MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 175
Rückkehr zur Erde von Susan Schwartz Wenn du versuchst, dich in der Erde ...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 175
Rückkehr zur Erde von Susan Schwartz Wenn du versuchst, dich in der Erde zu verstecken, werde ich dich ausgraben. Wenn du versuchst zufliegen, lasse ich mir Flügel wachsen. Wenn du versuchst zu rennen, werde ich schneller sein als du. Wenn du versuchst zu schwimmen, lasse ich mir Flossen wachsen. Wenn du versuchst zu kämpfen, werde ich dich töten. Betrachte nochmals deine Visionen und deute sie diesmal richtig. Sieh genau hin! Deine Tage sind gezählt. Die Dunkelheit, die du dort siehst, wird dich bald umfangen. Fürchte dich: Ich bin die Dunkelheit. Leto Jolar Angelis stand vor dem Fenster seines Büros, blickte nach Norden und leistete mit kalten Augen seinen Schwur.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich für Jahrhunderte um den Planeten. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist – bis auf die Bunkermenschen – unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch eine Art Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, mit dem Kometen – dem Wandler – zur Erde gelangten. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Als die Daa'muren damit beginnen, Atomwaffen zu horten, kommt es zum Krieg, den keine Seite für sich entscheiden kann … Als Matt Drax von den Nachfahren einer MarsExpedition des Jahres 2009 auf den terraformten Mars gebracht wird, fürchtet man dort das barbarische Erbe der Erde. Es kommt zu Übergriffen zwischen Städtern und Waldbewohnern. Da stellt sich heraus, dass Matt die
Schrift der Hydree entziffern kann, der vor 3,5 Mrd. Jahren verschwundenen Marsrasse. Sie sind die Vorfahren der Hydriten, des amphibischen Volkes, das seit Urzeiten in den irdischen Meeren lebt! Ihm wird das Studium der Schriften gestattet; man erhofft sich auch die Enträtselung eines mysteriösen Strahls, der seit damals auf die Erde gerichtet ist. In einen Maschinenpark der Alten wird ein gesprungener »Verteilerkristall« entdeckt, der einst die ganze Anlage versorgte; nun stauen sich die Energien aus dem Kern auf und führen zu Marsbeben. Eine Expedition findet in einem fernen Canyon einen ErsatzKristall, muss sich aber gegen mutierte Waldleute wehren, die dort hausen. Nach Einsetzen des Kristalls erwacht die Anlage zu neuem Leben und offenbart einen Archivraum – in dem Matts Geist durch die Zeiten in das Bewusstsein des jungen Hydree Gilam'esh geschleudert wird. 100 Jahre lang bleibt er in dessen Körper und erlebt die Entwicklung des Strahls und den Exodus der Marsvölker auf eine Erde ca. 50.000 Jahre vor dem Homo sapiens mit. Als Gilam'esh stirbt, kehrt Matts Geist in seinen Körper und seine Zeit zurück. Doch nun erscheint eine neue Bedrohung: Kristallträumer, der Anführer der Canyonleute, taucht in Elysium auf und gewinnt an Einfluss. Bald ist das Strahlgelände von Aufständischen besetzt, die Matts Tod und die Einstellung aller Experimente fordern! Die Situation eskaliert, als ein skrupelloser Geschäftsmann die Waldleute mit einem Pilz infiziert, um an einem
Gegenmittel zu verdienen, der Erreger aber mutiert und eine Seuche auslöst. Selbst als Leto Jolar Angelis das Präsidialamt an sich reißt und hart durchgreift, scheint die Katastrophe unabwendbar – doch die kommt aus einer ganz anderen Richtung … *** Vor dem Beben: Mie-Krater »Welch eine Freude, dich wieder zu sehen, mein Kind!«, sagte der Prophet mit ausgebreiteten Armen und gütigem Gesicht. »Sei willkommen an diesem ungastlichen Ort der Begegnung und Entscheidung.« Maya schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. Sie war immer noch benommen. Ihr war übel, und sie hatte Mühe, sich nicht zu übergeben. Allmählich klärte sich ihre Sicht, und sie erkannte, dass sie auf dem Boden in einem staubigen Loch saß, umgeben von Felswänden. Fackeln steckten in Felsspalten und vertrieben die nächtliche Dunkelheit. Sie erkannte Kristallträumer vor sich, der im Eingang der kleinen Höhle stand, die hagere Gestalt vom Fackelschein umschmeichelt. Neben dem Eingang kauerte eine junge Frau, die Maya als diejenige erkannte, die in ihre Unterkunft gekommen war. (Wann war das doch gleich gewesen? Hatte sie nicht Kleidung des medizinischen Fachpersonals getragen und ihr etwas zeigen wollen? Sie war offensichtlich eine Städterin, was hatte sie mit diesem Irren zu tun?) Und
neben ihr saß ein junger Mann mit roten Haaren … Schnellwasser. Der Junge sah krank und elend aus, er konnte kaum stillsitzen und kaute hektisch an den Fingernägeln. Er ließ Maya nicht aus den Augen. Furcht lag auf seinem Gesicht. Plötzliches Begreifen wetterleuchtete wie ein Sommergewitter in Mayas Gedanken. »Was … was hast du getan?«, flüsterte sie. »Du hast … mich entführen lassen? Als Geisel genommen?« Und das schon zum zweiten Mal! Das erste Mal waren es Nomi gewesen, Mayas Tochter, ihre Mutter Vera und Windtänzers Tochter Morgenblüte. Zu dem Zeitpunkt, als sie die Expedition in den Kronleuchter-Canyon unternommen hatten, um dort einen intakten Kristall für die Hydree-Anlage zu bergen. Kristallträumer hatte den Kristall zerstören wollen, und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, hatte er zum ersten Mal in der marsianischen Geschichte Geiseln genommen. Es war unglaublich, dass er das jetzt ein zweites Mal wagte – und ausgerechnet mit Maya selbst! Sie konnte es einfach nicht fassen. »Du bist kein Mensch, du bist ein Monster …«, flüsterte sie. Immerhin – sie war froh, dass es diesmal sie und nicht ihre Tochter getroffen hatte. Das hätte sie kein zweites Mal ertragen. Aber Nomi war diesmal außerhalb seiner Reichweite. »Sprich nicht so mit dem Meister!«, fuhr die Frau sie an. Eliana Margys … richtig, so hatte sie sich vorgestellt.
»Was hat er mit Ihnen gemacht?«, fragte Maya sie. »Wie konnten Sie dazu fähig sein, so etwas zu tun?« »Der Meister weiß, was zu tun ist, und ich bin seine demütige Dienerin«, stieß ihre Entführerin hervor. »Ich hinterfrage nicht, sondern tue, was getan werden muss.« »Natürlich, denn das Gehirn einzusetzen könnte unangenehme Nebenwirkungen haben«, murmelte Maya. »Schluss«, befahl Kristallträumer kurz und scharf, als Eliana auf Maya losgehen wollte. Er winkte ihr und Schnellwasser. »Raus mit euch, alle beide!« »Aber Meister …«, fing Schnellwasser an, »weißt du nicht mehr …« Kristallträumer lächelte gütig und strich dem Jungen über die wirren roten Haare. »Ich bin gerührt, wie besorgt du bist, aber ich bin nicht in Gefahr. Du kannst draußen Wache halten, wenn es dich beruhigt. Dasselbe gilt für dich, Eliana.« Schnellwasser kroch aus der Höhle. Die Frau erhob sich. »Ja, Meister, wie du es wünschst.« Beim Hinausgehen legte er seine Hand an ihre Wange, neigte seinen Kopf zu ihr und küsste sie mit vorschnellender Zunge, wie ein Reptil, auf den Mund. Maya kämpfte ein zweites Mal dagegen an, sich übergeben zu müssen, als sie diesen widerlichen Kuss sah und die deutlich erkennbare, damit verbundene sexuelle Hörigkeit der jungen Frau. Sie hatte nun Mitleid mit Eliana Margys, die gefangen war von dem Propheten, ihm hilflos ausgeliefert. Wenn er es ihr
befehlen würde, würde sie den Kraterrand hinaufklettern und sich dann in die Tiefe hinabstürzen. »Gut gemacht, kleine Taufliege«, schnurrte er. Eliana lächelte hingebungsvoll und huschte hinaus. Kristallträumer wandte sich Maya zu. »Also, unterhalten wir uns.« Er deutete auf ihre Hände. »Ich nehme an, Fesseln werden nicht notwendig sein, oder?« Maya schüttelte den Kopf. Sie wusste, wie stark der Prophet war; er hatte sogar Maddrax einmal aus den Stiefeln gehauen. Sie fühlte sich außerdem immer noch viel zu schwach, um eine größere körperliche Anstrengung unternehmen zu können. »Bitte, kann ich etwas zu trinken bekommen?«, fragte sie. »Mir ist schrecklich übel. Diese Droge …« »Aber natürlich.« Kristallträumer verschwand und kam kurz darauf mit einem Beutel Wasser und einer Schale Gemüse zurück. »Du kannst unbesorgt zugreifen, ich will dich klaren Sinnes.« In diesem Augenblick war das Maya egal, sie musste sofort etwas zu sich nehmen, sonst würde sie umkippen. Sie aß und trank gierig; anschließend fühlte sie sich besser. Der Prophet beobachtete sie die ganze Zeit aus glitzernden Augen. Sie hoffte, dass es nicht auch Begehrlichkeit war. Dieser Mann war völlig verrückt. Er misshandelte seine Frau, machte andere von sich abhängig … ein Größenwahnsinniger, der die Welt retten wollte und wahrscheinlich tatsächlich an seine Rolle als Erlöser glaubte!
»Du hast einen großen Fehler gemacht«, sagte Maya schließlich. »Wenn das Volk dies erfährt, wird es protestieren. Sogar deine Anhänger werden sich abwenden.« »Ein Bedeutungsloser würde mir wenig nutzen«, erwiderte der Prophet. »Ich nütze dir auch nichts«, versetzte Maya. »Es mag dir nicht bewusst sein, aber ich habe einen hohen Status bei meinem Volk. Und es verabscheut derartige Machenschaften. Damit machst du dich unglaubwürdig. Wenn du zu solchen Mitteln greifen musst …« »Oh, aber das Volk wird es nicht erfahren«, sagte Kristallträumer lächelnd. »Es kommt mir nur auf ein paar Leute an.« Maya begriff. »Du willst Maddrax hier haben. Du weißt, dass er sich sofort auf den Weg machen wird, wenn er erfährt, dass du mich in deiner Gewalt hast. Was hast du mit ihm vor? Willst du ihn öffentlich hinrichten?« »Du hast es erfasst, gratuliere! Er ist das Sinnbild alles Bösen, und ich werde an ihm ein Exempel statuieren.« »Und ich?« »Dich behalte ich solange, bis dein Mann vernünftig wird.« Maya lachte trocken. »Leto? Vergiss es. Weißt du, was er unternehmen wird, wenn er von meiner Entführung erfährt?« »Ich bin gespannt«, meinte Kristallträumer süffisant. »Nichts«, antwortete sie. »Du kennst ihn nicht, Kristallträumer, und das ist ein großer Fehler. Leto
handelt nur nach dem Verstand, er lässt sich niemals von Gefühlen beherrschen. Er wägt jede Situation genau ab und trifft danach die Entscheidungen. Als er zu dir sagte, dass er sich nicht erpressen lassen wird, meinte er das mit allen Konsequenzen.« Er musterte sie aus verengten Augen. Es sah so aus, als hätte er damit nicht gerechnet und sei im Zweifel. Aber Maya hatte überzeugend die Wahrheit gesagt, in ihrer Stimme war kein Schwanken gelegen. »Er würde dich also opfern?« Sie winkte ab. »Das hat er schon getan, als er die Präsidentschaft übernahm. Bei uns Städtern kann der Begriff ›Mann und Frau‹ eine andere Bedeutung haben als bei euch. Du hast überhaupt keine Ahnung, was es bedeutet, Angehöriger eines der fünf Häuser zu sein! Wir sind beide die Oberhäupter der Familien Tsuyoshi und Angelis, und unsere Entscheidungen werden nur aus wirtschaftlichen Erwägungen getroffen. In unserer Position gelten wir als Individuum nicht mehr viel, sondern dienen der Öffentlichkeit! Was Leto und mich betrifft, ist unser Bund eine rein politische Angelegenheit.« Sie lächelte kalt. »Du hättest unsere Lebensweise zuerst ausführlich studieren sollen, bevor du dich an dieses große Unterfangen machst.« »Du meinst, weil er die Führung übernommen hat, hat sich die Einstellung zu Frieden und Harmonie geändert?« »Allerdings, alter Mann. Ich bin vielleicht nicht für das Volk, aber für die Häuser leicht ersetzbar. Meine
Entführung wird ihn nicht daran hindern, dich hier schmoren zu lassen. Er wird weder mit dir sprechen noch sich deine Bedingungen anhören. Er wird warten, bis die Frist abgelaufen ist, und dann kommt er rein.« Kristallträumer rieb sich nachdenklich das Kinn. »Er wäre auch nicht aufzuhalten, wenn ich dich vor seinen Augen töte?« »Dann erst recht nicht mehr, denn damit hättest du ja kein Druckmittel gegen ihn in der Hand. Außerdem würde ihn das außerordentlich verärgern«, antwortete Maya. »Du hast ihn gehört, seinetwegen kannst du alle deine Anhänger umbringen, das wird ihn nicht hindern, dich zu holen. Ob ich ebenfalls unter den Leichen bin oder nicht, spielt dabei keine Rolle für ihn. Glaube nicht, dass er sich schuldig fühlen wird. Er wird seinen Anspruch und seine Autorität durchsetzen. Davon weicht er niemals ab. Weshalb, denkst du, war er Kommandant unserer Raumschiffe?« Sie fixierte ihn und fügte boshaft hinzu: »Er kann außerdem sehr nachtragend sein, wenn etwas nicht so läuft, wie er es will. Ich gebe dir einen guten Rat: Unterschätze niemals den Präsidenten! Wenn er sein Volk in Sicherheit weiß und alles getan ist, um dich aufzuhalten, wird er sich dir widmen. Ausgiebig. Ganz allein, nur ihr beide. Ob ich dann noch lebe oder nicht, macht für Leto keinen Unterschied. Und dann, ganz ehrlich, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.« Kristallträumers Miene zeigte leichte Unsicherheit. Er glaubte ihr. Offensichtlich hatte er sich einen leichteren
Gegner vorgestellt, jemanden wie Maddrax, der geradlinig war und emotional. Maya rutschte an eine Felswand und lehnte sich dagegen. »Dieser Punkt geht an dich, Kristallträumer, zugegeben. Aber du hast dich jetzt zu weit aus dem Haus gewagt und bist ab sofort berechenbar, weil du nur noch zwei Möglichkeiten hast. Leto jedoch nicht. Nicht einmal ich kann dir vorhersagen, wie genau er vorgehen wird. Er wird dir von nun an immer einen Schritt voraus sein.« »Und du fürchtest gar nicht um dein Leben?«, meinte der Prophet spöttisch. »Ich?« Maya gähnte und schloss die Augen. »Ich bin schon ein paar Mal gestorben, alter Mann. Du, der du immer nur anderen Schmerzen zugefügt hast, weißt gar nicht, was es heißt, Leid zu ertragen und zu überleben. Du magst deine Visionen haben, aber ich habe Dinge gesehen, die wirklich waren und die du mit deinem beschränkten Geist niemals erfassen kannst.« Kristallträumer lachte leise. »Du bist eine mutige und starke Frau, Maya von Elysium. Ich werde lange Freude und Genuss an dir haben.« Sie zeigte sich nicht beeindruckt. »Ich habe keine Angst vor dir, alter Mann. Darüber bin ich schon lange hinaus.« »Dein Hochmut wird dich nicht mehr lange schützen.« Er drehte sich um und verließ die Höhle. Maya blickte ihm unter halb geöffneten Lidern nach, dann gähnte sie ein zweites Mal und versuchte es sich halbwegs bequem zu machen. Sie war so müde, dass sie tatsächlich einschlief.
Mitten in der Nacht, die Fackeln waren nahezu heruntergebrannt, erwachte Maya schlagartig, als sie jemanden bei sich spürte. Zuerst glaubte sie, es sei Kristallträumer, und wollte auffahren und ihm das Gesicht zerkratzen, da merkte sie, es war eine Frau. Eliana Margys! Und sie hielt ein langes, scharf blitzendes Messer in der Hand – das in diesem Moment auf Maya herab fuhr! Maya stieß einen ächzenden Laut aus und rollte sich gerade noch rechtzeitig weg. Das Messer fuhr mit einem kratzenden Laut am Felsen entlang. Eliana wurde von ihrem Schwung mitgetragen, und das nutzte Maya aus. Sie stieß die Frau heftig an die Felswand und entwand ihr das Messer. Doch bevor sie eine Frage stellen konnte, wurde sie von hinten angegriffen! Jemand packte sie und warf sie bäuchlings zu Boden, entwand nun ihr das Messer und schlug auf ihren Kopf ein. Maya sah Sterne und war für einen Moment bewegungsunfähig; das Gewicht des anderen drückte auf ihren Brustkorb und schnürte ihr die Luft ab. Da erklang ein scharfer Ruf. »Schnellwasser!« Der Junge ließ sofort von Maya ab und entfernte sich. »Sie hatte ein Messer, ich musste eingreifen!«, verteidigte er sich. »Schon gut, Junge, geh jetzt schlafen«, sagte der Prophet.
Maya rappelte sich auf, hustete und rieb sich den Staub aus dem Gesicht. Kristallträumer stand vor ihr, das Messer in der Hand. »Ich bewundere dich, Frau; nie zuvor habe ich jemanden wie dich kennen gelernt«, sagte er. »Mit dir an meiner Seite kann uns niemand mehr gefährlich werden. Der ganze Mars wird uns gehören!« »Du träumst wohl«, krächzte Maya und schüttelte den Sand aus den Haaren. »Meister!« Es klang wie ein Klageschrei. Eliana Margys hatte sich wieder gefangen und warf sich Kristallträumer zu Füßen. »Warum tust du das? Du bist alles für mich, du hast mich geliebt, und nun … bedeutet dir diese Frau mehr als ich? Ich habe alles für dich getan, war dir treu und ergeben, habe dir nie widersprochen … und trotzdem bevorzugst du sie? Habe ich sie deswegen für dich entführt, damit sie anstatt meiner in deinem Bett liegt? War alles nur Lüge, was du mir gepredigt hast? Bin ich nicht erleuchtet?« Kristallträumer blickte auf sie hinab. Dann kniete er sich neben sie, legte die Hand an ihren Kopf und hob ihn zu sich an. Er sagte mit leiser, kalter Stimme: »Nein, du dummes selbstsüchtiges Weib, du bist nur jämmerlich eifersüchtig, egoistisch in dem, was du erstrebst, und nicht wahrhaftig an mich und meine Ziele hingegeben, und so hast du mich verraten, die du behauptest, meine treueste Dienerin gewesen zu sein!« Mit einem scharfen Ruck stieß er ihr das Messer in den Hals.
Maya würde den Blick nie vergessen, mit dem Eliana Kristallträumer in ihren letzten Sekunden ansah. Ihre Lippen formten ein letztes Wort, doch ihre zerschmetterte, im Blut ertrinkende Kehle brachte keinen Ton mehr hervor. Dann brach ihr Blick. Kristallträumer ließ die Tote achtlos fallen; mit einer für seine Behinderung erstaunlich schnellen Bewegung war er bei Maya und hielt ihr das blutige Messer vors Gesicht. »Unterschätze mich nicht, Stadtfrau«, zischte er. »Niemals, verstanden? Ich lasse mich nämlich auch nicht erpressen. Und ich opfere jeden, wenn es der Sache dient.« An ihrem Hals war die Schluckbewegung deutlich zu sehen. Aber in ihren dunklen Augen brannte ein Feuer von Wut und Hass. »Lass mich frei«, sagte sie leise. »Jetzt kann sich noch alles zum Guten wenden. Sicher hat noch niemand bemerkt, dass ich fort bin. Ich werde versuchen, mit Leto zu sprechen; reden wir zu dritt miteinander, nur unter uns. Es gibt eine Lösung.« »Ich werde etwas anderes tun«, kicherte er. »Ich werde dich Leto Stück für Stück schicken, bis er zur Einsicht kommt. Was hältst du davon? Taten sagen manchmal mehr als Worte. Wir werden ja sehen, wie lange er seine Gefühle dann noch beherrschen kann. Und ob ich nicht doch einen Klumpen Angst in dir finde, wenn ich mich langsam durch deinen Körper schneide.« Er strich mit der flachen Seite der Klinge über ihr Gesicht und hinterließ eine blutige Spur.
Dann drehte er sich um. »Schnellwasser! Schaff den Abfall da weg, anschließend fessle die verehrte Präsidentin! Sie ist mir ein wenig zu unruhig, und ich möchte nicht, dass sie auf dumme Gedanken kommt.« *** Vor dem Beben: Wald Palun Saintdemar war so erschöpft wie noch nie in seinem Leben. Tag und Nacht arbeitete er zusammen mit seinen Leuten in dem Feldlabor im Wald, um ein Heilmittel gegen das ISS-Virus zu finden. Er konnte nicht sagen, dass er von den Waldleuten besondere Unterstützung erhielt. Ein junger Mann, Aquarius oder so ähnlich, schien mehrmals drauf und dran, ihn anzugreifen und zu töten. »Das haben wir doch euch zu verdanken!«, schrie er den Mediker an. »Nur wegen euch sterben meine Leute! Ihr wolltet uns ausrotten!« Seitdem Morgenblüte gestorben war, Windtänzers Tochter, war der gesamte Wald in Aufruhr. Carter Loy Tsuyoshi war tiefer in den Wald geflohen, als er begriffen hatte, was er angerichtet hatte. Zwar gab es keine Beweise gegen ihn, aber inzwischen waren sogar die Städter von seiner Schuld überzeugt. Wohin sollte er sich also noch wenden? Er hatte keinen Ort mehr, wo er hingehen konnte.
Also war Carter geflohen, irgendwohin. Uranus hatte angeboten, ihn zu verfolgen, denn er war der beste Fährtenleser des ganzen Volkes. Es dürfte nicht schwer sein, den untrainierten, ungeübten Stadtmann zu finden, der sich zudem nicht auskannte. Aber Starkholz hatte ihn daran gehindert. Denn Carter wurde bereits verfolgt – von Windtänzer. Niemand hatte den Baumsprecher zurückhalten können. Morgenblütes Tod hatte ihm die Vernunft geraubt, ihn blind gemacht vor Rachedurst. Alle wussten, dass Windtänzer erst wieder zurückkehren würde, wenn er sein Ziel erreicht hatte. Waldleute waren nicht wankelmütig. Sie fällten eine Entscheidung, und an die hielten sie sich konsequent. Dennoch hatte Starkholz die anderen Baumsprecher darum gebeten, ihn zu unterstützen, Windtänzer zu rufen. Ihn daran zu erinnern, dass es um das ganze Volk ging. Sie hatten es getan, mehrmals sogar. Hatten Windtänzer angefleht, zum Volk zurückzukehren, denn er wurde gebraucht. Heute mehr denn je, denn nicht nur die Seuche war die Gefahr. Draußen vor dem Wald tobte nämlich weiterhin die blutige Schlacht. Von überallher kamen Städter, bewaffnet und zu allem entschlossen, und griffen in den Kampf ein. Es war den meisten gleich, worum es ging, sie wollten nur den Waldleuten endlich »das geben, was ihnen zustand«. Ihnen die Schuld an all dem zuweisen, was in letzter Zeit schlecht gelaufen war. Sie für alles zur
Rechenschaft ziehen, und sei es nur, dass die eigene Frau einen vor die Tür gesetzt hatte. Die Waldleute waren kaum anders in ihrer Einstellung; sie gaben den Städtern die Schuld an allem Leid, wollten sich für die Diskriminierung und Unterdrückung seit dem letzten Bruderkrieg rächen. Wollten den Städtern einprügeln, dass sie keineswegs Menschen zweiter Wahl waren und minderwertig. Die Baumsprecher hatten ihre Sippen längst nicht mehr im Griff. Wer nicht erkrankt war, war außer sich vor Angst und Sorge und erfüllt von Rachedurst. »Leben um Leben!«, riefen sie im Chor. »Freiheit für den Mars! Tod den Mördern des Vaters! Denn der Wald ist sein Körper und sein Gedächtnis!« Felsspalter rief, bevor er seine Gruppe in den Kampf führte: »Die Städter haben uns, die wir zahlenmäßig weit unterlegen sind, ausrotten wollen! Aber wir werden nicht kampflos gehen, sondern unsere Feinde mitnehmen, mindestens drei von ihnen auf einen von uns!« Was sollten sie auch sonst tun? Weiter dem Sterben zusehen? Sich einfach ergeben, resignieren, untergehen? »Noch ist es nicht vorbei! Wir haben ein Ziel!« Auf Seiten der Städter hatten ebenso wenig die Exekutiven eine Chance, sich durchzusetzen und die blutigen Krawalle zu beenden. Der Präsident zögerte begreiflicherweise, den Schießbefehl zu erteilen, denn das würde alles nur noch mehr verschlimmern. So lange schon schwelte der Konflikt, hatte nie aufgehört, seit dem ersten Bruderkrieg. Obwohl dieser
ein Trauma ausgelöst und jede Seite geschworen hatte, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Doch es hatte nur eines kleinen Funkens bedurft, um sofort wieder die alte Feindschaft aufflackern zu lassen. Dieser Funke hatte sich inzwischen zum offenen Waldbrand entfacht. Und zwar einerseits wörtlich, denn mehrere Quadratkilometer Wald waren bereits unwiderruflich zerstört; und zudem in übertragenem Sinne, indem auch die im Wald lebenden und eng mit ihm verbundenen Menschen starben. Dahingerafft wurden von einer Seuche, die ein irrational denkender Stadtmensch ausgelöst hatte. Der Mann aus dem ehrwürdigen Haus Tsuyoshi hatte sich das so einfach vorgestellt: Er wollte ein paar Leute krank machen und dann teuer das Heilmittel verkaufen. Tragischerweise mutierte aber das Virus und das Mittel half nicht, und neben Hunderten Waldleuten erkrankten nun auch die Städter. Die Stadt Utopia stand unter Quarantäne. Wie gesagt, es gab keine Beweise. Aber Carters Flucht sprach für sich. Und Windtänzers Verfolgung ebenso. »Sie verstehen also, was uns treibt«, sagte Starkholz, der Windtänzer derzeit als oberster Sippenanführer vertrat, zu Palun Saintdemar. »Sie erleben hier alles hautnah mit und haben Kenntnis von allen Dingen. Wahrscheinlich wissen Sie sogar mehr als wir, was Carter betrifft, denn Sie sind Arzt, und ich frage mich, warum man ausgerechnet Sie hierher geschickt hat. In
Ihrem eigenen Interesse sollte Ihnen also daran gelegen sein, so schnell wie möglich einen Impfstoff zu finden.« Der ältere Mann wies um sich. »Derzeit kann ich Sie noch schützen. Wer kämpfen will, verteidigt draußen den Wald. Aber der Unmut wächst, und die Front rückt näher und näher. Ich sehe den Tag kommen, an dem ich meine Leute nicht mehr zurückhalten kann, ihren Blutdurst an Ihnen zu löschen.« »Aber damit helfen Sie Ihrem Volk nicht!«, stieß Palun angstgepeinigt hervor. »Sie brauchen mich! Ich bin der beste Mann auf diesem Gebiet, deswegen bin ich hier!« »Bisher haben Sie uns nicht geholfen«, erwiderte Starkholz. »Beeilen Sie sich also. Irgendwann werden meine Leute keine Geduld mehr haben. Sie sind hier geduldet, aber nicht sicher. Nicht einmal ich kann für Sie garantieren.« Palun Saintdemar hatte daraufhin das Büro des Präsidenten angerufen. Doch er war nicht einmal durchgestellt worden. Den Einzigen, den er erreichen konnte, war Fedor Lux. Der zeigte ihm einige Aufnahmen von Utopia, wo die Leute krank und gezeichnet durch die Straßen zogen und von Exekutiven in Schutzanzügen eingesammelt und abtransportiert wurden. »Machen Sie Ihre Arbeit«, forderte Fedor Lux ihn auf. »Sie werden nicht aus dem Wald abgezogen. Wir schicken Ihnen Proben von den Leuten hier, aber Sie werden dort weiterarbeiten, wo alles begonnen hat. Das
ist das Mindeste, was wir für diese gequälten Menschen tun können.« »Aber ich bin hier nicht sicher!«, beklagte sich der Mediker. »Starkholz will nicht für meinen Schutz geradestehen!« »Dann sehen Sie zu, dass Sie die Leute nicht verärgern«, meinte der Berater und kappte die Verbindung. Palun Saintdemar hatte schon einen Flug zur Mondstation mitgemacht und war einige Zeit dort stationiert gewesen. Zusammen mit dem unerwarteten Besucher Maddrax war er zum Mars heimgekehrt und seither im Auftrag der Regierung mit der laufenden Untersuchung des Erdenmannes beschäftigt gewesen. Er hatte alle anderen Jobangebote abgelehnt, weil er in erster Linie Wissenschaftler war. Das Sterben an Bord des zum Mars zurückkehrenden Schiffes und die Hilflosigkeit, nichts dagegen unternehmen zu können, hatte ihn damals sehr mitgenommen. Er war kein praktischer Arzt, der mit der Zeit abstumpfte und damit fertig wurde, wenn ihm Patienten unter den Fingern starben und die Angehörigen ihn mit Vorwürfen überschütteten. Doch heute war es wieder so. Er musste sich die fiebernden, leidenden Menschen ansehen, wie sie bleich und dünn auf den schmalen Feldbetten lagen, die Haut von grünlichem Schorf überzogen, gequält von Halluzinationen und Krämpfen. Er musste zusehen, wie ihre Angehörigen bis zum Schluss bei ihnen blieben und Klagelieder anstimmten.
Manche starben sehr schnell, andere hielten sich länger. »Reißen Sie sich endlich zusammen!«, schnauzte ein Mitarbeiter den Vorgesetzten an. »Hören Sie auf mit Ihrem Selbstmitleid! Wir sind nun mal hier, müssen behandeln und forschen zugleich! Konzentrieren Sie sich lieber darauf, warum die Seuche nicht alle ansteckt!« Das brachte Palun endlich zur Besinnung. Denn was erstaunlich war: Obwohl sich die Erkrankungen häuften und in den wenigen Tagen im Wald und in Utopia schon über zweihundert Menschen gestorben und weit über tausend erkrankt waren, traf es nicht alle. Die Inkubationszeit war sehr kurz, die Übertragungsrate hoch – aber man konnte nicht von einer Massenverseuchung sprechen. Am deutlichsten war das hier im Wald zu merken. Als die Seuche zuerst bei Morgenblüte ausgebrochen war, hatten Baumsprecher und viele andere mit ihr Kontakt gehabt. Trotzdem waren Windtänzer, Starkholz, Uranus, Vogler, Aquarius und Rotbeer, Morgenblütes Mutter, nach wie vor gesund. Es gab immer Immune, das war schon früher auf der Erde so gewesen. Irgendjemand überlebte ein tödliches Virus immer. Aber so viele? Und waren sie tatsächlich alle immun, oder brach die Krankheit einfach nur nicht aus? »Das ist also unser Ansatzpunkt!«, sagte der Mediker zu seinen Leuten. »Wir brauchen auch das Blut von allen, die Kontakt zu den Kranken hatten, vor und nach dem
Ausbruch. In deren Blut müssen wir ein Unterscheidungsmerkmal suchen und finden!« Die Analyse des Virus wurde weiterhin parallel durchgeführt, doch auch diese zog sich hin, weil es so schnell mutierte. Am Vormittag wurde ein Mittel gefunden, das das Virus neutralisierte, doch am Nachmittag war es bereits wieder hinfällig. Und trotz der Mutation erkrankten weiterhin nicht alle. Auch Palun Saintdemar nicht, der schon lange auf den geschlossenen Anzug verzichtete. Er legte es anscheinend darauf an, festzustellen, ob auch er dagegen gefeit war oder von »Vater Mars bestraft« werden sollte, wie Kristallträumer es in einer seiner letzten Predigten via Holosender deutlich gemacht hatte. Palun Saintdemar zuckte zusammen, als wie aus dem Boden gewachsen ein Waldmann vor ihm stand. Er konnte die Leute kaum voneinander unterscheiden, doch diesen erkannte er an seinem blauen Haar, und außerdem war er fast ständig in seiner Nähe: Aquarius. Der junge Mann betrachtete ihn herausfordernd. In seiner linken Hand trug er einen Speer, an seinem Gürtel eine kleine Axt und mehrere Wurfmesser. Inzwischen waren nicht mehr alle Waldmenschen so archaisch bewaffnet; viele trugen erbeutete Handwaffen und Gewehre erschlagener Städter, und sie lernten stündlich besser damit umzugehen. Viele waren zuversichtlich, dass der Wald nie eingenommen werden würde. Hier, auf ihrem eigenen Terrain, waren sie im Vorteil.
Luftangriffe waren wegen der dichten Blätterkronen unmöglich, und den gesamten Wald in Brand zu stecken wagten die Städter dann doch nicht. Außerdem kreuzten regelmäßig Exekutive über dem riesigen Gebiet und sperrten offiziell den Luftraum. Noch hielten die Städter sich daran, obwohl die wenigen Magistratseinheiten unmöglich überall gleichzeitig sein konnten. Die Kämpfe fanden weiterhin nur am Waldrand statt, beziehungsweise rückten langsam weiter hinein, je mehr Bäume verbrannten. Im Gegenzug allerdings setzten die Waldmenschen sich nicht mehr nur mit Waffen zur Wehr, sondern schickten auch Tjork, Bienen, Blauschiller und viele andere wehrfähige Tiere mehr in den Einsatz. »Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte Palun höflich. Aquarius deutete auf Paluns stahlblaue Haarsträhne im ansonsten schwarzen Haar. »Denken Sie, das macht uns gleichartig?« »Ich trage dies schon seit Ewigkeiten«, antwortete der Mediker. »Und ich versichere Ihnen, ich habe bis jetzt den Wald noch nie betreten. Und ich werde es nach all dem gewiss auch nie wieder tun.« »So, denken Sie?« Der junge Mann trat nahe an ihn heran. Wie nahezu alle Waldleute war er größer als der Städter, dafür filigraner, mit längeren Ohren und weiteren Nasenflügeln. »Vielleicht werden Sie den Wald ja nie wieder verlassen?« »Alles ist möglich«, meinte Palun und wurde nervös. »Aber Sie sollten vielleicht nichts Unüberlegtes tun, denn ich werde hier noch gebraucht …«
»Ohh«, machte Aquarius gedehnt. Er schnupperte an Paluns Ohr, warf den Kopf zurück, dass sein Haar flog, und lachte. »Sie haben Angst?« »Ja«, gab Palun zu. »Ich bin kein Held, erst recht kein Kämpfer. Meine Aufgabe ist es, zu forschen und zu heilen.« »Gut«, flüsterte Aquarius ihm ins Ohr und ging dann auf den Rand der Siedlung zu. Eigentlich tanzte er; in seinen schwebenden Schritten lag eine besondere Anmut, noch stärker ausgeprägt als bei allen anderen. Kurz bevor er ins Gebüsch eintauchte, drehte er sich noch einmal um und hob die Arme, Zeigefinger und Daumen zu einer Waffe geformt, auf Palun gerichtet. »Ich beobachte Sie!« Dann war er fort. Paluns Knie zitterten. Er hatte es satt, so satt! Nicht nur das tägliche Elend, dieses Leid, das er unfähig war zu lindern; aber dazu noch die ständige Angst … und niemand half ihm … Und dann, kurz bevor alles am Ende schien, kam endlich der Durchbruch. Palun Saintdemar und seine Leute entdeckten, dass das Virus sich an einen bestimmten Enzymbaustein koppelte, der bei den Erkrankten vorhanden war, bei den Gesunden aber nicht. Dieser Baustein reagierte im Grunde genommen richtig – er bildete Antikörper und ging auf das Virus los, aber eben im Übermaß. Die allergische Überreaktion löste den Schock und alle weiteren Symptome aus, abgesehen von
den direkt durch den Pilz hervorgerufenen Halluzinationen. Bei jenen, denen dieser Baustein fehlte, blieb das Virus zwar im Körper, aktivierte sich aber nicht. Die bange Frage war natürlich, ob es sich jemals aktivieren könnte – und was dann passieren mochte. Deshalb wollte Palun Saintdemar auf Nummer Sicher gehen. Aus einer Variante des Pilzes wollte er eine Hyposensibilisierung schaffen, die direkt die allergische Überreaktion angreifen und normalisieren sollte. Gleichzeitig wollte er mittels eines Eiweißbausteins einen Impfstoff schaffen, der das Virus für immer einkapseln sollte, die Fähigkeit zur Erbinformationsübertragung einfrieren und die tödlichen Fähigkeiten durch Zerstörung des Gencodes auslöschen. Das war noch einmal ein großes Stück Arbeit, aber daran arbeiteten alle mit Feuereifer, denn nun war endlich ein Ziel zu sehen und das Ende des Sterbens vielleicht nahe. Felsspalter vertrat Aquarius den Weg. »Was hast du vor?« »Was sollte ich vorhaben?« »Komm.« Der kräftige Steinmetz zog den jungen Mann mit sich. »Sie kommen immer näher. Wir müssen sie aufhalten.« Sie erreichten den Waldrand, kurz vor der zerstörten Zone, und Felsspalter deutete nach draußen. Bagger. Kräne. Baumschläger.
»Aber … Starkholz hat gesagt … der Präsident …«, stammelte Aquarius. »Der Präsident ist weit fort«, zischte Felsspalter. »Der hat andere Sorgen, wir sind ihm zu unwichtig. Keine Exekutive da, siehst du? Sie haben uns alle verlassen.« Immer mehr Waldmenschen strömten herbei. »Aber wir kämpfen doch bereits«, sagte Aquarius. »Was können wir noch mehr tun?« »Wir werden nicht mehr aufhören«, verlangte Felsspalter. »Jetzt werden wir kämpfen, bis keiner mehr übrig ist. Macht euren Frieden mit dem Wald und dem Vater.« Bauleiter Hradim Gonzales schaute immer wieder zum Wald. Verdächtig ruhig war es dort, schon seit Tagen. Sollten die Waldleute etwa aufgegeben haben? Oder waren sie inzwischen alle tot? Präsident Leto Angelis hatte wie in Utopia die Quarantäne über den Wald verhängt. Aber der Wald war groß, und hier draußen gab es keine Seuche. Sie war nach Utopia getragen worden, in die verseuchte Stadt des Strahls. Kein Wunder, dass die Leute dort erkrankten; sie waren geschwächt durch die schädlichen Auswirkungen der Hydree-Anlagen. Aber hier in Elysium herrschte keine Not, und das Haus Gonzales war zu dem Entschluss gekommen, rechtzeitig zu handeln. Nachdem Carter Loy Tsuyoshi verschwunden war, sollte das Vorhaben, den Wald nutzbar zu machen, nicht ganz
eingestampft werden. Die Gelegenheit dafür war bestens, da die Regierung anderweitig gebunden war. Keinesfalls würde das Haus Gonzales es zulassen, dass ein anderer diese Pfründe für sich beanspruchte. Sie würden sich als erstes ausreichend Boden sichern und das Platzrecht offenbaren, nach einer sehr alten Sitte aus den ersten hundert Jahren nach Gründung, als Recht und Ordnung noch sehr viel einfacher gewesen waren. Dieses Gesetz war nie aufgehoben worden. Ettondo Lupos Gonzales, ehemaliger Rat, hatte sich eingehend kundig gemacht. Also kamen sie mit Rodungs- und Baumaschinen und privater Sicherungstruppe, bestehend aus Angehörigen des Braxton-Hauses und unabhängigen Leuten, die gern verbotene Fightclubs besuchten. Niemand würde sie hindern; die jämmerlich unterbesetzte Exekutive, die keine Gewaltmittel einsetzen durfte, konnte leicht verjagt werden. Während die Regierung damit beschäftigt war, die Seuche und Kristallträumer zu bekämpfen, würde das Haus Gonzales sich hier eine einmalige Position sichern, die es über die Schmach der Auflösung des Rates hinwegtröstete. »Was ist jetzt?« Ein Obermonteur tippte ungeduldig mit dem Finger auf seinen Zeitmesser. »Wollen wir weitermachen oder warten, bis die Regierung auf uns aufmerksam wird?«
Hradim Gonzales glaubte eine Bewegung im Wald gesehen zu haben. »Ich weiß nicht …« Er zögerte. »Ich glaube, da sind Menschen …« »Na und?« »Wollen Sie sie erschießen, Mann? Ich sage Ihnen was: Ich baue Häuser. Aber ich bringe niemanden um, der mir im Weg steht. Wenn Sie Lust auf einen Kampf haben, bitte! Lassen Sie sich den Schädel einschlagen. Ich nicht!« »Wofür haben wir denn die Sicherheit dabei? Schicken wir sie vor, um das Terrain zu sichern! Und dann legen wir endlich los!« Damit war der Bauleiter einverstanden. Die bewaffnete Schutztruppe rückte mit der Waffe im Anschlag gegen den Wald vor. Da brachen die Waldleute aus dem Dickicht hervor. »Niemand ist mehr auf unserer Seite!«, brüllte Felsspalter. »Schlagen wir jetzt los!« »Da!«, rief Aquarius. »Sie rücken schon gegen uns vor! Worauf warten wir? Zeigen wir ihnen, wem der Wald gehört! Nageln wir sie an die Bäume, hängen wir sie auf, tränken wir den Boden mit ihrem Blut!« Ein Aufschrei donnerte durch den Wald, dann stürmten sie alle voran, über dreihundert gegen achtzig schwer bewaffnete Städter. Wie eine Flutwelle schwappten sie über die Truppe her und ließen sich nicht durch gezielte Schüsse aufhalten. Die Lebenden setzten über die Gefallenen hinweg; wer verwundet war, schleppte sich ebenfalls weiter.
Aquarius und Felsspalter hatten den Bauleiter im Visier. Sie wollten die Maschinen besetzen, am besten zerstören; dann gab es für die anderen keinen Grund mehr, weiterzumachen. Aquarius sah mit wilder Befriedigung die nackte Angst in den Augen des Mannes flackern, als sie immer näher kamen. Die Kampflinie lag längst hinter ihnen, und niemand war in der Nähe, um sie aufzuhalten. »Nein!«, schrie der Mann, als Aquarius sich zu ihm hinauf schwang. »Aufhören, das ist Wahnsinn!« »Darin stimme ich dir zu!«, schrie der junge Waldmann hasserfüllt und hob den Arm mit der Axt. Da fing der Boden an zu zittern. Als der Boden zu zittern begann, sahen Saintdemar und seine Leute sich an. Der ganze Wald hielt inne und den Atem an. »Nicht jetzt!«, rief der Mediker.
Palun
*** »Wir müssen uns beeilen«, sagte der Uralte plötzlich. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« »Wovon sprecht Ihr, ehrwürdiger Meister?«, fragte Sandperle schreckerfüllt und blickte sich um. »Sind sie uns auf den Fersen?« »Nein«, antwortete Sternsang. »Aber die Katastrophe ist da. Gleich wird sie ausbrechen. Was wir gebannt glaubten, hat sich von seinen Ketten befreit und wird
nun ausbrechen. Sein Gebrüll wird bis zu den Sternen hörbar sein. Es ist nur ein letztes Aufbäumen, die Entladung einer gewaltigen Kraft, und dann wird es vorbei sein. Doch dies muss erst einmal überstanden werden.« »Mama, ich hab Angst …« Sonnentau tastete nach der Hand ihrer Mutter. »Es tut mir Leid«, fuhr der Greis fort, während er sich auf seinen Stock gestützt durch den engen dunklen Gang tastete. »Ich habe gehofft, uns bliebe mehr Zeit. Doch das Untier ist ungeduldig. Es will Rache für das, was ihm angetan wird.« Er blieb stehen, um Luft zu schöpfen, und fixierte Sandperle. »Unser Wald brennt«, flüsterte er. »Ich höre die Bäume schreien. Sie sind die Seele des Vaters. Er wird das nicht zulassen. Er wird uns bestrafen für unsere Frevel und uns hinwegfegen.« »Das hat Kristallträumer auch gesagt«, wisperte die weißhaarige junge Frau. »Dann hat er nicht gelogen?« »Er hat die Zeichen gesehen, und er konnte sie zum Teil richtig deuten. Aber er wollte sie für seine Zwecke benutzen. Nun holt ihn seine eigene Vision ein und wird ihn zerschmettern.« Sandperle schien drauf und dran, umkehren zu wollen. »Ich sollte ihm …« Er hielt ihren Arm fest. »Bleib hier, Frau. Bringen wir zu Ende, was wir geplant haben. Kristallträumer hat immer noch Maya. Er wird zwar den großen Kampf verlieren, aber sie ist immer noch eine gefährliche Waffe in seinen
Händen. Er wird versuchen, mit ihr neu anzufangen. Wir müssen ihn aufhalten!« »Aber Schnellwasser …« Sandperle raufte sich das Haar. »Ich hätte ihn nicht allein zurücklassen dürfen!« Sternsang schüttelte den Kopf. »Du kannst deinem Bruder nicht mehr helfen, Tochter der Felsen. Sein Geist ist bereits unheilbar umnachtet, sein Körper zu schwach, um noch lange durchzuhalten. Seine Seele macht sich schon bereit für die Wanderung.« Sie schluchzte auf. »Nein, Verehrter, ich bitte Euch, das dürft Ihr nicht zulassen! Das hat er nicht verdient!« »Komm jetzt.« Sternsang zog sie mit sich. »Ich habe wieder Atem geschöpft. Beeilen wir uns.« Sie stolperten weiter durch die Dunkelheit, immer dem Weg nach. Sie konnten immer noch nicht sicher sein, dass es der richtige war. »Was ist, wenn wir den falschen Weg eingeschlagen haben?«, wisperte Sandperle unter Tränen. Sie war an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen. Die jahrelangen körperlichen und seelischen Misshandlungen, die ständige Angst und der andauernde Zustand der Spannung, seit sie das Gelände besetzt hatten … dies wurde ihr zu viel. Wenn nun die Katastrophe über sie alle hereinbrach und vernichtete? Wenn der Mars tatsächlich die Menschheit von seinem Antlitz hinwegfegte …? »Wir sind richtig, Kind«, sagte Sternsang zuversichtlich. »Vergiss nicht, wer wir sind. Und noch ist unsere Aufgabe nicht beendet.«
Sonnentau löste ihre Hand von ihrer Mutter und lief voran. »Sonnentau!«, rief Sandperle angstvoll. »Das Licht, Mama!«, rief die Kleine, die bereits ein ganzes Stück voraus gelaufen war. »Ich kann es schon sehen! Ich hab dir doch gesagt, ich habe den Weg gefunden! Ich wusste es!« Sternsang lächelte. »Siehst du, kleines Irrlicht, vertrau den Instinkten der Kinder. Deine Tochter besitzt erstaunliche Fähigkeiten.« »Ich hoffe, wir tun das Richtige«, flüsterte Sandperle. »Ich will doch nur, dass sie lebt … und endlich keine Angst mehr zu haben braucht …« »Das wird sie«, sagte Sternsang zuversichtlich. »Vorausgesetzt natürlich, wir überleben das Erdbeben.« »Was?« »Ah! Ich sehe das Licht. Komm, Tochter der Felsen, beeilen wir uns. Meine alten Beine tragen mich einfach nicht mehr so recht, das ist zu ärgerlich.« Sternsang rammte den Stock in den Boden und schob sich eilig voran. Sandperle war völlig außer sich; es konnte sie auch nicht beruhigen, dass da tatsächlich ein Licht war und das Ende des Pfades andeutete in die Freiheit. »Es ist eine Höhle, Mama!«, rief Sonnentau. »Und von da aus kann ich auf das Lager der anderen gucken! Wir müssen nur ein bisschen nach unten klettern, gar nicht schwer!«
»Eine Höhle, sehr gut, sehr gut«, murmelte Sternsang. Er keuchte und schnaufte, aber er hielt nicht inne. »Diese Felsen hier haben schon eine Menge überstanden. Fest und solide, sie werden nicht gleich zusammenbrechen.« »Aber wenn der Gang einstürzt …« »Wird er nicht, dieser nicht. Vertrau mir, Kind, es hat alles seine Richtigkeit. Aber wir sollten trotzdem in der Höhle sein, bevor es losgeht. Es ist gleich so weit.« Sandperle geriet in Panik. Sie rannte los und schrie nach Sonnentau. Sternsang kam auch endlich in der Höhle an, und nicht zu früh, denn die Kräfte drohten ihn jetzt zu verlassen. Er schwankte und schleppte sich zu einer äußeren Felswand. Stöhnend ließ er sich dort nieder. »Sandperle, Sonnentau!«, rief er und hob die Arme. »Kommt her zu mir.« Zögernd nahm Sandperle ihr Kind an der Hand und näherte sich ihm. »Ja, ganz nahe«, forderte er sie auf. »Kauert euch dicht an mich. Halten wir uns ganz fest, die Gesichter zueinander gewandt. Es wird jetzt nämlich gleich ein bisschen ungemütlich.« Die beiden gehorchten, Sonnentau wurde in die Mitte genommen. Sternsang warf seinen langen faltigen Umhang über sie alle drei. »Kopf runter! Und ganz entspannt.« Sandperle wurde es plötzlich leicht ums Herz. Die Ausstrahlung des Alten hüllte sie ganz ein und erfüllte sie mit Trost. Sie schmiegte sich dicht an ihn, fühlte seine
knochigen alten Arme schützend um sich, und an ihrer Brust den kleinen warmen weichen Körper ihrer Tochter. Es mochte vielleicht der gefährlichste Augenblick ihres Lebens sein. Aber zugleich war es auch der friedvollste. Sie war geborgen, behütet, und brauchte nichts zu fürchten. Sandperle schloss die Augen, atmete tief und gleichmäßig und entspannte sich. Dann begann es. *** Am Morgen hatte Schnellwasser Maya in die Kammer von Kristallträumer gebracht, wo er sie von ihren Fesseln befreite und ihr etwas zu essen und zu trinken vorsetzte. Maya konnte durch die halboffene Tür einen Blick nach draußen werfen, wo sie den Propheten inmitten seiner Anhängerschar sah. Er predigte gerade. »Was geschieht jetzt mit mir?«, fragte sie. »Warum hast du mich hierher gebracht?« Schnellwassers Blick glitt zum Bett. »Das tut er immer so«, murmelte er und kaute nervös an den Fingernägeln. Seine Fingerkuppen waren schon blutig. »Danach ist er immer sehr … angeregt. Du glaubst gar nicht, was er mit Sandperle oft gemacht hat.« Maya blieb fast der Bissen im Hals stecken. »Das ist nicht dein Ernst«, stieß sie hervor. »Das wird er nicht wagen!« »Niemand widersetzt sich ihm, Frau.« Der Junge blickte sich hektisch um. »Wenn ich nur wüsste, wo Sandperle
ist! Seit gestern Abend hab ich sie nicht mehr gesehen, bevor ich … dich abgeholt hab.« Maya vergaß augenblicklich die Furcht vor dem, was ihr wahrscheinlich bald blühte. »Sie ist fort, glaubst du?« Schnellwasser nickte. Seine Augenlider zuckten, und er konnte seinen Blick nicht fixieren. »Ja, schon lange. Sie ist in letzter Zeit immer häufiger verschwunden, genau wie Sonnentau. Ich hab mir nichts dabei gedacht, denn ich war froh, dass er sie … endlich mal in Ruhe ließ. Aber jetzt … wo kann sie nur sein …« Maya konnte es sich denken. Sie hatte Sternsang gefunden und suchte jetzt mit ihm einen Weg nach draußen. Hatte ihn vielleicht schon gefunden. Das bedeutete, es würde bald Hilfe zu ihr unterwegs sein! Kristallträumer ließ sicherlich alle möglichen Zugänge bewachen, aber in dem durchlöcherten Höhlensystem unter dem Krater kannte er sich nicht aus, und er hatte nicht genug Leute, um alle Wege zu erkunden und bewachen zu lassen. Nur wenige Eingeweihte wussten, dass es tatsächlich Verbindungen nach draußen gab, und von denen war hier außer Maya keiner anwesend. Braves Mädchen, dachte sie. Du hast immer noch Vernunft, trotz allem, was er dir angetan hat. Vielleicht hast du dich noch an unsere Unterhaltung im Canyon erinnert und erkannt, dass es auch andere Beziehungen zwischen Mann und Frau geben kann als Unterwerfung und Demütigung. »Du wirst es Kristallträumer doch nicht sagen, oder?« »Wo denkst du hin! Ich hab Sandperle lieb, und ich mag es nicht, wie er sie behandelt.« Schnellwasser
wischte über seine Augen. »Sandperle war immer gut zu mir und hat sich um mich gekümmert. Und Sonnentau … sie soll es mal besser haben als wir.« In Maya keimte Hoffnung auf. Sie rückte dem Jungen ein wenig näher. »Schnellwasser …«, sagte sie eindringlich. »Wir können alles noch zum Guten wenden, du und ich! Komm mit mir, ich finde einen Weg hier raus. Und dann beenden wir das Ganze, und ich bringe dich nach Hause. Das möchtest du doch, nicht wahr?« Er nickte stumm. Dann schüttelte er traurig den Kopf. »Ich kann nicht. Er ist mein Meister. Ich muss ihm gehorchen.« Er blinzelte Maya an. »Wenn ich abhaue, wird alles noch viel schlimmer … du hast ja keine Ahnung …« »Aber er braucht dich doch«, flüsterte Maya. »Ohne dich ist er aufgeschmissen, verstehst du das nicht? Nur deine Kräfte sind es, die ihn an der Macht halten.« Der Junge kämpfte sichtlich mit sich. Maya hatte ihn ins Schwanken gebracht; jetzt war für ihn nicht mehr so klar, was richtig und was falsch war. »Das hat Sandperle auch immer gesagt …« »Höre auf sie! Sie hat die Entscheidung getroffen und den Moment genutzt! Das kannst du auch tun, Schnellwasser!« Sie zuckten beide zusammen, als ein Schatten in den Türrahmen fiel. Kristallträumer hatte seine Predigt beendet. In einem kurzen panischen Moment fragte sich Maya, wie viel er gehört haben mochte. Sie hatten sich
zwar gedämpft unterhalten, aber wer wusste, wie gut sein Gehör war. Die Miene des Propheten war undurchdringlich. »Meister, ich hab …«, fing Schnellwasser an, aber Kristallträumer schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Maya schluckte und überlegte, was sie tun konnte, um dem zu entgehen, was der Mann jetzt mit ihr vorhatte. Vielleicht sollte sie es aber auch einfach hinter sich bringen, dann war Kristallträumer abgelenkt, und Matt, den Sternsang vielleicht gerade aufsuchte, konnte unentdeckt auf das Gelände. »Wir müssen weg«, sagte der Prophet jedoch überraschend. »Weg?«, echote Schnellwasser. »Ja. Nimm sie und komm mit. Wir sind in großer Gefahr.« Schnellwasser stand auf und ergriff Maya am Arm. »Komm, gehen wir.« Ihr blieb nichts anderes übrig. Blinzelnd trat sie ins Freie hinaus. »Komm nicht auf dumme Gedanken«, warnte Kristallträumer und zeigte ihr sein Gewehr. »Ich habe genug Munition, um hundert von euch zu erschießen.« Die Anhänger des Propheten waren in einem großen Rund versammelt. Sie hatten die Arme zum Himmel gerichtet und sangen. Keiner von ihnen sah her. »Was tun sie?«, fragte Maya. »Bereitest du sie etwa auf …«
»Das ist gar nicht mehr notwendig«, unterbrach Kristallträumer. »Sie werden auch so bald tot sein, ohne dass sie selbst Hand an sich legen müssen.« »Warum? Was ist –« »Still, Frau! Vorwärts, in die Grotte.« Schnellwasser stieß sie vor sich her, und Maya blieb nichts anderes übrig, als Kristallträumer zu folgen. Er hatte doch nicht vor, sie alle in den Strahl zu stürzen? Hatte sie ihn mit ihren Bemerkungen über Leto zu sehr in die Enge getrieben? Mayas Gedanken rasten, aber sie kam nicht darauf, was er plante. Sie durchquerten die Grotte, und dann stieg Kristallträumer über einen der schmalen Pfade die Felsen hinauf. »Wir werden uns dort oben eine Höhle suchen«, erklärte er. »Ein ganzes Stück weit drin.« Er schulterte das Gewehr und hielt Maya sein Messer ans Gesicht. »Keine Fragen. Tu, was ich dir sage.« Sie gehorchte schweigend. Kristallträumer verteilte Lampen und schickte sie dann voran. Es ging immer tiefer in den Krater hinein. Wenn Mayas Orientierungssinn sie nicht trog, Richtung Norden. Also weg vom Strahlgelände, weg auch von Maddrax und den anderen draußen. Erst nach über einer Stunde verharrte Kristallträumer in einer Kaverne mit mehreren Ausgängen. Ohne die Lampen wäre es stockfinster gewesen. »Hier«, sagte er und kauerte sich einfach auf den Boden. Maya konnte sich jetzt nicht mehr zurückhalten. »Was hat das zu bedeuten?«
»Es wird ein Erdbeben geben«, antwortete der Prophet. »In wenigen Stunden. Sehr viel stärker als das erste.« Maya war so schockiert, dass sie für einen Augenblick sprachlos war. Sie zog seine Behauptung nicht in Zweifel. Schließlich brachte sie hervor: »Aber dann müssten wir doch raus, aufs freie Land!« »Keine Zeit«, erwiderte er. »Außerdem bist du meine Geisel, vergiss das nicht.« »Was … was spielt das denn jetzt noch für eine Rolle, wenn die Welt untergeht?« »Sie wird nicht untergehen. Und ich gebe nicht aus der Hand, was ich habe.« Kristallträumer wies um sich. »Die Alten wussten, warum sie hier gebaut haben. Wir sind hier drin sicher.« »Aber … was ist mit den anderen da draußen?«, stammelte Schnellwasser. »Sie spielen keine Rolle mehr, Junge. Wenn das Beben beginnt, kann ich sie nicht mehr aufhalten. Sie werden feige sein und fliehen. Der schwarze Kristall kann nichts gegen starke Emotionen bewirken. Sie werden vergessen, was ich sie gelehrt habe, und nur daran denken, ihre eigene armselige Haut zu retten. Aber das ist kein Problem. Ich hole sie mir wieder, einen nach dem anderen. Ich bin schon zu tief in sie vorgedrungen, als dass sie sich mir auf Dauer widersetzen könnten.« Schnellwasser knetete seine Finger ineinander. »Aber Sandperle …!« »Die ist schon lange fort, Dummkopf.« Kristallträumer blickte Maya an. »Aber zu spät. Deine Freunde werden
dich nicht mehr rechtzeitig herausholen können. Sie werden damit beschäftigt sein, zu überleben.« Maya suchte sich einen Platz an einer Wand, kauerte sich hin, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Sie legte den Kopf darauf und schloss die Augen. *** Aquarius kam wieder zu sich. Alle Knochen taten ihm weh, und er richtete sich stöhnend auf. Die Baumaschine war umgestürzt und hatte ihn von sich geschleudert. Ein rauchender Haufen verbogenes Metall türmte sich über dem jungen Waldmann auf. Ein paar Meter weiter kam Felsspalter ächzend zu sich. Um sie herum ein einziges Feld der Verwüstung. Nichts war mehr ganz. Den Waldrand entlang, und tiefer hinein, hatten umgestürzte Bäume Breschen geschlagen. Aquarius hörte ein leises Wimmern. Auf allen Vieren kroch er den Lauten nach und entdeckte unter einem herabgestürzten Teil Hradim Gonzales, den Mann, den er just in dem Moment hatte töten wollen, als das Beben einsetzte. Er war eingeklemmt. Mit schmerz- und angstgeweiteten Augen starrte er zu Aquarius hoch. Aquarius versuchte das Teil hochzustemmen, aber ohne Erfolg. »Felsspalter«, keuchte er. »Komm schon, hilf mir!« Sein Gefährte stolperte heran; er hatte einige Verletzungen davongetragen, aber offensichtlich nichts Ernstes. Er stellte sich neben Aquarius, und gemeinsam
schafften sie es, das scharfkantige Teil hochzuheben. Felsspalters Muskeln spannten sich gewaltig an, als er das Stück dann alleine hielt, während Aquarius den Mann unter den Trümmern hervorzog. Felsspalter ließ das Bruchstück krachend fallen, er atmete hastig, seine Nasenflügel waren stark gebläht. »Werde mal nach den anderen sehen«, murmelte er. Aquarius richtete Hradim Gonzales auf. »Kannst du gehen, Mann? Ich kann dich nicht tragen, mit all dem Speck auf deinen Rippen, du verweichlichter Städter. Allerdings, der hat dich wahrscheinlich vor Schlimmerem bewahrt.« »Glaub schon, dass ich stehen kann«, murmelte der Mann und stützte sich taumelnd auf Aquarius. »Kümmere dich um die anderen, ich komme schon zurecht.« »Sicher?« Der Gonzales-Mann nickte. »Ich versuche jemanden zu erreichen. Vielleicht können sie uns Hilfe schicken.« Aquarius deutete auf den PAC. »Bitte … versuch auch Starkholz zu erreichen. Und diesen Mediker.« »Klar.« Er blickte zu dem jungen Mann hoch. Tränen standen in seinen Augen. »Wir schaffen das, oder?« Aquarius klopfte auf seine Schultern. »Die Gründer haben mehr ausgehalten, Mann. Wir sollten sie nicht enttäuschen.« ***
Neronus Gingkoson stürzte in das Büro des Präsidenten. In Elysium hatte es ordentlich gewackelt, und vereinzelte Gebäude waren eingestürzt. Doch die Schäden waren vergleichsweise gering. Auch der Regierungstower hatte standgehalten, wenngleich eine Menge darin zu Bruch gegangen war. Leto stand hinter seinem Arbeitstisch; seine Stirn blutete von einer Schnittwunde, aber er achtete nicht darauf. »Herr Präsident …« »Schon gut.« Leto winkte ab. »Ich bin in Ordnung, und Sie auch, wie ich zu meiner Freude sehe. Berichten Sie!« »Die Schäden in Elysium, Bradbury, Hope und Phoenix halten sich in Grenzen. Richtung Wald haben sich einige Spalten und Risse aufgetan, doch ohne nachhaltige Schäden. Insgesamt dürfte es bei uns um die eintausend Tote und Verletzte geben, aber das ist erst eine vorsichtige Hochrechnung. Allerdings ist die Stromversorgung zusammengebrochen. Satellitenfunk ist jedoch möglich, ich habe schon entsprechend die Frequenzen auf alle PACs verteilt. Wir brauchen umgehend Generatoren und …« »Utopia«, unterbrach Leto leise. »Was ist mit Utopia? Und dem Krater?« Neronus Gingkoson stützte sich auf die Stuhllehne. »Fast siebzig Prozent«, wisperte er. »Die Stadt ist ein einziges Chaos. Die Bahnlinie ist komplett zerstört; sie hat wie eine Art Sollbruchstelle fungiert. Es ist ein tiefer Graben entstanden, in den sie gestürzt ist. Das hat auch zu den größten Schäden hier in Elysium geführt. Das
Strahlgelände scheint weitgehend intakt zu sein, die Hydree-Anlagen haben gehalten, und es sind keine Gräben aufgerissen. Kristallträumers Anhänger fliehen in Scharen. Sie werfen die Waffen und Kristalle weg.« »Versucht er sie aufzuhalten?« »Er ist nicht dort, Herr Präsident.« Nun musste Leto sich setzen. »Was?« »Der Prophet ist verschwunden, auch Schnellwasser ist fort.« Neronus konnte nur schwer sachlich bleiben. Leto war aschfahl geworden. »Er hat es gewusst und sich irgendwo in die Felsen zurückgezogen. Wenn aber der Zugang verschüttet ist …« Neronus wollte etwas sagen, doch Letos PAC aktivierte sich. Knisternd baute sich ein Bild auf und zeigte Ettondo Lupos Gonzales. »Herr Präsident«, schallte seine dröhnende Stimme, »ich bin froh, dass Sie wohlauf sind. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich bereits zwei Drittel meiner Flotte nach Utopia losgeschickt habe, voll gestopft mit allen Versorgungsgütern und Personal, was wir in der Eile auftreiben konnten. Wir werden versuchen, alle unterzubringen, damit sie in der Nacht nicht erfrieren.« Leto wusste für einen Augenblick nicht, was er sagen sollte. »Danke«, war alles, was ihm einfiel, mit tonloser Stimme. »Aber die Seuche …«, wandte Neronus ein. Leto winkte ab. »Kurz bevor das Beben losging, erhielt ich eine Nachricht von Palun Saintdemar, dass er wohl den Durchbruch geschafft hat. Er war bereits dabei, die
Waldleute zu impfen … vorausgesetzt, der Wald steht überhaupt noch.« »Das tut er«, antwortete Ettondo. »Ein Mann meines Hauses hat mich vor Ort unterrichtet. Es gibt wohl einige Schäden, aber es hält sich alles in Grenzen. Ich schicke Ihnen eine Auflistung rüber, was wir bereits unternehmen.« Nacheinander meldeten sich alle Häuser und berichteten, wo sie welche Hilfe einsetzten. Währenddessen kam Elkon Mur Gonzales herein. »Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind, schicke ich meine Leute in den Wald, um bei der Produktion und Verteilung des Impfstoffes zu helfen. Zuallererst müssen wir jede Menge nach Utopia schaffen, sonst gibt es dort bald nicht mehr viel zu retten.« Leto nickte. »Machen Sie es so.« Er sprach nicht aus, was alle drei Anwesenden wussten: Das Haus Gonzales wollte einiges wiedergutmachen. Und das war ihm auch gelungen, indem es jetzt wahre Größe zeigte. Der Geist der Gründer war noch nicht ganz erloschen. Das Erdbeben hatte vorerst alle hochfliegenden Pläne, Querelen und Kämpfe erledigt. Niemand dachte darüber nach, wer sich in irgendeiner Weise schuldig gemacht hatte. Jetzt ging es nur darum, sich gegenseitig zu helfen und so schnell wie möglich wieder aufzubauen. Jede und jeder Einzelne der Marsbevölkerung hatte spätestens jetzt irgendjemanden verloren. Die Trauer
machte sie alle gleich. Nun galt es, für die Überlebenden zu sorgen. »Herr Präsident«, sagte Neronus ein wenig rau. »Soll ich nach Utopia fliegen, um … nach Ihrer Frau zu suchen?« »Ich weiß, wo sie ist«, antwortete Leto mit erstaunlicher Ruhe. »Aber Sie werden in der Tat dorthin fliegen, mein Freund, mit allen verfügbaren Exekutiven. Ich werde Ihnen sagen, was zu tun ist, aber zuerst brauche ich einige Zeit, um andere Dinge zu erledigen. Derzeit ist alles gleichermaßen dringlich.« Der Sicherheitsmagister zögerte, als wollte er noch etwas sagen. Dann ging er. *** Matthew Drax kam hustend zu sich. Er lag halb unter einer Schicht aus Sand, Staub und kleinen Trümmerteilen begraben. Vorsichtig bewegte er Arme und Beine. Er war unverletzt, wie es schien. Er tastete neben sich und fand Chandra, ebenfalls unter einer dicken rotgrauen Schicht. Er zog sie zu sich, nahm sie in die Arme. Sie war schlaff und warm … also lebte sie. Vorsichtig klopfte er den Staub ab, schüttelte sie leicht. »Chandra, wach auf! Komm zu dir!« Hinter ihm erklang ein Ächzen, und er wandte den Kopf. Fedor Lux kämpfte sich hoch und griff sich an den Kopf. Er stieß eine Reihe von Flüchen aus, die selbst Matt in Erstaunen versetzten. Vor allem, da er den souveränen Albino noch nie aus der Rolle hatte fallen gesehen.
Die Flüche drangen wohl auch bis zu Chandra vor, denn plötzlich schlug sie die Augen auf, öffnete den Mund – und fing an zu husten. Matt richtete sie auf und klopfte ihr den Rücken, während sie keuchte. Dann blickte sie staunend um sich. Sie saßen im Freien. Die Wände um sie herum waren zur Seite geklappt, das Dach abgerutscht. Nichts war mehr an seinem Platz oder in einem Stück. Bis auf eines. »Wie in aller Welt …«, fing sie krächzend an, bevor der nächste Hustenanfall sie außer Gefecht setzte. »Alte kalifornische Weisheit«, bemerkte Matt und grinste vor Erleichterung und Freude, »der Tisch bleibt immer stehen.« Fedor Lux lachte wie ein Siebentöner. »Als Städtebauer und Statiker hätte ich das eigentlich selbst wissen müssen.« Er beugte sich herüber und legte Matt eine Hand auf die Schulter. »Danke, mein Freund. Ich stehe ewig in Ihrer Schuld. Kümmern Sie sich um Chandra. Ich muss jetzt nachsehen, wie viel von unserer Welt noch übrig ist.« Er stand auf und stolperte mit unsicheren Schritten ins verwüstete Lager. »Mir fehlt nichts«, sagte Chandra. Matt half ihr aufzustehen, und sie sahen sich um. »Oh, Matt …«, hauchte sie dann, und Tränen stürzten ihr aus den Augen. Er nahm sie in die Arme, und einen langen Augenblick standen sie nur stumm da, sich gegenseitig haltend. ***
Als es vorbei war, trieb Kristallträumer Maya und Schnellwasser umgehend auf die Beine. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Solange die da draußen beschäftigt sind, werden wir uns zurückziehen.« »Aber wohin willst du?«, fragte Schnellwasser. »Im Osten liegt ein Wald, dorthin werden wir gehen und in Ruhe abwarten, bis es Zeit für den nächsten Auftritt ist. Du wirst uns begleiten, meine Schöne, denn deine Dienste werden mir sehr wertvoll sein.« Er tippte leicht auf das Messer. »Und sei weiterhin vernünftig. Ich habe kein Problem, dein Gesicht mit ein paar Narben zu verschönern, wenn du ungehorsam bist. Glaube mir, ich kann jeden brechen.« Maya zog es vor zu schweigen. Kristallträumer war außer sich vor Wut, weil das Erdbeben all seine Pläne zunichte gemacht hatte. Allein, ohne Anhänger und verhängnisvolle Kristalle, musste er nun fliehen. Es war besser, ihn nicht zusätzlich zu reizen. Schnellwasser kam von seiner Erkundung zurück. »Meister, einige Gänge sind verschüttet, aber ich glaube, der Gang, durch den wir gekommen sind, ist noch frei.« »Also zurück.« Kristallträumer dachte nach. Dann verzerrte ein teuflisches Lächeln seine Züge. Er zog Mayas PAC aus einer Tasche seines Kittels. Eliana hatte ihn ihr während der Entführung abgenommen und Kristallträumer übergeben. »Damit kannst du Kontakt nach draußen aufnehmen, nicht wahr?«
Sie nickte. »Zeig mir, wie.« *** Zeit für Trauer hatte im Lager niemand. Die ehemaligen Anhänger Kristallträumers, die aus dem Gelände flohen, mussten betreut werden. Gleichzeitig ging es ans Aufräumen, das Bergen von Verletzten, den Abtransport. Todesfälle waren zum Glück nur drei zu verzeichnen. Wie schon beim ersten Beben hatten die Wellen ihre tödliche Wirkung erst auf ihrem verheerenden Weg durch das Land entfaltet. Vom Epizentrum aus folgte ein relativ harmloses Ortsbeben rings um das Kratergelände, das sich deutlich ausschwingend wie ein Pendel bis zu katastrophalen Einstürzen in den Fernbeben fortsetzte. Der restliche Tag wurde von weiteren Nachbeben begleitet, die jedoch nur noch ein harmloses Zittern waren, das kaum jemand registrierte. Es war, als hätte sich jemand gewaltig Luft gemacht, der seinen Zorn lange in sich aufgestaut hatte. Und nun herrschte wieder planetare Ruhe. Die Menschen würden allerdings noch lange brauchen, bis sie wieder zur Ruhe kamen. Inzwischen war man im Lager über die allgemeine Situation informiert, und alle hatten mit großer Erleichterung reagiert, als sie erfuhren, dass der
Präsident wohlauf war und mitten in der Organisation der Rettungsarbeiten steckte. Matt und Chandra wurden bei den Bergungsarbeiten eingesetzt, aber sie dachten beide ununterbrochen an Kristallträumer und Maya, die noch irgendwo dort draußen waren. Dass sie tot waren, glaubten beide nicht. Diese Geschichte war noch nicht zu Ende, und ihnen war klar, dass sie bald etwas unternehmen mussten – sobald sie einigermaßen entbehrlich waren. Helfer organisieren durften sie nicht; Leto hatte bereits vor dem Beben die strikte Anweisung gegeben, dass niemand von Mayas Entführung erfahren durfte. Bisher war aus dem Lager nichts nach außen gesickert; jetzt hatte sowieso keiner mehr Zeit dazu, Gerüchte zu verbreiten, offiziell weilte die Präsidentin in Elysium und organisierte die medizinische Versorgung. Wenn, dann mussten Matt und Chandra es eben allein durchziehen. »Das schaffen wir, Matt«, sagte Chandra zuversichtlich. »Maya kann auf sich aufpassen, und Kristallträumer wird sich hüten, ihr jetzt irgendetwas anzutun. Er ist in die Enge getrieben, und wir werden ihn an die Wand quetschen.« »Ich muss nur ein paar Waffen organisieren«, murmelte Matthew. »Und Lampen, Medosets … was man halt so braucht. Mit leeren Händen können wir da nicht rein.« Sie fuhren zusammen, als wären sie ertappt worden, als Fedor Lux auf sie zukam. »Folgen Sie mir bitte.« Er ließ keine Fragen zu, sondern kehrte auf dem Absatz um und
ging Richtung Felsen. Es gab einige kleine Grotten hier oben, die unter anderem auch Wasser führten. Um sie herum wuselten die Leute in hektischer Geschäftigkeit, niemand achtete auf sie. Je näher sie den Felsen kamen, desto spärlicher wurde der Menschenfluss allerdings. Hier draußen hatte momentan niemand etwas verloren. Fedor Lux führte Matt und Chandra in eine kleine Höhle, die von außen nicht einsehbar war. Matt stockte unwillkürlich im Schritt, als er einen selbst für marsianische Begriffe hoch gewachsenen Mann erblickte, der sich mit einem Kapuzenumhang verhüllt hatte. »Danke, Fedor«, sagte eine wohlbekannte, ruhige Stimme, und Matt blinzelte verdutzt, als der Mann die Kapuze zurückschlug. Der Albino blieb im Eingang stehen, als wollte er Wache halten. Chandra setzte an: »Le-«, verstummte aber hastig, als dieser den Finger an die Lippen führte. »Ich bin nicht offiziell hier«, sagte der Präsident. »Und dabei muss es auch bleiben.« Matt nickte. »Natürlich.« »Du … lässt Maya also doch nicht im Stich?«, flüsterte Chandra aufgeregt. »Hast du das wirklich geglaubt?«, gab Leto zurück, bückte sich über eine zusammengerollte Decke am Boden und schlug sie zurück. Medosets, Lampen, Messer,
Handfeuerwaffen und Gewehre kamen zum Vorschein. »Bedient euch.« Bevor Matt fragen konnte, was der Präsident vorhatte, summte dessen PAC. Leto wich sofort in die Dunkelheit zurück und zischte: »Verhaltet euch still!« Dann aktivierte er den Empfang. Eine verhasste Stimme schallte durch die kleine Grotte. »Herr Präsident, wenn Sie es sind, aktivieren Sie doch bitte die Sichtverbindung. Ich möchte gerne Auge in Auge mit Ihnen reden.« Leto blieb nichts anderes übrig. Gleichzeitig baute sich auf dem Display Kristallträumers Brustbild auf. »Es ist ja so dunkel bei Ihnen!« »Der Strom ist ausgefallen«, antwortete Leto. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte – wir hatten ein Erdbeben.« »Wo sind Sie denn?« »In Elysium, wo sonst? Ich sitze in meinem Büro fest, weil der Lift nicht mehr funktioniert, und ein zusammengestürzter Turm sperrt alle Wege. Aber ich kann auch von hier aus alles organisieren. Doch was erzähle ich Ihnen das, Sie haben keine Ahnung von diesen Dingen.« »Oh, ich denke, ich könnte mich sehr schnell einarbeiten. Schade, dass Sie mir nicht die Gelegenheit dazu geben, denn Sie scheinen ja alles unbeschadet überstanden zu haben. Andererseits freue ich mich natürlich für Sie, dass Sie wieder einmal Glück hatten. Wie lange das wohl noch andauert?«
Leto wirkte ungeduldig. »Machen Sie es kurz, ich habe sehr viel zu tun.« »Wie schön, dass Sie sich dann überhaupt die Zeit nehmen, mit mir zu sprechen!«, schien der Prophet sich zu freuen. »Ich muss sagen, nicht alles von den Städtern ist verdammenswert. Dies ist ein hübsches kleines Gerät, mit dem man große Wirkung erzielen kann.« »Kommen Sie endlich zur Sache!«, forderte Leto. »Sie wissen, wem dieser PAC gehört?« »Natürlich. Der Präsidentin.« Matt registrierte, dass Leto nicht »meine Frau« gesagt hatte. »Sie möchten sicherlich gern erfahren, wie es ihr geht?« »Ich weiß es bereits.« Kristallträumer grinste süffisant. »Sie glauben, ich tue meinem einzigen Druckmittel Ihnen gegenüber nichts an? Sie sind ein kluger Mann. Aber meine Geduld hat Grenzen, das sollen Sie wissen. Wenn Sie meiner Forderung nicht nachkommen, ist das Leben Ihrer Frau kein Sandkorn mehr wert.« In Letos Gesicht zuckte kurz ein Wangenmuskel. Doch seine Stimme klang so ausgeglichen und gelassen wie immer: »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass ich mich nicht erpressen lasse. Geiselnahme ist das Niederträchtigste, was ich mir vorstellen kann. Selbst für jemanden wie Sie ist das die absolut unterste Grenze. Damit zeigen Sie keine besonders guten Führungsqualitäten.« »Sie fordern mich also auf, die Geisel zu töten?«
Matt hielt Chandra zurück, die dabei war, einen Schritt nach vorn zu tun. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in heftigem Atmen. »Ich fordere Sie auf, die Geisel freizulassen und sich dem Magistrat zu ergeben. Meine Exekutive sind bereits vor Ort und dabei, das Gelände zu räumen.« »Ziehen Sie sie ab!« schrillte Kristallträumer. »Ich meine es ernst – ziehen Sie sie ab, sofort!« Matt blickte zu Fedor Lux, der eine beschwichtigende Geste machte und den Kopf schüttelte. Er nickte beruhigt. »Nun gut, ich gebe Order, vor dem Gelände zu bleiben. Aber ich werde sie nicht ganz abziehen«, gab Leto teilweise nach. »Kristallträumer, seien Sie vernünftig! Sie kommen da nicht mehr lebend raus, wenn Sie sich weiter verschanzen. Sie haben keine Anhängerschaft, nur noch den armen Jungen und die Präsidentin als Geisel, die Ihnen nur solange von Nutzen ist, solange sie unversehrt ist.« »Dann nennt man das wohl ein Patt«, meinte Kristallträumer. »Sie wollen Ihre Frau, und ich will meine Freiheit. Was machen wir denn da?« Leto schwieg. Nach einer Weile wollte der Prophet wissen: »Wollen Sie mir denn nicht ein kleines Bisschen entgegenkommen?« »Reden Sie«, forderte Leto ihn langsam auf. »Schon besser. Ich biete Ihnen einen fairen Handel an. Sie lassen mich und den Jungen gehen, und dafür
bekommen Sie die hoch verehrte Präsidentin in einem Stück und lebend zurück. Erst nachdem wir im Wald in Sicherheit sind, natürlich.« Matt fing an, wild zu gestikulieren, um Letos Aufmerksamkeit zu erregen, und deutete dann auf sich. Der Präsident starrte ihn verständnislos an. »Wo sehen Sie denn hin?«, fragte der Prophet prompt. »Ist da jemand bei Ihnen?« »Ich denke nach«, antwortete Leto, und plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, als habe er begriffen. »Und natürlich ist ein Berater bei mir. Denken Sie, ich mache hier alles allein?« »Ich dachte, Sie entscheiden alles selbst.« »Falsch gedacht. Sie haben die Struktur unserer Gesellschaft wohl noch nicht begriffen. Wie auch immer, ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Sie kommen mit Maya und Schnellwasser auf das Gelände, und dort nehmen wir einen Austausch vor: Sie geben mir Maya und erhalten dafür Maddrax.« Chandra fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie starrte Matt und Leto abwechselnd an, als wären sie verrückt geworden. »Den mögen Sie wohl nicht besonders?«, grinste der Prophet. Leto nickte. »Ich bin ausnahmsweise Ihrer Meinung, dass er für das Chaos verantwortlich ist. Bevor er einen Fuß auf unseren Planeten setzte, war bei uns alles in bester Ordnung, und auch Sie lebten fröhlich in Ihrem Canyon und frönten Ihren sadistischen Trieben.«
Kristallträumer lachte. »Ich bin geneigt, dem nachzugeben. Im Grunde ist Maddrax mir sehr viel lieber, denn wir haben noch eine offene Rechnung zu begleichen. Andererseits gefällt mir Ihre Frau, sie ist außerdem beim Volk beliebt und könnte mir bei einem zweiten Anlauf behilflich sein. Immerhin haben Sie es an ihrer Seite zum Präsidenten gebracht – das könnte mir doch auch gelingen!« Chandra schien kurz davor zu explodieren. Matt konnte es ihr nicht verdenken. Er hörte auch Fedor Lux' schweren Atem hinter sich. Nur Leto zeigte sich wie stets gänzlich ungerührt. »Reden Sie nicht, stimmen Sie zu, Narr! Das ist mein einziges und letztes Angebot. Sie kriegen Maddrax und freien Abzug in den Wald. Ich werde persönlich den Austausch durchführen, damit Sie wissen, dass ich es ernst meine. Da ich aber erst nach Utopia fliegen muss, brauche ich Zeit. Sagen wir, in drei Stunden, vor dem Eingang der Strahlgrotte. Akzeptieren Sie, ja oder nein. Schluss mit der Debatte.« Kristallträumer überlegte. »Also gut«, sagte er schließlich, »aber …« Leto trennte die Verbindung und deaktivierte den PAC. »Leto, du willst doch nicht wirklich …«, fing Chandra an. »Natürlich nicht!«, unterbrach er sie. »Ich wollte lediglich Zeit gewinnen. Uns allen dürfte klar sein, dass Kristallträumer Maddrax als zusätzliche Geisel bekommen will und gar nicht daran denkt, irgendeine
Vereinbarung einzuhalten. Wahrscheinlich wird er Schnellwasser den Auftrag erteilen, mich bei der Begegnung umzubringen.« Er griff nach einigen Waffen und steckte sie ein. »Wir gehen jetzt da rein und prügeln diesen falschen Kerl raus.« Er blickte Matt an. »Nur der Form halber – ich weiß, dass Sie es kaum erwarten können, aber: Ich kann von Ihnen nicht verlangen, dass Sie mitgehen, aber ich wäre sehr dankbar für Ihre Unterstützung.« Matt lächelte versöhnlich. »Schon gut, Herr Präsident. Ich lasse meine Freunde nicht im Stich.« »Sie wissen, dass ich das vorhin nicht ernst meinte?« »Ich denke, so gut kenne ich Sie inzwischen. Also, worauf warten wir?« Fedor Lux meldete sich zu Wort: »Herr Präsident, Sie wissen, dass ich das nicht gutheißen kann.« Leto grinste grimmig. »Schon gut, Fedor, Sie schaffen das auch sehr gut ohne mich. Außerdem ist Neronus zu Ihrer Unterstützung hier vor Ort. Sollte die Sache schief gehen, übernehmen Sie das Ruder. Neronus weiß Bescheid und wird hinter Ihnen stehen. Sie werden sehen, der Präsidentenstuhl ist ziemlich bequem und hat sich noch kaum meinen Körperkonturen angepasst.« Der Albino schüttelte verzweifelt den Kopf. »Sie treiben mich in den Wahnsinn, Leto!«, rief er aus, alle Förmlichkeiten vergessend. Leto lachte. »Wenn Sie schon so ein Gesicht ziehen, dann freue ich mich auf das von Kristallträumer, wenn er
mich sieht. Wie es aussieht, hat Maya ihn gut vorbereitet; er wird mit allem rechnen, aber nicht damit.« Er hob die Arme. »Seid ihr fertig?« Chandra nickte. »Ich hätte auch nicht damit gerechnet, Leto«, sagte sie beschämt. »Du warst auch nicht Raumschiffkommandant oder bei einer der Missionen dabei, genauso wenig wie Kristallträumer«, versetzte er. »Man lässt kein Crewmitglied zurück, und wenn das Schiff dabei drauf geht.« »Richtig«, entfuhr es Matt, und erschrocken dachte er bei sich: Dieser arrogante Arsch wird mir am Ende doch nicht etwa sympathisch werden? »Wir haben nur ein Problem«, sagte Matt, als sie die Höhle verließen und sich umsahen. Niemand war in der Nähe, der sie hätte sehen können. »Der Gang, den ich kenne, ist verschüttet.« »Ich weiß«, brummte Leto. »Nicht von Fedor übrigens, also geht nicht auf ihn los. Aber wir werden einen anderen Weg finden.« »Ich glaube, da kann ich euch helfen«, erklang in diesem Moment eine wohl vertraute, lange nicht gehörte Stimme über ihnen. »Wie es scheint, bin ich im richtigen Moment gekommen.« Matt trat einen Schritt zurück und erblickte eine leicht gekrümmte, hagere Gestalt in den violetten Himmel emporragen, die sich auf einen Stock stützte. Er strahlte. »Ehrenwerter Sternsang! Was für eine Freude, dich wohlauf zu sehen!«
Der Uralte grinste. Er wirkte kraftvoll und energiegeladen wie stets. »Kommt, Freunde, halten wir uns nicht lange auf. Der Weg ist lang, und wir haben nicht viel Zeit.« Unterwegs berichtete der Oberste Baumsprecher in kurzen Worten, dass er Unterstützung habe, die er vorsichtshalber bereits auf den Weg zurückgeschickt hätte, um Kristallträumer zu beobachten. Dann setzten sie ihren Weg schweigend fort, denn Stimmen hallten weit in diesem verzweigten Labyrinth. »Inzwischen wird er unterwegs zur Grotte sein«, flüsterte Sternsang später, als sie an einer Gabelung ankamen und sich entscheiden mussten; das ging nicht ohne Worte. »Ich weiß aber nicht genau, auf welchem Weg.« »Dann werden wir uns trennen«, sagte Leto leise. »Welche Wege führen zur Grotte?« »Von hier aus alle, aber sie verzweigen sich wieder. Achte auf die Richtung, Junge, dann findest du dich schon zurecht.« Sternsang tätschelte seinen Arm. »Bleibe nur ruhig. Es wird gut enden, das weiß ich. Alles Tragische … endet nun.« Leto nickte. »Verehrter Sternsang, ich danke Ihnen.« Dann verschwand er in einem der Tunnel. Sternsang deutete auf einen anderen Gang. »Diesen werde ich nehmen. Matt, Chandra, ihr geht dort entlang, da kommt ihr in einem Seitengang in der Grotte heraus, den bisher noch niemand entdeckt hat. Er liegt
gegenüber den Anlagen, versteckt hinter einem Felsen. Der Durchlass ist schmal, aber ausreichend.« *** Kristallträumer musterte Maya. »Dein Gefährte hat sich wirklich außerordentlich in der Gewalt«, musste er zugeben. »Ich habe ihm angemerkt, es ist ihm unerträglich, dass du in meinen Händen bist. Ich glaube, er ist mir tatsächlich in mancher Hinsicht ähnlich. Er verzichtet nicht mehr auf das, was er einmal hat.« »Dennoch steht die Verantwortung für das Volk bei ihm an erster Stelle«, versetzte sie. »Nur deswegen lässt er sich auf den Handel ein.« »Hat er das ernst gemeint mit Maddrax?« »O ja. Sein Misstrauen gegen Matt hat sich nie gelegt, und er hat meine Freundschaft zu ihm nie gutgeheißen. Anfangs war er tatsächlich ein Befürworter, Matt den Rest seines Lebens gefangen zu halten. Wenn er die Wahl zwischen zwei Opfern hat, wählt er natürlich ihn.« Der Prophet wirkte nachdenklich. Dann nickte er. »Na schön, so weit habe ich ihn jetzt. Und Maddrax in meine Gewalt zu bekommen ist eine schöne Dreingabe.« »Du willst mich nicht eintauschen«, sagte sie tonlos. »Ich wäre verrückt, wenn ich das täte«, entgegnete er. »Eine Frau wie dich gibt man nicht mehr her.« Er trat hinter sie und legte einen Arm um ihren Hals. Das Messer blitzte im Lampenschein auf. »So, nun werden wir uns auf den Weg in die Grotte machen, und du wirst
dich brav verhalten. Ich bin sehr schnell mit dem Messer, du hast es gesehen. Vorwärts.« Schnellwasser bewegte sich voran, um den Weg zu sichern. Auf einmal fuhr er herum. »Meister, da … da ist jemand!«, stieß er keuchend hervor. »Ich kann es spüren, von mehreren Seiten!« Er rannte in einen Gang, um die Verfolger zu finden. Maya knirschte mit den Zähnen, als Kristallträumers Arm auf ihre Kehle drückte und ihr die Luft abschnürte. Da er kleiner war als sie, musste sie die ganze Zeit den Rücken nach hinten beugen, was ihr zusätzliche stechende Schmerzen verursachte. »Falsches Luder«, zischte Kristallträumer in ihr Ohr. »Du hast mich also belogen. Von wegen aufrecht und ehrlich! Er wollte lediglich Zeit gewinnen, um seine Leute reinzuschicken!« »Das … würde er nie … tun …«, stieß sie mühsam hervor. »Das muss … Matt sein …« »Umso besser.« Sie hatten den Ausgang zur Grotte fast erreicht. Und nun waren tatsächlich Schritte hörbar, Geräusche von Bewegungen, das Kratzen von Metall auf Stein. Sie kamen von überall, durch das ganze löchrige Felsenlabyrinth. Sie waren umzingelt. »Dann muss ich dich also leider doch umbringen«, fuhr Kristallträumer mit veränderter Stimme fort. »Wie schade, dass es mit uns nicht geklappt hat, ich hätte gern mein Vergnügen mit dir gehabt und deinen Willen gebrochen …« Seine Zunge leckte über ihr Ohr, und sie
keuchte vor Ekel. Er drehte das Messer, die Spitze deutete auf ihren Hals. Der Tod war nahe. »Wenn du mich tötest, machst du dich zweifach schuldig«, quetschte Maya in seinem Würgegriff hervor. »Was faselst du in deinen Predigten vom Schutz des Lebens, wenn du es derart missachtest?« Kristallträumer stutzte, grinste dann und presste eine Hand auf ihren Bauch, befühlte ihn prüfend, geübt wie ein Heiler, griff anschließend nach ihren Brüsten und tastete sie ab. Er lachte. »Sieh mal einer an! Ganz so ausschließlich politisch war eure Beziehung wohl doch nicht, wie? Das sollte die Situation ein klein wenig verändern, denkst du nicht? Leto mag vielleicht bereit sein, dich zu opfern, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das auch für sein ungeborenes Kind gilt!« »Scheißkerl!«, zischte sie. »Dachtest du etwa, ich zeige Mitleid, wenn du dich mir offenbarst? Maya, du bist eine mutige Frau, die sich sogar waffenlos in die Schlacht stürzt, aber du bist naiv, wenn du glaubst, das könnte mich auch nur in irgendeiner Weise hindern! Hast du vergessen, was ich deiner Erstgeborenen antun wollte? Leto hatte ganz Recht, dich zu entmachten. Du hast zu viele Skrupel und schließt von dir auf andere!« »Nicht mehr!«, brüllte Maya auf. Ihr Schrei brach sich an den Felswänden, hallte durch die Gänge, setzte sich durch das Labyrinth fort. Es war genug. Die Grenze war erreicht. Jetzt würde sie ihn umbringen.
»Maya!«, schallte die Stimme von Maddrax zwischen den Felsen und lenkte den Schamanen für einen winzigen Augenblick ab. Der genügte Maya. »Matt, hier!«, schrie sie. Mit aller Kraft trat sie Kristallträumer auf den empfindlichen, kranken Fuß; er kreischte auf und lockerte den Griff um ihren Hals. Sie packte seine Hand und wirbelte herum, ihm den Arm verdrehend. Sie drückte auf einen Nervenknoten am Handgelenk, und er verlor das Messer. Er war sehr stark, aber Maya hatte immer noch die Erinnerung an die Ringkämpfe mit dem schweren, muskulösen Lorres in sich. Kämpferische Tricks verlernte man nicht so schnell, und in diesem Moment war sie so aufgepeitscht, dass sie keinen Gedanken an Schwäche und Müdigkeit verschwendete. Mordlust brannte in ihren Augen. Kristallträumer brüllte vor Schmerz, als Maya ihm mit aller Kraft in die Weichteile trat, während sie gleichzeitig seinen Arm nach hinten riss. Dann rannte sie los, Richtung Grotte. »Matt!«, rief sie. Sie hatte den Ausgang fast erreicht. Von dort aus kam sie nach unten zum Strahl; war sie erst unten, konnte Kristallträumer sie nicht mehr einholen. Auf ebenem Gelände war sie ihm weit überlegen, sie hatte zwei gesunde Beine. »Matt, sei vorsichtig, er –« Da traf sie etwas mit voller Wucht am Hinterkopf – Kristallträumers Stab, registrierte sie noch verwundert, den er zielgerichtet nach ihr geworfen hatte –, dann wurde ihr schwarz vor Augen, und sie konnte nicht mehr
bremsen, taumelte auf den Vorsprung, in die Grotte hinein, und stürzte über den Rand der Kante hinunter. »Maya!«, schrie Maddrax und wollte zu ihr laufen, aber gleich darauf begriff er, welche Warnung Maya ihm zurufen wollte – Kristallträumer hatte ein Gewehr, und er wusste damit umzugehen. Er warf sich gerade noch rechtzeitig auf Chandra, die in diesem Moment eingetroffen war und nach oben zielte, und hechtete mit ihr zusammen hinter die Deckung eines Felsens, während die Kugeln um ihre Ohren pfiffen. Für einen Moment starrte Matt entgeistert auf die Handfeuerwaffe in Chandras Hand. »Du … aber …« »Welche Wahl habe ich denn«, sagte sie grimmig. »Außerdem ist es Maya, die Waffen grundsätzlich verabscheut, nicht ich.« Sie duckte sich, als eine Kugel ganz in der Nähe einschlug. Matt spähte seitlich am Felsen vorbei. »Verflucht!«, schimpfte er. »Wo kommt der denn auf einmal her!« Im Schutz von Kristallwassers Kugelhagel schlich sich Schnellwasser an die reglos daliegende Maya heran. Matt konnte nicht erkennen, ob sie noch atmete oder nicht. Er legte an und zielte sorgfältig, kam aber nie zum Schuss, weil er sich immer wieder in Deckung zurückziehen musste. Chandra presste plötzlich seinen Arm und deutete auf den Felsen über sich. Er folgte ihrer Weisung. Sandperles weißer Schopf wurde sichtbar; gleich darauf kurzzeitig das Gesicht der jungen Frau. Sie hatte eine flehende Miene und bewegte verneinend den Kopf.
»Ich kann darauf keine Rücksicht nehmen«, knurrte Matt. »Maya ist wichtiger, so Leid es mir tut.« »Dann verletze den Jungen wenigstens nur«, raunte Chandra. »Ich gebe dir Deckung.« Sie hob die Arme bis zur Felskante und gab ungezieltes Dauerfeuer in die Richtung ab, wo sie Kristallträumer vermutete. Matt setzte sich erneut in Positur, doch wiederum kam er nicht zum Schuss. Schnellwasser hatte Maya inzwischen erreicht, doch da trat ihm Sternsang gegenüber. Der Greis hatte sich so geschickt positioniert, dass er sich von Kristallträumers Linie aus gesehen hinter dem Strahl und damit außer Reichweite für einen Schuss befand. »Geh zurück, Junge, und gib auf«, sagte der Uralte ruhig. Das Feuer von oberhalb des Felsens erstarb. Der Prophet bemerkte endlich den Obersten Baumsprecher, und jetzt konnte er ihn wohl auch endlich spüren. »Du!«, schrie er. »Verstecke dich nicht, sondern komm hervor! Stell dich mir!« »Meister!«, rief Schnellwasser panisch. »Er greift mich an! Ich kann … ich kann ihn nicht aufhalten!« Sternsang hob einen Arm. »Junge, geh aus dem Weg. Dich geht das nichts mehr an. Deine Schwester wartet oben in den Felsen auf dich. Sie wird für dich sorgen. Geh beiseite!« Der rothaarige junge Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht! Kristallträumer befiehlt mir, ihn zu verteidigen, und ich werde es tun!«
Matt stöhnte auf und fasste sich an den Kopf; desgleichen Chandra neben ihm. Glühende Pfeile rasten durch sein Gehirn und machten ihn handlungsunfähig. Er begann zu schreien. »Bruder!«, rief Sandperle. »Nein, tu das nicht, hör auf damit! Du bringst dich um!« Aber Schnellwasser konnte nicht mehr zurück. Er ließ seine Kräfte ungehemmt hervorbrechen und schleuderte sie durch die Grotte hinüber zu Matt und Chandra, die sich bald schreiend auf dem Boden wälzten. Schnellwassers Augen traten aus den Höhlen, der Schweiß lief ihm in Strömen herunter und vermischte sich mit Blut, das ihm aus den Augen, Nase und Ohren rann. Er taumelte, sein Gesicht wurde grau und … alt vor Anstrengung. Doch er machte weiter. »Ich bringe sie alle um«, keuchte er. »Meister, hilf mir ….« Kristallträumer bewegte sich aus seiner Deckung hervor und begann die Felsen herunterzuklettern. Matt sah ihn, aber er konnte seine Waffe nicht greifen und halten; sein Körper wurde wie in einem epileptischen Anfall geschüttelt, und er spürte, wie alle Kraft aus ihm gesaugt wurde, wie sich sein Verstand in eine wütend tobende Masse verwandelte, die sich schneller und schneller drehte, bis … »Genug jetzt!«, rief Sternsang mit machtvoller Stimme. »Ich kann dies nicht mehr zulassen, Kind. Vergib mir, was ich jetzt tue, doch du zwingst mich dazu. Wahnsinn
umfängt dich, du kannst nicht mehr innehalten, selbst wenn du wolltest. Der Tod schlägt bereits seine Krallen in dich, und ich muss ihn dabei unterstützen.« Der Uralte öffnete seine Hand und streckte die Finger. Er stieß einen merkwürdigen, summenden, tiefen Ton aus. Sein Gesicht zeigte höchste Konzentration, als er die Augen schloss und zum Gegenangriff überging. Abrupt merkte Matt, wie die Krämpfe nachließen. Er lag still, aber völlig erschöpft. Verschwommen sah er das Duell zwischen Schnellwasser und Sternsang. Der Junge taumelte und begann zu schreien. Seine Hände machten abwehrende Gesten, zwischendurch griff er sich an den Kopf und riss sich Haarbüschel aus. »Hör auf!«, kreischte er. »Hör auf, du saugst mich aus! Meister, hilf mir, steh mir bei, ich kann es nicht mehr ertragen! Er ist stärker als ich, er bringt mich um!« Matt blinzelte und blickte mit flatternden Lidern hoch. Er sah einen dunklen Schemen die Grotte durchqueren. Er hatte den Strahl fast umrundet. Bald war Sternsang in Reichweite. Kristallträumer hob den Arm mit dem Gewehr! Matt sah ein teuflisches Grinsen auf dem verzerrten Gesicht des Propheten. Schnellwassers Schreie waren inzwischen zu einem kläglichen Wimmern herabgesunken, er selbst in die Knie gebrochen. Immer noch setzte er sich tapfer zur Wehr. Auch Sternsang schwankte jetzt, sein Gesicht glich mehr einer Totenmaske denn einem Lebenden. Blut rann
aus seinem Mundwinkel. Aber er hielt den Arm oben und gab nicht auf. Matt tastete nach seinem Gewehr. Er musste den Propheten aufhalten! Egal wie, er musste sich zusammenreißen! So konnte, so durfte es nicht enden. Er durfte nicht versagen … er war Soldat, es gab immer einen Weg … nie aufgeben … Endlich lag die Waffe in seiner Hand. Matt rollte sich auf den Bauch, zog das Gewehr zu sich heran. Er richtete den Oberkörper mühsam auf, stemmte die Ellbogen in den Boden und versuchte das Gewehr anzuheben. Es schien Tonnen zu wiegen – und das hier, auf dem Mars, in so geringer Schwerkraft! Ich bin stärker, dachte Matt wütend. Er gab sich genaue Befehle, was er zu tun hatte, wie er es tun musste, brachte das Gewehr in die Höhe … in Anschlag … Kristallträumer hatte Sternsang direkt vor sich. Der Uralte konnte ihn nicht bemerken, er war in den Kampf mit Schnellwasser versunken. Sein großer hagerer Körper war gebeugt und zusammengeschrumpft, das Gesicht ausgemergelt. Aber Schnellwasser sah trotz seiner Jugend nicht besser aus. Seine Augen waren weit aufgerissen, rollten aber blicklos in ihren Höhlen, und kein Laut entrang sich mehr seinem weit geöffneten Mund. Am deutlichsten wurde das nahende Ende durch die Bewegungslosigkeit seines Brustkorbs. Er konnte nicht mehr atmen. »Jetzt«, rief Kristallträumer, »endet es!« Er legte das Gewehr in Anschlag und zielte auf Sternsangs Kopf.
Matts Hände schwankten hin und her, er schaffte es nicht, sie zu koordinieren. In diesem Augenblick robbte Chandra keuchend an seine Seite und half ihm, seine Hände ruhig zu halten und zu fixieren. Nur einen winzig kleinen Augenblick, der Bruchteil einer Sekunde, bevor Kristallträumer im Hochgefühl seines Triumphes abdrückte. Da krachte der Schuss … *** Kristallträumer war getroffen. Blut spritzte nach allen Seiten, als er von der Wucht des Aufpralls der Kugel zurückgeworfen wurde und sein Körper sich drehte. Auf sein Gesicht trat ein staunender Ausdruck. Matt war kaum weniger erstaunt – denn nicht er hatte geschossen! In diesem Moment merkte er, wie der peinigende Druck von ihm wich, und wie augenblicklich die Kraft in seinen Körper zurückkehrte. Energisch kämpfte er sich auf die Beine, zog Chandra mit sich hoch, und sie stützten sich gegenseitig. Kristallträumer blickte zu den Felsen hoch, dorthin, von wo der Schuss auf ihn abgegeben worden war. »Du …«, stieß er gurgelnd hervor. »Sie sagte, du … würdest nicht …«
»Du hörst nie zu«, gab Leto laut vernehmlich zurück. Er ließ Kristallträumer nicht aus den Augen, während er über die Felsen herab kam. Kristallträumer lachte hässlich. »Du … kriegst mich nicht …« Dann, bevor Leto reagieren konnte, taumelte, ja rannte Kristallträumer trotz seines verkrüppelten Fußes und der schweren Verletzung, eine breite blutige Spur hinterlassend, auf den Strahl zu. »Sei nicht verrückt!«, stieß Matt hervor. »Er ist nicht fertig justiert …« Doch da hatte der Prophet den Strahl der Hydree bereits erreicht. »Ihr werdet untergehen!«, brüllte er, dann war er darin verschwunden. Leto ließ das Gewehr fallen und rannte zu Maya. Vor den anderen war er bei ihr, kniete sich neben sie, legte zwei Finger an ihren Hals und seufzte erleichtert, als er ihren Puls fühlen konnte. »Sie ist nur bewusstlos«, stieß er gepresst hervor, als Matt und Chandra bei ihm ankamen. Vorsichtig tastete er Mayas Körper ab. »Ich glaube, sie sieht schlimmer aus, als sie tatsächlich verletzt ist … zumindest erkenne ich keine Brüche. Kümmert euch um Sternsang, ich komme schon zurecht …« Die beiden wandten sich fast verlegen ab. Leto zog seine Frau hoch in seine Arme und tätschelte ihr Gesicht. »Komm zu dir«, flüsterte er. »Maya, wach auf, es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit …«
Maya schlug die Augen auf und blickte verwirrt zu ihm hoch. »Du? Aber … was ist denn passiert?« Dann trübte sich ihr Blick kurz, als sie sich erinnerte. »Der Mistkerl, verrotten soll er …« »Leider konnte er entkommen«, sagte Leto und berichtete ihr, was sie versäumt hatte. »Aber ich denke, so schwer verletzt kann selbst er im Strahl nicht lange überleben.« Sie sah Leto an. »Hast du ihn …?« Er nickte. Vorsichtig tupfte er das Blut von ihrem Gesicht. »Hast du Kopfschmerzen? Siehst du verschwommen?« »Ich habe einen harten Schädel.« Sie schob seine Hand weg und stand auf. Sie klopfte sich den Staub ab und ächzte. »Mir tut alles weh. Ich glaube, da ist keine Stelle, die ich mir nicht angeschlagen oder zerkratzt habe …« Sie achtete nicht auf Leto, als er sie stützen wollte, sondern richtete die Aufmerksamkeit auf die weißhaarige Frau, die über die Felsen herabgeklettert war und zu Schnellwasser rannte. Sandperle kauerte mit ihrer Tochter neben der Leiche ihres Bruders nieder. Mit brüchiger Stimme sang sie leise ein Klagelied, unterstützt von der Kleinen. Dann sah Maya Sternsang auf dem Boden liegen, und Matt und Chandra, die neben ihm knieten und seine Hände hielten. »Alter Freund …«, wisperte sie und stolperte zu ihm.
Es war deutlich zu sehen, dass dem Uralten nicht mehr viele Atemzüge blieben. Aber er lächelte und wirkte zufrieden. »Es ist fast getan …«, hauchte er mit zittriger Stimme. »Seid unbesorgt, Kinder. Er wird euch schützen, viel besser als ich. Ich spüre seine Stärke … er wird uns alle übertreffen und ein Hüter des Volkes sein … er wird die Dunkelheit vertreiben …« Er schloss die Augen und atmete seufzend; noch nicht ganz bereit zu gehen. Draußen ertönten laute Rufe und die Geräusche rennender Menschen. Fedor Lux stürmte in die Grotte, doch Leto hob eine Hand. Der Albino bremste sofort, wandte sich um und hielt Neronus Gingkoson und weitere Exekutive mit ausgebreiteten Armen auf. »Raus hier«, befahl er. »Zwei Wachen warten draußen, die anderen sichern das Gelände. Niemand betritt die Grotte.« Kurz darauf waren Matt, Chandra, Maya und Leto wieder allein mit dem sterbenden Sternsang. Sie sprachen nicht und bewachten jeden seiner flatternden Atemzüge. »Er leidet …« Die Stimme des Uralten war so zart wie das Rascheln eines einzelnen Blattes im Wind. »Aber bald ist es vorbei …« Maya kniete sich hin und berührte mit ihrer Stirn fast den Boden. »Gehe ein in die Wurzeln des Lebens, wachse zum Licht und spende mir deinen gütigen Schatten, großer Meister«, sang sie eine rituelle Formel der Waldleute.
»Ehrwürdiger Sternsang, der Vater möge dich in Liebe aufnehmen. Dein Gedenken wird ewig sein.« Sie ergriff seine Hand, Tränen rannen über ihr Gesicht. »Dein Leib wird den Platz bekommen, der ihm gebührt, und bestattet werden in allen Ehren.« Sternsang lächelte noch einmal, aber sprechen konnte er nicht mehr. *** Windtänzer stockte mitten im Lauf, griff sich ans Herz, taumelte und sackte zusammen. »Geistvater …«, flüsterte er. »Verlass mich nicht …« Er war seinem Feind so nahe. Doch er konnte nicht weiter. Windtänzer wälzte sich auf dem Boden, die Hände an den Kopf gepresst. Die starke Verbindung, die er zu Sternsang aufgebaut hatte, ließ ihn am Sterben des Uralten teilhaben. Er spürte, wie das Leben aus seinem Meister wich, wie sich sein Herzschlag verlangsamte, wie der Blutfluss stockte. Als wäre er es selbst, so erlebte er es, und so starb er mit Sternsang. Jedoch nicht ganz. Im selben Maß, wie das Leben aus dem Greis wich, strömte etwas zu Windtänzer herüber und in ihn hinein. Alle Kräfte, alle Macht, die der Erste besaß, übertrug er nun auf seinen Nachfolger. Und noch mehr. Windtänzer spürte, dass Sternsang kurz vor seinem Ende noch etwas in sich aufgenommen hatte, eingesogen wie einen letzten Atemzug. Was er
einem anderen weggenommen hatte … Schnellwasser. Ja, das war es. Je mehr in ihn einsickerte, umso deutlicher konnte es Windtänzer sehen. Eine Welt offenbarte sich ihm, die er zuvor nur in Visionen wahrgenommen hatte; von der er gewusst hatte, dass sie die Welt umgab, die Menschen als Realität erkannten. Alle Waldleute hatten erweiterte Sinne, doch dies hier … war mehr, viel mehr. Windtänzer sah den Mars, während er sich in Krämpfen auf dem Boden wand. Als schwebte sein Geist über dem Planeten, umgab und umfing ihn. Es gab keine Entfernung mehr, alles war nahebei. Er war in allem, in Mensch und Tier, Baum und Gestein. Er sah das Geflecht, das alles durchzog, wie die Synapsen eines riesigen Gehirns, die in stetem Kontakt zueinander standen, wetterleuchtend, blitzend. Windtänzer sah, wo Sternsangs Körper in tausenden Kilometern Entfernung den Boden berührte und seine Beschaffenheit dadurch neu anordnete. Er sah es in Farben, in Explosionen, in Veränderungen. Schaum stand vor seinem Mund, sein Körper zuckte und zitterte, doch Windtänzer bemerkte es nicht, er hatte längst das Bewusstsein verloren. Er war gefangen in der Verbindung zu Sternsang, musste alles mit sich geschehen lassen, und er nahm auf, was ihm geschenkt wurde. Mit einem Ruck kam Windtänzer wieder zu sich. »Meister …«, flüsterte er. »Ich hätte nie gedacht …« Er war neu geboren. Der ursprüngliche Windtänzer existierte nicht mehr. Er wusste, er würde lange
brauchen, um die Kräfte, die nun in ihm ruhten, vollends zu verstehen und zu beherrschen. Er musste lernen, die Welt auf neue Weise zu sehen und die vielen Eindrücke, die sein erweitertes Bewusstsein in sein Gehirn übermittelte, verarbeiten zu können. Aber seine Erinnerungen waren noch da, und auch sein Schmerz. Und sein Schwur. Windtänzer erwog nicht für einen Moment, dem Stadtmenschen zu vergeben, dazu war er schon viel zu weit gegangen. Eine Umkehr gab es nicht. Er würde zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Langsam stand er auf, atmete tief und lauschte. Carter Loy konnte ihm nicht mehr entkommen. Er konnte den Flüchtenden selbst drei Kilometer weiter noch gut sehen, wie er ungeschickt durchs Unterholz stolperte, eine leuchtendrote Spur der Angst hinter sich herziehend. Er schwitzte, sämtliche Gefäße waren erweitert, das Blut raste durch seine Adern. Obwohl er ein tumber Städter war, schien er doch zu spüren, dass er seinem Ende diesmal nicht entkommen konnte. Windtänzer setzte sich langsam in Bewegung. *** Carter Loy Tsuyoshi bremste und verharrte, als er eine Bewegung vor sich ausmachte. Er? Aber … wie war das möglich? Wie hatte er den Vorsprung nicht nur zunichte machen, sondern ihn auch noch überholen können? Ihn abpassen, als hätte er genau gewusst, wohin er lief?
»Ich habe dich gesehen!«, rief er keuchend und raffte zusammen, was von seinem Mut noch übrig war. »Komm heraus, zeig dich mir, wenn du Mumm hast!« Ohne dass er erkennen konnte, wie Äste sich bewegten und sich der Blättervorhang teilte, stand Windtänzer urplötzlich vor ihm, von einem Augenblick zum nächsten. Carter glaubte, ihm würde das Herz aus der Brust springen vor Schreck, und er stolperte zwei Schritte zurück. Dann entspannte er sich ein wenig, als er sah, dass der Baumsprecher keine Waffe bei sich trug. Die Miene des Waldmenschen war völlig ausdruckslos, die Haltung entspannt. Allerdings gefiel Carter der Ausdruck seiner Augen nicht. Sie waren fast schwarz, kaum Grün und überhaupt kein Weiß war mehr zu erkennen. Der Tsuyoshi-Mann schluckte. »Es – es tut mir Leid«, stammelte er. »Wirklich, Windtänzer, das habe ich nicht gewollt. Nicht so. Ja, ich empfand Hass dir gegenüber; euch allen, aber deswegen wollte ich euch nicht … ausrotten. Ein Teil von mir wollte Rache, doch in erster Linie wollte ich einen Vorteil für mich herausschlagen.« »Erklärungen und Entschuldigungen werden dir nicht mehr helfen«, sagte der Oberste Baumsprecher leise. Auch seine Stimme klang fremd und beunruhigend. Carter erkannte den Mann kaum mehr wieder. Irgendetwas war mit ihm geschehen. Er strahlte etwas aus, das den Städter zutiefst ängstigte. Dieser Mann brauchte keine Waffe mehr, um zu töten.
»Ich wollte nicht, dass deine Tochter stirbt!«, rief er verzweifelt. »Bitte, du musst mir glauben! Ich werde die Verantwortung für alles übernehmen, ich werde mich dem Magistratstribunal und eurem Sühnebaum überstellen und mich schuldig bekennen und alles tun, damit es nie wieder zu so etwas kommt! Ich werde jede Strafe auf mich nehmen und den Rest meines Lebens –« »Das einzige Gericht, vor dem du den kurzen Rest deines Lebens stehen wirst«, unterbrach Windtänzer, »bin ich, in diesem Moment.« Carter wich einen weiteren Schritt zurück. »Das kannst du nicht tun«, keuchte er. »Du bist der Anführer deines Volkes, du könntest vermutlich eine Stimme im neuen Rat haben, das allein zählt! Du bist kein einfacher Waldläufer mehr, du trägst nun eine große Verantwortung und kannst nicht frei handeln, wie es dir beliebt!« »Ich kann«, versetzte Windtänzer. »Und ich werde.« Carter fiel auf die Knie. »Bitte!«, flehte er. »Hab Erbarmen! Du bist ein besserer Mensch als ich, zeige dich gnädig!« Windtänzer kam langsam näher. Dann ging er in die Hocke und zwang den Städter in seinen Blick. »Du hast mir zuerst meine Frau genommen. Und nun meine Tochter. Morgenblüte war lieblich und rein, unschuldig und voller Leben. Sie trug diesen Namen, weil sie die Morgenblüte war.« Seine Stimme wurde sehr leise und erschreckend ausdruckslos. »Sie war mir das Liebste. Und sie hätte meine Nachfolgerin werden sollen. Du hast
ihr nicht nur das Leben, sondern auch ihre besonderen Kräfte genommen. Das Waldvolk wird sich von diesem Verlust niemals erholen. Und ich als ihr Vater, wie soll ich damit leben? Wie soll ich jeden Morgen neu beginnen, ohne jemals wieder ihr Lied zu hören, die Berührung ihrer zarten Hand zu spüren, ihr Lächeln zu sehen, das keine dunklen Gedanken zuließ?« »Macht es das Unglück gerechter, wenn du mich tötest?«, wimmerte Carter. Er konnte es nicht verhindern, Tränen schossen ihm in die Augen. Windtänzers unmittelbare Nähe lähmte ihn, nahm ihm alle Kraft und jeglichen Kampfwillen. »Nein.« Windtänzer erhob sich, und sein Schatten fiel auf den zitternden Mann. »Nein, Carter Loy Tsuyoshi. Es macht Morgenblüte nicht mehr lebendig, und es verschafft keine Gerechtigkeit. Doch eines missverstehst du: Ich habe Erbarmen mit dir. Ich werde dich nicht leben lassen mit dieser Schuld, das bleibt allein mir überlassen. Du solltest dankbar sein für diese Gnade, die ich dir gewähre.« Er wandte sich ab und ging auf den Wald zu. Ohne ein weiteres Wort, ohne sich umzudrehen, tauchte er in den Blätterschatten ein. Carter spürte seine starke Präsenz nicht mehr. Er war fort. Der Stadtmensch blinzelte, konnte nicht glauben, dass der Mann einfach so ging, ohne ihn anzurühren. Sollte er doch … Konnte er …? Fast schöpfte er Hoffnung.
Doch dann ging Erstaunliches vor sich an der Stelle, wo Windtänzer verschwunden war. Äste und Blätter begannen plötzlich zu leben, so schien es, denn sie lösten sich wimmelnd auf und flossen auf den Erdboden herab. Einige größere, dunkle Schatten waren unter ihnen, die rasch näher kamen. Die Tjork. Jene Käfer, mit denen die Waldleute seit Jahrhunderten in Symbiose lebten. Ihre Diener. Sie krochen, wimmelten und wuselten in einer dunklen Masse zielstrebig auf Carter zu. Aber nicht nur sie kamen. Gleichzeitig setzte fern in der Luft ein Summen ein, das immer lauter wurde, während es näher kam, schließlich gewaltig war wie das Brausen eines Sturms. Die Bienen. Aus dem ganzen Wald flogen sie herbei, um den Tod ihrer Tänzerin zu rächen, in einer riesigen schwarzen Wolke, die sich langsam auf den Verurteilten herabsenkte. Grauen erfasste den Mann. »Roter Vater Mars, hilf mir«, schluchzte Carter Loy Tsuyoshi, starr vor Angst und Panik. Der Boden unter seinen Füßen wurde feucht, als er die Kontrolle über sich verlor. Auf den Knien robbte er noch ein Stück weit und winselte, flehte und bettelte um Gnade, jeglicher Würde beraubt. »Er kann dich nicht hören«, hörte er Windtänzers Stimme ein letztes Mal in der Ferne, als würde sie vom Wind herbei getragen. »Er hat uns beide längst verlassen.«
*** Maya faltete Sternsangs Hände auf der Brust. »Möge ein heller Stern deinen Weg beleuchten«, sagte sie leise. Die anderen schwiegen betreten. Sie rührten sich erst, als hinter ihnen eine leise Stimme erklang: »Was geschieht jetzt mit uns?« Leto blickte erstaunt auf die verängstigte weißhaarige junge Frau mit dem kleinen Mädchen an der Hand; er hatte sie völlig vergessen. »Wer ist das?« »Sandperle«, gab Maddrax Auskunft. »Mit ihrer Tochter Sonnentau. Sie ist eine Heilerin. Kristallträumer war ihr Mann.« Er deutete auf den Leichnam des rothaarigen jungen Mannes. »Schnellwasser war ihr Bruder.« »Sie war es, die uns geholfen hat, hier rein zu kommen«, fügte Chandra hinzu. »Und sie hat Sternsang die ganze Zeit über versorgt.« Sandperle wich furchtsam einen Schritt zurück, als Leto auf sie zuging. Er nahm behutsam ihre Hand. »Es ist gut«, sagte er sanft. »Keine Angst mehr. Für dich und deine Tochter wird gesorgt. Willst du zurück zu deinem Volk?« Sie schüttelte stumm den Kopf. Leto wandte sich zu Chandra. »Bitte sorge dafür, dass die beiden gut untergebracht werden. Versuche mit dem Baumsprecher des hiesigen Waldes zu sprechen. Ich bin sicher, seine Sippe wird Sandperle und ihre Tochter aufnehmen. Dort soll auch ihr Bruder dem Ritual
entsprechend bestattet werden. Kannst du das arrangieren?« »Natürlich«, antwortete Chandra. »Ich werde ohnehin hier bleiben und helfen.« Leto nickte und drehte sich zu Matt. »Sobald wir das Gelände geräumt haben, schicke ich Ihnen Unterstützung, Maddrax, damit Sie mit der Justierung des Strahls fortfahren können.« Er verharrte kurz. »Vorausgesetzt, die Leute haben überlebt.« Für einen Moment sanken seine Schultern nach vorn. Nur kurz. Dann fuhr er fort: »Ich hoffe, die Anlagen hier haben keinen zu großen Schaden genommen. Ihrer Arbeit sollte nun nichts mehr im Wege stehen.« Matt fühlte sich nicht ganz wohl dabei. »Ich kann das gern aufschieben und Ihnen helfen …« »Nein!«, unterbrach der Präsident. »Nein, Maddrax … Matt … danke. Wir kommen zurecht. Schieben wir nicht auf, wofür all diese Opfer gebracht wurden. Bringen wir es zu Ende.« »In Ordnung, Herr Prä-« »Leto, bitte.« »… Leto«, sagte Matt zögernd. »Vielleicht können wir einige Energieaggregate von hier nach Utopia und die anderen Städte transportieren, damit wenigstens die technische Grundversorgung gewährleistet ist.« »Ja, das ist eine gute Idee. Ich schicke Ihnen so schnell wie möglich Hilfe, irgendjemanden werde ich schon auftreiben. Sie übernehmen die Leitung hier. Lassen Sie
sich nachher von Neronus einen funktionierenden PAC geben, Ihrer ist zerbrochen.« Matt war das noch gar nicht aufgefallen. Aber dem Präsidenten entging wohl nichts. »Hast du für mich auch eine Verwendung?«, fragte Maya. Chandra sah sie verblüfft an. Leto musterte sie einen langen Moment. In seinem Gesicht regte sich nichts, nur eine tiefe Trauer lag wie schon zuvor in seinen dunkelblauen Augen. »Natürlich«, antwortete er schließlich. »Aber als erstes wirst du mit mir nach Elysium zurückfliegen und dich gründlich untersuchen lassen. Du hast eine Menge mitgemacht. Eine Verletzung ist nicht immer sichtbar, gerade am Kopf.« Er wandte sich um und verließ die Grotte. »Manchmal bist du einfach so ein Idiot, Maya!«, schnauzte Chandra ihre Cousine an. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, bedeutete sie Sandperle, ihr zu folgen, und ging mit ihr und Sonnentau hinaus. »Was werde ich wohl zu ihr sagen, wenn du sie verlässt, Matt«, sagte Maya. Dann schüttelte sie den Kopf. »Verzeih. Wir sind wohl alle ein wenig … überreizt.« Sie drückte kurz seinen Arm. »Danke für alles. Du wirst jetzt ungehindert daran arbeiten können, nach Hause zu kommen. Es war ein langer Weg, nicht wahr?« Sie lächelte müde. »Keiner von uns ist mehr, was er zu Beginn der Begegnung war. Alle haben wir große Verluste erlitten, Schmerz und Trauer. Ist das auf der Erde immer so?«
»Manchmal«, antwortete er. »Kommst du zurecht?« »Tue ich das nicht immer?« Sie straffte ihre Haltung, und plötzlich leuchtete das gewohnte Feuer in ihren Augen, und sie strahlte Energie aus. Von den Schmerzen, die sie ihrem geschundenen Anblick nach sicherlich haben musste, war nichts zu merken. »Ich muss jetzt auch gehen. Es gibt viel zu tun. Und du, blicke nach vorn, Matt. Vor dir liegt endlich eine bessere Zeit und eine berechtigte Hoffnung. Ich wünsche dir viel Erfolg. Wenn du etwas brauchst, egal was, wende dich an Fedor Lux oder Leto. Ich bin natürlich auch für dich da. Wir stehen in deiner Schuld, und das nicht zum ersten Mal.« »Schon gut«, murmelte er. »In erster Linie stehe ich in eurer Schuld, weil ihr mich aus dem All gefischt habt.« Eine Ewigkeit schien das her zu sein. Beinahe ein Jahr. Ein ganzes Leben … und mehr. Sie nickte ihm zu. Er konnte spüren, dass sie alles Negative abgeschüttelt hatte. Sie konzentrierte sich jetzt darauf, dem Volk beizustehen, war in Gedanken wahrscheinlich schon ganz bei der Organisation und der Entscheidung, was sie als erstes angreifen würde. Sie wusste, sie wurde gebraucht. Leto hatte gesagt, dass Maya stärker sei als sie alle zusammen. Er hatte Recht. Sie hatte unerschütterliches Vertrauen, dass es nichts gab, das nicht bewältigt werden konnte. Den Glauben an sich selbst gab sie nie auf. ***
Schon von weitem waren die Schäden deutlich sichtbar, die tiefe Wunde, die in den Wald gerissen worden war. Verkohlte schwarze Stämme, breite Breschen der Abholzung, und ein aufgewühlter Boden von der Schlacht, die auf ihm stattgefunden hatte. Für lange Zeit würde hier nichts mehr wachsen; es würde ein Mahnmal für die Gier der Menschen sein. Maya war ihre Nervosität deutlich anzumerken, als der Gleiter am Waldrand zur Landung ansetzte. Leto flog selbst; niemand sonst begleitete sie, obwohl Neronus Gingkoson einem Herzanfall nahe schien, als Leto ihn davon in Kenntnis setzte. »Unsinn, wer sollte denn jetzt einen Anschlag auf uns verüben?«, hatte der Präsident gefragt. »Aber … die Dame Präsidentin, sie ist noch nicht wohlauf, gerade erst von der Untersuchung gekommen …« »Wenn sie sagt, sie kann fliegen, dann ist es so«, unterbrach Leto. »Ich kann es ihr nicht verdenken, dass sie dies nicht aufschieben will – und ich will es auch nicht.« »Lassen Sie mich wenigstens –« »Nein! Geben Sie mir den Gleiter und erwarten Sie einfach unsere Rückkehr. Neronus, ich bin stets aktiv gewesen, kein Büroschläfer. Wir haben Kristallträumer erfolgreich ausgeschaltet und Schlimmeres hinter uns als diesen kleinen Flug. Außerdem bin ich Pilot, ich will ja nicht alles verlernen, nur weil ich zusätzlich in der Politik bin.«
Der Leiter des Magistrats hatte notgedrungen nachgeben müssen. Kurz darauf hatte der Gleiter vom Magistratstower abgehoben und Kurs auf den Wald genommen. Dies war kein offizieller Besuch, und niemand sonst sollte dabei sein, das war keine Frage. Das Paar hatte den ganzen Flug über kein Wort miteinander gesprochen. Das Schweigen zwischen ihnen war bereits Gewohnheit geworden. Maya konnte sich allerdings nicht mehr zurückhalten, als sie am vereinbarten Treffpunkt eintrafen, jetzt gab es für sie nur noch eines. Sie achtete nicht einmal auf das traurige Abbild des Waldes, das alles sah sie nicht – nur diese lebhafte kleine Gestalt, die unruhig auf und ab hopste. »Da … da ist sie!« Aufgeregt deutete sie vor sich. In sicherer Entfernung zum Landeplatz stand Vera Akinora, mit der kleinen Nomi an der Hand. »Oh, sie sieht gut aus … wirklich gesund … Ich glaube, sie ist sogar gewachsen … dem Roten Vater sei Dank …« Maya konnte es nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. Ihr Kind hatte die Seuche, das Erdbeben, das ganze Grauen der vergangenen Wochen wie durch ein Wunder ohne Kratzer überstanden. Nomi war nun das Sinnbild einer besseren Zukunft, die lebendige Hoffnung. Der Gleiter hatte noch gar nicht aufgesetzt, als Maya mit einem gewaltigen Satz heraussprang und mit ausgebreiteten Armen auf ihre Tochter zu rannte.
»Nomi!«, schrie sie, riss das Kind in ihre Arme und presste es an sich. Nomi erwiderte die Umarmung und ließ die Küsse über sich ergehen, aber irgendwann wurde es ihr zu viel. »Mama, du erdrückst mich ja! Ich krieg gar keine Luft mehr!« »Entschuldige.« Maya ließ sie los, streichelte ihr Gesicht, glättete ihre Haare und betrachtete sie voller Glück. »Ich habe dich so lange nicht gesehen, Nomi, und ich habe dich schrecklich vermisst.« »Ich hab dich auch vermisst, Mama«, gestand Nomi. »Jetzt bleiben wir aber länger zusammen, ja?« »Versprochen«, lachte Maya unter Tränen. Dann umarmte sie ihre Mutter. »Danke«, flüsterte sie. »Dem Himmel sei Dank, dass euch nichts passiert ist, ich hätte es nicht ertragen …« »Es ist alles gut, Maya«, sagte ihre Mutter sanft. »Wir werden immer beschützt. Doch du …« »Ach, das ist nichts!«, wehrte Maya ab. »Ich sehe schlimmer aus, als es sich anfühlt – und tatsächlich spüre ich momentan überhaupt keinen Schmerz, da ich euch endlich wiederhabe!« Erneut umarmte sie ihre Tochter, dann die Mutter. »Na, bekomme ich denn keinen Kuss von meinem Wirbelwind?«, erklang kurz darauf Letos Stimme hinter ihnen. »Papa!« Nomi rannte los und stürzte in seine Arme. Lachend hob er sie hoch und wirbelte sie herum. Die Kleine jubelte vor Vergnügen.
»Er liebt sie über alles«, sagte Vera. Sie wandte sich ihrer Tochter zu und legte ihre alte faltige Hand an Mayas Wange. »So wie dich, Kind. Und ich weiß, du liebst ihn auch. Ihr seid füreinander durch die Hölle gegangen. Wie lange willst du euch beide noch quälen?« »Es ist nicht so einfach«, murmelte Maya. »Aber du solltest es ihm wenigstens sagen, bevor er bald von selbst drauf kommt.« Ihre Mutter deutete auf ihren Bauch. »Du … du weißt es?«, stieß Maya verwirrt hervor. Die alte Frau lächelte gütig. »Ich bin wie du Frau und Mutter, Maya. Ich weiß es schon lange.« Maya fuhr sich durch die schwarzen Haare. »Das macht es nicht leichter.« »Nur dein Stolz steht zwischen dir und ihm«, erwiderte Vera Akinora. »Du würdest es dein Leben lang bereuen, wenn du jetzt die Tür schließt. Sei lieber dankbar, dass euch dies gewährt wird, andere sind nicht mehr in einer so glücklichen Lage wie ihr.« Dies sprach sie mit mildem Vorwurf. Und ruhig fügte sie hinzu: »Zu einer glücklichen Beziehung gehört auch, dass man vergibt – vor allem sich selbst.« Maya dachte nach. Dann ging sie zu Leto und Nomi, die ihrem Vater gerade wie ein sprudelnder Wasserfall berichtete, was sie alles erlebt hatte. Leto wich sofort einen Schritt zurück; auch das eine nunmehr schon gewohnte Geste der vergangenen Wochen. Maya fühlte plötzlich einen Stich im Herzen, als ihr dies bewusst wurde. Sie ergriff das Händchen ihrer
Tochter, um ihr deutlich zu machen, dass gleich etwas Wichtiges folgte. Aufmerksam blickte die Kleine zu ihr hoch. »Nomi«, sagte Maya. »Sag mal, würde es dir gefallen, demnächst, also schon in ein paar Monaten, einen kleinen Bruder zu bekommen?« Die Kleine schaute verdutzt. Dann strahlte sie. »Das wäre ganz toll! Das hab ich mir nämlich schon gewünscht! Und weil …«, kurzzeitig überschattete sich ihr Gesicht, »wo Morgenblüte doch … nicht mehr da ist …« Doch sie hatte keine Zeit, traurig zu werden, denn ihre Großmutter rief sie in diesem Augenblick, und sie sprang davon, um die Neuigkeit gleich weiter zu tragen. »Omavera, stell dir vor, was mir Mama gerade gesagt hat! Was ganz Tolles!« Maya fühlte Letos Blick auf sich ruhen. Sie sah ihm in die Augen und nickte schweigend. Er hielt ihr seine Hand hin. Sie ergriff und drückte sie. Hielt sie fest. *** Vogler spürte die Ablehnung immer stärker werden, je mehr er sich dem geheimen Platz näherte. Das düstere, verborgene Herz des Waldes brach an dieser Stelle auf, wurde licht und hell durch die Vorherrschaft marsianischer Gingkos, Flaschenmelonenund Weißholzbäume. Moosbewachsene Felsbrocken türmten sich auf, bildeten skurrile Formationen, besprüht von den Fontänen eines kleinen, fast zu Nebel
aufgelösten Wasserfalls. Auch der Boden war größtenteils von einem weichen Teppich aus blühendem Moos, Schachtelhalmen und Wollgras bedeckt. Nur wenige Beerenbüsche hinderten den Blick oder Durchgang. Richtung Norden zu konnte man zwischen den Stämmen hindurch einen Blick auf das freie Land erhaschen, das im Westen von hoch auftürmenden Felsen begrenzt wurde. Der Baumsprecher ließ sich jedoch nicht abweisen, auch wenn der zunehmende Druck ihm den Atem erschwerte und seine Beine schwer wie Blei werden ließ. Umso entschlossener war er, seine Mission durchzuführen. Es ist nur eine Illusion, dachte er. Nicht Wirklichkeit. Lass dich nicht beirren. Er erreichte eine liebliche sonnige Lichtung voll duftender Blumen, die das Ufer eines kleinen Weihers säumten. Bienen und winzige Vögel schwirrten und tanzten durch die Luft. Hier konnte Vogler nicht mehr weiter. Illusion hin oder her, die Beine versagten ihm den Dienst, und er sank ächzend, nach Atem ringend, auf die Knie. »Meister …«, flüsterte er. »Bitte, sprich mit mir … weise mich nicht ab …« Er setzte sich hin und rieb sich den Schweiß von der Stirn. Langsam sammelte er Kraft. »Ich gehe nicht fort!«, rief er, so laut er konnte. »Ich bleibe hier, bis ich mit dir gesprochen habe! Du weißt, dass ich es ernst meine, weil ich niemals nachgebe!«
Er brach hustend ab, zornig auf seine Schwäche und Unfähigkeit, dem Meister die Stirn zu bieten. Natürlich konnte Windtänzer nicht die Umwelt verändern, dies geschah nur in ihm, in Voglers Geist! Doch er konnte sich nicht zur Wehr setzen. Bis auf eines: Er konnte ausharren, bis der Erste ein Einsehen hatte. Er blinzelte einen Schweißtropfen aus dem Augenwinkel. Spürte einen leichten Luftzug. Windtänzer stand vor ihm. »Stur wie ein Felsen«, sagte der Oberste Baumsprecher. Seine tiefe Stimme klang gewohnt ruhig und kraftvoll. »So bin ich eben«, murmelte Vogler. Windtänzer setzte sich ihm gegenüber, kreuzte die Beine und legte die Hände auf die Knie. »Also gut«, gab er mit einem Seufzen nach. »Rede. Und dann geh.« »Du weißt, weswegen ich hier bin«, fing Vogler an. »Bitte, kehre zu uns zurück. Dein Volk braucht dich. Wir alle brauchen dich. Deine großen Kräfte, die nun in dir ruhen, sind nicht dafür bestimmt, sich in Abgeschiedenheit zu entfalten.« »Nein, Vogler. Ich habe mich entschieden und meinen Weg gewählt. Ich bleibe hier in der Einsamkeit, fern von euch allen. Ihr kommt besser ohne mich zurecht.« »Das stimmt nicht«, widersprach Vogler. »Du warst immer unser großes Vorbild. Deine Kräfte übertreffen die Sternsangs um ein Vielfaches. Du siehst weit über den Horizont hinaus. Und du … warst immer die Verbindung zwischen Wald und Stadt.«
Er wies um sich. »Dies hier ist eine kleine, abgeschiedene, vollkommene Welt. Es ist einfach, sich hierher zurückzuziehen. Aber dort draußen, außerhalb dieser Grenzen, herrschen Not und Elend. Wir stehen alle am Neuanfang. Wir brauchen Anführer, die verhindern, dass die Fehler der Vergangenheit wieder auftreten. Ohne das Beben wären wir in einem neuen Bruderkrieg versunken, doch jetzt … sind wir alle gleich. Wir wollen verzeihen, uns annähern, uns respektieren. Gemeinsam neu beginnen.« »Viel Erfolg«, sagte Windtänzer. Voglers Gesicht drückte die Verzweiflung aus, die er empfand. »Das kannst du nicht so sagen, Verehrter! Ich weiß, wie sehr dir dein Volk am Herzen liegt – und ich meine das ganze marsianische Volk!« »Ja. Es ändert dennoch nichts.« Vogler erkannte die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens. Niedergeschlagenheit bemächtigte sich seiner. »Kann ich dich denn gar nicht umstimmen, Meister?«, bat er. Windtänzer bewegte verneinend den Kopf. »Ich bin blind, Vogler«, sagte er langsam. »Und taub. Ich kann dem Volk nicht mehr von Nutzen sein. Zuerst muss ich einen Weg finden, dass der Rote Vater mir verzeiht.« Vogler hielt den Blick zu Boden gesenkt, doch der Trotz in seiner Stimme war deutlich zu hören. »Du bist es, der sich vor dem Vater verschließt«, kritisierte er mutig. »Er, der uns umgibt, hat uns längst vergeben. Uns allen, denn
keiner von uns ist mehr unschuldig. Das ganze Marsvolk, sei es nun ein Städter oder ein Bäumer, hat seine Unschuld verloren und seine Hände in Blut getaucht.« Er blickte dem Ersten ins Gesicht. »Doch deswegen werden wir nicht aufgeben, und der Vater hat auch uns nicht aufgegeben. Wir sind Menschen, und Veränderung ist ein Gesetz des Lebens. Wir haben eine harte Lektion gelernt und erkennen müssen, dass uns der Wechsel zu einem anderen Planeten noch nicht zu besseren Menschen macht. Unser Gefüge hat funktioniert, solange es keine Einflüsse von außen gab und alles glatt lief. Aber wir müssen lernen, uns allen Gegebenheiten anzupassen und weiterzumachen.« Er sah Windtänzer flehend an. »Hilf uns. Komm mit mir.« Der Schamane seufzte leise. »Diese Zeit des Aufbaus könnt ihr ohne mich überstehen. Doch ich werde euch nicht im Stich lassen. Sag dem Volk, dass ich da sein werde, wenn es mich braucht. Ich werde über euch wachen, auch wenn ich hier bin. Ich werde zurückkehren, wenn es an der Zeit ist.« Hoffnung leuchtete in Voglers Augen auf. Das war wenigstens … ein Ausblick! Es bedeutete, dass Windtänzer sich nicht ganz abgewandt hatte, nicht für immer. »Natürlich nicht«, sagte Windtänzer, als hätte er Voglers Gedanken gelesen. »Ich habe nie gesagt, dass ich für immer fern bleibe. Ich bin mir meiner Verantwortung als Oberster Baumsprecher bewusst, und ich werde sie
übernehmen, wenn die Zeit gekommen ist. Doch nicht jetzt, Vogler. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe.« »Und wofür ich dir danke, Verehrter, denn nun kann ich Hoffnung mit mir nehmen. Und ich bin nicht umsonst gekommen.« Er stand auf und verbeugte sich. »So bitte ich dich um Vergebung, deinen Wunsch nach Einsamkeit missachtet – und vor allem, an dir gezweifelt zu haben. Und ich bitte um weitere Vergebung, dass ich dir noch etwas zumute. Ich … bin nicht allein gekommen.« »Ich weiß.« Windtänzer nickte. »Sag Maya, sie kann jetzt kommen. Warte an eurem Treffpunkt auf sie. Und wähle deine Aufgabe.« Vogler stutzte; dies war scheinbar so dahin gesagt, aus dem Zusammenhang gerissen, hatte aber eine tiefere Bedeutung, der Betonung nach. »Meine Aufgabe?« »Ja, Vogler. Es geht hier nicht nur um mich, sondern auch um dich. Vor dir liegt eine große Entscheidung. Wäge gut ab, wie du unserem Volk am besten dienen kannst. Und damit meine ich das ganze Volk der Menschen.« Er zeigte Vogler mit einer weisenden Geste, dass er sich jetzt zu entfernen hatte. Der Baumsprecher ging völlig verwirrt. Maya betrat zögernden Schrittes die Lichtung und kauerte sich vor Windtänzer. »Vogler hat mir gesagt, dass du eines Tages zurückkehren wirst. Hast du es ihm gesagt, um ihm Hoffnung zu geben? Ihn zu trösten?«
Windtänzer lächelte schwach. »Du kennst mich gut, meine Baumblüte. Du blickst stets tief in mein Herz.« »Ich wünschte, du würdest es ernst meinen.« Statt einer Antwort ergriff er ihre Hände. Einen langen Augenblick saßen sie schweigend da. Schließlich löste Maya ihre Hände von ihm und erhob sich. »Ich muss gehen.« Er nickte. Als sie sich bereits abwandte, sagte er plötzlich: »Maya …« Sie drehte sich noch einmal zu ihm, fragend. »Wir werden es schaffen«, sagte er mit veränderter Stimme. »Wir werden uns wieder erholen.« Unwillkürlich legte sie die Hand an ihren Hals, als spürte sie einen unsichtbaren Würgegriff. »Aber …?« »Ich sehe einen großen, dunklen Schatten in der Zukunft«, sagte er düster. »Sternsang … hat etwas gesehen auf seinen Reisen durch den Strahl. Er hat es mir im Moment seines Todes übermittelt, wie so vieles andere. Ich habe nun seine Kräfte, und ich kann vorausschauen, ohne durch den Strahl wandern zu müssen. Es ist noch sehr unbestimmt, nicht mehr als eine Ahnung.« »Dann sind wir in Gefahr?«, flüsterte sie. »Ja. Und nicht nur wir, Maya. Auch unsere Weltschwester. Sag Maddrax, er soll auf alle Zeichen achten und den Himmel nie aus den Augen lassen.« »Dann … hast du es doch ernst gemeint …« »Geh jetzt, Maya. Auf dich wartet eine große Aufgabe als Hüterin des Marsvolkes.«
»Die auch die deine wäre, wenn du uns nicht im Stich lassen würdest«, sagte sie leise und wandte sich endgültig ab. Windtänzer antwortete nichts mehr. Er musste sich nicht rechtfertigen. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Windtänzer brauchte Zeit, um seine Kräfte zu sammeln und zu stärken. Er brauchte Zeit, um den Tod seiner Tochter zu verkraften und den Mord an einem anderen zu sühnen. Er brauchte Zeit, um sich mit seinem Vater, dem roten Staub des Mars, zu versöhnen und lernen, ihn besser zu verstehen. Er musste den Stimmen des Waldes lauschen und lernen. Windtänzer würde jeden Augenblick zur Vorbereitung nutzen, während er auf den Feind wartete. Er schloss die Augen und atmete tief ein. *** Leto strich mit einem Finger behutsam über eine verräterische Tränenspur, die Maya vergessen hatte zu beseitigen. Er hatte am Rand der Siedlung auf sie gewartet, geduldig wie immer. Nomi nahm auf dem Versammlungsplatz unter Tränen Abschied von ihrer Großmutter und den anderen. Starkholz, Vogler, Uranus, Rotbeer, Felsspalter und wie sie hießen, alle waren sie gekommen, umringten die Kleine, machten ihr Geschenke und drückten sie an sich. Sogar ein paar
Bienen waren da; beinahe so, als wäre Morgenblüte noch bei ihnen. Es war eine Geste der Versöhnung. Der Zuversicht, dass die Kluft zwischen Städtern und Waldmenschen vielleicht endlich geringer wurde. Derzeit waren sie aufeinander angewiesen, und daraus sollte eines Tages vielleicht doch gegenseitiger Respekt erwachsen. »So viele Tote …«, flüsterte Maya. »So viel Not. Gibt es nichts anderes?« »Vielleicht eines Tages«, antwortete Leto. »Aber ich denke, wir haben es jetzt überstanden. Der Impfstoff wirkt, und es wird wohl auch kein weiteres Beben mehr geben. Immerhin hat das Beben all die Kämpfe und Probleme schneller und nachdrücklicher beendet, als ich es hätte tun können.« »Grausame Ironie, nicht wahr?«, meinte sie müde. »An all dem sind wir selbst schuld«, versetzte er. »Wir waren zu selbstsicher, zu hochmütig und verliebt in uns selbst. Ich hoffe, wir haben unsere Lektion gelernt. Zumindest für eine Weile.« Er berührte ihren Arm. »Hast du Abschied genommen? Alles erledigt?« Sie nickte stumm. »Komm.« Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich. »Gehen wir nach Hause.« *** Zwei Wochen später waren die Aufbauarbeiten in vollem Gange, und man konnte schon die ersten vorsichtigen
Anzeichen neuen Wachstums sehen. Die Seuche war im Griff, und auch die vielen Erdbebenopfer und Kampfversehrten konnten versorgt werden. Die fünf Häuser hatten in allen Städten einen Großteil ihrer Türme geräumt und zu Kliniken und Unterkünften umgebaut, sodass die Notbaracken bald abgebaut werden konnten. Alle Bedürftigen bekamen einen Platz in einer Klinik oder erhielten eine bescheidene, aber mit allem Notwendigen ausgestattete Unterkunft. Isbell Antara Gonzales hatte die Koordination des Einsatzes der medizinischen Kräfte übernommen. Die ehemalige Beraterin aus dem Gonzales-Haus war in Leto Angelis' neuen Beraterstab eingetreten, nachdem er sie in einem ausführlichen Gespräch darum gebeten hatte. Sie erfüllte ihre Arbeit hervorragend, sodass nahezu nirgends Personalengstand herrschte. Zudem gab es viele Freiwillige wie auch Chandra Tsuyoshi, die sich in Utopia um die Auffindung und Versorgung verletzter, obdachloser und kranker Menschen kümmerte. Neronus Gingkoson, der seinen Posten behielt, setzte die Exekutive für Transporte, Kurierdienste und Aufräumarbeiten ein. Fedor Lux blieb ebenfalls im neu gebildeten Stab als persönlicher Berater des Präsidentenpaares und kümmerte sich um die Bildung einer neuen Infrastruktur – Transporte von Waren und Nahrungsmitteln aus den Anbaugebieten zu gut positionierten Märkten und mobilen Ausgaben in den Städten, damit niemand hungern oder frieren musste.
Der ehemalige unabhängige Berater Ruman Delphis erhielt im Stab die Aufgabe, sich um die Technik zu kümmern, und arbeitete eng mit dem einäugigen Elkon Mur Gonzales zusammen, um das zusammengebrochene Techniknetz wieder aufzubauen, die Reparatur- und Wartungsarbeiten zu koordinieren. Da die Bahnverbindung zwischen Elysium und Utopia unwiderruflich zerstört war, wurde eine Shuttleverbindung mit Knotenpunkten eingerichtet, um die Strecke für den Allgemeinverkehr wenigstens in Stunden bewältigen zu können. Merú Viveca Saintdemar war darum gebeten worden, den Vorsitz des Beraterstabs einzunehmen. Sie hatte zugestimmt, blieb im Regierungsturm von Elysium und behielt den Überblick über alle Vorgänge. Bei ihr liefen sämtliche Berichte und Informationen zusammen, und sie bildete die Schnittstelle zwischen dem Präsidenten und den Beratern. Wie die Berater auch waren Leto und Maya die meiste Zeit in den Städten oder im Wald unterwegs, um vor Ort Anweisungen zu geben, sich vom Fortschritt der Arbeiten zu überzeugen, sich den Menschen zu zeigen, um ihnen Hoffnung zu spenden, und Besprechungen durchzuführen. So entsetzlich die Katastrophe auch gewesen war, sie vereinte das marsianische Volk wieder und brachte die Häuser und die unabhängigen Firmen dazu, Hand in Hand zu arbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen und auszutauschen. Niemand dachte derzeit an
Konkurrenzneid und Eifersucht. Auch die Unterstützung der Waldleute bei der medizinischen Versorgung wurde dankbar angenommen. Traumatisierte Menschen wurden in den Wald gebracht und dort behandelt. Es war wie das Erwachen aus einem lähmenden Alptraum, die ersten Schritte in einen neuen Tag. Zu einem festgesetzten Termin wurden sämtliche Bestattungszeremonien und Trauerfeierlichkeiten durchgeführt, im Wald und in den Städten. Und hier wie dort waren Städter und Waldleute gleichermaßen versammelt, um ihren Angehörigen, Freunden und auch Verehrten die letzten Ehren zu erweisen. Überall stimmten die Baumsprecher zum Beginn der Zeremonien den Großen Hymnus vom Sieg des Lebens über den Tod an. Dies war ein besonderer Gesang noch aus der Zeit des ersten Bruderkriegs, der in Zeiten der Not und der Bedrohung angestimmt wurde. Das feierliche, schwermütige, vielstrophige Lied erschallte im Wald und in den Städten und stimmte versöhnlich; es war ergreifend und tröstend zugleich. So fanden auch Sternsang und Morgenblüte ihre letzte Ruhe im Totenbaum. Das Präsidentenpaar mit Tochter, die Alterspräsidentin, Maddrax und Chandra hatten sich dazu eingefunden und stimmten in den Abschiedshymnus mit ein. Matthew bemerkte einmal einen Schatten zwischen den Bäumen, ganz kurz nur. Aber er war sicher, Windtänzer erkannt zu haben, und im Stillen schickte er dem Freund einen Gruß. Es war gut, dass er endlich Abschied nahm,
auch wenn Starkholz und nicht er selbst durch die Zeremonie führte, wie es seine Aufgabe gewesen wäre. *** Kaum in sein Büro nach Elysium zurückgekehrt, wurde Leto um eine Unterredung unter vier Augen gebeten – von Palun Saintdemar. »Ich lasse bitten«, sagte er, lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Nun war er gespannt. Der hochgeschossene Mediker mit den verkniffenen dünnen Lippen kam mit schnellen Schritten herein. Das hüftlange schwarze Haar mit der stahlblauen Strähne war im Nacken zusammengebunden. Wie immer trug er jede Menge ziselierter Metallringe an den Fingern und einen daumennagelgroßen, grünlich irisierenden Kristall im rechten Ohr. »Sie haben mir bisher keine Fragen gestellt, Herr Präsident, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin«, eröffnete er das Gespräch ohne Umschweife, während er sich auf den angebotenen Stuhl vor dem Arbeitstisch setzte. »Das Schlimmste ist nunmehr überstanden, und man kann im Grunde genommen auf mich verzichten. Daher möchte ich mich stellen.« »Verstehe«, sagte Leto. »Die Last der Verantwortung.« »Ich hatte keine Ahnung, was die vorhatten«, verteidigte Palun sich umgehend, winkte dann aber ab. »Nein, das ist keine Entschuldigung. Ich habe an Carter Loy Tsuyoshi die Informationen über den Geosiphon
verkauft, die ich von Maddrax erhalten hatte. Der Preis war gut, und ich nahm an, dass Carter das Wettrennen um die Sauerstoffproduktion gewinnen wollte. Dass er ihn gegen Menschen einsetzen würde, damit hätte ich nie gerechnet. Ich war gerade dabei, Selbstmord zu begehen, als Sie mich anriefen und um Hilfe baten.« Er rieb sich den haarlosen Handrücken. »Ich entschied mich, meine Schuld zu mildern, indem ich mich an das Heilmittel machte. Mein Tod hätte keinem genutzt, aber so konnte ich wenigstens Menschenleben retten.« »Sie haben wahrscheinlich über ein Drittel des gesamten Volkes gerettet«, sagte Leto. Palun ballte eine Faust. »In solche Abgründe habe ich nie zuvor geblickt. Ich habe keine moralischen Bedenken wegen meiner Unterschlagung, Herr Präsident, dass wir uns da recht verstehen. Dies mag ungesetzlich sein, doch wegen eines wirtschaftlichen Schadens habe ich kein schlechtes Gewissen, und wenn ich dumm genug bin, mich erwischen zu lassen, muss ich dafür büßen. Aber …« Er schüttelte den Kopf und starrte zum Fenster hinaus. Für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht in dem Grauen, das er in sich trug. »Ich werde diese Bilder niemals aus mir tilgen können … sie verfolgen mich jede Nacht …« Dann blickte er wieder Leto an. »Nun, nachdem das Schlimmste überstanden ist, stand ich vor der Wahl, zu beenden, was ich begonnen hatte – nämlich mich umzubringen –, oder mich zu stellen.«
»Und warum sind Sie den schwereren Weg gegangen?«, wollte Leto wissen. »Ha! Ich bin zu feige. Ich habe Angst, dass ich mein schlechtes Gewissen ins Jenseits mitnehme. Insofern habe ich mich vielleicht für den leichteren Weg entschieden.« Leto hob eine Braue. »Ein abergläubischer Wissenschaftler. Interessant.« Er griff in eine Schublade, zog eine Mappe hervor, öffnete sie und reichte Palun ein Holobild. »Wer ist das?« »Grekk, der Assistent von Hondo Beffur auf Phobos. Er hat die verhängnisvolle Kultur gestohlen und an Carter verkauft. Vor einigen Tagen wurde sein bereits stark verwesender Körper erhängt an einem Stützbalken in einem Haus gefunden. Offensichtlich hat er sich kurz nach seiner Flucht von Phobos umgebracht. In seinem Geständnis gibt er auch zu, seinen Vorgesetzten, der ihm auf die Schliche gekommen war, ermordet zu haben.« Palun gab das Bild zurück. »Fühlen Sie sich jetzt besser, da Sie Ihr Gewissen erleichtert haben?«, fragte Leto. Palun zuckte zusammen. »Ich hoffte es. Aber ehrlich gesagt, nein. Es wird die Bilder in mir nicht tilgen.« Leto nickte. Dann beugte er sich vor. »Im Augenblick habe ich kein Gericht, das Sie anklagen kann, Palun. Ich halte es auch nicht für sinnvoll, Sie jetzt zu inhaftieren, wenn Sie sich nützlich machen können. Also kehren Sie an Ihre Arbeit zurück und halten sie sich zur Verfügung. Sobald wir in der Lage sind, Anklage zu erheben, werden
wir dies tun. Ich werde berücksichtigen, dass Sie lediglich Informationen verkauft haben und die Bekämpfung der Seuche allein Ihnen zu verdanken ist.« »Danke«, sagte Palun heiser. »Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen.« Der Mediker machte, dass er wegkam. Leto dachte einen Moment nach. Dann verließ er sein Büro und fuhr nach Hause. Eine Stunde, dachte er, wenigstens eine Stunde brauche ich jetzt. Nomi war begeistert, als ihr Vater unerwartet auftauchte, und ließ es sich gern gefallen, dass er sie lange an sich drückte. Maya kam überrascht aus ihrem Büro, das sie sich hier eingerichtet hatte. »Ich hörte Stimmen, konnte es aber nicht glauben …« Er hob die Hand. »Du hast zu tun, ich weiß«, unterbrach er sie. »Aber das habe ich auch, und trotzdem muss das jetzt warten.« Zu Nomi gewandt sagte er: »Schatz, geh runter zu Darla. Ich habe sie gerade getroffen, sie will dir ein neues Spiel zeigen. Deine Mutter wird dich später wieder abholen.« Nomi nickte begeistert und war schon im nächsten Moment verschwunden. Maya blickte ihn mit gemischten Gefühlen an. »Leto, was ist –«, und wieder kam sie nicht weiter. Er umarmte sie, presste sie an sich. »Ich brauche jetzt Leben um mich«, flüsterte er. »Nur einen Moment, Maya, damit ich weiß, wofür ich das alles tue, weil ich nur von Fäulnis und Tod umgeben bin, weil ich dieses Elend sonst nicht mehr ertragen kann, und weil ich wenigstens
für einen kurzen Augenblick die grauenvollen Bilder vergessen will, die mich verfolgen. Ich will froh sein, am Leben zu sein, statt mich dessen zu schämen und schuldig zu fühlen.« »Ich verstehe dich«, sagte sie erstickt. »Dies ist an keinem von uns spurlos vorübergegangen. Wir können nicht behaupten, es unbeschadet überstanden zu haben, und einfach weitermachen wie bisher. Unsere Körper mögen unverletzt sein, aber unsere Seelen sind es nicht.« Er hob sie auf seine Arme und trug sie zum Schlafzimmer. »Ich brauche dich, Maya, deine Stärke, die mich stützt. Ich will meine Hand auf deinen Bauch legen und mir vorstellen, wie sich das neue zarte Leben darin bewegt. Ich muss dich jetzt spüren, deine Wärme, deine Nähe, sonst habe ich keine Kraft mehr.« »Ja«, sagte sie zärtlich. »Ja, Geliebter.« *** Chandra Tsuyoshi stand an der Brüstung der Aussichtsplattform und blickte auf eine Welt in Trümmern hinab. Irgendwie konnte sie immer noch nicht glauben, wie schnell alles gegangen, wie viel in den vergangenen Wochen geschehen war. Die Ereignisse hatten sich überschlagen. Was hatte sie früher für ein vergleichsweise banales Leben geführt, und wie unzufrieden war sie gewesen! Von Minderwertigkeitskomplexen geplagt, eifersüchtig auf ihre erfolgreicheren Cousinen, angewidert von dem
Auftrag, die Betreuung des Gefangenen von der Erde zu übernehmen. Damals war ich wirklich klein, dachte sie. Und heute war sie bescheiden. Sie hatte gelernt, die kleinen Dinge wertzuschätzen, das Leben mehr zu achten, toleranter zu sein. Und sie hatte festgestellt, welche Kräfte und Energien in ihr steckten. In den vergangenen beiden Wochen hatte sie nahezu ununterbrochen gearbeitet, Menschen betreut, Fedor Lux bei der Wiederaufbauplanung unterstützt, und vor allem viel Optimismus verbreitet. Es war wichtig, dass die Menschen lernten, sich über das noch einmal geschenkte Leben zu freuen, anstatt sich in den Schrecken der Vergangenheit zu verlieren. Sie mussten nach vorn blicken. Das hatte Chandra von Matt gelernt: Es ging immer weiter, aber wie, das lag an der persönlichen Einstellung. Und Chandra wollte, dass es gut weiterging, dass es Lachen und Freude gab, auch jetzt schon, wenn noch nicht einmal alle Leichen aus den Trümmern geborgen waren. Es gab immer etwas, worüber man sich freuen konnte, und sei es das Lächeln eines Genesenden oder die Freude, tot Geglaubte wieder zu sehen. »Hier bist du.« Chandra lächelte, als sie Matts Stimme hörte. In den vergangenen zwei Wochen hatten sie sich kaum gesehen, obwohl sie sich dasselbe Apartment in einem intakten Tsuyoshi-Turm teilten; ganz oben in der höchsten Etage. Je weiter es nach unten ging, je kürzer die Wege wurden,
desto bedürftiger und schwächer waren die dort untergebrachten Menschen. Der Lift funktionierte nämlich nicht immer, häufig kam es zum Energieausfall, und dann hieß es Treppensteigen. Viele, viele Treppen, was mehr als eine Stunde dauern konnte. Deshalb waren sie auch nicht jede Nacht dort; Matt blieb manchmal tagelang rund um die Uhr auf dem Strahlgelände, und Chandra übernachtete auf dem Notbett im Bereitschaftszimmer einer Klinik, wenn die Nacht schon fast vorüber war. So viel Elend hatte sie gesehen, schreckliche Wunden und Verstümmelungen. Aber auch den Beginn neuen Lebens in den notdürftig eingerichteten Kreißsälen. Leben und Tod, dicht beieinander. Immer ein Grund, weiterzumachen, weil es das Leben wert war. Sie drehte sich um. »Hallo, Matt. Ja, ich wollte ein wenig die Aussicht und den ausklingenden Tag genießen.« Er stellte sich neben sie. Es war tatsächlich eine bizarrromantische Stimmung, als die untergehende Sonne die Trümmersilhouette der Stadt mit feuerroten Strahlen vom violetten Himmel herab übergoss. An einer Stelle lagen Teile in Schutt und Asche, und nebendran konnte ein völlig intakter Block stehen, mit hochragenden schlanken Spindeltürmen und Parkanlagen. Baukräne warfen lange Schatten auf die Straßen; viele Häuser waren schon wieder im Entstehen, während anderswo noch viel Schutt zu beseitigen war.
Der Wiederaufbau der anderen Städte war hinten angestellt, das zweimal betroffene, zu zwei Dritteln zerstörte Utopia hatte absoluten Vorrang. Luftschiffe der fünf Häuser kreuzten ununterbrochen über der Stadt, brachten Material und Versorgungsgüter. Ein Glück, dass wegen des letzten Bebens der Großteil der Bevölkerung noch nicht zurückgekehrt war, sodass die Zahl der Opfer kaum höher war als beim ersten Mal. »Ihr leistet großartige Arbeit«, stellte Matt nicht zum ersten Mal fest. »Ich bewundere euch, mit welcher Energie und Organisationsfähigkeit ihr ans Werk geht. Jeder denkt nur noch an die Gemeinschaft. In dieser Hinsicht könnte die Erde eine Menge von euch lernen.« »Falls ihr je wieder so weit kommt«, meinte Chandra. »Derzeit hat es euch wohl wieder um mehrere Jahrhunderte zurückgeworfen. Uns vielleicht nur um zwanzig Jahre, die wir schnell aufholen können. Nicht zuletzt dank dir, deinem Wissen über die Technik der Hydree.« »Ihr werdet es schaffen«, sagte er zuversichtlich. »Ihr seid erwachsen geworden. Leider, muss ich fast sagen, denn nun unterscheidet uns nichts mehr.« Sie kicherte plötzlich und hatte einen schelmischen Ausdruck in ihrem gereiften, von Entbehrung und Erfahrung geprägten schönen Gesicht, das nun jedoch mädchenhaft wirkte. »Uns beide unterscheidet schon ein bisschen was«, meinte sie keck. Sein Herz schlug plötzlich schneller, und er umarmte sie und küsste sie innig. Einen so friedlichen,
entspannten Moment hatte es schon sehr lange nicht mehr gegeben, und da war es kein Wunder, dass es gewaltig knisterte zwischen ihnen. Chandra erwiderte den Kuss leidenschaftlich und ließ ihre Hände über Matts Rücken gleiten, knetete leicht seine Muskeln, die durch das besondere Material seines Anzugs gut spürbar waren. Wie gut es tat, einfach mal nur Mensch, nur Frau zu sein, die Nähe eines Mannes zu spüren, seinen Geruch einzuatmen, sich in die Sinnlichkeit fallen lassen zu können. »Du riechst sehr gut«, murmelte er an ihrem Ohr und schmiegte sie an sich. »Ich habe fast vergessen, wie das ist …« Sie löste sich von ihm. »Lass uns jetzt essen gehen, ich habe einen mörderischen Hunger.« Sie befanden sich in einem intakten Bezirk, in dem es zahlreiche Freizeitvergnügen und Amüsements gab – ebenfalls ziemlich surreal, dieser Anstrich von Normalität mit all den Ruinen darum herum. Das Restaurant befand sich auf derselben Ebene wie die Aussichtsplattform. Es war sehr gemütlich eingerichtet, mit viel Holz, kleinen Nischen und Galerien, sodass man mitten unter den Leuten und doch für sich saß. Die Speisekarte war natürlich momentan sehr bescheiden. Trotzdem zauberte die Küche aus den wenigen Grundnahrungsmitteln, Kräutern und Gewürzen ein abwechslungsreiches Mahl, auf das sich Chandra und Matt mit kindlicher Begeisterung stürzten. Der Kellner, der sie beide erkannt hatte, kredenzte ihnen
zudem einen wohl gehüteten Wein, und zwar gleich eine ganze Flasche. Das ließ er sich nicht nehmen und lehnte jede Diskussion darüber ab. Es war ein fröhlicher Abend, der ihnen sehr gut tat. Aber sie wussten beide, dass es der letzte dieser Art sein würde. Vielleicht genossen sie ihn deswegen so sehr und schoben alles andere so lange vor sich her, bis es fast Mitternacht war und die meisten Gäste schon gegangen waren. Ein kurzes Schweigen entstand, das deutlich machte, dass es nun Zeit war, die Entscheidung zu treffen. Matt entschloss sich, anzufangen. »Der Strahl ist justiert. Nur noch ein paar kleine Einstellungen und Tests, aber das dauert höchstens Tage.« Sie betrachtete ihn über die Kerze hinweg. Das flackernde Licht zeichnete ihre Züge weich und betonte ihre Augen. »Dann wird es Zeit für den Abschied.« Er schüttelte den Kopf, schob die Kerze beiseite und ergriff ihre Hände. »Komm mit mir«, bat er. »Ich möchte, dass du mich begleitest. Ich will … es nicht so beenden.« »Matt«, sagte sie sanft. »Wie stellst du dir das vor? Du kehrst in dein altes Leben zurück. Darin ist kein Platz für mich.« »Aber … du bist Historikerin und Politikerin. Es kann eine wichtige Erfahrung für dich sein und … die Annäherung von Mars und Erde erleichtern. Du wärst die ideale Repräsentantin …« »Was ist mit Aruula?«
Er ließ die Schultern sinken. »Ich weiß nicht einmal, ob sie noch am Leben ist.« »Aber du vermisst sie. Und du wirst nach ihr suchen«, gab Chandra zu bedenken. »Alles wird anders sein, wenn du erst wieder in deiner vertrauten Umgebung bist. Du wirst anders sein. Und ich werde nur eine Fremde sein, die einen geschlossenen Anzug tragen muss, und ein Exoskelett, und Aruula mit ihren telepathischen Kräften wird sofort wissen, wer ich auf dem Mars für dich war.« Ihre Stimme wurde eindringlich. »Das kannst du weder ihr noch mir antun. Ich will nicht zwischen euch stehen. Das wäre unfair uns beiden gegenüber, und es würde dich in unnötige Gewissenskonflikte stürzen.« »Aber Chandra, ich …«, begann er. Sie streichelte seinen Handrücken. »Wir haben doch von Anfang an gewusst, dass es nur eine Beziehung auf Zeit ist, ein Abenteuer. Und das hat uns vieles erleichtert. Wir haben uns immer nur das Schöne gegönnt, nie den Alltag. Wir sind jedem möglichen Konflikt ausgewichen. Glaubst du wirklich, das reicht für eine lebenslange Beziehung?« Er konnte nicht antworten. »Nein, Matt, das tut es nicht«, gab sie nach einer Weile selbst die Antwort. »Wir empfinden Leidenschaft und starke sexuelle Anziehung. Wir haben im Bett harmoniert, und meistens auch außerhalb davon. Ich möchte nichts von all dem missen, und ich werde gewiss noch oft in Erinnerung an so manche Eskapaden erröten.
Ich weiß, du bist für irdische Verhältnisse ein guter Mann, Matt, der eine Frau achtet und respektiert. Aruula kann sich glücklich schätzen.« »Chandra«, murmelte er. »Ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg.« »Es ist doch alles gut«, wisperte sie. »Ich habe mich schon lange auf diesen Tag vorbereitet. Uns trennen wahrhaftig zwei Welten, aber für fast ein Jahr lang haben wir sie miteinander verbunden und vereint. Aber jetzt wird es Zeit, dass sich jeder seiner wirklichen Aufgabe zuwendet. Ich habe hier auf dem Mars zu tun. Mein Volk braucht mich. Ich werde weiter beim Wiederaufbau helfen. Genau das ist es, was ich tun will und was mich erfüllt.« Sie führte seine Hand an ihre Lippen und drückte einen zarten Kuss darauf. »Und du gehst auf die Erde, dort wirst gebraucht, nicht hier. Du suchst deine Familie und Freunde, beendest die Auseinandersetzung mit den Daa'muren und bringst den Hydriten die Vergangenheit ihres Volkes.« Sie stand auf und ging um den Tisch herum, zu seinem Stuhl, stellte sich vor ihn und nahm sein Gesicht in ihre Hände. »Und jetzt«, sagte sie mit gurrender Stimme, »hören wir auf zu reden, denn ich will nichts mehr von dieser Nacht vergeuden. Jetzt gehen wir heim, und ich werde dir einen Abschied bereiten, den du dein Leben lang nicht vergessen wirst, Matthew Drax von der Erde. Und immer, wenn du dann von deiner Heimat aus zum Mars hochblickst, wirst du mich
dort oben sehen, heute, in dieser Nacht, die nur uns gehört.« *** Die Justierung des Strahls und Maddrax' Abreise wurden nicht öffentlich bekannt gegeben; derzeit war das Interesse daran auch nicht besonders groß. Die Mehrheit der marsianischen Bevölkerung wäre ohnehin sicher froh gewesen, den Gast von der Erde endlich wieder loszuwerden. Kristallträumers Worte, dass Matt der Auslöser aller Katastrophen war, hatten sich wie ein Gespenst des Aberglaubens festgesetzt. Es war menschlich, einen Sündenbock zu haben, dem man alle Schuld und Verantwortung zuweisen konnte. Allerdings sollte Matt auch nicht einfach sang- und klanglos verschwinden, dafür sorgten schon seine Freunde; ja, er hatte tatsächlich welche. Von Maya wusste er es ja bereits, und natürlich Chandra. Auch Windtänzer, doch der war inzwischen unerreichbar. Aber ausgerechnet die stille, unscheinbare Leonie Jana Saintdemar, die die Expedition in den KronleuchterCanyon mitgemacht hatte, trommelte alle zusammen und organisierte ein Abschiedsfest. Sie mietete einen Nebenraum des Restaurants, in dem Chandra und Matt zwei Abende vorher gegessen hatten, und lud alle ein: Ranjen Angelis, Clarice Braxton, Samari Bright, sogar Elkon Mur Gonzales, der auf der Expedition ein Auge verloren hatte.
Auch July Tsuyoshi, Kommandantin der AENEA, folgte der Einladung. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, denn sie hatte bereits beim ersten Beben ihre gesamte Familie verloren, wie sie nach ihrer Rückkehr vom Noctis Labyrinthus erfuhr. In einem Gespräch mit dem Präsidentenpaar hatte sie zudem gestanden, dass Kristallträumer sie beeinflusst hatte, ihn und seine Familie nach Utopia mitzunehmen. Sie war erst wieder zu Verstand gekommen, als sie ihre Familie fand – unter den Opfern. Begreiflich, dass sie sich mitverantwortlich fühlte an allem, was geschehen war. Doch weder Maya noch Leto wollten sie deswegen zur Verantwortung ziehen. July hatte sich in einer Ausnahmesituation befunden, und Kristallträumer hatte dies, unter Zuhilfenahme der schwarzen Kristalle, ausgenutzt und ihr eine trügerische Hoffnung vorgegaukelt. Auch von den Wissenschaftlern, Technikern und Arbeitern am Strahlgelände kamen einige vorbei. Für manche war es überdies ein vorsichtiger Grund zum Feiern, denn wie es aussah, hatte Neronus Gingkoson, der Leiter des Magistrats, einige Termine unter anderem mit Ranjen Angelis, Samari Bright und Leonie Saintdemar vereinbart. Vermutlich hatte er einen Job anzubieten – und das wäre ein gewaltiger Sprung nach vorne für alle drei. »Was ist mit den Präsidenten? Sind sie beide eingeladen?«, stellte der Restaurantbetreiber eine Frage, die umgehend von allen in gespielter Empörung abgeschmettert wurde: »He, wir wollen uns amüsieren!«
Dasselbe galt für Fedor Lux und alle anderen, die in der Politik standen. Eine Ausnahme bildete Chandra, und das nicht nur, weil sie als Matts Gefährtin längst akzeptiert war. Sie hatte den Auftrag erhalten, Matt pünktlich zu dieser Überraschung zu bringen, ohne ihm etwas zu verraten. Und es gelang. Matt war völlig überrumpelt und war sehr gerührt. Es wurde ein fröhlicher Abend, der alle von der Katastrophe ablenkte und sie daran erinnerte, dass es eine Zukunft gab. Der Restaurantbetreiber hielt nicht hinterm Berg; mochten die Sandhexen wissen, wo er all das Zeug auftrieb, aber es gab Wein, Melonenschnaps und sogar Bier. Das Essen brachten die Gäste selbst mit, lauter Kleinigkeiten, die sie auf Märkten und in kleinen Läden erstanden hatten. Für Musik wurde auch gesorgt; einige hatten ihre Instrumente dabei, und sie stimmten herzhafte Chöre an. »Das hätte ich nie gedacht …«, sagte Matt. Er war ziemlich durcheinander. Chandra lachte. »Nun weißt du, dass du uns immer noch nicht richtig kennst, mein Lieber!« Clarice Braxton gesellte sich zu ihnen. »Ach weißt du, wir sind gar nicht so übel«, meinte sie grinsend und stieß mit ihrem Bierglas an seines. »Na schön, wir wollten dich umbringen, und viele haben immer noch ein paar Vorurteile … aber die hat ja wohl jeder. Die große Masse ist immer verheerend. Wichtig sind die Leute im Einzelnen.«
»Mhm.« Er musterte sie von der Seite. »Wie geht es dir?« »Allmählich besser«, gestand sie. »Meistens ist es wie ein Phantomschmerz, weißt du, wenn dir ein Arm oder ein Bein amputiert wird. Roy wird mir immer fehlen. Aber ich lerne damit zurechtzukommen, und ich habe mich mit viel Arbeit abgelenkt.« Sie stellte das Glas ab. »Hör mal, Matt, ich wollte mit dir reden. Ich habe morgen einen Termin bei Präsident Leto, weil … also, ich möchte dich gern begleiten.« »Wohin?«, fragte er dümmlich. Sie lachte. »Auf die Erde natürlich!« Er war so verblüfft, dass er erst einmal gar nichts sagte. »Du solltest nicht allein da runtergehen, Matt«, fuhr sie fort. »Du brauchst Unterstützung. Außerdem will der Mars gewissermaßen Beziehungen zur Erde aufnehmen, und da wäre es sinnvoll, wenn dich jemand wie ich begleitet. Ich meine, ich bin für den Bodeneinsatz ausgebildet, ich kenne mich gut in irdischer Geschichte aus, und ich habe ein gesegnetes Händchen für Technik.« »Clarice, du müsstest einen Anzug tragen, ein Exoskelett …« »Bah, Lappalien. Das bin ich gewohnt! Ich habe meinen Fuß bereits auf deinen Planeten gesetzt. Ich denke, es ist gar nicht so übel da.« Matt stellte sein Glas ebenfalls ab. »Warum, Clarice?« Sie senkte den Blick. »Ich habe hier nichts mehr, Matt. Keine Bindung. Roy ist tot, und überall, wohin ich gehe, werde ich an ihn erinnert. Hier werde ich nicht
gebraucht. Aber vielleicht auf der Erde.« Sie blickte ihn wieder an. »Ich würde mich freuen, wenn du einverstanden wärst.« »Clarice, es ist ein gewaltiger Schritt«, gab er zu bedenken. »Momentan ist es zudem ein One-Way-Ticket. Bist du erst mal durch den Strahl durch, gibt es kein Zurück mehr. Und solange der EMP auf der Erde aktiv ist, wird auch kein Raumschiff dort landen können. Reue ist also unmöglich.« »Das weiß ich doch, Matt. Aber ich bin entschlossen, die Herausforderung anzunehmen.« Sie sah ihn bittend an. Matt dachte gar nicht lange nach. Es war ihre Entscheidung, nicht seine. Was für ihn wichtig war: Er konnte ihr bedenkenlos sein Leben anvertrauen. »Ich würde mich freuen, Clarice«, sagte er. *** Schon am nächsten Tag trug Clarice Braxton wie beabsichtigt ihr Anliegen Leto Angelis vor. Der Präsident war ziemlich überrascht, denn er hatte über diese Möglichkeit noch gar nicht nachgedacht. »An Ausrüstung kann es nicht mangeln«, bemerkte Clarice. »Auf Phobos liegt das ganze Zeug herum, das wir mitnehmen können: Anzüge, Exoskelett, Medikationen, und so weiter. Waffen sind auch kein Problem, wir nehmen einfach mechanische Gewehre,
Messer und all so was. Dazu sollten wir Heilmittel, Kräuter …« »Moment!« Leto hob die Hände. »Sie haben das schon genau geplant, richtig?« »Ja«, strahlte die junge Frau. »Und ich habe auch schon mit Matt gesprochen, auf dem Fest gestern … oh.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Verzeihung, das wussten Sie ja gar nicht.« »Die Abschiedsfeier? Natürlich wusste ich davon. Ich wäre ein schlechter Präsident, wenn ich mich nicht informieren würde, was vor sich geht.« Leto grinste amüsiert, als er Clarices Verlegenheit sah. »Sie sind trotzdem nicht gekommen?« »Ihr wolltet euch schließlich amüsieren, und die Anwesenheit des Präsidenten hätte die ganze Angelegenheit nur förmlich werden lassen. – Und Matt ist einverstanden?« »Ja, Herr Präsident.« Clarice deutete auf eine umfangreiche Mappe. »Ich habe Ihnen eine ausführliche Begründung und Vorschläge in meinen Antrag geschrieben. Ich hoffe, Sie entscheiden sich dafür.« Leto nahm die Mappe. »Ich werde das mit meinem Stab besprechen. Sie hören von mir.« »Danke.« Clarice verließ das Büro beschwingten Schrittes. Leto rief seine Frau in ihrem Büro im Tsuyoshi-Tower an. »Du wirst nicht erraten, welcher Vorschlag mir soeben unterbreitet wurde.«
»Du nimmst mir das Wort aus dem Mund«, erwiderte Maya. »Mir ebenso. Besser, du kommst her und hörst es dir an.« Wie sich herausstellte, war Clarice Braxton nicht allein auf die Idee gekommen. An diesem Morgen hatte Maya unerwartet Besuch in ihrem Elysium-Tower erhalten – von einem Baumsprecher. Vogler war fast den ganzen Weg vom Wald bis nach Elysium zu Fuß gepilgert und gerade eben erst eingetroffen. Maya hatte ihn sofort vorgelassen und sich mit zunehmendem Erstaunen seinen Vorschlag angehört. Auch Leto war verdutzt. »Sie wollen auf die Erde? Matthew Drax begleiten?« »Dies trug Windtänzer mir auf«, sagte Vogler und machte ein Gesicht, als wäre damit alles erklärt. »Wörtlich?«, hakte Maya nach. »Nein. Aber er machte mir deutlich, dass ich mich entscheiden muss. Und dass ich dem Volk der Menschen dienen soll – dem ganzen Volk. Ich glaube, er hält es für sehr wichtig, dass ein Vertreter des Waldvolks mit auf die Erde geht. Und meine Fähigkeiten könnten sehr wertvoll sein.« Vogler sprach so, als wäre schon alles entschieden. Maya sah das noch nicht so. »Windtänzer hat es damals auf der Expedition zum Kronleuchter fast nicht ertragen, einen Anzug tragen zu müssen. Du musst zusätzlich einen geschlossenen Helm und ein Exoskelett tragen. Wirst du das aushalten?«
»Ja.« Maya und Leto tauschten Blicke. »Nicht nur für ein paar Tage, Vogler«, fügte Maya mild hinzu. »Möglicherweise für Jahre, bis wir euch wieder abholen können.« Vogler verzog keine Miene. »Ich werde vielleicht die ganze Zeit ein Exoskelett tragen müssen, aber nicht den Anzug. Mein Volk verfügt über außergewöhnliche Anpassungsfähigkeiten.« Maya grübelte. »Immerhin konnte dir das ISS-Virus nichts anhaben. Trotzdem wären noch einige Tests notwendig, um …« »Was notwendig ist, muss getan werden«, unterbrach Vogler. »Ich werde alles tun, damit ich meine Pflicht erfüllen kann. Matt kann mir rückhaltlos vertrauen, und das weiß er auch. Es gibt keinen Hinderungsgrund, denn meine Entscheidung ist gefallen.« »Unsere noch nicht«, mischte sich Leto ein. »Aber ich danke Ihnen, Vogler. Wenn wir zustimmen, würde ich es für sehr wichtig erachten, dass beide marsianischen Volksgruppen auf der Erde vertreten sind. Und ihr wärt sicherlich eine wertvolle Ergänzung. Maddrax hat keine Ahnung, was ihn da unten erwartet, er wird sicher Unterstützung brauchen.« Der Baumsprecher erhob sich. »Ich werde auf Ihre Entscheidung warten, Herr Präsident.« Maya begann: »Vogler, du kannst hier bei –« Er hob eine Hand. »Danke, nicht nötig, Maya. Ich werde hier sein, wenn die Entscheidung gefallen ist.«
»Wie wollen Sie das wissen?«, fragte Leto erstaunt. Vogler sah ihn fast mitleidig an. »Ich werde es wissen«, antwortete er ruhig und ging. Die beiden Präsidenten und der Beraterstab diskutierten am Nachmittag über die beiden Vorschläge, erwogen sorgfältig das Für und Wider, und welche Vorteile der Mars daraus ziehen konnte – und entschieden sich schließlich dafür. Alle Beteiligten wurden informiert, anschließend die Vorbereitungen getroffen und Tag und Stunde der Abreise festgelegt. *** Und dann war es so weit. Matt konnte es irgendwie immer noch nicht glauben, als ein Gleiter des Präsidenten ihn und Chandra abholte und zum Strahlgelände flog. Nach der Geschäftigkeit der vergangenen Monate war die Stille hier fast schmerzhaft, als der Gleiter in der Nähe der Grotte landete. Mit Ausnahme des Bedienungspersonals für die Steuerung und Überwachung waren alle Mitarbeiter abgezogen worden. In der Nähe des Strahls warteten sie schon alle: Maya Tsuyoshi und Leto Angelis, Fedor Lux und natürlich Clarice Braxton und Vogler, die gerade jede Menge Ausrüstung zur Strahlplattform schleppten.
»Eine lange Reise nähert sich dem Ende«, empfing Maya den Commander lächelnd. »Blicken wir hoffnungsvoll in die Zukunft und seien wir zuversichtlich, dass unser Wiedersehen unter besseren Vorzeichen und weniger Missverständnissen steht.« »Sie werden sich bestimmt auf das wichtigste Ziel konzentrieren: herauszufinden, was mit Ihren Angehörigen geschehen ist«, bemerkte Fedor Lux. »Setzen Sie sich dieses Ziel und bleiben Sie dabei. Das hat Vorrang vor allem anderem.« »Erst einmal ist es wichtig, festes Land zu erreichen, bevor uns die Vorräte ausgehen«, bemerkte Matt. Er wusste, dass der Strahl sie über dem Wasser absetzen würde; der Ort ließ sich allerdings nicht auf wenige hundert Kilometer genau bestimmen. So konnten sie nur auf eine nahe Küste hoffen – oder auf die Hilfe eines anderen befreundeten Volkes. »Oder Kontakt zu den Hydriten aufzunehmen«, fuhr Matt fort. »Ich kenne da einige Tricks, auf uns aufmerksam zu machen.« »Vielleicht gelingt es uns sogar, mit den Nachfahren der Alten zusammen zu arbeiten und die EMP-Strahlung auszuschalten«, meinte Clarice. »Wir haben immerhin einige Neuigkeiten für sie, da können sie sich ruhig kooperativ zeigen.« »Unsere Leute in der Mondstation werden ein wachsames Auge auf euch haben«, sagte Maya zu Matt. »Sobald der EMP neutralisiert ist, könnt ihr mit einem Funkgerät Kontakt mit der Mondstation aufnehmen, und diese wiederum mit uns.«
»Und haltet Augen und Ohren offen, was diese ominöse Gefahr im Himmel angeht, vor der Windtänzer warnte«, fügte Leto hinzu. Matt sah, wie nahe er bei Maya stand, den Arm leicht um ihre Taille gelegt. Und er sah, dass Maya heute einen besonders engen und figurbetonten Anzug trug. Es sah aus, als hätte sie zugenommen. Allerdings nur an einer Stelle. Matt lächelte in sich hinein und beglückwünschte sie im Stillen. Maya war eine außergewöhnliche Frau, und er freute sich, dass sie nun auch persönlich in eine bessere Zukunft blicken konnte. Leto schien also doch genau der Richtige für sie zu sein. Der Präsident würde Matt vermutlich nie besonders sympathisch sein (was nicht weiter verwunderlich war), aber er hatte einiges von seiner Meinung über ihn revidieren müssen. Und er war ein Freund, das stand fest. Nacheinander reichten die Marsianer Matt auf irdische Weise die Hand. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, trotz aller Freude auf die Rückkehr. Er ließ eine Menge hier zurück. Freunde, Erinnerungen, und … Leben. Seine Hand tastete in seiner Anzugtasche nach Naokis Kristall mit den gespeicherten Erinnerungen Aikos. Das Bewusstsein des Freundes, festgehalten zu einem geschichtlichen Zeitpunkt, da alles noch viel einfacher erschienen war. Die Präsidentin hatte Matt den Kristall übergeben, da dieser, so ihre Worte, so wie Matt auf die Erde gehörte, nicht auf den Mars.
Damit lag die Erinnerung an einen Freund in seiner Hand. In Matts Verstand ruhte zudem die Erinnerung an Gilam'esh. Und in seinem Herzen die an Chandra; aber auch an all die anderen Marsianer, die Menschen waren wie er – und doch ganz anders. Der Einzige, der nicht zum Abschied gekommen war, war Windtänzer. Aber er hatte Vogler etwas für Matt mitgegeben, das dieser »im geeigneten Moment« überreichen sollte, was auch immer das bedeuten mochte. Der Abschied von Chandra fiel kurz und förmlich aus. Sie hatten sich alles Wichtige bereits gesagt, zuletzt heute früh, als sie nervös auf den Gleiter gewartet hatten. Beiden war dieser Moment zu unangenehm, um ihn unnötig hinauszögern zu wollen. »Alles Gute, Matt«, sagte Chandra. »Ich wünsche dir, dass du deine Ziele erreichst.« »Wir werden uns wieder sehen«, entgegnete er. »Dann lass uns hoffen, dass dies unter guten Vorzeichen geschieht«, versetzte sie. Vogler und Clarice Braxton warteten zusammen mit der umfangreichen Ausrüstung beim Strahl und sahen ihn auffordernd an. Matt konnte sie verstehen; sie wollten diesen gewaltigen Schritt so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er machte sich auf den Weg, als Thor Leonas Angelis, Fedor Lux' Lebensgefährte, angelaufen kam. »Warten Sie!«, rief er. »Ich habe noch etwas für Sie.« Er reichte Matt einen metallisch schimmernden Stab.
Der Mann von der Erde erkannte sofort, dass es sich um einen Kombacter handelte, ein bionetisches AllzweckInstrument der Hydree, das auch als Waffe eingesetzt werden konnte. Es musste sich um Gilam'eshs Exemplar handeln, das sie bei seinen versteinerten Überresten im Seegrund neben dem Strahl gefunden hatten. »Ich habe den Kombacter restauriert und instand gesetzt«, erläuterte der kahl rasierte Mann mit dem blonden Kinnbart. »Es ist unglaublich, dass er nach all den Jahrmillionen noch funktioniert. Ich denke, er wird Ihnen gute Dienste leisten können, solange der EMP wirkt.« »Danke«, sagte Matt trocken. Die Erinnerung an Gilam'esh drohte ihn erneut zu überwältigen. Obwohl nun schon viele Wochen vergangen waren, ging es ihm immer noch nahe. »Keine Ursache. Vielleicht behalten Sie uns so in besserer Erinnerung«, meinte Thor Angelis, nickte ihm zu und gesellte sich zu den anderen. Clarice und Vogler wurden ungeduldig. »Nach dir, Matt«, forderte Clarice ihn auf. »Vergiss nicht, deine Maske zu schließen, da wir ja im Wasser landen werden. Das Boot sollte sich augenblicklich entfalten, sobald wir aus dem Strahl kommen.« Matthew Drax nickte. Kurz vor dem Alterungsfeld, das um den Strahl lag und zügig durchquert werden musste, drehte er sich noch einmal um. Alle winkten lächelnd. Obwohl sie es verbergen wollte, sah er, dass Chandra weinte.
Er schloss die Maske und atmete tief ein. Er hoffte, dass die Reise kurz sein würde, dass er dort im Strahl nichts sah, was ihm bekannt oder vertraut vorkam – Abdrücke von Sternsang, Gilam'esh … oder möglicherweise auch Kristallträumer. Er wollte jetzt keine Erinnerungen, und erst recht keinen Abschiedsschmerz. Er wollte nach vorn blicken, deutlich das Ziel vor Augen, seine Freunde zu suchen und herauszufinden, was genau nach den Explosionen am Kratersee auf der Erde geschehen war. Dennoch würde er den Mars mit sich nehmen, den kleinen roten Bruder. Zwei Welten, die nun nicht mehr nur verwandt, sondern auch verbündet waren, und die er beide auf einzigartige Weise in sich vereinte. »Nach Hause«, flüsterte Matthew Drax. Dann trat er in den Strahl. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie: In der Javasee wird das Schiff, mit dem Aruula unterwegs ist, von Piraten gekapert! Sie und der norwegische Barbar Yngve gehen nach einem kurzen, aber heftigen Kampf über Bord. In der Endlosigkeit der Wasserwüste sind sie dem Tode geweiht – doch sie werden gerettet, von einem seltsamen Volk, das auf dem Meer lebt. Aber damit geraten Aruula und Yngve nur vom Regen in die Traufe. Denn auch die Existenz des kleinen Stammes ist bedroht. Die Gefahr kommt von einer Insel, die die Hinterlassenschaften eines lange vergangenen Weltkriegs beherbergt – und Kreaturen, die geradewegs aus der Hölle zu kommen scheinen …
Insel der Fledermäuse von Michael M. Thurner