das Schicksal ihrer ersten Bewohner wurde nicht reflektiert. Blasphemisch wird in einer Stellungnahme zu den Wohnbedingungen der Ausgesiedelten in den Baracken davon gesprochen, daß diese »s. Zt. als Provisorium für fremdländische Arbeiter« errichtet wurden. Daß der Zustand der Barackenlager bei ihrer Inbetriebnahme nicht besser war, die beschriebenen Mißstände nicht als Verschleißerscheinungen angesehen werden können, belegen Korrespondenzen zwischen dem Regierungspräsidenten des Regierungsbezirkes Potsdam, der Deutschen Arbeitsfront, dem Potsdamer Bürgermeister und dem Gewerbeaufsichtsamt um das vom Baubevollmächtigten des Reichsministers für Rüstung und Munition Speer für die AradoWerke errichtete Lager in der Wiesenstraße. Die Baracken wurden als »regen- und winddurchlässig« beschrieben. Wäschgelegenheiten fehlten ebenso, wie elementarste Einrichtungsgegenstände. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. So wurden Mahlzeiten in den Gefäßen zubereitet, die die Lagerinsassen zur eigenen Reinigung benutzten.
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Auf dem Gelände des Durchgangslagers Rehbrücke, einmal erschlossen, entstanden in den 50er Jahren, nachdem es unmittelbar nach dem Krieg von der sowjetischen Militärverwaltung genutzt worden war, ein Industriegebiet und eine Wohnbebauung. Potsdam war eine klassische Militär- und Beamtenstadt. Industrielle Ansiedlungen existierten nur im geringen Umfang. Am 1. April 1939 aber wurde die unmittelbar an Potsdam angrenzende Stadt Babelsberg (bis 1938 Nowawes genannt) an Potsdam angegliedert. Anders als das alte Potsdam verfügte Babelsberg über ein beachtliches Industriepotential. Nowawes, die größte Industriestadt des Kreises Teltow, galt als kleineres Ballungsgebiet innerhalb des 30 Kilometerkreises um Berlin an den Wasserstraßen und Schienen gelegen. Über Jahrzehnte hatten Webereien und Spinnereien das Produktionsprofil des Ortes geprägt. Der Strukturwandel der Berliner Industrielandschaft zu Gunsten der Elektroindustrie und des Maschinenbaus hinterließ auch in Nowawes seine tiefen Spuren. Bereits 1930 war in den meisten der großen, textile Stoffe produzierenden Werken die Arbeit eingestellt. Dieser Prozess war mit verheerenden sozialen Folgen einhergegangen, denn die sich seit der Jahrhundertwende in Nowawes ansiedelnden Firmen des Maschinen- und Präzisionsgerätebaus konnten den Exodus an Arbeitsplätzen nicht auffangen. Arbeitslosigkeit und soziale Konflikte beherrschten den Ort. Nowawes galt als politisch brisantes Pflaster. Die S P D und nach 1918 die K P D verzeichneten hier konstant hohe Wahlergebnisse. Abwertend sprach man im benachbarten Potsdam vom »roten Nowawes«. Diese Situation änderte sich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler fast schlagartig. Die bestehenden Nowaweser Betriebe wurden in die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung einbezogen. Zugleich kam es zu Neuansiedlungen von Firmen, die vorrangig für den militärischen Bedarf im weitesten Sinne tätig waren. 1939 existierten in PotsdamBabelsberg 65 anerkannte wehrwirtschaftliche Betriebe, in denen 17.879 Männer und Frauen, mehr als die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeiteten. Davon waren rund 13.000 in den Babelsberger Betrieben, die für die Rüstung arbeiteten, beschäftigt. In Babelsberg zählten dazu die Arado-Flugzeugwerke mit 3.200 Arbeitern und Angestellten, Orenstein & Koppel (seit 1940 Maschinenbau und Bahnbedarf AG) mit 2.400 Mitarbeitern, Frieseke und Höpfner mit 1.000 Arbeitskräften. Die UFA beschäftigte 4.500 Mitarbeiter, die Aluminium-Präzisionsguß AG ( A p a g ) 207, die Kunstseidenfabrik Glissa 400, die Gewehrzubehör produzierenden mechanischen Werkstätten Wolmershäuser & Gurth 180. Darüber hinaus fielen in diese Rubrik auch die Firmen, wie die optischen Werkstätten Greifeidt & Cie., Mechanoptik, die Feldlazarette herstellende Firma Stollenwerk und eine Reihe kleinerer Betriebe. Arbeit war zu diesem Zeitpunkt kein Mangel. Als im Mai 1939 die Apag als luftgefährdeter Rüstungsbetrieb, sie produzierte zu 64 % für die Luftwaffe, 2 8 % für das Heer, 8% Marine, in das Umland verlegt werden sollte, kam es zu massiven
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Widerständen seitens der Belegschaft, die sich weigerte, längere Fahrwege in Kauf zu nehmen, da sie bei dem am Ort herrschenden Facharbeitermangel immer Arbeit bekommen würden. Dem Argument konnte sich die Firmenleitung nicht verschließen. Mit Beginn des Krieges kamen sukzessive auch Arbeitskräfte aus den von Deutschland annektierten und okkkupierten Ländern nach Babelsberg. Es handelt sich dabei sowohl um Kriegsgefangene als auch um Zivilarbeiter. Auf dem Gelände von Orenstein & Koppel in der Ahornstraße befand sich ein großes Kriegsgefangenenlager. Die meisten Lager wurden zwischen 1942 und 1944 errichtet. Noch am 1. Juli 1944 wurde in Babelsberg ein Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen eröffnet, in dem bis zur Besetzung Babelsbergs durch die Rote Armee am 27. April 1945 ca. 250 Häftlinge für das D R K und die UFA arbeiten mussten. Der genaue Standort des Lagers ließ sich bis heute nicht identifizieren. Vermutlich befand er sich auf dem Gelände des Präsidiums des DRK. In Potsdam-Babelsberg, die Zahl der Gesamtbevölkerung vom Baby bis zum Greis betrug in diesen Jahren im Durchschnitt 135 000 Einwohner (einschließlich der in Potsdam stationierten Militärpersonen 1939 = 9651), waren während des Krieges zeitweilig fast 10.000 ausländische Arbeitskräfte zur Arbeit gezwungen. Es gab so gut wie keinen Betrieb, ob Marmeladenproduzent oder Rüstungsfirma, der sich nicht der Arbeitskraft ausländischer Arbeiter aus den von Deutschland Überfallenen und okkupierten Ländern bediente. Innerhalb der Stadt lassen sich für das Jahr 1943 durch ein Schreiben des Gewerbeaufsichtsamtes Berlin 51 Adressen nachweisen, die als Lager für ausländische Arbeitskräfte benannt werden. Es handelt sich dabei sowohl um große Lager, wie etwa eines der Lager von Orenstein & Koppel in der Babelsberger Ahornstraße, das über eine Aufnahmekapazität von 1680 Menschen verfügte, als auch um kleinere Quartiere mit einem Aufnahmevermögen von 10 bis 50 Personen, wie etwa das Lager der Holzhandlung Gebr. Saran G m b H auf dem Potsdamer Kiewitt. Das größte Lager befand sich am Bahnhof Drewitz. Hier konnten bis 3.000 Menschen untergebracht werden. Am südlichen Rand von Potsdam, in Rehbrücke, einer 1939 an Potsdam angeschlossenen Gemeinde, befand sich ein großes Durchgangslager für zivile Arbeitskräfte, vor allem aus Westeuropa. Das Lager war im Auftrages des Generalbauinspekteurs in den Jahren 1942/1943 in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Rehbrücke errichtet worden. In den Planungen war davon ausgegangen worden, daß dieses Lager eine Aufhahmekapazität von 1.200 Menschen haben sollte. Im April 1944 befänden sich hier acht Baracken, des weiteren verschiedene Wirtschafts- und Verwaltungsbauten. Rehbrücke war ein moderner Sklavenmarkt, von dem aus vor allem Arbeitskräfte aus Westeuropa an die deutsche Industrie vermittelt wurden. Die Vermittlung dieser Arbeitskräfte an die einzelnen Betriebe der Stadt Potsdam erfolgte durch das
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Landesarbeitsamt Brandenburg, das von den Durchgangslagern (neben Rehbrücke befand sich auch in Brandenburg-Görden ein derartiges Lager, das speziell für Arbeitskräfte aus Polen und der U d S S R eingerichtet worden war) Mitteilung über die eingetroffenen Arbeiter erhielt. Daraufhin organisierte das Arbeitsamt entsprechend den Anforderungen aus den einzelnen Betrieben den Einsatz der Arbeitskräfte, die dann aus den Durchgangslagern in die Betriebslager kamen. In den Potsdamer Betrieben arbeiteten Belgier, Belorussen, Franzosen, Holländer, Italiener, Kroaten, Norweger, Polen, Russen, Slowaken, Spanier, Tschechen, Ungarn, Ukrainer. Die meisten Arbeitskräfte aber kamen aus den Ländern der Sowjetunion (1.732), aus Polen (2.984), Frankreich (1.174) und den Niederlanden (381). Die Fremdarbeiter waren nicht nur in der Wirtschaft eingesetzt, sondern auch in Betrieben, die sich in kommunaler Hand befanden, wie den Verkehrsbetrieben. Hier waren vor allem Arbeiter aus Westeuropa tätig.
Die folgenden Erinnerungsberichte entstanden seit Mitte 1998. Sie wurden ohne ein Raster von Fragen niedergeschrieben. Gemeinsam ist allen Erinnerungen, daß die Frauen und Jugendlichen nicht freiwillig nach Deutschland gekommen sind und den Transport nach dort und die Ankunft in den Lagern vor allem die entwürdigende Prozedur der Desinfektion als eine traumatische Erfahrung empfunden haben. Durch alle Berichte zieht sich auch die Erinnerung an den Hunger. Die Lebensmittelrationen waren gering und minderwertig. Die Folge der latenten schlechten Ernährung war ein blühender Schwarzhandel mit Lebensmitteln. In diesem Kontext nutzten die in der Hierarchie der Fremdarbeiter besser gestellten Westarbeiter, die auf Grund besserer Bezahlung und der ihnen zugebilligten Freizügigkeiten größere Möglichkeiten hatten, an die begehrten Produkte zu gelangen. Die sehr schlechte Ernährung der Ostarbeiter steigerte deren Bereitschaft, Brot und andere Lebensmittel trotz ihres äußerst minimalen Verdienstes zu überteuerten Preisen zu kaufen. So verkaufte beispielsweise eine belgische Fremdarbeiterin in Babelsberg Brot im Wert von 0,30 RM für 5.00 RM an Russinnen. Im Arado-Lager »Am Brunnen« wurde bei einer Inspektion festgestellt, daß für die Insassen gedachte höherwertige Lebensmittel, wie Zucker, von der Wachmannschaft unterschlagen wurden. Durch mangelnde Vorraussetzungen zur Lagerung von Lebensmitteln, verdarben diese im Arado-Lager in der Wiesenstraße. Die Erinnerungsberichte differenzieren das Verhalten der deutschen »Kollegen«. Während es die vielfach beschriebenen Beispiele von Hilfe gab, wird auch anderes Verhalten offenkundig. In den Erinnerungen werden bisher offensichtliche Mißhandlungen nicht beschrieben. Die Rede ist »nur« von den strengen Vorarbeitern
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und Meistern. Sie waren aber in den Lagern der Arado, in denen sich die Frauen befanden, an der Tagesordnung und hatten ein solches Ausmaß angenommen daß sich die Betriebsführung zum Eingreifen veranlaß sah. Die Zwangsarbeiter aus Osteuropa wurden sowohl in den Lagern als auch im Betrieb geschlagen. Im November 1944 hatte sich daraufhin Wassilij Potemskij mit der Bitte um Hilfe an die Deutsche Arbeitsfront gewandt. »Ich, Ostarbeiter Potemski Wassilij, bin bei den Arado-Flugzeugwerken tätig, wo ich schon 2 1/2 Wochen arbeite. Aber jetzt kann ich nicht mehr arbeiten, weil ich die täglichen Prügel des Meisters nicht mehr aushalten kann. Weil ich ihm nicht gefallen habe, muß er mich deshalb schikanieren? Ich bin doch auch ein Mensch und kein Tier, man behandelt mich aber unmenschlich. Ich will ehrlich und gewissenhaft arbeiten, will aber auch, daß man mich menschlich wie auch die andren behandelt. Und ich bitte, mir irgendeine Empfehlung oder Rat in dieser Sache zu geben. Ich werde Ihnen sehr dankbar sein«. Die daraufhin im Lager durchgeführte Kontrolle brachte zu Tage, daß derartige Vorfälle keine Ausnahme waren, daß die hygienischen Zustande im Lager entsetzlich waren. Auf Grund des Ausmaßes der Mißhandlungen erhob die Staatsanwaltschaft des Landgerichtes Potsdam im März 1945 Anklage gegen die Lagerführer und einige Wächschutzleute wegen vorsätzlicher Mißhandlung. Zu einem Prozeß kam es allerdings nicht. Die Mißhandlung der Fremdarbeiter fand auch später keine Sühne. Am 28. Juni 1945 wurde das Verfahren eingestellt. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, daß Ermittlungsakten gegen Fremdarbeiter, die wegen verschiedener Delikte, vor allem wegen Lebensmitteldiebstählen angeklagt worden waren, trotz der Abwesenheit der Verurteilten vereinzelt erst im Jahr 1950 geschlossen wurden. Die Potsdamer Fremdarbeiter wurden bis 1943 in den normalen Stationen des Städtischen Krankenhauses versorgt. 1943 wurde auf dem Gelände des Krankenhauses eine gesonderte Baracke für die medizinische Versorgung, insbesondere für die chirurgische Versorgung der Fremdarbeiter errichtet. Das Tagebuch der chirurgischen Klinik weist als Einlieferungsgründe Verletzungen, wie Brüche und Schnittverletzungen auf, die zum Teil auf Arbeitsunfälle zurückzuführen sind, und die zum einen auf einen generell niedrigen Arbeitsschutz, zum anderen aber auch auf die fehlende Qualifikation für bestimmte Tätigkeiten hinweisen. An der Tagesordnung waren weiterhin Leistenbrüche, Zellgewebsentzündungen, Furunkel u.a. Krankheiten, die vor allem durch mangelhafte Hygiene und schlechte Ernährung gefördert werden. Als Todesursachen für die meisten in Potsdam verstorbenen Fremdarbeiter werden Schwäche, Krankheiten, Unfälle, Suizide und auch die Luftangriffe ausgewiesen. Am 14. April 1945, drei Wochen vor Kriegsende, kamen in den Lagern, die im Zentrum des Angriffs lagen, ca. 40 Fremdarbeiter ums Leben. Eine genaue Anzahl der Todesfälle von Fremdarbeitern in Potsdam läßt sich nicht mehr rekonstruieren.
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Ein weitgehend unbekanntes Kapitel ist die Versorgung der Kranken in den Potsdamer Lagern und die Situation der Kinder. Besonders hoch war die Sterblichkeit der Kinder, die vor allem aus der U d S S R nach Deutschland mitgebracht wurden bzw. hier geboren wurden. Nachweisbar ist, daß mindestens 41 Kinder von Ostarbeiterinnen in Potsdam starben. Von diesen waren auf jeden Fall 18 in Potsdam zur Welt gekommen. Die in Potsdam geborenen Kinder starben fast ausschließlich vor Beendigung ihres ersten Lebensjahres. Als Todesursachen werden Infektionskrankheiten, Mangelkrankheiten und Unterernährung genannt. Die höchste Kindersterblichkeit herrschte in den Lagern der UFA und der Arado. Jekaterina und Jakob Prokuschenko aus Orscha verloren in Babelsberg ihre beiden Kinder. Galina, am 11. Juni 1941, zehn Tage vor dem deutschen Überfall auf die U d S S R in Orscha geboren, starb im November 1943 im UFA-Lager an Masern. Wladimir, ein Jahr nach dem Tod der Schwester in Babelsberg geboren, verstarb einen Tag nach seiner Geburt im gleichen Lager. Die Erinnerungen enden mit dem Krieg und enthalten keine Informationen über ihr kompliziertes Nachkriegsschicksal. An die Befreiung von Babelsberg und der Lager erinnerte sich nach Kriegsende der Garde-Oberleutnant Ankischin: »Die Deutschen hielten die Stadt (Babelsberg - A.P.) noch. Wir organisierten Hinterhalte an den Straßenkreuzungen und gingen in die Stadt vor. Zu dieser Zeit informierten uns zwei russische Burschen, die aus einem Kriegsgefangenenlager ausgebrochen waren, daß sich zwei Lager erheben und bereit sind, die SS-Leute zu schlagen um uns zur Hilfe zu kommen. In der Stadt gebe es Barrikaden und Leute mit Panzerfäusten. Ich gebe den Burschen den Befehl: Handelt! Nach anderthalb Stunden erhalte ich einen Zettel aus dem Lager: Genosse Kommandeur, der Weg nach Potsdam über Babelsberg ist frei, die Barrikaden sind beseitigt, das Lager hat sich zum Teil bewaffnet, die Wachen wurden erschlagen. Es begleiten Sie die Genossen Sadowoi und Kowpak. Gruß die Gefangenen des Lagers Agorn (gemeint ist das Lager Ahornstraße auf dem Betriebsgelände von Orenstein & Koppel- A.P) Und tatsächlich - nachdem sie die Wachen beseitigt hatten, gingen sie durch die Straße und begannen, die Panzerfäustleute zu vernichten. Und gemeinsam mit uns befreiten sie noch zwei Lager. Insgesamt wurden 7000 Kriegsgefangene befreit. [...] Unbeschreiblich war die Freude bei allen befreiten Kriegsgefangenen. Jeder bemühte sich - womit auch immer - unseren Soldaten danken, die sie aus der deutschen Knechtschaft befreit hatten. Der eine weinte, ein anderer wiederholte lächelnd immer dieselben Worte: Woher kommt ihr nur, ihr Lieben ...<.«
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Erinnerungen J ewgenia Iwanowa Jewdokimowa, Jahrgang 1921 Unsere Familie wurde am 7. März 1944 im D o r f Sajewo, Kreis Pskow festgenommen. In Pskow wurden dann alle zu einer großen Kolonne zusammengestellt und in einen Zug verladen. Die Waggons waren ohne jede Einrichtung, ohne Toilette, auf dem Boden lag Stroh. Der Zug fuhr nach Westen. Unterwegs wurden die Waggons etwas entladen, aber auf die freien Plätze kamen neue Menschen. Die Kinder weinten, zu essen gab es mehrere Tage überhaupt nichts. Es gab nur Wasser an den Haltestellen. Einige Leute sind vor Angst und Kälte gestorben. In Deutschland in der Stadt Frankfurt wurde sortiert, unser Waggon wurde nach Potsdam-Babelsberg geschickt. Die Hälfte des Waggons wurde in Potsdam gelassen, die andere Hälfte zu Fuß nach Babelsberg geschickt. Es gibt verschiedene Erinnerungen, meist sehr schwere. Früh wurde zeitig aufgestanden, um 5 Uhr aßen wir schnell die Balanda. Jeder bekam 200 Gramm Brot am Tag. Wir gingen zur Arbeit im Flugzeugwerk Arado. Gearbeitet wurde 12 Stunden. Bei der Montage irgendwelcher Aggregate arbeiteten mit uns zusammen auch deutsche Frauen. Sie verhielten sich uns gegenüber unterschiedlich. Es gab welche, die uns manchmal ein Stück Brot oder belegte Stullen gaben, das war uns eine richtige Hilfe. Andere wollten uns auf jegliche Art erniedrigen. Die Nummer meiner Brotmarke kenne ich heute noch ... Sehr verpflichtet bin Agrippina Fjodorowa, die manchmal in der Werkskantine arbeitete. Manchmal gelangte etwas Essbares aus der Küche zu uns. Der Meister hieß Otto, er war ein sehr strenger Mann. Einmal hat er eine deutsche Arbeiterin der Polizei übergeben, weil sie einer russischen Frau ein Stück Brot gegeben hatte. Ein Bad gab es im Lager nicht. Jeder wusch sich irgendwie am Wasserhahn eines Waschbeckens oder an einer Schüssel in einer Ecke. Die Baracken wurden oft desinfiziert. Die Arbeiter mußten rausgehen, in den Räumen wurde irgendwelches Gemisch verbrannt und es wurde gegast. Danach war alles Lebendige tot. Dann wurden in Spezialmaschinen die Unterwäsche und die Oberbekleidung gekocht. Die Körperhaare und die Nägel wurden auch mit einer stinkenden Flüssigkeit eingeschmiert. Das hieß dann Bad mit Desinfektion. Es fällt mir auch jetzt noch schwer mir vorzustellen, wie das sein konnte, daß sich die Leute monatelang nicht weder in der Banja noch in der Wanne mit warmen Wässer waschen konnten.
Maria Waliljewna Wolkowa, Jahrgang 1928 Unsere Familie wurde im November 1943 verhaftet. Irgendwann Ende Februar wurde unser Waggon - 200-220 Leute - ausgeladen und in das Lager Babelsberg ge-
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bracht. Dort gab es damals etwa 8 - 9 Baracken. Es gab wenig und schlechtes Essen. Immer hatte man Hunger. Allerdings hatte ich Glück. Ich gehörte zu einigen Mädels, die zur Arbeit in eine Nebenwirtschaft des Lagers geschickt wurden, wir arbeiteten oft bei einem Bauern. Dort bekamen wir Mittagessen, Pudding und eine Tasse Kaffee. Das alles heilt uns gesund. Hier arbeiteten wir auch 12-14 Stunden in einer Schicht.
J ewgenija Jakowlewa Gromowa, Jahrgang 1928 Der Krieg erreichte uns in der Siedlung Karamyschewo. Vater war an der Front. Mutter erzog uns drei Kinder. Nach einer der üblichen Polizeidurchsuchungen brachte man uns einige Jungen und Mädchen nach Pskow in ein Sammellager. Das war im Herbst 1943. Mein Endpunkt war das Lager Babelsberg. Einige in unserer Baracke arbeiteten ständig auf dem Bau im Kinostudio. Zur Arbeit wurden wir frühmorgens in einer kleinen Kolonne geführt. Wir wurden von einem Polizisten bewacht. Manchmal wurden wir auch mit Autos gefahren. Unsere Nahrung bestand im wesentlichen aus Spinatbrei oder Rüben, selten aus Kartoffelschalen [...] Eine Schicht dauerte 12 - 14 Stunden [...] Das Lager befand sich in einem kleinen Kiefernwald. Es bestand aus vielen Baracken. Es war von Stacheldraht umgrenzt und in einige Zonen eingeteilt. Diese Zonen waren auch durch Stacheldraht voneinander getrennt. In unserer Zone waren die Leute slawischer Nationalität. Irgendeine Hilfe (Lebensmittel oder Geld) bekamen wir von niemandem, auch nicht vom Roten Kreuz oder Barmherzigkeitsorganisationen. Junge Leute wurden oft in die Sanitätsbaracke gebracht, wo man ihnen Blut abnahm. Man nahm offensichtlich viel Blut ab, denn viele verloren das Bewusstsein, die Beine wurden gefühllos, und das für viele Tage.
Aleksander Iwanowitsch Jewdokimow, Jahrgang 1931 Im Dezember 1943 wurde unser Dorf nach Einwohnern durchsucht. Fast alle wurden nach Litauen gebracht, in die Stadt Schaljuj. Dort war ein Verteilungspunkt. Aus Schaljuj wurden wir nach Polen zur Arbeit gebracht. Dann wurde unserer Gruppe wieder verladen und nach Deutschland gebracht, zum Verteilungspunkt in der Stadt Brandenburg. Das war etwa im Januar oder Februar 1944. Nach zwei Tagen wurden wir nach Potsdam gebracht, und zwar ins Lager Babelsberg. Das Lager befand sich neben dem Friedhof. Sehr viele arbeiteten in der Flugzeugfabrik Arado. Aber ein Teil der Leute kam auch in die Landwirtschaft, manche auf den Bau, zur Eisenbahn, andere sogar zum Bau des Kinostudios Ufa. Die Werkanlagen befänden sich sowohl über als auch unter der Erde. Die Arbeitszeit betrug 12 Stunden am Tag. Das Lager war von Sta-
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cheldraht umgeben. Lagerchef war der einarmige Deutsche Schwarz. Das Lager hatte mehrere Abschnitte. Gesondert gehalten wurden die Polen, auch die Balten aus Litauen und Lettland und auch die Ukrainer und die Serben. Neben einem anderen Friedhof war noch ein Lager, dort waren vor allem Engländer, Franzosen und Holländer. Zur Arbeit gingen wir in der Kolonne und unter Bewachung. Statt der Schuhe hatten wir Holzpantinen, es gab graue Arbeitskleidung, aber die meisten gingen in dem, was sie gerade hatten, trugen die eigene Kleidung ab, nähten Sachen aus jedem beliebigen Material, auch aus Säcken. Unsere Familie, die Jewdokimows, lebten zusammen in einer Stube mit den Familien Aleksejew, Koshewnikow und Worobjow. Meine Lagernummer war 1086, die meiner Mama Marija Jewdokimowa 1083. Die Leute aus unserer Baracke waren aus Nowgorod, aus Leningrad, die meisten aber aus dem Kreis Pskow. Die Verpflegung war sehr schlecht. Zweimal am Tag gab es etwas. Frühmorgens eine Suppe aus Rüben oder Spinat, abends daßelbe und rund 200 Gramm Brot. An freien Tagen gab es Kaffeeersatz, manchmal irgendeinen Brei. Auf der Kleidung trugen wir das Zeichen Ost und ein blaues Dreieck mit einem weißen Kreuz darauf. Medizinische oder gesundheitliche Betreuung gab es so gut wie gar nicht. Die Leute wurden oft krank. Die Kinder bekamen Masern, litten an Erkältungs- und Hautkrankheiten Ich war meistens als Bote eingesetzt, manchmal arbeitete ich in der Küche. Ganz schrecklich war es, wenn die amerikanischen und englischen Flugzeuge Potsdam bombardierten. Davon bekamen wir auch einiges ab. Ganz schwere Luftangriffe gab es im April 1945. Alles war in Feuer und Rauch. Gebe Gott, daß niemand mehr erleben muss, was wir damals erlebten. Und das Wichtigste: daß die Menschen menschlich und tolerant miteinander umgehen.
I rina Fjodorowna Koshewnikowa, Jahrgang 1903 Unser Waggon, in dem sich etwa 75-80 Menschen befanden, kam Anfang März 1944 in Potsdam an. Wir gingen zu Fuß, in der Kolonne, über eine große Flußbrücke nach Babelsberg. Als wir ankamen, waren die Baracken schon voller Menschen. Morgens mussten alle Angekommenen in die Desinfektion [...] Die Matratzen und die Kopfkissen wurden mit Stroh gestopft. Unsere eigene Kleidung mussten wir abgeben, dafür bekamen wir graue Arbeitskleidung, für die Füße gab es Holzpantoffeln. Auf die Kleidung wurde das Zeichen O S T aufgenäht, auf dem Ärmel ein blauer Rombus mit gekreuzten weißen Streifen, das erinnerte an die alte Andrasflagge. Auf der Brust war eine große Nummer und ein Foto. [...] In der Stube waren 20-25
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Menschen. Die Pritschen waren dreistöckig. Zu essen gab es zweimal, morgens und abends. Wir bekamen 200-250 Gramm Brot. Die Suppe bestand meist aus Rüben und Spinat, selten aus Kohl und Kartoffelabfällen. Manchmal gab es Kaffee-Ersatz. Sowohl die Erwachsenen wie auch die Kinder hatten immer Hunger. Unser Kommando arbeitete im Flugzeugwerk Arado. Manche arbeiteten unter der Erde, die anderen oben. Sie arbeiteten an Drehbänken, setzten Teile zusammen, härteten Teile thermisch, strichen Teile an. Mittagessen gab es nicht, auch keine Baderäume. Zur Arbeit führte man uns als Marschkolonne. Die Wache waren Polizisten mit Hunden. Die Polizisten durchsuchten uns auch. Es gab eine Sanitäts- bzw. Krankenbaracke. Lange blieb dort aber niemand. Die Schwerkranken wurden irgendwohin hingebracht und niemand hat sie dann mehr gesehen. Freizeit gab es nicht. An den in ganz Deutschland geltenden Feiertagen mußten wir aber nicht zur Arbeit. Die Zwangsarbeiter des Lagers räumten dann ihre Unterkünfte auf Unser Lager war in verschieden Zonen eingeteilt. Die Verbindungen zu Personen anderer Nationalitäten waren verboten. Sehr gefährlich war es während der Luftangriffe auf Potsdam und Berlin. Im April (1945, A.P) kamen die Bomber in riesigen Schwärmen. Neben den Baracken waren Splittergräben und Gruben ausgehoben. Darin saßen dann die Menschen. Die Bomben trafen auch unser Lager. An diese schrecklichen Bombardierungen erinnern sich alle. Aus den Erinnerungen geht hervor, daß im Lager folgende russischen Kinder umgekommen beziehungsweise gestorben sind: Alexej Iwanowitsch Worobjow (1942-1945), Alexej Iwanowitsch Putschin (1939-1945), Wladimir Alexander Udalzow (1940-1945), Iwan Alexandrowitsch Sinjukow (1939-1944), Simon Pawlowitsch Terechow (1941-1944), Ludmila Pawlowna Masylygina (1942-1945), Sergej Spirin (1943-1945). Von den Erwachsenen, die in unserem Lager umgekommen oder gestorben sind, erinnere ich mich an Marias Jakowlewna Pawlowa (1910-1945), Klawdija Lawrowna (1903-1945), Maria Sopotowa (19031945) Antonia Bisjulina (1903-1945). Am Tag der Befreiung des Lagers lief die Wachmannschaft davon, wir waren fast 24 Stunden auf uns allein gestellt. Am Morgen kamen die sowjetischen Panzersoldaten. Ihre Namen haben die Befreier uns nicht gesagt oder aber wir haben sie vor Freude über alles, was da geschah, einfach vergessen. Nach Hause gekommen sind wir Ende des Sommer 1945. Hier erwarteten uns große Schwierigkeiten. Die Wohnung war zerstört, das Haus, das den Eltern gehörte, abgebrannt. Wir wussten nicht, wohin. Verwandte haben uns aufgenommen. So begann das Leben vom Nullpunkt.
Kurt
Gossweiler
Rückschau auf Begegnungen und Debatten
An Erich Paterna, den Leiter des Institutes für deutsche Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin, wurde am Ende der fünfziger Jahre die Anfrage gerichtet, ob sein Institut bereit und in der Lage sei, für die Reihe »Lehrbuch der deutschen Geschichte« 1 - sie erhielt sogleich nach dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahre 1959 wegen dessen gelb-roten Schutzumschlages sogleich den Spitznamen »MinolReihe«, weil in diesen Farben auch die Minol-Tankstellen der D D R leuchteten - den Band »Deutschland 1933-1939« zu erarbeiten. Natürlich war es für Paterna und seine Mitarbeiter in der Abteilung Weimarer Republik und Faschismus Ehrensache, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Vor allem für uns damalige Wissenschafts-Novizen - Gerhard Engel, Werner Fischer, Kurt Gossweiler, Gertrud Markus, Hans Stoye-Balk und Ernst Wurl - handelte es sich um eine schwierige, weil völlig neue Aufgabe, hatte doch bisher jeder von uns sich als Einzelarbeiter an seinem eigenen Forschungs- und Dissertationsthema abgemüht, das zudem bei den meisten Ereignisse der Zeit vor 1933 zum Gegenstand hatte. Für die kollektive Arbeit an einem Gesamtprojekt fehlte jegliche Erfahrung. Dieses Manko suchten wir durch umso größeren Elan zu ersetzen. Die ohnehin nicht geringen Schwierigkeiten erfuhren noch eine Steigerung, als zwei der Mitarbeiter ausfielen, der eine - Stoye-Balk - wegen Wechsels der Arbeitsstelle, - der andere Wurl - wegen einer langwierigen Krankheit. Dennoch war das Unternehmen schon ziemlich weit gediehen, jedoch von seiner Vollendung noch weit entfernt, als es 1963 nach der im Jahr zuvor erfolgten Emeritierung Paternas - zum völligen Stillstand kam. Paternas Nachfolger als Leiter des Instituts für deutscher Geschichte wurde 1963 Joachim Streisand. 2 Zwar war er mit dem Lehrbuch-Projekt seit langem vertraut, hatte er doch die Verantwortung für den bereits 1959 erschienenen Band »Deutschland 1789-1815« getragen und im März 1962 die Nachfolge des bisherigen Wissenschaftssekretärs des Autorenkollektivs aller Bände der »Minol-Reihe« - Roland Franz Schmiedt war einem Ruf an die Jenaer Universität gefolgt - angetreten. Da er indessen zunächst alle Hände voll zu tun hatte, um sich in seine neue Aufgabe als Institutsleiter hineinzuarbeiten, ruhte für rund zwei Jahre die Arbeit am Lehrbuch. Wir Mitautoren wandten uns wieder den ursprünglichen Forschungsthemen zu.
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Kurt Gossweiler
Eine Wendung der Dinge trat erst im Oktober 1965 ein, als Kurt Pätzold von der Akademie der Wissenschaften der D D R in unser Universitäts-Institut herüberwechselte. Dieser Wechsel war ein Glücksfall für das Institut und für das Lehrbuch. Wir »alten« Mitarbeiter hatten bald Gelegenheit, den »Neuen« dafür zu bewundern, mit welcher Energie und Engagiertheit er - wohl von Streisand dazu angeregt - es als seine Hauptaufgabe in Angriff nahm, nicht zuzulassen, daß all die bisher für die Ausarbeitung des Lehrbuches geleistete Arbeit umsonst gewesen sein sollte. Als neuer Leiter des Autorenkollektivs mobilisierte er uns für die Arbeiten zur Fertigstellung des Lehrbuches. Eines der Hindernisse für die Weiterarbeit hatte nach dem Ausscheiden Paternas darin bestanden, daß niemand gefunden werden konnte, der die von ihm betreuten ersten Kapitel hätte zuende schreiben können. Es wurde auf die denkbar beste Weise überwunden: Kurt Pätzold übernahm auch in diesem Punkte die Nachfolge Paternas. So begann er also an unserem Institut mit einer Aufgabe, die mit einer zweifachen Schwierigkeit behaftet war. Fast alle anderen Bände des Lehrbuches wurden von einem einzigen Autor von Anfang bis Ende geschrieben; ein Umstand, der es natürlich erleichterte, daß beispielsweise der Band 10 »Deutschland 1917-1933« verfaßt von Wolfgang Ruge - aus einem Guß war. Kurt Pätzold dagegen hatte nicht nur die schwierige Aufgabe übernommen, sich in viel kürzerer Zeit als wir anderen Bandautoren über einen von ihm bisher nur im Großen und Ganzen überschauten Geschichtsabschnitt solche Detailkenntnisse anzueigen, die ihm ermöglichten, sowohl selbst als Autor einen beträchtlichen Teil des Bandes auszuarbeiten, als auch darüber hinaus noch die Arbeit der anderen Autoren sachkundig zu beurteilen und erforderlichenfalls auch anzuleiten; nein, ihm oblag es auch - und das war sicherlich nicht weniger schwierig, auf jeden Fall aber noch verantwortungsvoller - sicherzustellen, daß trotz der unterschiedlichen Fähigkeiten, Schreibweisen und Eigenheiten aller vier noch beteiligten Autoren der Band nicht zu einer Aneinanderreihung sich kaum aufeinander beziehender Teilstücke werden würde, sondern zu einem nach einheitlichen Prinzipien gestalteten Band, dessen einzelne Kapitel sich zu einem organischen Ganzen fügten. Wenn das in diesem Band 11 schließlich gelungen ist, dann ist dies in erster Linie Kurt Pätzold als Leiter des Autorenkollektivs zu verdanken. Mir liegt noch eine seiner Stellungnahmen zum bisher vorliegenden Manuskript vor. Sie stammt vermutlich aus dem Jahre 1966 und lautete: «Nachdem ich die Fahnen der Kurzfassung
noch einmal gründlich durchgearbeitet und Feile der im Entstehen begriffenen Langfassung gelesen habe, möchte ich zur Beschleunigung der weiteren Arbeiten einige Vorschlage unterbreiten. 1. Ich bin der Auffassung, daß die Fragen der Koordinierung und Vereinheitlichung des Lehrbuchteils neu geprüft werden müssen. Die jetzige Fassung läßt m.E. ernste Mängel schon bei flüchtiger Durchsicht erkennen. Das
Rückschau auf Begegnungen und Debatten
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Fehlen einer Feindisposition macht sich wiederholt bemerkbar. 2. Im besonderen halte ich es dir notwendig, unverzüglich zu klären, welche grundlegenden Probleme und welche wichtigen Fragen an bestimmten Stellen konzentriert und z.T. auch zusammenfassend (über den jeweiligen Abschnitt hinausgreifend) behandelt werden sollen. Ungeklärt ist beispielsweise, wie ein besserer Uberblick über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung gegeben wird, (der jetzt in viele Einzelteile zerrissen scheint), wo und wie zusammenhängend die faschistische Ideologie dargestellt wird, wo die Entwicklung der Hochschulen, des Schulwesens usw. dargestellt werden. (Es ließen sich weitere Beispiele nennen). 3. M.E. ist es, wenn die abschließende Arbeitsphase möglichst kurz bemessen werden soll, jetzt schon notwendig, detaillierte Abstimmungen auch über formale Fragen zu treffen. (Nach welchen Grundsätzen wird bei den Anmerkungen verfahren? Soll ein Tabellenteil angefügt werden oder sollen bestimmte Teile im Text untergebracht werden?)« Wie schwierig und notwendig die Vereinheitlichung der Ausarbeitungen der verschiedenen Autoren war, und unter welchem Zeitdruck die Erarbeitung des Bandes stand, mag hier ein Auszug aus einem Gutachten von Wolfgang Schumann - er arbeitete damals am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R - vom 4. Juli 1967 ahnen lassen. Es hieß dort unter Punkt 6: »Abgesehen davon,
daß die einzelnen Kapitel proportional nicht aufeinander abgestimmt sind, hat man beim Lesen den Eindruck, daß sie einfach hintereinander gestellt wurden. D.h. es ist, wohl sicher infolge der Titsache, daß verschiedene Autoren an den einzelnen Kapiteln gearbeitet haben, noch nicht gelungen, die Entwicklung einzelner Probleme und damit des ganzen verbrecherischen Systems des Faschismus sichtbar zu machen. Das betrifft im Grunde alle Fragen der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus im faschistischen Deutschland als System, das alle gesellschaftlichen Bereiche umfaßt ganz abgesehen von der Geschichte der Arbeiterbewegung. Im einzelnen wird sehr viel Richtiges gesagt, ein zusammmenhängendes Bild vom Verbrecherischen dieses Systems und von seinen gesellschaftlichen Wurzeln ... bekommt der jugendliche Leser, der diese Zeit nicht miterlebt hat, meines Erachtens nicht. Das jetzige Manuskript reiht Ereignis an Ereignis. Aber weil die einzelnen Kapitel ungenügend aufeinander abgestimmt sind, geht der eigentliche erzieherische Effekt verloren. Das faschistische Regime durchläuft in seiner Entwicklung bis zum Kriegsausbruch verschiedene Phasen, die in ihrer Qualität und vor allem in ihrer Wirksamkeit durchaus verschieden sind. Welches nun die einzelnen Stufen dieses Systems der Kriegsvorbereitung z.B. auf dem Wirtschaftssektor, m der Innen- und Außenpolitik gewesen sind, das wird bei einer solchen Aneinanderreihung eben nicht sichtbar gemacht werden können. Deshalb bleibt die Frage, wie das geschehen konnte, in diesem Manuskript unbeantwortet.« Nach e i n e m Jahr intensivster Arbeit am Band konnte Kurt Pätzold am 1. August
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Kurt Gossweiler
1968 in einem Vermerk »ßefr. Weiterer Gang der Arbeiten am Manuskript »Deutsch-
land 1933 bis 1939« feststellen: »Um den Termin 31. August 1968 einzuhalten, machen sich jetzt eine Reihe von Festlegungen für die weitere Arbeitsverteilung und Organisation notwendig, die vorbehaltlich der Zustimmung von Prof. Streisand getroffen werden könnten: 1. Die Manuskripte werden überarbeitet und schreibfertig (einschl. der Anmerkungen) bis zum 28. August 1968 vorgelegt. 2. Jeder Autor nimmt die Überarbeitung auf der Grundlage der Gutachten und der in diesem Zusammenhang gegebenen Hinweise von Prof Streisand und Prot. Paterna vor. Die Aussprachen mit Prof. Paterna über die im Zusammenhang mit den Gutachten auftauchenden Fragen sind sofort zu rühren. Sie werden von jedem Autor vereinbart. [...] 5. Dr. Pätzold wird einen Vorschlag für die Vereinheitlichung der Anmerkungen vorlegen (20. August). Es soll im besonderen vermieden werden, daß jeder Autor aus anderen Quellenwerken, Zeitschriften, Zeitungen etc. zitiert.« Ich vermag nicht mehr zu sagen, ob wir es damals geschafft haben, innerhalb der gesetzten zwanzig Tage das Manuskript tatsächlich schreibfertig vorzulegen. Auf jeden Fall ist der Band im darauffolgenden Jahr 1969 als Band 11 des »Lehrbuches der deutschen Geschichte« erschienen. Die Autoren dieses und des nachfolgenden Bandes »Deutschland 1939-1945« waren sich dessen bewußt, daß auf ihnen eine besondere Verantwortung lag, kam doch der Darstellung der finstersten Periode der deutschen Geschichte, der Geschichte des faschistischen Deutschland, für die Erziehung der Jugend und deren künftige Erzieher ein besonders großes Gewicht zu. Unser Band ist als Ganzes - trotz etlicher Einseitigkeiten, insbesondere bei der Darstellung der Kräfte des antifaschistischen Widerstandes - dieser Verantwortung gerecht geworden. Mit Sicherheit wäre es um den geistigen Zustand der Jugend im heutigen Deutschland um vieles besser bestellt, wären die Bände 11 und 12 dieses Lehrbuches noch immer, diesmal in Ost und West, als Hochschullehrbuch in Gebrauch. Die ersten beiden Kapitel, die entweder ganz - wie das erste - oder größtenteils wie das zweite - von Kurt Pätzold verfaßt wurden, waren für den ganzen Band grundlegend. Hier war das Wesen der faschistischen Diktatur zu klären und die wirklich alle Welt bewegende Frage zu beantworten, wie es in Deutschland zu diesem verbrecherischen Regime und zu dessen Festigung hatte kommen können. Bereits die in diesem Band von Kurt Pätzold verfaßten Kapitel und Abschnitte zeichneten sich durch Besonderheiten aus, die ihren Autor sehr rasch zu einem der nicht nur in der D D R sondern auch international am meisten beachteten und anerkannten Historiker der D D R werden ließen. Eine dieser Besonderheiten war und ist eine in dieser Intensität selten anzutreffende Fähigkeit, von den Erscheinungen ausgehend tief in das Wesen gesellschaftlicher Zustände und historischer Ereignisse
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vorzudringen, eine Fähigkeit, die er außer seiner individuellen Begabung einer Aneignung der Betrachtungsweise des historischen Materialismus verdankt, die ihm - wie ich es sehe - zur zweiten Natur geworden ist. Daher ist für seine Geschichtsdarstellung eine durchgehende Einheit von Ereignisbeschreibung und Analyse der Ereignisse kennzeichnend: der Aufdeckung ihrer gesellschaftlichen Ursachen, der von den Akteuren gewollten Ziele, und - gegebenenfalls - der Ursachen für die davon abweichenden tatsächlichen Ergebnisse. Eine weitere Besonderheit der Pätzold'schen Schreibweise, die bereits in diesen Kapiteln angenehm auffiel, ist für mich dies: Der marxistische Historiker Kurt Pätzold hat offensichtlich einen Horror vor dem Gebrauch formelhafter Stereotypen; seine Sprache ist frisch und unkonventionell und vermeidet konsequent die Verwendung auch noch so sehr eingebürgerter vorgestanzter Formeln. Sie ist deswegen nicht weniger parteilich und präzise, eher im Gegenteil: die ungewöhnliche eigenständige Frische des Ausdrucks und der Argumente regen das eigene Nachdenken an und fördern das Verständnis des Lesers. Diese Besonderheiten traten für mich besonders deutlich hervor bei der Darlegung der von den verschiedensten Seiten so heftig angegriffenen Faschismus-Kennzeichnung der Kommunistischen Internationale, gewöhnlich als »Dimitroff-Formel« bezeichnet. 3 Ich habe nirgendwo ein überzeugenderes, zugleich aber vom »Parteichinesisch« weiter entferntes Plädoyer für die Wissenschaftlichkeit dieser FaschismusCharakteristik gelesen als dieses von Kurt Pätzold.
Das Zentrum der weiteren Forschungs- und Publikationstätigkeit Kurt Pätzolds ist mit dem Titel seines Buches »Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung« 4 - hervorgegangen aus seiner 1973 erfolgreich verteidigten Habilitationsschrift 5 - präzis beschrieben. In Publizistik und Geschichtsschreibung der D D R wurden immer, wenn es um die Kennzeichnung des verbrecherischen Charakters des deutschen Faschismus ging, an erster Stelle - zusammen mit dem Antikommunismus und der Kriegstreiberei - der Rassismus, der Antisemitismus, die Judenverfolgung und Judenausrottung genannt. Aber erst verhältnismäßig spät - in den sechziger Jahren, soweit ich es zu übersehen vermag - erschienen der Antisemitismus und die faschistische Politik der Judenverfolgung in den Forschungsplänen auch als selbständige Forschungsthemen. Eine nicht geringe Rolle für die Hinwendung zu diesen Themen in der D D R spielte dabei der Umstand, daß in westlichen Publikationen die Judenverfolgung der Nazis als Beweis für die Fehlerhaftigkeit und Untauglichkeit kommunistischer Faschismus-Interpretationen als Herrschaftsform der Monopolbourgeoisie angesehen wurde bzw. dafür herhalten mußte. In diesem Zusammenhang spielte eine freund-
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Kurt Gossweiler
schaftliche Diskussion mit dem englischen Historiker Tim Mason in den Jahren 1966/68 eine bestimmte Rolle. Er veröffentlichte in der Berliner Zeitschrift Wolfgang Fritz Haugs »Das Argument«, Heft 41 vom Dezember 1966, einen Artikel mit der Überschrift: »Der Primat der Politik - Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus«, den Haug auch an einige DDR-Historiker schickte, verbunden mit dem Angebot, im »Argument« eine Stellungnahme zu diesem Artikel zu veröffentlichen. 6 Tim Mason vertrat in seinem Artikel die These, die Judenvernichtungspolitik der Nazis sei selbstzerstörerisch gewesen, denn sie habe qualifizierte jüdische Arbeitskräf te vernichtet, die dringend für die Rüstungsindustrie gebraucht worden wären, ferner hätten die Transporte der Juden nach Auschwitz der ohnehin knappen Versorgung der Streitkräfte zusätzlich Transportkapazitäten entzogen. Zu erklären sei dies nur durch den Vorrang der irrationalen Politik der Nazis vor den rationalen Interessen der Wirtschaft und der Militärs. Der Primat der Politik beweise, daß nicht imperialistische Interessen, sondern die Nazipartei und ihre Rassenideologie auch die Kriegsführung entscheidend bestimmt hätten. 7 Weil wir in der D D R auf diesem Gebiet an speziellen Forschungen kaum etwas aufzuweisen hatten, avancierten in der westlichen Geschichtsschreibung der Antisemitismus und die Judenverfolgung der Nazis zum Haupthebel, mit dem man glaubte, die marxistische Faschismustheorie aus den Angeln heben zu können. Der Antisemitismus und die Ausrottungspolitik der Nazis gegenüber den Juden wurde so zu einer ganz zentralen Frage in der Auseinandersetzung zwischen westdeutscher bürgerlicher und der marxistischen Geschichtsschreibung in der D D R Auf unserer Seite wurde sehr wohl empfunden und erkannt, daß es nicht genügte, auf die erwähnte Argumentation Masons und anderer einfach mit der Wiederholung unserer Feststellungen zu reagieren, daß der Antisemitismus der Nazis nicht deren Erfindung sei, sondern daß sie ihn von ihren Vorläufern, wie z. B. den Alldeutschen, übernommen haben; daß ferner die Judenvernichtungspolitik der Nazis nur ein Sonderfall ihrer allgemeinen, auch gegen Überfallene Völker, wie Tschechen, Polen und Russen betriebenen Völkermordpraxis war. Diesen Feststellungen fehlte die Untermauerung durch umfassende exakte historische Tatsachenbelege. Das Fehlen spezieller Forschungen zu den Fragen des Antisemitismus und dessen Rolle in der Ideologie und Politik der herrschenden Klasse im imperialistischen Deutschland im Allgemeinen, in der Nazipartei und im faschistischen Deutschland im Besonderen, wurde nun als eine dringend der Schließung bedürftige Lücke unserer Faschismusanalyse empfunden und erkannt. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erschienen in kurzen Abständen mehrere gewichtige Werke zum Antisemitismus und zur faschistischen Judenverfolgung. So weit ich es überblicke, wurde mit dem Buch »Kennzeichen J« der Anfang ge-
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macht. 8 1972 erschien Walter Mohrmanns Untersuchung über den Antisemitismus und seine Rolle in Deutschland von der Reichseinigung bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik und der Nazibewegung. 9 Im darauffolgenden Jahr erschien mit dem Buch »Juden unterm Hakenkreuz« die erste umfassende Darstellung der faschistischen Judenverfolgung in ihrem historischen Ablauf und mit einer Analyse ihrer Triebkräfte und Ziele. 1 0 1975 folgte Kurt Pätzolds dem gleichen Gegenstand gewidmete und hier bereits erwähnte Arbeit »Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung«. Allen Autoren war ein Grundanliegen gemeinsam, das Rudi Goguel in seiner Einleitung zum Band »Kennzeichen J« so formuliert hatte: »Es war unser Anliegen, darzustellen,
daß die nazistischen Massenverbrechen gegen
die Juden nicht dem
launenhaften
Gehirn
daß sie integrierender
eines Diktators entsprangen,
sondern
Bestandteil des imperialistischen Herrschaftssystems in Deutschland
waren.«
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Bei
Goguel finden sich aber in der gleichen Einleitung Aussagen, denen Kurt Pätzold aufgrund seiner Forschungsergebnisse nicht beizupflichten vermochte. Dazu gehörte insbesondere die These, die »Endlösung« der Judenvernichtung sei von allem Anfang an das Ziel der Nazis gewesen, und diese hätten es zielbewußt in einem Stufenprogramm verwirklicht. Goguel hatte geschrieben: »So entwickelten die Strategen des antijüdischen Feldzuges ein Stufenprogramm von satanischer Folgerichtigkeit.
Systematische Isolierung innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Bindun-
gen durch Diffamierung, Boykott,
Verdrängung und Pogrome war das Hauptmerk-
mal der ersten Etappe, die sich etwa bis zum Ausbruch des Krieges hinzog. In dieser Zeit waren die Naziführer noch in ihrer Handlungsfreiheit durch diplomatische Verträge
und Rücksichtnahmen gegenüber dem
Ausland behindert.
daher nicht die einsetzende Fluchtbewegung der deutschen Juden
Sie
vermochten
zu
verhindern,
förderten sie zeitweise sogar, wobei sie die Emigranten bis aufs Hemd ausplünderten ... Mit der Besetzung Polens und der Errichtung des »Generalgouvernements« im Jahre 1939 waren die Voraussetzungen für die Einleitung der zweiten Phase gegeben: Nun konnte die vollzogene gesellschaftliche Isolierung in eine territoriale Isolierung verwandelt werden. Ghettos von riesigen Ausmaßen wurden in Polen eingerichtet, und es setzten die Massendeportationen ein ... Von hier war es dann nur noch ein kleiner Schritt zur letzten Etappe, der >Endlösung< in den Todesfabriken von Auschwitz ...«
12
Diese Auffassung harmonierte mit jenen Deutungen des vom deutschen Faschismus entfesselten Krieges - denen Goguel aber nie zugestimmt, sondern die er ebenso wie Kurt Pätzold bekämpft hat -, die ihn personalisieren und zu »Hitlers Krieg« erklärten. Und diese Interpretation besagte in ihrer konsequentesten Fassung, der Krieg Nazideutschlands sei kein imperialistischer Eroberungskrieg, sondern ein »nationalsozialistischer Rassenkrieg« gewesen, bei dem die deutschen »Wirtschaftsführer« nur gutverdienende Mitläufer, aber keineswegs Urheber und Planer gewesen seien.
Kurt Gossweiler
468
Als Kurt Pätzold sich für das Studium des faschistischen Antisemitismus und der Judenverfolgung im »Dritten Reich« als seinem Hauptforschungsgebiet entschied zu dieser Zeit war ich schon nicht mehr im gleichen Institut mit ihm - griff er sich gerade jenes Problem unserer DDR-Faschismusforschung heraus, bei dessen Bearbeitung wir noch das größte Defizit hatten. Es galt, durch genaue Tatsachenforschung die eigene marxistische Position herauszuarbeiten und zu überprüfen. Ich vermute, daß für den strategisch denkenden Wissenschaftler Kurt Pätzold gerade dieser Umstand ein weiterer Grund dafür war, sich für diese Thematik zu entscheiden. Der erste Grund war sicherlich das überragende moralische und politische Gewicht des Verbrechens der Judenausrottung innerhalb des übergreifenden Verbrechens des faschistischen Eroberungs- und Weltherrschaftskrieges. Durch die Arbeiten Kurt Pätzolds zur faschistischen Judenverfolgung hat die DDR-Geschichtsschreibung zu diesem Thema nicht nur einen quantitativen Rückstand aufgeholt, sie hat durch sie vor allem im Hinblick auf die Qualität der Ergebnisse einen - nicht auf Deutschland beschränkten - Spitzenplatz erobert. 1 3 Im Vorwort zu seinem ersten kennzeichnete Pätzold die vorsätzlich apologetische Methode der meisten bürgerlichen Autoren zum Thema der faschistischen Judenverfolgung und stellte dem seine eigene Fragestellung gegenüber: »Im Gegensatz zu den
Versuchen,
die Entwicklung der Judenverfolgungen
aus der Geschichte des deut-
schen Imperialismus zu isolieren, ja sie als kennzeichnenden Selbstzweck des angeblich autonomen faschistischen Regimes erscheinen zu lassen, wird in dieser Arbeit gefragt, zu welchen ökonomischen, politischen und ideologischen Zwecken antijüdische Agitation getrieben gisch-taktischen tik
und antijüdischer Terror ausgeübt wurden,
Beziehungen
des faschistischen
Antisemitismus
deutschen
und
Imperialismus
Judenverfolgung besaßen
welche stratezur
und welchen
Gesamtpolidauernden
und zeitweiligen Antrieben sie entsprangen.« 14 Die durch dieses Vorgehen gewonnene Grunderkenntnis formulierte er mit den Worten: »Der faschistische Antisemitis-
mus paarte sich in der Nazipartei von vornherein mit Plänen, die sich auf eine beherrschende Stellung Deutschlands in der Welt richteten. Folglich besaß der Antisemitismus der Nazis ein imperialistisches Vorzeichen, war er nicht nur ein Mittel innenpolitischer Manipulation,
sondern zielte weiter.
des Rassismus der Nazis vermochten
Diese imperialistische Qualität
viele Zeitgenossen nicht zu sehen.« 15
Das erste Kapitel seines Buches endete mit folgender Feststellung: »Am Anfang der faschistischen Judenverfolgung stand ... das imperialistische Interesse, sich des Rassenantisemitismus zum Zwecke der Formierung der Volksmassen zu bedienen. Das war und blieb die primäre Ursache und Triebkraft jenes geschichtlichen Ablaufs, an dessen Ende die Bewohner Europas jüdischer Herkunft zu Millionen auf grausige Weise zu Tode gebracht worden waren.« 1 6
Rückschau auf Begegnungen und Debatten
469
Pätzold wies nach, daß Antisemitismus und Judenverfolgung im untersuchten Zeitraum zum einen zur Konsolidierung des faschistischen Systems, zum anderen zur Kriegsvorbereitung eingesetzt wurden. Auch die Nürnberger Gesetze hatten neben anderen auch diese Funktion zu erfüllen: »Angesichts der schwierigen ... Versor-
gungslage und des bevorstehenden Winters, der wiederum ein Anwachsen der Arbeitslosenzahlen mit sich bringen würde, bedurfte das Regime besonders dringend des Rufes, dass es weiter an grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen arbeite; als eine solche soziale Umwälzung aber wurde auch die antijüdische Gesetzgebung dargestellt.« 17 Weiter schrieb er: »Mit der Verkündung der >Nürnberger Gesetze< endete die erste,
begann die zweite Periode der Judenverfolgung in der faschistischen
Diktatur... In der militärischen Auseinandersetzung,
die das deutsche Finanzkapital
erstrebte, würden wie nie zuvor die bewaffneten Millionen aufeinanderprallen ... Der deutsche
Imperialismus
faschistischer Prägung
wollte
auf diesen
Kampfplatz mit
Millionen fanatisierter Rassekriege treten, skrupellos vor sich selbst und gnadenlos gegenüber
jedermann.« 18
Diese Feststellung wiederholte und vertiefte Pätzold in seiner Arbeit »Von der Vertreibung zum Genozid« wie folgt: »Im Zentrum der faschistischen Politik stand
als das nächste strategische Ziel unverrückbar, geistig zum frühestmöglichen
das Deutsche Reich materiell und
Termin in Kriegsbereitschaft zu versetzen. Dieser Stra-
tegie dienten Antisemitismus und Judenverfolgung. Die Hauptfunktion der antijüdischen Ideologie und Praxis der Vorkriegsjahre bestand aber darin, die >nationalsozialistische Volksgemeinschaft aggressiv zu formieren und sie sukzessive auf ihre Rolle als Kriegsgemeinschaft vorzubereiten. mung,
Für die den Deutschen zugedachte Bestim-
Instrumente imperialistischer Eroberungspolitik zu sein,
sollten sie hassen,
verachten, knechten, quälen, foltern, töten und morden lernen. Sich verbrecherisch gegenüber anderen Völkern und Rassen zu benehmen, sollte ihnen geradezu als das natürliche Vorrecht ihrer »Rasse« erscheinen. Judenfeindschaft und -Verfolgung drillten vielen Deutschen jene unmenschliche Weise des Denkens und Fühlens ein, die, als sie sich seit 1939 austobte, Millionen in der Welt vor Entsetzen erstarren ließ.« 19 Wir hatten oben gesehen, daß Goguel eine Periodisierung der Judenverfolgung im faschistischen Deutschland vornahm, die aber nichts anderes darstellte, als eine Aufzählung dreier Schritte, die zum - wie von ihm angenommen - von allem Anfang an festgelegten und unverrückbar feststehenden Ziel der Judenausrottung zurückgelegt wurden: 1. Gesellschaftliche Isolierung (bis 1939, zur Niederwerfung Polens und Bildung des »Generalgouvernements«); 2. Territoriale Isolierung im Kriege als Vorstufe zum dritten Schritt, zur »Endlösung«. Von seinen ganz anderen Gesichtspunkten ausgehend, kam Pätzold zwar auch zu einer Drei-Phasen-Periodisierng, aber mit anderem zeitlichen Rahmen und anderer Inhaltsbestimmung. Die erste Periode der
Kurt Gossweiler
470
Judenverfolgung ist gekennzeichnet dadurch, daß sie vorherrschend eingesetzt wird im Interesse der Konsolidierung des faschistischen Regimes. Diese Periode endet mit den Nürnberger Gesetzen von 1935. Die zweite Periode ist dadurch gekennzeichnet, daß die Ausgestaltung der Judenverfolgung nun vor allem von den Interessen der Kriegsvorbereitung bestimmt wird. In dieser Periode ist die vorherrschende Strategie der »Befreiung« Deutschlands von den Juden deren Vertreibung ins Ausland. Die
dritte Periode beginnt mit dem Krieg. Sie ist gekennzeichnet durch den Übergang von der Strategie der Vertreibung zu der einer »Endlösung« als planmässige Vernichtung aller Juden im Machtbereich Deutschlands. Zu dieser Einteilung gelangt Pätzold, weil ihn seine gründliche, detaillierte Untersuchung der einzelnen Schritte der Judenverfolgung von 1933 bis zu den Vernichtungslagern zu der Schlußfolgerung führte, daß die Annahme, die Judenvernichtung sei das von Anfang an geplante Endziel der faschistischen Judenverfolgung und alles Vorangehende nichts anderes als Vorbereitungsstufen zu diesem Endziel gewesen, dem tatsächlichen Ablauf widersprach. Diesen tatsächlichen Ablauf untersuchte und schilderte Pätzold eingehend in seiner Arbeit »Von der Vertreibung zum Genozid«. Hier unterstrich er mit Nachdruck die Tatsache, daß Hitler und andere Naziführer schon in den Anfängen der Nazibewegung ihrem Willen und ihrer Bereitschaft zur Judenvernichtung vielfachen Ausdruck gegeben haben. Aber, so gab er zu bedenken: »Das Vorhandensein einer Ideo-
logie, die den Massenmord an >Rassefeinden< rechtfertigte und vorbereitete, besagt freilich noch nichts über die Existenz eines generellen der hitlertaschistischen
Führer... In
der ausnahmslosen
unwandelbaren Mordplans Vertreibung aller Deutschen
jüdischer Herkunft erblickten die faschistischen Machthaber 1938/39 ...
die >Endlö-
sung der Judenfrage< - ein Begriff der seit 1933 im Sprachgebrauch der Staatsbürokratie bereits angetroffen wird und anfanglich vor allem die Vorläufigkeit der ersten antijüdischen Massnahmen des Regimes hervorheben sollte... Die Praxis der forcierten Vertreibung widerlegt alle Behauptungen, wonach die faschistischen Machthaber vor dem Kriege bereits einen generellen Mordplan besessen hätten, dem sich alle anderen
und namentlich
die Kriegspläne des deutschen Imperialismus untergeord-
net hätten. Die Judenverfolgung zur Kriegsursache zu erklären, heißt, die geschichtlichen Zusammenhänge geradezu auf den Kopf zu stellen.« 20 Über die Einstellung der mit der Judenverfolgung amtlich betrauten Dienststelle Heydrichs, des SD (Sicherheitsdienst), vor dem Kriege zur Politik der Vertreibung der Juden, stellte Pätzold fest: »Während dieser praktischen Tätigkeit festigte sich in
der SD-Führung die Auffassung,
daß die energische, nichtsdestoweniger Zeit brauch-
ende Vertreibung der einzig gangbare Weg wäre, die jüdischen Deutschen zu beseitigen.« 21
Rückschau auf Begegnungen und Debatten
471
Diese Einstellung änderte sich zwangsläufig im Verlaufe und durch den Verlauf des Krieges, wie Pätzold überzeugend nachwies. Die »Endlösung« war die Konsequenz eines Krieges um die Vorherrschaft auf dem Erdball, von dem Pätzold schon in seinem ersten Buch schrieb, er sei zutiefst anachronistisch: »Dem Versuch, diese
Absicht zu verwirklichen, würden sich Millionen Menschen mit ihrem Blut und Leben widersetzen. Aus diesem Grunde rechneten die Vollstrecker des Willens der deutschen Monopolisten damit, daß sie schon in der Anfangsphase einer Aggression nicht ohne die drakonischsten Waffen des Massenterrors, Ausrottungsmassnahmen
eingeschlossen,
auskämen.
den geschichtswidrigen
Das ist der allgemeine Zusammenhang zwischen
Vorhaben
des deutschen
Finanzkapitals und der barbari-
schen faschistischen Ideologie, die - entsprechend der Absicht, nach Osten zu expandieren -, die Reduzierung der Slawen vorsah.« 22 Das Ergebnis der Pätzold'schen Untersuchungen bestätigt und vertieft diese Erkenntnis über den Zusammenhang von imperialistischem Weltherrschaftsstreben und faschistischer Ausrottungspolitik. Pätzold schrieb: »Die entscheidende Phase im
Übergang zur Strategie des Genozids fiel in das zweite Halbjahr 1941. Am 31. Juli 1941 - die faschistischen Imperialisten waren in die UdSSR eingefallen ... erteilte Göring Heydrich die neue Weisung, >alle erforderlichen Vorbereitungen ... zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im
deutschen Einflußgebiet in Europas ...
Jetzt ging man daran, die teuflischen Planungen für das Genozid zu systematisieren und in einer abschließenden, praktisch durchführbaren Fassung vorzulegen.
Eine
solche Fassung wurde ein halbes Jahr später den Teilnehmern der sogenannten Wannsee-Konferenz bekanntgemacht. Die Vorbereitung und der Beginn des Überfalls auf die UdSSR markieren damit auch den tiefsten Einschnitt in der Geschichte der faschistischen Judenverfolgung. Das Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung Europas entsprang also nicht einfach einer mörderischen Ideologie, die in den Köpfen einiger weniger Naziführer hauste. Es wurde letzlich durch die maßlosen Ziele des deutschen
Imperialismus hervorgerufen,
faschistischen
Führer
dessen
Grund- und Gesamtinteresse jene
verfochten.« 23
Mit diesen Arbeiten, zu denen auch seine gemeinsam mit Erika Schwarz erarbeitete und im Januar 1992 - 50 Jahre nach der Wannsee-Konferenz - erschienene Publikation zählt 2 4 , entzog Kurt Pätzold den Behauptungen bürgerlicher Historiker den Boden, die marxistische Geschichtsschreibung sei außerstande, das Phänomen der Judenverfolgung und Judenausrottung im »Dritten Reich« mit ihrer Faschismustheorie zu erklären. Aber noch war die oben zitierte Behauptung Masons und anderer, die Judentransporte in die Vernichtungslager seien durchgerührt worden, obwohl sie der Wehrmacht dringend benötigte Transportkapazität entzogen hätte, was den »Primat der nationalsozialistischen Politik« vor den Interessen der Industrie und der
Kurt Gossweiler
472
Kriegführung beweise, nicht überprüft und durch Tatsachen widerlegt worden. Und vor Pätzold ist auch keiner von uns auf die Idee gekommen, daß das überhaupt möglich sei und deshalb auch unternommen werden müsse. Er aber sagte sich, es müsse doch möglich sein, anhand der Transportberichte der Reichsbahn und der Wehrmacht festzustellen, welchen Anteil die Transporte in die Vernichtungslager am gesamten Transportaufkommen der Reichsbahn hatten. Daher suchte er entsprechende Unterlagen und fand sie tatsächlich. Seine Untersuchungen zu diesem Thema und ihre Ergebnisse hat er in dem gemeinsam mit Erika Schwarz verfaßten Buch über Franz Novak, den Transportoffizier Adolf Eichmanns, niedergelegt. 2 5 Es ist hier nicht der Platz, auch aus diesem Buch umfangreich zu zitieren; deshalb lasse ich es bei dem Folgenden bewenden: Pätzold ermittelte die Zahl von 25.000 Zügen, die zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung des Machtbereichs Nazi-Deutschlands täglich bewegt wurden, und stellte fest, daß ihr die Zahl von wöchentlich sieben bis acht Sonderzügen zu den Vernichtungslagern gegenüberstand. Er schlußfolgerte: »10 Eisenbahnzüge, die sich an einem beliebigen Kriegstag 1942 irgendwo in
Europa bewegten, machten tatsächlich den
Züge aus.
gesamten
0,004 Prozent der Gesamtzahl aller fahren-
Der geringfügige prozentuale Anteil,
Verkehrsaufkommen
auf den
Schienen
den
die Judentransporte am
Deutschlands
und der besetzten
Staaten und Länder einnahmen, der - um es noch einmal festzuhalten - über die Dimension des Verbrechens nichts aussagt, läßt aber erkennen, daß der immer wieder behauptete umfang- und folgenreiche Entzug von
Transportmitteln für Kriegs-
zwecke und die Blockade von Schienenwegen mehr als eine Dramatisierung des tatsächlichen Geschehens darstellt. Diese Darstellung gehört in das Reich der Legenden. Keines der zahlreichen Probleme, die es während des Krieges von seinem Beginn bis zu seinem Ende gab, wurde durch die Forderung des RSHA für die Verwirklichung der »Endlösung« hätte durch
wesentlich
oder auch nur nennenswert verschärft oder
Verzicht gelöst werden können.« 26
Auch mit dieser Schrift - wie auch mit allen nachfolgenden, gemeinsam mit Manfred Weißbecker verfassten Arbeiten 2 7 - erweist sich Kurt Pätzold nicht nur als Stratege der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung, sondern als deren exzellenter Streiter in vorderster Linie.
»Sich totstellen oder wehren? Das ist die entscheidende Frage !« - so lautet der Titel eines Artikels von Kurt Pätzold aus dem Jahre 1990. Er enthielt »Gedanken eines Historikers zur »Abwicklung- der Geisteswissenschaften in den neuen Bundesländern« und nimmt seit seinem Erscheinen einen Ehrenplatz in meinem Archiv ein. Sein Verfasser beschrieb die damalige Situation der von der »Abwicklung« Betroffe-
Rückschau auf Begegnungen und Debatten
473
nen als eine, in der »jeder der Betroffenen entscheiden muß, ob er sich mit anderen
wehrt oder ob er sich totstellt, wie viele das in den letzten Monaten in Erwartung einer Vorzugsbehandlung wegen Nicht- oder
Minderbelastung<
taten.« 21
Pätzold sprach klar aus, worum es bei der »Abwicklung« in Wahrheit ging - um die Herstellung des bundesdeutschen Normalzustandes auch in Neufünfland plus Ostberlin, in dem - wie er formulierte - »Marxisten an deutschen Universitäten ...
eine die
Zufallserscheinung«
sind. Und er fuhr fort: »An deutschen Universitäten muß
Chancengleichheit der Lehr- und Forschungsfreiheit für Anhänger marxistischer
Überzeugungen erst noch Auseinandersetzungen
begründet
besaßen
jene
werden. Für diesen Kernpunkt gegenwärtiger Studenten
der Berliner Humboldt-Universität
ein sicheres Gespür, die im Foyer des Hauptgebäudes über die Lettern, von denen die Marxsche Feuerbach-These abgelesen werden kann, eine neue Losung anbrachten : >Ossis und Wessis haben die Bundesrepublik nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.<
Kurt Pätzold steht in der vordersten Reihe der nicht gerade zahlreichen Hochschullehrer der D D R die nicht aufgehört haben, nach Marxschen Maximen zu denken, zu lehren und zu handeln. Das verbindet - trotz mancher Meinungsverschiedenheit in Fragen der Geschichte der eigenen Bewegung - noch viel mehr, als es die gemeinsam verbrachten Jahre an der Humboldt-Universität getan haben. Daß dieser noch immer jugendliche und längste Strecken per Zweirad nicht furchtende Historie-Schreiber nun schon die 70 erreicht haben soll, ist kaum zu glauben. Doch es gibt mir die Gelegenheit, ihm nunmehr das Gleiche zuzurufen, das er mir vor gut zwei Jahren aus Anlass meines Achtzigsten in der »Jungen Welt« zugerufen hat: »Salut, Genosse Kurt! Sto lat!«
A nmerkungen 1 Siehe dazu den Beitrag von Helmuth Heinz über R F . Schmiedt in: Wegbereiter der DDRGeschichtswissenschaft, Berlin 1989; zu Erich Paterna siehe ebenda den Beitrag von Kurt Pätzold, S. 182 ff 2 Zu Joachim Streisand siehe ebenda den Beitrag von Hans Schleier, S.341 ff. 3 Deutschland 1933-1939. Lehrbuch der deutschen Geschichte, Bd. 11, Berlin 1969, S. 89-96. 4 Kurt Pätzold: Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935), Berlin 1975. 5 Kurt Pätzold: Antisemitismus und Judenverfolgung (Janauar 1933 bis August 1935). Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus. Diss. B, Humboldt-Universität Berlin 1973.
Kurt Gossweiler
474
6 Das Ergebnis dieses Angebots kann in H. 47 des »Arguments« vom Juli 1968 nachgelesen werden. Siehe dort Eberhard Czichon: Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen Macht; Dietrich Eichholtz/Kurt Gossweiler: N o c h einmal: Politik und Wirtschaft 1933-1945. 7 Ebenda, S. 492. 8
Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933-1945. Hrsg. von Helmut Eschwege. Mit einem Geleitwort von Arnold Zweig, einer Einleitung von Rudi Goguel und einer Chronik der faschistischen Judenverfolgungen von Klaus Drobisch, Berlin 1966.
9 Walter Mohrmann: Antisemitismus. Ideologie und Geschichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin 1972. 10 Klaus Drobisch, Rudi Goguel, Werner Müller unter Mitwirkung von Horst D o h l e : Juden unterm Hakenkreuz. Verfolgung und Ausrottung der deutschen J u d e n 1933-1945, 1973. 11 Kennzeichen J, S. 21. 12 Ebenda, S.16 f. 13 Außerdem sei noch auf folgende Arbeiten Kurt Pätzolds verwiesen: Von der Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus, in: Faschismus-Forschung, Berlin 1980, S.181208; Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933-1942, Leipzig 1983; gemeinsam mit Irene Runge: Pogromnacht 1938, Berlin 1988. 14 Pätzold, Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung, S. 10 f. 15 Ebenda, S. 20. 16 Ebenda, S. 33. Hervorhebung durch den Vf., K G . 17 Ebenda, S. 271. 18 Ebenda, S. 264 f. 19 Pätzold, Von der Vertreibung zum Genozid, S. 190. 20
Ebenda, S. 183, 185 und 189.
21
Ebenda, S. 185.
22
Pätzold, Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung, S. 22.
23
Ebenda, S. 205-208.
24
Kurt Pätzold/Erika Schwarz: Tagesordnung: Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung« (Dokumente, Texte, Materialien. Veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 3), Berlin 1992.
25
Kurt Pätzold/Erika Schwarz: »Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof«. Franz Novak der Transportoffizier Adolf Eichmanns (Dokumente, Texte, Materialien. Veröffentlicht v o m Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 13, Berlin 1994.
26
Ebenda, S. 104 f.
27
Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker: Hakenkreuz und Totenkopf. Die Partei des Verbrechens, Berlin 1981; dieselben,Geschichte der N S D A P von 1920-1945, Köln 1998; dieselben, Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Leipzig 1995; dieselben, Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite, Leipzig 1999.
28 Neues Deutschland, 29/30.12.1990.
Teil V Spannungsfeld Geschichtspolitik
Reinhard
Kühnl
Die FAZ erklärt den deutschen Faschismus
Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (FAZ) 1 ist nicht irgendeine Zeitung, sondern das maßgebliche Organ der herrschenden Klassen der Bundesrepublik. Das bedeutet: Sie wird unterstützt und gelesen von maßgeblichen Kräften der herrschenden Massen aus dem Industrie- und Bankkapital und dem Staatsapparat, und sie erreicht beträchtliche Teile der politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten und der ihnen ideologisch verbundenen mittleren Führungskräfte. Anläßlich eines Kooperationsabkommens mit der »International Herald Tribune« hob die FAZ besonders hervor: »Zu den Zielgruppen zählen Meinungsbildner und Führungskräfte, die global ausgerichtet und finanziell weitgehend unabhängig sind und die hohe intellektuelle Ansprüche an eine Tageszeitung stellen«. 2 Die Funktion der FAZ liegt dabei nicht nur darin, fertige Konzepte und Interpretationen der Macher an ihr Publikum zu vermitteln (wie es z.B. solche Organe wie die Bild-Zeitung tun), sondern die FAZ fungiert zugleich und viel stärker als andere bürgerlich-konservative Organe als ein Selbstverständigungsorgan der herrschenden Klassen. Hier finden - selbstverständlich innerhalb des Rahmens dessen, was als Grundinteressen des Kapitals gilt - Debatten darüber statt, wie konkrete politische Prozesse und Ereignisse zu beurteilen, welche Ziele nun vordringlich und welche Strategien jeweils angemessen sind. Da die Interessen und Aktionsfelder des Kapitals weltweit sind, haben auch diese Analysen die ganze Welt im Blick. Die Berichte und Analysen sind insoweit durchaus darauf gerichtet, die Realität so zu erfassen, wie sie tatsächlich ist, um sie entsprechend beeinflussen zu können. Daß im Interesse der strukturell vorgegebenen Ziele zugleich bestimmte Elemente der Realität verdeckt werden müssen, ist mit dem Bestreben nach Erkenntnis der Realität immer aufs Neue zu vermitteln. (So konnte, um ein Beispiel zu nennen, die Diktatur in Chile kühl und präzis analysiert werden in Hinsicht auf ihren politisch-ökonomischen Charakter, ihre soziale Basis, ihre Stabilitätsaussichten, die Profitchancen für Kapitalinvestitionen usw., ohne zugleich den terroristischen und menschenfeindlichen Charakter dieser Diktatur den Lesern vor Augen zu führen.
Die FAZ erklärt den deutschen Faschismus
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Die Funktion der FAZ als Selbstverständigungsorgan der herrschenden Klassen impliziert zugleich einen gewissen Pluralismus in den Analysen wie in den Schlußfolgerungen. Dieser Pluralismus ist sehr begrenzt im Wirtschaftsteil und erweitert sich, je mehr er sich v o m ökonomischen Kern entfernt. Im Feuilleton überschreitet er gelegentlich sogar die Grenzen hin zum offenen Meinungsstreit.
Der deutsche Faschismus stellt nun für die FAZ sowohl ein wichtiges wie auch ein heikles Thema dar. Wichtig deswegen, weil es - durchaus zum Leidwesen der FAZ in der öffentlichen Meinung immer noch im starken Maße gegenwärtig ist, so daß Antworten präsentiert werden müssen auf die vielen dort diskutierten Fragen. Und heikel deswegen, weil ja eben die Führungsschichten aus Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, welche die FAZ repräsentiert und repräsentieren will, zum Faschismus eine recht enge Beziehung hatten, so daß womöglich - bei allzu offener Behandlung des Themas - das gesamte kapitalistische System in die Verdachtszone geraten könnte. Die FAZ war immer bestrebt, einerseits sich klar zu distanzieren von den Herrschaftsmethoden und den Verbrechen des deutschen Faschismus, andererseits aber die Grundinteressen des deutschen Imperialismus nicht zu desavouieren; einerseits die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Faschismus herunterzureden, weil diese Probleme ja längst erledigt seien, sich andererseits aber als ein Organ zu präsentieren, das die neuesten Forschungen genau verfolgt und kompetent darüber berichtet. So ergibt sich als Grundlinie, die Berichte so zu fassen, daß sie mit der vorgegebenen Interessenstruktur wie auch mit den Erwartungen und Wertvorstellungen der großen Mehrheit der Leser verträglich sind. Damit sind auch die Grenzen fixiert, welche Publikationen und Forschungsergebnisse über den deutschen Faschismus überhaupt wahrgenommen und welche gänzlich ignoriert oder pauschal abgefertigt werden. Veröffentlichungen und Autoren, die - kritisch - nach dem Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus fragen, haben also vorab keine Chance, seriös behandelt zu werden. Dies betrifft auch die Wissenschaftler, die als Historiker der D D R oder als »Abgewickelte« über den Faschismus geforscht und publiziert haben, also auch Kurt Pätzold. Was die in der FAZ präsentierten Interpretationen des deutschen Faschismus angeht, so war es kein Zufall, daß C.J. Fest 1973 - nach der Publik ation seines HitlerBuches 3 - ins Herausgeberkollegium der FAZ avancieren und von hier aus die Interpretationslinie in der Faschismusfrage wesentlich prägen konnte. Eine zentrale Stelle bei Fest über die Bedeutung von Adolf Hitler lautete: »Tatsächlich war er in einem wohl beispiellosen Grade alles aus sich und alles in einem: Lehrer seiner selbst, Organisator einer Partei und Schöpfer ihrer Ideologie, Taktiker und demagogische
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Reinhard Kühnl
Heilsgestalt, Führer, Staatsmann und, während eines Jahrzehnts Bewegungszentrum der Welt«. Die faschistische Diktatur war demnach ein System, »das nur von einem einzigen Punkt her Sinn und Konsequenz erhielt: dem monströsen Macht- und Einsatzwillen Hitlers«. 4 Das war offensichtlich eine Interpretation des deutschen Faschismus, mit der sowohl das Kapital wie auch die Leser der FAZ gut leben konnten. Die Verantwortung für sämtliche Untaten war damit an Hitler delegiert, denn selbstverständlich war auch der Krieg (mitsamt seinen Verbrechen) »Hitlers Krieg im umfassendsten denkbaren Sinn«. 5 Waren damit auch die Expansionsinteressen des Kapitals, die sich seit dem Kaiserreich in immer neuen Europaplänen manifestiert hatten, desavouiert? Das Kernziel deutscher Europapolitik hatte der Reichskanzler im September 1914 so formuliert: »ein mitteleuropäischer Wirtschaftsverband von Frankreich bis Polen und von Italien bis Norwegen ... unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung ...« 6 Dieses Kernziel blieb, so darf man wohl sagen, bestimmend für das gesamte 20. Jahrhundert. Diese Linie deutscher Europapolitik wird nun von Fest durchaus nicht dadurch desavouiert, daß er »Hitlers Krieg« in mancherlei Hinsicht kritisiert. Hier besteht nämlich sein Vorwurf an Hitler gerade darin, daß dieser die vorzüglichen Chancen, die nach dem Sieg über Frankreich 1940 gegeben waren, nicht genutzt habe: Die Chance eines »Kontinentalblocks«, einer »großen kontinentalen Koalition«, die »ganz Europa« umfaßte und von Portugal bis zur Sowjetunion reichte. »Nie war ein faschistisches Europa näher, nie war die deutsche Hegemonie greifbarer. Eine zeitlang konnte es so scheinen, als erfasse er die Chance«, doch er erfaßte sie nicht. 7 Auch dieser »Hitler-Kritik« konnte als sowohl das Kapital wie die konservative gebildete Leserschaft zustimmen. Bei dem Versuch, durch eine politisch-wissenschaftliche Großoffensive 1987 das gesamte leidige Faschismusproblem aus dem Weg zu räumen, übernahm die FAZ eine zentrale Rolle - nicht nur bei der Rechtfertigung des Krieges gegen die Sowjetunion sondern auch bei der Unterstützung für Noltes These von Auschwitz als »asiatische Tat«. Die damit ausgelöste »Historiker-Debatte« 8 endete freilich mit einem Resultat, das einer Niederlage näher war als einem Sieg. N o c h war die Zeit nicht reif für die vollständige »Historisierung« und »Normalisierung« in der Frage des deutschen Faschismus. Das änderte sich beträchtlich nach 1989 mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems, dem Anschluß der D D R an die Bundesrepublik, dem Aufstieg des neuen Deutschland zur eindeutigen ökonomischen und politischen Führungsmacht in Europa und dem Wegräumen der bis dahin bestehenden Schranken in
Die FAZ erklärt den deutschen Faschismus
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Hinsicht auf Militärinterventionen in anderen Ländern. Wie stellt sich jetzt, zehn Jahre später, die Lage in der Faschismusdiskussion dar? Denn nun sei ja, wie die FAZ in einem Gespräch mit dem linksliberalen Bielefelder Historiker Wehler süffisant feststellt, »die Normalität zum politischen Programm einer neuen Regierung« erhoben, und zwar einer rot-grünen. 9 Im Folgenden soll also geprüft werden, wie die FAZ im Jahre 1999 - nach siegreicher »Normalisierung« - zur Faschismusfrage Stellung nimmt: wie sie Ursachen und Folgen, Herrschaftsstruktur und Verantwortlichkeiten interpretiert und wie sie den Ort des Faschismus in der deutschen Geschichte einerseits und die Nutzanwendung dieser Erfahrungen für die Gegenwart andererseits bestimmt. Untersucht werden Rezensionen wissenschaftlicher Publikationen, Berichte über wissenschaftliche Tagungen und Kommentare zu politischen Ereignissen. Leserbriefe (in denen auch sonst ausgesperrte rechtsextreme Kettenhunde losgelassen werden) werden nur am Rande einbezogen. Bei Rezensionen kommt es mir nicht darauf an, was in dem rezensierten Buch tatsächlich steht und ob die Rezension den Inhalt richtig wiedergibt, sondern darauf, was die FAZ daraus macht.
Die Grundlinie der in der FAZ vorherrschenden historischen Lokalisierung des deutschen Faschismus präsentiert H. Maetzke in einer ausführlichen Rezension des Buches »Europa zwischen den Weltkriegen« von Horst Möller, dem Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte: »Am Anfang war Versailles«. 10 Denn dieser »Abrechnungsfrieden war kein Frieden«, dieses System »war keine Ordnung«. Es beruhte »auf der europäischen Hegemonie Frankreichs und der Ohnmacht Deutschlands«. Doch »beides war optische Täuschung«. »Der Instabilität der Versailler Ordnung entsprach die innere Instabilität der meisten europäischen Demokratien.« Minoritätenprobleme allenthalben, Nationalismus, im Gefolge der Weltwirtschaftskrise gesteigert zum wirtschaftlichen Nationalismus - all dies beförderte in den meisten europäischen Staaten den Drang zur Diktatur. »Millionenstarke Arbeitslosenheere« riefen »nicht nur in Deutschland nach staatlicher Intervention, nach staatlich gelenkter Wirtschaft, nach dem starken Staat.« So gesehen, kann »die nationalsozialistische >Machtergreifung< von 1933 womöglich als ein Stück europäischer Normalität erscheinen«. Dann kam »Hitlers Großraumwahn« zur Geltung, der freilich »auch diesen Hintergrund« hatte. Die Hauptverursacher sind also: die Westmächte, die den Versailler Vertrag diktierten, und die Arbeitslosenheere, die den starken Staat und die gelenkte Wirtschaft forderten. Alles weitere erklärt sich dann von Hitlers Wahnvorstellungen her. Kurz gesagt waren es also: die Ausländer, die Volksmassen und Adolf Hitler. Der deutsche
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Imperialismus und die herrschenden Klassen kommen als Subjekt des Handelns überhaupt nicht vor: weder als treibende Kräfte für den großen Eroberungskrieg 1914 noch als treibende Kräfte zur Abschaffung der Weimarer Demokratie, zur Revision des Versailler Vertrages und zur Großmachtpolitik, zur Machtübertragung an die Führung der N S D A P und zur Vorbereitung und Durchführung eines neuen großen Eroberungskrieges. Wie gelangt man nun von hier aus zur Totalitarismusthese, die selbstverständlich auch in der FAZ seit Jahrzehnten zu den tragenden Säulen des politischen Weltbildes gehört? Eine (gleichfalls ausführliche) Rezension von J. Scholtyseck zu dem Buch »Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1938/39« von Andreas Wirsching 1 1 führt dies vor: Auszugehen sei von der »existentiellen Bedrohung von Links und Rechts in Europa zwischen 1918 und den dreißiger Jahren«. Die »bedenkenswerten Befunde« des Verfassers seien gestützt auf das Totalitarismus-Modell von C.J. Friedrich: Der »gemeinsame Nenner« von Links und Rechts liege »im totalitären Anspruch, in der ideologischen Verabsolutierung eines politischen Freund-Feind-Gegensatzes«. Im Anschluß an Ernst Noltes These vom »Weltbürgerkrieg« werde dann gezeigt, daß »als Reaktion auf die Bedrohung, die seit der sowjetischen Oktoberrevolution 1917 wahrgenommen wurde«, sich auf der Rechten eine »Gegenbewegung« entwickelte: als militanter »Antimarxismus« und »Antikommunismus«. In Deutschland konnte die extreme Rechte siegen, weil hier der »Problemdruck« nach 1918 wesentlich stärker war als in Frankreich: »die politischen Folgekosten der Niederlage«; »durch Versailles und die Kriegsschuldfrage beansprucht, fehlte es der jungen Demokratie einfach an Legitimation, um den Anfeindungen von allen Seiten zu widerstehen«. Es handelt sich also um ein »Ringen zwischen Demokratie und Diktatur«. Die Gemeinsamkeit zwischen Kommunisten einerseits und extremer Rechter andererseits bestand darin, daß Politik von beiden »als Kampf empfunden« wurde. Die Rezension schließt mit einem HannahArendt-Zitat des Buches von Wirsching. Wie man sieht, geht der Einbau des Totalitarismusschemas nur sehr holprig vonstatten. Die hier behauptete wesensmäßige Identität der extremen Linken und der extremen Rechten bleibt recht blaß gegenüber der hier bezeichnenden Weise nur leise angedeuteten Nolte-These, daß die extreme Rechte eine Antwort des europäischen Bürgertums auf die Bedrohungen darstellte, die seit 1917/18 von der russischen Revolution ausgingen und in der Tat in allen europäischen Ländern revolutionären Bewegungen Auftrieb gaben. Die Nolte-These, ernst genommen, würde die tatsächliche Stoßrichtung des Faschismus offenlegen - samt den damit verbundenen sozialen Interessen. Eben deshalb die kräftige Betonung des Totalitarismusbegriffs auch dann, wenn er so schlecht begründet ist wie hier.
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Auch in diesem Artikel werden also als Hauptverursacher des deutschen Faschismus präsentiert: die Westmächte (die Ausländer), Adolf Hitler und die radikalisierten Volksmassen, nunmehr konkretisiert als Nazis und Kommunisten. Auch hier kommen herrschende Klassen und deutscher Imperialismus nicht vor. Ein wenig überraschend ist, daß das nun wirklich antiquierte Totalitarismusschema von C.J. Friedrich, das inzwischen auch die Vertreter einer »modernen« Totalitarismustheorie« beiseite gelegt haben, noch einmal bemüht wird. 1 2 Hier wird die FAZ den Erwartungen ihrer Leser, daß sie (mindestens) auf der H ö h e des (bürgerlichen) Forschungsstandes informiert werden, durchaus nicht gerecht. Die zentrale politische Signalwirkung aber geht von dem Satz aus, die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland könne »als ein Stück europäische Normalität« erscheinen. Genau in der Zeit, in der die Rückkehr der Bundesrepublik zur europäischen Hegemonialmacht und zur militärischen Interventionsmacht samt den damit verbundenen Völkerrechtsbrüchen als »Normalisierung« und Rückkehr zur »Normalität« definiert wird, erscheint dem FAZ-Rezensenten, Gedanken des Buches »Europa zwischen den Kriegen« aufnehmend, der Begriff der »Normalität« als angemessen, um die Errichtung der faschistischen Diktatur zu kennzeichnen. Dieser Begriff ist also außerordentlich expansionsfähig.
Die Grundlinien der historischen Lokalisierung sind damit gekennzeichnet. Sie enthalten allerdings mancherlei ungeklärte Fragen und Widersprüche. Was ist mit den Bergen von Dokumenten, welche die Rolle der Industrie, der Banken, des Militärs, der hohen Beamtenschaft, der Institution Wissenschaft usw. betreffen? Wie verhält sich die wiederholte Betonung der Singularität und der Abscheulichkeit der Verbrechen dieses Systems zur Formel von der Normalität dessen, was 1933 in Deutschland geschah, und zur Kennzeichnung von Teilen der Politik des Regimes - bis hin zur Rechtfertigung des Krieges gegen die Sowjetunion - als richtig und notwendig? Die Behandlung solcher Fragen und Widersprüche wird besser verständlich, wenn man fragt, wer in den Augen der FAZ der politische und wissenschaftliche Gegner ist, den es zu bekämpfen gilt. Scheinbar geht es dabei nur um einen wissenschaftlichen Streit über die richtigen Begriffe: Grundfalsch sei es, den Begriff des Faschismus auf Deutschland anzuwenden. Richtig sei der Begriff des Nationalsozialismus in Verbindung mit dem des Totalitarismus. Damit sind die Weichen gestellt: Wer sich nämlich mit »Nationalsozialismus« begnügt, beschränkt sich in der Regel auf die Selbstdarstellung des deutschen Faschismus, die bereits eine faustdicke Lüge enthält, nämlich die vom »nationalen Sozialismus«. Und wer den »Totalitarismus« ins Zentrum rückt, will hauptsächlich
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von Ideologien und Herrschaftsmethoden reden. Dies hat seine Berechtigung, wenn zugleich nach den sozialen Kräften und Interessen gefragt wird, die die Politik dieses Systems bestimmt haben. Eben diese Frage steht für die im Zentrum, die von Faschismus reden. 1 3 Für die Neuauflage seines Hitler-Buches 1995 schrieb Fest ein neues Vorwort abgedruckt in der FAZ am 7. Oktober 1995 - das die Eckpfeiler noch einmal hervorhob: Da ist Hitler, da sind durchaus auch »die Wegbereiter aus den alten Machteliten«, und da ist die »orientierungslose Masse mit ihrer Sehnsucht nach Führung und strenger Ordnung. Alles hat sein eigenes Gewicht, und entscheidend ist die Balance«, die der Wissenschaftler herstellt. Wenn nun aber der britische Historiker Ian Kershaw eine Hitler-Biographie ankündige, »die Aufstieg, Machtgewinn und Herrschaftssystem Hitlers vor allem von den gesellschaftlichen Kräften her beschreiben will, deren Produkt er in hohem Maße gewesen sei«, so sei einzuwenden: Hitler habe doch gerade die Verhältnisse »seinem Willen und seinem Wahnwitz fügsam« gemacht. Es handele sich um eine »von ihm geprägte Geschichte«. Gänzlich außerhalb seriöser Wissenschaft stehen natürlich für die FAZ marxistische Faschismusinterpretationen. Und der »ostdeutsche Faschismus-Diskurs« war bloßer »politischer Auftrag an die Zeitgeschichte« zum Zwecke von »Herrschaftslegitimation« und hat im wesentlichen nur »die gute alte Dimitroff-Formel von der Diktatur des Großkapitals« aufgewärmt. 1 4 Es besteht demnach also überhaupt kein Anlaß, etwa die Hitler-Biographie von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker oder deren »Geschichte der NSDAP« oder deren Studien über die in Nürnberg hingerichteten Nazi-Führer (»Stufen zum Galgen«) oder das neue Buch über Rudolf Heß zur Kenntnis zu nehmen. 1 5 Der Begriff Faschismus, so Henning Schlüter in einer Rezension zu Peter Hammerschmidt »Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat« 1 6 sei einfach »ärgerlich«. Er diene nämlich nur »als Generalnenner für kapitalistische Intrigen gegen eine »fortschrittliche« Politik«. Tatsächlich aber sei doch Joseph Goebbels »vom linken, sozialistischen Flügel der NSDAP« gekommen und habe »eine egalitäre Volksgemeinschaft« angestrebt. Mit einer solchen Wendung ist nun die Demagogie vom »nationalen Sozialismus« als Wahrheit akzeptiert. Auch eine Rezension über den italienischen Faschismusforscher Renzo de Felice hebt »einige durchaus progressive Ziele« der faschistischen Bewegung und die »effektive Sozialpolitik« des Systems hervor. 1 7 Auch dies ist ein Ausgangspunkt, um den Übergang zur These von der Wesensgemeinschaft von Faschismus und Sozialismus/Kommunismus, also zum Totalitarismuskonzept zu bewerkstelligen. Merkwürdig nur, daß Großkapital und Militär mit dem einen Totalitarismus paktierten, während sie den anderen heftig verabscheuten. Ob die beiden gerade »im Wesentlichen« vielleicht doch nicht ganz identisch waren?
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Dieses Konzept wird dann in der Tat dem historischen Prozeß so gewaltsam übergestülpt, wie es seit Beginn der 90er Jahre in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion weithin üblich geworden ist. Gewiß, es wird - im Anschluß an die von Besymenskij über »Die deutsch-sowjetischen Verträge von 1939« konzediert 1 8 daß für die Sowjetunion beim »Hitler-Stalin-Pakt« 1939 wohl doch »der Wirtschaftsaustausch mit Deutschland im Vordergrund stand«, auch längerfristig - und nicht die Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen Deutschland, wie der FAZ-Haushistoriker Gillessen seit der Historiker-Debatte immer wieder behauptet hatte. Aber im letzten Satz der Rezension (von Martin Schulze-Wessel) wird dann völlig unvermittelt gesagt: Es habe sich eben doch um »die >Ergänzung< zweier Volkswirtschaften mit der Perspektive der gegenseitigen Vernichtung« gehandelt. Der »gegenseitigen« damit ist der ideologischen Pflicht genüge getan. Es wird auch berichtet, die Begriffe »totaler Krieg«, »totale Mobilmachung«, »totaler Staat« entstammten der Geisteswelt der politischen Rechten (Ernst Jünger, Erich Ludendorff, Ernst Forsthoff), und »Hitler« habe diese Ideen in der »totalsten Form mit den >Generalplan Ost< als Vernichtungskrieg« umzusetzen getrachtet. 19 Da es aber ideologische Pflichtübung ist, die Wesensgleichheit von Faschisten und Kommunisten immer aufs neue zu beteuern, wird zugleich versichert, daß dieser Geist sich in den »Wehrverbänden« und »vor allem in den paramilitärischen Organisationen der Kommunisten und Nationalsozialisten« manifestiert habe. Zu diesem ideologischen Konstrukt gehört auch, daß die in der FAZ übliche Kennzeichnung der D D R als »zweite deutsche Diktatur« von maßgeblichen Historikern (z.B. von Peter Steinbach) ins Totalitarismusmodell eingefügt wird, welches, wie der Rezensent beifällig berichtet, »allen anderen gegenüber bevorzugt« wird, »wofür in der Tat vieles spricht«. 2 0 Die FAZ hält die politische und geistige Vernichtung des Sozialismus/Kommunismus und den Sieg der Totalitarismusdoktrin mindestens im Bewußtsein ihrer Leser für so vollständig, daß sie einen führenden Theoretiker der PDS, André Brie, einlud, das neueste große Werk 21 dieser Art ausführlich zu rezensieren. 2 2 Brie hebt dessen gegenüber den traditionellen Totalitarismustheorien neue These von »zweierlei Singularität« hervor: Beide hatten »völlig andere Wurzeln und Ziele«. Allerdings seien »die D D R und die nachstalinistische Sowjetunion ... frei von Massenmord« gewesen, und »für sie verbietet sich die Gleichsetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus bereits unter diesem Gesichtspunkt«. Der »Totalitarismus« beider Regime - Brie akzeptiert diesen Begriff - sei aber nur »ein Merkmal«, nur »ein Gesichtspunkt« gewesen, der durch die Analyse ökonomischer, sozialer, kultureller und auch die internationalen Beziehungen betreffender Gesichtspunkte erweitert werden müsse. In einem zentralen Punkt stimmt Brie jedoch dem Verfasser und der Totalitarismus-
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theorie zu: Die »Kategorie des >Totalitären<«, so zitiert er zustimmend den Autor, lasse sich »gerade an den kommunistischen Regimen des zwanzigsten Jahrhunderts erst in seiner vollen Bedeutung entfalten«. Denn: »Das Totalitäre bedeutet eben nicht nur totale Repression, sondern auch die Verheißung eines totalen Humanismus«. Also: »Kommunistische Visionen waren anders als die des Nationalsozialismus nicht inhuman, aber ihre Realisierung mußte inhuman sein.« Brie läßt sich also offenbar inhaltlich ein auf die Aussage, daß radikaler Humanismus und radikaler Antihumanismus auf dasselbe hinauslaufen; und er läßt sich methodologisch ein auf die dubiose These, der historische Prozeß könne aus der Logik politischer Ideen abgeleitet werden. Und die FAZ kann triumphierend als Schlagzeile dieser Rezension formulieren: »Die Verheißung eines totalen Humanismus«. Und als Untertitel: »Warum die Verwirklichung der kommunistischen Utopie inhuman sein mußte.« Wenn das so wäre, dann hätte die Totalitarismustheorie doch im wesentlichen Recht, weil, wie auch die marxistische Geschichtstheorie sagt, es in der Geschichte nicht auf die mehr oder weniger edlen Motive ankommt, sondern auf die realen Folgen realer Handlungen. Der Totalitarismusbegriff übernimmt mehr und mehr jedoch eine neue Funktion, die politisch-ideologisch ebenso wichtig ist wie die traditionelle Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus/Kommunismus. Wenn es sich nämlich beim 20. Jahrhundert insgesamt um eine Epoche von Gewalt, Terror und Totalitarismus handelt, dann treten die besonderen Ursachen und Folgen des deutschen Faschismus zurück gegenüber den allgemeinen Schrecken dieser Zeit - und der Begriff der Normalität erhält eine weitere, sozusagen radikal einebnende Funktion. Während der HistorikerDebatte hatte Klaus Hildebrand bereits Ansätze einer solchen Interpretation entwikkelt. 2 3 Die FAZ hat sie bedeutend ausgestaltet. Sie berichtet über wissenschaftliche Publikationen und Tagungen und läßt auch Wissenschaftler in ausführlichen Artikeln selber zu Wort kommen, die sich mit verschiedenen Aspekten und Terror im 20. Jahrhundert vergleichend befassen. Es handelt sich in der Regel um seriöse Autoren und Forschungen. So berichtet der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky, der ein bemerkenswertes Buch über »die Anatomie der Gewalt« 2 4 geschrieben hat: »Was ist es, das im Menschen sticht, schießt, prügelt und mordet?«. »Die Motive zur Gewalt sind vielfältig«, aber »der Mensch ist zu den ärgsten Greueln imstande«. »Weil er konstitutionell offen ist, ist er so gefährlich.« »Die Ermittlung von Kontexten identifiziert Gelegenheiten, keine Ursachen ... die vordringlichste Aufgabe einer Erforschung der Gewalt ist daher nicht die Ermittlung vermeintlicher Ursachen, sondern die analytische Beschreibung des Gewaltprozesses selbst.« Diese Schlußfolgerung, die die Kausalfrage für unbrauchbar erklärt und stattdessen auf Anthropologisierung der Gewalt zielt, dürfte es sein, die die FAZ für ihre Geschichtsinterpretation des
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Faschismus für besonders brauchbar hält. Sofsky betont dies noch einmal in einer Rezension über das Buch »Nationalismus« von Ernest Gellner: »Doch das kausale Erklärungsmodell vermag nicht zu überzeugen. Denn es liegt in der Natur aller Imaginationen, daß sie am Ende gar keine Ursachen haben. Die Gespenster tauchen auf, wenn ihre Stunde gekommen ist.« 2 5 Ein großer Artikel des in Kanada und Südafrika lehrenden Soziologen Heribert Adam, diesjähriger Konrad-Adenauer-Preisträger der Alexander von Humboldt-Stif tung, vergleicht die verschiedenen Formen, die insbesondere Kanada, Südafrika und Deutschland im Umgang mit den Verbrechen ihrer Vergangenheit entwickelt haben. 2 6 Auch Japan, Spanien, Australien, die U S A und einige lateinamerikanische Länder werden am Rande einbezogen. Dieser hervorragende Text - er geht auf einen Vortrag am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt zurück - repräsentiert sehr konsequent humanistische, radikaldemokratische und antifaschistische Positionen, plädiert für die gänzliche Aufhebung von »Ausgrenzung und Diskriminierung« und betont ausdrücklich, daß es sich bei der deutschen Vergangenheit um »einzigartige nazistische Verbrechen« handle. Dies alles steht absolut konträr zu den Grundpositionen der FAZ. Handelt es sich also gar um einen Beleg für »Meinungsfreiheit« in der FAZ? Markus Werner berichtet ausführlich über einen Vortrag des US-amerikanischen Historikers Norman Naimark beim Herder-Institut der Universität Marburg über »ethnische Säuberungen«. 2 7 Er untersucht fünf Fälle im 20. Jahrhundert: »den Massenmord an den Armeniern 1915, die Judenvernichtung der Nationalsozialisten, die Deportationen der Inguschen, Tschetschenen und Krim-Tataren durch Stalin 1944, die Vertreibung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei 1945 und schließlich die wenige Jahre zurückliegenden Massaker und Gewalttaten im ehemaligen Jugoslawien«. Naimark »sieht zahlreiche Wechselbeziehungen«: »Stalins Variante« sei »von Hitlers Ideologie beeinflußt«, und Tschechen und Polen hatten »von den Deutschen gelernt«. Immerhin bleibt nicht ganz unerwähnt, daß deren »Motiv ... kein großer Vernichtungsplan« war sondern »Rache«. Gregor Thum rezensiert eine Untersuchung von M. Esch: »«Gesunde Verhältnisse«. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939-1950«. 28 Suggeriert wird eine weitgehende Parallelität der Bevölkerungspolitik beider Länder: »Deutsche wie polnische Siedlungspolitiker unterwarfen die Bevölkerung einer gnadenlosen Selektion nach »Nützlichen« und »Unnützen«, nach wertvollen Fachleuten und »unerwünschten Elementen«, nach »Germanisierbaren« bzw. »Polonisierbaren«, und sahen je nachdem für Millionen von Menschen die Um-, An- oder Aussiedlung vor. Die bevölkerungspolitischen und ökonomischen Modernisierungsideen hatten Wissenschaftler zu Befürwortern und Akteuren von Verbrechen gemacht.« Erst am
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Ende erwähnt der Rezensent, daß der Autor auch die Unterschiede hervorhebt: »Völkermord allerdings war nie Regierungsprogramm in Polen«. Eine Zuspitzung erfahren solche Thesen in der Rezension von Erika Steinbach, C D U - M d B und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, zu dem Buch von Heinz Nawratil: »Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948«. 2 9 1982 war das Buch unter dem Titel »Vertreibungsverbrechen« erschienen - ein Begriff, den Steinbach für richtig hält, weil es sich sowohl um millionenfache Verbrechen »bei der Vertreibung« wie auch um »das Verbrechen der Vertreibung« selber handelt. Im Zentrum aber steht das Argument, daß es sich nicht etwa um eine direkte Folge der vorher vom Faschismus begangenen Verbrechen an den osteuropäischen Völkern handelte, sondern um »ein diplomatisch vorbereitetes und abgesichertes, ein geplantes und konsequent durchgeführtes Großverbrechen
das teilweise auch ... auf Konzepte aus der Zeit
vor dem Krieg zurückging«. Es kam jetzt noch dazu der »sowjetisch-ideologisch aufgeladene Panslawistentraum eines bis zur Linie Stettin-Triest von »Germanen« gesäuberten europäischen Osten«. Erst von hier aus erschließen sich »die Motive der Sowjets, der Polen, der tschechischen Nationalisten, der Tito-Partisanen« usw. wenngleich der »NS-terror« einen »ungemein günstigen Boden« für diese Konzepte bereitet hatte. Die Schlußfolgerungen, die dem Leser nahegelegt werden, sind deutlich: Die durchaus verabscheuungswürdigen - Verbrechen »der Nationalsozialisten« stellen eine Erscheinungsform von Gewalt dar, die sich in sehr ähnlicher Weise in diesem Jahrhundert der Gewalt in vielen Ländern vollzogen, ihre konsequente Ausprägung aber in den Staaten erfahren hatte, die als totalitär gekennzeichnet werden können. Kausalerklärungen sind nicht möglich, Fragen nach den Ursachen sollen also unterbleiben. U. Raulff teilt den Lesern mit, daß diese Sichtweise sich auch bereits wissenschaftlich durchgesetzt habe: »Der Blick auf den Krieg« (gemeint ist der Zweite Weltkrieg, R.K.) »hat sich gewandelt: von einer Politik der Interessen hin zur Anthropologie der Gewalt«. 3 0 Jetzt ist es heraus: nach den »Interessen«, die diesen Krieg und seine Verbrechen verursacht und hervorgetrieben haben, soll nicht länger geforscht werden. In einer Zeit, in der Militärinterventionen der Berliner Republik politisch, ideologisch und militärstrategisch auf breiter Basis vorbereitet werden, ist es gerade in der Frage Krieg - Frieden sehr nützlich, daß die Frage nach den zugrundeliegenden konkreten (materiellen und strategischen) Interessen möglichst nicht mehr gestellt wird. Allenfalls von »nationalen Interessen« darf die Rede sein. (Diese Formel favorisierte die FAZ auch im Krieg gegen Jugoslawien.)
Damit ist aber die Frage nach der Rolle von Wehrmacht und Kapital nicht vom
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Tisch, das weiß auch die FAZ. Wenn die Zeitungen und Fernseh-Nachrichten über Jahre hin sich mit den Auseinandersetzungen über die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« 3 1 , mit dem jüdischen Raubgold und den Entschädigungsansprüchen der ehemaligen Zwangsarbeiter befassen, werden Antworten gebraucht, wie das alles zu interpretieren ist. Was die Wehrmacht angeht, so hat die FAZ eine ganze Weile hinhaltend taktiert nach der Methode: es ist ja nicht zu leugnen, aber es ist doch auch zu bedenken ... Dirks und Janßen, die »Hitler als Werkzeug der Wehrmacht« (so der Untertitel ihres Buches »Der Krieg der Generäle«) darstellten, sei entgegenzuhalten: »Kein Zweifel besteht... darüber, daß letzten Endes allein außenpolitische Faktoren (und die dahinterliegenden weltanschaulichen Motive) den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs herbeigeführt haben«. »Die Spitzen der Wehrmacht« haben sich allerdings »dem Diktator ausgeliefert«. 3 2 Sehr willkommen geheißen wurde das Buch »Die Soldaten der Wehrmacht«, hrsg. von H. Poeppel, W.-K. Prinz von Preußen und K.-G. v. Hase. 3 3 Günther Gillessen, der schon erwähnte Haushistoriker der FAZ, entwickelt daraus ein Gegenbild dessen, was die »Wehrmacht-Ausstellung« dokumentiert hatte. Gewiß: auch in diesem Buch »entsteht das Bild einer Wehrmacht, deren oberste Führung den politischen Herausforderungen, vor die sie die Diktatur stellte, nicht gewachsen war«, einer Wehrmacht also, die offensichtlich als Opfer, wenn auch nicht als gänzlich unbeteiligtes gelten kann. Aber: Die »Partisanenbekämpfung«, in deren Kontext sich ein großer Teil der Mordaktionen der SS abspielten, war »eine unabweisbare militärische Notwendigkeit«, allerdings »völkerrechtlich sehr unzureichend geregelt«. Und: »Die besondere Tücke und Härte des Partisanenkampfes geht in der Regel von den Partisanen aus, die es darauf anlegen, mit Verstößen gegen alle Kriegsregeln die Besatzungsmacht zu grausamer Repression zu provozieren und so die Widerstandswut im Lande zu steigern. Solche Erfahrungen mußten nach 1945 auch die Briten in Griechenland, die Niederländer in Indonesien, die Franzosen in Algerien und die Amerikaner in Korea und in Vietnam machen. Die Regellosigkeit der Kampfesweise von Partisanen und deren Unterdrückung macht regelmäßig die Zivilbevölkerung zu Opfern beider Seiten.« Also: schuld sind die Partisanen, und die Wehrmacht handelte so, wie Militär in solcher Lage eben handelt. Den gleichen Tenor schlägt die Rezension über das Buch von F. W. Seidel »Die Wehrmacht im Partisanenkrieg« an. 3 4 Seidel, Professor an der Bundeswehr-Universität München, zeige auf, welche »Verrohung in der Landkriegführung« der Partisanenkrieg bewirkt habe. Es könne aber nicht bestritten werden, »daß diese völkerrechtswidrige Art der Kriegführung durch die Sowjets ausgelöst wurde ... Die Wehrmacht war auf eine solche Art der Kriegführung nicht vorbereitet ... Die deutsche Führung
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reagierte unbeholfen«. Insgesamt gelte: »Völkerrechtswidrige Praktiken waren vor allem mit zunehmender Dauer des Krieges auf beiden Seiten gang und gäbe.« Tadelnswert hingegen findet Kiessling das Buch von G. R Ueberschär »Hitlers militärische Elite«. 3 5 Sicherlich: »Viele Militärs waren in ihrer Einstellung zu Hitler hin- und hergerissen«, habe er doch »die Befreiung Deutschlands von dieser Schmach (von Versailles, R.K.) und den wirtschaftlichen wie militärischen Aufstieg« versprochen - und gehalten. Und »wer wollte leugnen, daß es dabei auch um Macht und Ansehen, um Beförderungen und Auszeichnungen ging?« Aber: Das war zu allen Zeiten so und in allen Armeen.« Im übrigen seien für die lange Dauer des Krieges und also, so muß man schließen, der Greuel und Verwüstungen der letzten Kriegsjahre - die Alliierten verantwortlich mit ihrer Forderung nach »bedingungsloser Kapitulation«. Der Artikel »Verstrickte Wehrmacht« von Alexander Eichener 3 6 geht dem Vorwurf nach, die Wehrmacht sei verantwortlich dafür, daß Millionen von sowjetischen Kriegsgefangenen »vernachlässigt, mißhandelt und systematisch dem Tod durch Verhungernlassen, Seuchen und Vernichtung durch Arbeit überantwortet wurden«. Er berichtet dann ausführlich, daß neuere Forschungen nachgewiesen hätten, daß alle Gefangenen »vorschriftsmäßig registriert« wurden, »mit Name, Geburtsort und Geburtsdatum, äußeren Kennzeichen, Dienstgrad und Truppenteil, Datum der Gefangennahme, Lichtbildern und Fingerabdrücken ... Die Bürokratie funktionierte auch innerhalb des Grauens«. In der Schule hat uns der Deutschlehrer beigebracht, die Frage zu stellen: »Was will uns der Dichter sagen?« Will uns der Rezensent sagen, die faschistische Massenmordpolitik beruhe auf effektiver Bürokratisierung? Oder will er sagen, »der Vorwurf gegen die deutsche Wehrmacht, sie habe zwar nicht nur, aber doch auch einen Vernichtungskrieg geführt«, sei damit doch ein wenig relativiert? Der Artikel läßt unsere Frage offen. Es ist aber anzunehmen, daß der geschulte FAZLeser eher die zweite Antwort heraushören wird. Das alles ist immer noch aus der Defensive heraus argumentiert, wenn auch angesichts des Forschungsstandes - überwiegend ziemlich dreist. Die Tonlage der FAZ änderte sich abrupt, als ein polnischer und ein ungarischer Historiker (in den »Vierteljahresheften für Zeitgeschichte« bzw. in »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht«) nachwiesen, daß einige Fotos der Hamburger Ausstellung falsch beschriftet waren und tatsächlich nicht Verbrechen der Wehrmacht sondern solche des sowjetischen N K W D zeigten und daß auch sonst diese Ausstellung noch manchen Anlaß zur Kritik bot. Die FAZ hielt sich nun nicht mit der Frage auf, ob diese Kritik das bisherige in der Forschung als gültig betrachtete Urteil über die Verbrechen der Wehrmacht, das sich auch in dieser Ausstellung ausdrückt, wesentlich revidiert werden müsse. Stattdessen wurde das gesamte Unternehmen als »Machwerk« diffamiert,
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als »volkspädagogischer Furor«. Den Initiatoren sei es »nicht um Geschichtswissenschaft sondern um Geschichtspolitik gegangen«, um den »Einhämmerungseffekt«, wie der Leiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte zitiert wird. Und »wie es in deutschen Geschichtsdebatten üblich ist, war unter den flackernden Fahnen der Parteinahme der Verstand bald in der Hose«. 3 7 Sicherlich: »Das heißt beileibe nicht, daß die Frage nach den Verstrickungen (! R.K.) der Wehrmacht erledigt wäre.« Auch sei »gesicherte Erkenntnis, daß auch Einheiten der Wehrmacht auf den östlichen Kriegsschauplätzen an Massenverbrechen beteiligt waren«. Allerdings: »in welchem Umfang das geschehen ist ... das ist bis heute nur bruchstückhaft bekannt.« Der deutschnationale Leser darf also beruhigt sein: Etwas genaues wissen wir noch überhaupt nicht. Nach diesem sich noch irgendwie ausgewogen gebenden, wenn auch schon deutlich von unterdrückter Wut geprägten Urteil aber zündet die FAZ ihre Bombe, die das gesamte ärgerliche Problem der Verbrechen der Wehrmacht in die Luft sprengen soll: »Akribische Archivforschung ist das eine, die geschichtspolitische Großwetterlage ist das andere - und die hat sich durch die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg drastisch verändert. Die Frage nach deutscher Schuld ist endgültig in die Frage nach deutscher Verantwortung übersetzt. Die Ausstellung, der Streit um sie sind selbst Geschichte geworden.« 3 8 Im Klartext: Wir führen real wieder Krieg - und damit kann das gesamte Geschwätz von Verbrechen der Wehrmacht und dessen »volkspädagogische« Schlußfolgerungen als Müll betrachtet und behandelt werden. War man da vielleicht doch zu weit gegangen? Wie mußte diese abrupte Wendung auf die Intellektuellen wirken, zumal auf die historisch Informierten, die sich als liberal verstehen und differenziertes Argumentieren schätzen? Die wollte man doch auch ansprechen. War man wieder einmal zu rasch vorgegangen beim Abräumen von ideologischen Hindernissen für politische Machtprojekte - wie schon 1986 bei der Unterstützung von Noltes These von Auschwitz als »asiatischer Tat«? Jedenfalls: der Kurs wurde korrigiert. Zwei Wochen später entschloß sich die FAZ, eine Debatte zu eröffnen. Zunächst kam der Bochumer Historiker Norbert Frei, der das maßgebliche Buch über »Vergangenheitspolitik« geschrieben hat, zu Wort. Frei verwies ohne Umschweife auf den Forschungsstand: »Keine noch so lange Reihe falscher Bildunterschriften, Irrtümer und peinlicher Fehler vermag die Kernaussage der Ausstellung zu widerlegen, daß es ein rassischer Vernichtungskrieg war, den die Deutschen seit 1939 im Osten führten, und daß die Wehrmacht darin eine >aktive Rolle< spielte. Dies ist gesicherte Erkenntnis der Geschichtswissenschaft.« Was die Kritik des Direktors des Instituts für Zeitgeschichte, Möller, betreffe, die Ausstellung befasse sich mit »Einzelvorgängen«, von denen »zurzeit niemand sagen kann, wie exemplarisch sie
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stand«. »Die Hamburger Ausstellung hat ein Thema in die deutsche Gesellschaft zurückgeholt, dem auch die Geschichtswissenschaft allzu lange mit vergangenheitspolitischer Rücksichtnahme begegnete.« Damit sei »eine ganze Reihe neuer historischer Forschungsprojekte« angestoßen worden, »die unser konkretes Wissen über den Alltag des Krieges im Osten und das Verhalten der Wehrmacht in den nächsten Jahren mit Sicherheit erweitern werden. Nach allem, was schon jetzt zu sehen ist, wird sich das Bild des deutschen Vernichtungskrieges dabei weiter verdüstern.« Am folgenden Tag, dem 5. November 1999, trug der ungarische Historiker Ungváry seine Kritik an der Ausstellung vor, in der die »Rücknahme der Thesen« der Ausstellung verlangt wurde, die allerdings deren »Zusammenbruch« bedeuten würde. Was das Hauptanliegen der Ausstellung betrifft, so formulierte er jedoch lediglich eine Relativierung: »Währ ist, daß das Dritte Reich einen rassistischen Krieg führte. Die Wehrmacht war ein Instrument dafür und kann deshalb nicht von vorneherein als >sauber< betrachtet werden.« Unmittelbar darauf publizierte die FAZ dann ein ganzseitiges Interview von Ulrich Raulff mit Jan Philipp Reemtsma, dem Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, das die Ausstellung konzipiert hatte. 3 9 Raulff formulierte offensiv: Die »Legende von der sauberen Wehrmacht«, »gebetsmühlenartig wiederholt«, sei doch mittlerweile »selbst eine Legende«. Reemtsma verwies dagegen einfach auf die zum Teil sehr heftigen Reaktionen, die sich während der Ausstellung gezeigt hatten, so daß man sehen konnte: »Aha, das trägt man noch heute.« Am Schluß gab Raulff dann Reemtsma die Richtung an, in die das Hamburger Institut sich bewegen sollte: Es sollte »den ganzen Mahlstrom von Gewalt untersuchen, der sich im 20. Jahrhundert gedreht hat«, nicht aber »dieses eine Segment« herausnehmen, und »eine klare Schuldzuschreibung« vornehmen«: »Verbrechen der Wehrmacht«. Reemtsma argumentiere doch auch sonst »anthropologisch oder biographisch vom Einzelfall her«. Also: bitte keine Systemanalyse, die die Kausalfrage stellt! In den Leserbriefspalten sind seit Beginn der Ausstellung die deutschnationalen Vernichtungsurteile gegenüber der Ausstellung dominant, z.B. so: »Das was Millionen völlig unbelasteten, tapferen ehemaligen Soldaten der Wehrmacht mit der Ausstellung .... zugemutet wird, ist ungeheuerlich. Der schwelende Brand lodert jetzt nach Bekanntwerden der Forschungsergebnisse des polnischen Historikers ... erneut auf und macht die Tendenz allgemeiner Schuldzuweisung zunichte ... Es ist unschwer vorauszusagen, daß die neuen fundierten Forschungen Erkenntnisse bringen, welche die Stoßrichtung der Ausstellung ad absurdum führen werden.« 4 0 Auch diese Kreise dürfen in der FAZ weiterhin ihre Zeitung sehen. In den Debatten über theoretische und methodologische Probleme von Geschichtswissenschaft wird der von der FAZ favorisierte politische Kurs abgestützt durch das
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permanent wiederholte Votum, daß die einseitige Betonung von Wirtschafts-, Sozialund Strukturgeschichte aufhören müsse und tatsächlich ja auch schon weitgehend beiseite gelegt worden sei. Neben der schon erwähnten Anthropologisierung, die vor allem in der Darstellung von Gewalt und Terror dominiert, setzt sich die FAZ energisch dafür ein, den Primat der Außenpolitik wieder zur Richtlinie der Interpretation von Geschichte zu erheben. Dies kann - in der Tradition von Ranke und dem deutschen Historismus - auf Personalisierung des Geschichtsprozesses hinauslaufen: Hier stehen das Denken und Wollen der »großen Führerpersönlichkeiten« von Staat und Militär im Zentrum, für die Darstellung des deutschen Faschismus also vor allem Adolf Hitler. Diese Sichtweise ist sowohl in populären wie in geschichtswissenschaftlichen Darstellungen vorherrschend; dies gilt auch für die FAZ. Die Leistung des konservativen italienischen Historikers Renzo de Felice bestehe gerade darin, daß er »nicht nur Prozesse, sondern Personen, vor allem und immer wieder Mussolini und dessen Motive und Ziele« schildere. 4 1 Das Votum für den Primat der Außenpolitik kann jedoch auch geopolitisch begründet werden. Der Voluntarismus der personalistischen Geschichtsinterpretation - die führenden Persönlichkeiten gestalten Geschichte nach ihrem Willen - wird hier durch Determinismus ersetzt: die führenden Persönlichkeiten, konfrontiert mit geopolitischen Realitäten, können gar nicht anders, als sich diesen Realitäten zu fügen, wenn sie nicht völlig scheitern wollen. Enthusiastisch preist Hans-Christoph Kraus das Buch »The Struggle for Mastery in Germany 1779-1850«. 42 Hier werde nicht nur mit der »Konstruktion eines (in der Forschung zeitweilig sehr beliebten) angeblichen negativen deutschen >Sonderwegs<« aufgeräumt. Noch wichtiger sei, daß »der Staat im Mittelpunkt der Betrachtung stehe, also der Primat der auswärtigen Politik«. Diese aber sei - schon damals bestimmt von »doppelter geopolitischer Hypothek«: die »Schwäche des Reiches«, das »keinen Schutz vor auswärtiger Invasion bot«, und die »ebenfalls politisch-geographisch bedingte Verwundbarkeit der meisten deutschen Territorialstaaten«. So wurde »die Beachtung des Primats der Außenpolitik zur Pflicht«. Preußen aber war derjenige Staat, der »genau auf diesem Feld seine fortgesetzte Handlungsfähigkeit bewies«. Seine »geographische Lage« machte es - nach 1815 - »geradezu zwingend erforderlich, nach ökonomisch-politischen Kompensationen zu suchen«. Preußen wurde damit für das deutsche Bürgertum zum »einzigen künftigen Garanten auch für eine außenpolitische Absicherung Deutschlands gegen französische Machtansprüche«. Die Interpretation Friedrich Meineckes sei damit erneut bestätigt. Es fällt nicht schwer, diese Linie geopolitischer Legitimation für die Macht- und Expansionspolitik des Deutschen Reiches bis in den Ersten und den Zweiten Weltkrieg hinein zu verlängern, was die zeitgenössischen Apologeten denn ja auch getan haben. 4 3
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Bis zum Ersten Weltkrieg wird diese Linie in der FAZ ausdrücklich verlängert durch Eberhard Straub, der gleichfalls an Publikationen britischer Historiker anschließt. 4 4 »Die Juli-Krise 1914« war demnach »der verzweifelte Versuch Deutschlands, den gegnerischen Block zu sprengen«. In Deutschland wie in den anderen Staaten gab es »Unsicherheiten« und »Unruhe«, auch »Militarismus«, aber: »Niemand wollte den großen Krieg, und doch war er unvermeidlich« (Untertitel). Dem Leser wird nahegelegt: Es gibt Situationen, in denen der Krieg »unvermeidlich« ist. Dabei kann den Regierenden Schuld und Verantwortung eigentlich nicht angelastet werden. Von materiellen Interessen der Herrschenden braucht jedenfalls nicht die Rede zu sein. ; Was aber ist zur Rolle »der Wirtschaft« zu sagen? Einer Zeitung wie der FAZ, welche die maßgeblichen Kräfte des Finanzkapitals der europäischen Führungsmacht repräsentiert und deren Interessen vertritt, ist die Bedeutung dieser Frage natürlich viel klarer als den meisten bürgerlichen Intellektuellen, die am Schreibtisch über Geschichte und Gesellschaft nachsinnen und von diesem »Standort« aus leicht auf den Gedanken kommen können, daß es Ideen oder Führerpersönlichkeiten sind, die den Gang der Geschichte bestimmen. Die FAZ weiß: »Der Ölpreis ist wichtiger als der Ministerpräsident«. 4 5 Die Frage nach der Rolle »der Wirtschaft« im Faschismus greift also auch noch wesentlich tiefer als die nach der Rolle von führenden Persönlichkeiten und konservativen Eliten aus Universitäten, Kirchen, Justiz, Bürokratie und Militär, die »versagt« haben, »verwickelt« und »verstrickt« waren und wie alle die hier üblichen Vokabeln lauten. Über diese Eliten werden durchaus auch partiell kritische Ergebnisse aus der Forschung berichtet und positiv bewertet. Bei der Rolle »der Wirtschaft« aber geht es ums System im Ganzen: Um die kapitalistische Eigentumsordnung und der aus ihr entspringenden Interessen in der Frage Demokratie-Diktatur wie auch in der Frage Frieden-Krieg. Die FAZ erkennt durchaus an, daß sich aus der Logik des Marktes und dem Profitinteresse der Eigentümer unmenschliche Verhaltensformen ergeben können. In einem ausführlichen Bericht von Felicitas von Lovenberg über eine Ausstellung des Bristol City Museum über transatlantischen Sklavenhandel 4 6 heißt es z.B.: »Eindringlich wird geschildert, wie unwiderstehlich die Aussicht auf großen Profit (bis zu 100% Gewinn war mit einer Sklavenfahrt zu erzielen, 10% war die Regel) auch für kleine Kaufleute« war. Oft »schien es den Plantagenbesitzern billiger, die Sklaven sich zu Tode arbeiten zu lassen und neue anzuschaffen, als sich um das Wohlergehen ihrer Arbeiter zu kümmern«. Wem fällen dabei nicht entsprechende Passagen aus dem »Kapital« von Karl Marx ein?
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Sind wir da nicht direkt bei den rund 10 Millionen Sklavenarbeitern, die der Faschismus für die deutsche Wirtschaft herbeischaffte? Ein Bericht über eine wissenschaftliche Tagung zur »Zwangsarbeit« 4 7 verzeichnet gewisse Kontroversen darüber, ob für die Behandlung der Fremdarbeiter »kapitalistischer Pragmatismus« und »ökonomisches Kalkül« oder doch eher »ideologische Motive«, mindestens »eine verbreitete Fremdenfeindlichkeit« als Stütze für die diskriminierende Behandlung, maßgeblich gewesen seien. Am Ende aber ist doch vom »größten Einsatz von Sklavenarbeitern in diesem Jahrhundert« die Rede. Selbst bei solchen Unternehmern, die - wie Bosch - dann zum Widerstand Kontakt aufnahmen, seien die Arbeitsbedingungen kaum besser gewesen. Ein »Teildissens mit der NS-Führung«, so Ulrich Herbert, habe eben »die Beteiligung an Massenverbrechen« nicht ausgeschlossen. Angesichts solcher weit in die politische Öffentlichkeit eindringenden Debatten, in denen immer neue entsetzliche Sachverhalte bekannt wurden, und den auch die internationale Öffentlichkeit beschäftigenden Verhandlungen über einen »Stiftungsfonds der deutschen Wirtschaft« zur Entschädigung entschloß sich die FAZ, den Stier bei den Hörnern zu packen: Der in Freiburg lehrende Historiker Ulrich Herbert, der als hervorragender Kenner dieser Materie gilt, erhielt Gelegenheit, auf je einer ganzen Seite der FAZ, »Das Millionenheer des modernen Sklavenstaats« darzustellen 4 8 und dann sogar noch zu beschreiben, »Wie die Bundesrepublik zu verhindern wußte, daß ehemalige Zwangsarbeiter des Nazi-Reiches nach dem Krieg entschädigt wurden« 4 9 In diesen beiden Artikeln wurde nichts verschwiegen und nichts beschönigt. Die FAZ unternahm auch seither keinen Versuch, etwa einer Gegenposition Raum zu geben. Es blieb bei einem Leserbrief, der allen Ernstes ausführt, daß »die deutschen Banken während der Kriegszeit keine Zwangsarbeiter beschäftigt haben«, daß viele »Fremdarbeiter« ordentliche Verträge hatten und »reguläre Entlohnung« erhielten und daß ja »auch Millionen deutscher Hausfrauen ... zur Arbeit in Wirtschaftsbetrieben >dienstverpflichtet<« wurden. 5 0 Die Verwertung von 10 Millionen Arbeitssklaven durch das deutsche Kapital ist zwar nur ein Teilaspekt des Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und Faschismus, weil die tieferreichenden Kausalfragen damit noch nicht berührt sind. Der Gesamtzusammenhang, der vor allem den aus der kapitalistischen Verwertungs- und Expansionslogik folgenden Drang nach Zerschlagung von Demokratie und Arbeiterbewegung im Innern und nach Eroberung von Rohstoffgebieten, Absatzmärkten und eben auch billigen und rechtlosen Arbeitskräften, also nach Krieg, betrifft, wird von der FAZ nirgends thematisiert. Wissenschaftliche Untersuchungen, die sich damit - kritisch - befassen, werden systematisch ignoriert oder pauschal als kommunistische Propaganda abgefertigt. Dennoch sind diese Artikel über die ausländischen Zwangsarbeiter ein erstaunliches Faktum, dem vermutlich interne Auseinanderset-
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zungen in der FAZ vorangingen. Denn die FAZ verließ hier - unter dem Druck der Debatten auch in der internationalen Öffentlichkeit - ihre sonst strikt eingehaltene Linie. Diese Zeitung, die sonst in allen Lebensbereichen ihren Lesern zeigt, wie sie die Welt richtig zu interpretieren haben, das heißt im Lichte der Überzeugung, daß der Kapitalismus das beste und humanste System aller denkbaren Welten ist, läßt hier ihre Leser allein. Sie bleiben allein mit der bangen Frage, wie denn das zu erklären sein mag, daß die deutsche Wirtschaft offensichtlich unzweifelhaft ein solches Maß an Verbrechen begangen hat. Die Leser könnten sich sagen: Nun gut, das mag so geschehen sein, aber es ist lange her. Schauen wir in die Gegenwart: Stehen wir nicht wieder prächtig da in der Welt? Und die FAZ mag sich vielleicht sagen: Mit antikapitalistischen Potentialen braucht für absehbare Zeit nicht gerechnet zu werden. Und daß die sozialistische Alternative weit schlimmer ist als die allerschlimmste politische Form der Privatwirtschaft, ist ja nun im Bewußtsein der großen Mehrheit der Bevölkerung fest verankert, und das »Schwarzbuch des Kommunismus« wird, wenn es hinreichend propagiert wird, für die weitere Festigung dieser Überzeugung sorgen. So mag das vielleicht sein. Erstaunlich bleibt der Abdruck der beiden Artikel von Ulrich Herbert dennoch.
Was ergibt sich - nach Ansicht der FAZ - aus den Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus für die Gegenwart? In den zentralen Kategorien, mit denen die FAZ den deutschen Faschismus präsentiert, sind immanent schon Schlußfolgerungen enthalten, die freilich noch interpretationsfähig und interpretationsbedürftig sind. Dies gilt für die Personalisierung ebenso wie für die Antrophologisierung, für die Geopolitik ebenso wie für die Gefahr des »Totalitarismus«. Einige Marksteine heben sich jedoch besonders deutlich hervor: »Wer verspricht, auf Erden das Himmelreich zu errichten, der ist des Teufels. Es war für die Deutschen die Lektion des Jahrhunderts«. 5 1 Damit ist jeder Idee der Kampf angesagt, die das bestehende Gesellschaftssystem grundlegend umgestalten will. In der Regel ordnet sich diese Verdammnis ein in die Totalitarismusthese, die eine Linie zieht von der Philosophie der Aufklärung über die Französische Revolution, Robespierre, Marx, Lenin und Hitler. Diese Frontstellung erfährt zwei Konkretisierungen: »Das Raubtier unseres Jahrhunderts trug fast in der Regel den einen Namen: Staat« 5 2 Tendenziell totalitär sind demnach alle Forderungen, daß die Freiheit des Marktes begrenzt und korrigiert werden müsse durch den Staat. Nicht nur der Sozialismus ist also der Feind, sondern schon der Sozialstaat. »Die Universalien der Linken«, die Berufung auf allgemeine Menschenrechte, tragen in sich die Tendenz zum Totalitarismus. »Aber die Sehnsucht nach der neuen
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Welt, dem neuen Menschen und dem neuen Leben scheint unerschöpflich zu sein.« Doch »Menschenrechtserklärungen ... strotzen von Formeln, die das Recht auf Arbeit garantieren, vor Diskriminierung Schutz versprechen und die Einmischung ins Privatleben verbieten: lauter Zusagen, über die Asiaten anders als Europäer, Nordeuropäer anders als Südeuropäer, Spanier anders als Deutsche und Westdeutsche anders als Ostdeutsche denken.« 5 3 Diese Polemik ist formal gegen das Gerede von Außenminister Fischer gerichtet, daß es im Krieg gegen Jugoslawien um die Durchsetzung der Menschenrechte gehe. Und beinahe möchte man der FAZ zustimmen, wenn sie erklärt: »Milosevic ist nicht Hitler. Und der Kosovo ist nicht Auschwitz«. Und in diesem Sinne habe Martin Walser doch recht, wenn er sage: »Auschwitz eignet sich nicht zur Instrumentalisierung«. 5 4 Tatsächlich aber steht hinter dieser politischen Polemik gegen Fischer und Scharping eine viel prinzipiellere Frontstellung: Die FAZ macht kenntlich, daß sie eben jene Schlußfolgerung, die die Völkergemeinschaft aus den Erfahrungen mit dem Faschismus gezogen hat, entschieden zurückweist: daß es universelle Menschenrecht gibt, zu denen auch die sozialen Menschenrechte gehören, und daß jeder Staat verpflichtet ist, diese auf seinem Territorium auch zu realisieren. Das geht freilich nur auf Kosten der »Freiheit des Marktes« - und das ist der Punkt, an dem die FAZ keinen Pardon kennt. Das sind nach Ansicht der FAZ die richtigen Schlußfolgerungen, die sich aus den Erfahrungen mit dem Faschismus oder besser: dem Totalitarismus - ergeben. Nicht aber diejenigen, die die Opfer des Faschismus und »die Opfer des Holocaust für die Kapitalismuskritik zu instrumentalisieren« versuchen. 5 5 Es sind diese Antifaschisten, die die Demokratie, wie die FAZ sie versteht, bedrohen und zum Zwecke ihrer Polemik überall faschistische Tendenzen oder gleich ein faschistisches »Syndrom« anprangern, denn ohne solche Erfindungen wären diese Antifaschisten einfach »arbeitslos«. 5 6
A nmerkungen 1 Siehe H. Pfeiffer (Hg.): Die FAZ. Nachforschungen über ein Zentralorgan, Köln 1988. 2 FAZ, 18.10.1999. 3 Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie, Berlin 1973. 4 Ebenda, S. 18 und 593. 5 Ebenda, S. 831. 6 Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Köln 1977, S. 217. 7 Ebenda, S. 872 f. 8 Siehe dazu Reinhard Kühnl (Hg.): Streit ums Geschichtsbild. Die »Historiker-Debatte«. Darstellung, Dokumentation, Kritik, Köln 1987.
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9 FAZ, 19.02.1999. 10 Ebenda, 28.09.1999. 11 Ebenda, 08.09.1999. 12 Dazu Johannes Klotz (Hg.): Schlimmer als die Nazis? »Das Schwarzbuch des Kommunismus«, die neue Totalitarismusdebatte und der Geschichtsrevisionismus, Köln 1999; siehe vor allem Robert Erlinghagen / Gerd Wiegel: Das Totalitarismuskonzept, S. 156-187 in diesem Band; vgl. auch Wollgang Wippermann: Totalitarismustheorien, Darmstadt 1997. 13 Siehe dazu Reinhard Kühnl: »Faschismus«. In: Europäische Enzyklopädie für Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, Bd. 2; ders., »Totalitarismus«. In: Ebenda, Bd. 4. 14 Frank Ebbinghaus: Im Historikerparadies. In: FAZ, 04.09.1999. 15 Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker: Geschichte der N S D A P 1920-1945, Köln 1998; dies., Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Leipzig 1995; dies., Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen, Leipzig 1996; dies., Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite, Leipzig 1999. 16 FAZ, 06.09.1999. 17 Rudolf Lill. In: FAZ, 21.05.1999. 18 FAZ, 24.03.1999. 19 Ebenda, 03.09.1999. 20 Wolfgang Schuller: Rezension über K - D . Henke u.a.(Hg.): Widerstand und Opposition in der D D R In: FAZ, 26.10.1999. 21 G. Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? 22
FAZ, 18.02.1999.
23 Siehe Klaus Hildebrand: Das Zeitalter der Tyrannen: In: FAZ, 31.07.1986. 24 Wolfgang Sofsky: Ordnung des Terrors, Frankfurt 1993. 25
FAZ, 23.03.1999.
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Ebenda, 24.07.1999.
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Ebenda, 17.02.1999.
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Ebenda, 19.07.1999.
29 Ebenda, 08.06.1999. 30 Ebenda, 01.09.1999. 31 Siehe dazu Hannes Heer, Klaus Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, H a m b u r g 1995. 32 Christian Hartmann. In: FAZ, 04.09.1999. 33 Ebenda, 09.06.1999. 34 Günter Kiessling. In: Ebenda, 06.07.1999. 35 Ebenda, 08.07.1999. 36 Ebenda, 08.07.1999. 37 Ebenda, 20.10. und 26.10.1999. 38
Ebenda, 20.10.1999.
39 Ebenda, 06.11.1999. 40 Christian-Henrich Fürst zu Stolberg. In: Ebenda, 03.11.1999. 41
Ebenda, 21.05.1999.
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Ebenda, 25.10.1999.
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Dazu Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt, New York 1992.
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44 FAZ, 29.07.1999. 45 So die Schlagzeile der FAZ in ihrem Wirtschaftsteil, 10.08.1999. 46 FAZ, 06.08.1999. 47 Ebenda, 31.03.1999. 48 Ebenda, 16.03.1999. 49
Ebenda, 19.07.1999 (Untertitel).
50 Ebenda, 11.10.1999. 51 Heinrich Maetzke in einer Rezension zu Günter Grass: »Für- und Widerworte«. In- FAZ 28.07.1999. 52
Ebenda.
53 Konrad Adam. In: FAZ, 02.10.1999. 54 Frank Schirrmacher. In: Ebenda, 17.04.1999. 55 Richard Kämmerlings. In: Ebenda, 18.03.1999. 56 Ebenda, 04.09.1999.
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Konservatismus und Faschismus Anmerkungen im Kontext der Jahrhundertbilanz
In den Konjunkturen und Wirkungsmöglichkeiten der Totalitarismus-Konzeption in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik äußern sich der jeweilige Zeitgeist, aber auch die Interessen und historisch-politischen Legitimationsbedürfnisse einflußreicher Gruppen. Konservative Motivationen und Triebkräfte einer totalitarismustheoretisch gedeuteten Geschichte und Gesellschaft - insbesondere der politischen Systeme - sind vielgestaltig und bündelten sich wiederholt zu einem dominierenden Einfluß in Medien, Bildung und Wissenschaft. Das gilt für die restaurative Periode von 1948/49 bis weit in die sechziger Jahre ebenso wie für den vorherrschenden Diskurs seit 1990. Worin besteht die Attraktivität dieses Grundansatzes für Konservative? Da ist zunächst die prinzipielle Brauchbarkeit für antikommunistische Politik und Ideologie zu nennen, die sich aus der dualen Grundstruktur des Vergleichens und Parallelisierens von Faschismus und Kommunismus in dieser Konzeption ergibt. Dazu kommt die nunmehr bereits jahrzehntelange Erfahrung, daß in diesen strukturellen Analogien günstige Voraussetzungen für die Radikalisierung antikommunistischer Massenbeeinflußung nach rechts gegeben sind, die in Abhängigkeit von der historisch-politischen Situation und der aktuellen Interessenlage genutzt und mobilisiert werden können. Außerhalb der eigentlich faschistischen Ideologien gibt es kaum wirksamere Möglichkeiten, das antikommunistische, antimarxistische und weit über die demokratische Linke hinausgehende Feindbild bis zur Verketzerung und Kriminalisierung zu verschärfen als mittels behaupteter Verwandtschaften und weitgehender Gleichsetzungen beider »totalitärer« Hauptstränge. Ein weiteres spezifisches Moment ist zu nennen und soll im vorliegenden Rahmen besondere Berücksichtigung finden. Dem Totalitarismus-Konzept eignet grundsätzlich eine weitreichende Reduktion komplexer geschichtlicher, soziologischer und politisch-ideologischer Phänomene auf das duale Schema tatsächlicher, behaupteter oder willkürlich verabsolutierter totalitärer oder extremistischer Dispositionen bzw. Strukturen. Bezüglich des Faschismus oder rechten Extremismus schließt dieser Reduktionismus in der Regel ein, daß deren in der bürgerlichen Gesellschaft wurzelnde soziale, ideologische und politische Quellen, Komponenten und forderliche Bedingungen vernachlässigt, unzulässig abgewertet oder gar verdrängt werden. Das kommt
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insbesondere in Deutschland dem Bedürfnis konservativer Politiker und Ideologen nach einer beschönigenden und rechtfertigenden Selbstdarstellung des eigenen ambivalenten Verhältnisses zu Faschismus und rechtem Extremismus entgegen. Dies gilt auch angesichts des Verlaufs und der Bilanz des zu Ende gehenden Jahrhunderts: Die entscheidende Verantwortung des konservativen Lagers, seiner Führungskräfte und mächtigen Förderer, und damit maßgeblicher Gruppen der Oberschichten der bürgerlichen Gesellschaft, für Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs, für Krisen und Labilität der Weimarer Republik und schließlich für das Aufkommen und die Chancen der Nazibewegung, die Errichtung der faschistischen Diktatur sowie den daraus folgenden Weg zur Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkriegs und unvorstellbarer Massenvernichtung sollen in hohem Masse aus dem öffentlichen und Geschichtsbewußtsein verbannt werden. Es handelt sich um eine wesentliche und in beträchtlichem Masse bereits verwirklichte Funktion von Schwarzbüchern über den Kommunismus, von Monographien und Sammelbänden über Extremismus und Totalitarismus, von unzähligen Tagungen und Publikationen über »zwei Diktaturen in Deutschland« und weitere vielgestaltige Bemühungen, die darauf gerichtet sind, antifaschistische, radikaldemokratische und sozialistische Traditionen sowie Geschichts- und Gesellschaftsanalysen auszuhöhlen und aus dem vorherrschenden politisch-wissenschaftlichen Diskurs zu verdrängen. Diese Tendenzen korrespondieren zwangsläufig mit einem Verlust an wissenschaftlicher Objektivität und einer auffälligen Zunahme politik-und staatsnaher Einsatzbereitschaft von Wissenschaftlern. Den weltgeschichtlichen Hintergrund des Vordringens rechtskonservativ-nationalistischer bis rechtsextremistischer Strömungen seit Jahrhundertbeginn hat Eric Hobsbawm unter dem großen Thema des Untergangs des Liberalismus erörtert. Damit charakterisiert er die gegenüber dem 18. und 19. Jahrhundert grundsätzlich veränderte historisch-politische Tendenz der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft. Sie setzte sich in Kontrast zur fortschreitenden weltweiten Ausbreitung der bürgerlich-parlamentarischen Institutionen durch. Seit Beginn der zwanziger Jahre habe die Linke keine demokratische oder liberale Regierung zu Fall gebracht: »Die Gefahr kam ausschließlich von rechts. Und diese Rechte war nicht nur eine Bedrohung für konstitutionelle und repräsentative Regierungen, sondern vor allem für die liberale Zivilisation an sich. Sie war eine potentielle weltweite Bewegung, für die das Etikett »Faschismus« unzureichend, aber auch nicht völlig unzutreffend war.« 1 Hobsbawm zeichnet ein differenziertes Bild dieser Rechten, deren unterschiedliche Gruppen Gegner der sozialen Revolution und autoritär waren, also liberale politische Institutionen ablehnten, sowie dazu tendierten, Militär, Polizei und andere Männerbünde zu favorisieren, die physische Gewalt auszuüben vermochten. Er resümiert: »Die »natürliche« Allianz der Rechten zwischen den Kriegen bestand dem-
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nach also aus traditionellen Nationalkonservativen - unter Einbeziehung der Reaktionäre alten Stils - bis hin zu den äußersten Randgruppen der faschistischen Pathologie. Die traditionellen Kräfte des Konservatismus und der Konterrevolution waren zwar stark, aber oft träge. Der Faschismus bot ihnen nicht nur Dynamik, sondern, was vielleicht noch wichtiger war, auch die Möglichkeit eines Sieges über die Mächte der Zersetzung.« 2 Unter den heutigen Bedingungen selektiver Wahrnehmung der Vergangenheit durch totalitarismustheoretische Indoktrination gewinnen repräsentative und allgemeingültige Ausagen zum Lehrstück »Konservatismus und Faschismus« und vorzugsweise zu seiner extremistischen Ausführung auf der deutschen Schaubühne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Aufmerksamkeit. Deshalb wird im Folgenden auf einige Zeugnisse zurückgegriffen, die entgegen dem Drängen des Zeitgeistes nicht der Vergessenheit anheim fällen sollten und zugleich provozierend gegen gängige Interpretationen in den Raum zu stellen sind. Handelt es sich um zeitbedingte Irrtümer oder um Fehleinschätzungen, die durch seitherige Forschungen und Erkenntnisse überholt wurden oder zumindest erheblich zu relativieren sind? Oder wird die grundsätzliche Gültigkeit wenn schon nicht vom herrschenden ideologischen Interesse, so doch vom heutigen Stand der Forschung - nicht zuletzt zu NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg - bestätigt und bekräftigt? Der 1936 emigrierte, frühere Präsident des Danziger Senats und Nationalsozialist, Hermann Rauschning, hat 1938 eine entschiedene Abrechnung mit den »ehemals führenden Schichten« des Deutschen Reiches vorgelegt. Ungeachtet seines widersprüchlichen und nicht durchweg überzeugenden Grundverständnisses von >Konservatismus<, >Nationalsozialismus< und >Revolution<, ist gerade angesichts seiner Herkunft das Urteil als Zeitgenosse und Betroffener zur damaligen Schuldffage eindeutig und von bleibendem Wert: »Niemand wird mehr in Abrede stellen, daß es die restaurativen Kräfte waren, denen im wesentlichen Deutschland sein heutiges Schicksal zu verdanken hat.« 3 Verwerflich seien vor allem die politischen Mittel, die auf diesem Weg angewandt wurden. »Die Skrupellosigkeit in der Auswahl und Verwendung politischer Mittel hat häufig ihren bevorzugten Platz in der reaktionären Rechten gehabt. Sie hat damit Schule gemacht, und sie braucht sich nicht zu wundern, daß sie im Nationalsozialismus hierin ihren Meister gefunden hat.« 4 Fast überall in den »abendländischen Ländern« hätten die wirtschaftlichen Interessen »das Großkapital, das Finanzkapital in die Nähe politischer Tendenzen gebracht, welche man als faschistisch zu bezeichnen pflegt.« Der Nationalsozialismus habe politisch aktiven Konservativen »unerachtet seiner offenkundigen Unzulänglichkeiten die Ansatzmöglichkeiten geboten, vornehmlich Ziele zu verfolgen, die dem jungen Konservatismus u entsprechen schienen.« Schließlich seien »viele heimatlose Konservative aus be-
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sten Motiven und in voller Gutgläubigkeit in die Reihen des Nationalsozialismus getreten.« 5 Hier scheinen Illusionen wie Enttäuschungen über das konservative Lager auf, in denen sich die Widersprüchlichkeit und Erfahrungen des Lebensweges des Autors spiegeln. Die treffende Haupttendenz der Kritik wird dadurch nicht aufgehoben oder nennenswert beeinträchtigt. Zwei Jahre später erschien in London ein weiteres Buch eines deutschen Emigranten, in dem kritische Betrachtungen zum Weg der Deutschen in das Dritte Reich angestellt wurden. Sebastian Haffner entwickelte an der »historischen Legende vom Deutschen Reich« seine Thesen von den preußisch-konservativen und nationalistischen Ursprüngen und Quellen des Nazismus und der NS-Diktatur. Nach der Niederlage von 1918 habe das »Reich« überlebt und zunehmend an Einfluß gewonnen. Die Republikaner von Weimar liefen den Nationalisten nach, unentschlossener zwar, aber in die gleiche Richtung. Schließlich zerstörten die Republikaner ihr eigenes Regime und räumten ihre Sessel, in die sich die Nazis schwangen: »Wie wunderbar verkörpern die Nazis die Idee des Reiches. Sie waren die ersten, welche die blutrünstigen Ansprachen, die bei feierlichen Anlässen gehalten werden, ernst meinten. Sie dienen dem Reich >total<: dem Wachsen, Verschlingen, Zerstören. Sie achten weder Zivilisation noch Menschlichkeit noch Moral. Sie tolerieren keine privaten Freiräume. Sie sind hartnäckig. Sie sind Hundertfünfzigprozentige.« 6 Die Zäsur von 1945 bedeutete nicht nur das opferreich herbeigeführte Fiasko des nazistischen Terror- und Ausrottungsregimes, seiner Verbündeten und der faschistischen Bewegungen in verschiedenen Ländern. Sie markierte auch eine geschichtliche Niederlage der internationalen konservativen Strömung der Politik und Ideologie und der von ihr beherrschten Ordnungen und Institutionen. Die spektakulärste Äußerung war die Niederlage der britischen Conservative Party in den Unterhauswahlen Ende Juli 1945. Sie führte noch während der Potsdamer Konferenz zur Abwahl von Premierminister Winston S. Churchill, der neben Roosevelt und Stalin einer der großen Drei und mit ihnen personaler Inbegriff der weltweiten Antihitlerkoalition war. Der antifaschistische Zeitgeist einschließlich seiner radikaldemokratischen und sozialreformerischen Intentionen war stärker als die Aura des konservativen Repräsentanten eines soeben erstrittenen weltgeschichtlichen Sieges. Damals bis zuletzt auf eine Mehrheit und die Wiederbelebung einer nationalen Koalitionsregierung unter seiner Leitung hoffend, schilderte Churchill später seine Empfindungen angesichts der klaren Wahlniederlage und des daraus folgenden plötzlichen Einschnitts: »Die bisher unterbewußte Überzeugung, daß wir geschlagen seien, setzte sich plötzlich in mir durch und beherrschte meine Gedanken. Zu Ende die Wucht der großen Ereignisse, mit denen oder gegen die ich so lange meinen geistigen Höhenflug aufrechterhalten hatte, und vor mir der Sturz! Keine Macht zur Formung der Zukunft! All die von
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mir angesammelte Erfahrung und Kenntnis, mein ganzes Ansehen und all die Freundschaft, die ich mir in so vielen Ländern erworben hatte, vorbei und vertan!« 7 Mit den Erfahrungen weitreichender politisch-ideologischer Gemeinsamkeiten und des verhängnisvollen Paktierens konservativer intellektueller und politischer Strömungen, Gruppen und Organisationen mit der Nazibewegung - insbesondere in der Schlußphase der Weimarer Republik - und des Mitläufer- und Mittätertums Konservativer im Dritten Reich war der Konservatismus auch in Deutschland völlig diskreditiert und für lange Zeit als eigenständige geistig-politische Bewegung geächtet. Die restaurativen, vorzugsweise klerikal-konservativen Führungskreise um Konrad Adenauer und die C D U / C S U mieden für Jahrzehnte nicht nur den Bezug auf das zwiespältige und verrufene Erbe, sondern auch auf die Begrifflichkeit, die von der jüngsten Vergangenheit belastet und in Mitleidenschaft gezogen war. Zunächst wahrten lediglich alt- und neonazistische Gruppierungen und andere rechtsaußen befindliche Organisationen wie die Deutsche Partei (DP) das Bekenntnis zu den konservativen, nationalistischen und »soldatischen« Traditionen des Deutschen Reiches von 1871 bis 1945. Adenauer hinderte dies nicht, die DP ab September 1949 als Koalitionspartner in die von ihm geführten Bundesregierungen aufzunehmen - bis zur Auflösung dieser Rechtspartei um 1960/61. Deren Politiker und Mitglieder gingen dann zu einem beträchtlichen Teil und politisch durchaus folgerichtig in die Unionsparteien. Jener koalitionspolitische Vorgang aus der Konstituierungsphase und Frühgeschichte der Bundesrepublik ist symptomatisch für die von den zeitgeschichtlichen Umständen erzwungene Um- und Reorganisation von Hegemonie und Kooperation innerhalb des weiten und heterogenen Lagers der deutschen Rechten, natürlich unter Ausschluß der am meisten belasteten kriminellen Führungsgruppen der zerschlagenen Nazidiktatur. Es kennzeichnet die Tiefe und Nachhaltigkeit des historisch-politischen und ideell-moralischen Rückschlags der konservativen Strömung der Politik und Ideologie und damit auch nationalistischer und autoritär-militaristischer Varianten der Massenbeeinflussung und Herrschaftskonzepte -, daß sich die Vordenker des neokonservativen Aufbruchs noch in den den folgenden Jahrzehnten mit den nachwirkenden Belastungen aus der Vergangenheit auseinandersetzen mußten. Mannigfache geistesgeschichtliche, politische und soziale Faktoren, schrieb Gerd-Klaus Kaltenbrunner Anfang der siebziger Jahre, hätten dazu geführt, »daß der Begriff des Konservativen vor allem im deutschen Sprachraum stark belastet« sei: »eine konservative Haltung in Politik, Gesellschaft und Kultur wird in breitesten Kreisen als irrelevant, wenn nicht gar als pervers eingeschätzt, gesellschaftlich als Sabotage auf der Fahrt in eine heilere Zukunft, individuell als ein extremer Fall von Pathologie, von moral insanity. Mit einer Mischung von Scham, Widerwillen und Gereiztheit reagiert man auf diese
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lästige Phänomen, und so nimmt es nicht wunder, daß konservativ heute durchwegs ein Synonym für reaktionär, restaurativ, indolent, repressiv, autoritär, antidemokratisch, rechtsradikal oder faschistisch ist. Der Konservative gilt als Verkörperung des Ewig-Gestrigen, als Sand im Getriebe des Fortschritts; ihm haftet der Ruf an, für eine geschichtlich überholte, wenn nicht gar endgültig verlorene Sache zu plädieren und soziale Errungenschaften abbauen zu wollen.« 8 Ungeachtet der seitherigen Bemühungen um die geschichtliche Entlastung und politisch-moralische Rehabilitierung des Konservatismus, die Armin Mohler frühzeitig mit seinen Arbeiten zur Konservativen Revolution der zwanziger und dreißiger Jahre eröffnet hatte und später mit seinen Streitschriften gegen die antifaschistische Vergangenheitsbewältigung fortsetzte, wirken prä- und profaschistische Erblasten dieser Grundströmung der Rechten bis in die Gegenwart nach. Dazu tragen wesentlich auch neue zwiespältige Erfahrungen im Wechselverhältnis von Konservativen und Rechtsextremisten bei, die inzwischen immer wieder auf nationaler wie internationaler Ebene gemacht werden. Andererseits erhielt der Konservatismus Auftrieb durch die Implosion des realsozialistischen Weltsystems, durch anschließende restaurative Prozesse besonders in Ost- und Südosteuropa sowie in der Dritten Welt und durch eine von diesen Erschütterungen und Umbrüchen gespeiste akute Krise der Fortschrittsideen. Ein charakteristisches Beispiel für die oben genannte apologetische Funktion konservativer Totalitarismuskonzeption in der Geschichtsschreibung ist der Mythos vom antitotalitären Gründungskonsens der Bundesrepublik. Durch ihn wird der Problemkreis der entschiedenen und verbreiteten Achtung der kompromittierten konservativen Strömung um und nach 1945 sowie deren schwerwiegende Gründe weitgehend ausgeblendet. Damit in engstem Zusammenhang steht die Verdrängung der Tatsache, daß in der Bundestagswahl 1949 und der anschließenden staatlichen Konstituierung die Entscheidung zwischen dem Festhalten am Ziel eines gesellschaftspolitischen Neubeginns einschließlich sozioökonomischer Umgestaltungen auf der einen Seite und der als Programm der Sozialen Marktwirtschaft drapierten Kontinuität der Eigentums- und Machtverhältnisse und damit der gesamtgesellschaftlichen Restauration auf der anderen Seite im Mittelpunkt stand. Adenauers schließlich erfolgreiche Strategie war bewußt und durchgängig an der Erkenntnis dieser Alternative und der von ihm angestrebten Entscheidung orientiert. Sie schloß ab Herbst 1949 ein, daß nicht nur die kritische, auch strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit regierungsoffiziell weitgehend eingestellt, sondern auch der Mantel des Schweigens über das katastrophale Versagen konservativer Politiker und Parteien in der Schlußphase der Weimarer Republik gebreitet wurde. Nicht wenige aus diesem Personenkreis fanden sich nunmehr als Mitglieder und Repräsentanten der Nachfolgeparteien C D U , C S U , FDP, DP u.a. im Parlamentarischen Rat, im Bundestag und in der
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Bundesregierung wieder und sahen sich in den folgenden Jahren unbequemen Fragen nach ihrer Vergangenheit und Schuld höchstens von einigen NS-Verfolgten und Nazigegnern, Linken und kritischen Intellektuellen ausgesetzt. Unter diesen Voraussetzungen kam es einem Tabubruch. Es beförderte die faktische Ausgrenzung des Autors in der Folgezeit, als Karl Jaspers 1960 die »Entstehung des neuen Staates« einer radikalen Kritik unterzog, die für die üblichen, früheren und seitherigen, Glorifizierungen wenig Raum ließ: »Den Deutschen, denen die Freiheit geschenkt wurde, wurde keine Diktatur aufgezwungen, aber unter dem Namen der Freiheit die Herrschaft politisch diskreditierter Parteiorganisationen und ihrer alten Parlamentarier. Die durch das Schicksal kompromittierten Politiker der Weimarer Zeit konnten nun wieder mit dem geistig heute so arm gewordenen Parteiwesen das politische Treiben fortsetzen, wohlbehütet durch die Amerikaner, solange es die Weltsituation gestattet.« 9 Eine »Wandlung des politischen Geistes« sei damit nicht vollzogen worden. Das Programm der Wiederherstellung der deutschen Einheit trat an »die Stelle einer Neuschöpfung aus der demokratischen Idee«: »Der Geist der ideenlosen, manipulierenden, ratlosen, opportunistischen, sich selbst nicht vertrauenden, von Scheinbarkeiten lebenden Demokratie vor 1933 war noch wirksam. Er hatte sich selbst der radikalen kritischen Prüfung nicht unterworfen. Man verwechselte Veränderungen, die als technische Sicherungen gegen eine Wiederholung eines totalitären Regimes gemeint waren, mit einer Neuschaffung, die nur unter lebendiger Beteiligung des Volkes möglich ist.«10 Resultate und Urteile der Forschungen zur Zwischenkriegszeit trugen dazu bei, daß die verhängnisvolle Rolle konservativer politischer und intellektueller Richtungen bei der antidemokratischen Destabilisierung der Weimarer Republik und zugunsten der faschistischen Bewegung nicht in Vergessenheit geriet. In einem erstmals 1964 veröffentlichten Aufsatz zu »Konservativismus und Nationalsozialismus« traf Ernst Nolte dazu bemerkenswerte Feststellungen. Er verstand darunter zunächst die Frage nach dem Verhalten der Konservativen gegenüber dem Nationalsozialismus und sprach von einer »Schlüsselrolle konservativer Männer wie Ludendorffs oder von Papens«: »Ähnliches gilt, in noch stärkerem Masse sogar, für die konservativen Theoretiker. Moeller van den Bruck und Spengler, Carl Schmitt und Wilhelm Stapel waren für den Zeitgenossen vom aufkommenden Nationalsozialismus kaum unterscheidbar; sofern sie ihn nicht unmittelbar unterstützten, liefen ihre Bestrebungen den seinen offenkundig parallel.« 1 1 Auch wenn das Bild seit 1945 differenzierter erscheine, gäbe im ganzen »das Verhalten der konservativen Politiker und Denker die sehr anschauliche Grundlage ab für die liberale Theorie über das Verhältnis von Konservativismus und Nationalsozialismus: der Nationalsozialismus sei nichts anderes als eine Erscheinungsform der deutschen und insbesondere der preußischen
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Tradition, die durch ihren antiliberalen Militarismus und ihre Aggressivität seit 200 oder gar seit 2000 Jahren ein Fremdkörper in der europäischen Geschichte gewesen sei.« 1 2 Der liberalen Konzeption sei zuzugestehen, daß der Nationalsozialismus »im engsten Zusammenhang mit konservativen Kräften emporgewachsen« ist und »sogar dem weitesten Begriff des Konservativismus subsumiert werden« könne. Ohne die sehr weitgehende Aussage buchstäblich unterschreiben zu müssen, verdient die Charakteristik der historisch-politischen und ideellen Wesensverwandtschaft beider Richtungen Beachtung und weithin Zustimmung. Im Zusammenhang mit konservativen Deutungen des Faschismus nannte Nolte den Versuch, den Nationalsozialismus als Fortsetzer des Liberalismus, demokratischen Radikalismus und Nihilismus zu interpretieren. Diese Theorie hätte nach 1945 in der westlichen Allianz spalterisch gewirkt. Deshalb trat ein anderes Konzept in den Vordergrund, nämlich das Bündnis der liberalen und der konservativen Theorie in Gestalt der »Lehre vom Totalitarismus, die mit dem Nationalsozialismus zugleich den Bolschewismus trifft und damit aufs genaueste der Realität und den Bedürfnissen der ersten Nachkriegsperiode entspricht, wenn sie auch darin nicht etwa aufgeht. Ihre Herrschaft war daher lange Zeit ganz unbestritten, und damit war auch das Verhalten der konservativen Mächte in den Windschatten einer schweigenden Übereinkunft gerückt.« 13 Die Aussage bestätigt einmal mehr die historisch-politische Bedingtheit und die jeweilige Instrumentalisierung von politik- und geschichtswissenschaftlichen Konzepten, vor allem aber auch ausdrücklich die Indienstnahme und die Brauchbarkeit der Totalitarismustheorie für die Verdrängung der geschichtlichen Schuld des deutschen Konservatismus in der Gründungsphase der Bundesrepublik und in den anschließenden Jahren des Kalten Krieges. In seiner 1971 erschienenen Studie zum deutschen Konservatismus hat Martin Greiffenhagen in einigen Abschnitten historische und substanzielle Berührungspunkte, in einer Passage aber auch ausdrücklich »Konservatismus und Nationalsozialismus« erörtert. Er gab kontroverse Positionen dazu wieder und bemerkte zur Dimension des Problems: »Wenn immer die Beurteilung des nationalsozialistischen Regimes Teil unserer politischen Gegenwart ist, gehört eine Verständigung über den Einfluß von konservativen Bewegungen auf den Nationalsozialismus ebenfalls zur Beurteilung der gegenwärtigen politischen Szene, ja mehr: Das Urteil über diese Beziehung gibt geradezu einen Probierstein ab für die Beurteilung heutiger konservativer Positionen, handele es sich um den Konservatismus eines Franz Joseph Strauß, eines Eugen Gerstenmaier oder um Positionen innerhalb der N P D « . 1 4 Rund drei Jahrzehnte später läßt sich feststellen, daß jene historischen Bezugspunkte und Kriterien in den grundsätzlichen Auseinandersetzungen um konservative Politik und Ideologie gestern, heute und morgen ihren Rang und ihre Aktualität behalten. Folgerichtig sind
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die Anstrengungen neokonservativer Intellektueller gerade darauf gerichtet, die ursprüngliche und konstitutive Verwandtschaft der beiden Grundrichtungen der Rechten zu relativieren oder gar weitgehend zu bestreiten. Die Stilisierung des konservativen Widerstandes gegen Hitler bildet einen spezifischen Beitrag bei der Revision der Erkenntnisse und des kritischen Gesamtbildes im Wechselverhältnis von Konservatismus, Nationalismus, Militarismus, militantem Antisozialismus und Rassismus. Eine andere Hauptrichtung der Entlastung besteht in der historischen und globalen Ausweitung des Gegenstandes »Konservatismus«, der in anderen Zeiten und Regionen in der Tat nicht zwangsläufig in Ideologeme und Verhaltensweisen barbarischen Charakters mündete, und der tatsächlich nicht stets und überall, also zwangsläufig, zu solchen Konsequenzen führen muß. 1985 erschien die bio-bibliographische Dokumentation »Deutschlands Erneuerung 1945 - 1950« von Christoph Cobet. Ihr wurden sechs Thesen zur Diskussion vorangestellt, deren erste lautete: »National-Konservative haben seit 1848 aus vermeintlich patriotischen Gründen eine nationale Katastrophe nach der anderen produziert und damit ihrem Vaterland Deutschland nie wieder gutzumachenden geistigen und materiellen Schaden zugefügt.« 1 5 Die Bankrotteure hätten nach jeder Katastrophe den Konkursverwalter für den von ihnen angerichteten Schaden verantwortlich gemacht. »Nach dem endgültigen Zusammenbruch 1945 gelang es, mit Hilfe des kalten Krieges und des damit verbundenen Antikommunismus sich wiederum aus der Verantwortung zu stehlen.« 1 6 Die Personalisierung im Geschichtsdenken der Konservativen vernachlässige die Strukturen und historisch-gesellschaftliche Ursachen. So hätten sie nach 1945 nicht über Kategorien verfügt, um »zwischen ihrer eigenen objektiven Förderung des Nationalsozialismus« und persönlicher Integrität zu unterscheiden. Das habe sich besonders krass gegenüber dem Phänomen des Antisemitismus ausgewirkt. Mehr als vierzig Jahre nach Hitlers Ende und je weniger Verantwortungsträger der NS-Zeit noch leben, werde nun »der Zwang zu eskapistischen Geschichtskonstruktionen« geringer. Kurt Lenk verzichtete mit Verweis auf die bereits vorliegende Literatur in seiner vorwiegend ideengeschichtlichen Analyse des deutschen Konservatismus darauf, explizit dessen Verhältnis zum Nazismus darzustellen. Mit der schwerpunktmäßigen Berücksichtigung der Konservativen Revolution leistete er dazu jedoch faktisch einen substantiellen Beitrag. Er resümierte dies selbst mit der Bemerkung, daß die »objektive Nähe des Konservatismus der »Konservativen Revolution« zum italienischen Faschismus in der Forschung längst nicht mehr zu den Schulgeheimnissen« gehöre. 1 7 In seiner im gleichen Jahr erschienenen Veröffentlichung zur konservativen Politik in Deutschland kritisierte Wilhelm Ribhegge nur halbherzig das politische Versagen der verschiedenen konservativen Gruppen. Seine illusionäre Vorstellung,
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daß konservative Politik »in unumstößlichen Werten, Maßstäben und Bindungen« Halt suchen müsse, führte ihn zu der These, daß Anfang der dreißiger Jahre nicht nur die Demokratie, die Republik, die Verfassung, sondern auch »die Konservativen« gefährdet waren. Immerhin fiel auch seine Beurteilung der rechtskonservativen Vordenker unmißverständlich aus: »Die Verabsolutierung der Politik und die Legitimierung des Freund-Feind-Denkens in den Schriften Carl Schmitts, die Sucht zur Entscheidung und zur Tat um jeden Preis in den Schriften der »Konservativen Revolution« von Ernst Jünger und Hans Zehrer bis zu Edgar Jung, Wilhelm Stapel und August Winnig war der intellektuelle Ausdruck dieser destruktiven Tendenzen, die einer pseudo-utopischen Welt des >Dritten Reiches<, wie der Titel eines Buches von Moeller van den Bruck lautete, erwartungsvoll entgegensahen.« 1 8 In der Auseinandersetzung mit der »Kulturrevolution in der Bundesrepublik« hatte Günter Rohrmoser 1980 geäußert, daß diese ohne die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus nicht zu begreifen sei. Er bemerkte »gegenwärtig eine erneute, ja in gewisser Weise zum ersten Mal eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von einer Intensität, mit der niemand mehr gerechnet hat. Nicht die Frage nach den geistigen Ursachen des Terrorismus ist das Thema, sondern der Faschismus.« 1 9 Beim Nachdenken über die ihn überraschenden Befunde - insbesondere den »Verlauf der Faschismusdebatte« - gelangte der konservative Philosoph zu bemerkenswerten Feststellungen: »Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus ist bisher geistig und politisch nicht geführt worden. Weder die Liberalen, die Konservativen noch die Christen haben sich nach 1945 ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt, was Faschismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch sein kann und welche Voraussetzungen und Konsequenzen notwendig sind, um eine Wiederholung der Erfahrung zu vermeiden, die wir mit dem Faschismus von 1933 bis 1945 gemacht haben.« 2 0 Die Versäumnisse hätten eine Situation herbeigeführt, in welcher der Faschismusverdacht universal werden konnte. Dieser Aussage folgt ein weiteres, von rechter Seite ebenfalls durchaus ungewöhnliches Eingeständnis: »Es ist beeindruckend zu sehen, daß - wenn überhaupt die theoretische Auseinandersetzung mit dem Faschismus nach 1945 geführt wurde - sie weitgehend, von wenigen Historikern abgesehen, von Marxisten geleistet wurde. In der theoretischen Arbeit, die sie dem Faschismusbegriff und seinen Erscheinungen widmeten, sind die Prämissen festgelegt und definiert worden, unter denen wir uns heute mit dem Faschismus auseinandersetzen.« 2 1 Ohne den Zusammenhang ausdrücklich anzusprechen, hatte Rohrmoser damit Umstände und Gründe der weitgehenden Tabuisierung des Faschismusbegriffs in den offiziösen Sprachregelungen der Bundesrepublik benannt, allerdings ohne sich selbst diesen Vorgaben zu unterwerfen. Rohrmoser ging kaum der Frage der Ursachen der beschriebenen Defizite nach.
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Sie liegen im konservativen Lager - bis weit in das konfessionelle Spektrum hinein vorrangig in dem bereits skizzierten, tief in der Vergangenheit wurzelnden ideellpolitischen Nachbarschafts- und Verwandtschaftsverhältnis zur äußersten Rechten einschließlich eines gemeinsamen soziokulturellen Hintergrunds. Das Wissen um die Fehlentwicklungen, um Mithaftung und Mitschuld in den Jahren zwischen 1930 und 1945 hatten die Schlußstrichmentalität nach dem Krieg stimuliert, die unter Adenauer ab Herbst 1949 staatlich ermuntert, zunächst zur maßgeblichen politischen Leitlinie wurde und anfänglich auch als aussichts- und erfolgreich erschien. Die Diagnose von 1980 bestätigte die inzwischen unübersehbare Erfahrung, daß die aus dieser Herkunft zu erklärenden Konzepte des Verdrängens und Totschweigens endgültig gescheitert waren und sich die Erkenntnis dieses Sachverhalts nunmehr auch unter Rechtsintellektuellen durchsetzte und sie zu Schlußfolgerungen drängte. Einige Jahre später zog Ralph Giordano eine für die deutschen Konservativen vernichtende politisch-moralische Bilanz ihres Umgangs mit der NS-Vergangenheit und ihrer damit verbundenen eigenen Geschichte. In seiner schonungslosen Charakteristik der nachsichtigen und verständnisinnigen Behandlung der vorangegangenen Verbrechen gegen die Menschheit und der Masse der Täter und Mitläufer scheinen die historischen und sozialen Wurzeln dieser bis heute unzureichend aufgearbeiteten Skandalgeschichte der Bundesrepublik auf Als zusammenfassendes Urteil ist von ihm zu lesen: »Was die materielle und ideelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Hitlerdeutschland betrifft, so legt die bisherige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die volle Problematik des deutschen Konservatismus frei, der mit Ausnahme der sozialliberalen Koalitionsphase zwischen 1969 und 1982 regiert hat. Ungeachtet eines bedeutenden Anteils am Widerstand gegen Hitler, hat er nach 1945 als politische Gewalt im einzelnen und im ganzen überwältigend offen dargelegt, wie unfähig er ist, zu einer nicht nur ästhetischen, oft genug nur lippenbekenntnishaften, sondern auch zu einer prinzipiellen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, dieser historischen Ausgeburt der deutschen Rechten. Und wie wenig ihm daran lag und liegt, eine von vordemokratischen Traditionen tief geprägte Wählerbasis in eine nicht bloß behauptete, sondern wirkliche Distanz davon zu lenken - der deutschnationale Adam kommt immer wieder durch!« 2 2 Was in der zweiten deutschen Demokratie »antirepublikanisch, antiegalitär, antiinternational und autoritär« geblieben sei, lebe vor allem in der bundesdeutschen Rechten weiter, deren Hauptmacht weiterhin der organisierte und nichtorganisierte deutsche Konservatismus ist. Die historisch-politische Charakteristik durch Giordano ist an Treffsicherheit und Konsequenz kaum zu übertreffen. Darin wie in dem Gegenstand der Kritik erinnert sie an die unbestechlichen Kommentare und Analysen von Karl Jaspers aus Anlaß der Debatten um die Verjährung der NS-Verbrechen von 1965/66. Die Daten verwei-
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sen darauf, das die zur Diskussion stehenden Probleme in den Ursprüngen und Grundlagen der Gesellschaft, des politischen Systems und der vorherrschenden Ideologie der Bundesrepublik wurzeln und ihre gesamte Geschichte begleiten. Es ist bezeichnend, daß 1999/2000 in den Widerständen gegen die überfällige und angemessene Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter des Naziregimes fast alle seit Jahrzehnten im Umgang mit der NS-Vergangenheit zu kritisierenden Momente weiterhin in Erscheinung treten, nicht zuletzt seitens zahlreicher damaliger Nutznießer barbarischer Ausbeutung. Die Kehrseite ist eine bis heute andauernde Feindseligkeit auch aus der »Mitte« der Gesellschaft gegenüber der Wahrheit über die Rolle der Wehrmacht als des hauptsächlichen Instruments der hitlerfaschistischen Diktatur, einen von vornherein und durchgängig verbrecherischen Angriffs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen zahlreiche Völker vorzubereiten und durchzuführen. Mit den Erfahrungen seit 1990 und im Übergang ins 21. Jahrhundert bleibt festzustellen, daß das »Dilemma des deutschen Konservatismus« (Martin Greiffenhagen) im Verhältnis zu seiner Vergangenheit wie zu seinen rechtsaußen befindlichen Verwandten und Konkurrenten andauert. Es äußert sich im nationalistischen Geschichtsrevisionismus ebenso wie in jenem militanten Antikommunismus, der längst zum Sammelbecken feindseliger Einstellungen und Politikkonzepte gegenüber Sozialisten, Gewerkschaftern, radikalen Demokraten, Antifaschisten, Pazifisten und Liberalen - die diesen Namen verdienen - geworden ist. Es wird innenpolitisch in jenem Extremismus-und Totalitarismusverständnis sichtbar und zugunsten des rechten Extremismus praktiziert, das die rassistische und neonazistische Bedrohung und Gewalt durch Analogien zu demokratischen Linken unablässig verharmlost und damit unverhohlen begünstigt. Der erneute Eintritt Deutschlands in die äußere Machtund Interessenpolitik einschließlich des Aufbaus und des Einsatzes von Militärpotential für Droh- und Interventionspolitik verstärkt nachhaltig alle autoritären, antidemokratischen und unsozialen Komponenten des Herrschaftssystems. Die in den Anfangen und Grundlagen der Bundesrepublik angelegte Synthese von Konservatismus und Neoliberalismus wird im Rahmen der europäischen und Globalisierungsstrategien und unter den radikal veränderten internationalen Bedingungen noch rigoroser gegen die Bedürfnisse sozialer Gerechtigkeit und damit weltweit zunehmender menschenwürdiger Lebensverhältnisse wirksam werden. International agierende konservativ-neoliberale Kräfte in Wirtschaft, Politik, Militär und Medien führen erneut ursächlich soziale Spannungen und Konflikte herbei, zu deren »Lösung« sie schließlich einmal mehr ihre untauglichen und menschenverachtenden polizeilichen, militärischen und terroristischen Mittel aufbieten. Damit werden auch faschistischen, völkischnationalistischen und rassistischen Bewegungen und Herrschaftskonzepten neue Wirkungsmöglichkeiten eröffnet, nicht zuletzt - und wiederum protegiert von inter-
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essierten Oberschichten - in der Konkurrenz zu demokratischen und sozialistischen Gegenbewegungen und Alternativen. Gerade angesichts der weltweit von den »modernen« Gegnern des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit ausgehenden Gefährdungen sind solche Alternativen für das Überleben der Menschen, der Zivilisation und der Natur unverzichtbar. Dies gilt um so mehr, als die Bundesrepublik mit weiterhin unbewältigten Erbschaften der deutschen Rechten - in all ihren Richtungen und Fraktionen - und demzufolge mit erheblichen Altlasten in das neue Jahrhundert eintritt.
A nmerkungen 1 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt o. J., S. 147. 2 Ebenda, S. 161. 3 Hermann Rauschning: Die Revolution des Nihilismus. Neu hrsg. von G o l o Mann, Zürich 1964, S. 132. 4
Ebenda.
5 Ebenda, S. 140 f. 6 Sebastian Haffher: Germany. Jekyll & Hyde. 1939 - Deutschland von innen betrachtet. Deutsche Erstausgabe, Berlin 1996, S. 132. 7 Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre, Bern - München - Wien 1995, S. 1098. 8 Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Der schwierige Konservatismus. In ders. ( H r s g . ) : Rekonstruktion des Konservatismus, 2., unveränderte Auflage, Freiburg 1973, 20 f. 9 Karl Jaspers: Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1960, S. 60. 10 Ebenda, S. 61. 11 Ernst Nolte: Konservativismus und Nationalsozialismus. In: Konservativismus, hrsg. von Hans-Gerd Schumann, Köln 1974, S.244. 12
Ebenda.
13 Ebenda, S. 244 f. 14 Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, S.293. 15 Christoph Cobet: Deutschlands Erneuerung 1945-1950, Frankfurt a.M. 1985, unpag. (Handbuch der Geistesgeschichte in Deutschland nach Hitler 1945 - 1950. Reihe: Politik, Bd. 1). 16
Ebenda.
17 Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus, Frankfurt a.M. - New York 1989, S.168. 18 Wilhelm Ribhegge: Konservative Politik in Deutschland. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 205. 19 Günter Rohrmoser: Zäsur. Wandel des Bewußtseins, Stuttgart-Degerloch 1980, S. 26. 20 Ebenda, S.27. 21
Ebenda, S. 28.
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Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein, München 1990, S. 165.
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Antifaschistische Gedenkstätten im Spannungsfeld der Bundespolitik1
Wenn heutzutage von Gedenkstätten die Rede ist, ist ideologischer Streit leider nicht weit. Das hat einen einfachen Grund: Mit dem Thema sind in aller Regel und nicht zu Unrecht politische Grundaussagen zur deutschen Geschichte verbunden. Und je nachdem, wie diese gesehen wird, formen sich aus ihnen wesentliche politische Standpunkte zu vielen Fragen der heutigen Zeit. Nur zwei Beispiele:
Erstens: Eine Diskussion über den Umgang mit antifaschistischen Gedenkstätten im heutigen Deutschland führt auf sehr direktem Wege zur Diskussion über aktuelle Erscheinungen von Neonazismus, Rechtsradikalismus und Rassismus in diesem Lande. Denn zumindest für mich liegt es auf der Hand: Wer den Gedenkstätten für die Opfer von Faschismus und Krieg nicht den ihnen gebührenden Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung zukommen läßt, muß sich fragen lassen, was er aus dem unrühmlichsten Kapitel deutscher Geschichte gelernt hat. Oder ist es Zufall, daß es oft die gleichen Politiker sind, die einerseits dem Verfall von Gedenkstätten tatenlos gegenüberstehen und andererseits rechtsradikale und fremdenfeindliche Umtriebe verharmlosen?
Zweitens: Lehren aus der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts zu ziehen das bedeutet für mich selbstverständlich auch Anerkenntnis der deutschen Schuld am zweiten Weltkrieg. Auch dafür stehen ja die antifaschistischen Mahnmale. Und sie stehen damit auch für den Schwur der überlebenden Opfer des Hitler-Regimes und vieler anderer Menschen, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen soll. Wer aber wie die gegenwärtige Bundesregierung an einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien teilgenommen hat, tritt die Botschaft von Mahnmalen gegen Faschismus und Krieg mit Füßen. Deshalb ist die Frage, ob und wie wir uns der Geschichte erinnern, eine höchst politische und die Kultur des Erinnerns zu einem wesentlichen Feld der Auseinandersetzung - vergröbert ausgedrückt - zwischen dem linken und dem rechten Lager in Deutschland geworden. Der bundesdeutsche Staat hat sich mit dieser Erinnerungskultur - gelinde formuliert - stets sehr schwer getan. Er hat Nazi-Verbrechen verdrängt und verharmlost, sie
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relativiert und versucht, sie tot zu schweigen. Zur Strafverfolgung kam es meist erst nach erheblichem öffentlichen Druck, und auch dann waren die Urteile selten der Schwere der Verbrechen angemessen. Im Prinzip zeigten sich alle Bundesregierungen den Opfern weit weniger verbunden als den Tätern. Wehrmachtsgeneräle machten eine zweite Karriere in der Bundeswehr. Ein Schreibtischtäter in des Wortes wahrstem Sinne wie Hans Maria Globke konnte Staatssekretär in der Adenauer-Regierung werden und ein Blutrichter wie Hans Filbinger Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Es ist schon symptomatisch, daß der 8. Mai in der B R D nicht als Tag der Befreiung, sondern als Tag der Kapitulation verstanden wurde. Und noch eine Analogie aus der Geschichte der Bundesrepublik. Es bedurfte Mitte der sechziger Jahre erst eines gehörigen nationalen und internationalen Proteststurms, ehe sich die BRD-Gerichtsbarkeit dazu durchrang, Kriegsverbrechen aus der Nazi-Zeit nicht wie einen Mord gewöhnlicher Krimineller nach 20 Jahren verjähren zu lassen; von der dennoch zu verzeichnenden Praxis ganz zu schweigen. Auch dies verdeutlicht, daß sich der bundesdeutsche Staat keinesfalls zum Lehrmeister der D D R in Sachen Geschichtsverständnis aufspielen kann. So gesehen ist das stets zwiespältige Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu antifaschistischen Gedenkstätten kein Ausnahmefall, sondern es ordnet sich durchaus ins politische Gesamtbild ein. Seit Herstellung der deutschen Einheit arbeitet die Bundesregierung an einer sogenannten Gedenkstättenkonzeption. Priorität haben dabei nicht die Vorstellungen von Opfergruppen und ihren Verbänden, sondern es geht der Regierung auch hier um die Vermittlung ihres Geschichtsverständnisses. Das ist letztlich das Kriterium, ob öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt werden oder nicht, wieviel und wie lange Fördergelder fließen. Dies hat zur Folge, daß das Thema »Denkmäler und ihre gesellschaftliche Einordnung« von der Öffentlichkeit nicht in erster Linie als eine politische Debatte, sondern als fortwährendes Feilschen um Finanzen wahrgenommen wird. Die erste »Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der
Bundesrepublik Deutschland« wurde 1993 veröffentlicht. Sie zeigte bereits mehr als deutlich, worum es eigentlich gehen sollte, wurde in ihr doch ganz allgemein die Erhaltung von »Gedenkstätten für die Opfer totalitärer Diktaturen« (in Deutschland) als Ziel bezeichnet. Dies stellte eine faktische Gleichsetzung der sowjetischen Besatzungszone bzw. der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Hitler-Staat dar und war auch so gemeint: Sozialismus und »Nationalsozialismus« als zwei verwandte Varianten von Diktatur. Dies konnte und kann für uns nicht geistiges Anliegen und moralischer Auftrag sein. Um hier nicht mißverstanden zu werden: Es geht mir überhaupt nicht darum, Verfehlungen bzw. Verbrechen, die im Namen des Sozialismus begangen wurden,
Antifaschistische Gedenkstätten im Spannungsfeld der Bundespolitik?
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schön zu reden oder in irgendeiner Weise zu verharmlosen oder zu rechtfertigen. Ich erinnere daran, daß die S E D / P D S bereits auf ihrem außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 beschlossen hat, sich dafür einzusetzen, »daß den Opfern stalinisti-
scher Verbrechen ein bleibendes Gedenken in unserer Gesellschaft bewahrt wird«. Doch in ihnen irgend etwas Vergleichbares mit dem systematischen Terror und Mord unter Hitler zu sehen, entspricht weder der historischen Wahrheit noch hat es etwas mit seriöser Geschichtsaufarbeitung zu tun, sondern allenfalls mit finsterem politischen Kalkül. Es geht kurz gesagt um die Delegitimierung des antifaschistischen Grundcharakters des DDR-Staates. Unter dieser Maßgabe zu wirken, kann folglich unser Anspruch nicht sein. Unser Anliegen ist die tätige Pflege der Orte der faschistischen Mord- und Terrorherrschaft ebenso wie des antifaschistischen Widerstandes. Sie sollen im besten Sinne Mahnund Lernstätten sein, um einerseits die Opfer zu ehren und andererseits eine Wiederholung der Nazi-Barbarei für immer auszuschließen. Es wäre eine späte Verhöhnung der Nazi-Opfer, diese Gedenkstätten wie selbstverständlich in einem Atemzug mit Internierungslagern der S M A D oder Gefängnissen jedweder Art aus der DDR-Zeit zu nennen. Dies wäre weit mehr als ein sprachlicher Lapsus. Zwar kennen wir die gewollte und bewußte Gleichsetzung von NS-Verbrechen und sogenanntem SED-Unrecht seit der Wendezeit zur Genüge, und man kann leider nicht verhehlen, daß sie von vielen Menschen auf Grund ständiger Wiederholung in den Massenmedien kaum noch als Perfidität wahrgenommen wird. Dennoch bleibt es etwas Ungeheuerliches: der gewissermaßen doppelte Versuch der Geschichtsverfälschung. Denn er ist einerseits darauf angelegt, die Singularität der NS-Verbrechen in der deutschen wie der Weltgeschichte zu leugnen und sie zu relativieren; und er soll andererseits die D D R bzw. den Sozialismus als ganzes in die Nähe der Terrorherrschaft der Nazis rücken. In einem Bericht der Bundesregierung vom 23. Mai 1999 zum Thema wird von NaziDeutschland und der D D R also gesprochen von den »beiden Diktaturen, die die Feindschaft gegen Demokratie und Rechtsstaat verbunden hat«. Von dem, was sie trennte, ist weder hier noch an anderer Stelle die Rede. Diese mittlerweile stehende Wendung »der zwei deutschen Diktaturen« - von westdeutschen Politikern erdacht und als Sprachgebrauch für alle Gliederungen der staatstragenden Parteien und Organisationen vorgegeben - ist sinnfälliger Ausdruck dessen. »Hitler = Honecker« - das soll sich im Denken festsetzen. Auch in der Behördensprache wurde diese Deutungshoheit, wie sich aus mancherlei Papieren ersehen läßt, als verbindliche Sprachregelung verordnet. Es ist vor diesem Gremium sicherlich nicht notwendig, dies im einzelnen näher zu belegen, da hinlänglich bekannt.
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Wer nun gehofft hatte, die rot-grüne Bundesregierung könnte sich zu einer inhaltlich anderen, zumindest präziseren Gedenkstättendefinition verstehen als ihre schwarzgelbe Vorgängerin sieht sich allerdings eines schlechteren belehrt. In der mir gerade am vergangenen Freitag zugegangenen offiziellen Bundestags-Drucksache 14/1569 »Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung« (Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland) wird die faktische Gleichsetzung »beider deutscher Diktaturen« nicht nur wie selbstverständlich fortgeschrieben, sondern geradezu zementiert. Dafür einige Beispiele: Bereits im Eingangssatz der Konzeption ist von der »Pflege der Erinnerung an die NS-Terrorherrschaft und die SED-Diktatur sowie deren Opfer« die Rede. Diese sei nötig, um »das Bewußtsein für Freiheit, Recht und Demokratie und den antitotalitären Konsens in Deutschland« zu festigen. Eigentlich geht es aber um eine Neudefinition bzw. teilweise Umwidmung der in der D D R vorhandenen Gedenkstätten. Diese »Neukonzipierung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der D D R « gilt nun als abgeschlossen. Sie habe sein müssen, so der Bericht, weil »in der S B Z / D D R für die öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von Beginn an der kommunistische Antifaschismusbegriff verbindlich war«. Dokumentationen der Geschehnisse am authentischen Ort, das Gedenken an alle Opfer der NS-Diktatur seien zweitrangig, bisweilen sogar unerwünscht gewesen. Der Begriff Antifaschismus sei integraler, ja beherrschender Bestandteil im Kampf gegen den Imperialismus gewesen. Ich denke, jeder der Anwesenden kann sich selbst ein Urteil bilden, wo die DDRGedenkstätten Defizite hatten. Ein derart abschätziges Urteil wird ihnen meiner Ansicht jedoch keineswegs gerecht. Zumal dieses Urteil nicht von einstigen Opfern gefällt wird, sondern von Vertretern des bundesdeutschen Staates, dessen Defizite in dieser Frage hinlänglich bekannt sind. In der bereits zitierten Drucksache 14/1569 werden diese Defizite einmal erwähnt. Auf Seite 7 heißt es da: »Trotz der klaren Konsequenzen, die der Parlamentarische Rat mit dem Grundgesetz aus den Erfahrungen der NS-Diktatur zog und beachtlicher wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Auseinandersetzungen mit der NS-Diktatur erfuhren die authentischen Orte in den ersten Jahren der B R D wenig Aufmerksamkeit; deren Geschichte wurde eher vergessen, verdrängt und verleugnet als dokumentiert.« Daß dies aber zumindest auch etwas mit dem Selbstverständnis und der Politik des Staates, in diesem Falle des Adenauer-Staates zu tun gehabt haben könnte, wird im Gegensatz zu den Ausführungen über die D D R mit keinem Wort erwähnt. RotGrün setzt somit die zumindest sehr einseitige Geschichtsbetrachtung der KohlRegierung und sogar ihrer schwarzen Vorgängerinnen fort.
Antifaschistische Gedenkstätten im Spannungsfeld der Bundespolitik?
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Der Bericht stellt fest, daß sich viele Gedenkstätten auf dem Gebiet der ehemaligen D D R in einem »durchweg besorgniserregenden baulichen Zustand« befinden. Dies wird allein der D D R angelastet. Von etwaigen Versäumnissen in den neun Jahren seit Herstellung der deutschen Einheit ist nicht die Rede. Der Bericht der Bundesregierung beklagt allgemein eine zum großen Teil fehlende Dokumentation in den Gedenkstätten im Osten. Die Dokumentation, die man vorgefunden habe, sei gezeichnet von der »ideologischen Instrumentalisierung der Gedenkstätten durch die SED«. Nötig seien aber »eine unabhängige, pluralistische Gedenkstättenarbeit und die Überwindung des gespaltenen Geschichtsbewußteins im vereinten Deutschland«. Auch dies zielt in die Richtung, »beide deutsche Diktaturen« als zusammengehörig zu denken. In diesem Sinne ist auch die Anmerkung zur Gedenkstätte Sachsenhausen zu verstehen: »Wegen des fehlenden Forschungsvorlaufs zur Zeit der D D R besteht eine der größten Aufgaben in der grundlegenden Erforschung der zu vermittelnden Themen und Themenkomplexe als Voraussetzung von Ausstellungen, Publikationen und pädagogischer Tätigkeit. Insbesondere die Geschichte der sowjetischen Speziallager galt in der D D R als Tabu.« Daß letzteres in der D D R aus bekannten Gründen keine Darstellung fand und somit - selbstverständlich, möchte man sagen auch nicht inhaltlich mit der Geschichte des KZ verknüpft wurde, wird im Bericht der Bundesregierung als Gesamtmangel gekennzeichnet. Analog die Passage zu Ravensbrück. Da heißt es: »Auch in Ravensbrück ist die wissenschaftliche Untermauerung der inhaltlichen Arbeit zum größten Teil erst noch durch umfangreiche Forschungstätigkeit zu erbringen.« Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Ich denke, auch wenn der Versuch der Gleichsetzung von D D R und Nazi-Deutschland noch so massiv und scheinbar unabänderlich daherkommt, sollten wir uns nicht damit abfinden. Aus diesem Grunde hat die PDS in der vergangenen Woche eine entsprechende Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Anlaß ist eine auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald im Juni durchgeführte Tagung zur Gedenkstättenarbeit, von der wir durch einen Zeitungsartikel Kenntnis erhalten haben. Die Autoren - es handelt sich um ein Blatt des »Bundes der stalinistisch Verfolgten« - geben ihrer Genugtuung darüber Ausdruck, daß die Teilnehmer der Tagung, darunter Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, sich einig gewesen seien, künftig keine Unterschiede mehr zu machen zwischen »Opfern der Nazi-Diktatur und der kommunistischen Gewaltherrschaft«. Zusammen mit meinen Kolleginnen Ulla Jelpke und Petra Pau frage ich deshalb die Bundesregierung u. a.:
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- Trifft es zu, daß die Tagung der Vorbereitung einer Kabinettsvorlage für die Ausfuhrung der Beschlüsse des Bundestages ... zur Gedenkstättenarbeit diente? - Beabsichtigt die Bundesregierung vor einer Revision der Gedenkstättenkonzeption Stellungnahmen der NS-Opferverbände ... einzuholen? Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage werden wir der Öffentlichkeit zuleiten. 2 Unter welchen politischen Vorgaben der Bund Gedenkstätten fördern will, ist damit klar, auch wenn der erwähnte Bericht der Bundesregierung noch diese oder jene Korrektur erfahren wird. Ob dann tatsächlich im erforderlichen Umfang Gelder in den Erhalt oder den Neubau von Gedenkstätten fließen, ist damit aber noch nicht gesagt. Der Bund sagt ausdrücklich, er kann Gedenkstätten fördern, - wenn er eine nationale oder internationale Bedeutung anerkennt; - wenn ein seiner Meinung nach wissenschaftlich fundiertes Konzept vorliegt; - und - das vor allem - wenn sich das jeweilige Sitzland angemessen beteiligt. Konkret heißt es: »Voraussetzung ist in jedem Fall, daß sich Gemeinden, Städte, Kreise oder andere Körperschaften vor Ort und die jeweiligen Länder angemessen, d.h. in der Regel mit mindestens 50 Prozent, beteiligen.« Gerade im Osten dürfte dieser Vorbehalt ausschließlicher Kofinanzierung angesichts der hohen Verschuldung von Ländern und Kommunen und immer knapper werdender öffentlicher Kassen zu einer hohen praktischen Hürde für die Gedenkstättenarbeit werden. Politisch mißliebige Projekte können dabei leicht mit dem Verweis auf fehlende Mittel ausgehebelt werden. So werden politische Grundsatzfragen zu finanziellen. Oder anders gesagt: Der Kassenwart bestimmt die Politik. Darüber hinaus ist es mit den Versprechungen der Bundesregierung so eine Sache. Es heißt zwar in ihrem Bericht: »Die Bundesregierung bekennt sich zu ihrer Mitverantwortung, die sowjetischen Ehrenmale und Denkmale in Deutschland zu erhalten.« Wer sich die Ehrenmale aber heute ansieht, wird erhebliche Zweifel haben, ob es jemals gewollt war, diese Zusage einzuhalten. Selbst das größte und repräsentativste sowjetische Ehrenmal in Treptow befindet sich in einem äußerst jämmerlichen Zustand. Von den vielen kleineren Denkmalen im Lande ganz zu schweigen. Nicht selten ist die schlechte bauliche Verfassung sogar von Bürgermeistern zum willkommenen Anlaß genommen worden, sie unter Verweis auf Einsturzgefahr einfach abzureißen. Wir sollten alles tun, derartige Praktiken zu verhindern. Des weiteren müssen wir darauf dringen, daß auch bisher nicht in dem erforderlichen Maße geehrte Opfergruppen eine angemessene Würdigung finden, seien es die ermordeten Sinti und Roma, die Opfer der »Euthanasie«, die ermordeten Homosexuellen, die Zwangsste-
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rilisierten, Zeugen Jehovas, Wehrmachtsdeserteure und andere. Eine Hierarchisierung der Opfergruppen darf nicht zur Praxis werden. Es kann nicht nach politischer Opportunität entschieden werden, welche Nazi-Opfer wie zu ehren sind. Dies würde das Anliegen der Gedenkstättenarbeit insgesamt beschädigen. Um es klar zu sagen: Wir dürfen die tatsächlich vorhandenen finanziellen Nöte nahezu aller Kommunen und Kreise hierzulande nicht ignorieren. Aber es muß deshalb um so mehr unsere Aufgabe sein, mit sachgerechten Argumenten unser Anliegen zu vertreten. Wir haben eine historische Verpflichtung mit der Gedenkstättenarbeit, die die deutsche Vergangenheit uns auferlegt. Das schulden wir den Opfern ebenso wie uns selbst. Denn ohne einen wahrhaftigen Umgang mit unserer Vergangenheit setzen wir auch unsere Zukunft und die unserer Kinder aufs Spiel. Dafür brauchen wir ein möglichst breites Bündnis, sollten um der Sache willen ideologisch oder politisch Trennendes in anderen Fragen nicht zum Kriterium für eine Zusammenarbeit in der Gedenkstättenfrage werden lassen und besonders die Arbeit mit jungen Leuten fortsetzen. Deren Interesse und Bewußtsein zu wecken bzw. wachzuhalten ist wohl die wichtigste geistige Investition in die Zukunft, die wir leisten können.
A nmerkungen 1
Der vorliegende Beitrag beruht auf einer Rede, die der Vf. am 29.9.1999 in einer Vorstandssitzung des Interessenverbandes ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener e.V. ( I W d N ) gehalten hat.
2
Siehe die »Antwort der Bunderegierung ...« im Anhang zum vorliegenden Beitrag.
Heinrich Fink
A nhang
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Jouko
Jokisalo
Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien Die extreme Rechte als neue Friedensbewegung?
»Kein deutsches Blut für fremde Interessen - Schluß mit der imperialistischen NATOIntervention auf dem Balkan! Aus aktuellem Anlaß fordert die N P D alle Soldaten und Beamten auf, ihrem Amtseid auf das Grundgesetz treu zu bleiben und den Dienst für den Angriffskrieg in Jugoslawien zu verweigern!« 1 Diese Parolen vertrat die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) in ihrer Presseerklärung während des Kosovo-Krieges. Unterschiedliche Gruppen der extremen Rechte von den rechtsradikalen Republikanern bis zu den neofaschistischen Gruppen verurteilten fast einheitlich die Kriegspolitik der N A T O in Kosovo als »Angriffskrieg« und lehnten mehrheitlich die Beteiligung der Bundeswehr am Angriff auf Jugoslawien a b . 2 Während die Vertreter des Rechtsradikalismus und des Neofaschismus als »Friedensengel« auftraten, verkündete der - früher für seinen Pazifismus bekannte - jetzige Außenminister Joschka Fischer die These, Deutschland trage eine besondere Verantwortung und müsse sich am NATO-Krieg auf dem Balkan beteiligen, weil es gelte, »das zweite Auschwitz« zu verhindern. 3 Der Kosovo-Krieg brachte die normale politische Bühne vollständig durcheinander. Zahlreiche Linke und ehemalige Pazifisten im Umfeld der rotgrünen Regierung formierten sich zur NATO-Avantgarde. Gleichzeitig versuchten Vertreter der Neuen Rechten und des Neofaschismus, als neue Avantgarde der neuen Friedendsbewegung aufzutreten. 4 Die entstandene Situation verursachte enorme ideologische und politische Schwierigkeiten für das Handeln der Kriegsgegner im allgemeinen und für das der Linken insbesondere. Als Problem ergab sich daraus, wie die Friedensbewegung den demagogischen Charakter der rechtsextremen »Friedens«-Parolen entlarven konnte. In der S P D wurde - auf der Grundlage der Totalitarismustheorie - teilweise die Antikriegslinie der PDS mit den Losungen der rechtsextremen Parteien N P D und DVU gleichgesetzt. Es wurde behauptet, daß linker und rechter Extremismus wieder gemeinsam gegen die demokratische Mitte kämpfen würden. 5 Die überwiegende Mehrheit der extremen Rechten in Deutschland ging davon aus, daß der Kosovo-Krieg trotz allem für sie eine günstigere gesellschaftliche, politische und geistige Atmosphäre erzeugt habe. Die Auswirkungen des Krieges wurden von den extremen Rechten als hervorragende Gelegenheit angesehen, in die Reihen
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der Linken und der Friedensbewegung einzubrechen. Es hieß: »Eine ganze Generation linker Traumtänzer und Friedenskämpfer sieht sich mißbraucht«, oder: »... der Traum von der >anderen Republik< ist ausgeträumt«. Diese Einschätzung stammt von Karl Richter, einem der führenden Theoretiker der deutschen extremen Rechte. Seiner Meinung nach habe sich »der ganze hochhehre Pazifismus der deutschen Linken ... als Seifenblase erwiesen«. Noch zugespitzter formulierte er: »... am 24. März 1999 hat sich die deutsche Linke ultimativ selbst auf den Müllhaufen der Geschichte befördert«. 6 Die jungkonservative Wochenzeitung »Junge Freiheit« 7 , die in rechtsextremen Kreisen »aufgrund ihrer >Eisbrecherfunktion für die gesamte konservative und nationale Publizistik der BRD« geschätzt« 8 wird, prophezeite auch das endgültige Ende des grünen Pazifismus: »Die Grünroten ... sind vor ihrer eigenen Ideologie bis auf die Knochen blamiert. Sie haben sich ... als besonders heuchlerische Politikmacher zu erkennen gegeben ... Kein idealistisch gestimmter Jungwähler wird diese Leute jemals wieder >aus Prinzip< ankreuzen«. 9 Das so entstandene politische Vakuum wurde als ausgezeichenete Möglichkeit für einen rechten Einbruch in die Mitte der sich betrogen fühlenden Anhänger der rotgrünen Regierung wahrgenommen.
Kampf um
Europa
»Der Angriff unter Führung der USA ist ein politischer Bankrott Europas«, verkündete die »Junge Freiheit« im April 1999. 1 0 Wichtige Grundlagen der rechtsextremen Antikriegsargumentation bildeten der Antiamerikanismus 1 1 und ihre Europa-Konzeption. Die Kriegsgegnerschaft der extremen Rechte entstand nicht aus prinzipiellem Pazifismus. Der Krieg sollte als innere Angelegenheit der Europäer betrachtet werden und unter der Führung der Deutschen und Franzosen, d.h. ohne die Vereinigten Staaten geführt werden, wie Manfred R o u h s 1 2 , einer der Ideologen der extremen Rechte, zum Ausdruck brachte. 1 3 Der Kosovo-Krieg wurde von den extremen Rechten vor allem kritisiert, weil nach ihrer Auffassung Europa und vor allem Deutschland sich dadurch »zu Vasallen der U S A ohne Lohn« 1 4 machen würden. Der Krieg wurde erstens als Streben der U S A nach einer hegemonialen Weltmacht angesehen. 1 5 Eines der wichtigsten Ziele der amerikanischen Strategie bestünde in der »Beherrschung und Kontrolle Europas durch die Vereinigten Staaten von Amerika«. 1 6 Nach Auffassung rechtsextremer Ideologen strebten die U S A zweitens mit dem Kosovo-Krieg vor allem nach der »Niederhaltung von neuen Herausforderern insbesondere im eurasischen Großraum«. 1 7 Es sollte die Entstehung eines starken Europas verhindert werden, wie auch der Golf-
Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien
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krieg dazu gedient habe, »eine antiamerikanische, arabische Großraumbildung zu verhindern«. 1 8 Der Begründer und führende Theoriker der Neuen Rechte, Alain de Benoist, hatte bereits Ende der 70er Jahre in seinem Hauptwerk »Vu de droite. Anthologie des idée contemporaines« festgestellt: »Zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gibt es auf lange Sicht keine gemeinsamen Interessen«. 19 Seiner Meinung nach seien die größten Gefahren, die Europa drohen, »der Austritt aus der Geschichte« und die Verwandlung in »das Objekt der Geschichte der anderen« 2 0 , wenn nicht ein von den USA unabhängiges Europa entstehe würde. Das Ziel des europäischen Rechtsradikalismus ist die Bildung eines einheitlichen europäischen Machtblocks, dessen Kern eine deutsch-französische Achse bilden soll. Die extreme Rechte ging davon aus, daß der Kosovo-Krieg die geostrategischen Positionen der USA in Europa wesentlich verstärkt hätte. So bedeutete der Kosovo-Krieg ein Schlag gegen die ureigenen Interessen E u r o p a s 2 1 . Im Kosovo ginge es den U S A darum, »politische und religiöse Antagonismen zu schüren, die zu Zeitbomben im Herzen des europäischen Integrationsprozesses werden«. Gleichzeitig konnte, so Alain de Benoist, die USA so der Europäischen Union beweisen, »daß sie als einzige in der Lage sind, die Konflikte auf europäischem Territorium zu lösen«. 2 2 Nach Auffassung des ehmaligen Aktivisten der 68er Generation und jetzigem Ideologen des deutschen Rechtsextremismus, Günther Maschke, sei eine der entscheidenden Fragen für die Stellungnahme zu diesem Krieg, ob dadurch »eine europäische Einigung Europas oder eine amerikanische Einigung Europas« gefördert werde. 2 3 Andere rechtsextreme Ideologen meinten, der Kosovo-Krieg habe gezeigt, daß »die tragenden Länder der EU ... unfähig (waren), und nicht willens, eine eigenständige Initiative zur Stabilisierung des Balkans als europäische Angelegenheit zu organisieren«. 2 4 Der Staat als maßgebende politische Einheit sei aber ihrer Meinung nach erst dann selbstbewußt und souverän, »wenn die Entscheidung über den Ausnahmefall bei ihm liegt« und er selbst seine Feinde »kraft eigener Entscheidung« bestimmen und bekämpfen könne. Der souveräne Staat soll über die Frage nach Krieg und Frieden entscheiden können und »damit über das Leben von Menschen verfügen«. 2 5 Als Lehre von Rambouillet habe sich aber deutlich gezeigt, daß »von europäischen Interessen ... in der entscheidenden Phase der Verhandlungen längst keine Rede mehr« gewesen sei. Die Verhandlungenen von Rambouillet hätten die politische Tatsache entlarvt, daß »die EU ... ein politischer Torso« sei, »der für die Amerikaner keine Rolle spielt«. 2 6 In der Zeitung »Junge Freiheit« wurde unter Berufung auf Carl Schmitt festgestellt, daß Europas Kurs auf Unterstützung der U S A zu einer ewigen Abhängigkeit führe, denn »der Schutzherr bestimmt dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam«. 2 7
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Die Hauptlehre des Kosovo-Krieges sei nach den Ideologen des deutschen Rechtsextremismus mit dem Kampf um die Unabhängigkeit Europas verknüpft. Deren Voraussetzung bestünde in der Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs, um »ein europäisches Gleichgewicht zur angloamerikanischen Dominanz« in der »westlichen Wertegemeinschaft« bilden zu können. 2 8 Der Chefredakteur der »Jungen Freiheit«, Dieter Stein, stellte fest, daß aus dem Balkan-Krieg für Europa und Deutschland eine konkrete Aufgabe abzuleiten sein würde: »Deutschland und Europa politisch handlungssfähig zu machen« und »sich von der militärischen Selbstkastration zu verabschieden«. Die Konsequenz sei seiner Meinung nach die Forderung, Deutschland müsse »Nuklearmacht werden«. 2 9 Der Kosovo-Krieg verstärkte innerhalb des europäischen Rechtsradikalismus die Meinung, daß die Bildung des europäischen Machtblock einen europäischen Nationalismus und die Verhinderung innereuropäischer Krieg voraussetze. 3 0 Diese Ansichten bildeten auch den zentralen und realen Grund des Antikriegskurses der extremen Rechte.
Der Balkan-Krieg,
Rußland und der Großraum
Europa
Einer der zentralen Ausgangspunkte des deutschen Rechtsradikalismus ist die Ansicht, daß Rußland ein Teil des entstehenden europäischen Machtblocks sei. Demnach bildet eine deutsch-russische Annährung dessen Grundstein. Deutschlands Rolle müsse darin bestehen, die Dialektik des Ost-West-Verhältnisses zu verstärken. 3 1 In der Mitte des deutschen Rechstradikalismus lebt der Wunsch, »daß Rußland als erstes europäisches Land nationalistisch regiert« werde. Dies könne in West-Europa auch den Aufstieg des Rechtsextremismus ankurbeln. 3 2 Ideologen des Rechtsradikalismus haben es als Negativum des Kosovo-Krieges angesehen, daß Deutschland mit Rußland aneinandergeraten war. Die Vereinigten Staaten hätten so die Annährung dieser Staaten verhindern und - so Horst Mahler - ihr zweites wesentliches Ziel im Rahmen des Balkan-Krieges erreichen können: Die USA »haben Deutschland in einen Krieg gegen einen traditionellen Freund Rußlands verwickelt und damit die dringend erforderliche, aber von den USA gefürchtete Annährung dieser beiden Mächte für die absehbare Zukunft blockiert«. 3 3 In dem rechtsextremen Magazin »Opposition« beschrieb Dr. Felix Buck, der Mitbegründer des Europäischen Instituts für Sicherheitsfragen in Luxemburg, den Balkan-Krieg als einen Bestandteil der amerikanischen Globalstrategie. Seiner Meinung nach konnten die Vereinigten Staaten den Gedanken über ein unabhängiges, selbstbewußtes und starkes Europa nicht ertragen. Das Ziel der USA sei vor allem die Schaffung eines von den Vereinigten Staaten abhängiges Europas im Rahmen eines
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transatlantischen Sicherheitsraumes. »Eine ureigentliche Aufgabe der Europäer« sei es nach Buck daher, »die Entscheidungs- und Gestaltungsffeiheit zurückzugewinnen«. 3 4 Dies könne aber nur das selbstbewußte Deutschland im Bündnis mit Rußland erreichen. Wenn Deutschland das Trojanische Pferd der USA im Herzen Europas bleibe, sei die einzige Möglichkeit Rußlands die Zusammenarbeit mit Indien und China. Somit würden aber die Europäer und insbesonders die Deutschen ewige Vasallen der USA, in deren »Feldzügen zur Eindämmung des von den Chinesen dominierten Blocks China/Rußland/Indien«. Die Deutschen wären in diesen Kriegen »das bevorzugte Kanonenfutter«. 3 5 Das Ziel müsse aber der »Aufbruch des Europas der Vaterländer« vom Atlantik »bis hinüber nach Wladiwostok« sein. 3 6
Kosovo
und die Politik des 21. Jahrhunderts
Der Chefredakteur der »Jungen Freiheit«, Dieter Stein, verkündete: »Politik hat in der letzten Konsequenz eben doch immer mit Krieg, Blutvergießen, dem möglichen Einsatz militärischer Gewalt zu t u n « 3 7 , so den hohen Stellenwert des Krieges im Weltbild der extremen Rechte konstatierend. Auch der ehemalige Linksradikale Horst Mahler hob auf dem Parteitag der N P D im April 1999, während des Balkan-Krieges, die Rolle des Krieges in der Zeit der Nuklearwaffen hervor: »Ungeachtet der verfügbaren Massenvernichtungsmittel ist auch in der zweiten Hälfte der 20. Jahrhunderts der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln geblieben«. 3 8 Es nimmt nicht wunder, daß sowohl von den Ideologen des Rechtsextremismus als auch des Neofaschismus die Auswirkungen des Kosovo-Krieges auf die bundesdeutsche Gesellschaft als ein Gesundungsprozeß angesehen werden. Europa und vor allem Deutschland seien durch den Krieg gezwungen worden, »aus den deutschen Nachkriegsträumen des Fundamental-Pazifismus endlich auf den Boden der historisch-politischen Realitäten und Erfahrungen zurückzukehren«, so freute sich Professor Dr. Klaus Hornung, der an der Universität Stuttgart-Hohenheim Politikwissenschaft lehrt. Für ihn sieht sich »das deutsche politische Establishment... aus Selbsterhaltungstrieb außerstande, dem Ernst des Ernstfalles gerecht zu werden«. Die westliche Wohlstandgesellschaft sei aus dem »Schlaf« des Pazifismus in die Wirklichkeit des Lebenskampfes erwacht, in dem »einem Blut, Schweiß und Tränen« nicht erspart bleiben«. 3 9 Konkreter argumentierte Günther Zehm unter dem Pseudonym Pankraz unmittelbar nach dem Beginn des Krieges: »Im übrigen kann es keinem deutschen Soldaten schaden, beim militärischen Einsatz endlich wieder einmal dem Ernstfall zu begegnen, also nicht nur zu simulieren ... Das Leben ist nun mal ein Ernstfall ... bis
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hin zu der Frage, wofür man es, das Leben, eventuell mutig einsetzen muß«. 4 0 In der ältesten rechtsextremen Zeitschrift der B R D »Nation&Europa« wurde im April 1999 die positive Bedeutung des Krieges für die Bundeswehr betont, denn »eine Armee braucht gelegentlich kleine Kampfaufträge, um in Form und auf dem neuesten technischen Stand zu bleiben«. Nach der Meinung des Autors sterben deutsche Soldaten nicht »nur vordergründig für die Interessen des One-World-Imperiums« auf dem Balkan, sondern vor allem diene »ihr Tod dem Erhalt der Schlagkraft der deutschen Armee und ist somit auch ein Opfer für Deutschland«. 4 1 Der Kosovo-Krieg wurde also von den Ideologen der extremen Rechte als Gegengift zu der seit 1945 erfolgten »Umerziehung der Deutschen« und als Mittel zur Förderung des Gedankens einer selbstbewußten Nation gesehen. Mit diesem Krieg gäbe es »solche Kollektiverfahrungen«, dank derer sich die Deutschen »Schritt über Schritt zu einer normalen Nation entwickeln« könnten. Die »Neurose von 1945« sei endgültig zu überwinden, wenn sie »Vorreiter eines neuen europäischen Selbstbewußtseins« würden. 4 2 Schließlich wurde der Krieg auch als ein positiver Beitrag zur Überwindung des »Auschwitz-Syndroms« betrachtet. Der Balkan-Krieg ermöglichte der extremen Rechte zu behaupten, daß sich die neue Berliner Republik endgültig von der Last des Nationalsozialismus befreien könne. Die Präsenz der Bundeswehrsoldaten auf dem Balkan gilt der »Jungen Freiheit« als Start in »eine neue Ära« und »ungewohnte Normalität«, die psychologisch die endgültige Verkehrung der Fronten markiert. Denn der Krieg bedeute den »entscheidende(n) Qualitätssprung bei der militärischen Rolle des vereinigten Deutschlands«. 4 3 Durch den Krieg sei die Mentalität des gesellschaftlichen Bewußtseins in eine solche Richtung verändert worden, daß dies eine gute ideologische Grundlage für den Aufbau eines selbstbewußten und starken deutschen Nationalstaates bieten würde. Ferner wurde von den Ideologen der extremen Rechte betont, daß der Krieg zu einer wesentlichen Schwächung der Friedensbewegung und zu einer Verstärkung des Images der Bundeswehr unter der deutschen Bevölkerung geführt habe. Nie zuvor habe es seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland »eine derartige Begeisterung für das eigene Militär gegeben wie in diesen Tagen« frohlockte die »Junge Freiheit« und erklärte: »Noch vor gar nicht allzu langer Zeit sahen sich die Bundeswehrrekruten dem linken Generalvorwurf, Mörder zu sein, ausgesetzt, jetzt werden sie von der Boulevardpresse als Sieger und Friedensengel bejubelt«. 4 4 Der Hintergrund dieser Entwicklung sei, daß erstmals seit 1871 Deutschland wieder an einem »Krieg mit positivem Ausgang« partizipiere. Und damit sei im Grunde das Jahr 1945, der »Zusammenbruch, den dieses Datum bezeichnet, aktiv bewältigt«. Insofern, so wurde zusammengefaßt gesagt, hätten »die Bomben auf Belgrad auch ihr Gutes«. 4 5 Das
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sich formierende selbstbewußte Deutschland sei nunmehr fähig, gemeinsam mit Frankreich ein vitaler Partner der neuen europäischen Weltmacht zu sein. Der Kosovo-Krieg markiere den Beginn für eine Herausbildung Deutschlands als »natürlicher Hegemonialstaat in Mitteleuropa«. 4 6 Der Balkan-Krieg, so äußerten sich die Kreise um die »Junge Freiheit«, habe die Richtigkeit des Politik-Begriffs von Carl Schmitt gezeigt. Klaus Hornung schrieb: »Josef Fischer und die Seinen fühlten sich über die Lehren eines Carl von Clausewitz oder ... Carl Schmitt himmelhoch erhoben. N u n müssen sie alte historisch-politische Wahrheiten erst wieder mühsam buchstabieren lernen«. 4 7 Nach Schmitt sei der Kern der Politik, gegebenenfalls kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen. Die Welt ohne den K a m p f sei die pazifizierte Welt ohne Politik, wie Schmitt festgestellt hatte. Der Kosovo-Krieg wurde sowohl von den Ideologen des Rechtsradikalismus als auch des Neofaschismus mehrheitlich als ideales Ereignis bewertet, in dem die Europäer im »Ernst der geschichtlichen Existenz« wachsen können, denn das 21. Jahrhundert werde »nicht nur gemütlich« werden. 4 8 Die Europäer und vor allem die Deutschen müßten sich also auf den »Ernstfall«, den sie verlernt hätten, zu orientieren.
Die multikulturelle
Gesellschaft
und die
ethnische
Säuberung
Die multikulturelle Gesellschaft erscheint im Weltbild der extremen Rechte als eine Hauptgefahr zukünftiger Entwicklung. Sie führe zu einer Degenaration der Kulturen und zu dem Verschwinden der kulturellen Vielfalt, die für die Menschheit lebenswichtig sei. Letzten Endes bestünde das Resultat dieser Entwicklung in »Völkermord« und »Chaos«. 4 9 Die Kriege während der 90er Jahre in Jugoslawien würden die Richtigkeit ihrer Theorie konkret bestätigen. »Wie in jeder multikulturellen Gesellschaft gilt auch im Kosovo: >Es kann nur Einen geben.< Kurden oder Türken: Hutus oder Tutsis; Kroaten, Albaner oder Serben; Deutsche oder Ausländer; Ureinwohner oder Zuwanderer«, ist im Thule-Netz, dessen Initiatoren sich den Ideen der >Neuen Rechte< besonders zu fühlen behaupten, zu lesen. 5 0 Die Ursachen der Konflikte auf dem Balkan werden in der kulturellen und religiösen Vielfalt der Bevölkerung gesehen. Das Verhalten der extremen Rechte zu der Tätigkeit der albanischen U C K und zu der ethnischen Säuberung der Albaner während des Krieges ist zwiespältig. Einerseits - nach der Theorie des Ethnopluralismus 5 1 , in der jedem Volk das gleiche Recht und der gleiche Anspruch auf seine nationale und kulturelle Identität zugestanden wird hätte die Kampftätigkeit der U C K von den extremen Rechten als berechtigt betrach-
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tet werden müssen. Diese Linie vertritt z.B. Manfred Rouhs. Er schrieb: »In der Auseinandersetzung mit Serbien sind die Albanier im Recht. Die Befreiungsnationalisten der U C K fordern die Vereinigung ihrer Heimat mit dem albanischen Mutterland, die ihnen Milosevic verweigert ... Insoweit ist der Krieg der Nato gegen Serbien ein gerechter Krieg, auch, wenn die Unabhängigkeit der Albaner nicht Bestandteil der Nato-Zielsetzung ist. Denn die Nato wird die Geister nicht mehr loswerden, die sie angerufen hat.« Eine andere Linie vertrat z.B. das »Nationale Info-Telefon« (NIT), das unter Leitung des ehemaligen FAP-Kaders André Goertz in Hamburg betrieben wird. Für die Gruppe hinter dem N I T war die albanische U C K »eine bewaffnete Separatistenorganisation, die versucht, Staatsgebiete Jugoslawiens abzutrennen und unter eigene Verwaltung zu stellen«. 5 2 Bei dieser Fraktion der extremen Rechte gilt das Primat des Rechtes auf staatliche Integrität im Verbund mit dem Hinweis auf die nicht funktionierende multikulturelle Gesellschaft. Aus der rassistischen Fremdenfeindlichkeit und der multikulturellen Gesellschaft würden die Schreckensszenario wachsen, in der bestimmte ethnische nicht-europäische Gruppen in der Zukunft ihre Rechte ähnlich zu fordern beginnen würden. Diese Ängste der extremen Rechte hat der FN-Bürgermeister von Toulon wie folgt ausgedrückt: »In absehbarer Zeit werden die Afrikaner die Mehrheit in Marseille haben, und sie denken gar nicht daran, sich in unsere Republik einzufügen und ihre archaischen Bräuche aufzugeben. Sie werden Autonomie fordern, und wenn wir sie ihnen nicht geben, was dann? Wird uns dann die Nato bomben, wie sie jetzt die Serben bombt?« 5 3 Ähnlich wurde im N I T formuliert: »Was ist, wenn morgen die eingewanderten Türken in Berlin-Kreuzberg ein autonomes Gebiet ausrufen und mit Waffengewalt vollendete Tatsachen schaffen wollen? Sollen wir dann auch UN-Truppen und andere fremde Heere als >friedenssichernde Maßnahme< zulassen?« 5 4 Demgegenüber herrscht innerhalb der extremen Rechte eine einheitliche Auffassung darüber, daß und wie die Lage der albanischen Flüchtlingen für die revanchistische Propaganda auszunutzen ist. Die Lage der albanischen Flüchtlingen wurde mit der der deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen. Alain de Benoist schrieb: »Was die ethnischen Säuberungen« betrifft, unter denen heute die Kosovo-Albaner und gestern die Serben in Bosnien litten, so macht sich auch hier ein Gesinnungswandel bemerkbar. Daß man sich darüber empört, ist gut, wenn eine solche Empörung auch relativ neu ist: die >ethnische Säuberung von 15 Millionen deutschen Flüchtlingen aus dem Sudetenland und den Ostgebieten« ... verursachen im Rückblick keinerlei Betroffenheit.« 5 5 In dieser Hinsicht können sich rechtsextreme Ideologen durchaus auf solche Aussagen stützen, wie sie die bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Stramm, auf dem Schlesiertreffen 1999 traf: »Die furchtbaren Ereignisse im Kosovo vor Augen, sprechen jetzt auch bei
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uns diejenigen von der Vertreibung als einem >unglaublichen< Verbrechen, die ähnliche Einsicht Ihnen, den eigenen Landsleuten, kaum zugestanden haben. Wie kann man die berechtigten Anliegen der deutschen Heimatvertriebenen als >absurd< und >anachronistisch< abtun und für vergleichbare Belange der geschundenen Menschen im Kosovo mit innerer Überzeugung Krieg führen?« 5 6
Der Kosovo-Krieg schuf wesentlich günstigere Bestätigungsbedingungen für die extreme Rechte. Einerseits können deren Ideologen ihre Agitation auf die durch den Krieg steigende militaristische Mentalität in der Gesellschaft stützen. 5 7 Politische Koordinaten sind verschoben und manche Tabus sind durch den Krieg gebrochen worden. »Der Gesinnungspazifismus, der in der späten Bundesrepublik wie auch im vereinten Deutschland ... die Gesellschaft beherrschte, ist erledigt«, so lautete daher die Einschätzung von Karlheinz Weißman über die geistige Auswirkung des Krieges. Er gilt als einer der führenden Strategen jener Kreise, die zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus anzusiedeln sind. Weißmann schreibt weiter, daß »längst die Diskussionen über Bundeswehreinsätze im Rahmen von >friedenserhaltenden< oder >friedensschaffenden< Einsätzen vergessen (sind). Es gibt schon Linke, die die diskutierende ... Zivilgesellschaft< unerträglich finden: Der Ernstfall ist eingetreten und hat dem ewigen Gerede ein Ende gemacht«. 5 8 Die Ideologen der extremen Rechte sehen, daß der Kosovo-Krieg neue Spielräume mit sehr unterschiedlichen Stoßrichtungen schuf. Einerseits verurteilten sie die Kriegspolitik der N A T O als »Angriffskrieg« und bekämpften den »Amerikanismus«. Andererseits hoben sie die positive Bedeutung dieses Krieges für die Bundeswehr hervor und sahen den Kosovo-Krieg als einen wesentlichen Befreiungsakt v o m sogenannten Auschwitz-Syndrom. Der Balkan-Konflikt bot und bietet ihrer Meinung nach einen realen Beweis für die Unmöglichkeit einer multikulturellen Gesellschaft. Ihre fremdenfeindliche Propaganda konnte teilweise Gehör unter der deutschen Bevölkerung finden, weil der Krieg in den Reden führender Politiker sowie in den Medien ohne historisch-konkrete Analyse auf ethnische Wurzeln reduziert worden ist. Vor allem gingen sie davon aus, daß dieser Krieg linker Friedenspolitik dauerhaft Schaden zuzufügen vermochte. Darin sahen sie eine Möglichkeit, in ein ideologisches Vakuum der Friedensbewegung und rot-grüner Kreise einzudringen. Die Botschaft jener rechtsextremen Ideologen, die getarnt als neue »Friedensengel« auftreten, hat mit prinzipieller Gegnerschaft zum Krieg nichts zu tun. Sie enthält stattdessen aggressives Denken in Kategorien des Krieges und läßt den Versuch erkennen, in mehreren Richtungen neues Terrain für künftige politische Auseinandersetzungen zu gewinnen.
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A nmerkungen 1 Zit. nach Jean Cremet: Friedensengel im Braunhemd. Die extreme Rechte und der Krieg gegen Jugoslawien. In: Analyse&Kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 426, 14.5.1999 (künftig: Cremet, Friedensengel). Dazu siehe auch Jean Cremet: Die extreme Rechte auf der Suche nach neuen ideologischen Ansätzen. Positionen und Polemik (Schriftenreihe des Jenaer Forums für Bildung und Wissenschaft e.V., H. 41), Jena 1999. 2 Siehe die NPD-Presseerklärung v o m 25.3.1999 (htpp://npd.net/npd-pv/Presse/pr-2503l.html); siehe für die Deutsche Volksunion (DVU): Nationalzeitung 16/1999; für die Republikaner: (http://www.rep.de/kosovol.htm), für die neufaschistische Gruppe Vereinigte Rechte: Die Irren und die » N e u e 666-Weltordnung« ( h t t p : / / a b b c . c o m / n j / d 9 9 / w e l t k r i e g 3 / dieirren.htm): Zur Position der Neuen Rechte vgl. Alain de Benoist Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Edition Junge Freiheit, Berlin 1999, 117132 (künftig: Benoist 1999) 3 Vgl. T h o m a s Darnstädt/Erich Follarth: Krieg für das gute Gewissen. In: Der Spiegel 17/ 1999 (künftig: Darnstädt/Follarth 1999); Tjark Kunstreich: Geschichte als Gleichung. J o seph Fischer beruft sich lässig auf den Schwur »Nie wieder Auschwitz«. Die Überlebenden der Shoah sind in ihrer Haftung zum Krieg gespalten. In: Jungle World vom 21.4.1999 (künftig: Kunstreich 1999). In einem offenen Brief an Fischer protestierten HolocaustÜberlebende »gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge«. 4 Vgl. z.B. Bernhard Schmid: Die extreme Rechte als »Friedensbewegung«: In: Analyse&Kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 426, 14.05.1999 (künftig: Schmidt 1999) 5 Vgl. Klaus Harpprecht: Erst recht seit dem Kosovo-Krieg. Keine Bündnisse mit Gysis Truppe. In: Die neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, Nr. 6/1999, 549 f (künftig: Harpprecht 1999) 6 Karl Richter: S P D und Grüne im Krieg. Die überflüssige Linke. In: Nation&Europa. Deutsche Monatshefte. Entnommen aus den www-Seiten http://www.nationeuropa.de/text2.htm, 01.06.1999 (künftig: Richter 1999) 7 Vgl. Helmut Kellershohn (Hg.): Das Plagiat. Der Völkische Nationalismus der Jungen Freiheit, DISS, Duisburg, 1994, 7 (künftig Kellershohn 1994) 8 Junge Freiheit. In: Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Hg. von Jens Mecklenburg, Berlin 1996, 415. 9 Pankraz: Die Arnauten und das Kosovo auf der Reeperbahn. In: Junge Freiheit, Nr. 14/1999, 2.4.1999. Hinter dem Pseudonym Pankraz steckt Prof. Günther Zehm (künftig: Pankraz 1999) 10 Michael Wiesberg/Dieter Stein: Ein Krieg um Europa. In: Junge Freiheit, Nr. 14/1999, 2.4.1999 (künftig Wiesberg/Stein 1999) 11 Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus wurde »die US-Hegemonie« als Hauptfeind der Neuen Rechte proklamiert. Siehe Alain de Benoist: Amerika vergessen! Das Land, aus dem die Träume sind. In: Deutschland in Geschichte und Gegenwart, Nr. 1/1992, März 1992, 40 Jg. (künftig Benoist 1992) 12 Rouhs orientiert sich an der »Neuen Rechten« und bemüht sich um die Bildung einer vereinigten Rechte, die das gesamte rechtsextreme Spektrum umfassen soll. 13 Vgl. Manfred Rouhs: Balkan. Warum führte die N A T O Krieg? In: Signal. Patriotische Zeitschrift. Entnommen aus den www-Seiten: http://signal-onlinede/ausland.htm, 1.6.1999 (künftig Rouhs 1999) 14 Günter Maschke: Die Deutschen werden zu Vasallen der USA ohne Lohn. In: Junge Freiheit, Nr. 14/1999, 2.4.1999 (künftig: Maschke 1999); ähnlich auch Wiesberg/Stein 1999;
Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien
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siehe ferner Andreas Mölzer: Keine Vasallen!. Europa: für eine eigenständige Sicherheitspolitik. In: J u n g e Freiheit, Nr. 24/99, 11.6.1999. 15 Vgl. Buck, Felix (Mitbegründer des Europäischen Instituts für Sicherheitsfragen in Luxemburg(1999): Das Kosovo und die amerikanische Globalstrategie. Der jugoslawische Störfäktor, Opposition Magazin für Deutschland, 2. J g , Heft 3/1999, 22-24.; Mechtersheimer Alfred (1999): Politik des K r i e g e s j u n g e Freiheit Nr. 14/1999, 02.04.1999. 16 Maschke 1999. 17 Weisberg/Stein 1999. 18 Maschke 1999. 19 Alain de Benoist: Aus rechter Sicht. Eine kritische Anthologie zeitgenössischer Ideen, Tübingen/Buenos Aires/Montevideo, Bd. I, Tübingen 1983, S. 9 (künftig: Benoist 1983). Das Werk von Benoist, das in Frankreich bereits 1977 erschienen war, erhielt ein Jahr später den Grand Prix de l'Essai de l'Académie française. 20
Benoist 1983, 10.
21
Felix Buck: Das Kosovo und die amerikanische Globalstrategie. Der jugoslawische Störfaktor. In: Opposition. Magazin für Deutschland, 2. Jg., Heft 3/1999, S. 22 ff.
22 Alain de Benoist: Kosovo und Kurdistan. Das Spiel der USA. Eigene Interessen. In: Junge Freiheit, 12/1999, 19.03.1999 (künftig: Benoist 1999a) 23
Maschke 1999.
24 Wiesberg/Stein 1999. 25 Thorsten Thaler: Berliner Republik: Zum Selbstverständnis deutscher Außenpolitik. Entscheidung im Ernstfall. In: Junge Freiheit, Nr. 18/1999, 30.4.1999 (künftig: Thaler 1999) 26 Michael Wiesberg: Balkankrise. Die Lehre von Rambouillet. Am Katzentisch. In: Junge Freiheit, 21/1999, 21.5.1999. 27 Thaler 1999. 28 Wiesberg 1999. 29
Dieter Stein: Kosovo-Krieg. Souveräne Nationalstaaten sollen als Völkerrechtssubjekte verschwinden. Der totale Weltstaat. In: Junge Freiheit, Nr. 19/1999, 7.5.1999.
30 Vgl. Buck 1999, S. 21 und 23. 31 Armin Möhler/Dieter Stein: Im Gespräch mit Alain de Benoist. In: Junge Freiheit. InterviewReihe 3, Freiburg i.Br. 1993, 10; vgl. auch Horst Mahler: Der Globalismus als höchstes Stadium des Imperialismus erzwingt die Auferstehung der deutschen Nation. Rede auf dem Parteitag der N D P Baden-Württemberg vom 25.04.1999. Entnommen aus den www-Seiten h t t p : / / horst-mahler.de/texte/Globalismus.html. 02.06.1999 (künftig: Mahler 1999) 32 Manfred Rouhs: K o m m t die Freiheit aus dem Osten? In: Europa vorn, Nr. 63/64, 7. Spezialausgabe, 7 Jg., S. 3 (künftig: Rouhs 1994). Rouhs schreibt hier wörtlich: »Und wenn Rußland den Klauen des Liberalismus entwunden ist, dann werden weitere europäische Staaten folgen, dann wird auch Deutschland frei werden!« 33 Mahler 1999. 34 Buck 1999. 35 Mahler 1999. 36 Volker Biek: Der Kosovo-Konflikt und die Geopolitik des 21. Jahrhunderts. Große Rochade der Weltpolitik. In: Opposition. Magazin fur Deutschland, 2. Jg., Heft 3/1999, S. 21. 37 Junge Freiheit, Nr. 9/1992. Zit. nach Alfred Schobert / Ronald Papke: Ab und durch die Mitte. Der Mitteleuropa-Gedanke in der Jungen Freiheit. In: Kellershohn 1994, S. 298.
J o u k o Jokisalo
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38 Mahler 1999. Im Unterschied zu den einigen Diskussionsbeiträgen in der »Jungen Freiheit« spricht Mahler nicht von der Notwendigkeit Deutschlands, Atomwaffen zu erhalten: »Deutschland wird seinen Nachbarn als starke Zentralmacht aber nur erträglich erscheinen, wenn es weiterhin nicht über Massenvernichtungsmittel verfügt.« (Ebenda) 39 Klaus Hornung: Sackgasse. In: Junge Freiheit, Nr. 18/1999, 30.04.1999 (künftig: H o r n u n g 1999) 40
Pankraz 1999.
41 Zit. nach: Antifaschistische Nachrichten 9/1999. Entnommen aus http://infolinks.de/an/ 1999/09/028/htm, 11.6.1999. 42
Rouhs 1999.
43
Oliver Geldzus: Bundeswehr. Der Einmarsch ins Kosovo markiert eine neue Ära. Ungewohnte Normalität. In: J u n g e Freiheit, Nr. 26/1999, 25.06.1999.
44
Ebenda.
45
Ebenda.
46
Ebenda.
47
Hornung 1999.
48
Ebenda.
49 Vgl. Pierre Krebs: Die europäische Wiedergeburt. Aufruf zur Selbstbesinnung, Tübingen 1982. 50 Thulenet: Krieg im K o s o v o . Eine strategische Fehlleistung. E n t n o m m e n aus h t t p : / / www.thulenet.com/meldung/kosovo1.htm, zuletzt geändert am 25.03.99. Eine der wichtigsten Aufgabe des Thule-Netzes ist »Herstellung und Verfestigung der Kontakte zwischen nationalen Gruppen« und das Ziel des Thule-Netzes ist die Schaffung sogenannter befreiter Zonen< im Mailbox-Bereich (vgl. Mecklenburg, Handbuch deutscher Rechtsextremismus, 1996, 310). 51 Siehe dazu z.B. Sebastian Reinfeldt/Richard Schwarz: »Ethnopluralismus« made in Germany. In: Kellershohn 1994, S. 213-232. 52 Zit. nach Cremet 1999. 53 Pankraz 1999. 54 Zit. nach Cremet 1999. 55 Alain de Benoist: Irrtum des Westens. In: Junge Freiheit, Nr. 19/1999, 07.05.1999 . Ähnlich urteilte Dieter Stein: »Der Exodus der Kosovo-Albaner, die offenbar mit ähnlichen Mitteln aus ihrer Heimat vertrieben werden, wie es den Ostpreußen, Schlesiern, Pommern und Sudetendeutschen 1945 geschah, läßt niemand kalt.« (Kosovo-Krise. Blindflug auf Belgrad. In: Junge Freiheit, Nr. 15/1999, 09.04.1999. 56 Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.1999; Siehe auch Kurt Heissig: Tabu Vertreibung. In: Junge Freiheit, Nr. 15/1999, 09.04.1999; Dieter Stein: Ende des Schweigens. In: Junge Freiheit, Nr. 18/1999, 30.04.1999; Kurt Heissig: Vertreibung. Der Kosovo-Konflikt ruft das Menschenrecht auf Heimat in Erinnerung. Die Wurzeln beraubt. In: Junge Freiheit. Nr. 22/1999. 57 Selbst der französische Verteidigungsminister erklärte, dem neuen Zeitgeist folgend: »Es wird Zeit, daß sich unsere Bevölkerung, die in Wohlstand und Frieden lebt, wieder an die Wirklichkeit bewaffneter Konflikte gewöhnt.« Zit. nach J u n g e Freiheit, Nr. 18/1999, 30.04.1999. 58 Karlheinz Weißmann: Zeiten des Mars. In: J u n g e Freiheit, Nr. 17/1999, 23.04.1999.
Hans See
Rechter Sozialismus und neue Weltordnung Auf eine kurze Formel gebracht, geht es in diesem Beitrag darum, das Interesse der linken - vor allem der marxistischen - Kapitalismuskritik, einschließlich der mit ihr verbundenen Faschismus-, Antisemitismus- und Migrationsforschung, auf das Phänomen und die Probleme des rechten Sozialismus zu lenken. Es geht dabei in erster Linie um die den Begriff »Sozialismus« begründende rechte Kapitalismuskritik und um den rechten Antikapitalismus. Bekanntlich stehen sie unter dem Verdikt des linken Demagogie-Theorems, das besagt, spätestens seit der Liquidation der nationalsozialistischen Linken im Jahre 1934 durch Hitler habe die Verwendung des Begriffes »Sozialismus« im Namen der Partei der deutschen Faschisten nur noch der Propaganda gedient. 1 Ich möchte alle Linkssozialisten dazu aufrufen, an dieser zu einfachen Erledigung des Problems »rechter Sozialismus« nicht länger festzuhalten. Hierbei verweise ich auf einen Aufsatz von Moishe Postone zum Thema »Nationalsozialismus und Antisemitismus«, in dem der Verfasser schon Anfang der 80er Jahre auf der Grundlage der dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie versuchte, eine Erklärung dieses rechten Antikapitalismus als einer nicht der Propaganda zuzurechnenden wissenschaftlichen Kategorie zu liefern. 2 Ich glaube, daß diese abstrakte theoretische Begründung entbehrlich ist und versuche, das Problem - wenngleich nur in großen Umrissen - direkt aus der Kritik der bürgerlichen Wirtschaft und Gesellschaft sowie aus der Analyse des rechten Sozialismus plausibel zu erklären. Der theoretische Ansatz ist überraschend fruchtbar. Es lohnte sich, wenn marxistische Linke sich entschließen könnten, das Thema noch einmal aufzugreifen, da in den vergangenen Jahren neue Erkenntnisse gewonnen wurden und neue Entwicklungen es notwendig erscheinen lassen. Möglicherweise können auch manche der offenen Fragen zum Holocaust und zur Zukunft des rechten Sozialismus, der ja nur in seiner Extremform als Faschismus in Erscheinung tritt, beantwortet werden.
Rechter Sozialismus - ein
Widerspruch in sich?
Rechter Sozialismus äußert sich - wenn er sich mäßigt - in nationalistischer, rassistischer oder ethnischer Kapitalismuskritik. Er ethnisiert - bewußt manipulativ oder
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Hans See
intuitiv, aber auf reale Phänomene bezogen - die Probleme und Widersprüche des Kapitals bis hin zum rassistischen Antikapitalismus. Der eigene Kapitalismus (in dem hier untersuchten Bereich ist dies der »deutsche«), den Antisemiten als »schaffenden Kapitalismus« betrachten und vom »raffenden« jüdischen Kapitalismus bedroht sehen, muß von rechten Sozialisten um jeden Preis verteidigt werden. In der gemäßigten Variante beschränkt sich rechte Kapitalismuskritik heute auf Ablehnung des ungezügelten Wirtschaftsliberalismus und bezieht sich mit Vorliebe auf den USamerikanischen Imperialismus. Sie unterscheidet die kapitalistische Wirtschaftsweise als Organisationsform v o m Kapitalismus, der als »Entartung« der Wirtschaftsweise gedeutet wird. Das kann eine naive, unschuldige Auffassung sein, es können sich dahinter aber auch - bohrt man tiefer - nach wie vor bei einem beträchtlichen Teil der Konservativen und Rechten »die Wallstreet« und »die Freimaurer« oder »jüdische Wirtschaftsverbrecher« verbergen. In seiner offen extremistischen Form konnte, wie uns der deutsche Faschismus lehrte, diese Kapitalismuskritik umschlagen in den sich am internationalen »jüdischen Kapitalismus« entzündenden Antikapitalismus. Daß er sich ebenso vehement gegen den Kommunismus richtete, ist Bestandteil dieses Denkens. Begründen könnte man diese Einstellung damit, daß der Sowjetkommunismus von den Rechten schon früh, mit Hinweis auf Lenins neue Wirtschaftspolitik (NEP), als »Staatskapitalismus« identifiziert wurde. 3 Auch die rechten Sozialisten der N S D A P verfolgten das Ziel der kapitalistischen Modernisierung, dabei sollten allerdings die von der Marktdynamik bedrohten Werte und Tugenden der vorkapitalistischen Bauern- und Handwerkerkultur bewahrt werden. Als höchst gefährdet galten vor allem die Einheit und die Reinheit der Nation, des deutschen Volkes. Aufklärung, Liberalität, Freihandel, Klassenkampf um soziale und rechtliche Gleichheit, die Kommunistenherrschaft in der UdSSR, die die sozialistisch-demokratische Entwicklung der linken Parteien und Gewerkschaften im eigenen Land bestärkte, galten als zersetzende jüdische Erfindungen. Als besonders bedrohlich wurde vor allem das den Mittelstand ruinierende und als jüdisch identifizierte internationale Finanzkapital betrachtet. Die durch ihre Gleichstellung in vielen bürgerlichen Berufen als Konkurrenten in Erscheinung tretenden Juden wurden mit dem zur geheimen Weltmacht mystifizierten jüdischen Kapitalismus in Verbindung gebracht. Den in die Defensive geratenen Neokonservativen und alten Rechten der Zeit nach dem Faschismus war klar, daß die »Judenfrage« nach allem, was geschehen war, als »gelöst« betrachtet werden mußte. Die Siegermächte bewiesen, daß es nicht der jüdische, sondern der deutsche Monopolkapitalismus war, der Hitler zur Macht verholten und die Verbrechen des Regimes aus Profitinteresse mit organisiert hatte. Die Unternehmenskonglomerate wurden »zerschlagen«. In der Montan-Industrie
Rechter Sozialismus und neue Weltordnung
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wurde die paritätische Mitbestimmung eingeführt. Dann wurde - anfangs unter strenger Kontrolle, allerdings bei gleichzeitig aufblühender Schattenwirtschaft - in den Westzonen und der aus ihr gebildeten B R D im Laufe der Zeit ein regulierter Kapitalismus aufgebaut, der vor allem dem Schutz der mittelständischen Wirtschaft und der Immunisierung der Massen vor Sozialismus und Kommunismus dienen sollte. Die Vertreter des rechten Sozialismus wurden zunächst zu Anhängern eines christlichen Sozialismus, dann zu Vorkämpfern für die soziale Marktwirtschaft und die wirtschaftliche, militärische und politische Westintegration. Anders wäre eine Remilitarisierung, eine offensive Wiedervereinigungs- und Außenpolitik, nicht möglich gewesen. Nach außen kämpften sie für Freihandel, doch verfolgten sie zugleich die nationalstaatliche Verteidigung mittelständischer Interessen und deutscher Arbeitsplätze durch Schutzzollpolitik und andere Formen des Protektionismus. In diesem Sinne standen und stehen sie noch immer zum Subventionsstaat, zum Staatsinterventionismus. Sie wollen den starken Staat, eine starke politische Führung. Sie haben große Probleme damit, gegen den wachsenden Einfluß der internationalen Wirtschaft den eigenen Staat zu akzeptieren, sind aber stolz auf die Siege, die deutsche oder für deutsch gehaltenen Unternehmen im Wirtschaftskrieg auf den kapitalistischen Weltmärkten erringen. Der rechte (immer auch antikommunistische und gewerkschaftsfeindliche) Sozialismus, der von der Kapitalismuskritik bis zum Antikapitalismus reicht, war und ist - aus Gründen, die tief in die präkapitalistische Geschichte zurückzuverfolgen sind im Kern antisemitisch. 4 Er bezog und bezieht sich bei Nationalsozialisten und Neonazis nahezu ausschließlich auf die für schwere Wirtschaftskrisen verantwortlich gemachten, für sündig, sittenwidrig, verbrecherisch, illegitim, kriminell und korrupt gehaltenen und bekämpften »Freimaurer« und weltverschwörerischen jüdischen »Zirkel«, »Kreise« und »Cliquen« der großkapitalistischen Wirtschaft. Vor allem jüdische Banken, Versicherungen und Handelsketten, jüdische Intellektuelle, jüdische Parteienwirtschaft und Politik sind ausgesuchte Haßobjekte. Zur Personifikation des zerstörerischen jüdischen Kapitalismus diente von 1933 bis 1945 staatsoffiziell der ganz konkrete Deutsche jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, der »Wucherjude«, bei dem man verschuldet war, der »jüdische« Konkurrent im mittelständischen freiberuflichen Wirtschafts- und im staatlichen Wissenschaftssektor, sogar der jüdische Proletarier, der natürlich nur ein Kommunist sein konnte und Streiks anzettelte, um im Interesse der Wallstreet-Spekulanten die deutsche Wirtschaft zu ruinieren. Juden wurden beschuldigt, skrupellos und parasitär die anständigen Arbeiter, Bauern, Handwerker auszubeuten, als Banker, Geschäftsleute, Autoren den Staat, Parlamente und Parteien zum Schaden des Volkes zu beeinflussen. Die verteufelte Abstraktion aber war der verschwörerische internationale »jüdische
Hans See
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Kapitalismus«. Er stand den rechten Sozialisten für das, was die linken Sozialisten mit dem Österreicher Rudolf Hilferding - der ein Standardwerk zu diesem Themenkomplex verfaßte, ohne auch nur mit einem Wort auf irgendwelche Juden zu sprechen zu kommen - das internationale Finanzkapital nannten und als eine der Wurzeln des modernen Imperialismus betrachteten. 5 Bei Untersuchungen über den rechten Sozialismus stößt man auf eine Variante, die traditionell dem linken Sozialismus zugeordnet wird, nämlich auf die Sozialdemokratie. Bei ihr findet man den »Staatssozialismus« des Parteigründers Lassalle, der vor dem Gothaer Vereinigungsparteitag von 1875 große Bedeutung hatte. Dann taucht er wieder seit der Abspaltung der Kommunisten 1918/19 auf, vor allem im Heidelberger Programm der S P D und in vielen Teilbereichen ihrer praktischen Politik. In der SPD-Agitation finden sich viele Merkmale eines nationalen Sozialismus, vor allem der ausgeprägte Antikommunismus, zugleich aber auch der von Kommunisten vertretene Antimonopolismus und Antikapitalismus. Der Historiker Hermann Oncken nannte in seiner vor dem Ersten Weltkrieg geschriebenen Lassalle-Biographie den SPD-Gründer mit Hochachtung einen nationalen Sozialisten. Warum kann man die historische S P D dennoch nicht einfach dem rechten Sozialismus zuordnen? Weil sie nie eine programmatisch antisemitische Partei war.6 Sie bekämpfte auf dem Weg sozialer Reformen vor allem die Auswüchse des Kapitalismus, nicht diesen selbst. Der linke Flügel glaubte daran, daß auch durch Reformen das System überwunden werden könne, der rechte begnügte sich mit einer pragmatischen Reformgesetzgebung, die von der Humanisierung der Arbeit über die Hebung des Lebenstandards und der Chancen bis hin zur Sozialpartnerschaft mit dem Klassenfeind reichte. Das hätte dem faschistischen Gedanken der Volksgemeinschaft entsprochen, wenn die SPD sich zum rassistischen, nicht zum internationalistischen Antikapitalismus bekannt hätte. Der rassistische Sozialist wälzte die Verbrechen des Kapitals auf die Juden ab, der internationalistische auf das System des weltweit operierenden Monopol- und Finanzkapitalisten, unabhängig von seinem Glauben, seiner Nationalität, seiner »Rasse«.
Statt
Kampf der
Wirtschaftskriminalität,
Kampf den
Ausländern
Im ambivalenten Kontext des sozialdemokratischen Antikapitalismus steht auch das bisher weithin unbeachtet gebliebene Problem der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. 7 Obgleich es schon im vergangenen Jahrhundert und in der Weimarer Republik weithin bekannt, und es nach dem Zweiten Weltkrieg parteiübergreifend in Fachkreisen unumstritten war, daß auch der modernste Kapitalismus nicht funktionieren könne, wenn sich die Wirtschaft nicht an die Spielregeln ihres eigenen Sy-
Rechter Sozialismus und neue Weltordnung
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stems hielte, begrenzte man - im Vertrauen auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes - die Gesetzgebung im wesentlichen auf den Schutz des Kapitalisten vor dem Kapitalisten, auf die Bekämpfung des »unlauteren Wettbewerb«, die »Kartellbildung«, die »Werksspionage«. Der Schutz von Staat und Gesellschaft vor dem Kapital, vor dem Machtmißbrauch der Unternehmen, war kein Thema. 8 Und Arbeiterbewegungen, die den gesetzlichen Schutz der Arbeiter vor dem Unternehmer forderten, wurden von den Herrschenden als Feinde der Wirtschaft, des Eigentums und des Staates bekämpft. Linken wie rechten Sozialisten war klar, daß der kriminelle Kapitalist dem gesetzestreueren Kapitalisten schwerste Schäden zufügt, daß krimineller Kapitalismus das eigentliche Übel, auch das der Not der Arbeitslosen sei. Aber die allgemeine Fixierung der Gesellschaft wie der Parteien auf den Staat und das System ließ die Rechten zu der Überzeugung gelangen, man müsse nur den kriminellen jüdischen, die Linken, man brauche nur den kriminellen internationalen Kapitalismus abschaffen, dann seien die Probleme gelöst. Die Linken waren in einer schwierigeren Lage. Warum sollte sich ein linker Antikapitalist mit Symptomen befassen, möglicherweise ein das System stabilisierendes Wirtschaftsstrafgesetz erkämpfen und den Selbstzerstörungsprozeß dieses Ausbeutungssystems verlangsamen? Er erwartete die Revolution. Hatte er nicht gesagt, man könne die Geburtswehen abkürzen? Ja, aber auch, man könne sie mildern. Marx hätte, wäre er der Ansicht gewesen, Reformen seien sinnlos, mit dem gleichen Argument die Fabrikgesetze ablehnen können. Stattdessen registrierte er sie als Erfolge der weiter fortgeschrittenen britischen Arbeiterbewegung und kapitalistischen Entwicklung. Warum hätte er den Kampf um die Arbeitszeitverkürzung, die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit, den Arbeitsschutz bejahen sollen, wenn das Kapital doch diese Gesetze ungestraft übertreten konnte? Wofür ein Streikrecht, wozu Lohnerhöhungen und Urlaubsverlängerung? Würde dieser Weg nicht am Ziel, am Sozialismus, vorbei führen? Wohl wissend, daß es Linken schwerfallen wird, die Existenz eines rechten Sozialismus überhaupt anzuerkennen, führt die intensive Beschäftigung mit seinen Varianten und seiner Entwicklung, bei ihren historischen Vorläufern angefangen, die schon im Manifest der Kommunistischen Partei systematisiert und analysiert werden 9 , über den christlich sozialen und rassistischen Antisemitismus 1 0 , in deren Tradition die N S D A P steht, die schließlich den rassistischen Sozialismus gegenüber den Juden in äußerster Konsequenz verwirklichte, bis hin zu den rechten Sozialchristen und Sozialdemokraten unserer Gegenwart (CDU-Typ Manfred Kanther und Nachfolger im Amt SPD-Typ Otto Schily), die nicht mehr die Juden, sondern das internationale organisierte Verbrechen als größte Gefahr von Volk, Staat und Wirtschafts-
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Hans See
Ordnung bekämpfen. Es fällt jedoch kaum auf, daß nicht nur der rechte und rechtsextreme, sondern ebenso der linke, auch der marxistische Sozialismus, das Thema Wirtschaftskriminalität fast völlig meiden. Diese Tatsache allein wirft schon genügend Fragen auf die zu beantworten der Mühe lohnt. Es stellt sich nämlich schnell heraus, daß es keinen vernünftigen Grund gibt, noch länger am Demagogie-Theorem der marxistischen Linken festzuhalten. Daß auch die bürgerlichen Sozialwissenschaften, die sich intensiv mit dem Konservatismus und der neuen Rechten unter dem Aspekt des Antisemitismus und der Ausländerfeindlichkeit befassen, den Kampf der Rechten gegen die Organisierte Kriminalität, gegen die Korruption von Politik und Staat, nicht aber deren Mißverhältnis zur Wirtschaftskriminalität untersuchen, sollte als Problem erkannt und bearbeitet werden." Von Interesse ist die Entwicklung der gemäßigten rechten Sozialisten, weil sie unter den neuen Gegebenheiten einen neuen rechten Antikapitalismus entwickeln, den sie nun nicht mehr gegen das »jüdische Leih-, Wucher- und Börsenkapital«, sondern gegen das kriminelle Kapital des Organisierten Verbrechens führen. Das organisierte Verbrechen aber wird nahezu gleichgesetzt mit der Kriminalität von ausländischen Banden 1 2 , darüber hinaus mit dem »wilden Kapitalismus«, den Johannes Paul II. in den früher kommunistisch regierten, nun in den Weltmarkt zu integrierenden neuen Staaten und den vormals mit dem Kommunismus sympathisierenden oder kooperierenden Entwicklungsländern entdeckt hat und an den Pranger stellt. Äußerst bedenklich ist, daß auch die rechten Sozialisten in der S P D diesem Trend folgen, schlimmer noch: ihm Vorschub leisten. Die S P D ist zwar, soweit es den Antisemitismus betrifft, ihrer linken Tradition treu geblieben. In der Frage des Kampfes um die Festigung der »Festung Europas« gegen Organisierte Kriminalität, gegen MafiaKapitalismus, der angeblich unsere ehrliche Wirtschaft, unseren sauberen demokratischen Staat, unsere unbestechlichen Verwaltungen, unsere Polizei, Justiz und Parteien korrumpiert und unterwandert, stehen sie den übrigen rechten Sozialisten näher, als es selbst die rechtesten Sozialdemokraten jemals für möglich gehalten hätten. Damit wird die Rechts-Drift des politischen Koordinatensystems, die eine zunehmende Rechtsradikalisierung der vermeintlichen Mitte oder auch Neuen Mitte bedeutet, noch schneller fortschreiten. Die Definitionsmacht des politischen Koordinatensystems liegt offensichtlich seit Jahrzehnten - das zeigt der verfassungswidrige Finanzierungsbanditismus des »Systems« Kohl - bei der Rüstungs-Wirtschaft. 1 3 Die heutige Ausländerpolitik unter einer SPD-Regierungsverantwortung wäre noch zur Regierungszeit Willy Brandts von der eigenen Partei als faschistisch bekämpft worden. Der Krieg gegen den »Hitler« Milosewic und seine Mörderbanden ließ schlagartig deutlich werden, daß am Ende des 2 0 . Jahrhunderts, im Vergleich zu den Jahren vor der Wiederbewaffnung, auch noch im Vergleich zu den späten sechziger
Rechter Sozialismus und neue Weltordnung
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Jahren, Politik der linken Mitte inhaltlich nur noch als Politik rechter Sozialisten verstanden werden kann. Zur Regierungszeit Willy Brandts wäre von der SPD, jedenfalls von Rudolf Scharping, eine solche Kriegspolitik und Kriegsbegründung, wäre sie zum Beispiel zur Unterstützung der USA in Vietnam gegeben worden, als Rückfall in die finsterste Nazi-Vergangenheit bekämpft worden. Hunderttausende wären dagegen auf die Straße gegangen. Allein wegen dieser säkularen Rechtsverschiebung des politischen Bewußtseins der Sozialdemokraten, die sich noch immer als Sozialisten ausgeben und von allzu vielen ihrer Wähler und Mitglieder, aber auch von Parteien anderer Länder der ganzen Welt, einschließlich ihrer rechten Feinde, als solche begriffen und beurteilt werden, kommt die Linke nicht umhin, sich mit dem Problem des rechten Sozialismus auseinanderzusetzen und Wege seiner Bekämpfung zu finden, denn rechter Sozialismus war immer auch militanter Imperialismus.
Rechter Sozialismus
in
der Nachkriegszeit
Aus Raumgründen kann hier nur daran erinnern werden, daß die christlichen Demokraten nach 1945 - nicht nur in ihrem vielzitierten Ahlener Programm von 1947 - als entschiedene Gegner des Kapitalismus auftraten. Sie forderten eine Neuordnung von Grund auf und plädierten für einen christlichen Sozialismus. Der freilich wurde vom »Kanzler der Alliierten« - Konrad Adenauer, der zugleich auch der erste Kanzler der sich regenerierenden kapitalistischen Wirtschaft war - sehr schnell an den äußersten linken Rand gedrängt und nur noch dazu benutzt, die christlich-sozialistischen, das heißt antikapitalistischen Wählerpotentiale an die C D U zu binden. Dennoch versuchten die christlichen Parteien, den neuen Nachkriegs-Kapitalismus zwischen dem als verbrecherisch erkannten Kapitalismus der Vorkriegszeit und dem sowjetischen »Staatskapitalismus«, der nun durch die Niederlage des Faschismus mit beiden Beinen in Ostdeutschland stand, so zu plazieren, zu strukturieren und ideologisch zu verankern, daß er sich mit zwei unabweisbaren Forderungen der westlichen Siegermächte vertrug und dem Reformsozialismus der S P D wie den Herausforderungen der sowjetischen Siegermacht Paroli bieten konnte. Dieser Kapitalismus mußte seine monopolistischen Strukturen entflechten lassen, einen Vertrag mit dem Parlamentarismus schließen, also die westliche Demokratie, das Grundgesetz akzeptieren und die demokratischen Gesetze sowie die Gewerkschaften respektieren. Und er mußte so organisiert und humanisiert werden, daß er umgekehrt auch von der breiten Masse der damals noch teils zum demokratischen Sozialismus, teils zum Kommunismus tendierenden Arbeiter und anderen Bevölkerungsschichten, auch dem Mittelstand, eine Perspektive bot. Denn nicht die Scham und Schuldgefühle
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Hans See
der Deutschen über die ungeheuerlichen Verbrechen an den Juden, nur eine längerfristige krisenfreie Entwicklung des Kapitalismus und ein relativer Wohlstand konnten garantieren, daß der tiefsitzende Antisemitismus auf ein unter Kontrolle zu bringendes Maß zurückgeführt werden würde. Was dabei herauskam, war das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Die Sozialdemokraten sprachen bevorzugt vom Sozialstaat, allerdings ohne markante Unterschiede zur sozialen Marktwirtschaft benennen zu können. Beide Begriffe beinhalteten einen gezielten Staatsinterventionismus und Subventionssozialismus (Kommunal-, Genossenschafts-, Wohnungsbau-, Landwirtschafts- und Energiesozialismus). Man könnte auch sagen, sie umschrieben einen hoch entwickelten Defizit-Sozialismus. Dieser, zusammen mit unternehmerfreundlicher Steuergesetzgebung, erlaubte es (die Währungsreform gehört übrigens dazu), daß Produktionsmittel und Gewinne in privater Hand in großem Tempo akkumuliert werden konnten, öffentliches Eigentum (VW, VEBA) privatisiert wurde, die Verluste (auch die des Zweiten Weltkrieges) aber sozialisiert, also über Steuer- und Abgabenbelastungen vergesellschaftet wurden. Indes war den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik klar, daß irgendwann einmal wieder die Märkte gesättigt sein und kapitalistische Krisen ausbrechen würden. Also mußte sichergestellt werden, daß der weiter schwelende Antisemitismus keine Chance mehr zur parteiprogrammatischen und staatsoffiziellen Anerkennung bekäme. Wäre er damals schon wieder so offen wie heute zutage getreten, wäre er ein unüberwindliches Hindernis der Westintegration, der Wiederbewaffnungs- und der Wiedervereinigungspolitik gewesen. Es mußte also eine Krisenvermeidungsstrategie, das heißt eine integrationistische Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben und die sich allzu lange ihrer linkssozialistischen Geschichte verpflichtet fühlende Sozialdemokratie zu dem freiwilligen Godesberger Kniefäll von 1959 vor der Macht des Kapitals gezwungen werden. Flankierende Maßnahmen, die dem vermuteten Bedürfnis der Deutschen nach einem wohltuenden politischen Konformismus Rechnung trugen und sich gegen die in der D D R verstaatlichen Klassenkampfposition richteten, waren Ludwig Erhards »formierte Gesellschaft«, Helmut Schelskys »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«, die »Notstandsgesetzgebung« und die einheitsgewerkschaftliche, durch unterparitätische Mitbestimmungrechte realisierte »Sozialpartnerschaft« der endlich zur Großen Koalition vereinigten rechten und linken Volksparteien. Die seit 1959 voranschreitende Christianisierung und die Öffnung der nach wie vor als »gefährlich links« geltenden S P D nach rechts ermöglichten die Schaffung der Großen Koalition. Mit der Bereitschaft der sich - angesichts der Studentenrevolte und stagnierender Ostgeschäfte - ihrer sozialliberalen Wurzeln erinnernden Wirtschaftspartei FDP, wurde die S P D endgültig ins Lager der bürgerlichen Volksgemeinschaft aufgenommen und durfte, von FDP's Gnaden, bis 1981 die Richtlinien der
Rechter Sozialismus und neue Weltordnung
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deutschen Politik bestimmen. C D U und C S U sahen sich in der jahrelangen O p p o sitionsverbannung gezwungen, ihre durch die Rolle als Honoratiorenparteien und Kanzlerwahlvereine bedingte strukturelle und organisatorische Schwäche in der Opposition aufzugeben und sich in einem schmerzlichen, ihr von den eigenen Rechten vorgeworfenen Prozeß der Sozialdemokratisierung zu strammen Mitglieder- und Kaderparteien zu verwandeln. Dabei durften sie ihre Glaubwürdigkeit als sozialintegrative Wirtschaftspartei bei den Unternehmern nicht verlieren. So endete die Ära Adenauer/Erhard. Der neue Abschnitt der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte mündete nach einer kurzen Reformphase und einer wirtschaftlichen Zwischenkonjunktur ein in die bis heute anhaltende Dauerkrise mit Massenarbeitslosigkeit, wachsender Staatsverschuldung, steigender Armut, sozialer Unsicherheit und systematischer Eindämmung des »Anspruchsdenkens« der Arbeitnehmer und Sozialleistungsberechtigten. Das Bewußtsein, daß schwere Krisen, soziale Unruhen, Polarisierung der politischen Kräfte auch zur Stärkung sowohl rechts- als auch linksextremer Gewalt, rechter und linker Sozialismen fuhren würden, veranlaßte die sozialliberale Koalition unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt, mit der Schaffung eines Ersten Wirtschaftsstrafgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu beginnen. Es trat 1976 in Kraft. Den erstarkenden Linken sollte der Wind aus den Segeln genommen, allerdings auch - wie der damalige Wirtschaftsminister Hans Friderichs (FDP) vor dem Bundestag betonte - dem »Selbstzerstörungsprozeß« der Wirtschaft Einhalt geboten werden.14 Letzeres war wohl auch der Anlaß dafür, daß die dann beginnende christlich-liberale Koalition das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität verabschiedete. Das war 1986. Doch hatte sich schon lange vorher das Interesse der Strafrechtspolitiker auf das Gebiet der Bekämpfung der Drogenkapitalisten, der Geldwäsche des Organisierten Verbrechens, die Ausländerkriminalität und des internationalen Terrorismus verlagert. Tatsächlich entwickelten sich hier schwerwiegende, scheinbar von außen in unser Land hinein getragene Probleme. Versuche, diese Probleme als eine Art Re-Import der von global operierenden und als seriös eingestuften Weltunternehmen vor allem in die Drittweltländer exportierten Krisen bewußt zu machen, hatten keine Chance, öffentliches Gehör zu finden. Das Thema Wirtschaftskriminalität wurde von der Tagesordnung genommen, indem es von den etablierten Parteien schon mittels der Gesetzgebung fein säuberlich von der Organisierten Kriminalität und der Korruption getrennt behandelt wurde. Diese spezifizierte Gesetzgebung zur Bekämpfung von Wirtschaftsdelikten, die den Eindruck vermittelte, Wirtschaftskriminalität sei keine organisierte Kriminalität und habe nicht das Geringste mit dieser zu tun, öffnete die Schleusen für einen neuen rechten Sozialismus. Der konnte nun seine ganze Phantasie gegen die Gefährdungen
Hans See
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unserer sozialen Marktwirtschaft und unserer Demokratie durch das kriminelle Kapital (damals war es das Drogenkapital) und das internationale Wirtschaftsgangstertum entfalten. Als schließlich die Mauer fiel und sich in den vormals kommunistisch regierten Regionen aus dem vorher schon übermächtig gewordenen (und vom Westen geförderten) Untergrundkapitalismus rapide der sogenannte »wilde Kapitalismus« entwickelte, wurde eben diesem europaweit der Krieg erklärt. Er wurde mit der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität gleichgesetzt und als neue Gefahr aus dem Osten und anderen Entwicklungsländern zum Ersatzfeind des untergegangenen Staatssozialismus.
Krieg gegen
kriminelles
Kapital?
Von den USA haben unsere rechten Antikapitalisten gelernt, daß der innere wie der äußere Feind der hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften das kriminelle Drogenkapital ist. Es erreichte Profitraten, von denen das legale Drogenkapital der Pharma-, Tabak- und Alkoholindustrie, die Industriedrogenproduzenten nur träumen konnte. Die staatliche Antwort war die Kriegserklärung an die internationale Drogenmafia. Sie lieferte, was in Krisenzeiten wichtig ist: die Legitimation zum Ausbau des Repressionsapparates der inneren Sicherheit (mehr Polizei, mehr Gerät, mehr Gefängnisse) und die Verschärfung des Strafrechts (Geldwäschegesetz, Großer Lauschangriff) und natürlich auch des Strafvollzugs. Kriminelle Drogenkapitalisten sind selbstverständlich nicht weniger mobil als die legalen Auto- oder Waffenhändler. Man konnte ihre Bekämpfung nicht auf das eigene Land begrenzen. Es folgten also Übergriffe. Die gesamte Organisierte Kriminalität und jegliche Form eines »wilden Kapitalismus« lieferten Anlässe zu Interventionen, Kooperationen, Strafaktionen. Wer erinnert sich in diesem Zusammenhang nicht noch an den völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen Panama? Von nun an konnte man Staaten, von denen vorgeblich oder wirklich Organisierte Kriminalität ausging, je nach Lage Überfällen oder unter politischen Druck setzten. Die zahlreichen Drogentoten sind nicht nur Kinder armer Familien. Die geklauten Autos sind Luxuskarossen. Das sind Gründe. Aber dazu brauchte es keiner Panama-Invasion wie im Dezember 1989. Die Militarisierung der US-amerikanischen Drogenpolitik war, wie Günter Amendt 1992 schrieb, unverkennbar ein Element der von den USA angestrebten »neuen Weltordnung«. 1 5 Kritischere Beobachter fänden heraus, daß dieser Krieg nicht wirklich den Drogen galt. Die US-Geheimdienste arbeiteten, wenn es politischen Zwecken diente, eng mit der Drogenmafia zusammen. Die in reichen Industriestaaten »verdienten« Drogengelder dienten der an Staatshaushalt und Parlamenten vorbei organisierten Bewaffnung kon-
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terrevolutionärer Bewegungen in Drittweltländern. Dasselbe wurde dann auch von der Gegenseite behauptet. Warum sollte das falsch sein? Fest steht, daß Drogen- und Waffenhandel bei den weltweiten Auseinandersetzungen zwischen Ost und West eine nicht unbedeutende Rolle spielten und zum Aufbau einer neuen Front für eine neue Kriegspolitik führten. Jetzt war die neue Entwicklungslinie für Nachrichtendienste, internationale Polizei, Rüstungs- und Marktwirtschaft geschaffen, jetzt konnten die Kapitalverwertungstrategen der reichen Industrienationen gemeinsam mit den Eliten der Länder des wilden Kapitalismus im Namen der Zivilgesellschaften überall Ordnung, die Voraussetzung für eine neue Weltordnung schaffen. Nicht nur in den USA, auch in Deutschland eröffnete sich für die Konservativen und extremen Rechten nun ein völlig neues Kampfgebiet. Der nach innen wie nach außen eröffnete Krieg gegen das organisierte Verbrechen, gegen den kriminellen Kapitalismus, erlaubte es, parteiübergreifend - d.h. auch für die Sozialdemokraten von der Kriminalität des ganz alltäglichen, seine Profite überwiegend und langfristig legal erwirtschaftenden Kapitalismus abzusehen und sich dessen Verteidigung zu widmen. Herta Däubler-Gmelin erklärte, es gehe um Einfluß in legalen Geschäften - um Wirtschaftsmacht und den damit verbundenen Einfluß in Politik und Öffentlichkeit. 16 Aus diesem Zusammenhang versteht sich, weshalb die Organisierte Kriminalität letztendlich zum Synonym für Ausländerkriminalität geworden ist. Mit kriminellen Ausländern und der Organisierten Kriminalität waren zwar die jüdischen Spekulanten, Wucherer und Schmarotzer nicht ganz aus dem Visier der Rechten geraten. Denn auch die Organisierte Kriminalität bietet genügend Möglichkeiten, sie verbrecherischen Juden, die sich natürlich auch in diesen Kreisen aufspüren lassen, anzulasten. Aber die »globale Mafia«, der wilde Kapitalismus in Rußland, Polen, Lateinamerika, Asien und Afrika erklärt so überzeugend, woran es liegt, daß unsere soziale Marktwirtschaft in diese andauernde Krise geraten ist, weiß so genau, warum es den Parteien nicht gelingt, einen Ausweg aus dieser Krise zu finden, daß das »jüdische Kapital« und die »jüdische Weltverschwörung« lediglich noch bei den rechtsextremen Neonationalsozialisten eine sie überzeugende Erklärungsfunktion haben können.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht um die Verharmlosung des organisierten Verbrechens. Es geht um eine objektive Beurteilung seiner Gefährlichkeit. Meine eigenen Forschungsergebnisse über beide Kriminalitätsformen, über organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität, zeigen, daß das organisierte Verbrechen ohne die Bereitschaft der Wirtschaft, kräftig daran mit zu verdienen, keine Chance hätte, die Rolle zu spielen, die es spielt. Dabei darf nicht vergessen werden,
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daß neben den Gesetzesbrechern im Nadelstreifen, die in den Kommandostellen der legalen Wirtschaft das Sagen haben, auch die Geheimdienste und die hohe Politik sich der organisierten Kriminalität bedienen. Konservative und Rechte in allen Parteien sind aber vorerst noch immer fest davon überzeugt, daß heute die Hauptgefahr für die innere Sicherheit, für unsere sozialstaatliche Demokratie, für das ganze System der sozialen Markwirtschaft, also auch für die sozialen Sicherungssysteme, nicht von der Wirtschaftskriminalität, sondern von der inzwischen zum Mythos hochstilisierten Organisierten Kriminalität, vom mafiosen Kapitalismus, von seinen kriminellen Profiten ausgeht. 1 7 Das Geldwäschegesetz des damaligen CDU-Innenministers Manfred Kanther ist wirkungslos, weil es ausdrücklich nicht für die Schwarzgelder der Unternehmer und der zugelassenen Parteien gilt, auch nicht für Kanther selbst und seine Partei. Es stellt sicher, daß Schwarzgelder nur kriminellen Vereinigungen, verbotenen Parteien und Mafiakapitalisten weggenommen werden darf. Dies alles bewegt sich auf der für die Mystifikationen des organisierten Verbrechens sehr geeigneten abstrakten Ebene. Gestalt nimmt es an, wenn konkrete Personenkreise benannt werden: »Wirtschaftsasylanten«, ausländische Banden, polnische Autodiebe, rumänische Safeknacker, die vietnamesische Zigarettenmafia, türkische Drogenhändler, russische Mädchenhändler etc. Daß hinter zahlreichen Autodiebstählen professionelle deutsche Versicherungsbetrüger stecken, hinter Zigarettenschiebern die Tabakindustrie, die ihre Hände in Unschuld wäscht und behauptet, dahinter könne nur das organisierte Verbrechen stecken, wird nur selten aufgedeckt und niemals problematisiert. 1 8 Daß das organisierte Verbrechen in den meisten Fällen Geschäfte der Wirtschaftskriminellen erledigt, läßt sich daran zeigen, daß ausländische Schlepperbanden unseren völlig »ahnungslosen« Bauunternehmern einfach polnische Schwarzarbeiter unterschieben können. Schuld sind Subunternehmer. Sind das keine Unternehmer? Daß russische Zuhälter und Mädchenhändler dem Rotlichtviertel-, Bordell-, Hotel-, Bar-, Tanzlokal-, Restaurant- und Spielkasinobesitzer, dem ganz legalen Vergnügungskapital, also heimischen Unternehmern, die Ware Frau als Lustobjekte und Lockvögel liefern, dafür kann doch der Unternehmer nichts. Solche schlichten Tatsachen lösen keine wirtschaftskritischen Debatten aus. Die sozialwissenschaftlichen Theorien versagen gegenüber der Kriminalität des ganz legalen Kapitals. Die bürgerliche Kriminologie und Ökonomie hat schon hochentwikkelte mikro- und makroökonomische Analysemethoden für das Organisierte Verbrechen vorzuweisen." Sie sind ähnlich bedeutungs- und wirkungslos wie die bürgerliche politische Kriminologie und Ökonomie, aber das zusammengetragene und formalwissenschaftlich aufbereitete Material ist der Stoff, aus der eine neue, wirkungsvolle linke Kapitalismuskritik und Gesellschaftstheorie aufgebaut werden kann. Betrachtet man das Zusammenspiel der staatlich geschützten und parteipolitisch
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gestützten legalen Wirtschaft mit der Organisierten Kriminalität - und nur wo diese Kooperation stattfindet, hat die Organisierte Kriminalität eine Chance, sich zu entfalten -, dann zeigt sich die dialektische Einheit, um im Jargon rechter Sozialisten zu bleiben, von »schaffendem und raffendem Kapital«. Doch die legale Wirtschaft legt höchsten Wert darauf, als seriös zu gelten. Daher bemüht sie sich um Imagepflege und investiert in Parteien und Abgeordnete, Regierungen und Verwaltungen, Wissenschaft und Publizistik sehr viel Geld, um die Gesetze durchzuboxen, die sie braucht. Denn es ist unerläßlich, daß sie den überwiegenden Teil ihrer Profite durch legalisierte Wirtschaftspraktiken erzielen kann. Einige Teile der Profite entstehen aber auch durch Steuerhinterziehung, Subventionsbetrug, Ausschreibungsschwindel, Kartellabsprachen, Korruption, Werkspionage, Computerkriminalität, Geldwäsche, direkte oder indirekte Kooperation mit der auf kriminelle Geschäfte spezialisierten, meist durch legale Tarnfirmen vor Entdeckung geschützten Verbrecherbanden. Die kriminellen Profite der Müllmafia haben längst die der Drogenmafia überrundet. Auch sie ist inzwischen ein Komplementärsystem der legalen Wirtschaft. Diese hat selbst die Umweltzerstörungen ausgelöst, die zur Entwicklung des Umweltbewußtseins, der Ökopartei sowie zur Verabschiedung der verhaßten, weil kostspieligen Umweltauflagen führten. Daß die organisierten Banden und ihre Arbeiter, wie übrigens die Geschäftsführungen und Belegschaften internationaler Konzerne auch, in jedem hochentwickelten Land auch aus Ausländern bestehen, hat damit zu tun, daß internationale Arbeitsteilung und globalisierte Arbeitsmärkte zusammengehören. Interessant ist, daß diese Strukturen dem zurückblickenden Beobachter einen Analogieschluß aufdrängen. Wie im Mittelalter die christlichen Oberherren ihre Untertanen hatten, die ihnen die Arbeit erledigten, aber mit Vorliebe Juden für Geschäfte verwendeten, die sie selbst nach Recht und Glauben zur Sicherung ihres Platzes im Reich Gottes nicht machen durften, so verwenden Firmenchefs für ihre legalen Geschäfte Arbeiter, Angestellte, Politiker Beamte, Wissenschaftler und Journalisten, für die illegalen mit Vorliebe mafiose Geschäftemacher. Für größere Projekte bedürfen Firmenleitungen spezieller Personengruppen, deren Eignung sich aus mehreren Komponenten, aus hohem Ansehen zur Imagepflege, aber auch aus Rechtlosigkeit, Erpressbarkeit, Außenseiterdasein etc. zur Erledigung schmutziger Geschäfte zusammensetzt. 2 0 Aus der Sicht rechter Sozialisten, Kapitalismuskritiker und Antikapitalisten, ist die Wirtschaftskriminalität bisher kein ernsthaftes Problem. Sie erledigen es mit der lakonischen Feststellung: Ein paar schwarze Schafe gibt es immer. Und sie lassen von Experten Definitionen in die Welt setzen, die ganz bewußt Verwirrung stiften. So wird von der berühmten Treuhandund Wirtschaftsprüfungsgesellschaft K P M G auch die von Beschäftigten gegen ihren
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Arbeitgeber gerichtete Kriminalität (Diebstahl von Firmeneigentum) als Wirtschaftskriminalität bewertet und von namhaften Strafrechtlern ihr sogar der massenhafte Ladendiebstahl in Supermärkten der zugerechnet. 2 1 Dagegen wird die Umweltkriminalität, die gewaltige Schäden anrichtet und viele Menschenleben kostet, obgleich sie hauptsächlich von Wirtschaftsunternehmen begangen wird, nicht im Wirtschaftsstrafgesetz aufgeführt. Das macht Sinn, weil die Definition nicht nur strafrechtlich, sondern auch schadensstatistisch, sozial- und kriminalpolitisch von größter Bedeutung ist. Hier könnte man von Manipulation sprechen und dies zum Beweis anführen, daß auch hier das Demagogie-Theorem seine Berechtigung habe. Aber ich halte dagegen, daß nach meinen Untersuchungen die Vertreter dieser verdrehten Begriffe ihre Unwahrheiten und Verdrehungen selbst glauben. Sie haben sie fest in einen theoretischen Begründungszusammenhang eingebettet und zum Bestandteil ihres Expertentums gemacht. Der Begründungszusammenhang entspricht ihrer Weltanschauung, ihrem Menschenbild und ihrem kurzfristigen Interesse. Deshalb sind diese Experten auch nicht durchweg aus demagogischen Gründen auf die angeblich von Ausländern beherrschte Organisierte Kriminalität fixiert. Sie glauben, was sie sagen, und sie handeln danach. Sie diskriminieren und verfolgen nicht nur die kriminellen Unternehmer, sondern auch die sozial Schwachen und deren Verteidiger. Sie richten ihre Angriffe und ihre Hetzpropaganda nicht nur gegen die zur heimlichen Weltmacht hochstilisierten internationalen kriminellen Mafiakapitalisten, sondern auch gegen die von ihnen so genannten »Sozialschmarotzer«. Mit diesem Totschlagwort sind alle gemeint, die für sich Sozialleistungsansprüche geltend machen, besonders aber die »Eindringlinge aus aller Welt«, die nur hierher kommen, um »Staatsknete« zu kassieren. Dazu kommen Gewerkschaften, linke Parteien und Sozialverbände, die - was an Volksverhetzung grenzt - als »Sozialmafia« denunziert werden, weil sie mit ihrem Widerstand gegen die Enteignung von Sozialrechten und anderen Besitzständen und ihren Forderungen nach weiterem Ausbau der des sozialen Sicherungssystems die Leistungsträger dieser Gesellschaft belasten und sie angeblich dazu zwingen, Steuern zu hinterziehen und ihre dahinschwindenden Profite ins Ausland zu transferieren. Das alles wird begründet mit der Sorge um Arbeitsplätze. Mit dem Arbeitsplatzargument werden Sozialpolitiker, Gewerkschafter und Arbeitnehmer derart unter Druck gesetzt, daß der Straftatbestand der Erpressung erfüllt wäre, wenn es ein entsprechendes Gesetz gäbe. Noch fehlen die Mehrheiten, die ein solches Gesetz verabschieden könnten. Was also bleibt, ist der gemeinsame K a m p f der in der rechtskonservativen Mitte sich zusammendrängenden rechten Sozialisten gegen das kriminelle internationale Kapital. Gegen organisierte Verbrechersyndikate und den »wilden Kapitalismus« der Hinterhöfe der Europäischen Union, der USA und Japans. Nur vor diesem
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Hintergrund kann Heiner Geißler verstanden werden, der in der ARD-Fernsehsendung »Monitor« am 21. Oktober 1999 wörtlich sagte: »Die C D U ist eine antikapitalistische Partei, denn sie ist die Partei der sozialen Marktwirtschaft.«
Nicht
der Kapitalismus,
die
Wirtschaftskriminalität ist kriminell
Es ist bemerkenswert, daß die Kritik an diesem wilden Kapitalismus hauptsächlich von rechten Sozialchristen und Neoliberalen artikuliert wird. Die Linken schweigen noch. Die Klassenanalyse ließe sich auf diesen Kapitalismus allerdings nicht ohne kräftige Modifikationen anwenden. Es fehlt den Linken offensichtlich das analytische Kriterium, der Schlüsselbegriff, um diese Problematik in ihr Weltbild zu integrieren. Die Linke wird sich um das Problem nicht herumdrücken können, weshalb nicht nur Rassenkämpfe, sondern auch Klassenkämpfe am Ende in ganz vulgäre Kassenkämpfe abgleiten. Mögen die Ideale - richtig oder falsch - auch bestehen bleiben. Seit mehr als 20 Jahren versuche ich, durch systematische Studien über Wirtschaftskriminalität auf diese Frage eine für die politische Praxis geeignete theoretische Antwort zu finden. Ich habe inzwischen die Überzeugung gewonnen, daß die Kapitalanalyse und die Kritik der Eigentumsverhältnisse des Kapitalismus zwar den Zugang zu dem sehr abstrakten Charakter der Wertproduktion eröffnet hat, nicht aber den zur Verteilungsgerechtigkeit und der zu ihrer Herstellung erforderlichen Machtverhältnisse. Hier bietet sich nun die umfassende, also historische und politisch-ökonomische Analyse der Wirtschaftskriminalität als zentrale Kategorie an. Sie ist - im Kapitalismus - die Kriminalität des Kapitals. Nicht die der Arbeit. Die gibt es auch. Die Kategorie Wirtschaftskriminalität, die sich bei erfolgreichem K a m p f um die richtigen Gesetze zugunsten des Arbeit auswirkt, erklärt die kriminelle Kapitalbeschaf fung, Kapitalverwertung und obendrein die kriminelle Kapitalsicherung, die gelegentlich als »Pflege der politischen Landschaft« an die Oberfläche tritt. Die kriminelle Kapitalsicherung kann aber auch, wenn alle Stricke zu reißen drohen, mit der Einrichtung einer wirtschaftsfreundlichen Diktatur enden. Die Ausblendung der kriminellen Ökonomie, vor allem der Wirtschaftskriminalität, aber durchaus auch ihres Komplementärsystems Organisierte Kriminalität, ist das gravierendste Theoriedefizit der heutigen linken Kapitalismuskritik und des linken Antikapitalismus. Diese Einsicht zu gewinnen, sie weiter zu verbreiten und weiterzuentwickeln, ist dringen erforderlich. D o c h muß sich die Linke den unmarxistischen Gedanken abgewöhnen, der ganze Kapitalismus sei kriminell. Das meinen rechte Sozialisten auch v o m linken Sozialismus.
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Die gravierenden Folgen der Wirtschaftskriminalität für die sozialstaatliche Demokratie wie für realsozialistische Wirtschaftsordnung, für Arbeitnehmer und Selbständige, für breite Bevölkerungsschichten, sind beweisbar, erklärbar, spürbar. Sie sind gewaltig und gewalttätig. Sie bieten vollständig das Material für eine Theorie der Kapital-Verbrechen. Und diese ist sogar bündnispolitisch vermittelbar. Sie kann jedem täglich vor Augen geführt und vor Ort konkret bekämpft werden. Vor allem schützt sie vor Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, lenkt stets auf das Kernproblem aller Wirtschaftsordnungen, auch vergangener und durchaus denkbarer künftiger demokratisch-sozialistischer Systeme, nämlich auf die zentrale Eigentumsfrage. Sie zeigt, daß die Eigentumsfrage in erster Linie eine Machtfrage ist, aber auch, daß sie - wie die Zerstörungskraft des Untergrundkapitalismus in den Staaten des real existierenden Sozialismus bewiesen hat - weit mehr als das Privateigentum an Produktionsmitteln umfaßt. Die Eigentumsfrage bleibt zentral. Aber das Eigentum vermittelt Macht und Möglichkeiten des Machtmißbrauchs in allen seinen Formen, gleichviel, ob es sich um Privat-, Genossenschafts- oder Staatseigentum handelt. Das aber heißt, auf soziale und sozialistische Eigentumsformen und Wirtschaftsweisen bezogen: Die Enteignung erübrigt nicht automatisch die Demokratiefrage. Es geht es um die Frage der Unterwerfung des Kapitals, vor allem der gigantischen Gobalunternehmen, die N o a m Chomsky als Tyranneien charakterisiert. Tatsächlich sind es die letzten demokratiefreien Zonen. Der strukturelle Widerspruch zwischen diesen aufgeklärten Feudalorganisationen und den Kommunal- und Staatsdemokratien erfordert einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das Verhältnis zwischen nationalstaatlicher oder europäischer Demokratie und Weltwirtschaft muß geklärt, die Frage, ob die Wirtschaft sich demokratische zustande gekommenen Gesetzen beugen will oder nicht, muß machtpolitisch geklärt werden. Es kann bei dieser Kraftprobe nur um die Verwirklichung von Verhältnissen gehen, die es denjenigen, die über kein oder kein nennenswertes Kapital verfügen, erlauben, Wirtschaftskriminalität zu verhindern. Denn Wirtschaftskriminalität ist die privatistische, aber organisierte Abschaffung demokratischer, sozialstaatlicher und ökologischer Gesetze. Die zu schaffenden Verhältnisse müssen es erlauben, die illegale Einflußnahme der Wirtschaft auf Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Justiz zu unterbinden, Wirtschaftsentscheidungen transparent zu machen und die Kapitalfunktionäre - auch die in einem demokratischen Sozialismus möglicherweise vom Volk gewählten - auf die demokratisch zustande gekommenen Gesetze zu verpflichten. Es gibt kein Zurück in die Epoche des »Ehrenworts«. Sie spielt noch eine Rolle in mafiosen Familien und kriminellen Vereinigungen, die keine schriftlichen Verträge abschließen können, weil sie als Beweise verwendet werden können. Im sozialen und demokratischen Rechtsstaat gilt das soziale und demokratische Gesetz. Die Forde-
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rung nach mehr, besser: nach wirksamerer Demokratie, ist eine überzeugende Alternative zur Law-and-Order-Gesellschaft. Das Wirtschaftsstrafrecht sollte immer nur als allerletztes Mittel zu Hilfe genommen werden.
A nmerkungen 1 Vgl. Reinhard Kühnl: Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus - Faschismus, Reinbek bei Hamburg, 1971, S.93 ff, ders., Faschismustheorien - Texte zur Faschismusdiskusion 2, Reinbek bei Hamburg 1979, S.209 ff.; ders.. Die nationalsozialistische Linke, Meisenheim 1966. 2 Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus - Ein theoretischer Versuch. Siehe dazu auch die Rezension von Manfred Dahlmann: Theorie oder Kritik? Eine erkenntnistheoretische Anmerkung. Beide Beiträge in: Kritik &Krise, Materialien gegen Ökonomie und Politik, Nr.4/5 1991. S.6-10. Ich habe - in Unkenntnis von Postones Theorieansatz - 1995 einen eigenen ersten Versuch gemacht, den modernen Antisemitismus als rechten Antikapitalismus zu erklären, der mit Postones lange vorher veröffentlichten Grundannahmen von der Idee her übereinstimmt, aber auf eine größere theoretische Reichweite angelegt und eine weniger abstrakte Begründung angewiesen ist. Postones theoretische Erklärung des Holocaust ist streng auf die Vernichtung des Judentums begrenzt. Postone hat recht, daß damals keine andere Gruppe die Juden hätten ersetzen können. Heute jedoch kann er es, wie ich mit dem vorliegenden Beitrag zu beweisen versuche. In der Kritik von Manfred Dahlmann, die auf den Vorwurf hinausläuft, Postone habe lediglich Marx< Erkenntnistheorie am Antisemitismusproblem bestätigt, aber seine »Erklärung« nicht aus einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft selbst entwickelt, die in diesem Fall »eine Kritik der Verkürzung der theoretischen Vernunft auf ihre instrumenteile Funktion« hätte enthalten müssen. Postones Aufsatz erschien zuerst in: Merkur, H. 1/1982, S.13-25 (aus dem englischen übersetzt von Renate Schumacher und Dan Diner) 3 Ein geistreiches Beispiel bietet Robert Kurz mit seinem Buch: Der Kollaps der Moderne Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt 1991. Vgl. zum Problem des Staatssozialismus das Buch von Arthur Shadwell: Der Zusammenbruch des Sozialismus, München 1927, II. Kapitel, S.62 ff, in dem schon Mitte der 20er Jahre der Untergang nicht nur des sowjetischen Sozialismus, sondern des Sozialismus überhaupt angekündigt und alle Hoffnung auf ein System gesetzt wird, in dem auch die Arbeiter Aktionäre sind. Damit würde, wie ich es an anderer Stelle einmal auf den Punkt zu bringen versuchte, statt der sozialistischen Räterepublik eine Art »volkskapitalistische Aufsichtsräterepublik« als höchsten Stadium wirtschaftlicher Entwicklung institutionalisiert werden. 4 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der Antisemitismus als nationalistisch-rassistischer Antikapitalismus. In: Gudrun Hentges/Guy Kempfert/Reinhard Kühnl: Antisemitismus. Geschichte, Interessenstruktur, Aktualität, Heilbronn 1995, S.39-71. 5 Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eingeleitet von Eduard März, 2 Bände, Frankfurt 1968. 6 Vgl. Mario Keßler: Integration od er Absonderung? Jüdische Frage und Zionismus in der internationalen Arbeiterbewegung an der Jahrhundertwende. In: Antisemitismus, Zionis-
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mus und Sozialismus, Mainz 1993, S. 21. Dazu auch: Protokoll des SPD-Parteitags zu Köln vom 22. bis 29. Oktober 1893, Berlin 1893, S.16. 7 Vgl. Hans See: Kapital-Verbrechen, 2. Aufl. Frankfurt 1992, S. 228 ff.; ferner Hans S e e / Eckart S p o o (Hg.): Wirtschaftskriminalität - Kriminelle Wirtschaft, Heilbronn, 1997. 8 Karl Marx: Das Kapital, Vorwort zur ersten Auflage. In: MEW, Bd. 23, Berlin Ost, 1966, S.12. 9 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, Berlin (Ost) 1972, S. 482 ff. Hier werden der »reaktionäre Sozialismus« mit seinen Untergruppen »feudaler«, »kleinbürgerlicher« und deutscher oder »wahrer« Sozialismus, daneben der »konservative oder Bourgeoissozialismus« und schließlich der am besten bewertete »kritisch utopistische Sozialismus und Kommunismus« derart präzise definiert, daß die Systematisierung bis heute ihre Aussagekraft und - bei entsprechenden Modifikation - auch ihre Aktualität nicht eingebüßt hat. 10 Darüber einschlägig Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt am Main 1959. Kap. VII, S. 96 ff. Massing charakterisiert und vergleicht den religiös argumentierenden Hofprediger Stoecker mit dem rassistischen Antisemiten Theodor Fritsch, dessen Antisemiten-Katechismus von 1898 er abdruckt, aus dem ersichtlich ist, daß der rassistische Antikapitalismus die Kapitalismuskritik der Arbeiterbewegung nahezu vollständig übernimmt, aber immer dort J u d e oder jüdisch einsetzt, wo der Marxist Kapitalist oder kapitalistisch schreiben würde. (S.100) 11 Vgl. Neokonservative und »Neue Rechte«, Hg. von Iring Fetscher, München 1983. Hier ist das Thema: Stellung der Konservativen zu den Problemen des Antikapitalismus ein blinder Fleck. 12 Das angesichts der undurchsichtigen Materie sehr informative Buch der Fachleute Berndt Georg T h a m m und Konrad Freiburg: Mafia global. Organisiertes Verbrechen auf dem Sprung in das 21 Jahrhundert, Hilden 1998, zeigt, daß die Fixierung der Öffentlichkeit auf das organisierte Verbrechen gegenüber der Wirtschaftskriminalität blind macht. Ferner verblüfft, daß zwar die Mafia-Gruppen in den letzten Winkeln der Erde erwähnt und beschrieben werden, es aber so gut wie keine Deutschen unter ihnen gibt. Organisierte Kriminalität darf also getrost als Ausländerkriminalität aufgefaßt werden. 13 Ich will nicht dazu beitragen, die Literatur zu verbreiten, die in Ermangelung an J u d e n für die Korruption »in diesem unserem Lande« Helmut Kohl inzwischen als Juden entlarvt hat. Sein richtiger Name Hennoch Kohn. Diese Verschwörungstheorien kursieren auch auf einer von der C D U selbst installierte Webseite: http://forum-cdu.de. 14 Vgl. See, Kapital-Verbrechen, a.a.O., S. 58. 15 Günter Amendt: Die Droge Der Staat Der Tod, Hamburg 1992, S. 11. 16 Herta Däubler-Gmelin: Geldwäsche - Die gesellschaftspolitische Dimension. Dokumentation einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am. 7. und 8.10.1993 in Berlin. 17 Vgl. Rolf Gössner (Hg.): Mythos Sicherheit - Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, Baden-Baden 1995, ein Buch mit zahlreichen Beiträgen zu diesem Themenkomplex. 18 Vgl. Die Tageszeitung The Guardian v o m 28.1.2000. 19 Gianluca Fiorentini/Sam Peltzman (Hg.): The Economics of Organized Crime, Camebridge 1995. 20 Vgl. dazu See, Kapital-Verbrechen, a.a.O., S.262 ff. 21 Vgl. Gunter Arzt/Ulrich Weber: Strafrecht Besonderer Teil (LH4), Bielefeld 1980, S. 6.
Bibliographie zum 70. Geburtstag von Professor Dr. Kurt Pätzold Zusammengestellt von Margarete Piesche
Bücher Der Zeiss-Konzern in der Weltwirtschaftskrise (1929-1933). - Diss. Jena 1963. - XIII, 271 gez. BI. Antisemitismus und Judenverfolgung (Januar 1933 bis August 1935). Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus. - Diss. B Berlin 1973. - X, 225 gez. Bl. ; gez. BI. 226449 Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933-1935). - Berlin: Deutscher Verl. der Wissenschaften, 1975. - 314 S. - Als Diss. B 1973 und Weißbecker, Manfred: Hakenkreuz und Totenkopf. Die Partei des Verbrechens. - Berlin: Deutscher Verl. der Wissenschaften, 1981. - 429 S. - Parallelausg. Köln 1981 und Runge, Irene: Pogromnacht 1938. - Berlin: Dietz Verl., 1988. - 260 S. - (Schriftenreihe Geschichte) und Schwarz, Erika: »Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof«. Franz Novak - der Transportoffizier Adolf Eichmanns. - Berlin: Metropol-Verl., 1994. - 239 S. - (Zentrum für Antisemitismusforschung / Dokumente, Texte, Materialien ; 13) und Weißbecker, Manfred: Adolf Hitler. Eine politische Biographie. - Leipzig: Militzke Verl., 1995. 640 S. - (Militzke Biographie). - Als Paperback 1999 und Weißbecker, Manfred: Geschichte der NSDAP 1920-1945. - Köln: PapyRossa-Verl., 1998. - 580 S. und Schwarz, Erika: Tagesordnung Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der »Endlösung«. - 4. Aufl. - Berlin: Metropol-Verl., 1998. 258 S. (Zentrum für Antisemitismusforschung / Dokumente, Texte, Materialien ; 3). - 1. Aufl. 1992 An der Schwelle eines geschichtsträchtigen Jahres. Ein halbes Jahrhundert nach der »doppelten Staatsgründung«. - Jena, 1999. - 23 S. - (Schriftenreihe des Jenaer Forum für Bildung und Wissenschaft; 38) und Weißbecker, Manfred: Rudolf Hess. Der Mann an Hitlers Seite / Mit Beitragen von Ted Harrison [u. a.]. - Leipzig: Militzke Verl., 1999. - 544 S. - (Militzke Biographie)
Herausgebertätigkeit, Bearbeitungen, Vor-und Nachworte Dokumente zur Deutschen Geschichte / Hrsg. von Wolfgang Rüge u. Wolfgang Schumann. 19331935 / Bearb. von Kurt Pätzold unter Mitarb. von Kristina Shabaviz. - Berlin: Deutscher Verl. der Wissenschaften, 1977. - 146 S. Ossietzky, Carl von: Rechenschaft. Publizistik aus den Jahren 1913-1933 / Hrsg. von Bruno Frei. Die Anmerkungen wurden bearb. von Kurt Pätzold u. Karin Jecht. - 2. Aufl. - Berlin ; Weimar: Aufbau-Verl., 1982. - 391 S. - (Dokumentation, Essayistik, Literaturwissenschaft). - 1. Aufl. 1970
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Margarete Piesche
Briefe des Soldaten Helmut N. 1939-1945 / Hrsg. von Marlies Tremper. Mitarb.: Axel Klätte. Mit einem Nachwort von Kurt Pätzold. - Berlin ; Weimar: Autbau-Verl., 1988. - 263 S. Mann, Erika: Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich / Mit einer Einführung von Thomas Mann. Nachwort von Kurt Pätzold. - Berlin: Verl. Neues Leben, 1988. - S. 193-202 Schröder, Frank; Ehlers, Ingrid: Zwischen Emanzipation und Vernichtung. Zur Geschichte der Juden in Rostock / Geleitwort von Kurt Pätzold. - Rostock: Stadtarchiv, 1988. - S. 4-5. - (Schriftenreihe des Stadtarchivs Rostock; 9) Verfolgte Berliner Wissenschaft. Ein Gedenkwerk / Zsgest. von Rudolf Schottlaender. Mit Vorwort von Wolfgang Scheffler; Kurt Pätzold u. einem Nachwort von Götz Aly. - Berlin: Ed. Hentrich, 1988. - 211 S. Der Weg in den Krieg. Studien zur Geschichte der Vorkriegsjahre, 1935/36 bis 1939 / Hrsg. von Dietrich Eichholtz u. Kurt Pätzold. - Berlin: Akademie-Verl., 1989. - XII, 562 S. Sowjetstern und Hakenkreuz 1938 bis 1941. Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen / Hrsg. u. eingel. von Kurt Pätzold u. Günter Rosenfeld. - Berlin: Akademie-Verl., 1990. - 348 S. Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit. Ein Versuch / Hrsg. u. mit einem Nachwort von Kurt Pätzold. - Leipzig: Reclam-Verl., 1991. - 302 S. Biographien zur deutschen Geschichte von den Anfängen bis 1945. Lexikon / Hrsg. von Kurt Pätzold (Leiter). - Berlin: Deutscher Verl. der Wissenschaften, 1991. - 594 S. Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942 / Hrsg. von Kurt Pätzold. - 4. Aufl. - Leipzig: Reclam, 1991. - 362 S. - (Reclams UniversalBibliothek ; 1008). - 1. Aufl. 1983 »Wir verreisen...«. In die Vernichtung. Briefe 1937-1944 / Hrsg. von Hanne Hiob u. Gerd Koller. Eingeleitet u. mit Erläuterungen von Kurt Pätzold u. Erika Schwarz. - Hamburg: Konkret Literatur Verl., 1993. - S. 1542. - Neuauflage: Berlin: Autbau-Taschenbuch Verl., 1998. - (AtV; 1395) Dokumente gegen Legenden. Chronik und Geschichte der Abwicklung der Mitarbeiterinnen des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin / Hrsg. von Kurt Pätzold gemeinsam mit Ingrid Martschenz, Erika Schwarz, Sonja Striegnitz. - Berlin: MAAS Verl., 1996. - 200 S. Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen / Kurt Pätzold, Manfred Weißbecker (Hrsg.); Mit Beitr. von Peter Black [u. a.]. - Leipzig: Militzke Verl., 1996. - 480 S. - Als Paperback 1999. - Rumänische Ausgabe: Trepte spre sp/nzuratoare. Cararile vietij inaite de sentintele de la Nürnberg. - Bucuresti: Ed. saeculum i. O & Ed. Vestala Bucuresti, 1999. - 415 S.
A rtikel und Beiträge in Sammelwerken und Zeitschriften Die Auftraggeber der »Sozialistischen Monatshefte«. Ein Beitrag zum Zusammenhang von Imperialismus und Opportunismus. - In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 3 (1961), S. 888-890 und Weißbecker, Manfred: Kritische Bemerkungen zum Bericht »Die deutsche Widerstandsbewegung und die Alliierten zur Zeit des zweiten Weltkrieges«. - In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 10 (1962), S. 316-335 Ernst Abbes erste Dozenten-Semester. Zur 100. Wiederkehr seines Eintritts in den Lehrkörper der Salana. - In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Jena, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe, Jena, 13 (1964), S. 99-103
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R ezensionen Kämpfendes Leuna (1916-1945). Die Geschichte des Kampfes der Leuna-Arbeiter. - T. 1-2. - Berlin 1961. - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 10 (1962), S. 655-661, in Zsarb. mit Wolfgang Schumann Deutsche Techniker aus sechs Jahrhunderten / Hrsg. von Alfons Kauffeldt.- Leipzig 1963. - (Taschenbuch Verlag Enzyklopädie ; 28). - Rez.in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 11 (1963), S. 1542-1544 Treue, Wolfgang: Die deutschen Parteien. - Wiesbaden 1962. - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 11 (1963), S. 611-614 Rüge, Wolfgang: Stresemann. Ein Lebensbild. - Berlin 1965. - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 14 (1966), 138-140 Volk, Ludwig: Der bayerische Episkopat und der Nationalsozialismus 1930-1934. - Mainz 1965. (Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern, R B ; 1). - Rez. in: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte, Jena, 20 (1967), S. 103-104 Schwarzwälder, Herbert: Die Machtergreifung der NSDAP in Bremen 1933. - Bremen 1966. - Rez. in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, Berlin, 89 (1968), S. 522524 Wir schweigen nicht! Eine Dokumentation über den antifaschistischen Kampf Münchener Studenten 1942/43 / Hrsg. von Klaus Drobisch. - Berlin 1968. - Rez. in: Zeitschtift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 16 (1968) 12, S. 1622-1624 Anatomie des Krieges. Neue Dokumente zur Rolle des deutschen Monopolkapitals bei der Vorbereitung und Durchführung des 2. Weltkrieges / Hrsg. u. eingel. von Dietrich Eichhotz und Wolfgang Schumann. - Berlin 1969. - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 17 (1969) 12, S. 1600-1602 Bednareck, Horst: Die Gewerkschaftspolitik der Kommunistischen Partei Deutschlands - fester Bestandteil ihres Kampfes um die antifaschistische Einheits- und Volksfront zum Sturze der Hitlerdiktatur und zur Verhinderung des Krieges (1935 bis August 1939). - Berlin 1969. - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 18 (1970) 11, S. 1512-1515 Schäfer, Gerhard: Landesbischof D. Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940-1945. Eine Dokumentation / In verb. mit Richard Fischer zsgest. - Stuttgart 1968. - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 18 (1970) 8, S. 1102-1103 Schmidt, Jürgen: Die Erforschung des Kirchenkampfes. Die Entwicklung der Literatur und der gegenwärtige Stand der Erkenntnis. - München 1968. - (Theologische Existenz heute ; 149). Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 18 (1970) 6, S. 845 Auf antisowjetischem Kriegskurs. Studien zur militärischen Vorbereitung des deutschen Imperialismus auf die Aggression gegen die UdSSR (1933-1941) / Hrsg. Kollegium: Hans Höhn [u.aj. Berlin 1970. - (Schriften des Deutschen Instituts für Militärgeschichte). - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 19 (1971) 2, S. 269-271 Conway, John Seymour: Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933-1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge / Dt. Fassung von Carsten Nicolaisen. - München 1969. - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 19 (1971) 9, S. 1201-1204 Deutschland von 1939 bis 1945. (Deutschland während des 2. Weltkrieges / Von Wolfgang Bleyer [u.a.]. - Berlin 1969. - (Lehrbuch der deutschen Geschichte ; 12) - Rez. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 19 (1971) 4, S. 570-572 Eichholtz, Dietrich: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945. Bd. 1: 1939-1941. - Berlin
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Über die Autoren Wolfgang Benz Historiker, geb. 1941, 1968 Promotion, 1969 - 1990 Mitarbeiter im Institut für Zeitgeschichte München, seither Professor an der Technischen Universität Berlin, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, zuletzt »Deutschland seit 1945«, München 1999, »The Holocaust«, New York 1999, »Judenmord in Litauen« (Hrsg., gemeinsam mit Marion Neiss), Berlin 1999, und »Deutschland unter alliierter Besatzung 1945 1949«, Berlin 1999. Luitwin Bies Historiker, geb. 1930, Fernstudium von 1969 bis 1975, 1979 Promotion, viele Jahre tätig in KPD/ DKP und VVN-Bund der Antifaschisten, 1956 bis 1974 Stadtratsmitglied in Völklingen/Saar, Publikationen zur Geschichte der Arbeiter- und antifaschistischen Bewegung, der Verfolgung an der Saar und zur Stadtgeschichte Völklingens. Hans Coppi geb. 1942, Ökonomiestudium, 1992 Promotion, 1988 - 1990 wiss. Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1990 - 1994 Mitarbeiter im Projektverbund »Widerstandsgeschichte« an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, z.Z. Leiter eines Projektes zu Intensiverschließung archivalischer Quellen in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte des Widerstandes der »Roten Kapelle«. Jüngste Buchpublikationen: »Dieser Tod paßt zu mir. Harro Schulze-Boysen - Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915 - 1942«, Berlin 1999 (Hrsg., gemeinsam mit Geertje Andresen), »>Aufbruch< im Spannungsfeld von Nationalismus und Kommunismus - eine Zeitschrift für Grenzgänger«, Koblenz 2000 (Hrsg., gemeinsam mit Susanne Römer). Dietrich Eichholtz Historiker, geb. 1930, studierte Wirtschaftswissenschaften und Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, 1959 Promotion, 1968 Habilitation, von 1955 bis 1991 am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin tätig, zuletzt an der TU Berlin; jüngste Veröffentlichungen: »Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Kriegswirtschaft 1939 - 1945« (Hrsg.), Berlin 1999; »Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939 - 1945« in drei Bänden, Reprint München 1999. Ludwig Elm Historiker, geb. 1934, lehrte und forschte bis 1990 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages in der Gruppe der PDS, Mitglied der Enquetekommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«: Veröffentlichungen zur Parteiengeschichte im deutschen Kaiserreich, zu Geschichte und Ideologie des Konservatismus sowie zur Zeitgeschichte. Letzte Buchpublikation: »Ansichten zur Geschichte der DDR.., Bde VI - XI, Bonn und Berlin 1996 ff. (Hrsg., gemeinsam mit Dietmar Keller und Reinhard Mocek) Heinrich Fink geb. 1935, Absolvent und Hochschullehrer der Theologischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 1979 Professor für evangelische Theologie, von 1980 bis 1990 Dekan der Theologischen Fakultät, 1990 bis 1992 Rektor der Humboldt-Universität. Seit 1998 Mitglied der PDS-
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Über die Autoren
Fraktion im Deutschen Bundestag und zugleich deren kultur- und wissenschaftspolitischer Sprecher. Letzte Buchveröffentlichung: »Sich der Verantwortung stellen«, Berlin 1992. W erner Fischer Historiker, geb. 1940, Studium der Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und der Soziologie, von 1966 bis 1970 wiss. Assistent am Institut für Deutsche Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, 1971 bis 1989 Mitarbeiter beim Ministerrat der DDR. 1990/91 wiss. Mitarbeiter an der Gedenkstätte Ravensbrück. Arbeiten zur Politik und Zeitgeschichte, seit 1992 Mitarbeit an Projekten zum politischen und sozialen Wandel in Deutschland, u.a. zur Integration von Rußlanddeutschen. Georg Fülberth Politologe und Historiker, geb. 1939, forscht und lehrt an der Philipps-Universität Marburg; zahlreiche Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte und zur aktuellen Politik, zur Geschichte der Bundesrepublik und zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Jüngste Buchpublikationen: »KPD und DKP 1945 - 1990«, Heilbronn 1995, »Der große Versuch. Geschichte der kommunistischen Bewegung und der sozialistischen Staaten«, Köln 1995, »Das Ende als Chance«, 2 Bde, Hamburg 1998, »Berlin, Bonn, Berlin. Deutsche Geschichte seit 1945«, Köln 1999. Kurt Gossweiler Historiker, geb. 1917, war Hochschullehrer an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitarbeiter des Zentralinstituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR; zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte des Faschismus, der NSDAP und des Finanzkapitals. Letzte Buchveröffentlichung: »Wider den Revisionismus. Aufsätze, Vorträge, Briefe aus sechs Jahrzehnten«, München 1997. Wolf Gruner Historiker, geb. 1960, 1994 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1994/95 wiss. Mitarbeiter der Historischen Kommission zu Berlin, 1998 Fellow am International Research Center fbr Holocaust Studies in Jerusalem, z. Zt. wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung (TU Berlin); Buchpublikationen zur NS-Judenverfblgung in Berlin (1996), zur Zwangsarbeit deutscher Juden (1997) und zur Zwangsarbeit österreichischer Juden (2000). Gudrun Hentges geb. 1964, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Französisch in Marburg und Paris, z.Zt. wiss. Assistentin am Seminar für Sozialwissenschaften / Abteilung für Politikwissenschaft der Universität Köln; letzte Buchpublikationen: »Alte und Neue Rechte an Hochschulen« (Hrsg., gemeinsam mit Christoph Butterwegge), Münster 1999, »Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und Wilden« in philosophischen Schriften des 18. Und 19. Jahrhunderts«, Schwalbach/Taunus 1999, »Medien und multikulturelle Gesellschaft«, Opladen 1999 (Hrsg., gemeinsam mit Christoph Butterwegge und Fatma Sarigöz). Armin Jahne Historiker, geb. 1941, studierte Alte und Osteuropäische Geschichte an der Moskauer LomonosovUniversität, 1970 Promotion, 1980 Habilitation, lehrte 1970 bis 1996 Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, zuletzt Projektarbeit am dortigen Winckelmann-Institut. Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte des Hellenismus und zur Wissenschaftsgeschichte. Buchpublikationen: »Spartakus« (1986), »Geheimsache Troja. Der Streit um Schliemanns Gold« (1998). Svoboda Jahne Kunstwissenschaftlerin, geb. 1944, studierte Kunstgeschichte, Kunstwissenschaft und Geschichte an
Über die Autoren
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der Moskauer Lomonosov-Universität. 1978 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bis 1995 am Lexikon der Kunst in Berlin tätig, zuletzt kulturgeschichtliche Projektarbeit; zahlreiche Aufsätze zur osteuropäischen Kunst im 20. Jahrhundert. J o u k o Jokisalo Historiker, 1986 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1994 Habilitation in Finnland; lehrt und forscht an der Universität Oulu. Publikationen vor allem zur Geschichte des Nationalsozialismus und zur Ideengeschichte des Rassismus; jüngste Buchveröffentlichungen: »Vom Bockmist zur geschichtsmächtigen Kraft. Determinanten und Wirkung der Heilsversprechen des >deutschen Sozialismus< (1933 -1939)«, Frankfurt/Main u.a. 1994, »Rasismin aatehistoriasta«, Helsinki 1999. Mario Keßler Historiker, geb. 1955, Studium in Jena und Leipzig, 1990 Habilitation. Lehr- und Forschungstätigkeit in Leipzig, Berlin, Baltimore und London. Wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen zur Geschichte von Antisemitismus, Zionismus, Sozialismus und internationaler Arbeiterbewegung. Jüngste Buchpublikationen: »Die S E D und die Juden - zwischen Repression und Toleranz« (Berlin 1995); »Heroische Illusion und Stalin-Terror« (Hamburg 1999) - Der vorliegende Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus dem Buch »Remigranten als Historiker. Anfänge der DDR-Geschichtswissenschaft«, das demnächst erscheint. Reinhard Kühnl Politikwissenschaftler und Historiker, geb. 1936, lehrt und forscht an der Philipps-Universität Marburg; zahlreiche Publikationen zu politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Themen. Letzte Veröffentlichungen u.a.: »Deutschland seit der französischen Revolution. Untersuchungen zum deutschen Sonderweg«, Heilbronn 1996, »Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten«, Köln 2000; Stichworte »Faschismus« in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, sowie in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus (hrsg. von Wolfgang Fritz Haug), Bd. 4. Richard Lakowski Militärhistoriker, geb. 1938, von 1960 bis 1965 Studium der Geschichte und Geographie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1972 wiss. Assistent bzw. Oberassistent an der Berliner Universität, dann Dozent am Militärgeschichtlichen Institut der D D R bis 1996 wiss. Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam. Letzte Veröffentlichung: »Der Kessel von Halbe 1945. Das letzte Drama«, zweite Auflage, Berlin 1998. Christa Olschewski Historikerin, geb. 1948, Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1982 Promotion, 1978 1993 wiss. Mitarbeiterin am Bereich Deutsche Geschichte. 1994 berufliche Neuorientierung als PRSpezialistin, gegenwärtig PR-Mitarbeiterin in einer international tätigen Agentur. Margarete Piesche geb. 1933, 1983 Promotion, von 1965 bis 1992 wiss. Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaf ten zu Berlin. Informationstätigkeit und bibliographische Arbeiten zur Geschichte der Weimarer Republik, des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Siegfried
Prokop
Historiker, geb. 1940, 1967 Promotion, 1978 Habilitation, von 1979 bis 1996 Hochschullehrer an der Berliner Humboldt-Universität, 1987 Gastprofessor in Paris, 1988 in Moskau und 1991 in Mont-
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Über die Autoren
real. Publikationen vor allem zur Geschichte der Bundesrepublik und der DDR. Letzte Veröffentlichung: »Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren Wolfgang Harichs«, Berlin 1997. A lmuth Paschel Historikerin, geb. 1954, 1981 Promotion, bis 1989 wiss. Mitarbeiterin am Filmmuseum Potsdam, 1989/90 an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften, seit 1990 Mitarbeit an verschiedenen Projekten, u.a. zur Geschichte Brandenburgs in der NS-Zeit. Letzte Veröffentlichung über die Schicksale niederländischer Fremdarbeiter, enthalten in: »Zur Arbeit gezwungen«, hrsg. Von Rimco Spanjer u.a., Bremen 1999. Elke Reuter Historikerin, geb. 1949, 1976 Promotion, 1989 Habilitation, von 1975 bis 1990 wiss. Mitarbeiterin an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, danach Arbeit in Bildungsvereinen und wiss. Projekten, ab 1998 freiberuflich. Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte des Nationalsozialismus und der deutschen und der internationalen kommunistischen Bewegung. Letzte Buchpublikation: »Das kurze Leben der VVN von 1947 - 1953«, Berlin 1997 (gemeinsam mit Detlef Hansel). Rolf Richter Historiker, geb. 1945, 1974 Promotion, 1980 Habilitation, von 1970 bis 1990 tätig an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften; publizierte zur Geschichte der Geschichtsschreibung in Deutschland und den USA, zu Geschichte und Theorie von Faschismus und Antifaschismus, verfaßte Studien zur Anfälligkeit von Jugendlichen für Antisemitismus und Rechtsextremismus sowie zu kirchenhistorischen Problemen. letzte Buchpublikation: »Aus dem Leben der russischen orthodoxen Kirche in Berlin«, Berlin 2000. Werner Röhr geb. 1941, Studium der Philosophie und der Geschichte, 1971 Promotion, 1976 Habilitation. 1977 bis 1991 Mitarbeiter am Zentralinstitut für Philosophie bzw. am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R Zahlreiche Publikationen zur Geschichte der faschistischen Okkupationspolitik (»Europa unterm Hakenkreuz«, Bd. 2, Bd. 8 und Ergbd. 1), der Kollaboration, des Rassismus sowie zu sozial- und ideengeschichtlichen Problemen. Hrsg. des Bulletins für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Berlin 1993 ff. Günther Rosenfeld Historiker, geb. 1926, Studium von Geschichte und Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1956 Promotion, 1965 Habilitation, von 1966 bis 1991 Professor für Geschichte Rußlands und der Sowjetunion an der Humboldt-Universität. Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte Rußlands und der Sowjetunion im 20. Jahrhundert und zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Letzte Buchpublikation: »Pavlo Skoropads'kyi. Erinnerungen«, Stuttgart 1999 (Herausgabe und Bearbeitung der deutschen Fassung). Irene Runge Soziologin, Publizistin, geb. 1942 in New York (USA), 1949 Übersiedlung in die D D R Studium der Ökonomie/Soziologie an der Berliner Humboldt-Universität, Promotion, wiss. Mitarbeiterin, Oberassistentin, zuletzt bis 1990 tätig im Bereich Volkskunde an der Sektion Geschichte. Arbeit in Medien. Gründungs- und Sprecherratsmitglied, seit 1997 Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins Berlin e.V., Buchveröffentlichungen und zahlreiche Aufsätze und Artikel. Walter Schmidt Historiker, geb. 1930, 1961 Promotion, 1969 Habilitation. Forschungsgebiete: Geschichte der Neu-
Über die Autoren
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zeit und der deutschen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, der Revolution von 1848/49, vergleichende Revolutionsgeschichte, Marx-Engels-Forschung u.a.m. Neuere Publikationen: »Bürgerliche Revolution und proletarische Emanzipation in der deutschen Geschichte« (1990), »Die Erbedebatte in der DDR-Historiographie. Versuch einer kritischen Bilanz« (1995), »Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution. Studien zur deutschen Revolution von 1848/49« (Hrsg., 1998). A rnold Schölzel Journalist, geb. 1947 in Bremen, 1967 Übersiedlung in die D D R Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, dort von 1974 bis 1994 in Lehre und Forschung tätig, seit 1997 Redakteur bei der Tageszeitung »Junge Welt«; Dissertationsschritt über Karl Korsch, Publikationen u.a. über Nikolai Hartmann, Brecht, Schopenhauer, Nietzsche. Jüngste Veröffentlichungen in »Utopie kreativ«, »Z« und »Marxistische Blätter«. Horst Schützler Historiker, geb. 1935, 1963 Promotion, 1978 Habilitation. Von 1958 bis 1992 an der HumboldtUniversität zu Berlin tätig in Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Geschichte Rußlands, der Sowjetunion und der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Letzte Buchpublikation: »Die Russische Revolution 1917 - Wegweiser oder Sackgasse?« (1997; gemeinsam mit Wladislaw Hedeler und Horst Schützler) Erika Schwarz Historikerin, geb. 1950, Studium Lehrer für Geschichte und Germanistik in Berlin, bis 1994 wiss. Assistentin am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. 1997 bis 1999 Mitarbeit am Projekt zur Gedenkstättengeschichte an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Publikationen zum Holocaust. Eva Seeber Historikerin, geb. 1932, Studium in Jena, 1961 Promotion in Leipzig, 1985 Habilitation in Berlin, tätig in Lehre und Forschung zur Geschichte Osteuropas, insbesondere der deutschen Okkupationspolitik in Polen und der Tschechoslowakei. Nach dem Ausscheiden aus der Akademie der Wissenschaften der D D R Publikationen zum Warschauer Ghetto, zur Rolle der Londoner Exilregierung im Zweiten Weltkrieg, zur Grenzziehung nach 1945 sowie zur NS-Schulpolitik in Deutschland. Hans See geb. 1934, zwölf Jahre als Werkzeugmacher tätig, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt a.M., Professor für Politikwissenschaft, Sozialpolitik und Wirtschaftskriminologie an der Fachhochschule Frankfurt a.M.; zahlreiche Veröffentlichungen zur Wirtschaftskriminalität; jüngste Buchpublikationen: »Wirtschaftsverbrechen - der innere Feind der freien Marktwirtschaft«, Köln 1997 (Hrsg., gemeinsam mit Dieter Schenk), »Wirtschaftskriminalität kriminelle Wirtschaft«, Heilbronn 1997 (Hrsg., gemeinsam mit Eckart Spoo). Sonja
Striegnitz
Historikerin, geb. 1936. Von 1963 bis 1996 tätig an der Berliner Humboldt-Universität in Lehre und Forschung zur Geschichte Rußlands und der Sowjetunion. 1970 Promotion, 1986 Habilitation. Letzte Buchpublikation: »Die Russische Revolution 1917 - Wegweiser oder Sackgasse?« (1997; gemeinsam mit Wladislaw Hedeler und Horst Schützler) Angelika Timm von 1988 bis 1998 Hochschuldozentin am Fachbereich Asien- und Afrikawissenschaften der Hum-
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Über die Autoren
boldt-Universität zu Berlin, 1998/99 Gastprofessur in Israel, seit 1999 wiss. Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients an der Freien Universität Berlin. Letzte Buchveröffentlichungen: »Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zum Staat Israel«, Bonn 1997; »Jewish Claims against East Germany«, Budapest 1997; »Israel. Geschichte des Staates seit seiner Gründung«, Bonn 1998. R obert Waite Historiker, geb. 1948 in New York. Studium an den Universitäten Würzburg und München. 1980 Promotion an der State University of New York at Birmingham; Hochschullehrer an der University of Maryland, European Division, und Idaho State University. Seit 1988 Historiker beim Office of Special Investigations des amerikanischen Justizministeriums. Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Kriminalität. Manfred Weißbecker Historiker, geb. 1935, 1962 Promotion, 1967 Habilitation, von 1967 bis 1992 Hochschullehrer an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen vor allem zur Geschichte des Nationalsozialismus, der Weimarer Republik, der politischen Parteien und des antifaschistischen Widerstandes. Letzte Buchpublikationen (alle gemeinsam mit Kurt Pätzold): »Adolf Hitler. Eine politische Biographie« (Leipzig 1995), »Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen« (Leipzig 1996), »Geschichte der NSDAP 1920 - 1945« (Köln 1998), »Rudolf Heß - der Mann an Hitlers Seite« (Leipzig 1999). Günther Wieland Diplomjurist, geb. 1931, 1949-1952 Besuch der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Chemnitz und Greifswald, 1952-1956 Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bis 2. Oktoberl990 Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt der DDR; diverse Veröffentlichungen über KZ-System und NS-Justiz sowie Ahndung von Naziverbrechen.