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Buch: Die Menschheit siedelt längst auf Rauminseln und in fernen Galaxien. Nur wenige, die Terraten, haben sich in einen Berg gegraben und versorgen sich notdürftig mit Energie und Lebensmitteln. Sie hüten eine Genreserve von Pflanzen und Tieren, die eine Neubesiedlung der Erde, das zweite Paradies, ermöglichen soll. Auf der Suche nach technischen Antiquitäten nähert sich ein Raumboot dem Mutterplaneten. Und junge Terraten wollen nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten, sie beginnen mit der Rekultivierung der Erdoberfläche, erste grüne Oasen entstehen. Doch ohne Wissen und Einfluß des Schöpfers Mensch wuchert eine neue Lebensform in pflanzlich-tierischer Symbiose, und grüne Walzen rollen, alles verschlingend, durch die Ödnis… Dieser Roman ist ein bitterer Traum von einer Zeit im nächsten Jahrtausend, die anbrechen könnte, wenn die drängenden Probleme der Gegenwart nicht vernünftig gelöst werden.
Peter Lorenz
Aktion Erde Science fiction – Roman
Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig
ISBN 3-354-00329-4 © Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig 1988 2. Auflage Lizenz-Nr. 444-300 / 117 / 89 • 7004 Printed in the German Democratic Republic Reihengestaltung: Helmut. Brade Umschlaggestaltung: Stefan Duda Typografie: Bernd-Michael Dehnert Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Best. -Nr. 639 408 4 00700
I
Der Auftrag
Am Horizont begann die Nacht zu ergrauen. In die Tierpflanze, in das Pflanzentier geriet Bewegung. Ein Zittern lief wellenförmig durch den Walzenkörper, im Inneren ein erstes Summen, ein ersten Surren. Nach außen, dem zu erwartenden Licht entgegen, drängten sich die grünen Anteile, um möglichst schnell zu assimilieren, möglichst rasch Energie entstehen zu lassen und somit das Defizit der langen Nacht auszugleichen. Als die Sonne den Horizont überstieg, als die graue Wolkendecke endlich genug Licht auf den kahlen Boden fallen ließ, setzte sich die Walze, die Tierpflanze, das Pflanzentier in Bewegung. Unendlich langsam zuerst, widerstrebend, fast wie im Sande verwurzelt, aber gegen Mittag, als die Hitze ihren Gipfelpunkt erreicht hatte, als das graue Licht der einzige Überfluß dieser Landschaft war, tobte sich das Pflanzentier aus, raste die Walze dem Horizont entgegen, wüteten die Symbionten in ihrem Inneren. Dann blieb hinter der Tierpflanze eine breite kahle Spur in der kargen Ebene, dann war jedes Lebenselement aufgesogen, dann war die Walze wieder angewachsen auf ihrer Bahn. Irgendwann würde sie das Wachstum nicht mehr ertragen können, sie würde platzen vor Leben, dann würden sich ihre Zugbahnen teilen und das Leben weitertragen rund um den geschändeten Planeten. Und noch viel später würde die Walze vielleicht gar zerfallen in Pflanzen und in Tiere, würde sich die Notsymbiose weiterentwickeln zur Biozönose. Die Walze hatte den Standort dreißig Grad östlicher Länge, einundfünfzig Grad nördlicher Breite erreicht, als die Sonne im Westen versank. Doch es gab auf dem Planeten niemanden mehr, der solche Daten registrierte. Und für das Pflanzentier zählen ohnehin nur Licht, Temperatur und die kärglichen Nährstoffe.
Allmählich wurde es in der Wohnwabe Manuel Maarlis hell. Die Musik setzte leise ein. Ihre Lautstärke steigerte sich. Maarli wachte auf. Es wurde ihm sofort bewußt, daß dieser Tag kein Tag werden würde wie viele andere zuvor. Seine Blicke schweiften durch den Raum. Es gab in dieser Wohnwabe keinen einzigen Quadratzentimeter, der ihm in den vergangenen Jahren nicht so vertraut geworden wäre wie die eigene Haut. Die Vertrautheit begann mit der Wabendecke und den einzelnen feinen Rissen ihrer Glasur, die wieder und wieder durchgebrochen waren und sich spinnfädengleich über die Oberfläche zogen, sooft er seine Wabe auch nachgebrannt hatte. Sie setzte sich fort mit der Pritsche, deren dunkelblaue Algenmatratze inzwischen durchgelegen war und auf der Manuel dennoch geschlafen hatte wie im siebten Himmel. Und geträumt. Von Alina. Von einem Leben in der A-Ebene. Von einem Sitz im Rat. Von der Rückgewinnung der Oberfläche. Und wieder von Alina. Sein Blick fiel auf den metallenen Tisch in der Wabenmitte, um den sie gesessen hatten und Pläne geschmiedet für die Zeit nach dem heutigen Tag. Auf dem Tisch lag noch vom Abend die »Geschichte der Terraten« aufgeschlagen. Er würde gut gerüstet sein für den schweren Gang. Das fühlte Manuel. Auf welcher Matratze er in der kommenden Nacht und in allen Nächten danach schlafen würde, welches Deckenmuster sich beim Aufwachen seinem Blick bieten würde, wie der Tisch aussehen und ob ein Buch darauf liegen würde, das wußte zur Zeit noch niemand, das würde der heutige Tag ergeben, und deshalb war dieser Morgen nicht ein Morgen wie alle anderen zuvor. Manuel schleuderte seine Decke zur Seite und sprang aus seiner Koje, während aus dem Lautsprecher die Stimme Jeanne Perras zu hören war, der klugen alten Frau des Rates, bei der sie viele Stunden Unterricht erleben durften:
»Ich wünsche allen Prüflingen des Ausbildungsganges zweihundertelf einen guten Morgen, einen erfolgreichen Tag, eine reiche Wissensernte. Gute Luft, alle miteinander!« »Gute Luft!« erwiderte Manuel den Gruß des Ratsmitgliedes, obwohl er wußte, daß die Perra seine Erwiderung nicht hören konnte, und begann sich an der Duschwand zu reiben. Dort war der Fels besonders glatt poliert, an ihm entlang sickerte das Wasser mit einer Temperatur von vier Grad eine Verwerfungsspalte entlang, und das war genau die Temperatur, die Manuel am frühen Morgen liebte, an einem solchen besonders. Erfrischend und prickelnd wie Tausende feinster Akupunkturstiche… Der junge Terrat rieb sich den Rücken an der Wand. Seine Haut rötete sich, er hätte singen können vor Wohlbehagen, mochte sie also beginnen, die große, die entscheidende Prüfung für den Ausbildungsgang 211, er jedenfalls fühlte sich allerbestens präpariert! Der Tag fiel in jeder Hinsicht aus dem Rahmen des Gewöhnlichen. Der Rat hatte sich wirklich nicht lumpen lassen und seine Vorratskavernen weit geöffnet. Manuel erschrak förmlich, als er die Luke des Verteilungsschachtes öffnete, um sein Frühstück zu entnehmen. Nicht, daß irgend jemand während der Ausbildungszeit hatte darben müssen, für ausreichend Eiweißkonzentrat wurde stets gesorgt, auch Ballastmasse war immer reichlich ausgegeben worden. Man war satt geworden, an jedem Tag. Und das war viel. An diesem Morgen prangte im Verteilungsschacht eine Mahlzeit von nahezu verschwenderischer Üppigkeit: ein Glas Saft, geröstete Ballastmasse, ein Schälchen eines roten Breies, eine Frucht, die Manuel zuvor noch nie gesehen, geschweige denn gekostet hatte. Er deckte den Tisch, setzte sich und wartete ungeduldig auf die Anweisung.
»Gute Luft, Prüflinge!« meldete sich schließlich der Ratsvorsitzende Lima Verde. »Gute Luft!« wiederholte Manuel die Grußformel. »Wir haben euch nicht ohne Absicht ein bißchen verwöhnt«, sagte der Vorsitzende. »Für diesen einen Morgen seid ihr alle ATerraten. Es soll ein kleiner Anreiz sein, die Prüfung so gut abzuschließen, daß ihr auf der höchsten aller Ebenen leben dürft. Zum Wohle aller Terraten, zur baldigen Rückkehr auf die Oberfläche!« »Zur Rückkehr auf die Oberfläche!« sagte Manuel und war sich sicher, daß Alina Simon im selben Moment denselben Satz sagen würde und Jacob Schwerte auch und alle anderen Prüflinge seines Ausbildungsganges ebenfalls. Und eines weiteren Faktes war er sich völlig sicher, unabhängig davon, mit welcher Einstufung der einzelne die bevorstehende Prüfung abschließen würde. Seit vielen Generationen redete der Rat, redeten alle Terraten ständig von der Rückkehr zur Oberfläche. Sein Ausbildungsgang dagegen, der Ausbildungsgang 211, würde die Planetenoberfläche tatsächlich betreten, den Kampf aufnehmen, die Entbehrungen, würde die Urangst vor der unendlichen Weite überwinden, würde sicherlich den Schutz der Felswände verlieren, aber Neues hinzugewinnen, vorerst Unbegreifliches. Auch und nicht zuletzt den Ruhm, der Ausbildungsgang 1 der Oberfläche gewesen zu sein, über den Geschichtsbücher später ebenso berichten würden, wie sie über die erste Generation der Terraten berichteten. An den Ausbildungsgang 211 würde man noch lange zu denken haben, der Rat und alle zeitgenössischen und künftigen Terraten! Manuel Maarli öffnete seine Wabentür und trat in den Stollen. Der Ausbildungsstollen war eng und gewunden. Er folgte den Felsbändern und den Erzgängen, er fiel stellenweise steil ab und verzweigte sich andernorts zu gewaltigen Kavernen, in denen man Sitzbänke für den Unterricht aus dem Gestein gemeißelt hatte. Die
Bänke waren wirklich noch von Hand gemeißelt, denn man konnte die Spuren der Schlagwerkzeuge erkennen, und die Oberfläche der Sitzgelegenheiten waren rauh und uneben. Nichts durfte nachglasiert werden, die Erinnerung an die Arbeit der ersten Terratengeneration war allgegenwärtig. Der Ausbildungsstollen. Jetzt, am frühen Morgen, war er noch terratenleer. Aber bald würde es in ihm wimmeln vom Jungvolk der verschiedensten Ausbildungsgänge. In wenigen Stunden würden die Kleinsten vom Ausbildungsgang 220 ausziehen, um den Stollen mit uraltem Handwerkszeug um ein paar Zentimeter aufzupicken. Die Schläge ihrer Hämmerchen würden wie Musik durch den Stollen klirren und selbst in der Prüfungskaverne zu hören sein. Und die vom Ausbildungsgang 215 würden über die Steinchen lächeln, die die Kleinen mühsam aus dem Gebirge gehauen hatten, und ihre Werfer zünden, unter deren Plasmatemperaturen der Fels aus dem Berg tropfte, und jene feinen Glasuren hinterlassen, die Wände und Decken der meisten Wohnwaben überzogen. Manuel Maarli wußte, daß er alles, was er als Terrat war, diesem Ausbildungsstollen verdankte. Er wußte aber auch, daß altes, was er hier gelernt hatte, Spiel gewesen war, Vorbereitung auf das Leben in den unterschiedlichen Ebenen, und für sie, die 211er, Vorbereitung auf den großen Sprung nach oben, an die Oberfläche! »Gute Luft!« sagte jemand hinter ihm. Manuel drehte sich um und gab Jacob Schwerte die Hand. »Gute Luft, Jacob!« »Hab ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend«, sagte Schwerte. »Du auch?« »Nein«, entgegnete ihm Manuel, »noch nicht, kommt aber vielleicht noch, wenn die Kavernentore geöffnet werden und Lima Verde ruft: ›Der Prüfling Manuel Maarli!‹«
Beide lachten, weil Manuel den Ratsvorsitzenden täuschend echt nachgeahmt hatte. Hinter einer Wegbiegung kamen ihnen ein paar Knirpse des Ausbildungsganges 219 entgegen und drückten sich ehrfurchtsvoll an den Fels. Alle im Stollen wußten, Prüfungstag für die 211er! Vor der Prüfungskaverne saß die Mehrzahl ihres Ausbildungsganges. Ihre Gesichter waren auffallend blaß, es herrschte betretenes Schweigen. »Ihr seht aus«, sagte Manuel, »als hätte man euch zu eurer eigenen Beerdigung eingeladen!« »Der Alte hat heute vielleicht eine Stinklaune!« antwortete ihm eine junge Terratin leise, wies auf das Tor und schwieg wieder. Und sofort verspürte Manuel, daß mit seinem Magen doch etwas nicht stimmen konnte. Gleichzeitig wurde das Kavernentor geöffnet, und eine Stimme donnerte: »Der Prüfling Alina Simon!« Alina Simon ging, nein, Alina Simon schlich in die Prüfungskaverne, vor die Kommission, vor den Rat, vor das Schicksal. Nicht einmal einen Blick konnte Manuel noch von ihr erhaschen, dann wurde das Tor wieder geschlossen. Nun war es amtlich. Die wunderschöne, silbergleißende »Intergalactica«, die da zum Greifen nahe vor ihm am Ausrüstungskai angedockt lag, würde ihre Jungfernreise nicht unter seinem Kommando antreten. Und das ärgerte Karel Nygard maßlos. Um so mehr, als das Ziel schon fast erreicht schien. Ursprünglich hatten sich neunundachtzig Besatzungen um den dritten Flug beworben, der das eigene Planetensystem verlassen sollte. Neunundachtzig, und wenn er in der ersten Runde herausgeflogen wäre, Gott, dann hätte er sich auch geärgert. Aber es hätten sich im Kopf nicht erst die Pläne festsetzen können, die Erwartungen, die Hoffnungen und der Traum von der neuen, prächtigen Uniform.
Nur zwei Crews waren übriggeblieben aus der riesigen Bewerberschar, und für Karel Nygard war es völlig klar, daß die anderen die besseren Beziehungen gehabt haben mußten. Denn wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, dann hätten er und seine Crew in die Kabinen der »Intergalactica« einziehen müssen! Es war aber nicht mit rechten Dingen zugegangen, und der erste Kommandant der »Intergalactica« würde nicht Karel Nygard heißen, und aus der neuen Uniform würde auch nichts werden, Scheiße, merde, kotajo, shit! Da nützen auch die vielen trostreichen Worte des Vizepräsidenten nichts, die salbengleich aus seinem Munde waberten und sich heilend auf die Seele Nygards legen sollten, die lauteten, daß es dem Präsidium diesmal außerordentlich schwergefallen sei, sich zu entscheiden, so schwer wie niemals zuvor in der Geschichte der Behörde, das müsse Karel ihm einfach glauben! So tröstend redete der Vize daher, daß man den Fakt beinahe vergessen konnte, den Fakt, daß die eine Crew fliegen würde und die andere daheim bleiben mußte, zur Untätigkeit verurteilt für viele Monate, denn das Fahrzeug der Nygardmannschaft lag zur Generalüberholung auf der Werft, und das konnte dauern. Wohl kein Kommandant zwischen Pluto und Merkur, der über Arbeitsweise und Plantreue von Reparaturwerften nicht sein traurig Liedchen zu summen wußte. Jetzt kam der Vizepräsident gar in seiner ganzen Breite hinter seinem Schreibtisch hervor, legte in inniger Vertraulichkeit seine Hand auf Karels Arm und sagte: »Für Leute Ihres Kalibers und Mannschaften wie Ihre Crew, Major Nygard, wird es bei mir immer ein offenes Ohr und einen interessanten Auftrag geben!« »Hauptmann!« verbesserte Karel. »Major!« wiederholte der Vizepräsident sehr nachdrücklich und fügte hinzu: »Denn ich nehme nicht an, daß Sie sich Ihrer Verantwortung entziehen werden! Es würde so gar nicht in das Bild passen, das wir alle«, er schloß die Porträts an den Wänden
mit weitausladender Armbewegung in seinen Satz ein, »das wir alle von Ihnen gewonnen haben!« Sofort schlugen bei Karel die Alarmglocken an. Mußten sie, denn wenn Vizepräsidenten so freundlich daherreden, suchen sie nach einem Opfer. Und hatten es bereits gefunden, wenn man nicht auf der Hut war, seine Haut nicht teuer genug verkaufte. Eine geschundene Haut zumal. »Keiner weiß besser als ich, Karel«, fuhr der Vize fort, »daß Sie sich nichts sehnlicher gewünscht hätten als die Intergalactica. Ein paar Jahre herumtreiben, wenn man ein bißchen Glück hat, sammelt man Ruhm und Ehre en masse, der Chef ist weit, sehr weit entfernt, tja, verlockend, wirklich sehr verlockend! Andererseits gibt es in relativer Nähe Aufgaben, bei denen man nicht ganz so viel Ruhm ernten kann, Karel, die aber trotzdem einen Mann erfordern, einen ganzen Mann, einen gestandenen Fahrer, wie man so zu sagen pflegt, Major Nygard!« Karel Nygard nahm Haltung an, denn die Zeit der Vertraulichkeit schien mit dem letzten Satz des Vizepräsidenten der Vergangenheit anzugehören. »Ich höre!« sagte er. Der Vizepräsident war hinter seinen Schreibtisch zurückgekehrt und nahm einen dünnen Ordner zur Hand. »Also, Major Nygard, Aufgabe wie folgt: Turnusmäßige Wartung und Instandsetzung der Rettungsinseln im Doppelplanetensystem Erde-Mond!« Bevor Karel Nygard etwas erwidern konnte, gar protestieren, folgte der zweite Satz: »Sie melden sich an Bord der ›Solara III‹, mustern dort als Erster Offizier an und bringen Ihre gesamte Crew als Besatzung ein!« Die Katze war aus dem Sack, und das Tier war wirklich kein Schmusekaterchen, das Vieh hatte ein lausiges Fell, war struppig und stank durch alle Raumsphären. Das roch offensichtlich selbst der Vizepräsident, denn als Karel empört ausrief: »Aber die ›Solara III‹ ist ein uralter Kasten!«, blieb in seinem Blick die pure Güte und das reine Verständnis für seinen Untergebenen erhalten.
»Sehen Sie, Karel, es freut mich, daß Sie sich so gut auskennen. Selbst bei Fahrzeugen, die nicht zu unserem Kommando gehören. Das bestärkt mich nur noch in der Überzeugung, den richtigen Mann gewählt zu haben! Natürlich weiß auch ich um den Zustand der ›Solara III‹. Die Leute von der Kulturbehörde sind nun einmal Schlamperer vom Fuß bis zur Seele. Aber das bleibt unter uns, Major Nygard. Nur, wenn es um Baubewilligungen für die nächsten Interstellareinheiten geht, dann bin ich im Rat auf jede Stimme angewiesen. Sie tun mir also nahezu einen persönlichen Gefallen, wenn Sie den Auftrag übernehmen. Einen Gefallen, den ich Ihnen nie vergessen werde, Karel!« »Habe ich Sie richtig verstanden, Vizepräsident? Anmustern als ›Erster Offizier‹? Unter wessen Kommando?« Immer noch das reine Verständnis in den Augen des Vizepräsidenten. Aber die pure Güte hatte sich bereits in die Winkel verflüchtigt und strahlte von dort aus nur noch mäßig. »Nygard, die ›Solara III‹ gehört den Kulturfritzen. Und noch nicht mal die sind sich dessen gänzlich sicher. So halb und halb gehört sie nämlich einem gewissen…« Der Vizepräsident klappte nochmals den Akt auf. »Einem gewissen Peer Alpha«, kam ihm Karel zuvor. »Richtig, Major Nygard, einem gewissen Peer Alpha. Und wenn ich Sie als neuen Kommandanten durchsetzen würde, dann hätten wir den Kasten möglicherweise für alle Zeiten auf dem Hals, samt Peer Alpha, verstehen Sie, Karel?« Die Haut so teuer wie möglich verkaufen, dachte Karel erbittert. Nur darum kann es jetzt noch gehen, nur noch darum! »Sie gestatten eine Sicherheitsüberprüfung der ›Solara III‹, Vizepräsident?« »Ich bestehe sogar darauf, Karel! Schließlich soll das kein Himmelfahrtskommando für Sie und Ihre Crew werden, weiß Gott nicht!«
Damit hatte der Vize eigentlich alles gesagt, Nygard konnte nun den Auftrag ablehnen und Hauptmann bleiben, auf ewig und immer Hauptmann, noch eine Weile seine Crew führen, aber durch die Ablehnung würde der berufliche Abstieg vorprogrammiert sein. Die langweiligsten Aufträge, die kürzesten Reisen, nie mehr die lukrative Beförderung von VIP-Passagieren und keine wirkliche Chance mehr. Solche Fälle kannte man zur Genüge. Oder Karel Nygard konnte jetzt zusagen, sich von Stund an Major Nygard nennen, was wahrlich nicht schlecht klang, und sich die Option offenhalten, von allen Bewerbern für die nächste intergalaktische Expedition die besten Ausgangschancen zu haben. Unter diesem Gesichtspunkt erschien ihm die Wahl plötzlich nicht mehr sonderlich schwierig. »Ich habe Sie verstanden, Vizepräsident«, sagte Karel Nygard also. »Es wird mir eine Ehre sein, mit meiner Crew diesen Sonderauftrag zur vollsten Zufriedenheit unserer Dienststelle zu erfüllen!« Der Vize seufzte hörbar erleichtert auf. »Ich wußte, Karel, daß ich mich auf Sie würde verlassen können! Glauben Sie mir, wir alle haben es nicht leicht. Das Leben ist nun mal nicht frei von Konflikten und Schwierigkeiten aller Art!« Mit diesem Satz war Karel Nygard endgültig entlassen. Ein Vizepräsident hat immerhin sehr viel mehr um die Ohren, als es sich ein simpler Major träumen lassen würde. Rein zufällig glitt Karel die Tür allerdings etwas heftig aus der Hand, und hinter ihm gefror das freundlich-verständnisvolle Lächeln seines obersten Chefs. Draußen im Vorzimmer wartete Reinke de Vos auf ihn, zweiter Mann in der Nygardschen Crew. Seine zerknitterte Uniformjacke stand wie stets offen, und der Krawattenknoten hing reichliche fünf Zentimeter zu tief unter seinem verknautschten Hemdkragen. Wer diesem Mann vorschriftsmäßiges Aussehen beizubringen versuchte, der biß auf Granit, oder auf Gummi, sich aber in jedem
Fall die Zähne aus. Karel Nygard kam deshalb so gut mit ihm aus, weil er sich an solche Kleinigkeiten inzwischen längst gewöhnt hatte. War da in den Gesichtszügen des Reinke de Vos noch die Spur der Hoffnung gewesen, daß sich der Vizepräsident geirrt haben müsse, daß in letzter Minute die Entscheidung doch noch geändert worden sei, weil nämlich zwei Dinge förmlich füreinander geschaffen waren, das Fahrzeug ›lntergalactica‹ und die Crew des Karel Nygard und daß man sie also nicht voneinander trennen dürfe, so verflog dieser Hoffnungsrest unter dem Geräusch der sich schließenden Tür. »Amtlich?« fragte er Karel. Der konnte nur nicken. Noch befand man sich im Vorzimmer des Chefs, und der Sekretärin des Vizepräsidenten war dieser Mann mit der vergammelten Uniform schon lange auf die Nerven gegangen. Wer so aussah, der roch bestimmt auch nicht gut. Sie hatte es auf einen Versuch nicht ankommen lassen und sehr viel Distanz bewahrt. Obwohl das schwierig gewesen war, denn dieser de Vos hatte es auf seinen vier Buchstaben einfach nicht ausgehalten und den ganzen Raum erfüllt mit seinem nervösen Bewegungsdrang. Aber dem Vize würde sie gelegentlich die Meinung über solche Uniformträger stecken. Klammheimlich! »Schlimmer noch«, sagte Karel, als auch diese Tür heftig zugegangen war. »Sonderauftrag allererster Güte. Damit sich unsere Nerven beruhigen können!« »Scheiße!« stellte de Vos lakonisch fest. »Wenn ich dicke Luft wittere, dann kann ich mich auf meinen Zinken wirklich hundertprozentig verlassen!« Die beiden Männer waren auf dem Weg in die Unterkünfte der Nygardcrew. Der Hangar war eine abgeschlossene Welt. Leitstand, Verwaltungssitz für die Außenbahnen, Werft für Generalreparaturen und Kleininstandsetzungen, Wohn-, Lebens-, Arbeits- und Spielraum für siebzig- bis achtzigtausend Menschen. Ein Gewirr von Gängen und Kugeln, von Wohntunneln und
Freizeitkegeln. Und dennoch eine der kleineren Inseleinheiten, denn es fehlten die ausgedehnten Grünregionen und die vollautomatischen Produktionszentren. Von hier aus wurden die Flugbewegungen der Außenregion koordiniert, hier befand sich der Leitstand für die Interstellarforschung, aber hier war mit Ausnahme einer relativ kleinen Stammbesatzung niemand zu Hause. In den Hangar lief man ein, weil das Fahrzeug gewartet werden mußte, weil man seine Dienstpflicht abzuleisten hatte, weil der persönliche Kontakt zu bestimmten Verwaltungsstellen unumgänglich geworden war. Aber man blieb nicht lange. Und dieses ständige Kommen und Gehen verlieh dem Hangar seinen typischen Charakter. Ein großes Hotel, auf dessen Außenreede manchmal mehr als tausend Fahrzeuge angedockt lagen und in dessen Innern die Uniformen der verschiedenen Besatzungen so bunt waren wie die Außenanstriche ihrer Fahrzeuge. »Rück schon raus!« drängte de Vos seinen Teamchef. »Sie melden sich an Bord der ›Solara III‹…«, parodierte Karel den Vizepräsidenten. »Nein!« rief de Vos. »Ausgerechnet dieser Kasten! Und wir haben das Kommando auf dem Hals!« Nygard schüttelte den Kopf. »Haben wir nicht?« schrie de Vos. »Etwa unter der Knute dieses…?« »Erraten! Unser neuer Boß heißt Peer Alpha. Und soll ich dir noch etwas sagen, mein Lieber? Der ganze Auftrag kotzt mich an, bevor ich diesen Kasten überhaupt betreten habe!« »Mich erst!« echote de Vos und zerrte an seinem Krawattenknoten. Aber der hing bereits um etliche Zentimeter unter dem Kragen und gab nicht mehr Luft frei. Die Nygardcrew war vollzählig versammelt. Vierzehn Leute. Techniker, wie sie im Buche standen. Leute, die sich in ihren
Verantwortungsbereichen an Bord besser auskannten als in den eigenen Hosentaschen und auf die in jeder Situation unbedingt Verlaß war. Nieten hielten sich in der Nygardcrew nicht lange, und nicht ohne Grund hatten sie sich in der Bewerbung um den Interstellarauftrag so weit nach vorn schieben können. Karel Nygard war stolz auf seine Truppe, besonders auf die fünf Frauen, die mit ihrem Fachwissen und ihrem Charme jenes uralte Vorurteil vom Tisch zu wischen verstanden, Frauen gehörten nicht in den aktiven Raumdienst, Frauen verständen nichts von der komplizierten Technik, Frauen brächten, auf sich allein gestellt, nicht mal eine Konservendose auf. Wenn es sich überhaupt noch jemand erlaubte, solche Vorurteile gegenüber der Nygardcrew anklingen zu lassen. Dann nämlich konnten diese Leute füreinander auf die Barrikaden klettern. Und es kümmerte sie einen Dreck, ob auf der anderen Seite ein hohes Tier stand. Auch hier die gleiche Situation wie im Vorzimmer des Vizepräsidenten. Hoffnung, die sich durch Tatsachen nicht unterkriegen lassen wollte. Das wollte man vom eigenen Chef hören, daß da jemand zu behaupten wage, irgendeine andere Crew sei der Nygardtruppe überlegen. Das sollte Karel gefälligst persönlich verkünden, vorher war überhaupt noch nichts amtlich! Aber als Reinke de Vos und Karel Nygard dann vor ihnen standen, bedurfte es keiner Verkündung. Der liebe Vizepräsident hatte sie in die Pfanne gehauen, und draußen im freien All hätten sie ihn jetzt ein fettes, dummes, altes, stinkendes Schwein genannt, aber im Hangar sollten die Wände manchmal Ohren haben, so erzählte man sich wenigstens hinter vorgehaltener Hand. »Haben wir nun Urlaub?« fragte Tschilin Mohrung und brach damit das Schweigen. »Schön wär’s!« antwortete Reinke und wies auf Karel. »Was soll ich euch sagen«, meinte der. »Man hat uns ausgebootet. Auftrag ohne eigenes Fahrzeug. In einer der miesesten Kisten, die man sich vorstellen kann. Inspektion der Rettungsinseln auf dem Mond und auf der Erde. Mond sehe ich ja noch ein, dorthin haben
sich wirklich schon Besatzungen retten können. Aber Erde, Leute, das heißt, durch die Barriere zu müssen. Und das Ganze unter einem zwielichtigen Kommandanten, dem es vermutlich mehr um Antiquitäten als um Rettungsinseln gehen wird!« Das war schlimmer, als sie befürchtet hatten. Und so dauerte es seine Zeit, bevor Raphaela Dimanci zu einem halbwegs tröstenden Sätzchen fand: »Wenigstens reißt man uns nicht auseinander, Herrschaften!« Am späten Nachmittag des gleichen Tages machten sich Karel Nygard und Reinke de Vos auf den Weg zur »Solara III«. Sie mußten dazu eines der kleinen Kabinentaxis benutzen, denn das Fahrzeug des Kommandanten Peer Alpha lag an der äußersten Reede festgezurrt, Alpha hatte auf eine Wohnkabine im Hangar verzichtet und lebte in seinem Fahrzeug. Das tat er übrigens stets, wenn er den Hangar anlaufen mußte, und das mußte er meistens tun, weil seine Laderäume von Plunder überquollen und noch häufiger, weil ihm komplette Besatzungen davongelaufen waren. Und das war kein Klatsch, diese Informationen hatte Tschilin Mohrung dem Hangarcomputer entlockt. Aus einiger Entfernung betrachtet, machte die »Solara III« keinen schlechten Eindruck. Die dickbauchigen Laderäume glänzten silbern, der Außenbordreaktor hing lackschwarz über dem Fahrzeug, hinter einigen der Bullaugen brannte Licht. Aber kam man näher, erkannte man die Flickstellen. Hier geschweißt, dort gelasert, übertüncht, es stimmten Farbtöne nicht überein, es zeigten sich kleine Dellen, und eine der Reaktoraufhängungen hatte gar Risse. »Feiner Zustand!« stellte de Vos lakonisch fest. »Wir bleiben bei der abgesprochenen Haltung«, entgegnete ihm Nygard. »Flug nur dann, wenn nach unserem Sicherheitsstandard verfahren wird. Die Leute von der Kulturbehörde sind mir gelegentlich etwas lax!« Sie wurden offensichtlich erwartet, denn kaum hatten sie sich über die Bordanlage angemeldet, als sie Alpha auch schon in seine
Kajüte bat. Außer ihm war noch Rajna Kasabov anwesend, und das schwere Parfüm der Frau hing in den Decken und Kissen der Kabine, deren Einrichtung gut auch einem Beduinenzelt entliehen sein konnte. »Unsere Stadtwohnung sozusagen«, begrüßte sie Peer Alpha. »Denn irgendwo muß der Mensch ein wirkliches Zuhause haben. Wir starten morgen!« »Verzeihung, Kommandant«, entgegnete ihm Karel Nygard, »das ist ausgeschlossen. Meine Leute brauchen mindestens zehn Tage, um sich mit dem Fahrzeug vertraut zu machen. Vorausgesetzt natürlich, daß alles okay ist und keine wesentlichen Reparaturen anfallen!« »Die ›Solara III‹ ist tipptopp in Ordnung!« »Ich will es hoffen«, sagte Nygard kühl. »Trotzdem müssen sich meine Leute erst einrichten. In Ihrem Fahrzeug und in den Kabinen!« »Ich höre immer ›Kabinen‹«, sagte Alpha. »Wir fliegen mit Minimalbesatzung. Der Rest der Leute geht bis ins Zielgebiet in die Anabiose. Die ›Solara III‹ ist kein Luxusliner, Herr Erster Offizier!« »Scheiße!« sagte Reinke des Vos ziemlich laut. »Von Anabiose war bisher nicht die Rede!« Deswegen war der Vizepräsident so sanft, so penetrant mitfühlend gewesen, dachte Karel. Auch Alpha hatte seine erste Katze aus dem Sack gelassen, und Nygard hätte sehr gern gewußt, wie viele derartige Tiere noch ihrer Freilassung harrten. »Das ändert die Lage gründlich«, sagte er. »Ich mag es nicht, Nygard, wenn sich Untergebene in Gespräche von Offizieren einmischen! Stellen Sie das klar! Und bringen Sie dem Manne bei, wie an Bord der ›Solara III‹ eine Uniform auszusehen hat!«
»Zehn Tage, Kommandant Alpha! Und einen vernünftigen Umgangston mit meinen Leuten. Sonst kratzen Sie sich Ihre Besatzung sonstwo zusammen!« Zur rechten Sekunde kam Rajna Kasabov aus der Nachbarkajüte und servierte Kaffee. Das Getränk war so stark, daß sein Duft selbst den Parfümgeruch der Frau überlagerte. »Ich freue mich, daß wir zusammen auf Tour gehen werden«, sagte sie. »Von der Nygardcrew hört man ja die reinen Wunderdinge. Überall im Hangar!« »Von Ihrem Fahrzeug auch«, erlaubte sich Reinke zu sagen. »Überall im Hangar!« Die drei Männer versteckten sich hinter ihren Kaffeetassen, ihre Blicke waren ausgesprochen kühl. »Gut, Nygard«, gestand Peer Alpha schließlich zu, »ich bin in gewisser Hinsicht von Ihnen abhängig. Acht Tage bis zum Start, vier Mann Ihrer Mannschaft in die Minimalbesatzung und zwanzig Prozent aller Fundstücke für Sie!« »Dreißig!« rief Reinke de Vos und blies lächelnd in seinen Kaffee. »Fünfundzwanzig vom Wert. Und den wird Rajna Kasabov schätzen!« In der Gluthitze des Mittags war die Walze wie ein flacher Hurrikan über das ausgedörrte Land gerast, keine Nahrung, kein Wasser, nur Licht, schattenloses Licht auch noch für die letzte Algenzelle trieb sie voran, und der Wind dieser flachen Landschaft tat ein übriges. Ewig hätte sich die gleichförmige Bewegung des Pflanzentieres fortsetzen können, ewig wie ein Tag, ewig wie die Sonne über den Wolken, ewig wie der Wind in der Steppe. Doch der Boden senkte sich ganz allmählich, die Bewegungen des Tierpflanzenkörpers wurden langsamer. In den Spalten und Rissen des Steppenbodens witterten tausendundeine Zelle verborgenes Wasser, dorthin drangen sie ein, dort saugten sie sich
fest, wie von tausendundeinem Faden gehalten, labte die Walze sich an den letzten Wasserreserven des Landes und rollte danach behäbiger weiter, einer Senke, einem Flußbett entgegen. Dort hatte sich auf einer Feuchtfläche, die, verglichen mit der Weite der Ebene, nur einen Handteller ausmachte, eine Pflanzengesellschaft mit Poa anua und anderen Gräsern gehalten und allen Sandstürmen zum Trotz immer wieder ihre grünen Spitzen gegen das Licht geschoben. Das Pflanzentier verharrte, krümmte sich, bog sich, formte aus sich heraus einen Ring, der die kleine Pflanzenfläche fest umschloß. Und wie auf ein Kommando stürzte sich der Ringkörper von allen Seiten gleichzeitig auf die Grasnarbe. Ein wildes Summen und Surren hub an, es blieb ein kahler Fleck, nicht mehr zu unterscheiden von der übrigen flachen, weiten Landschaft. Es gab kein Poa anua mehr. Und vorwärts trieb die Walze, vorwärts, zweiundfünfzig Grad nördlicher Breite, achtundzwanzig Grad östlicher Länge, vorwärts! Da war in ihm nichts von den Ängsten, die die anderen verspürt und durchlebt und durchlitten haben mochten. Es plagte ihn kein flaues Gefühl in der Magenregion, ihm machten keine schweißnassen Handflächen zu schaffen, er spürte keine Beschleunigung seines Herzschlages, nichts. Beim Tor der Prüfungskaverne handelte es sich um ein völlig normales Tor, das er zu durchschreiten hatte, wenn die Stimme Lima Verdes dazu aufrief: »Der Prüfling Manuel Maarli!« Manuel stand also auf und ging in die Kaverne. Er nahm noch wahr, daß ihn Jacob Schwerte mit einer Geste aufzumuntern suchte, dann wurde das Tor hinter ihm geschlossen, und er stand allein vor der Prüfungskommission. »Dem Rat allzeit gute Luft!« sagte er und verbeugte sich vor dem Podest, auf dem die Kommission Platz genommen hatte. »Dem Prüfling Maarli allzeit gut Luft!« sagte Verde und blätterte in einem Stapel von Papieren. »Der Rat sieht mit Genugtuung«,
stellte der Vorsitzende fest, »daß der Prüfling Manuel Maarli seine Ausbildungszeit gut genutzt hat!« Neben Verde saß Jeanne Perra und lächelte bestätigend. Manuel fand ausreichend Zeit, die Blicke über die Prüfungskommission schweifen zu lassen, und erschrak ein bißchen. Nur selten bekam ein Terrat den Vorsitzenden aus solcher Nähe zu sehen. Zwar war das Konterfei Verdes allgegenwärtig, aber das Bild mußte vor vielen, vielen Jahren aufgenommen worden sein. Aus der Nähe betrachtet, war Lima Verde jedenfalls ein alter Mann. Und Jeanne Perra eine alte Frau. Und Kleber Haifeld und Henry W. Appel ebenfalls steinalte Leute in den Augen des jungen Terraten. Niemals, kam ihm plötzlich die Erkenntnis, niemals würde unter der Führung dieses Rates ein Weg zurück an die Oberfläche führen, denn keiner von ihnen würde die Kraft aufbringen können, sich dem Kampf mit den feindlichen Elementen zu stellen. Sie waren Teil dieses Berges, und sie würden auf immer Teil dieses Berges bleiben. Ihr Weg führte nicht mehr an die Oberfläche, sondern über kurz oder lang in die Totenkaverne. Er war ihnen haushoch überlegen, mit welchem Prüfungsergebnis auch immer er an diesem Tag abschließen würde. »Welche Ziele hast du dir gestellt, Prüfling Maarli?« fragte ihn der Ratsvorsitzende. »Ich möchte meine ganze Kraft und mein bescheidenes Wissen in der A-Ebene einsetzen, zum Wohle des Volkes der Terraten, für die baldige Rückkehr zur Oberfläche!« »Sehr gut!«, der Ratsvorsitzende nickte ihm zu. »Beginnen wir also mit dem praktischen Teil der Prüfung!« Die Aufgabe, die Manuel gestellt bekam, war geradezu lächerlich einfach. Er sollte das tun, was er bereits tausendmal getan hatte, er sollte eine Wabe glasieren. Und so zündete er den Plasmabrenner und lenkte den Breitstrahl über den Fels. Spielerisch fast erspürte er den Aderverlauf des Gesteins, erahnte er, wie die Glasurmasse verlaufen würde, wo sich später Glasurrisse ausbreiten könnten, an
welchen Stellen Verwerfungen zu befürchten waren und wo gar Abtropfungen. Kleber Halfeld, zu dessen täglicher Arbeit der Umgang mit dem Plasmagerät gehörte, verfolgte jede seiner Bewegungen. Und als er zufrieden nickte, wußte Manuel Maarli, daß der erste Prüfungsteil abgelaufen war, daß ihm von dieser Prüfungskommission keine Gefahr drohte, daß er sein Ziel erreichen würde. Ein Ziel, das ihn über jedes dieser Kommissionsmitglieder deutlich erhob. Er wollte in die A-Ebene. Aber dorthin wollte er nur, weil sich so der Weg der 211er zur Oberfläche viel leichter würde organisieren lassen. Die bessere Luft, die größere Bewegungsfreiheit, das umfassendere Nahrungsangebot der A-Ebene, das alles interessierte ihn nicht. Oder doch kaum. »Der Prüfling Maarli sollte uns das System der Energieversorgung erklären«, forderte das Ratsmitglied Henry W. Appel. »Denn nur der Terrat wird sorgsam mit allen Energiearten umgehen, der um die Mühsal ihrer Erzeugung weiß!« Appel sah bei diesem Satz jedoch nicht Manuel an, sondern seine Kollegen vom Rat, etwa so, als wolle er sagen, daß dieser ruhig nach Laune und Gusto jede Art von Beschlüssen fassen könne. Deren Verwirklichung hinge allerdings von ihm ab, dem Verantwortlichen für die Bereitstellung von Energie, so, wie die Schaffung neuen Wabenbestandes von Kleber Halfeld und seiner Arbeit abhing. Manchmal vergaß Lima Verde solche lästigen Kleinigkeiten. Für einige Sekunden stellte sich der Rat der Weisen dem Prüfling als ein Tummelplatz von Eitelkeiten dar. Es hatte jeder seine kleine oder größere Pfründe, und wenn ein Prüfling frank und frei erklärte, sein Ziel sei die A-Ebene, wenn er noch dazu Manuel Maarli hieß, dann sollte er gefälligst beweisen, daß er um die Pfründe der anderen wußte und sie respektieren würde, gegebenenfalls. »Also bitte, Prüfling Maarli, das System der Energieversorgung!«
»Die Energieversorgung der Terraten ruht auf zwei großen Säulen«, begann Manuel. »Hochenergetisch wird der Schacht von zwei Reaktoren versorgt, wovon einer als Reserve gedacht ist und innerhalb von vier Stunden angefahren und ans Netz geschaltet werden kann. Die Brennstoffvorräte für beide Reaktoren werden bergmännisch abgebaut und in einer dem Reaktorbereich angegliederten Anlage angereichert und zu Brennstäben verarbeitet. Die gesamte hochenergetische Versorgung obliegt der Verantwortung der E-Ebene.« Henry W. Appel nickte zufrieden. Es war gut, wenn alle Ratsmitglieder solche Sätze hörten, möglichst täglich. »Die hochenergetische Versorgung der Terraten obliegt der Verantwortung der E-Ebene!« Gut hatte er das gesagt, der junge Maarli, sehr gut. Er, Henry W. Appel, hätte den Tatbestand nicht treffender formulieren können. Die E-Ebene als wichtigste Ebene des Terratenstaates, denn was wäre die Gemeinschaft ohne ihre hochenergetischen Anlagen! Ein Nichts, ein Haufen hilflos wimmelnder und nach Wärme gierender Würmer! »Gepuffert«, fuhr Manuel Maarli fort, »gepuffert wird Energie über den mittelenergetischen Sektor, der zum Verantwortungsbereich der D-Ebene gehört. Dabei werden freie Energiespitzen in Licht umgewandelt, das zur Assimilation und damit zur Gewinnung von Zucker und Stärke eingesetzt wird. Der biologische Energiepuffer dient außerdem zur Gewinnung von Nährstoffreserven.« »Wenn uns der Prüfling noch einige wenige Angaben über die niederenergetische Versorgung machen könnte, würden wir diesen Fragenkomplex gern zur vollsten Zufriedenheit der Kommission abschließen«, unterbrach Lima Verde den Redefluß Manuels. Was um alles in der Welt bildete sich dieser Appel ein! Energieversorgung! Als ob die jemals ein Problem für die Terraten gewesen wäre. Nein, da gab es unter den jungen Leuten weit gefährlichere Tendenzen als die Geringschätzung der Energieversorgung. Der ungebändigte und unbefriedigte Hang
zum Abenteuer, und Abenteuer hieß für die jungen Leute noch allemal die Oberfläche! Einmal etwas anderes sehen als Waben und Stollen und Schächte und Kavernen, einmal im Leben etwas anderes vor Augen haben als Gestein! Das war die grundlegende Gefahr, dem galt es entgegenzuwirken, diesem Problem hatte der Rat seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, nicht der Einstellung der Jungterraten zur Mühsal der Energieversorgung, zum Teufel! »Ich ziehe die Frage natürlich zurück«, sagte Appel, »wenn Sie es wünschen, Vorsitzender!« »Das sollen Sie keineswegs, Herr Kollege! Andererseits wollen wir unseren jungen Freund Maarli nicht mit Fragen belasten, mit denen er nach Lage der Dinge wenig zu tun haben wird. Die Prüfungszeit ist nicht unbegrenzt, und vor der Kaverne warten noch andere Kandidaten!« »Faß dich bitte kurz, Manuel«, sagte Jeanne Perra lächelnd. »Zwei, drei Sätze würden dem Rat völlig genügen.« Seit jenem ersten, außerordentlich frostig verlaufenen Gespräch in der Kajüte Peer Alphas waren drei Wochen vergangen, und die »Solara III« lag noch immer an ihrer Position auf der äußersten Reede des Hangars. Äußerlich hatte sich am Fahrzeug nicht viel geändert. Die kleinen Dellen waren geblieben, die Schweißnähte und die Laserlappungen waren unverändert zu sehen, lediglich der gerissene Träger des Außenbordreaktors war erneuert worden. Im Innern aber waren Karel Nygards Leute tätig gewesen und hatten kaum ein Blech auf dem anderen gelassen. Keine Instandsetzungswerft des Hangars hätte so rasch und gründlich gearbeitet wie die Nygardcrew. Denn Tschilin Mohrung hatte kategorisch erklärt: »Anabiose in diesem morschen Kasten, das kommt überhaupt nicht in Frage! Wir sind schließlich keine Selbstmörder! Das müßte auch der Vize wissen!« Karel Nygard hatte begriffen, daß ihm die Mohrung die Meinung der gesamten Crew kundtat, daß gegen diese Meinung nicht
anzukommen war, daß die Crew mit ihrem Vorbehalt recht hatte und daß die Sicherheit seiner Leute vor allen anderen Dingen rangieren mußte, auch vor einer Beförderung zum Major. Ob das nun ein Vizepräsident einsah oder nicht! Reinke de Vos lenkte ein: »Einfach ablehnen ist auch nicht drin! Zuallererst müssen wir uns das Fahrzeug gründlich ansehen. Und was nach unserer Meinung nicht hundertprozentig okay ist, fliegt eben raus! Verbindlich muß einzig und allein der Sicherheitsstandard unserer Dienststelle sein. In diesem Punkt nicht der kleinste Kompromiß. Aber wenn wir die ›Solara III‹ so hinbekommen…« »Ich glaube nicht, daß unser neuer Kommandant Wert auf größere Investitionen legen wird«, sagte Karel. Ausgeträumt der Traum von einem Kommando in den Interstellarraum noch zu Lebzeiten des gegenwärtigen Vizepräsidenten, endgültig ausgeträumt! »Wenn Alpha oder seine Dienststelle nicht bezahlen können oder bezahlen wollen, dann wird seine Kiste im Hangar liegenbleiben, bis sie schwarz geworden ist. Unsere Sicherheit ist kein Verhandlungsobjekt!« »Vielleicht bezahlt auch der, der uns unbedingt losschicken will«, sagte Reinke und deutete in Richtung auf die Büros des Vizepräsidenten. »Dann kann er der Welt wenigstens eindeutig vorführen, was seiner Dienststelle die Sicherheit von Besatzungen wirklich wert ist. Das bringt ihm in der Öffentlichkeit Punkte ein, Leute!« »Hören Sie, Erster Offizier, das gefällt mir nicht, wie Ihre Mannschaft mein Fahrzeug beschnüffelt«, hatte Peer Alpha zu Nygard gesagt. »Die ganze Prozedur dauert jetzt schon über vier Stunden. Und Ihre Leute kriechen in Ecken herum, in die seit etlichen Jahren niemand mehr gekommen ist und auch so bald niemand kommen wird!« »Das sieht man diesen Ecken auch an!« Sein Gegenüber konnte ihm nichts mehr vormachen. Über ihn wußten sie genauer
Bescheid als vermutlich er selbst. Tschilin Mohrung hatte Geschick darin, den Datenbanken sicher gewähnte Geheimnisse zu entlocken. Und das konnte manchmal von entscheidender Bedeutung sein. Alpha jedenfalls war ein simpler Plünderer gewesen, einer der zahllosen Abenteurer, die immer wieder versuchten, durch die Barriere zu stoßen, um zu den Schätzen der alten Erde vorzudringen. Meistens gingen solche Unternehmungen schief, häufig genug gingen sie auch tragisch aus, weil an der Ausrüstung gespart worden war und kaum eine der Abenteuerbesatzungen eine gründliche Ausbildung hinter sich hatte. Aber Peer Alpha war einige Male erfolgreich gewesen und hatte sich mit seiner Beute auf dem schwarzen Markt gesundgestoßen. Die Kulturbehörde hatte ihn zwar mehrfach gestellt, die Konterbande beschlagnahmt und seine Fahrzeuge »Solara I« und »Solara II« an die Leine gelegt, aber irgendwie war Alpha immer wieder durch die Maschen der Gesetze geschlüpft und hatte seine Lizenz behalten. Schließlich war es die Kulturbehörde leid geworden, sich immer wieder mit dem Mann anzulegen, und man hatte ihn angestellt. Als Beschaffungsmitarbeiter für die historischen Museen mit Sondervertrag, und damit die Sache nicht so gänzlich nach einer behördlichen Niederlage roch, hatte man ihm Rajna Kasabov beigegeben, eine wirkliche Fachfrau für humanide Frühgeschichte, als staatliche Aufpasserin sozusagen. Das ungleiche Paar war zusammengekommen, aber eins und eins hatte eins ergeben, nur, daß Peer Alpha im Grunde der alte Plünderer geblieben war und seine privaten Geschäftchen allemal Vorrang vor den Interessen von Kulturbehörde und Museen hatten. Die Kasabov teilte inzwischen nicht nur die Kissen mit ihm, sondern auch ein in erwähnenswerter Weise aufgeblähtes Konto. Das alles hatte die Datenbank des Hangars ausgespuckt, und die Nygardleute hatten aus den Informationen geschlußfolgert, daß ein Mann wie Peer Alpha gefälligst sein Maul nicht zu weit aufreißen
sollte, weil es durchaus sein könnte, daß ihm dabei die faulen Zähne aus den Kiefern fallen könnten! »Wollen Sie etwa behaupten, daß die ›Solara III‹ technische Mängel aufweist?« »Ich erstelle Ihnen eine Liste der Arbeiten, die unbedingt notwendig sind, um das Fahrzeug auf einen normalen Sicherheitsstandard zu bringen!« Die Liste der Beanstandungen an Zustand und Ausrüstung der »Solara III« war ziemlich umfangreich, und Peer Alpha zerriß sein Exemplar wütend in kleine Fetzen. Und nicht nur das, er ließ zusätzlich seine Beziehungen spielen. Karel Nygard wurde zum Vizepräsidenten zitiert. »Sie hätten sich früher bei mir melden sollen, mein lieber Karel«, sagte der Vize traurig. »Um so mehr, als ich mir derzeit wirklich keinen Konflikt mit der Kulturbehörde, mit irgendeiner Behörde leisten will!« »Das Fahrzeug ›Solara III‹ ist in einem verheerenden Zustand, Vizepräsident!« »Das konnte natürlich niemand ahnen, Major Nygard. Wie lange werden Sie und Ihre Leute brauchen, um den Kahn raumtauglich zu machen?« »Das Problem ist nicht allein die Zeit, Vizepräsident! Die ›Solara III‹ gehört einer Genossenschaft, und Kommandant Alpha ist folglich Mitbesitzer. Weder er noch seine Behörde verfügen über ausreichende Mittel, das Fahrzeug in einen einwandfreien Zustand zu versetzen!« Der Vize seufzte hörbar. Er seufzte um so lauter, je höher die Kosten ausfielen, die seine Dienststelle zu berappen hatte. In diesem Punkt glich er sehr genau dem Chef der Kulturbehörde. Oder jedem anderen Dienststellenleiter. »Es sollen alle sehen«, sagte er schließlich, »daß unserer Dienststelle das Wohl ihrer Besatzungen ganz besonders am
Herzen liegt. Damit die Leute von der Kultur ein handfestes Beispiel vor Augen haben, was wir unter Raumsicherheit verstehen. Unter meiner Regie gab es schließlich seit mehr als dreißig galaktischen Einheiten keinen nennenswerten Raumunfall mehr!« Der Vizepräsident sprach, als hätte er ein Publikum von tausend Leuten vor sich. Karel Nygard war sich sicher, daß diese Sätze in spätere Gespräche einfließen würden. »Übrigens, ganz privat, Karel, falls Sie dort unten auf der Erde antiquarisch fündig werden sollten, Zeit haben Sie schließlich reichlich, denken Sie bitte auch an mich. Mein Enkel ist Fan dieser prähistorischen Technik und nervt seinen alten Opa nach allen Regeln der Kunst. Irgendeine Kleinigkeit. Einen alten Televisor oder ein Telefon oder wenigstens einen Klingelknopf, irgend so etwas. Sie würden mir einen wirklich großen Gefallen tun! Und an der ›Solara III‹ zügig gearbeitet, ohne Abstriche im Sicherheitsbereich. Eine Aufstellung der durchgeführten Arbeiten geht an mich!« Höchstwahrscheinlich war es Rajna Kasabov, die zu Peer Alpha gesagt haben mußte: Mit Leuten, die einem quasi ein neues Fahrzeug schenken, geht man gewöhnlich freundlicher um! Die paar Wochen Zeitverzug werden wir ja wohl verschmerzen können! Seitdem hatte Kommandant Alpha für die Leute der Nygardcrew verschwenderisch viel Lächeln übrig. Und sah großzügig über den Uniformzustand Reinkes hinweg. Aber damit konnte er die Wachsamkeit eines Karel Nygard nicht einlullen. Als die Arbeiten beendet waren, verfügte die »Solara III« über eine völlig neue Hydraulik, waren wichtige Teile des elektrischen Systems erneuert, hatten die Anabiosezellen das vorgeschriebene dritte Notaggregat und waren im funktechnischen Bereich ein neuer Havarieradar und zwei hochwertige Infrarotsensoren installiert worden. Der Wert des Fahrzeuges hatte sich dadurch
beinahe verdoppelt. Grund für Peer Alpha, sich insgeheim die Hände zu reiben. Manuel Maarli spürte, daß das Vorgeplänkel dieser Prüfung vorüber war. Und jetzt, als es ernst wurde, war auch das flaue Gefühl in der Magengegend zu spüren, von dem Jacob Schwerte gesprochen hatte. Von nun an stellten ihm Jeanne Perra und Lima Verde die Fragen, und alle ihre Fragen hatten direkt oder indirekt mit der Oberfläche zu tun. Von nun an ging es um seine Berufung in die A-Ebene, von nun an galt es klug zu sein wie jene Ratten, die trotz aller Nachstellungen in den Schächten der Terraten hausten, als wären dies ihre angestammten Reviere und die seltsamen zweibeinigen Geschöpfe, die sich Terraten nannten, lediglich geduldete Gäste. Von nun an galt es, der Prüfungskommission jene Antworten zu servieren, die sie hören wollte, und mit keiner Silbe preiszugeben, daß man über einige Fakten durchaus anderer Meinung war. Denn die Wahrheit lag für Manuel Maarli und die 211er klar auf der Hand: Eine Art, die einmal ausgestorben ist, ist tot, ist für immer und ewig von der Oberfläche des Planeten verschwunden. Und das Arche-Noah-Prinzip verliert seinen Sinn, wenn es zum Selbstzweck verkommt. Es wird als Klammer zwischen den Generationen und Ebenen der terratischen Gesellschaft unbrauchbar, wenn seine Umsetzung in unerlebbare Ferne rückt. Aber solche Wahrheiten konnte man dem Rat natürlich nicht während einer Prüfung offerieren. Der Rat wollte keine eigene Meinung hören, er wollte auf die Frage der Perra nach der Vorgeschichte der Terraten genau jene Antworten wiedergekäut bekommen, die in den Geschichtsannalen festgeschrieben waren. Und so harmlos sich auch die Frage anhörte, die das Ratsmitglied Jeanne Perra gestellt hatte, wenn man sie beantwortete, kam man um das Wort »Oberfläche« nicht herum. Und dieses Wort würde weitere Fragen nach sich ziehen. Erkundungen über Meinungen,
Haltungen, Pläne. Über die 211er. Ihre Wünsche, ihre Hoffnungen, ihre Absichten. Vor allem ihre Absichten. »Die Terraten«, begann Manuel Maarli deshalb vorsichtig zu antworten, »lebten einst als Teil einer zahlenmäßig viel größeren Menschheit auf der Oberfläche des Planeten. Meist in Massensiedlungen, Städte genannt. Damals war die Oberfläche noch von Tieren und Pflanzen besiedelt, und der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre lag bei rund zwanzig Prozent. Diese Luft konnte man noch ohne Sammler atmen, obgleich ihr Gehalt an Schadstoffen gelegentlich sehr hoch war.« Er hält sich an die Texte, dachte Jeanne Perra und nickte dem Prüfling aufmunternd zu. Er hält sich an die Texte, dachte der Vorsitzende Lima Verde und nickte dem Prüfling ebenfalls aufmunternd zu. »Die weltweite Zerstörung des Ökosystems hatte allerdings bereits begonnen. Die Menschheit hatte unbewußt oder aus Profitgier einen Prozeß in Gang gesetzt, der ihr das Gesetz des Handelns aus der Hand nahm und der unumkehrbar werden würde, sobald ein bestimmter Punkt einmal erreicht war.« Henry W. Appel blickte gelangweilt zur Decke. Seit Jahren hörte er die gleichen Texte, die stanken ihm. Aus welchem Grund wer damals in den Schacht gegangen war, es spielte keine Rolle, Energie mußte her, jede Menge Energie. Und für diese Arbeit schien ihm das Bürschchen ungeeignet. Sollten sie ihn also für die A-Ebene haben, von ihm aus! »Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen warnten eindringlicher und lautstärker vor der drohenden ökologischen Katastrophe. Politiker forderten die verschiedenen Staaten und Staatengruppen zum gemeinsamen Handeln auf. Ständig größere Teile der Nationaleinkommen mußten aufgewendet werden, um lokalen Katastrophen zu begegnen, deren Ursachen im ökologischen Bereich lagen. Der Lebensstandard sank weltweit rapide. Doch die Interessenlage der diversen Staaten und Regionen war zu unterschiedlich, und noch immer wurden kurzfristige
ökonomische Erfolge höher bewertet als die langfristige Verantwortung für die nachfolgenden Menschengenerationen!« Der Prüfling Manuel Maarli hatte genau den richtigen Ton getroffen. Auf den Gesichtern von Lima Verde und Jeanne Perra spiegelte sich die Zufriedenheit. Und Manuel Maarli ging noch einen Schritt weiter, einen Schritt, den die Perra erhofft hatte. Manuel Maarli meldete seinen Anspruch auf einen der vakanten Ratssitze an, indem er sagte: »Ich bin persönlich sehr stolz darauf, daß einer meiner direkten Vorfahren zu den ersten gehörte, die ihre Stimme warnend erhoben und später aktiv an der Gründung der Terratengesellschaft mitwirkten.« Der Satz war eher leise gesprochen, fast schon nur noch geflüstert, dennoch horchten Verde und die Perra auf. Lima Verde ahnte, daß da vor ihm ein Vertreter einer Generation stand, die sich über kurz oder lang die Macht im Rat nehmen würde, notfalls mit Gewalt, wenn es nicht rechtzeitig genug gelang, ihre besten Leute in das Machtgefüge zu integrieren. Der Rat war alt, zu alt, dachte Lima bei sich, und die Perra tut gut daran, die Richtigen zu fördern. »Der ›Point of no return‹ wurde zwangsläufig erreicht«, fuhr Maarli fort. »Die Schere zwischen Sauerstoffverbrauch und Sauerstoffproduktion wurde größer. Immer weniger Pflanzen setzten Sauerstoff frei, immer mehr technische Prozesse verbrauchten ihn in ständig steigender Menge. Da es sich überwiegend um Verbrennungsprozesse handelte, stieg der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre unaufhaltsam an. Es kam zum Treibhauseffekt. Die Durchschnittstemperatur in der Welt stieg in wenigen Jahren um zehn Grad. Vom Äquator aus breiteten sich die Wüsten nach Süden und Norden aus, gleichzeitig schmolzen die Polkappen ab, der Meeresspiegel begann zu steigen. Die flachen Küstenländer versanken im Meer, der mühsam und von vielen Menschengenerationen erarbeitete gesellschaftliche Wohlstand war in ganz kurzer Zeit dahin, Armut, Hunger und Gewalt waren typisch für diese Zeit.«
Nicht nur Hunger und Gewalt, dachte Jeanne Perra. Typisch waren vor allen Dingen der Untergang ganzer Kulturen, das Verschwinden vieler Kunstgattungen, die Stagnation der Geisteswissenschaften, die vor der Entwicklung die Augen verschlossen hatten und nun keine Antworten geben konnten. »Innerhalb von nur zwanzig Jahren«, sagte der Prüfling, »war die letzte freilebende Pflanze verschwunden, das letzte Tier in der freien Wildbahn ausgestorben, der Sauerstoffgehalt der Luft auf etwa zehn Prozent abgesunken, die Art Homo sapiens auf den Trümmern des Planeten mit sich allein. Man überlebte zunächst, weil technische Sauerstoffsammler entwickelt wurden, die die Luft atembar machten, weil man sich mit einer künstlichen Ökosphäre umgeben konnte; aber die Lebensbasis war so schmal geworden, daß das Aussterben auch der Art Homo sapiens vorprogrammiert schien. Erst zu diesem Zeitpunkt kam eine weltweite Koalition der Vernunft zustande, vereinigte die damalige Menschheit ihre verbliebenen Potenzen und suchte nach einem Ausweg aus ihrer schier hoffnungslosen Situation.« A-Ebene, dachte Verde. Ganz klar A-Ebene. Ist klug und hält sich an die Spielregeln, denn er hatte ganze Passagen jenes Textes wiedererkannt, der zur Pflichtlektüre jedes Jungterraten gehörte und der aus seiner Feder stammte. »Um die weitere Existenz der Art zu sichern«, fuhr der Kandidat für die A-Ebene fort, »wurden die letzten Rohstoffreserven des Planeten in einem beispiellosen gemeinsamen Kraftakt ausgebeutet. Fieberhaft wurde am Plan der großen Evakuierung gearbeitet. Die Menschheit sollte in das freie Weltall ausschwärmen, gewaltige Raumstationen bewohnen und andere Planeten erobern. Diesem Plan setzte eine Gruppe ihre Absicht entgegen, auf der Erde zu verbleiben. Erstmals wurde der Begriff ›Arche-Noah-Prinzip‹ geprägt. Sein Schöpfer war mein Vorfahre Professor Rene Maarli!« Der Stolz des jungen Terraten auf diesen Mann und auf seinen Namen war nicht zu überhören.
»Der Weitsicht von Männern wie Professor Maarli ist es zu verdanken, daß bereits lange vor der Evakuierungsphase eine nahezu vollständige Genbank aller auf der Erde existierender Arten vorhanden war.« Du wirst auch noch begreifen, dachte die Perra, daß jedes Ding zwei Seiten hat. Die Genbank hat uns Terraten von Anfang an festgelegt. Hat uns zu Hütern von etwas gemacht, zu dem die Beziehung längst verloren ist. Hat eine eigenständige Entwicklung von vornherein unmöglich gemacht. Das wirst du vielleicht erst sehr viel später begreifen, Maarli! »Nach anfänglicher Begeisterung vieler Menschen für das kühne Evakuierungsvorhaben machte sich allmählich Lethargie und später aktiver Widerstand in der Bevölkerung breit. Damit begann auch für die Terraten eine schwere Zeit der Verfolgung. Ihre öffentlichen Versammlungen wurden verboten, ihr Vermögen wurde eingezogen, sie selbst wurden als unzuverlässige Elemente eingestuft und aus ihren Ämtern entfernt. Viele von ihnen wurden zwangsweise evakuiert. Als Gegenmaßnahme begannen die Terraten mit der Besiedlung dieses Schachtes.« Bislang hatte Manuel Maarli frei gesprochen, die Vorgeschichte seines Volkes knapp und in eigenen Formulierungen wiedergegeben. Von nun an schien es ihm geraten, aus der »Allgemeinen Geschichte der Terraten« zu zitieren. Zu widersprüchlich waren die Legenden um diese ersten schweren Jahre, zu leicht konnte ihm die Prüfungskommission Fallen stellen. Wörtlich, wie von Lima Verde in dessen Grundlagenwerk formuliert: »Aus dem Süden, vom Äquator her, führte der Geophysiker Sulkur Verde dreiundneunzig Leute in den Schacht. Darunter waren einundzwanzig Leute genetisch nullwertig. Dem Stamm Verde gehörten siebzehn Frauen an. Auf dem Marsch verlor Sulkur Verde sieben seiner Leute. Eine Frau durch Smogeinwirkung, fünf durch den Einsturz der Betondecke eines Tagesversteckes, einen Mann durch Lähmungsbeschuß eines
Evakuierungsjägers. Die Gruppe Verde überwand die gesamte Distanz zu Fuß. Sie marschierten nachts und rasteten am Tage in den Kellern der inzwischen menschenleeren Großwohnbereiche. Dem Volk der Terraten wachs der Stamm Verde zu. Mit nur vier Leuten verbrachte Professor Rene Maarli die Genbank in den Schacht. Dem Volk der Terraten wuchs der Stamm Maarli zu. Von der iberischen Halbinsel her führte die Chemikerin Irina Halfeld zweihundertneun Leute in den Schacht. Darunter waren drei Leute genetisch nullwertig. Achtzig Frauen gehörten dem Stamm Halfeld an. Während des Marsches zum Schacht verlor Irina Halfeld vierundachtzig Leute durch Lähmungsbeschuß der Evakuierungsjäger. Dem Volk der Terraten wuchs der Stamm Halfeld zu. Über das Meer führte der Mikrobiologe Denis Appel einhundertsiebzehn Leute in den Schacht. Darunter waren zweiundzwanzig Leute genetisch nullwertig. Neunundachtzig Frauen gehörten dem Stamm Appel an. Während der Überfahrt verlor Denis Appel vierundachtzig Leute durch Schiffsbeschuß. Dem Volk der Terraten wuchs der Stamm Appel zu. Von der japanischen Halbinsel und direkt über den Pol führte die Genetikerin Emelie Bocarco dreitausend Leute in den Schacht. Darunter waren vierundachtzig Leute genetisch nullwertig. Achthundertvier Frauen gehörten dem Stamm Bocarco an. Auf dem Weg über Gebirge und Gletscher, über Eis und durch Stürme verlor Emelie Bocarco neunhundertelf Leute. Zweihundertvier durch Absturz, achtunddreißig durch Smogeinwirkung, zwölf durch Erfrieren, sechshundertsiebenundfünfzig durch Lähmungsbeschuß der Evakuierungsjäger. Dem Volk der Terraten war der große Stamm Bocarco hinzugewachsen. Zuletzt führte der Kybernetiker Ralf Perra aus dem Osten siebzehn Leute in den Schacht. Die Angehörigen des Stammes Perra waren ausnahmslos Männer. Ralf Perra und seine Mannschaft brachten den Reaktor ein und hatten während des
Marsches keine Verluste, da sich die kleine Gruppe als Evakuierungspatrouille getarnt hatte und bewaffnet war. Dem Volk der Terraten war der Stamm Perra zugewachsen. So also bildete sich das Volk der Terraten aus den Stämmen Verde, Maarli, Halfeld, Appel, Bocarco und Perra. Der Rat der Weisen konstituierte sich und organisierte das Leben des Volkes. Die Führung des Gemeinwesens lag in den Händen von Professor Rene Maarli.« Und aus Stämmen, deren Namen keiner mehr kennt. Die die Gründer aus Nützlichkeitserwägungen zurückweisen mußten. Gefragt waren Leute, die notfalls mit den bloßen Händen Berge versetzen konnten, Biologen, Geologen, Chemiker, Kernphysiker. Künstler wären Sand im Getriebe gewesen, dachte die Perra und war mit ihrem Schützling zufrieden. Der Prüfling des Ausbildungsganges 211 Manuel Maarli hatte seinen Vortrag beendet. Der Vorsitzende der Prüfungskommission war sichtlich zufrieden. Halfeld und Appel gähnten gelangweilt, aber Jeanne Perra lächelte. Und angesichts dieses Lächelns klingelten bei Manuel die Alarmglocken. »Es ist sehr lobenswert«, sagt die Perra nach kurzer Pause, »daß sich unsere Prüflinge so gewissenhaft und gründlich mit der Geschichte unseres Volkes auseinandersetzen. Es ist deshalb wichtig und lobenswert, damit ihnen immer klar sein wird, wozu wir das alles tun, worin der Sinn unserer unterirdischen Existenz liegt. Weshalb wir die Genbank hüten wie unsere Augäpfel, weshalb wir den Schacht ständig weiter ausbauen, worauf wir uns mit unserer tagtäglichen Arbeit vorbereiten. Auf die Rückgewinnung der Oberfläche nämlich. Hältst du die Zeit dafür schon gekommen, Maarli?« Da war sie, die befürchtete Frage. Er konnte jetzt »nein« sagen, und dann würde Jeanne Perra vielleicht triumphierend den Plan der 211er schwenken, und alle seine Träume von Leben und Arbeit in der A-Ebene wären dahin. Er konnte die Frage bejahen und sich daraufhin in Widersprüche verstricken, und hinterher
würde es sich vielleicht erweisen, daß der Rat von den Plänen der 211er keine Ahnung gehabt hatte, daß die Perra in der Hoffnung, das Wild zu vergraulen, auf den Busch geklopft hatte. »Jeder Terrat«, antwortete er also zögernd, »wünscht nichts sehnlicher als die Rückkehr auf die Oberfläche. Und der Rat der Weisen hat die Pflicht, zu jedem Zeitpunkt zu prüfen, ob die Voraussetzungen dafür bereits gegeben sind oder noch nicht. In unserer Hand liegt die Zukunft der gesamten Evolution auf diesem Planeten. Deshalb ist die Verantwortung so groß, deshalb darf es keinen Fehlschlag geben. Und wir jungen Terraten werden alles tun, damit der Tag der Rückkehr möglichst bald kommen möge. Wir sind geduldig«, fügte er hinzu und atmete auf. Jeanne Perra war mit seiner Antwort zufrieden. Sie wußte also nichts von den Plänen seines Ausbildungsganges. Woher sollte sie auch! Lima Verde blickte von einem Kommissionsmitglied zum anderen. »Noch Fragen, Kollegen?« Der Ton, in dem dieser Satz gesagt wurde, verwies darauf, daß dem Vorsitzenden weitere Fragen an den Prüfling überflüssig erschienen. Es wurden auch keine gestellt. Nicht einmal von der Perra. »Du wartest in der Nebenkaverne«, bestimmte der Vorsitzende. »Es wird nicht lange dauern!« Die Beratung der Prüfungskommission dauerte wirklich nicht lange. Manuel Maarli wurde Terrat der A-Ebene. Wenn die Mitglieder der Nygardcrew seiner hätten habhaft werden können, sie hätten den Vizepräsidenten höchstpersönlich in die Anabiosekammer getrieben. Hätten ihn johlend ausgezogen, ihm mit Freuden die wenigen Haare geschoren, am ganzen Körper, wie es die Vorschrift verlangt, ein bißchen schwabbelig, mein lieber Vize, hätten die Frauen zu ihm gesagt, hättest halt Jogging machen
sollen, andererseits friert Schwabbelfett außerordentlich gut ein, du wirst also in der Kälte keinen Schaden nehmen, Exzellenz! Und dann hätten sie ihm das Anabiosikum zu saufen gegeben bis zum Stehkragen, er wäre lustig geworden, er hätte getanzt und gesungen, ein nackter Wabbelvize wäre, geschüttelt in Lachkrämpfen, von einem Bein auf das andere gehüpft, und anschließend hätten sie ihren obersten Chef erbarmungslos in die Saukälte gejagt, kälter fast als der freie Raum, nur null Komma zwei Grad Kelvin… Dann wäre ihm das Lachen vergangen und vor allen Dingen das Hüpfen, und sie hätten ihr Gaudi gehabt. 0 ja, das hätten sie gern getan, drei Tage vor dem Start der »Solara III«, aus der sie, allen Widerständen zum Trotz, ein ganz passables Fahrzeug gemacht hatten. Aber an seine Exzellenz den Vizepräsidenten war natürlich nicht heranzukommen, der Vize flegelte sich gemeinsam mit anderen Behördenleitern in breiten Verhandlungssesseln herum, und an seiner Stelle würde nun ihnen selbst für einige Monate das Lachen und Hüpfen vergehen. Das war das schlimmste in der Anabiose, daß man nicht völlig wegtrat, sondern offenen Auges und wachen Sinnes in den Kältetunnel stürzte und daß dort die Zeit zu einem Gummiband geriet, das sich unermüdlich ausdehnte. Wenn in den Kammern das Licht erlosch, blieb es für das eiskalte Hirn noch tagelang hell. Umwelthitze und Gedanken krochen schneckengleich über die Nervenbahnen, Muskeln wollten sich gelegentlich bewegen, aber die Gelenke waren eingefroren und gaben nicht nach, keinen Millimeter. Und wehe, irgendwo juckte es! Nie sah man den berühmten Lichtstreif am Ende des Tunnels, die Phase des Aufwachens war wie ein Sturz in heißes Wasser, war unaussprechlicher Schmerz des Neugeborenwerdens, und es war besser, man dachte in diesen Minuten nicht daran, daß man irgendwann wieder erweckt werden würde. Die Anabiose, so oft erlebt, so oft erlitten, war und blieb ein Scheißspiel, und wenn es aus der Nygardcrew schon unbedingt
zehn Mann treffen mußte, dann war es für den Rest der Leute Ehrensache, die letzten Schritte vor dem kleinen Tod mitzugehen. Denn dieser verfluchte Peer Alpha mit seiner »Solara III« riß Paare auseinander, die die Liegezeit im Hangar wahrhaftigen Gottes zu völlig anderen Dingen nutzen wollten, als die Rettungsinseln des Doppelplaneten Erde/Mond zu inspizieren. Endlich, endlich, hatten sich Tschilin Mohrung und Reinke de Vos gesagt, endlich reicht die Zeit aus für eine“ normale Schwangerschaft. Denn Liegezeit im Hangar und Interstellarflug zusammen ergeben ein paar hübsche Jahre, Zeit also für Aufzucht und Erziehung. Und nun war wieder nichts daraus geworden, denn Tschilin mußte in den Kälteschlaf gehen, weil Peer Alpha, allen Überzeugungsversuchen zum Trotz, darauf bestanden hatte. Wer geht schließlich gern mit einer schwangeren Frau auf eine Kurzreise. Das bringt nur Ärger für den Kommandanten, überflüssigen dazu, solche Komplikationen hielt man sich vom Leibe, sollten die Leute doch Liegezeiten oder besser noch das. Leben in den Siedlungen für ihre Vermehrungsgelüste nutzen und nicht das eigene Fahrzeug zur Kinderkrippe machen! Die Nygardcrew traf sich also zu einer »Anabiose-Party«, alle Vorbereitungen für den Kälteschlaf waren bereits getroffen, und Karel Nygard war richtig erschrocken, wie klein und nackt die Frauen seiner Mannschaft waren, nachdem man sie ihrer Haare beraubt hatte. Wie gerupfte Vögelchen sahen sie aus, verfroren schon Stunden vor dem Kältetunnel. Die Bedienmannschaft der Anabiosestation des Hangars schüttelte verwundert die Köpfe, spielte sich doch im Vorbereitungsraum wirklich eine kleine Fete ab, mit Lachen und Tanzen und Singen und mindestens doppelt soviel Anabiosikum als notwendig, und man mußte bei dieser verrückten Truppe höllisch aufpassen, daß man anschließend nicht die falschen Leute in den Tunnel jagte; die gute Laune und das Lachen der Nygardleute waren gekünstelt, und wenn sie den Vize hätten erwischen können oder wenn ihr neuer Kommandant Peer Alpha
aufgetaucht wäre, dann hätte es schon kräftige Worte gegeben und einen wunderschönen Skandal! Vier Tage später löste sich die »Solara III« endlich vom Hangar und steuerte ihr Ziel an, den Doppelplaneten Erde/Mond, unbewohnbar gewordene Urheimat der humaniden Art Homo sapiens, die sich längst weit hinein ins All ausgebreitet hatte. Aber die nirgendwo so etwas Ähnliches wie eine Heimat gefunden hatte. Nur Inseln und Hangare und die Unendlichkeit dazwischen, die manchmal nur im Zustand der Anabiose zu überwinden war. Es war nicht viel übriggeblieben von den gestern noch so stolzen 211ern. Ein Häufchen gerupfter Gestalten saß verloren in der Festkaverne herum, gerupft vor allem das Selbstbewußtsein der Prüflinge. Schuldzuweisungen wurden laut. Natürlich trafen sie in erster Linie die Kommission. Aber nicht nur die. Auch andere Rechtfertigungen mußten her. Es könnte an der Luft gelegen haben. Zuviel Sauerstoff, mutmaßten die einen, zuwenig, sagten andere. Oder der Heliumanteil habe wieder einmal nicht gestimmt, meinten dritte. Nie zuvor jedenfalls habe man so wenig zu sagen gewußt wie an diesem Tage vor der Prüfungskommission, so doof könne man gar nicht sein, wie man sich angestellt habe, die einfachsten Dinge glatt vergessen, jetzt könne man sie wieder herbeten, aufs Stichwort! Und noch nie zuvor habe sich der Vorsitzende Lima Verde so übellaunig gezeigt wie heute. Auf den zahlreichen Bildern jedenfalls sähe Verde anders aus, gütiger, geduldiger, viel geduldiger. Auch tauchte die Frage auf, ob das Frühstück verantwortlich gemacht werden könne, das überreiche, oder ob es ausschließlich an der eigenen Aufregung gelegen habe, an der eigenen kleinen Aufregung! Schließlich habe kaum einer das gesteckte Ziel erreicht. Mit Ausnahme von Manuel Maarli natürlich, aber Maarli sei ein Sonderfall. Jacob Schwerte war in die C-Ebene geraten, die meisten in D, aber am schlimmsten habe es Alina Simon getroffen, E-Ebene, das halte die nicht durch, schon
rein körperlich nicht, nie und nimmer halte die das durch. Und außerdem, wenn jemand die B-Ebene verdient hätte, dann Alina. Die B-Ebene mindestens, vielleicht sogar mehr! Das waren die Sätze, die durch die Festkarverne schwirrten, die Gedanken, die alle bewegten. In einer solchen Verfassung traf Manuel Maarli seine 211er einige Stunden nach der Prüfung in der Kaverne an. Auch Manuel war ernüchtert. Nicht etwa vom Verlauf seiner Prüfung, denn die hätte nicht besser ausgehen können. Nein, Manuel war über Alinas seltsames Verhalten verstört. Sie hatten verabredet gehabt, sich nach der Prüfung in Alinas Wohnwabe zu treffen, um ganz allein die letzten Stunden vor der bevorstehenden Trennung zu genießen. Denn daß sie künftig in verschiedenen Ebenen leben würden, das war ihnen schon vor diesem Prüfungstag klar gewesen. Aber es hatte sie nie sonderlich berührt, denn erstens lag der Tag der Trennung stets in sehr weiter Ferne, und zweitens gab es ihren Plan und die Oberfläche, und die Arbeit dort würde alle diese künstlichen Einteilungen aufheben. Alinas Wohnwabe hatten sie deshalb ausgesucht, weil sie ziemlich abgelegen am Ende des Ausbildungsschachtes lag, weil sich selten jemand in den dritten Seitenstollen verlief. Manuel war also aus der Prüfungskaverne zurück in den Ausbildungsstollen gegangen, vorbei an seiner eigenen Wohnwabe, die inzwischen ausgeräumt worden war, war die drei Seitenstollen nach rechts gegangen, hatte Alinas Wabentür aufgestoßen, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte, und verdutzt in das Gesicht einer Terratin des Ausbildungsganges 213 geblickt. »Wo ist Alina?« hatte er gefragt. »Weiß ich nicht. Ich soll hier einziehen!« antwortete das junge Mädchen und räumte ihre Habseligkeiten in den Wandschrank Alinas. »Schon gut«, sagte Manuel enttäuscht und lief zurück in seine ehemalige Wabe. Die aber war leer, absolut leer, kein Hinweis auf Alina, keine Nachricht für ihn.
Zurück in den Seitenstollen, in Alinas Wabe, wieder der erstaunte Blick der Nachfolgerin. »Hast du wirklich keinen Zettel gefunden, keine Nachricht für mich, keinen Hinweis?« Verneinendes Kopfschütteln. Damit war das Latein Manuel Maarlis am Ende. Überall in diesem verdammten Stollen konnte sich Alina aufhalten. Manuel suchte zuerst in der Ausbildungskaverne. Öffnete vorsichtig die Tür einen Spalt breit, aber in dieser Kaverne übte eine Gruppe der Jüngsten, und wieder trafen ihn ob der Störung erstaunt fragende und ärgerliche Blicke. Manuel machte die Tür also wieder zu, verließ den Ausbildungsstollen, ging zurück vor die Prüfungskaverne. Aber auch dort war von Alina nicht die geringste Spur zu entdecken. So ganz allmählich verflog ihm die gute Stimmung. Enttäuschung machte sich breit, Wut, Leere. Ziellos schlenderte er durch den Schacht und fand sich vor dem Zentralkorb sechs wieder, auf dem Weg zu seinem künftigen Lebensbereich, der AEbene. Aber so schnell hatte der Rat die Rechner noch nicht umprogrammiert. Der Fahrkorb setzte sich auf sein Kommando zwar in Bewegung, das Display zeigte auch an, daß die A-Ebene erreicht war, aber die Tür ließ sich nicht öffnen, Manuel war noch nicht als berechtigte Person für diese Ebene registriert. Dann war die Zeit vorüber, die ihnen vor der Festveranstaltung allein gehört hätte. Manuel mußte in die Festkaverne. Bei offiziellen Veranstaltungen ließ der Rat nicht mit sich spaßen. Und die Übergabe der Abschlußprädikate war eine sehr offizielle Angelegenheit. »Gratuliere!« sagte Jacob Schwerte zu ihm, als er dort ankam, und gab ihm die Hand. »Hast du Alina getröstet?«
»Alina ist spurlos verschwunden«, antwortete Manuel leise, denn soeben hatte Jeanne Perra als erstes Ratsmitglied die Festkaverne betreten. »Versteh ich schon«, sagte Schwerte. »Wird sich in ein stilles Eckchen verkrümelt haben, um ihren Kummer zu verdauen!« »Welchen Kummer?« fragte Manuel. »Du weißt noch nicht? Durchgerasselt mit Pauken und Trompeten! E-Ebene! Das Persönchen!« Inzwischen hatten auch alle anderen Ratsmitglieder die Kaverne betreten und im Präsidium Platz genommen. Ihnen gegenüber saßen die Prüflinge. Jetzt wurden die Haupttore geöffnet, und Terraten aller Ebenen strömten in die Kaverne. Unter ihnen war auch Alina Simon, die, unbemerkt vom Rat, auf ihren Platz in der letzten Reihe der Prüflinge huschte. Lima Verde stand auf und ging zum Rednerpult. Und als er dort vorn stand, einen halben Meter über den Köpfen der Versammelten, als er auf sie alle herunterblickte, oder sie alle zu ihm aufblickten, war er wie immer gänzlich Güte und gänzlich Langmut. Nur einige der Prüflinge dieses Tages wußten es halt besser, und von denen senkten etliche ihre Blicke, um nicht aufsehen zu müssen. »Ich wünsche allen Terraten stets gute Luft!« begann der Vorsitzende. Manuel versuchte, einen Blick Alinas zu erwischen. Aber das war schwierig, weil die hinter ihm saß. Und Alina wich seinen Blicken aus, wich ihm ganz offensichtlich aus. »Es gibt, so glaube ich, und so glauben alle Ratsmitglieder«, sagte unterdessen Lima Verde, »keinen wichtigeren Anlaß, um uns hier zu versammeln, als die Übergabe der Abschlußprädikate an einen neuen Ausbildungsgang!« Dann wandte sich der Vorsitzende direkt an die Prüflinge: »Einige von euch werden sicherlich mit dem Resultat des heutigen Tages unzufrieden sein, werden mit sich selbst und mit
der Prüfungskommission hadern. Werden sich vielleicht einreden, großes Pech gehabt zu haben, zur falschen Zeit die falschen Fragen erwischt, die richtigen Antworten zwar im Kopf gehabt zu haben, aber über ihre Lippen seien halt die unsinnigsten Sätze geschlüpft, und deshalb wurde das gesteckte Ziel nicht erreicht! Dieses Gefühl kennen wir alle, kennt die Prüfungskommission von den vorangegangenen Ausbildungsgängen, und dieses Gefühl wird, so fürchte ich, auch noch einige eurer Nachfolger befallen. Einer Tatsache jedoch dürft ihr euch völlig sicher sein. Auf welche Ebenen euch diese Prüfung auch immer gestellt haben mag, ihr habt die Pflicht, die moralische Pflicht, überall euer Bestes zu geben für das Wohl des Volkes der Terraten, für die baldige Rückkehr zur Oberfläche!« Noch immer wich Alina Manuels Blicken hartnäckig aus. In der Festkaverne wurde es ganz allmählich unruhig. Die Unruhe ging von den Gästen der hinteren Reihen aus, denn schließlich war man heute nicht gekommen, sich eine der endlosen Reden des Vorsitzenden anzuhören. Heute hatte der Rat anläßlich der Übergabe der Abschlußprädikate an neue Mitstreiter geladen. Und das war allemal ein Grund für eine zünftige Feier. Musik war angesagt und Tanz und Alkohol und reichliches Mahl. Außerdem, hatte man nicht die gleichen Sätze schon am Ende des vorherigen Ausbildungsganges gehört, oder von dem zuvor? Oder am Ende des eigenen? Keine Frage, das hatte man, wenn nicht wörtlich, so doch dem Sinne nach. Lima Verde wurde alt. Vergeßlich. Eingeschworen, eingeengt auf sein Lieblingsthema! Jedenfalls pflanzte sich die Unruhe in der Kaverne fort. Bald wurde sie auch im Präsidium gespürt, schließlich vom Vorsitzenden selbst und richtig bewertet. Er begann mit der namentlichen Vergabe der Prädikate, und eine der ersten, die ihr Dokument ausgehändigt bekam, war Alina Simon. Dazu mußte sie natürlich aufstehen und, da sie sehr weit hinten saß, an der gesamten Gruppe vorbeilaufen. Es ließ sich also nicht vermeiden, Manuel Maarli anzusehen, spätestens auf dem
Rückweg, mit dem Chip am Handgelenk, diesem verdammten, auf dem die Einstufung stand, E-Ebene! Sicher, gemeinsam mit dem nächsten Ausbildungsgang würde sie sich einer Nachprüfung stellen und sich um eine Stufe verbessern können, und das wieder und wieder. So gesehen war die EEinstufung die Fahrkarte zur A-Ebene, und auch in diesem Jahr hatte es einige Aufsteiger gegeben. Aber das war alles graue Theorie. Die Praxis, das wußte Alina nur zu gut, würde anders aussehen, völlig anders! Dieses Wissen stand in ihrem Blick, als sie Manuel nicht mehr auswich, nicht mehr ausweichen wollte, und Maarli begriff, daß er dem verpatzten Rendezvous nachzutrauern das Recht nicht hatte. Ihre Zukunft, die gemeinsame Zukunft der Alina Simon und des Manuel Maarli, von der sie geträumt hatten, konnte nur in der Rückeroberung der Oberfläche liegen, ausschließlich dort. Alina war, das wußte Manuel, keine Frau für heimliche Treffen in toten Seitenstollen, in Felsbrüchen, in stillgelegten Fahrkörben. Sie würde nicht fähig sein, mit ihm durch den Hauptstollen zu schlendern, vorbei an Waren, deren Preise für sie im Utopischen lagen. Sie würde es nicht ertragen können, stets von ihm abhängig zu sein, ihn niemals in seiner Ebene besuchen zu dürfen. Und ein solches Leben wäre auch nichts für ihn. Er mußte vor alle Terraten hintreten können und sagen, daß diese Frau und er gemeinsam zu leben beabsichtigen. Aber zwischen A- und E-Ebene lagen nun einmal Welten, und der Rat würde einer solchen Partnerschaft mit Sicherheit seine Zustimmung verweigern. Alina Simon ging zurück auf ihren Platz, und sie und Manuel Maarli hatten an diesem Tag noch kein einziges Wort miteinander gesprochen. Die »Solara III« war seit elf Tagen auf ihrem Weg zur Erde. Die Leitstelle des Hangars hatte ihr die Position null Komma sieben Bogensekunden dorsal vom Peilstrahl zugewiesen, der den Hangar ständig mit dem Doppelplaneten verband. Der Peilstrahl war wie
eine Autobahn. Breit, schnurgerade und stinklangweilig. Einmal auf seinen Kurs gesetzt, schlich das Fahrzeug am Strahl entlang seinem Ziel entgegen, und jeder menschliche Einfluß auf Kurs und Geschwindigkeit war überflüssige Störaktion. Kommandant Peer Alpha hatte schon gewußt, weshalb er zehn Mann der Nygardcrew in die Anabiose beordert hatte. Das war kein Flug für eine Mannschaft, die gewohnt war, im freien Raum zu navigieren, für die anspruchsvolle Kopplungsmanöver zum alltäglichen Brot gehört hatten, die ziemlich genau wußte, wann es viel zu wagen galt. Diese Leute brauchten ihre handfeste Arbeit, sonst konnte niemand für sie garantieren, und handfeste Arbeit hatte Peer Alpha erst wieder im Zielgebiet zu vergeben, dann aber reichlich. Folglich war die Nygardtruppe in den Anabiosekammern am besten aufgehoben. Der Rest der Mannschaft richtete sich in der ersten Flugwoche in den Kabinen häuslich ein. Aber dann gab es nichts mehr einzurichten, und die Männer schlenderten gelangweilt durch das Fahrzeug, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Schließlich wurde die Mannschaftskombüse zum ersten und einzigen Treffpunkt, wenn man es in der eigenen engen Kabine nicht mehr aushielt. Man hockte zusammen und wünschte sich, der »Solara III« einen zusätzlichen Schub verpassen zu können. Die Stimmung war nicht sehr gut, die »Solara III« eben nicht die »Intergalactica«, in der es Aufgaben im Überfluß gegeben hätte. Und Schuld an der Misere trugen der Vize und der Kommandant Alpha zu gleichen Teilen. Später verringerte sich das Schuldkonto des Vizepräsidenten in dem Maße, wie das des Kommandanten anwuchs. »Wer ein einziges Mal mit dem Herrn Kommandanten Peer Alpha geflogen ist, der tut es bestimmt nicht wieder«, sagte also Reinke de Vos und stocherte mißmutig mit seiner Gabel in einer graugrünen Paste herum, die er aus einer Tube gequetscht hatte. Auf der Tube stand gelb auf blau die Aufschrift »Wiener Schnitzel«. »Guckt euch nur diesen Fraß an! Der Herr
Kommandant spart, wo immer er nur sparen kann! Ich frage mich, ob die Kulturbehörde wirklich so ein armer Verein ist! Und das Register der ehemaligen Besatzungen liest sich wie der ›Who is who‹ der gescheiterten Raumfahrtexistenzen! Es kommen mindestens fünfzig Unfälle und dreihundert galaktische Einheiten Sicherheitsbehandlung zusammen, grob gerechnet. Wir und dieser Fraß passen wunderbar ins Bild dieses Prachtmenschen!« Sie saßen zu dritt in der Mannschaftskombüse der »Solara III«, Reinke de Vos, Karel Nygard und Jacob Boer, schlangen ihre Pastenmahlzeit herunter und spielten Skat. »Ich finde den Flug aufregend«, meinte Jacob Boer und begann zu mischen. »Du findest alles aufregend, du Greenhorn«, knurrte Reinke ihn an. Aber damit brachte er Jacob Boer nicht aus der Ruhe. Den brachte scheinbar nichts aus seiner Ruhe. Jacob Boer war vier Stunden vor dem Start plötzlich in der »Solara III« aufgetaucht und hatte eine der drei Passagierkabinen bezogen. Ob er die Passage wirklich bezahlt hatte, blieb offen. Peer Alpha jedenfalls behandelte ihn nicht anders als seine Besatzungsmitglieder. Keine Spur von den üblichen Privilegien, die ein Passagier genoß. Boer schob Bordwache, Boer machte Klarschiff, Boer wurde in die Technikercrew Nygards eingebaut und leistete dort Handlangerdienste. Das alles tat Jacob Boer ohne Murren und nicht einmal ohne Geschick. Es hätte durchaus sein tägliches Brot sein können. Aber es war nicht sein täglich Brot, Jacob Boer schrieb Texte. In früheren Jahren hätte man seine Texte Romane genannt und auf Papier gedruckt. Heute paßte das bisherige Lebenswerk des Jacob Boer bequem in eine Streichholzschachtel, und selbst dort war noch reichlich Platz für weitere Mikrochips. Was Jacob Boer also an Bord der »Solara III« wirklich suchte, war niemandem klar. Vermutlich nicht einmal ihm selbst. Vielleicht hatte es etwas mit den ungeschriebenen Chips zu tun, vielleicht mit völlig anderen Dingen.
»Achtzehn!« sagte Reinke und stierte in sein Blatt. Karel Nygard nahm nun erst seine Karten auf. »Zwanzig!« antwortete Boer. »Übernimm dich nicht!« entgegnete ihm Reinke. »Wenn ich dich unverbindlich an die Höhe deines Spielschuldenkontos erinnern darf! Zwo!« Boer nickte. »Null!« »Vier!« »Sieben!« Noch immer nickte Jacob Boer. »Du übernimmst dich mal wieder«, stellte de Vos lakonisch fest. »Aber behaupte später nicht, man hätte dich zu deinem Unglück überreden müssen. Passe!« Karl Nygard winkte ab, Jacob Boer griff sich den Skat, wurde blaß, und de Vos grinste über das ganze Gesicht. »Wird nicht viel werden aus deiner Antiquitätenbeute«, sagte er. »Bisher gehören mir schon siebzehn Prozent deines Anteils. Und wir sind noch lange nicht da!« »Wer nichts riskiert, kann nichts gewinnen!« sagte Boer. »Mancher riskiert allerdings ein bißchen viel«, entgegnete Karl Nygard lächelnd und stach ein. Wie aus dem Nichts heraus türmten sich mit einem Male vor dem Pflanzentier Hindernisse, klobige, klotzige Kästen nämlich aus purem Fels, die nicht in die flache Landschaft paßten. Vor diesen Kästen verwirbelten sich die Winde, teilten sich die Strömungen auf, entwich die Wärme in die Höhe und fegten Staubwirbel durch die fremdartigen tiefen glatten Schluchten. Die Walze verharrte in ihrem Lauf, rundete sich, in ihrem Innern wallten aufgeregte Bewegungen, dann schob sie sich langsam an einen ersten, kleineren Klotz heran.
Die Wand dieses Kastens war reichlich von Öffnungen durchbrochen, und in einigen der Höhleneingänge glänzten seifenblasenähnlich durchschimmernde Silikatscheiben. Das Pflanzentier schob vorsichtig einen Teil seines Körpers in eine der Höhlungen, aber dort war außer einem Stück Holz nichts aufzufinden, was sich verstoffwechseln ließe. Doch allein das war schon mehr, als der Sand des Flachlandes bieten konnte. Eine der Silikatscheiben gab dem Druck der Walze nach und fiel in großen Scherben auf die Erde. Das Pflanzentier drang suchend in alle Räume, in alle Höhlen des Kastens ein, und für Stunden nahm die Walze die Gestalt eines fünfstöckigen Hauses an. In das Innere des Kastens drang jedoch kein Licht. Der jähe und ungewohnte Wechsel zwischen Tag und Nacht ließ die Bewegungen der Walze erstarren. Dies hier widersprach all ihren Erfahrungen, es gingen seltsame und bisher ungekannte Veränderungen in ihr vor. Das Grün drängte nach außen, dem Lichte zu, der Nahrung. Aber drinnen, in der Höhlennacht, gab es auch Nahrung zu holen, viel Nahrung. Holz gab es und Aluminate; in Fugen und an den Felswänden, die mit samtigem Überzug besetzt waren, lebten völlig neue Bakterienarten, die in das ökologische Gefüge der Walze symbiosiert werden mußten. Es steckten unwägbare Entdeckungen in diesem Fels, es waren unvorhersehbare Sprünge möglich in der Entwicklung der Tierpflanze, die Walze nistete sich ein, sog sich fest im Innern des Hauses. Fünfzig Grad nördlicher Breite, dreißig Grad östlicher Länge. Das wußte der Rat natürlich, das hatte Lima Verde zwanzigmal und häufiger erlebt: Die feierliche Stimmung in der Festkaverne hielt mit einiger Mühe so lange an, bis der letzte Prüfling sein Dokument in der Hand hielt. Und der letzte, der von der Prüfungskommission aufgerufen wurde, traditionell der Beste, hieß in diesem Ausbildungsgang Manuel Maarli.
Danach würden Beauftragte der einzelnen Ebenen ihre neuen Mitglieder in Empfang nehmen, aber dieser Vorgang entbehrte schon jeglicher Feierlichkeiten, die Musik würde einsetzen, von Abschlußfeier zu Abschlußfeier lautere Musik übrigens, der Wein würde fließen, auch von Feier zu Feier in breiteren Strömen, und dann würde die ganze Feierlichkeit dieses Tages untergehen in Gesang und Tanz, im wüsten Saufen und im hemmungslosen Fressen, und ausklingen würde die Fete in einem einzigen Bacchanal, fast jeder mit fast jeder, dieses eine Mal auch quer durch alle Ebenen. Der Rat wußte aber auch, daß man dem Volk seine beliebten Spiele lassen mußte, damit es nicht zu murren begann. Und so drückte er einmal pro Ausbildungsgang beide Augen zu, tolerierte die Anarchie, ließ die Terraten sich die Wänste vollschlagen bis zum Platzen, die Bäuche voll Wein laufen bis zum Umfallen, mochten ihnen doch an diesem Tag die Ohren verdorren ob der Lautstärke der Musik, mochte ihnen schwindlig werden von den irren Tänzen, mochte sich doch an diesem Abend paaren, wer immer mit wem das Bedürfnis dazu verspürte. Der Rat nahm davon keine Notiz, der Rat ging, um zu bleiben. Um am nächsten Tag wieder gänzlich zu sein wie an allen Tagen zuvor. Mit Ausnahme dieser einen wüsten Feier! Und so war es auch bei diesem Ausbildungsgang. Manuel Maarli wurde aufgerufen, der letzte, der Beste. Es reckten sich die Hälse vor allem der weiblichen Festbesucher, denn der junge Terrat war eine stattliche Erscheinung. Er würde am heutigen Abend vor Chancen vermutlich nicht aus noch ein wissen. Für ihn wurden dem Vorsitzenden noch ein paar lobende Worte gegönnt, der beste Prüfling durfte, auch der Tradition entsprechend, neben seinem Chip sogar eine Papierrolle über dem Kopf schwenken, aber das war auch schon das unübersehbare Signal für den Rat, die Festkaverne schleunigst zu räumen und dem Volk die Spiele zu überlassen.
Der Vorsitzende Lima Verde ging als letzter. Der Beifall der Versammelten für ihn war spärlich und ging im ersten Musikstück unter. Von den Prüflingen des Ausbildungsganges 211 rührte kaum einer zu Ehren des Rates eine Hand. Toleriert auch dies. Narrenfreiheit an diesem einen Tag, aber doch eine Narrenfreiheit nach exakt definierten Regeln. Zu den Regeln gehörte, daß ein Wesen auf Manuel Maarli zugeschritten kam und ihm lächelnd die Hand reichte. Dieses Wesen war überall im Terratenschacht bekannt, es hieß Sylvie Debora und hatte kürzlich die Konkurrenz um die schönste Terratin gewonnen. Seitdem lebte sie ihrer Schönheit in der A-Ebene, und Manuel Maarli war ihr an diesem Abend dienstliche und private Aufgabe zugleich. Ihre dienstliche Pflicht war schnell erfüllt, das Maarlische Dokument im Schließfach der A-Ebene verwahrt. Die private Kür würde sich auf den ganzen Abend ausdehnen, da mochten den anderen Jüngelchen des Ausbildungsganges die Augen aus den Köpfen fallen vor Neid, eine Sylvie Debora tat es nur auf gleicher Ebene. Sonst wäre sie das nicht geworden, was sie geworden war. Und die Weiber unter B sollten sich gefälligst von ihresgleichen besteigen lassen! »Gratuliere!« sagte sie zu Manuel, und ihre Stimme war ein verheißungsvoll schwingender Alt. »Du hast heute einen Wunsch bei mir frei!« Diesen Satz, ziemlich laut gesprochen, mußte wenigstens der Nachbar Maarlis gehört haben, und der würde schon dafür sorgen, daß es sich unter den 211ern herumsprach, also, schon gehört, unser Manuel und die Debora, jene Terratin, deren Foto von vielen Jungterraten seit Monaten herumgeschleppt wurde. Ein Foto, auf dem sie lächelnd vor stahlblauem Hintergrund posierte, mit nichts anderem angetan als dem goldenen Hüftkettchen, Zeichen ihres Sieges und Beweis makelloser Schönheit. »Ich danke dir«, antwortete Manuel höflich lächelnd. »Für die Glückwünsche und ganz besonders für den Freiwunsch. Ich würde mir gern einen Tanz ausbedingen, wenn du erlaubst.«
Jacob Schwerte grinste neidisch in sich hinein. Alina Simon stand am Rand einer Traube, die sich um den Beauftragten der E-Ebene gebildet hatte, und drehte ihm den Rücken zu. »Versprochen ist versprochen«, sagte Sylvie Debora und ging in Richtung Tanzfläche. »Worauf wartest du? Oder gefällt dir die Musik nicht?« Es war wirklich nichts gegen die Musik einzuwenden. Sylvie Debora schritt durch die Terratenmenge zur Tanzfläche, als wäre die Festkaverne völlig leer. Sie lag in seinen Armen, als wäre sie leichter als Luft, sie erspürte den Rhythmus der Musik im voraus, sie drehte, sie wiegte sich, es war keine Rede davon, daß ihr junger Partner in diesem Tanz die Führung hatte. Der Jungterrat wurde mitgezogen und mitgedreht und im Takt der Musik mitgewiegt und mitgebogen und hatte dennoch das Gefühl, selbst zu ziehen und zu drehen und zu wiegen und zu biegen. Bis ihn ein Blick Alina Simons traf. Und dieser Blick ernüchterte ihn, holte ihn auf den Boden zurück, stand in ihm doch zu lesen, daß sie, die ETerratin, schon im Ausbildungsstollen geahnt habe, wie es werden würde, wenn man auf solch verschiedenen Ebenen zu leben gezwungen war. Auch deshalb sei sie am vereinbarten Treffpunkt nicht erschienen, deshalb wolle sie den Kontakt zu ihm abbrechen, um nicht ständig und letztendlich erfolglos konkurrieren zu müssen mit jenen Sylvie Deboras, von denen es in der A-Ebene sicherlich nur so wimmelte. Manuel Maarli begann über die eigenen Füße zu stolpern. Zum Glück verebbte in diesem Augenblick die Musik, und Sylvie Debora blieb stehen. »Tanzen solltest du noch ein bißchen üben«, sagte sie zu Manuel. »Warten bestimmt viele darauf, es dir richtig beizubringen. Und der Freiwunsch für heute bleibt dir nach wie vor!« Sie schritt, sie schwebte davon und thronte bald darauf an der Bar. Der Junge würde ihr nicht davonlaufen. Nicht davonlaufen können. Ihre Wege würden sich spätestens am Eingang der A-Ebene wieder kreuzen. Allerspätestens!
Inzwischen war reichlich Bewegung in die Gäste der Festkaverne gekommen. Das Büffet war aufgebaut, an ihm drängten sich die Terraten, denn an diesem Tag öffnete der Rat alle Vorratskavernen, und die synthetischen Köstlichkeiten ergossen sich wie aus einem Wasserfall über die Gäste. Am Büffet traf Manuel Jacob Schwerte. »Scharfes Weib, das!« sagte Jacob und langte nach einem Stück Braten. »Seit einem halben Jahr schleppe ich ihr Foto mit mir herum! Bei dem Anblick könnte man glatt vergessen, daß das kein Weib für unsereins ist. Aber du Glückspilz hast ja nun in deiner AEbene nur noch scharfe Weiber um dich!« »Laß gefälligst den Quatsch!« fuhr ihn Manuel an. »Sag mir lieber, wo Alina abgeblieben ist!« »Was weiß ich, bin ich ihr Kindermädchen?« Schwerte hatte sich endlich in eine günstigere Position gedrängt. Jetzt langten seine Arme immerhin bis zum Löffel einer Salatschüssel. Und er war zentimeterweise auf dem Vormarsch. Vom Braten zum Schinken, vom Lachs zu den Eiern, von den Eiern zum Fau-kiu. Manuel dagegen entwand sich der drängenden Menge. An der Bar saß immer noch die Debora und beobachtete ihn, dort mußte er folglich nicht nach Alina suchen. Auf der Tanzfläche sicherlich auch nicht, aber es liefen ihm genügend andere 211er über den Weg, und einer von ihnen hatte gesehen, daß Alina zusammen mit ein paar E-Terraten in einer der Nischen in der letzten Reihe gesessen hatte. Es dauerte noch seine Zeit, bevor Manuel sie fand. Das Büffet war schon ziemlich geplündert, jetzt drängte sich die Masse an der Bar und auf der Tanzfläche, denn die Musik war immer lauter geworden. Alina saß, inzwischen allein, in einer Nische und kaute an einem Stück Füllmasse. »Was soll der Blödsinn?« fragte Manuel und setzte sich neben sie. »Ich meine, ich verstehe, daß du dich über deine verpatzte Prüfung ärgerst, daß du traurig bist, weil es dich in die E-Ebene verschlagen
hat, aber das ist doch kein Grund, den ganzen Abend zu versauern und Füllmasse zu fressen, während dort vorn die köstlichsten Dinge liegen!« »Tanzt sie gut?« fragte Alina und schob sich ein Stückchen Füllmasse in den Mund. »Herrgott, ja, wenn es dich beruhigt, sie tanzt gut, und ich bin ihr zweimal gewaltig auf die Füße getreten. Bist du nun zufrieden?« »Hoffentlich hat sie sich dabei die Zehen gebrochen«, sagte Alina, biß von ihrer Füllmasse ab und mußte plötzlich lachen. Jetzt erst begriff Manuel, daß Alina eifersüchtig war auf Sylvie Debora, besonders auf jene Debora mit dem Goldkettchen. Natürlich kannte auch sie dieses Bild. Und daß die verpatzte Prüfung und die E-Ebene halt doch sehr große Unglücke für sie beide waren, weil er für sie unerreichbar in der A-Ebene leben und sie stets zu bangen haben würde, daß er sie nicht vergäße, daß er die Beziehung zu ihr nicht abbrechen und daß er irgendwann später auch wirklich erklären würde, es handle sich zweifelsfrei um sein Kind in dieser seltsamen Alina Simon von ganz unten. Ihre Beziehungen müßten schon aus einem ganz besonderen Stoff gemacht sein, um solchen Belastungen auf Dauer standzuhalten. Fels würde sich als zu weich erweisen. Die Existenz der Terraten war Zeugnis für die Durchlässigkeit dieses Stoffes. Es gab also nur eine Chance für sie beide: die Oberfläche. Und so rückte Manuel an Alina heran, ganz dicht, hauchte in ihr Haar am Ohr, wie er es früher immer getan hatte, und sagte: »Unsere Trennung wird nicht lange dauern! Wir haben doch unseren Plan. Wir gehen zurück an die Oberfläche. Darauf kannst du bauen! Und dann sind alle Einstufungen hinfällig!« »Und wie soll das gehen?« fuhr sie ihn an, aber schon wieder mit Hoffnung in der Stimme. »Du bist der einzige, der die A-Ebene geschafft hat!« »Es wird so gehen, wie wir es beschlossen haben. In einem Monat treffen wir uns, und bis dahin wird sich manches geklärt
haben. Bis dahin haben wir in unseren Ebenen erste Beziehungen aufgebaut und wichtige Informationen gesammelt. Wer weiß, vielleicht wird ausgerechnet eine Sylvie Debora Bedeutung für unseren Plan gewinnen!« »Ach die!« sagte Alina und bot Manuel ein Stück ihrer Füllmasse an. Und der kaute das Zeug wirklich. Irgendwann fächert auch der intensivste Peilstrahl auf, kreuzen sich die Flugbahnen, sagen die Navigationskarten aus, daß die vorgeplante Position nahe ist, beginnt der Countdown zu laufen, vierundzwanzig Stunden zum Punkt Null, dreiundzwanzig Stunden neunundfünfzig Minuten, dreiundzwanzig Stunden achtundfünfzig Minuten, dreiundzwanzig Stunden… Die »Solara III« hatte das Zielgebiet Erde/Mond nahezu erreicht, endlich erreicht, und Karel Nygard, Reinke de Vos, der Funker Malev und Raphaela Dimanci freuten sich auf das Wiedersehen mit dem Rest der Crew. Denn von nun an würde es reichlich Arbeit geben, würde jede Hand gebraucht werden, Schluß also mit der verdammten Anabiose. Aber die »Solara III« war nicht die »Intergalactica« und Nygard nicht der Kommandant. Kommandant dieses Kastens war und blieb Peer Alpha, und der befahl seinen Ersten Offizier in seine Kajüte. »Erster Offizier Karel Nygard zum Kommandanten!« tönte es aus allen Lautsprechern des Fahrzeuges, und der Tonfall Peer Alphas ließ keine Zweifel aufkommen, wer hier an Bord das Sagen haben würde. Als Karel Nygard die Kajüte Alphas betrat, fand er dort Rajna Kasabov und den Kommandanten vor. Der Tisch war nahezu üppig gedeckt, drei Teegläser standen bereit, die Kasabov hatte eine Art Kimono an und war barfuß. »Zur Stelle, Kommandant!« meldete Karel sich und verzichtete darauf, vorschriftsmäßige Haltung anzunehmen.
»Seien Sie doch nicht so förmlich, Karel«, sagte Rajna lächelnd. »Unser gemeinsamer Flug wird noch einige Zeit andauern. Vielleicht besser, wenn man sich etwas näher kennt.« »Ja, Nygard, setzen Sie sich, trinken Sie ein Glas Tee mit uns und lassen Sie uns die Aufgaben für die kommenden Wochen besprechen!« Nur für den letzten Teil des Satzes erntete Alpha einen tadelnden Blick der Kasabov. »Als zum letzten Mal ein Vorgesetzter so ausnehmend freundlich zu mir war«, sagte Nygard und blieb wie angewurzelt stehen, »fand ich mich anschließend in Ihrem Fahrzeug wieder, Kommandant. Und meine Leute auf Eis!« »War es etwa ein schlechter Auftrag, Nygard?« Karel antwortete nicht. »Ich glaube, ich bin der einzige vernünftige Mensch in dieser Kajüte«, stellte die Kasabov fest und schob Karel Nygard zu einem der Hocker. So saßen sie eine Weile schweigend, während Rajna den Tee einschenkte. »Wirklich schade«, stellte Alpha fest, »daß wir bisher so wenig persönlichen Kontakt hatten. Sie bevorzugen offensichtlich die Mannschaftskombüse. Ich muß Ihnen nämlich gestehen, Major Nygard, daß ich bei aller vorherigen Skepsis äußerst positiv überrascht bin. Sie haben Fahrzeug und Mannschaft im Griff wie keiner Ihrer. Vorgänger!« »Danke«, sagte Karel und langte nach den Plätzchen, die die Kasabov angeboten hatte. »Die Mannschaft kann ja wohl kaum aufsässig werden, so kühl, wie sie behandelt wird. Und bis zu dieser Minute war der Flug ein reines Kinderspiel, es gehört nicht sehr viel dazu, an einem Peilstrahl entlangzurutschen, Kommandant!« »Sagen Sie das nicht, Nygard. Ich habe auch schon andere Erfahrungen machen müssen. Eben, weil es so leicht aussieht!«
Karel lächelte schweigend und dachte: Kein Wunder, bei der Zusammensetzung deiner bisherigen Besatzungen, Alpha. Abenteurer wie du selbst, Alkoholiker, Querulanten, mehrfach rausgeflogen, abgebrochene Ausbildung, der Bodensatz eben, der sich in jedem Hangar ansiedelt und den kein ordentlicher Kommandant anheuern würde. Frechheit im Grunde, uns mit solchen Typen zu vergleichen! »Wir sollten die Gelegenheit nutzen, uns über die kommenden Aufgaben zu verständigen«, fuhr Alpha fort. »Es könnte ja sein, daß die entsprechenden Vorgaben unserer beiden Dienststellen nicht völlig identisch sind. Und obwohl ich das Kommando führe, liegt mir viel an einer kollegialen Zusammenarbeit mit der Nygardcrew!« »Ich verstehe Sie nicht, Kommandant«, erwiderte Karel und spürte förmlich, daß Alpha wieder einen Sack in der Hand hielt, in dem ein ziemlich großes Katzenvieh rumorte und auf Freilassung hoffte. »Reden wir doch offen miteinander«, sagte Alpha hinter seinem Teeglas. »Die Kulturbehörde hat Interesse an der systematischen Erforschung und Dokumentation der technischen Frühphase. Sprich, an schönen Fundstücken, die in Museen und auf Ausstellungen etwas hermachen. Aber das Geld ist zu knapp gewesen für eine ordentliche Mannschaft. So sieht das von unserer Seite aus. Und ihre Behörde, Nygard, will ihr ehrgeiziges und umstrittenes Intergalaktikprogramm vorantreiben und versucht deshalb, sich mit anderen Dienststellen um fast jeden Preis gutzustellen. Aus diesem Grund sind Sie und Ihre Crew an Bord der ›Solara III‹. Außerdem, weil eine Hand die andere zu waschen pflegt, haben sie den Auftrag mitbekommen, sich nebenher ein bißchen um das Rettungssystem auf diesem Doppelplaneten zu kümmern. Nur, daß sich kaum jemand jemals hinter die Barriere verirren wird!« Karel setzte sein Teeglas ab. »Sie sind der Kommandant, Alpha. Sie geben die Anweisungen. Aber Sie tragen auch die alleinige
Verantwortung. Für alles, was während des Fluges geschieht! Mit mir ist kein Geschäft zu machen. Und mit meinen Leuten auch nicht!« »Im Klartext, Major Nygard, Sie würden Ihrer Behörde Mitteilung machen, wenn wir auf eine Inspektion der Rettungsinseln auf dem Mond verzichteten?« »Ich wünschte mir, daß Leute wie Sie einmal, nur ein einziges Mal, vor einer Rettungsinsel stehen, die jemand wie Sie inspiziert und gewartet hat!« Nygard stand auf und verließ die Kajüte. Zwar versuchte Rajna Kasabov noch, die Situation zu retten und Karel zurückzuhalten, aber der Erste Offizier schüttelte den Arm der Frau ab, wie man ein lästiges Insekt zu entfernen pflegt. Drei Tage später schwenkte die »Solara III« auf eine Parkbahn in den Mondorbit ein. Peer Alpha hatte die Kursänderung befohlen, ohne mit einer Silbe an sein Gespräch mit Karel Nygard zu erinnern. Aber die Beziehungen zwischen einem Kommandanten und seinem Ersten Offizier konnten kaum frostiger sein als die zwischen diesen beiden Männern. Kein persönliches Wort, keine private Geste. Kontakt überhaupt nur, wenn es dienstlich unumgänglich war. Am ersten Tag wurden zwei Landefähren eingesetzt, und Reinke de Vos und Jacob Boer sowie Raphaela Dimanci und Karel Nygard inspizierten die ersten Rettungsstationen auf dem Erdtrabanten. Sie glätteten Mikrometeoriteneinschläge und richteten eine der Notantennen, die Gottweißwer verbogen hatte. Kommandant Peer Alpha verbrachte den Tag in seiner Kajüte und beteiligte sich mit keinem Handschlag an diesen Arbeiten. Wählerischer, satter und zögernder wälzte sich die Tierpflanze durch die Straßenschluchten. Ein Haus war wie das nächste Haus, und es bestand kein Mangel an dem, was drinnen zu holen sein
würde. Außerdem fiel es der Walze immer schwerer, wieder zu sich selbst zu finden, wenn sie einmal in den Höhlen der Häuser verschwunden war. Zu gewaltsam drängten ihre Teile auseinander, weigerten sich die Grünsymbionten, ins Innere der lichtlosen Kavernen zu folgen, weideten unterdessen die tierischen Teile die Innenwände und die Hölzer ab, und nur mit viel Mühe war später die ungesunde Polarität im Walzenkörper wieder einigermaßen zu überwinden. Das Pflanzentier wußte nicht, daß es einfach übersättigt war mit Lignin und mit Spurenelementen, es spürte nur, daß der Aufenthalt im Inneren eines solchen Betonklotzes sein Gleichgewicht störte, und scheute Störungen solcher Art zunehmend. Doch vor einem fensterlosen Riesenklotz verharrte es und nahm eine lockende Duftspur auf. Die Sonne stand bereits tief, das Licht war weich und flach und, taugte kaum noch zur Assimilation. In seinem Gemüt überwogen folglich die Tiersymbionten, und die witterten Beute. Beute im Inneren des Klotzes, und die Anziehungskraft dieser Beute war unwiderstehlich. Die Tierpflanze war auf der Jagd. Die Witterung ging von einer Spur aus, und die Beute schien dem Geruche nach sowohl pflanzliche als auch tierische Elemente zu haben. Die Spur selbst war nur zentimeterbreit, und so schob sich lediglich eine schmale Zunge aus dem breiten Walzenkörper und folgte dem Beuteduft. Die Duftstrecke führte an den Betonklotz heran, zog sich ein paar Meter an der Wand entlang und verschwand in einer einzigen, vergleichsweise winzigen Öffnung im Innern. Und mit der Walze passierte, was zuvor noch nie passiert war. Nicht während des hektischen Rennens auf flachem Steppenboden, nicht in den Höhlen der Hausschluchten, nie zuvor. Die Walze teilte sich. Und es schob sich die Zunge durch die Öffnung, und während der große Walzenkörper draußen reglos verharrte, tobte drinnen der uralte Kampf um Tod oder Leben. Es war weder sicher, wer hier Beute und wer Opfer sein würde, noch ganz und gar, wessen Leben sich zum Ausgangsmaterial für Stoffwechselprozesse eines anderen vereinfachen würde.
II
Iru supren!
In der Festkaverne trieb die Abschlußfeier des Ausbildungsganges 211 ihrem Höhepunkt entgegen. Längst waren die Köstlichkeiten des Büffets geplündert worden, ein neues Büffet war aufgebaut und abermals abgeräumt worden. An der Bar kam man kaum nach, den Durstigen die Gläser zu füllen. Wieder und wieder. Die Welt kostete nichts. An diesem Abend war sie wohlfeiler als wohlfeil! Die Musik dröhnte. Der Boden der Kaverne schien zu zittern. Auf der Tanzfläche drängten sich die Terraten eng an eng, bewegt nur noch vom hämmernden Rhythmus der Tausendwattboxen. Es glänzten die Augen der Tänzer, es glänzten die Schweißperlen auf ihrer Haut, manche sangen lauthals mit, und von den Barhockern sah es aus, als zerrissen sich dort welche laut- und tonlos ihre Mäuler. Manuel hatte Alina endlich von ihrem Tisch in einer der hintersten Nischen wegziehen können unter das flackernde, grellbunte Licht, hinein in den Lärm, in den Rhythmus, in den Schweiß, in das Vergnügen. Die Trennung galt es hinauszuschieben. Um ein paar Stunden. Und er hatte ihr reichlich die Gläser gefüllt, bis auch ihre Augen zu glänzen begannen, bis auch ihre Bewegungen weicher und schwebender wurden, unbeherrschter, zwingender. Jetzt konnte sie konkurrieren mit allen Deboras dieser Welt. Er hielt sie in seinen Händen, sie drängte sich ihm entgegen, das tat sie gern und absichtlich, aber es wäre kein Platz gewesen selbst für eine geringe Distanz, dieser Tag war kein Tag für Distanzen jeglicher Art. A-Ebene oder E-Stollen, was spielte es schon für eine Rolle! Noch ein Tanz, noch ein Glas, einen Tanz, ein Glas, Tanz, Glas, Glas, Tanz!
Doch so nach und nach, wie von selbst, sammelten sich die 211er in einer Ecke der Tanzfläche, erzwangen sich ihren Platz für die Bildung eines Kreises, es hielt einer den anderen an der Schulter und wurde so gleichermaßen gehalten. Da war sie noch einmal, die Gemeinsamkeit der Ausbildungsjahre, da waren sie alle, Jacob Schwerte und Roger Cokker, Vanila Desmond und Tau Jun und Switek Neuwirth und Ran Al Trug und Alina Simon und wie sie alle hießen, die am heutigen Tag ihre Ausbildungsperiode hinter sich gebracht hatten und auf die das Leben wartete, das langersehnte, herrliche Terratenleben! Sie hielten gegenseitig ihre Schultern umklammert, der Kreis wurde enger und fester, ihre Füße stampften den Boden, als ließe sich der Fels der Kaverne, des Stollens, der ganzen Welt pulverisieren, wenn man es nur kräftig genug wollen würde. Die Köpfe bogen sich zur Kreismitte, und die Münder brüllten. »Iru Supren! Zur Oberfläche, zur Oberfläche, nach oben, oben, oben, oben! Iru supren!« Sie schrien, daß ihnen die Kehlen schmerzten, und dennoch ging ihre aufrührerische Parole unter im Lärm der allgegenwärtigen Musik. In ihrem Stampfen steckten Ansichten und Wahrheiten, Pläne und Realitäten, Wünsche und Wirklichkeiten. 211er! Der Ausbildungsgang, von dem man noch reden würde. Noch reden würde in vielen Generationen. Nun gerade. Dem Rat zum Trotz! Dieser Prüfung zum Trotz. Man würde sich nicht dividieren lassen, nicht aufteilen, noch enger zusammengerückt also und noch eine Runde im Stampfschritt, und wieder einer der Schreie: »Iru supren!« Jedenfalls ließ man sich nicht auf die Dauer trennen, von keinem, auch nicht von diesem Rat. Man war 211er! Als die Musik aussetzte, stampfte der Ring der Prüflinge seine Runden unbeirrt weiter. Und an der Bar thronte, einen reichlichen halben Meter über den Köpfen der 211er, Sylvie Debora, die schönste aller Terratinnen, und lächelte. Er würde ihr nicht entkommen können, der Manuel Maarli, der Kindskopf, der neue, der Mann mit Zukunft, denn wie zu hören gewesen war, hatte der Junge gute Chancen, einmal im Rat zu sitzen.
Die Trennung Manuels und Alinas vollzog sich ziemlich plötzlich und ungeheuer prosaisch. Da hatte Maarli sich den ganzen Abend ausgemalt, daß er sie unter tausend Küssen bis zu ihrem Fahrkorb bringen wollte, die Hand, wenigstens die Hand wollte er ihr bis zur letzten Sekunde halten, und dann vollzog sich alles ganz anders, sehr viel einfacher. Der Ring der 211er hatte sich allmählich aufgelöst, ihre Schreie waren verstummt, das »Iru supren!« war eindringlich genug kundgetan, und es interessierte sich niemand dafür, Allüren der Ausbildungszeit, bald genug vergessen! Und so wurden aus dem Ring 211 wieder die Einzelterraten, und der Einzelterrat Manuel Maarli hatte getrunken, viel getrunken, die Flüssigkeit wollte wieder heraus, um jeden Preis und sofort! Als Manuel in die Festkaverne zurückkam, stand da nur noch Jacob Schwerte mit ein paar Leuten aus seiner Ebene und drückte ihm einen zerknüllten Zettel in die Hand. »Soll ich dir von Alina geben«, sagte er und verschwand in Richtung Fahrkorb. Das Licht in der Kaverne war schon fast vollständig gelöscht, aus den Lautsprechern tröpfelten die Töne nur noch ganz leise, und die Kaverne leerte sich Zusehens. Das war die Minute der Debora. Sie, die die ganze Zeit an der Bar gesessen hatte, alles gesehen, alles beobachtet, sie glitt von ihrem hohen Hocker und kam langsam auf Manuel zu. »Wach auf«, sagte sie lächelnd. »Sie ist fort. Alle sind sie fort. Und für uns wird es auch Zeit!« Karel Nygard hatte es sich bereits vor vielen Jahren zur Gewohnheit gemacht, in jedem Fahrzeug, für das er Verantwortung trug, einen täglichen Rundgang zu unternehmen. Dabei fielen ihm alle die Kleinigkeiten auf, die mit wenigen Handgriffen in Ordnung zu bringen waren. Durchgebrannte Leuchtstoffröhren, schwergängige Ventile, warmgelaufene
Motoren im Lüftungssystem, Gerüche aus der Zentralregeneration. »Mit den eigenen Füßen gewinnt man am schnellsten eine Beziehung zu solch einem Kasten«, pflegte er zu erklären, wenn er auf seine Marotte angesprochen wurde. Denn die entdeckten technischen Fehlerchen zeigten sich natürlich auch auf dem Funktionsdisplay des Fahrzeuges. Aber Karel blieb dabei, er sah sich solche Dinge am liebsten vor Ort an. Nygard unternahm seinen täglichen Rundgang durch die »Solara III«. Das Fahrzeug war wie üblich menschenleer und die Minimalbesatzung so klein, daß ihm nur selten ein Besatzungsmitglied über den Weg lief. In der »Solara III« schien alles in Ordnung zu sein, als Karel, fast schon am Ende seines Rundganges, auf ein geöffnetes Schott stieß. Dieses Schott hätte eigentlich geschlossen sein müssen, denn es führte in die Anabiosekammern. Und da Kommandant Peer Alpha den Befehl zur Revitalisierung noch immer nicht gegeben hatte, hatte dort eigentlich niemand etwas verloren. Schon wollte Karel das Schott schließen, als er aus der Kammer eine Stimme hörte. Nygard ging vorsichtig näher und erkannte die Stimme, Reinke de Vos. Reinke saß auf einer Kiste vor einer der Röhren, in denen der Rest der Nygardcrew besseren Zeiten entgegenfror, und sagte: »Der Karel hat für solche Dinge keine Ader. Anders wäre es vielleicht, wenn er selbst jemanden hier liegen hätte, Tschilin. Dann würde er diesem Alpha vielleicht doch auf die Sprünge helfen. Aber so hat der uns in der Hand, spielt Katz und Maus mit uns. Was soll denn werden, wenn es ihm gefällt, euch während der gesamten Fahrt in Reserve zu halten, euch nicht mal mit auf die Erde zu nehmen, oder wenigstens nicht alle? Ich weiß, daß du mich nicht hören kannst, trotzdem muß ich es dir erzählen. Du würdest auch hier sitzen und reden, wenn die Situation umgekehrt wäre!«
Reinke hatte einen Taschenspiegel in der Hand und zerrte an seiner Krawatte. Aber die saß nach der Korrektur auch nicht viel besser. »Ich habe die alte Erde gesehen. Das sagt sich so einfach, aber wir sind mit einem kleinen Elektromobil auf dem Mond unterwegs gewesen, um eine Rettungsstation zu überprüfen. Die Sonne stand schon ganz tief, wir mußten höllisch aufpassen, dieser Jacob Boer und ich, weil schon relativ kleine Steine meterlange Schlagschatten warfen und ich nicht scharf darauf war, in einer der Spalten hängenzubleiben. Und dann schob sich direkt vor uns eine Kugel über den Horizont, viel größer als ein Fußball, milchgrau, aber wenn man genau hinsah, konnte man mit bloßem Auge Strukturen erkennen. Ich kann dir nicht sagen, Tschilin, ob es die sogenannten Kontinente waren oder nur Wolkenbildungen, wahrscheinlich nur Wolken, denn das alles floß so dahin, während die Scheibe ständig größer wurde. Ich hatte den Eindruck, ich würde direkt hineinfahren in dieses Ding, verstehst du! Nur Vollgas geben und auf der Stelle dort ankommen. Der Jacob Boer hat auch so ergriffen geglotzt. Ist schon ein traurig Ding mit dieser Kugel, Tschilin, daß wir sie so zugerichtet haben. Weißt du…« Karel Nygard zog sich leise zurück und ließ das Schott angelehnt. Der gute alte Reinke, dachte er. Die Sache mit der Anabiose muß geklärt werden! Nicht nur, damit diese beiden wieder zusammen leben können. Wir dürfen uns solche Erlebnisse nicht vorenthalten lassen. Da geht die Erde auf, immer noch groß und immer noch prächtig, wenn auch in Moll, und die Mehrzahl meiner Leute ist nicht dabeigewesen. Du mußt Farbe bekennen, Peer Alpha! »Gehen wir also auch«, sagte Sylvie Debora und zog Manuel Maarli leicht am Arm. Hinter ihnen wurde das Licht ausgeschaltet. Jetzt brannte in der Festkaverne nur noch die bläuliche Notbeleuchtung, wie überall in den Terratenschächten.
Es war vorbei mit dem Fest, es war vorbei mit den 211ern, und der Rat hatte sich zur Feier des Tages nicht lumpen lassen. Nicht mit dem Essen und dem Trinken gespart und vor allem nicht mit Sauerstoff. Und obwohl Manuel eigentlich traurig war, weil es ja immerhin auch ein Abschied, ein Abschied vor allem von Alina war, fühlte er sich prächtig, hätte er Felsbrocken versetzen können, wenn ihm welche im Wege gelegen hätten. Aber die Wege, die Sylvie Debora mit ihm ging, waren glatt und breit und bestens glasiert, ausgezeichnete Arbeit, das erkannte Maarli auf den ersten Blick. Sylvie Debora führte ihn von der Festkaverne zum zentralen Fahrkorb und drückte den Wahlknopf für die A-Ebene. Der Korb setzte sich in Bewegung. Sie fuhren eine ganze Weile, und eigentlich wäre in diesem Korb ausreichend Platz für zehn Terraten gewesen. Doch die Debora fand keinen anderen Ort als die Maarlische Schulter, und Manuel hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, daß ihn diese Geste störte. In der A-Ebene öffnete sich tatsächlich die Tür des Fahrkorbes, und den beiden Passagieren strömte frische, kühle, sauerstoffreiche Luft entgegen, die nicht vergleichbar schien mit dem Atemgas im Ausbildungsstollen. »Willkommen, A-Terrat Maarli«, flüsterte die Debora und zog ihren Schützling aus dem Fahrkorb. Hinter ihm schloß sich dessen Tür, und damit verging die letzte Spur jenes Geruches, der ihn während der vergangenen Jahre ständig umgeben hatte. Die Debora ging nun zwei oder drei Schritte vor ihm, und Manuel stellte sich ihren Gang vor, wenn sie, wie auf dem berühmten Foto, nichts trug außer jenem Kettchen aus Gold. Das Bild wollte nicht aus seiner Vorstellung, es saß tief, es wirkte intensiv, es wirkte im Kopf und in den Armen und in den Beinen und bis ins Glied. Manuel beschleunigte seinen Schritt und versuchte, die Hand der schönsten Terratin zu fassen. Sylvie Debora hatte zwar den ganzen Abend über gewußt, daß er ihr nicht verlorengehen würde, daß er ihr gar nicht verlorengehen
konnte. Aber er hatte sich während der Feier kaum um sie gekümmert, hatte sie an der Bar hocken lassen, als wäre sie Luft, hatte sich statt dessen mit jener kleinen, häßlichen Jugendgespielin herumgedrückt, die offensichtlich in eine niedere Ebene geraten war und deren Namen zu erfahren Sylvie Debora nicht einmal die Absicht hatte. So etwas tut man nicht, Kleiner, der ungeschickte Griff des Manuel Maarli verkehrte blitzschnell die Fronten, die Beute wurde zum Jäger, wie es sich gehörte, aber der Jäger war noch ein rechter Tolpatsch und ahnte nicht, daß da noch eine unbeglichene Rechnung war. Nein, mein lieber Maarli, dachte Sylvie Debora, eine winzige Strafe muß sein, damit sich bei dir die richtigen Maßstäbe herausbilden. Denn wenigstens das Alphabet wird man euch doch beigebracht haben, und es kommt das A allemal lange vor dem D oder E, wenn du schon keine Augen im Kopf hast, Maarli! Die Deborasche Hand entzog sich den Maarlischen Annäherungsversuchen, und das Lächeln der schönsten Terratin wurde eine Spur überlegener, und dann standen sie vor einer Wabentür. »Du bist zu Hause, Maarli«, sagte sie, öffnete ihm eine Tür und drückte ihm eine Plakette in die Hand. »Du wirst jetzt schön brav in deiner Wabe verschwinden, dich unter die Dusche stellen, damit du endlich diesen ekelhaften Geruch los wirst, das stinkt mir nämlich in der Nase wie eine Mischung aus Ausbildungsmief und E-Ebene, und wenn du hübsch brav bist und wie ein normaler ATerrat riechst, dann werde ich dich morgen früh wecken, und wir frühstücken gemeinsam!« Abermals entzog sich ihm ihre Hand, auch ihr Körper entwand sich ihm mit zwei, drei winzigen Bewegungen, er spürte einen sanften Stoß in den Rücken und stand allein in seiner neuen Wohnwabe. Mit seinem Eintritt war das Licht angegangen, ein Licht, das von überall und nirgends zu kommen schien, das keine Schatten warf und nicht blendete wie die Funzel in seiner alten Wohnwabe,
direkt über dem Tisch, an dem sie ihren Plan entworfen hatten, Jacob Schwerte, Alina Simon und er. Vor allem er. Eigentlich fast ausschließlich er. Und natürlich hatten sie davon gehört, daß ein A-Terrat gewisse Privilegien genießt, über die es aber kaum mehr als Gerüchte gab. Sie hatten solche Privilegien sogar zum Bestandteil ihres Planes gemacht, denn ohne einen A-Terraten mit dessen zusätzlichen Bewegungsfreiheiten würde die ganze Sache wahrscheinlich nicht laufen können. Aber erst in diesem Moment begann Manuel zu ahnen, was es bedeutete, privilegiert zu sein. Es bedeutete beispielsweise, daß sich der Wabe, in die ihn Sylvie Debora gestoßen hatte und die ihm schon ausreichend groß und geräumig vorgekommen war, eine weitere anschloß, noch größer, noch schöner als die erste. Daß in einem Raum mehrere Stühle vorhanden waren, daß es gar einen dritten, einen vierten Raum gab, daß jede dieser Waben offensichtlich unterschiedliche Funktionen zu haben schien, zum Sitzen, zum Schlafen, zum Essen. Daß in einem der Räume ein eigener Nahrungsautomat stand und im nächsten ein eigenes Kommunikationsterminal und daß jedesmal bei seinem Eintritt das Licht aufleuchtete und beim Verlassen des Raumes wieder verlosch. Das waren Privilegien, von denen man in der E-Ebene nicht einmal träumen konnte. Ausreichend Platz, ausreichend gute Luft, ein eigener Nahrungsautomat, Zugang zu Informationen. Manuel fand schließlich auch die Dusche, unter die ihn die Debora befohlen hatte. Und diese Dusche war nicht nur ein feuchter und kalter Rieselstein, der glatt und blank geworden war von der Vielzahl der Terratenrücken, die sich an ihm gerieben hatten, diese Dusche versprühte warmes und wohlriechendes Wasser in schier unglaublicher Menge, und Manuel begann laut zu singen. Schließlich und endlich fand er eine Liege und schlief sofort ein. Durch seine Träume zogen die Debora und Alina, Alina unter der warmen Dusche und mit einem Goldkettchen um die Hüften, und
Jacob Schwerte stand an seinem Nahrungsautomaten und stopfte sich die Taschen voll. Es hatte sich der kleinere Teil der Tierpflanze in den Betonklotz geschoben, spürte sofort eine heftige Bewegung und witterte den Beuteduft. Aber auch die Beute spürte, daß sich in ihrem Revier etwas verändert hatte, einem Revier, das sie seit ihrer Existenz für sich allein beanspruchte, in dem sie jeden Gang und jeden Winkel, jede Höhle und jede Röhre kannte und unzählige Male gegangen war, die Schnauze immer witternd am Boden entlanggeführt, immer auf der Suche nach Nahrung. Und die Veränderung, die die Beute erspürte, konnte nur Nahrung bedeuten, Nahrung, wie sie sich manchmal in das Revier verirrte, was der Beute jedesmal einen langwierigen und oft erfolglosen Raubzug durch die verlassene Stadt ersparte. Es war also kein Wunder, daß diese beiden sehr bald aneinandergerieten, die Tierpflanze und ein Wesen, das sich aus längst vergangenen Zeiten in diesen Betonklotz gerettet hatte, der einmal ein Getreidesilo gewesen war und der immer noch Nahrung spendete für ein Exemplar der Art Rattus rattus. Das Tier stürzte sich mit bösem Fauchen und spitzen Zähnen auf den Teil der Walze, aber da war nichts zum Beißen, da waren nur unerträgliches Gesumm und Gewirr und zahllose winzige Bisse und Stiche. Dieses Etwas widersprach allen Erfahrungen von Art und Individuum Rattus rattus, und so verpuffte dieser erste Angriff ohne jede Wirkung. Im Gegenteil, das rätselhafte Nichts schob sich vorwärts, und vor ihm floh die Ratte auf nur ihr bekannten Wegen. Aber die Tierpflanze folgte der Spur unerbittlich, wütend, denn hier hatte sie endlich gefunden, wonach sie instinktiv schon lange gesucht hatte, einen gleichwertigen und lohnenden Gegner, den man jagen, überlisten, mit der erdrückenden Übermacht aller
Symbionten angreifen konnte, um ihn anschließend zu verstoffwechseln. Die Flucht der Beute setzte sich fort. Sie führte in die steinharten Getreideberge, sie durchraste ihre Höhlen und Gänge, und die Tierpflanze verlor während der Verfolgungsjagd einen Teil ihrer Symbionten, weil auch die pflanzliche Beute ein riesiges Nahrungsreservoir darstellte. Die Wege und die Gänge und die Schlupflöcher waren ohne Zahl, und nur ganz allmählich erlahmte die Beute Rattus rattus. Das Tier war nicht mehr jung. Es verzichtete auf einen erneuten Angriff, auf weitere erfolglose Flucht, es setzte zum Sprung an durch das Loch in der Außenwand des ehemaligen Silos und sprang genau in den lauernden Teil der Tierpflanze. Die grüne Masse schlug über der Ratte zusammen, es gab kein Entrinnen. Wenig später schob sich der abgesonderte Teil aus dem Beton und vereinigte sich wieder mit der Hauptmasse des Körpers, ging es doch auch um den Anteil an der Beute. Während der Zeit, in der die »Solara III« am Peilstrahl entlang ihrem Ziel entgegengekrochen war, war ihr Leitstand häufig fast so leer gewesen wie der freie Weltraum. In diesem Leitstand gab es nichts zu tun, nichts zu überprüfen, nichts zu dirigieren. Außer einigen grünen Lämpchen, die Zustand und Weg des Fahrzeuges anzeigten und an denen man sich rasch sattgesehen hatte, war das Wandtableau abgeschaltet. Wenn sich jemand im Leitstand aufhielt, dann war es Nygard, der als Erster Offizier das Bordbuch führte und stets die gleiche lakonische Notiz zu Protokoll zu geben hatte: »Keine besonderen Vorkommnisse!« Kommandant Alpha hatte den Leitstand seit dem Start der »Solara III« vom Hangar nicht mehr betreten. Er hielt sich zusammen mit Rajna Kasabov im Kabinenbereich auf, und von der Minimalbesatzung interessierte sich niemand dafür; was die beiden dort den lieben langen Tag zu treiben hatten.
Jetzt aber, nachdem sie der Peilstrahl sicher ins Zielgebiet geleitet hatte, seitdem das Fahrzeug manövriert werden mußte, zuerst in eine Parkbahn um den Erdtrabanten, später durch die gefährliche Barriere, jetzt wurde der Leitstand langsam zu dem, wozu er konzipiert worden war, und jetzt tauchte dort auch der Kommandant regelmäßig auf. Zwischen ihm und seinem Ersten Offizier war seit der Auseinandersetzung kaum mehr ein Wort gefallen. Die beiden Männer wußten sehr genau, was sie voneinander zu halten hatten. Alpha war der Kommandant und Nygard sein Erster Offizier, Alpha führte das Kommando über die »Solara III«, und dennoch war die erste Runde an Nygard gegangen, haushoch. Der Erste Offizier hatte sich durchgesetzt, der Auftrag des Vizepräsidenten würde erfüllt werden, und müßten sie aus diesem Grunde monatelang auf dem Erdtrabanten herumtrampeln. Nur vier Leute waren in diese Arbeit einbezogen, der größere Teil der Truppe fror in der Anabiose. Und nur eine von fünf inspizierten Rettungsinseln war vorschriftsmäßig ausgerüstet. Das konnte kein Dauerzustand bleiben, weder das eine, noch das andere. Runde zwei war also eingeläutet, Kampfplatz war diesmal der Leitstand und erneuter Zeuge Rajna Kasabov. »Ich kann meine Leute nicht unbegrenzt belasten«, sagte Karel zu Alpha. »Die Arbeiten an den Rettungsinseln sind wesentlich umfangreicher, als das zu erwarten gewesen war. Interessant wäre vielleicht, unter wessen Kommando die vorausgegangene Inspektion gestanden hat! Und ich sehe auch nicht ein, weshalb sich vier Leute tagtäglich zwölf Stunden schinden sollen, während zehn Mann in der Anabiose liegen. Geben Sie endlich den Befehl zur Revitalisierung!« »Als wir uns das letzte Mal stritten, Major Nygard«, entgegnete Alpha, »bemerkten Sie richtig, daß ich hier das Kommando führe. Und daß ich die Entscheidungen treffe und verantworte. Wir könnten längst fertig sein, wenn Sie nicht aus jeder winzigen technischen Mücke einen Elefanten machen würden! In drei Tagen
legen wir vom Mondorbit ab und steuern die Barriere an, ich muß endlich meine Laderäume vollbekommen, verdammt!« »Ich leiste meine Unterschrift unter das Protokoll nur, wenn das gesamte Rettungssystem des Erdmondes ordnungsgemäß überprüft ist, Kommandant! Wenn Sie es also nicht auf einen Minderheitenbericht ankommen lassen wollen, müssen Sie schon warten, bis wir die Inspektion abgeschlossen haben. Was wird nun aus der Revitalisierung?« »Die Leute bleiben, wo sie sind! Ich schicke meine Truppen dann in die Schlacht, wenn ich es für richtig halte, Nygard!« »Sie können mich in das Arbeitsteam für die Inspektionsgänge einbauen, Karel!« sagte Rajna Kasabov. Sie sprach sehr leise, aber es dröhnte dennoch, als wäre im. Leitstand der »Solara III« eine Bombe hochgegangen. Manuel Maarli wachte auf, weil ihm jemand an seine Schulter gefaßt hatte und zu ihm sagte: »Gute Luft, Manuel!« Für einige Sekunden wußte der schlaftrunkene Maarli nicht, was mit ihm geschah und wo er sich befand: Erst ganz allmählich setzten seine Erinnerungen ein. Er lag in einer Wohnwabe, wie er sie sich nicht komfortabler vorstellen konnte und die er künftig bewohnen sollte. Mein Gott, und die letzte Nacht war eine gänzlich irre Nacht gewesen! Die Nacht der 211er, des stolzesten aller Jahrgänge! Wie sie einen Kreis gebildet hatten, wie unter dem Überfluß an Sauerstoff, unter den Klängen der Musik und der Wirkung des Alkohols die Farben vor ihren Augen verschwommen waren, wie die eigene Größe ins Uferlose gewachsen war, wie sie laut und deutlich ihre Absicht in die Festkaverne und in die Ohren aller Terraten geschrien hatten: »Iru supren!« Für alle Ewigkeit würde sie ihre Freundschaft verbinden, und wenn die Wände der Festkaverne nicht aus massivstem Fels
bestanden hätten, Sie wären gewiß geborsten unter dem Überdruck dieser Gemeinsamkeit. »Gute Luft, Manuel«, wiederholte die Stimme. Die Stimme gehörte einer Frau, aber das mußte immer noch eine Traumgestalt sein, die da zu ihm sprach, denn wenn er seiner Müdigkeit einen Blick abtrotzte, erkannte er Sylvie Debora, und die trug einen hauchdünnen Umhang, am Hals durch eine schmale Schleife gehalten, und unter dem Stoff erkannte Manuel sogar das Goldkettchen, das berühmte, das berüchtigte. »Frühstück!« sagte die Traumfigur zu ihm und verschwand wieder aus seinem Gesichtskreis. Die Debora. Bei der er angeblich noch einen Wunsch freihatte, wenn er sich recht erinnerte. Jedenfalls war davon die Rede gewesen, als das Fest gerade begonnen hatte und er sie auf der Tanzfläche in seinen Armen hielt. Aber am Schluß hatte sie ihn in diese Wabe befördert, allein, es war nicht mehr die Rede von einem freien Wunsch gewesen. Manuel Maarli war jetzt so wach, daß er irgendwo im Nachbarraum eine Tasse klappern hörte. »Kommst du endlich?« rief die Stimme. Es war also kein Traum, es handelte sich um reinste Realität, Frühstück war angesagt, gemeinsames Frühstück mit der schönsten Terratin, mit Sylvie Debora, die ihr Wort, gehalten hatte. Manuel schlug die Decke zurück, die er gestern irgendwo gefunden hatte, und deckte sich sofort wieder zu. Er hatte nichts an, und in Reichweite seiner Arme entdeckte er auch keines seiner Kleidungsstücke. »Frühstück!« rief die Debora, bereits im Ton um eine Spur ungehaltener, um gleich danach persönlich zu erscheinen. Manuel lächelte ihr verlegen zu. »Hast du irgendwo meine Sachen gesehen?« fragte er.
»Meinst du das alte Zeug? Das liegt natürlich längst in der Regeneration. Mit solchen Klamotten hättest du dich hier zum Narren gemacht!« Manuel zog die dünne Decke fast bis zum Hals, und Sylvie Debora begriff, weshalb der Newcomer nicht aufzustehen wagte. »Wir besorgen dir nach dem Frühstück neue Garderobe«, sagte sie und unterdrückte nur mit viel Mühe ein Lachen. »Vom Feinsten, damit du dich in unserer Ebene auch wirklich wohl fühlst. Und jetzt steh bitte auf. Der Kaffee wird langsam kalt!« Aber Manuel hielt nur krampfhaft seine Decke fest und antwortete nicht. »Hab dich nicht wie im Ausbildungsstollen oder wie in der EEbene«, sagte Sylvie Debora und löste die Halsschleife ihres Umhanges. Der leichte Stoff fiel zu Boden, direkt neben die Liege Manuels. »Du kannst ihn gern anziehen«, sagte Sylvie, »wenn dir unbedingt danach ist!« Und sie ging wieder in den Nebenraum. Das Kettchen um ihre Hüften funkelte bei jedem Schritt. Manuel stand auf, schlang sich eilig den Umhang um und folgte ihr. Sylvie Debora saß bereits wieder am gedeckten Tisch, der Kaffee dampfte, und die schönste Terratin war gerade dabei, ein Brötchen aufzuschneiden. »Ich mußte«, sagte sie lächelnd, »einige Papierservietten zweckentfremden, weil du dich gestern mit der Tischdecke zugedeckt hattest. Ich hoffe nur; es stört dich nicht!« Manuel setzte sich. »Ich finde überhaupt, daß es in deinem neuen Reich noch ein bißchen kahl aussieht. Das wird reichlich Arbeit machen. Du wirst doch die Einrichtung nicht so lassen wollen, wie du sie von deinem Vorgänger übernommen hast?« »Ich finde es sehr schön hier«, entgegnete Manuel. »Weil du noch keine Wabe gesehen hast, die gut eingerichtet ist, in der es ein bißchen Gemütlichkeit gibt. Das Ding hier ist ja
derart kahl, daß einem kalt wird! Und in deinen Schränken nur gähnende Leere!« Sylvie Debora war in ihrem Element. Sie kam kaum noch zum Essen, sie redete unaufhörlich, und Manuel fühlte sich unter ihrem Wortschwall immer unbehaglicher. »Weshalb machst du das alles? Weshalb kümmerst du dich so auffallend hingebungsvoll um mich?« »Stört es dich etwa, Maarli?« Unter dem Tisch näherte sich der Deborasche Fuß seiner Wade. »Nein, nein«, antwortete Manuel schnell, viel zu schnell. »Ich finde es nur ungewöhnlich. Ich bin doch erst seit ein paar Stunden…« Jetzt hatte der Fuß die Wade erreicht und bewegte sich dem Knie zu. Manuel war unter der unerwarteten Berührung zusammengezuckt. »Ich will dir das gern erklären, wenn du darauf bestehst«, sagte Sylvie lächelnd. »Obwohl ich finde, daß du ein bißchen freundlicher zu mir sein könntest. Erstens bin ich nämlich dein offizieller Betreuer für die ersten Wochen, bis du mit meiner Hilfe eine geeignete Beschäftigung gefunden haben wirst und bis du dich in der Ebene allein zurechtfindest. Mit den Gepflogenheiten ihrer Bewohner vor allem!« Der Fuß machte am Knie nicht halt, und Manuel saß wie festgenagelt auf seinem Stuhl. »Und zweitens«, fuhr die Debora fort, »verhehle ich nicht, daß du mir gefällst, Maarli, obwohl du das wirklich nicht verdienst!« »Obwohl du das wirklich nicht verdienst«, hatte sie wörtlich gesagt. Und sie hatte recht, er saß wie ein Klotz auf seinem Stuhl, er ließ sich von ihr bedienen und wußte nicht weiter. Irgendwie hätte er jetzt etwas sagen müssen oder vielleicht aufstehen und auf sie zugehen, vielleicht auch diesen dämlichen Umhang einfach wegwerfen, aber selbst dann würde zwischen ihm und ihr immer noch der Tisch bleiben und in seiner Hand immer
noch ein Brötchen mit süßem, klebrigem Zeugs. Überhaupt klebten seine Hände, und der unaufhaltsam wandernde Fuß der Debora verfehlte seine Wirkung auch nicht. Das alles tat sie mit dem harmlosesten, unschuldigsten Gesicht des gesamten Terratenschachtes. Es war ein Manuel Maarli im Umgang mit Terratinnen noch zu unerfahren, um das Verhalten dieser Debora und seine eigene Rolle im Spiel zu begreifen. Denn was treibt die Katze, eine Maus wieder und wieder laufenzulassen, dann zuzupacken und abermals begrenzte Flucht zu erlauben und sich dennoch ihrer Beute völlig sicher zu fühlen. Eben jene begrenzte Flucht erlaubte ihm Sylvie Debora jetzt, indem sie ihren Fuß zurückzog, sich die Finger ableckte, ungeniert, als gäbe es Maarli überhaupt nicht, aufstand, um den Tisch ging, ihre Hand durch sein Haar gleiten ließ und zu ihm sagte: »Nun sehen wir uns erst einmal gründlich deinen Wohnkomplex an, damit du nicht wieder im Vorraum schlafen und dich mit einer Tischdecke zudecken mußt!« Dabei lachte sie und hörte nicht auf, in seinem Haar zu wühlen, ihn auch daran zu ziehen. Es gab für ihn keine andere Wahl, als aufzustehen und ihr zu folgen. Weit ließ keine Katze eine Maus kommen, und der geliehene Umhang verdeckte und versteckte nichts. »Vorraum«, sagte sie, »auch als Gästezimmer zu benutzen oder wenn du einen Mitarbeiter aus einer niederen Ebene unterbringen mußt. Deshalb auch die Liege. Ich denke, den Raum lassen wir erst einmal so kahl, der hat Zeit. Die beiden Wohnräume hast du ja gefunden, Sanitärraum und Küche ebenfalls, zu überlegen wäre, ob sich die Thermalwanne noch ein bißchen vergrößern ließe. Aber das hat auch noch Zeit. Den Schlafraum hast du nämlich nicht gefunden, den Hobbyraum auch nicht, und die Existenz des Balkons hast du gar nicht vermutet!«
Sylvie Debora fegte durch den Wohnkomplex Manuels, als wäre sie hier zu Hause. Sie öffnete Schranktüren, die sich als Durchgänge zu immer neuen Räumen entpuppten, ihr Goldkettchen schwang bei jedem Schritt und schien um ihre Hüften zu kreisen. »Im Schlafraum findest du auch eine ordentliche Kluft«, erklärte sie schließlich und knotete ihm den Umhang auf. »Ich erwarte dich in einer Viertelstunde bei mir. Wir werden dich einkleiden, und danach steht uns der Antrittsbesuch bei Beland bevor. Künstler soll man nicht warten lassen!« »Antrittsbesuch?« »Antrittsbesuche werden uns in der nächsten Zeit tagtäglich beschäftigen. Du bist nämlich ein Nichts, wenn du keine Leute kennst. Und wer will schon ein Nichts sein!« Sie reckte sich auf die Zehen, trat an ihn heran und hauchte einen Kuß auf seine Lippen. Die Katze hielt es wieder für angebracht, die Maus ihre Krallen spüren zu lassen. Rein instinktiv. Den Umhang hatte sie lässig übergeworfen, er schwang weit und stand vorn offen, aber das störte sie offensichtlich nicht. Die Tür klappte hinter ihr zu, und Manuel war in seinem Wohnkomplex allein. Schon am nächsten Tag gestand sich Karel Nygard ein, Rajna Kasabov unterschätzt zu haben. Bislang hatte er die Frau lediglich als teeservierende Gespielin des Kommandanten gesehen, als jemanden, der auf eigene persönliche Entwicklung verzichtete, der sich auf Gedeih und Verderb an einen anderen gehängt hatte, und gediehen war dabei lediglich der Kontostand. Rajna Kasabov, das war in Karels Augen niemand anderes gewesen als ein weiblich geratener Peer Alpha, eine Nummer zu klein, um wirkliche Persönlichkeit zu sein, niemand also, der auf Dauer in eine Nygardcrew gepaßt hätte.
Und plötzlich wagte es diese Unperson, ihrem Herrn und Meister zu trotzen, dem Kommandanten die Stirn zu bieten, offen, öffentlich, und am anderen Tag tatsächlich vor dem Lander zu stehen, angetan mit einem unförmigen Außenanzug und auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden von Reinke de Vos oder Jacob Boer. »Sie fliegen mit de Vos im Lander zwei«, entschied Karel. Daraufhin öffnete die Unperson Rajna Kasabov ihre Helmscheibe und entgegnete: »Sie sollten mich nicht unterschätzen, Karel. Ich habe in den letzten Jahren reichlich tausend Ladungen geflogen. Die meisten davon auf der Erde!« Auch Reinke des Vos hatte seine Helmscheibe nochmals aufgeklappt und grinste über das ganze Gesicht. »Da hast du’s, Erster! Gib ihr schon einen eigenen Lander! Nach tausend Bodenberührungen!« Und er stakte zum Lander 3 und öffnete einladend die Einstiegsluke. Eine andere Entscheidung war damit ausgeschlossen, und von diesem Tag an legten drei Fahrzeuge von der »Solara III« ab. Die Arbeiten auf dem Erdtrabanten nahmen noch neun Tage in Anspruch, und Karel bereute keine Sekunde, beim ersten Start der Kasabov nachgegeben zu haben. Diese Frau arbeitete wie die besten seiner Leute, und wenn Karel und Reinke nach ihren Inspektionsgängen in der Mannschaftsmesse zusammensaßen, fragten sie sich manchmal, was eine Rajna Kasabov wohl derart an diesen Alpha gefesselt haben mochte. So grundverschieden wie das Verhalten von Katzen war auch das Sylvie Deboras. Oder vielleicht handelte es sich nur um den Versuch, die Maus noch einmal zu mästen, bevor sie in den Fängen zu verbleiben hatte. Jedenfalls meinte Manuel verblüfft, eine gänzlich andere Frau als noch vor wenigen Minuten vor sich
zu haben, als er den Wohnbereich der Debora betrat. Sachlich trat sie ihm entgegen, absolut nüchtern, allenfalls wie eine große Schwester, wenn man den Blick für bestimmte Zeichen der Vertraulichkeit fallen ließ. Manuel Maarli hatte mit Katzen ebensowenig Erfahrungen wie mit Terratinnen vom Schlage Debora. Die Montur, die er in den Schränken seines Schlafraumes entdeckt hatte, stammte noch von seinem Vorgänger. Die Ärmel waren zu kurz, die Hosenbeine endeten oberhalb der Knöchel, die Hose ließ sich nur mit Mühe und die Jacke überhaupt nicht schließen. »Das regeln wir sofort«, sagte Sylvie und schob ihren Schützling auf eine Drehscheibe vor einer Kamera. Auf dem Monitor erschien sein Bild. »Zieh dich aus«, wies sie ihn an, und allein ihre Stimmlage, die irgendwo zwischen Unteroffizier und medizinischer Masseuse schwang, ließ ihn erkennen, daß diesmal keine erotischen Absichten hinter dem Befehl verborgen waren. Sie setzte überflüssigerweise hinzu: »Ich brauche deine genauen Maße!« Während sich die Drehscheibe langsam in Bewegung setzte, wurde Manuel vermessen. Der Zentralcomputer speicherte seine Schulterbreite und seine Armlänge, registrierte Bund- und Halsweite, Größe des Kopfes und der Füße und zahlreiche andere Daten, mit denen Manuel nicht viel anzufangen wußte. Nach drei Umdrehungen jedenfalls waren die Messungen beendet, Sylvie Debora reichte ihm einen Umhang und sagte: »Und jetzt stellen wir gemeinsam deine künftige Garderobe zusammen!« Auf dem Monitor war immer noch das Bild des nackten Jünglings zu sehen. Sylvie Debora setzte sich vor ein Keyboard und ließ ihre Finger über die Tastatur gleiten. »Die Grundmuster der jeweiligen Stücke sind natürlich eingespeichert«, erklärte sie, während dem Monitorbild Manuels zumindest schon Unterwäsche zuwuchs.
Ihre Finger glitten über die Tastatur, als würde sie Klavier spielen wollen, und die Wäsche auf dem Monitor änderte allmählich ihre Form. »Du mußt mich unterbrechen, wenn dir etwas gefällt«, erklärte sie. »Ich löse dann eine Bestellung aus!« »Ich staune, wie du das machst«, entgegnete Manuel. »Es sieht so leicht aus, fast wie ein Spiel.« »Kunststück, ist schließlich mein Beruf«, erklärte sie lächelnd. »Falls sie dir im Ausbildungsstollen nämlich weisgemacht haben sollten, daß wir A-Terraten nur in unseren Balkonen lümmeln und uns Abend für Abend besaufen, uns über alle Maßen vollfressen und ansonsten unsere Körper pflegen und in allen Variationen unsere Libido austoben, dann haben sie dich ziemlich falsch informiert. Ich bin beispielsweise verantwortlich für den Entwurf der Muster aller Kleidungsstücke, die im Schacht getragen werden. Alles, was du sehen wirst und was du bisher getragen hast, ist über meinen Computer gegangen. Es sei denn, es wäre uralt!« »Dann könnte also jeder zu dir kommen und sich bei dir Maßgeschneidertes nach eigenen Entwürfen bestellen?« Sylvie Debora lachte laut auf. »Ganz so simpel ist es nicht. Aber im Grunde schon, doch natürlich nicht jeder. Gegen solche Art Verschwendung hat der Rat wohlweislich seine Aufwandsrichtlinien erlassen. Eine freie Auswahl ohne Beschränkungen in der Kalkulation haben nur wir A-Terraten. Je tiefer die Ebene, um so geringer ist der Aufwand, den ich treiben darf. Ab C-Ebene läßt sich das überhaupt nur noch mit Gemeinschaftskleidung verwirklichen!« Die Ärmel des Unterhemdes waren jetzt völlig verschwunden und hatten relativ schmalen Trägern Platz gemacht. Doch Manuel registrierte die Veränderungen seines Modells kaum. »Ich würde manchmal schon ganz gern ein bißchen Pep in das Graublau bringen«, fuhr Sylvie fort, »und wenn es nur mit einer bunten Borte oder ein paar hübschen Applikationen wäre. Aber
wenn ich mich zu solchen Entwürfen für die unteren Ebenen hinreißen lasse, komme ich mit den Kosten nicht klar, es fehlt dann wieder an den Stückzahlen, und der Rat zählt mich an!« Sie setzte sich ganz steif in ihrem Sessel auf und ahmte Jeanne Perra nach: »›Kleidung, mein Kind, soll vor allem funktionell sein!‹ Und ich setze mich dann stundenlang vor den Rechner und vereinfache und ändere, und von der schönen Idee bleibt halt gewöhnlich nicht mehr viel übrig!« »Solche Unterschiede empören mich!« rief Manuel. »Ich begreife auch ihren Sinn nicht!« »Ich schon«, entgegnete ihm Sylvie gelassen. »Unsere Produktionskapazitäten reichen einfach nicht aus, um allen Terraten Luxuskleidung, Luxuskavernen, Luxusmahlzeiten gewähren zu können. Nun kann eine Gesellschaft in einer solchen Situation die Armut gleichmäßig verteilen, oder sie kann einige wenige ihrer Mitglieder privilegieren. Und das tun wir, weil es der einzige Weg ist, das wenige, was wir an Kulturerbe von den Ahnen bekommen haben, den folgenden Generationen weiterzugeben. Schönheit kann man nämlich nur schaffen oder auch nur empfinden, wenn man selbst schön gekleidet ist, in einer schönen Umgebung lebt und nicht nur einfach satt ist, sondern kultiviert gespeist hat. Wir haben nun einmal das Pech gehabt, daß unsere Ahnen die Genbank für sehr viel wichtiger hielten als irgendwelche Kunstschätze. Wir haben nun einmal das Pech gehabt, daß das Kulturerbe der Menschheit entweder evakuiert wurde oder auf der Oberfläche verblieben ist. Aber das wenige, das mehr zufällig in unserem Besitz ist, das soll und muß erhalten bleiben, damit es später einmal wieder Allgemeingut werden kann. Wir brauchen nicht eine, wir brauchen Dutzende Genbänke. Deshalb hat die Ungerechtigkeit einen Sinn, mein Lieber. Und außerdem, wem es unten in der D-Ebene nicht gefällt, der soll sich gefälligst emporarbeiten. Ich habe auch in der C-Ebene anfangen müssen und habe es dennoch geschafft!«
In der Zwischenzeit hatte der freundlich lächelnde A-Terrat auf dem Monitor, der Manuel Maarli bis aufs Haar glich, einen weinroten, schmalen Slip an und ein gelbes, ziemlich knapp sitzendes Unterhemd. »Gefällt mir«, sagte Manuel, obwohl ihm auch andere Kombinationen zuvor schon zugesagt hatten. Aber da hatte er Sylvies Rede nicht unterbrechen mögen, da war auch für Sekunden der Plan der 211er durch seinen Kopf gegangen. »Von hinten auch?« fragte die Debora sachlich und drehte den Bildschirmdressman. »Auch von hinten«, bestätigte Manuel. »Okay, dann ordern wir zehn Garnituren, und ich mixe die Farben noch ein bißchen!« Der Bildschirmmanuel zog nun eine Hose an, und das Spiel mit Formen und Farben, mit Schnitten, Knöpfen und Nähten begann von neuem. Auf diese Weise verflog der erste Vormittag des Lebens in der AEbene. Zwar aßen Sylvie und er gemeinsam zu Mittag, aber dieses Essen in Sylvies Wohnanlage war nicht mehr als eine kurze, weil notwendige Pause in der mühseligen und zeitraubenden Prozedur, aus einem nackten Burschen einen gutgekleideten A-Terraten zu machen. Mit dem man sich sehen lassen konnte, die Katze Debora vor allem. Denn die wollte, wenn schon mit Maus, dann mit einem schönen Tier spielen! »Ich kann mich sehr gut erinnern«, sagte Reinke de Vos, »dich schon erheblich freundlicher lächeln gesehen zu haben!« Karel Nygard kam von einer Besprechung, zu der Kommandant Alpha geladen hatte. Doch selbst der Ausdruck »geladen« war reichlich beschönigend, »befohlen« wäre treffender gewesen, und auf dem Gesicht des Ersten Offiziers war nicht mehr die Spur eines freundlichen Lächelns zu entdecken.
»Stell dir vor«, sagte er, mühsam beherrscht, »der baut sich vor mir auf und läßt mich wie einen Idioten in den Radarkanal glotzen. In den gleichen Kanal, den wir ihm erst installiert haben!« »Na, ist doch ein feiner Zug von ihm«, stellte Reinke trocken fest. »Immerhin wird es also kein Blindflug. Welches Programm hatte der Kanal zu bieten?« »Die Barriere hatte er zu bieten, und du kannst mir glauben, sie ist kein hübscher Anblick. Das Bild sieht aus, als hätte jemand Zucker über einen Kuchen gestreut, reichlich Zucker, und würde anschließend zu dir sagen, daß du dir beliebig große Stücke abschneiden darfst, unter der Bedingung freilich, daß du mit keinem der Zuckerkristalle kollidierst. Denn jedes dieser zahlreichen Pünktchen kann wirklich das Ende der ›Solara III‹ sein!« »Aber Karel«, versuchte Reinke zu beschwichtigen, »wir wußten doch vorher, daß die gute alte Erde von einer ziemlichen Schale aus Raumschrott umschlossen ist. Aber durch die Barriere gibt es festgelegte Korridore, notfalls atomisieren wir uns also solch einen Weg und schleusen die ›Solara III‹ sicher durch das dichteste Gewimmel. Wo siehst du das Problem?« »Kommandant Alpha sagte: ›Nun, Nygard, wir nähern uns dem Hauptteil unserer Arbeit. Sie sehen selbst, es wird ernst. Was schlagen Sie vor?‹ Ich antwortete: ›Wir schwenken wie üblich in eine Parkbahn ein, Kommandant, und atomisieren uns eines der vorgeschriebenen Landungsfenster. Energie für ein solches Vorgehen ist reichlich an Bord!‹ Da hat mich unser lieber Kommandant aber angefahren: ›Dachte ich’s mir! Parkbahn ist okay, Nygard. Aber geschossen wir unter keinen Umständen, damit wir uns verstanden haben. Nicht ein einziger Schuß, Mann, oder ich lasse Sie nach der Rückkehr degradieren!‹« »Da hat er aber ein starkes Geschütz aufgefahren«, meinte Reinke. »Und uns hat der Vize ein herrliches Süppchen
eingebrockt. Aber wer der Nygardcrew die Suppe vom Teller nehmen will, der muß einen gewaltig langen Löffel haben! Das hat unser Freund Alpha bereits zu spüren bekommen, und diese Erfahrung wird er notfalls immer wieder machen müssen!« »Die Geschichte geht weiter«, fuhr Karel fort. »›Was jetzt im Radarkanal noch aussieht wie ein winziges Pünktchen‹, mischte sich zu allem Überfluß die Kasabov ein, ›ist fast in jedem Fall ein wichtiges Zeugnis der frühesten Raumfahrtgeschichte der Menschheit. Und solche Schätze zerstört man nicht, Karel, die haben der wissenschaftlichen Forschung erhalten zu bleiben!‹« »Die beiden nehmen uns regelrecht hoch«, sagte Reinke empört. »Denen geht es doch nur ums Geld. Wissenschaft, daß ich nicht lache!« »Warte ab, es kommt noch besser«, fuhr Karel fort: »›Ihre Leute haben doch sämtlich Außenborderfahrung?‹ fragte mich Alpha. ›Natürlich‹, habe ich geantwortet, ›sofern sie nicht gerade in der Anabiose liegen! Aber wir riskieren Kopf und Kragen und natürlich das Fahrzeug, wenn das Landungsfenster nicht absolut materiefrei ist!‹ ›Kopf und Kragen riskiert jeder, der seinen Fuß in ein Raumfahrzeug setzt‹, mußte ich mir anhören. ›Kopf und Kragen hätten Sie auch in der ›lntergalactica‹ riskiert. Aber dort hätten Sie es gern getan, denn dort waren Ruhm und Ehre zu gewinnen gewesen, Major Nygard. Wir in der ›Solara III‹ haben dagegen sehr konkrete Aufträge zu erfüllen. Sie die Ihren, ich die meinen. Hier ist eine Liste der zu bergenden Flugobjekte!‹« »Heißt das etwa im Ernst, daß wir nicht mal direkt landen werden, sondern aus diesem Gewimmel auch noch ganz bestimmte Objekte herauszusuchen haben?« fragte Reinke. »Ganz recht«, bestätigte Karel. »Unser Kommandant meint, daß wir große und leere Laderäume hätten, die es zu füllen gelte. Das sei schließlich sein eigentlicher Auftrag. Und die Kasabov hat mich freundlich angelächelt, weil das Luder genau gewußt hat, weshalb sie sich auf dem Mond so fleißig gegeben hat. Und du als mein
Freund wirfst mir vor, ich würde nicht freundlich genug aus der Wäsche schauen. Feine Kollegen habe ich, mein lieber Mann!« Sylvie Debora hatte an ihrem Rechner ganze Arbeit geleistet. Als Maarli mit ihr den Wohnbereich verließ, war keine Spur mehr vom kleinen, grauen Absolventen zu entdecken. An der Seite der schönsten Terratin ging ein selbstbwußter junger A-Terrat, elegant anzusehen, bekleidet mit einer graublau schillernden Kombination, darunter ein schneeweißer Pullover, und es sah ihm niemand an, daß er sich in den schmalen, lackschwarzen Schuhen noch reichlich beengt fühlte und sehr viel vorsichtiger auftrat, als er es gewöhnlich tat. In Sylvie Debora hatten sie sich allesamt getäuscht, damals im Ausbildungsstollen 211. Ihr Bild war herumgereicht worden, und sie hatten beileibe nicht das Goldkettchen bewundert. Diese Frau war von der C- zur A-Ebene aufgestiegen, sukzessive, und sie mußte diesen Aufstieg vor allem mit fraulichen Mitteln bewerkstelligt haben. Überhaupt pflegten in derart schönen Hüllen hohle Köpfe zu stecken, soviel Erfahrung meinte selbst ein Jacob Schwerte zu haben. Manuel wußte es inzwischen besser. Diese Frau hatte Rasse und Klasse, war Geist und Körper, mit ihr durfte man sich voller Stolz zeigen, allen zeigen! Das merkwürdige allerdings war, daß überhaupt niemand von ihm Notiz nahm, daß die wenigen ATerraten, denen das Paar auf dem Wege zum Belandschen Wohnbereich begegnete, wenn überhaupt, dann vor allem Sylvie Debora grüßten und von der Grußformel Manuels kaum Notiz zu nehmen schienen. »Mach dir nichts draus«, tröstete Sylvie, die seine Verärgerung bemerkte, ihn leise. »Das wird sich nach deinen Antrittsbesuchen ändern. Du bist den Leuten einfach noch nicht vorgestellt worden. Man nimmt solche formalen Dinge in unserer Ebene sehr genau. Solltest du dir merken!«
Und Sylvie Debora erwiderte freundlich den Gruß eines älteren, schon weißhaarigen Terraten, der wieder offensichtlich ihr und nur ihr gegolten hatte. Maarli beschlich das Gefühl, als habe seine Ausbildungszeit gerade erst begonnen. Die Lektionen setzten sich fort, denn Sylvie blieb mit ihm vor einer der Plastiken stehen, die in einer Nischenreihe in die Wand eingelassen waren. Mit einiger Mühe konnte man in der Skulptur Ähnlichkeiten mit Lima Verde entdecken, aber der Hals der Büste war weit über seine natürlichen Proportionen verlängert, selbst das Gesicht schien in der Längsachse verzerrt zu sein, Verde wirkte so noch schlanker, als er in Wirklichkeit war, und blickte ein bißchen hilflos und verloren aus seinem Marmor. »Ein echter Beland!« belehrte ihn seine Begleiterin. »Aus seiner länglichen Phase. Das solltest du wissen, bevor wir bei ihm eintrudeln. Und laß dir nicht etwa einfallen, Arbeiten aus seiner Querphase gut zu finden. Die hat er gerade erst überwunden. Ansonsten läßt du ihn reden. Nicht widersprechen! Er ist halt ein Künstler und braucht nichts so dringend wie seine Bestätigung!« »Mit anderen Worten, du willst mich schonend darauf einstimmen, daß unser Gastgeber ein ziemlich eitler Terrat ist!« Sylvie blieb vor einer der nächsten Büsten stehen, gleichfalls ein Werk Belands, ebenfalls aus der Längsphase, und sah Maarli nachdenklich an. »Darüber müßte ich gründlicher nachdenken«, entgegnete sie. »Aber ich bin eher geneigt, ihn nicht für besonders eitel zu halten. Allerdings kennt er seinen künstlerischen Wert und seine Bedeutung für uns Terraten sehr genau. Schließlich ist er der einzige, der Figuren schaffen kann. Und das heißt natürlich nicht nur, daß er so einfach daraufloswerkelt, sondern daß er sich in der Figurengestaltung und der Kunstgeschichte der Vorfahren auskennt. So, wie ich mich gründlich mit den Kleidungsgewohnheiten der Ahnen auseinandergesetzt habe. Wir sorgen dafür, daß bestimmte Traditionen erhalten bleiben. Mit Eitelkeit hat das wirklich nicht viel zu tun. Obwohl, wir
unterscheiden uns schon sehr grundlegend von den Wissenschaftlern der Ebene. Ein wissenschaftliches Problem wird nämlich gelöst werden, ob nun von diesem oder jenem Chemiker, Physiker, Biologen. Was wir aber nicht hervorbringen, wird niemand hervorbringen. Vielleicht macht uns diese Tatsache halt doch ein bißchen eitel. Aber du wirst dir dein Bild selbst machen können, wir sind nämlich da!« Manuel hatte sich Ralf Beland schon von seiner Tätigkeit her als einen großen, kräftigen Terraten vorgestellt, der den lieben langen Tag mittels Hammer und Meißel und unter Einsatz gewaltiger Muskelpakete auf den Stein einschlug und ihm Form aufzwang. Statt dessen öffnete ihnen ein spillrig dürres Männchen die Tür des Wohnbereiches, angetan mit einer Art Kimono, dessen Weite seine Schmächtigkeit nur sehr unvollkommen kaschierte. »Sylvie, meine Schöne!« rief Beland überschwenglich und umarmte die Debora. »Du glaubst nicht, wie mich die Sehnsucht nach dir bedrückt hat! Kaum, daß ich zu Atem komme, geschweige denn zu einem einzigen klaren Gedanken, mein Sylviechen!« Dann wand er sich mit gleicher Herzlichkeit Manuel zu. »Und das hier ist also unser junger Freund, unser neuer Mitbürger! Ach, wie sehr ich dich beneide, Jüngling, dieses herrliche Weib als Betreuerin, als Gespielin, aber kommt doch näher; kommt näher!« Er zog und schob seine beiden Gäste in den Vorraum und schloß hinter ihnen die Tür. »Ich hörte, du schönes Weib hättest dich unter das gemeine Volk gemischt«, redete er weiter. »Ich hörte sogar davon, du hättest nicht gesessen, du hättest an der Bar gethront, und die Massen sollen wieder wild und geil getobt haben, und durch alle Ebenen würden jetzt noch die kleinen Katerchen schleichen!« Noch während des letzten Satzes hatte er aus den Weiten seines Kimonos eine Flasche gezogen und auf den Tisch gestellt. »Ein Gläschen, meine Guten, zur Begrüßung, damit uns ordentlich warm wird!«
Das Gläschen fiel reichlich groß aus, und der Stoff, der ihnen vom Künstler angeboten wurde, war hochprozentig und heizte in der Tat tüchtig ein. »Das hättest du alles selber sehen und erleben können, wenn du Eremit dich aufgerafft hättest, mich zu begleiten«, hörte Manuel die Debora antworten. »Wollte ich ja, meine Schöne, hatte ich mir ganz fest vorgenommen! Du weißt ja, wie sehr ich mich dem Volke verbunden fühle, wie ich ein Bad in der Menge genieße, wie ich mich sehne, daß sie ›Vivat!‹ rufen, aber im gleichen Moment, in dem ich gehen wollte, fertig angekleidet war, überfiel mich eine Idee, und ich mußte an die Form, ob ich wollte oder nicht, ich mußte schöpfen, meine Schöne!« Der Künstler Beland war endgültig bei seinem Thema angekommen. Mit nur einem einzigen Glas hatte er seine Gäste auf das richtige Gesprächsgleis geführt, Ralf Beland konnte mit sich zufrieden sein, es würde ein guter Abend werden, das fühlte er, und der Neue war ihm durchaus sympathisch. Wenn er auch anfänglich gegen den Namen Maarli ein gewisses Vorurteil gehegt hatte, ein klitzekleines! Aber der Neue tat, was sein Gastgeber insgeheim von ihm erwartete. Ein Glücksfall für ihn und für Sylvie und natürlich für Beland, denn Manuel sagte: »Ich habe bereits einige Ihrer Arbeiten bewundern können. Sie gefallen mir ausgezeichnet, wenn ich das sagen darf!« »Sie dürfen, Sie dürfen!« rief Beland »Solches Lob ist ja gewissermaßen das Öl, mit dem unsere armen Seelen von Zeit zu Zeit eingerieben werden müssen, damit sie nicht verkümmern, nicht wahr, Sylvie, unsere empfindlichen Künstlerseelen!« Beland goß eifrig nach, das Eisen galt es zu schmieden, solange es heiß war, auf den Neuen, auf die Kunst, auf das herrliche, auf das ganze aufregende Terratenleben!
»Es muß doch ungeheuer anstrengend sein«, sagte Manuel, »mit den bloßen Händen an einem Stein zu arbeiten. Wir haben während der Ausbildungszeit selbst mit Hammer und Meißel…« »Ach Gottchen, Sylvie, ist der Knabe putzig!« unterbrach ihn Beland mitten im Satz. »Mit Hämmerchen und Meißelchen, mein Gottchen!« Zum dritten Mal wurden die Gläser aufgefüllt. »Bin ich etwa ein Hüne, junger Terrat?« fragte Beland. »Betreibe ich nun Kunst oder Bodybuilding? Nein, nein, die Frage nach dem Hämmerchen kannst du schnell wieder vergessen. Wir Terraten leben zwar im Stein, aber doch nicht mehr in der Steinzeit, nicht wahr!« Ralf Beland erhob sich und führte seine beiden Gäste in einen der Nebenräume. »Du kennst dich ja in meinem Reich aus, Sylvie«, sagte er, und sein weiter Kimono schlackerte bei jedem Schritt um die dürren Beine. »Mein Atelier, junger Mann!« rief er pathetisch aus, als sie einen leeren Raum betreten hatten. »Und die Arbeit geht so vonstatten, daß ich mein Modell in den Mittelpunkt der Drehscheibe stelle, es wird über Kameras an den Wänden erfaßt, die jeweilige Struktur im Rechner gespeichert, und erst dann plaziere ich den Stein, und den Rest erledigen automatisch die Plasmabrenner. In der Zwischenzeit sitze ich schon wieder gemütlich vor dem Informationsterminal!« Er zerrte Manuel in einen weiteren Raum. Dort standen die fertigen Skulpturen aufgereiht. Ihre Oberfläche war glasiert und verlaufen, die Brenner hatten das überflüssige Material abgeschmolzen, und in einige der Plastiken hatte der Schmelzfluß breite Rinnen gefressen. »Wenn die Brennerautomaten mit dieser Vorarbeit fertig sind, beginnt meine Feinarbeit«, erklärte Beland. »Glasurnasen entfernen, Schmelzrinnen verglätten, und in dieser Phase kommt
es in der Tat vor, daß ich zum Hammer greifen muß, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Aber meistens läßt es sich vermeiden. Die Rohlinge dienen schließlich nur dazu, das endgültige Gußnegativ herzustellen!« Er zerrte eine Kautschukform aus einem Regal und knetete an ihr herum. »In diesem Stadium nämlich beginnt erst der eigentliche künstlerische Prozeß, beginnt mein Schöpfungsakt«, rief er aus, und Manuel sah, wie sich die Gußform unter seinen Händen veränderte. Und Sylvie Beland stand neben ihm und lächelte. »Wenn ich jedoch wirklich erstklassige Arbeit leisten soll«, sagte Beland indessen, »dann mache ich den Abguß direkt vom lebenden Modell. Nicht über den Umweg der Brennerautomaten. Dann wird alles viel genauer, dann erst werden Feinstrukturen sichtbar, dann bekommt eine Plastik Seele und ihren unverwechselbaren Charakter!« »Aber für dein Modell ist es eine grausame Prozedur«, warf Sylvie ein und führte Manuel zu einer überlebensgroßen Figur, die zweifelsfrei nach einem Abguß von ihr entstanden sein mußte. Selbst das charakteristische Hüftkettchen war nicht vergessen worden. »Mir kommt eine Idee!« rief Beland und ging einmal um Manuel herum. »Er wird mein nächstes Modell sein, Sylvie, er, dein schöner Jüngling! Und schon morgen fangen wir mit der Arbeit an!« »Das wirst du mit Sicherheit nicht tun, mein lieber Ralf«, widersprach ihm die Debora freundlich, aber sehr bestimmt. »Wenn dir Maarli überhaupt zur Verfügung steht, dann wirst du ihn vorher fragen müssen, in aller Form, versteht sich. Schließlich hast du nicht irgendeinen B- oder C-Terraten vor dir, dem du einfach befehlen könntest. Und in den nächsten Wochen bleibt ihm für solche Experimente ohnehin keine Zeit. Schließlich hat mich der Rat…«
»Der Rat, der Rat, meine Schöne, das Rätchen«, hatte Beland daraufhin verärgert ausgerufen, »das Rätchen kann mich mal! Ich will dir einen Grundmangel unseres Rates anvertrauen, Jüngling! Es gibt keinen Künstler im Rat, weißt du, keinen einzigen Künstler. Durch die Bank mangelt es ihnen an Phantasie. Sture Technokraten, durch und durch sture und einfallslose Technokraten! Und von dir bin ich bitter enttäuscht, meine teure Sylvie!« Längst stand eine zweite Flasche auf dem Tisch, längst war es Manuel mehr als nur warm geworden, längst konnte er die vielen Belandschen Skulpturen nicht mehr auseinanderhalten. »Du wirst es schon überleben«, tröstete Sylvie den Bildhauer. »Außerdem ist schon manche Idee durch ein bißchen Geduld nur noch besser geworden! Hast du übrigens bei Lima Verde den erhofften Erfolg gehabt?« »Sagte ich es nicht bereits? Kein Künstler im Rat, alles Banausen, und zugeknöpft bis obenhin, wenn es um Kultur geht!« Er wandte sich direkt an Manuel, vor dessen Augen sich die Wabe Belands langsam zu drehen begann und der schon wieder ein volles Glas in seiner Hand hielt. »Dabei sind es keine zehn Kilometer«, empörte sich Beland. »Wenn du in den Balkon steigst, kannst du das Gebäude fast mit bloßem Auge erkennen! Plastiken lagern dort, Skulpturen, wie sie noch kein Terrat im Original gesehen hat. Hinterlassenschaft der Ahnen. Aber der Rat weigert sich, einen Stollen in den Fels schmelzen zu lassen und die Kostbarkeiten in Sicherheit zu bringen. Wie lange noch, und dann wird dieser oberirdische Museumsbau einstürzen, steht doch schon seit einer Ewigkeit in Wind und Wetter. Aber nein, erklärte mir Verde, der Rat hätte wichtigere Dinge zu erledigen, als historische Plastiken in den Stollen zu holen und uns dabei vielleicht noch eine Infektion einzufangen!« Mit einem Schlag war Manuel Maarli vollkommen nüchtern. Urplötzlich fiel ihm der Plan der 211er wieder ein, denn in diesem
Mann entdeckte er einen ersten Verbündeten. Dieser Beland wollte wie die 211er um jeden Preis an die Oberfläche, selbst wenn es ihm lediglich darum ging, die Schätze eines Museums auszuräumen und in den Schacht zu verbringen. »Sobald ich mich ein wenig eingelebt habe«, sagte Manuel mit Blick auf Sylvie, »werde ich dir bestimmt zu einem Abguß zur Verfügung stehen, Ralf Beland!« Es wurde noch ein sehr gelungener und harmonischer Abend im Wohnatelier des Bildhauers. Die Zeit, in der »Solara III« inmitten der Barriere kreiste, war die Hölle, und Kommandant Alpha entpuppte sich als Wiedergeburt Luzifers. In Permanenz leuchtete die Alarmanzeige des Fernradars, sie verkündete so viele Gefahren, daß niemand mehr von ihr Notiz nehmen konnte. Es schrillten in immer kürzeren Abständen die Alarmsirenen durch das Fahrzeug, und die Minimalbesatzung hastete immer unausgeschlafener auf ihre jeweilige Notposition. Und wenn man noch ausreichend Zeit fand, einen Blick aus den Bullaugen zu werfen, hatte man wahrlich allen Grund, kalte Schauer auf dem Rücken zu spüren, denn dann waren es manchmal nur zweihundert, hundert oder noch weniger Meter Distanz zu einem gefährlichen Metallstück, das ehemals Satellit gewesen war oder doch Teil davon und das jetzt unberechenbar torkelte. Die »Solara III« steuerte in der Barriere umher, und Alpha schien den Begriff »Furcht« nicht zu kennen, er lenkte sein Fahrzeug persönlich durch diese Klippen, als hätte er hundert Parsek freien Raumes um sich oder säße lediglich in einem Simulationsraum. Der Mann, der sich wochenlang nicht um das Fahrzeug gekümmert hatte, von dem Karel und Reinke manchmal gedacht hatten, es gäbe ihn überhaupt nicht, dieser Alpha war nicht wiederzuerkennen. Da wurden waghalsige Wendungen geflogen, es wurden blitzschnelle Bremsmanöver eingeleitet und maßlos hohe
Beschleunigungswerte befohlen, es wurde jedes geschriebene und ungeschriebene Gesetz der Raumfahrt übertreten, es riß die Männer aus ihren Kojen und spülte ihnen ihren Kaffee aus den Tassen. Alpha, nie zuvor hatte es die kleine Nygardcrew so deutlich gespürt, war in seinem Element, und es war seine Kaltschnäuzigkeit, die ihn den anderen gegenüber so unanfechtbar überlegen machte. Und seine Karten, die ihm die Überlegenheit sicherten, Karten, in denen die wichtigsten Bahnparameter vieler historischer Objekte eingezeichnet waren und die er weiß Gott wo und wann aufgetrieben hatte. An die er niemanden heranließ, wahrscheinlich nicht einmal Rajna Kasabov, mit der er sonst alles teilte. Und während all dieser Manöver stand immer ein Mann an der geöffneten Ladeluke, ausgerüstet mit dem Handradar, und ein zweiter Mann schwebte im freien Raum, rund um die Uhr war das so. Ihre Arbeit auf dem Erdtrabanten erschien ihnen dagegen wie eine Erholungskur. Gegen den Flug in der Barriere wäre eine Expedition der »Intergalactica« das reinste Kinderspiel gewesen. Kommandant Alpha gab niemals auf, jagte einem gesuchten Objekt unerbittlich nach, denn manche der frühen Raumkörper waren ins Trudeln gekommen, hatten die ihnen zugewiesenen Bahnen verlassen und sich eigenständig und eigensinnig auf Abwege begeben. Aber der Kommandant der »Solara III« gab selbst dann nicht auf, wenn es einen ganzen Bordzyklus dauerte oder auch zwei oder drei und wenn der Bordcomputer allein bei der Bahnberechnung des Flugkörpers ins Schwitzen geriet. Wenn das Wild auf der Abschußliste stand, mußte es erlegt werden. So lautete das einzig gültige Gesetz in der »Solara III«. Was Wunder, daß Alpha erneut mit Nygard aneinandergeriet, zumal, als er einen der mühsam aufgespürten Körper nur wenige Minuten an Bord behielt, ein paar Teile ausbauen ließ und den Rest wieder auf eine Umlaufbahn aussetzte.
»Für derartige Spielchen setzen wir unser Leben ein!« hatte Karel laut und deutlich gesagt, auch de Vos, Jacob Boer und Rajna Kasabov hatten den Satz gehört, und Alpha mußte einfach reagieren. »Bisher«, sagte der Kommandant noch nicht einmal laut, »bisher sind Sie nicht schlecht gefahren, Erster Offizier! Aber ich wußte natürlich nicht, daß Sie ein Feigling sind! Wenn Sie wollen, können Sie mit dem ersten Lander niedergehen. Ich rate Ihnen dennoch zur Vorsicht, dort unten auf der Erde gibt es möglicherweise noch Tiere, die Sie beißen könnten!« Er ließ Karel stehen, noch bevor der antworten konnte. »Die Runde scheint mir eindeutig an den Chef gegangen zu sein«, stellte Jacob Boer leise fest und ging ebenfalls. »Du könntest ihn absetzen«, meinte Reinke de Vos. »Es reicht für ein Raumkonfliktverfahren. Er verstößt gegen alle nur denkbaren Sicherheitsbestimmungen. Zumindest nach dem Raumrecht unserer Behörde. Und wir können jedes Kommando dokumentieren, ich habe alles aufgezeichnet. Aber das würde natürlich einen ganz schönen Wirbel machen. Und den mag unser Herr Vizepräsident mit Sicherheit nicht! Scheißspiel, Alpha hat uns in der Hand, was immer passieren mag!« Nur Rajna Kasabov sagte später: »Es wird Ihnen nicht viel nützen, Karel, aber ich entschuldige mich für den rüden Ton des Kommandanten!« Und Karel Nygard glaubte nur zu gern, daß sie diesen Satz ehrlich gemeint hatte. Zwei Tage später stand die Welt auf dem Kopf, war Peer Alpha nicht mehr Peer Alpha und Karel Nygard nicht mehr Karel Nygard, blieb niemand der, der er Tage, Stunden, Minuten zuvor gewesen war. Am wenigsten Jacob Boer. Der nämlich bildete zusammen mit Reinke de Vos ein Fängerteam, saß in der
geöffneten Ladeluke, was ihm wenige Minuten später das Leben retten sollte, und hatte das Handradar vor seinem Helmschirm. »Paß auf«, rief er de Vos zu, »ein kleiner Metallsplitter, drei Raumgrade konkav driftend. Den kannst du atomisieren, der ist viel zu klein und für Alpha höchstwahrscheinlich uninteressant. Auf der Abschußliste ist jedenfalls nichts über dieses Splitterchen vermerkt!« »Okay!« antwortete de Vos, »ich werde mir das Ding trotzdem genauer ansehen!« Der Text war aufgezeichnet, und später hörte sich Karel Nygard das Band wieder und wieder an. Aber es nahm weder ihm noch Jacob Boer auch nur ein Jota Schuld von den Schultern. Die Aufzeichnung dokumentierte eine Pause von einer reichlichen Minute, dann war erneut Reinke de Vos zu hören: »Kleiner Metallsplitter, Boer? Hast du Tomaten auf den Augen? Das ›kleine Metallsplitterchen‹ wiegt grob, geschätzt an die hundert Tonnen!« »Kann nicht stimmen!. Mein Radar schlägt kaum an. Kannst du das Objekt bereits identifizieren?« »Ich pirsch mich mal ran«, antwortete Reinke. »Bin jetzt noch zu weit entfernt. Und dein Radargerät möchte ich nach Feierabend auf meiner Werkbank vorfinden, okay!« Weder er noch Jacob Boer hegten zu diesem Zeitpunkt Verdacht, daß der Satellit radargetarnt sein könnte und daß diese Tarnung ihren guten beziehungsweise bösartigen Grund hatte. Nachweisbar war später weiterhin, daß Reinke de Vos in diesem Augenblick seine Sicherheitsleine um genau siebentausenddreihundertachtzig Meter ausgefahren hatte und daß er dem Flugkörper mit ziemlich hoher Geschwindigkeit entgegensteuerte. Doch während der Annäherung des Kosmonauten schien der Satellit plötzlich lebendig zu werden. Aus seiner Oberfläche heraus begannen Lichtquellen genau definierte Signale abzustrahlen, und
es tasteten sich Sensoren in den freien Raum. Der vorher glatt kugelförmige Körper sah nun aus, als hätte ein Igel seine Stacheln aufgerichtet. Diese Verwandlung konnte selbst Jacob Boer erkennen, der das Objekt mit dem Fernglas beobachtete. Und wäre da nicht sein ebenfalls beweisbar aufgezeichneter Satz gewesen: »Sofort zurück, Reinke!«, dann hätte ihm Karel Nygard eigenhändig den Hals umgedreht. Aber der Satz war ausgerufen worden, er stellte einen eindeutigen Befehl dar, und Reinke de Vos hatte gegen diesen Befehl verstoßen. Der Satellit war neun Kilometer von der »Solara III« entfernt und näherte sich ihr weiter an. Und dann mußte de Vos plötzlich begriffen haben. »Scheiße, verdammte!« schrie er und warf sich mit dem vollen Schub seiner Düsen der Metallkugel entgegen. Die Sicherheitsleine surrte ab wie eine Angelschnur, an der ein Hecht angebissen hat. Und dann kappte Reinke de Vos seine Sicherheitsleine, löste damit an Bord der »Solara III« Generalalarm aus und rettete, etlichen Besatzungsmitgliedern auf diese Weise das Leben. Als der atomare Killersatellit hochging, saß jedenfalls die Mehrzahl der Minimalbesatzung angeschnallt auf ihren Alarmpositionen, und Reinke de Vos hatte es außerdem geschafft, das Geschichtsdokument besonderer Art sechsundzwanzig Kilometer von der »Solara III« abzudrängen. Zu mehr hatten die Treibstoffreserven seiner Schubdüsen nicht ausgereicht. Es gab für das Pflanzentier, wie für jedes lebende Objekt, nichts, was sich schneller eingeprägt hätte als der Erfolg. Der Nahrungserfolg vor allen anderen Erfolgen. Vermochte das Sonnenlicht auch, gelegentlich die tiefe graue Wolkenschicht völlig aufzulösen und über Mittag verschwenderisch vom Himmel zu brennen, energiereicher denn je, weil von keiner Ozonschicht mehr behindert und gefiltert, so war die Ernährung des Gesamtorganismus über die Assimilation der pflanzlichen Symbionten doch eine wenig ergiebige Angelegenheit. Für den
entstehenden Traubenzucker waren zahlreiche Umschichtungen nötig, bis man daraus all die anderen lebenswichtigen Substanzen aufgebaut hatte, und es blieb schließlich kaum genügend Energie, eine kalte Nacht ohne ernsthaften Schaden zu überstehen. Etwas anderes war da schon die Jagd auf ein eiweißreiches Beutetier, dessen Körper in hoher Konzentration all die Nährstoffe anbot, die über die Assimilation mühsam aufgearbeitet und umverteilt und erneut verarbeitet werden mußten, Fette nämlich und Eiweiße und hochwertige Kohlehydrate. Also rollte die Walze langsam durch die Straßenschluchten, sandte sie ständig ihre Kundschafter aus, gespickt mit Symbionten, die Beute weit zu wittern verstanden, und legte sich vor den Gebäuden auf die Lauer. Die Rechnung war einfach und schien immer aufzugehen. Während die Hauptmasse des Pflanzentieres auf der Lauer lag, konnten ihre grünen Symbionten ungehindert assimilieren. War der Beutezug der Kundschafter erfolglos, hielt sich der Verlust in engen Grenzen. Aber der Erfolg war meist sicher, die Stadt voller Rätsel, die von den Menschen aufgegebenen Gebäude voller Leben, der Erfolg folglich die Regel, der Mißerfolg die Ausnahme. Der Körper der Tierpflanze wuchs und wuchs, und gänzlich unbemerkt blieb, daß in jedem der Jagdreviere verschiedene Symbionten zurückgelassen werden mußten, die dort ihr Eigenleben zu führen begannen. Es waren schließlich doch noch etlichen Flaschen die Hälse gebrochen worden anläßlich des Antrittsbesuches des Novizen Maarli bei Beland. Und viel geredet worden war auch, über die wenigen originalen Kunstwerke aus der Zeit der Vorfahren, die in den Schacht hatten gerettet werden können und über die vielen Kostbarkeiten, die draußen vergammelten, und wie deren Bergung das Kunstverständnis der Terraten verbessern würde. Heiße Themen, neue Flaschen, und Katz und Maus, will heißen Sylvie und Manuel, waren im Ergebnis des Abends gleichermaßen
besoffen, und so entschied die Katze abermals, ihre Krallen einzuziehen und die Beute ein letztes Mal entschlüpfen zu lassen, denn ihr war nach diesem Besuch und der endlosen Diskussion viel mehr nach Ruhe und Schlaf und Körbchen und viel weniger nach Frischfleisch. Manuel seinerseits kämpfte auf dem Heimweg mannhaft um seinen aufrechten Gang. Das gestaltete sich noch relativ einfach, solange sie sich gegenseitig stützen konnten, die Katze und er. Das letzte Stück des Weges jedoch schwankte sehr rege, zweimal mußte Manuel den Fels küssen, und er war froh, als er seinen Wohnbereich endlich gefunden hatte und bis in seine Schlafwabe vorgedrungen war. Am anderen Morgen erst bemerkte er, daß er noch nicht einmal die schöne neue Kombination ausgezogen hatte, die unter Sylvies Computerkünsten entstanden war. Das Kleidungsstück war nach der Nacht und nach den Berührungen mit dem Fels nur noch halb so schön. »Verschenk es an einen B-Terraten, der freut sich darüber«, würde Sylvie gesagt haben, wenn sie neben ihm gelegen hätte, aber die Katze hatte bekanntlich anders entschieden. Der Kopf tat Manuel noch ein bißchen weh, der Schmerz erinnerte an Belands Flaschen und würde sich unter der kalten Dusche vergessen lassen, halb so schlimm also, verglichen mit dem Zugewinn der vielen positiven Neuigkeiten, die ihm der Antrittsbesuch eingebracht hatte. Es stimmte also absolut nicht, daß die Regentschaft des Rates in allen Ebenen unumstritten war, daß seine wichtigste Stütze die ATerraten waren, es gab im Gegenteil sogar in der A-Ebene Kräfte, die den Marsch der 211er an die Oberfläche unterstützen würden, wenn man sie nur geschickt genug in die Pläne einzubinden verstand. Und ob es einer Debora nun paßte oder nicht, der Bildhauer Beland sollte seinen Abguß bekommen, sollte ihn sogar recht bald bekommen, denn nur heißes Eisen war ausreichend leicht schmiedbar!
Manuel stand auf, entledigte sich der zerknitterten Kombination und stellte sich unter den eiskalten Wasserstrahl. Die Kälte prickelte auf seiner Haut, und die Kopfschmerzen verflogen bereits in den ersten Sekunden. Nach und nach regelte er die Temperatur höher. Am Schluß war das Wasser so heiß, daß sich seine Haut rötete. Er hätte singen mögen vor Wohlbehagen, und so sang er schließlich auch, laut und falsch, und niemand fühlte sich durch seinen Gesang gestört. Die Welt war herrlich, das Leben wundervoll, also voll von Wundern, wörtlich genommen, und das nächste Wunder würde sein Balkon werden. Er wußte nicht so genau, was sich hinter dem Wort eigentlich verbarg, aber die Blöße wollte er sich nun doch nicht geben, die Debora nach jeder Kleinigkeit seines neuen Lebensbereiches fragen zu müssen, zumal er in der Wohnwabe bereits einen Schalter entdeckt hatte, der deutlich mit dem Wort »Balkon« gekennzeichnet war. Als er ihn betätigte, leuchtete neben dem Schalter ein Display auf: »Balkon gasdicht!«, und zu Manuels Überraschung öffnete sich gleichzeitig ein kreisrunder Durchbruch in der Decke seiner Wohnwabe, und aus dieser Öffnung senkte sich langsam eine Wendeltreppe zum Fußboden. Sein Vorgänger in diesem Wohnkomplex mußte die Treppe nicht mehr sehr häufig benutzt haben, denn die Konstruktion knarrte und quietschte und verkantete während der Abwärtsbewegung einige Male. Sie wäre vollends auf halbem Wege hängengeblieben, wenn Manuel sie nicht mit einem kräftigen Ruck in die richtige Lage gedrückt hätte. Endlich stand die Leiter fest auf dem Boden, das Display am Schalter änderte seinen Text. »Balkonzugang frei«, und Manuel setzte seinen Fuß auf die erste Stufe. Die Wendeltreppe führte weit hinein in den Fels. Ein Ende der Stufen war noch nicht zu erkennen, aber das vergleichsweise filigrane Eisengeflecht hörte bald auf und machte massiven Steinstufen Platz. Dazu kam eine
sich ständig steigernde Helligkeit der Wandbeleuchtung, die den Augen weh tat und so den Aufstieg zusätzlich erschwerte. Was Wunder, daß sein Vorgänger, der ein halbes Jahr vor Manuels Einstufung in die Totenkaverne getragen worden war, diesen beschwerlichen Weg nicht oft gegangen war. Selbst dem jungen Maarli schlug das Herz vor Anstrengung schneller, bis endlich von oben zusätzliches Licht in schier beängstigender Fülle in den Schacht flutete und Manuel geblendet seine Augen schließen mußte. Noch drei Stufen, noch zwei, eine, und der A-Terrat Manuel Maarli verließ zum ersten Mal in seinem Leben den Berg, der ihm bisher Schutz und Sicherheit geboten hatte, in dem er aufgewachsen war und in dem er jeden Stollen und jeden Erzgang zu kennen meinte. Hier oben jedoch gab es nicht mehr das ihn seit seiner Geburt schützende Gestein, über ihm wölbte sich ein gleißend helles Nichts, vor, neben, hinter ihm die gleiche unbarmherzige Helligkeit, und Manuel kämpfte mühsam gegen den Zwang an, wieder zurück in den Schutz des Gesteins zu flüchten. Er widerstand diesem Drang, er ertastete mehr, als er ihn sah, einen Sessel, in ihn ließ er sich fallen und schloß die Augen. Jetzt hatte er Zeit, sich an die schonungslose Helligkeit zu gewöhnen, jetzt war Zeit, mit der Angst fertig zu werden, der Urangst jedes Terraten vor einer erschreckenden Unendlichkeit, die ihn wie ein Schlag getroffen hatte. Manuel hätte später nicht mehr sagen können, wie lange dieser Schwebezustand zwischen Angst, Neugier und Freude angedauert hatte, er wußte nur, daß er, neben der die Augen schmerzenden Helligkeit, noch ein anderes Gefühl verspürte, ein sehr behagliches, wohliges Gefühl, denn aus dem hellen Nichts drang eine Welle von Wärme an seinen Körper, und ganz allmählich gewöhnten sich auch seine Augen an das Licht, und der junge Terrat vermochte endlich zu erkennen, wo er sich befand und was das eigentlich war, ein Balkon.
Denn wenn er auch das Gefühl hatte, unmittelbar auf der Oberfläche des Planeten zu stehen, so wölbte sich über seinem Kopf doch eine durchsichtige Halbkugel, groß genug, um gerade unter ihr stehen zu können. Und die Luft, die er atmete, stammte aus dem Versorgungssystem des Schachtes, war nicht die Erdatmosphäre. Sogar die Strahlen, die seine Augen blendeten und seinen Körper wärmten, wurden durch das Kuppelmaterial gefiltert. Der Balkon, eines der Privilegien eines A-Terraten, war folglich nur ein Fenster nach außen. Aber immerhin, das Fenster erlaubte, auf eine erschreckende Weite zu sehen, in der man sich ebenso hilflos fühlen mußte wie eines der Sandkörner, die der Wind gegen die Balkonkuppel schleuderte und danach weitertrieb, von Unendlichkeit zu Unendlichkeit. Bis ins Meer, wenn es so etwas ähnliches wie ein Meer auf diesem Planeten noch gab. Die Helligkeit nahm allmählich Form an, Strukturen und Farben. In einiger Entfernung erkannte Manuel tatsächlich eine Reihe von Gebäuden. Weiß und relativ flach blinkten ihre Fassaden im Wechsel des Sonnenlichtes. Dort also, vom Balkon aus förmlich greifbar, mußte sich auch das Museum befinden, von dem Ralf Beland geschwärmt hatte und um dessen Schätze willen der Künstler ihr erster Verbündeter werden könnte. Über die Ebene, die zwischen den Baikonen der A-Terraten und diesen Gebäuden lag, tobte feindselig der Wind und trieb Staubwirbel mit sich. Es war nichts zu entdecken von dem, was diese Erdoberfläche einst ausgezeichnet haben mußte und wovon Maarli aus Büchern und von Bildern her Kenntnis hatte. Kein Gras, kein Baum, keine Blüte, keine Spur eines Tieres. Es wartete eine uralte Terra inkognita auf ihre jungen Bezwinger, auf die 211er! Damit Gras und Baum, Blüte und Tier wieder eine Heimstatt fänden auf dieser Planetenoberfläche! »Hier oben steckst du also!« sagte plötzlich Sylvie Debora neben ihm. Die Debora trug eine schwarze Brille und hatte den Kommunikationshörer Manuels in der Hand.
»Da kann ich mir vor der Tür deiner Wohnwabe die Beine in den Bauch stehen! Ich bin schließlich über einen Ratsruf hereingekommen, mein Lieber, über den Ratsruf! Und einen Anruf von einem deiner früheren Kumpane hast du auch!« Mit diesem Satz gab sie Manuel das Empfangsteil und ließ sich in den Sessel fallen. »Hier Maarli«, sagte Manuel und erkannte auf Anhieb die Stimme Jacob Schwertes. »Mein Lieber, der Anruf kostet mich ein Vermögen«, sagte der. »Jede Minute eine reichliche Stunde Arbeitszeit! Könntest du bitte zurückrufen, dann wird es billiger für mich?« »Mach ich, gib mir deine Nummer durch!« Die Rufnummer Jacob Schwertes wurde im Empfangsteil eingespeichert, und Manuel sagte, bevor er die Verbindung unterbrach: »Es wird aber eine Viertelstunde dauern!« »Du wirst dir die Augen verblenden«, warnte ihn Sylvie. »Ohne Schutzbrille im Balkon zu sitzen ist der reine Wahnsinn! Komm jetzt mit mir runter!« »Erklär du mir lieber, wieso du so einfach ohne mein Wissen in meinen Wohnbereich gelangen kannst!« Die Debora stand schon auf der ersten Stufe und drehte sich erstaunt nach ihm um. »Ich dachte, mein Kleiner, ich hätte dir schon gesagt, daß ich deine Betreuerin für die ersten Wochen in der A-Ebene bin. Das räumt mir gewisse Sonderrechte ein. Außerdem hatte ich gehofft, du freutest dich über meinen Besuch. Und jetzt komm endlich!« Die Katze hatte die Krallen ausgefahren und fauchte auch schon ein bißchen. »Ich bleibe hier oben!« entschied Manuel. »Meinetwegen«, Sylvie Debora verschwand achselzuckend im Fels. »Meine Augen sind es schließlich nicht, die sich entzünden werden. Und merke dir endlich, Kontakte zu Leuten von ganz
unten sieht man in dieser Ebene nicht so gerne. Sage mir, wen du anrufst, und ich sage dir deinen Rang!« Den letzten Satz verstand Manuel kaum noch, denn Sylvie Debora mußte inzwischen den Boden seiner Wohnwabe erreicht haben. Kurze Zeit später fiel die Tür des Wohnbereiches hörbar zu. Die Debora war gegangen. Und im Balkon knallte das Licht unbarmherzig vom Himmel. Manuel griff sich den Empfangsteil und wählte die Nummer Jacob Schwertes an. »Da bin ich wieder«, sagte er. »Mußte erst einmal die Fronten klären. Was gibt’s?« »Na du bist gut, Maarli! Eigentlich solltest du doch die Fäden zwischen uns knüpfen, weil du der einzige bist, der frei und kostenlos mit allen anderen Ebenen kommunizieren kann. Aber du hast dich bisher weder mit mir noch mit Alina in Verbindung gesetzt. Und die kann dich nicht anrufen, beim besten Willen nicht. Ein Gespräch mit der A-Ebene ist für sie ein unerschwinglicher Luxus!« »Du mußt schon entschuldigen«, sagte Manuel, und die Konturen der Häuser begannen vor seinen Augen zu verschwimmen, »aber ich hatte zu viele Neuigkeiten zu verdauen…« »Verdauen ist das Stichwort. Alina läßt dir ausrichten, daß sie mit der E-Ration nicht auskommt. Das Mädchen hat Hunger, mein Lieber, das ist die Neuigkeit!« Um die Augen herum verspürte Manuel einen leichten Druck. »Du gibst mir erst einmal alle Nummern durch, die du hast«, entschied er und hielt sich die Hand vor die Augen. Diese verfluchte Debora hatte wieder einmal recht gehabt, er mußte aus dem Licht, schleunigstens aus dem Licht. »Warte mal, ich muß meinen Standort wechseln«, sagte er deshalb zu Jacob Schwerte und tastete sich zum Felsdurchbruch. Wohltuende Dämmerung umschloß ihn, aber vor seinen Augen entstanden feine Rißstrukturen, die längs und quer durch das Bild schwammen, wie
Seifenblasen zerplatzten und neu entstanden. Viele Konturen bildeten sich doppelt oder mehrfach ab. Jacob Schwerte hatte inzwischen die Nummern der 211er durchgegeben. »Ich werde mich um die Sache kümmern. Am besten treffen wir uns in einer Stunde am Fahrkorb der E-Ebene«, versprach Manuel, unterbrach dann die Verbindung und tastete sich in sein Schlafzimmer. Vor seinen Augen tanzten gelbe und blaue Scheiben einen wirren Tanz. Und ganz allmählich stellte sich der Schmerz ein. Als würde jemand mit einem spitzen Hämmerchen von innen gegen den Augapfel schlagen. Wieder und wieder, schneller und schneller, vorsichtig erst, aber immer stärker werdend! Als Reinke de Vos durch das Kappen seiner Sicherheitsleine den Alarm auslöste, befand sich Karel Nygard in seiner Kabine. Der Erste Offizier hatte Freiwache, lag in seiner Koje, in seinem Kommunikationsterminal steckte ein Lebendkristall, die in ihm gespeicherte Musik stammte von Tudorowitsch, die Klänge klirrten und sirrten und schrillten durch den Raum, sie schnitten gleichermaßen durch Glas wie in die Seele. Eben typisch für Tudorowitsch. Als er das Alarmsignal hörte, ließ sich Karel Zeit. Es handelte sich immerhin um Alarm neunundvierzig oder fünfundsechzig oder einhundertelf, um ein gänzlich alltägliches Ereignis also, seitdem die »Solara III« in der Barriere kreuzte, und war somit längst kein Grund mehr, um die Zehntelsekunden zu kämpfen und sich die Lunge aus dem Leib zu rennen. Der Selbstretter hing griffbereit neben der Koje. Karel stülpte die Maske über, schloß die Kabinentür hinter sich und lief über Gang E zu seiner Notposition im technischen Schaltraum auf Deck B.
Karel Nygard hatte seine im Alarmplan festgelegte Position noch nicht ganz erreicht, als er einen dumpfen Schlag auf den Kopf spürte. Danach spürte er nichts mehr. Das Bewußtsein kehrte nur langsam zurück. Um ihn herum war es dunkel. Nygard fror. Er konnte sein rechtes Bein nicht bewegen, weil der Fuß zwischen zwei Kisten eingeklemmt war. Und nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt sperrte eine Wand den Gang E ab, eine Wand, die es zuvor dort nicht gegeben hatte. Das alles registrierte Nygards Hirn zwar, aber es weigerte sich hartnäckig, die aufgenommenen Fakten auch zu verarbeiten und aus ihnen zu schlußfolgern, da sank es doch lieber zurück in den Schutz der Bewußtlosigkeit. »Das Ganze tut mir natürlich unendlich leid«, sagte der Vizepräsident. Sie standen inmitten einer Landschaft sich entwickelnder Ruinen, Nygard und der Vize. Man sah den Häusern die Richtung der künftigen Evolution bereits eindeutig an, nur der Prozeß der Ruinierung war unterschiedlich weit fortgeschritten. Da gab es noch Gebäude, denen nichts fehlte außer frischer Farbe, einer neuen Dachrinne und ein paar Ziegeln. Aber unmittelbar daneben standen dann welche, die bereits größere Fortschritte gemacht hatten auf dem Weg alles Irdischen. Sie gähnten aus leeren Fensterhöhlen müde in die Gegend, und der Schwamm hatte sich bereits bis zu ihren Dachstühlen durchgefressen. »Tut mir wirklich unendlich leid«, wiederholte sich der Vize, »ich hätte gerne mit euch hier unten auf meine Rente gewartet, aber Sie sehen ja selbst, mein lieber Karel, es hat keinen Sinn! Alles morsch, alles morbid, in knapp fünf Jahren wird es nach Verwesung riechen, wetten daß!« Der Vizepräsident stieß mit seinem Fuß gegen eine Hauswand. Das Gemäuer begann bösartig zu knirschen, es bildeten sich Risse, sie wuchsen rasch hinauf in die obere Etage, und Karel und der Vize rannten fast gleichzeitig los. Aber seine Exzellenz war auf
seinen patentierten Gummibeinen natürlich viel schneller als der Erste Offizier in seinem unförmigen Raumanzug, die Wand, das ganze Haus stürzte in sich zusammen, und ein Ziegel traf Karel Nygard zu einem homöopathischen Schlag auf den Kopf. Also erwachte er zum zweiten Mal. Die Wand, die ihm schon vor seiner zweiten Bewußtlosigkeit aufgefallen war, hatte sich mittlerweile vollständig mit Reif überzogen und strahlte unerbittlich Kälte ab. Lediglich der Selbstretter zeigte normalen Druck und ausreichend Sauerstoff an. Vorsichtig versuchte sich Karel aufzurichten. Der Fuß tat erbärmlich weh. Nygard wälzte eine der Kisten zur Seite, die von gottweißwoher auf sein Bein gefallen waren. Der Schmerz ebbte langsam ab, dafür war jedoch eine andere Empfindung nicht mehr zu unterdrücken. Karel Nygard fror. Er fror jämmerlich, und das war kein Wunder, denn er konnte selbst im bläulichen Schimmer der Notbeleuchtung den Hauch seines Atems ausmachen. Der Erste Offizier Karel Nygard verbrauchte für die wenigen Meter zum technischen Schaltraum der »Solara III« sehr viel Zeit. Und während dieser Meter in der Kälte des Ganges E und mit den erbärmlichen Schmerzen im Fuß wurde ihm klar, wem sie das alles zu verdanken hatten, diesem Aasgeier Alpha nämlich, der davon lebte, aus einer Müllkippe Antiquitäten herauszuklauben, diesem Spieler, der nicht leben konnte, ohne alles auf eine Karte zu setzen, vom Fahrzeug angefangen bis zum Leben jedweden Besatzungsmitgliedes. Eine Waffe müßte er jetzt in der Hand haben, und er würde dieses Vieh niederknallen wie einen tollwütigen Hund, nichts anderes war Alpha schließlich, und das Raumrecht würde diesen Schuß sogar abdecken. Aber Nygard hatte natürlich keine Waffe in der Hand, und ob Alpha überlebt hatte, stand zur Zeit ebensowenig fest wie die Schäden, die das Fahrzeug erlitten hatte. Vielleicht war er gar der einzige Überlebende im Wrack der »Solara III«.
Im Schaltraum sah es schlimm aus. An der Wand leuchtete das Kontrolldiagramm des Fahrzeuges, und war Nygard samt seiner Crew früher stolz darauf gewesen, daß sich unter den zahllosen Kontrollampen keine einzige befinden durfte, die rot leuchtete, so war der Erste Offizier jetzt froh, daß irgendwo auf diesem Display noch grüne Farbe auftauchte. Ein reichliches Drittel des Fahrzeuges gab überhaupt keine Meldungen mehr an die Zentrale. Die Wand im Gang E war also ein automatisches Notschott, und hätte sich die Katastrophe nur ein paar Sekunden früher ereignet, dann hätte ihn dieses Schott um des Lebens der anderen willen glatt durchgeschnitten. Derartige Unfälle waren aus der Geschichte der Raumfahrt nur zu gut bekannt. Jenseits des Notschotts herrschte Vakuum, betrug die Temperatur null Grad Kelvin, jenseits dieser Wand war nicht mehr die »Solara III«, sondern das freie Weltall. Karel Nygard tat etwas, was er in seiner Raumfahrpraxis glücklicherweise noch nie zuvor hatte tun müssen. Er riß die Plombe des Medipacks auf, das außen am Selbstretter verschweißt war. Und die Schmerzen in seinem Bein wummerten bei jeder noch so kleinen Bewegung. Er hielt eine kleine Kapsel in der Hand, und in dieser Kapsel schimmerten die beiden roten DopingTabletten. Sekundenlang zögerte Nygard noch, dann riß er die Packung auf und verschluckte das Präparat. Er war sich dessen bewußt, daß es russisches Roulette war, das er da spielte. Schlimmer, denn seine Chancen standen nur eins zu eins, daß er die Einnahme dieser Pillen überleben würde, und noch ungünstiger, was die psychischen Folgeschäden betraf. Diese Pillen waren das letzte Mittel, um dem Körper in ausweglosen Situationen Unmögliches abzuverlangen, und die Einnahme war nur dann zu verantworten, wenn es schließlich nicht nur um das eigene kleine Leben ging, sondern um die Rettung der Besatzung eines Fahrzeuges. Um eine Crew. Oder um deren Reste!
Diese Pillen würden ungeahnte Kräfte in ihm freisetzen, würden die Schmerzen im Bein ausschalten, er würde die Kälte nicht mehr spüren, und sein Hirn würde mit der Präzision eines Megabitrechners arbeiten, rasch, präzise und völlig emotionslos. Und nicht zuletzt schaltete dieses Medikament den Selbsterhaltungstrieb aus. Es hatte Fälle gegeben, in denen Piloten unter diesem Einfluß ein Leck mit dem eigenen Körper abgedichtet hatten, weil es die einzig verbliebene Lösung war, das Leben ihrer Passagiere zu retten. Aber die Wirkung hielt nur kurze Zeit an, dann brach man zusammen, unweigerlich. So war das mit den kleinen roten Dingern, die gehaßt und gefürchtet waren, und zu denen man in der letzten Not doch immer wieder griff, obwohl man wußte, daß überlebende Opfer die Psychosanatorien überall im Orbit bevölkerten und ihre Ängste ins Nichts brüllten. Der Schmerz im Bein ließ sofort nach, Karel Nygard hätte tanzen können im Gefühl der neugewonnenen Leichtigkeit. Das Fahrzeug wurde durchsichtig für ihn, da er auf das Schaltdisplay starrte, und wäre er noch der alte Karel Nygard gewesen, dann wäre ihm spätestens in diesem Augenblick der Schreck tiefer in die Glieder gefahren. So aber registrierte er lediglich: Vakuum in einem Drittel des Fahrzeuges. Ursache: Riß in der Außenhaut. Acht der zehn Lenkraketen ausgefallen. »Solara III« somit manövrierunfähig. Keine Kommunikationsmöglichkeit innerhalb des Fahrzeuges. Hauptenergiequelle beschädigt. Freiwerdende Radioaktivität. Instandsetzung mit Bordmitteln schwierig, Außenreparatur unumgänglich. Negative Energiebilanz. Negative Energiebilanz. Nullenergie in zweihundertsechzehn Stunden. Zwei Lander zerstört. Keine Außenkommunikation. Hilferufe an den Hangar nur noch über Notbojen möglich. Außenhilfe in frühestens neunhundert Stunden zu erwarten. Das alles registrierte Karel Nygard fast gleichzeitig, und die logische Schlußfolgerung aus all diesen Fakten war: Die »Solara
III« ist nicht mehr zu retten. Nicht einmal jene ominösen neunhundert Stunden zu halten, bis frühestens Hilfe zu erwarten war. Eine Notlandung auf dem Planeten war unausweichlich. Und selbst für die Vorbereitung dieser Notlandung war mehr Energie notwendig, als ihnen derzeit zur Verfügung stand. Und dann waren da noch seine Leute in den Anabiosekammern! Kein einziger Fakt aus dieser Informationsflut berührte ihn wirklich, nichts bedrückte ihn, die Nachrichten kamen zwar an, aber sie drangen nicht bis in den Bereich seiner Gefühle vor. Karel Nygard arbeitete ein Programm ab, sonst nichts. Und das Programm verlangte als nächstes von ihm, festzustellen, wie viele Menschen das Unglück überlebt hatten. Das waren sieben Mann, wie die Infrarotsensoren nachwiesen. Diese sieben Mann froren, ganz bestimmt froren sie, aber sie würden noch mehr frieren müssen, denn jedes eingesparte Watt war Gold wert. Und so senkte Nygard die Temperatur in den verbliebenen Räumen bis zur Zulässigkeitsgrenze ab. Diese Maßnahme erbrachte einen Zeitgewinn von drei Stunden siebzehn Minuten. Wenig zwar, aber selbst einige Minuten konnten plötzlich entscheidend werden, wenn am Schluß eine Endabrechnung gemacht werden mußte. Schon hatte er sich in seinen Raumanzug gezwängt, die Schleuse passiert und schwebte außenbords. Der Reaktor war aus seinen Verankerungen gerissen. Lediglich die erneuerte Strebe hatte der Belastung standgehalten. Um den Reaktormantel herum hatte sich eine Schicht aus Eiskristallen gebildet, und die Warnlampe im Anzug Nygards blinkte unübersehbar. Röntgen auf Röntgen prasselte die Radioaktivität auf ihn ein, denn die Eisschicht strahlte Gamma, und der Reaktorblock hatte sich abgeschaltet, weil sein Kühlsystem undicht geworden war. In diesem Karel Nygard steckten jetzt, dank zweier roter Pillen, Bärenkräfte, mit denen er Rohrleitungen bog und Kabel anschloß. Nein, ein vollwertiger Reaktor würde das nie wieder werden, dazu
hatte der Block zuviel seines schweren Wassers verloren, aber mit Viertellast würde man ihn möglicherweise fahren können, und jedes Watt konnte am Ende entscheidend sein. Die Warnlampe blinkte noch lange nach. Der Anzug würde kaum ein zweites Mal zu gebrauchen sein, aber ob sein Träger Karel Nygard ein zweites Mal einsatzfähig werden würde, stand auch in den Sternen. Weiterarbeiten, Nygard, trieb ihn das Dopingmittel vorwärts, noch ist nicht jede Gefahr abgewendet. Mit Metalldichtmasse verklebte er die kleineren Lecks der Außenhaut des Fahrzeuges. Fauchend fuhr Atmosphäre in die zurückgewonnenen Räume, aber ein Fahrzeug, dachte Karel, ein richtiges Fahrzeug wird niemals wieder aus diesem Kasten! Undeutlich für ihn selbst und fast nur noch automatisch ausgeführt sein weiteres Vorgehen. Zurück in die »Solara III«, zurück zur Schaltzentrale, Energiebilanz immer noch negativ, aber schon viel günstiger als noch vor einigen Stunden, die Kommunikation innerhalb des Fahrzeuges wieder herstellen, und der Bordrechner spuckte zur Lösung dieses Problems bereits seine Varianten aus. Dann endlich die Funknotbojen aussetzen, damit die Welt Nachricht bekäme von den Nöten dieses Fahrzeuges und seiner Mannschaft. Mehr ließ sich im Moment nicht tun, nichts ließ sich mehr tun, nichts mehr, nie mehr, nie! Karel Nygard brach in der technischen Schaltzentrale des Wracks »Solara III« zusammen. »Da kenne ich meinen Manuel besser als du«, sagte Alina Simon zu Jacob Schwerte. »Wenn der dir gesagt hat, daß er kommt, dann kommt er auch!« Die beiden jungen Terraten saßen in der Wartehalle E des Zentralkorbes, und jede Sekunde mußte sich dessen Tür öffnen, und Manuel würde aussteigen, wie ein Weihnachtsmann behängt mit Päckchen und Paketen, beladen mit allen Köstlichkeiten der AEbene, mindestens aber mit einem Sack voller Füllmasse. Obwohl
Alina deutlich höhere Erwartungen hegte und eine Füllmassengabe schon als etwas sehr mickrig empfinden würde. »Wenn du deinen Manuel so gut kennst«, entgegnete Jacob Schwerte leise, denn hier unten hatten die Felsen manchmal Ohren, »dann ist er vielleicht seit etlichen Minuten hier, und wir haben ihn in unserer Dummheit bisher übersehen!« »Oder du hast dir die Zeit nicht richtig gemerkt«, konterte Alina und starrte auf die Tür des Zentralschachtes. Er würde kommen, er mußte einfach kommen, wenn er wirklich zugesagt hatte, dann kam er auch! »Aber natürlich«, gab Jacob zu. »Die Zeit stimmt nicht, der Tag ist falsch, und treffen wollten wir uns eigentlich in den Wandelgängen der A-Ebene. Ich habe dir das bisher nur verschwiegen. Bist du nun zufrieden?« Eine Glocke schlug an. Das war das Zeichen, daß der Zentralkorb in Bewegung war und in dieser Ebene anhalten würde. Sofort sprangen etliche E-Terraten auf und drängten sich um die Tür. Der Förderkorb kam, hielt, seine Tür öffnete sich, aber es stieg niemand aus, schon gar kein Manuel Maarli, nur ein Pulk von E-Terraten drängte sich in das Beförderungsmittel. »Er wird eine Tarnkappe aufgesetzt haben«, bemerkte Schwerte giftig und zog aus seiner Tasche eine flache Scheibe Füllmasse. »Mehr habe ich leider nicht abzweigen können«, sagte er entschuldigend. »Aber besser wenig als gar nichts.« Am liebsten hätte Alina dieses Almosen zurückgewiesen, so wütend war sie auf Manuel, auf die Welt, vor allem aber auf Jacob Schwerte, der natürlich den Treff vermasselt hatte, aber der Hunger tat gewaltig weh, und so griff sie hastig zu. »Tut mir leid«, sagte Jacob und stand auf. »Den nächsten Fahrkorb werde ich nehmen müssen, weil mein Dienst beginnt. Und anrufen kann ich Maarli in den nächsten Tagen auch nicht. Bin völlig pleite!«
Während Jacob Schwerte den Fahrkorb betrat, als C-Terrat hatte er hier unten natürlich Vortritt, und in seine Ebene zurückfuhr, um seinen Dienst zu beginnen, stürmte in der A-Ebene Sylvie Debora aufgeregt in den Wohnbereich Maarlis. Hatte sie es doch gewußt, der Junge hatte sich gründlich verblitzt und lag jetzt jammernd, halbblind und hilflos in seiner Schlafwabe. Gerade noch, daß er sie in seiner Not angerufen hatte und herausbringen konnte, daß er nichts mehr sah, wahnsinnige Schmerzen habe und auf ihre Hilfe angewiesen sei, ganz dringend. Und weil Hilfe nötig war, unverzüglich nötig war, kam Sylvie Debora auch nicht allein. An ihrer Seite, oder vielmehr stets ein paar Schritte hinter ihr, ging der alte Panopolus aus der B-Ebene, der sich wie kein anderer im Schacht der Terraten auf verstauchte Füße, schmerzende Zähne und verblitzte Augen verstand. »Der Rat macht mich zur Schnecke«, jammerte die Debora ununterbrochen, »weil ich nicht besser auf ihn aufgepaßt habe. Aber er ist doch schließlich kein Kind mehr! So viel Unvernunft, Panopolus, so viel Unvernunft! Ich habe ihm gesagt, deine Augen werden sich entzünden, weil du keine Brille trägst, hab ich zu ihm gesagt, aber nein, er muß seinen Kopf durchsetzen, der Narr der, ein Kreuz ist es mit ihm, Panopolus, ein schweres Kreuz!« Der alte Panopolus nickte ob des Wortschwalls ergeben, hatte er doch alle Mühe, das Tempo der Debora mitzuhalten. Außerdem, was war schon Wichtiges geschehen, weshalb solche unsinnige Eile! Da hatte ein Bürschchen wie trunken in die Sonne gestiert und sich dabei eine zünftige Entzündung der Bindehaut eingefangen. Die schmerzte natürlich, freilich tat sie weh, aber war nicht in einem solchen Fall von Unvernunft, wie die Debora richtig festgestellt hatte, der Schmerz der allerbeste Lehrmeister? Panopolus war sich jedenfalls sicher, daß er aus gleichem Grund den Wohnbereich dieses Jüngelchens, Maarli hieß der wohl, nie wieder würde betreten müssen. Das war eine Lehre fürs Leben, erteilt von Mutter Natur höchstpersönlich, und der würde er nicht ins Handwerk pfuschen können!
Manuels Schlafwabe war abgedunkelt, und der junge Terrat hatte sich zusätzlich eine breite Binde über die Augen gelegt. Panopolus setzte sich zu ihm aufs Bett, Sylvie Debora schaltete die Deckenbeleuchtung ein, und Manuel stöhnte auf. »Sie, reißen Sie sich ein bißchen zusammen, junger Mann!« sagte Panopolus streng. »Ich will Ihnen schließlich aus der Bredouille helfen, mein Bester!« Er entfernte das feuchte Tuch und leuchtete in Manuels Augen. Abermals stöhnte der A-Terrat. »Glaub ich schon, daß so etwas ziemlich schmerzt«, stellte Panopolus fest. »Ist aber zum Glück nicht weiter gefährlich. Frau Debora wird Ihnen stündlich Tropfen verabreichen. Und Sie gehen in den nächsten drei bis vier Tagen nicht ans Licht. Auf keinen Fall aber auf den Balkon!« So hatte denn die Katze ihr Mäuslein wieder, es gab auf dieser Ebene wirklich kein Entrinnen. Aber das Mäuschen war halbblind, und ein Spiel mit einer blinden Maus machte nur die Hälfte des Vergnügens aus, das einer Rassekatze wie Sylvie zustand. Also zog sie die Krallen vollends ein und tröpfelte ihrem Patienten brav das Medikament in die entzündeten Augen. Damit das Spielchen irgendwann seinen Fortgang nehmen konnte. Und Manuel Maarli war schon froh, wenn die Schmerzen nachließen. Er verschwendete keinen Gedanken an Alina Simon, an Jacob Schwerte, an die verfluchten 211er und den geplatzten Treff in der E-Ebene! Während sich Manuel Maarli in seiner Schlafwabe von Sylvie Debora pflegen ließ und Jacob Schwerte seinen Dienst in der Schaltwarte eines Nährmittelumwandlungskomplexes antrat, ging Alina Simon langsam zurück in ihre Wohnwabe. Eigentlich war es ziemlich geprahlt, diese Wabe, die kaum größer war als die Wabe im Ausbildungsstollen, als ihre Wabe zu bezeichnen, sie mußte sie nämlich mit zwei anderen E-Terratinnen teilen, mit jenen, mit denen sie sich im Schichtsystem auch die Arbeit teilte. Ihr
eigentliches Eigentum bestand aus einem relativ schmalen Blechspind, dem Bett und einem dazugehörigen Schränkchen. Aber das reichte völlig aus, um die wenigen persönlichen Habseligkeiten unterzubringen. Geduscht wurde in einer gemeinschaftlichen Sanitärwabe, gegessen in der E-Kantine, in der man den Nahrungsautomaten grundsätzlich die gleichen Speisen entnehmen konnte wie in der A-Ebene, vorausgesetzt, man verfügte über eine ausreichende Anzahl von Bons. Diese Bons, die auch zum Einkauf in allen Ebenen berechtigten, bekam man für die jeweiligen Arbeitsleistungen zugesprochen, und eben deshalb reichte es zur Zeit für Alina Simon nicht einmal zur billigen Füllmasse, und der Hunger wütete in ihren Gedärmen. Denn man hatte sie im Ausbildungsstollen auf alle möglichen Dinge vorbereitet, man hatte ihnen beigebracht, wie man Kavernen aus dem Stein schlägt und wie man mit dem Feuer die Wände glättet. Man hatte ihnen die Geschichte und vor allem die Vorgeschichte des kleinen Volkes eingetrichtert, und man hatte sie darüber aufgeklärt, welche Schätze in der Genbank gehütet und vermehrt werden und zu welchem Zweck. Das besonders hatte Alina interessiert. Sie hatte die Zusammensetzung ganzer Ökosysteme gebüffelt, die Vernetzung der Arten gelernt und die Folgen abzuschätzen geübt, wenn einer der Netzknoten sich lösen sollte. Zur Prüfung hatte sich niemand für dieses Wissen interessiert. Die Perra hatte sie gar unterbrochen und sie in ihrer feinen Art lächelnd darauf hingewiesen, daß die Genbank nicht ihres Amtes sein werde. Ihr Amt werde sein, eingezwängt in einen engen und heißen Leitstand, mit dem Talpater den Erzgängen nachzuspüren, mit leichtem Druck der Finger das Gerät zu steuern, jede Erzwindung, jede Felsverwerfung sozusagen vorauszuahnen. Zum Wohle aller Terraten. Das jedoch hatte ihr niemand beigebracht, darauf war sie nicht vorbereitet. Alina Simon hatte folgerichtig schon in ihrer zweiten Schicht den Talpater festgefahren. Er saß im toten Gestein und rührte sich
kaum noch von der Stelle. Wenn seine Batterien erst einmal erschöpft sein würden, dann wäre es vollends aus und sogar das wenige Erz verloren, das der Talpater bereits gefressen hatte. Alina wußte zwar, daß im Grunde nichts passieren konnte, daß der Talpater noch tagelang sein Ortungssignal aussenden würde und daß man das Gerät notfalls freischweißen konnte, trotzdem bekam sie es mit der Angst zu tun und verließ ihren Leitstand. Sie rannte zurück in die Wohnwabe, um Hilfe zu holen. Hilfe aber konnte nur jene Constance Seuse leisten, die ihr den Talpater übergeben hatte und die jetzt nur schwer zu bewegen war, ihren verdienten Schlaf zu unterbrechen, ihr Bett zu verlassen und der Neuen aus der Patsche zu helfen. »Umsonst ist das aber nicht!« hatte die Seuse schließlich geschnaubt und mit ein paar Handgriffen den Talpater wieder flott bekommen. Es würden noch drei harte Wochen vergehen, in denen Alina ihrer Wohngenossin die Hälfte aller verdienten Bons abzuliefern hatte. So war es abgesprochen, und für sie selbst blieb kaum genug übrig, den gröbsten Hunger zu betäuben. Aber lieber hätte sich Alina in die Totenkaverne tragen lassen, als der Seuse einen einzigen Bon schuldig zu bleiben. Das ließ ihr Stolz nicht zu. Und außerdem hatte sie auf Manuel gehofft, auf den Freund, den Geliebten, den A-Terraten, der über Nahrungsmittel im Überfluß verfügte und der leicht zehn, zwanzig, dreißig E-Terraten versorgen könnte, wenn er nur wollte. Wenn er nur wollte! »Der hat dich natürlich sitzenlassen«, sagte Constance Seuse, als Alina mit leeren Händen die gemeinsame Wohnwabe betrat. Der hämische Unterton in der Stimme der Seuse war nicht zu überhören. »Sie lassen uns alle sitzen, die feinen Herren, sobald sie erst einmal in der A-Ebene leben. Und wir fallen immer wieder auf sie rein!« »Es muß irgend etwas passiert sein«, verteidigte Alina Manuel. »Natürlich«, höhnte die Seuse. »Es ist etwas passiert. Er lungert mit einer B- oder C-Biene auf der Matte herum und lacht sich ins
Fäustchen. Über ein Schaf von ganz unten. Du darfst getrost dreimal raten, wer das Schaf ist!« Constance Seuse schlug die Tür zu, ihre Schicht begann, und Alina war allein in der Wabe, sehr allein. Dreimal vierundzwanzig Stunden tobte bereits im Körper Nygards ein erbarmungsloser Kampf zwischen dem Selbsterhaltungstrieb und zwei kleinen, roten Dopingtabletten. Seit dieser Zeit wälzte sich Nygard in tiefer Bewußtlosigkeit und von ziemlich wirren Träumen geplagt auf einer Liege im improvisierten Krankenraum des Fahrzeugwracks, und Rajna Kasabov hatte den kräftigen Mann auf der Liege festbinden müssen. Einer der Träume, ein immer wiederkehrender, sah so aus, daß er mit geschlossenen Augen und weithin vorgestreckten Armen über Geröll stolperte. Das knirschende Geräusch lag ihm in den Ohren, die spitzen Steinkanten kratzten seine Fußsohlen, und Karel wußte genau, daß er einem Abgrund entgegenschritt, langsam, quälend langsam, doch ohne in seinem Marsch innehalten zu dürfen, denn hinter ihm ging pfeifend der Vize, und der hatte eine Stahlrute in der Hand und erklärte bei jedem Schritt, daß man manche Menschen halt zu ihrem Glück ein bißchen nötigen müsse, weil er als Vizepräsident ja einen gänzlich anderen Überblick habe und alles von einer höheren Warte aus sehe und beurteile. Der Abgrund sei nämlich kein Abgrund, es handele sich lediglich um einen winzigen, harmlosen Spalt, den man mit einem Sprung, mit einem Hüpfer, überwinden könne, und drüben liege dann das wahre Paradies, Frühling auf »Intergalactica« sozusagen. Wenn Karel unter unsäglichen Mühen seine Traumaugen öffnete, dann sah er, daß er nicht über Schotter lief, überhaupt nicht über Steine, sondern daß es sich um die Köpfe seiner Crew handelte, eiskalt gefroren. Einmal biß ihn Tschilin Mohrung sogar in den Zeh, seinen kleinen Zeh, und vor ihm tauchte nun wirklich der Abgrund auf, noch zwei Schritte, noch einen, einen winzigen, einen allerletzten!
Hinter ihm schlug der Vize wütend mit der Rute um sich, denn Karel Nygard wollte wieder nicht springen, und auf dem anderen Ufer, meilenweit entfernt, schüttelten die anderen abwehrend die Köpfe und fuchtelten warnend mit den Armen, Reinke de Vos, Jacob Boer, die Kasabov gar, nur Peer Alpha erklärte dem Vizepräsidenten seelenruhig, daß man den Ersten notfalls abknallen müsse, denn wer nicht spränge, würde abgeknallt, das sei in dieser Gegend der Brauch von alters her. Und dann sprang Karel. Natürlich war der Abgrund unüberwindlich breit, und der Fall nahm kein Ende, die Luft zerrte an seinen Haaren und vereiste den Bart. Einmal gelang es ihm, Alpha mit sich in die Tiefe zu reißen, doch der verwandelte sich nach wenigen Metern freien Falles in einen Schwarm Fliegen und surrte davon, während Karel tiefer denn je stürzte. Ein weiterer Traum, sich gleichfalls ständig wiederholend, gelegentlich sogar mehrfach hintereinander ablaufend, als habe ein Filmvorführer eine riesige Schleife gelegt und zeige unablässig den gleichen Streifen. Doch der Zuschauer Nygard sah diesen Film keinesfalls freiwillig. Festgezurrt an seinem Sitz, war er der Bilderfolge auf der überdimensionalen Leinwand hilflos ausgeliefert. Dabei begann dieser Traum stets mit herzallerliebsten Bildern. Eine Sommerwiese in den zarten Farben des Frühtaulichtes, blühende Gräser im Windhauch sich wiegend, und Hand in Hand schwebten Reinke de Vos und Tschilin Mohrung über der Idylle, und es gab keinen vorstellbar schöneren Anblick als diese beiden unbefangen liebenden, nackten Körper auf einer Insel des Friedens, getaucht in das Licht einer friedlichen wärmenden Sonne, gebadet in keimfreier, sauerstoffreicher Luft und benetzt von glasklaren, funkelnden Tautropfen. Doch dann verkleinerte sich die Waldlichtung, verkleinerte sich unaufhörlich mit all ihren Gräsern und Bäumen und mit Reinke de Vos und Tschilin Mohrung, unaufhaltsam stellten sich die wahren Größenverhältnisse dar, und plötzlich erschien die Welt unter der
gleichen Sonne in gänzlich anderem Licht. Die Wiese war eingeschlossen in eine gläserne Kugel, und diese Kugel hielt der Vizepräsident in seinen beiden Händen und stierte verzückt auf das liebende Paar, das da in seinem Glücke schwelgte und keine Ahnung zu haben schien von der kommenden Katastrophe. Denn schon tauchte ein gewisser Peer Alpha auf der Traumbildfläche auf, schlug mit der Hand nach der Glaskugel, die fiel dem Vizepräsidenten aus den Händen, schlug auf dem kahlen, glatten Boden auf, sprang wieder hoch, wurde erneut aufgeschlagen, glich jetzt mehr einem Balle, und eins, und zwei, und drei, der Vizepräsident und der Kommandant hüpften um die Kugel, in deren Innern sich die Wiese längst aufgetan und ihre Pflanzen verschluckt hatte, Bäume stürzten um, und das Paar der Glückseligen war schreiend auf hilf- und hoffnungslose Flucht aus. Diese und noch zahlreiche andere wirre Träume durchlebte Karel Nygard in den unsinnigsten Verknüpfungen, während die »Solara III« mitten in der Barriere nahezu führungslos den Planeten Erde umkreiste, und die Gefahr, von einem der Metallsplitter getroffen zu werden, wuchs von Stunde zu Stunde. Führungslos war die »Solara III« im doppelten Sinne. Es waren nicht nur die Lenkraketen ausgefallen, es erwies sich etwas, was Rajna Kasabov schlechterdings für unmöglich gehalten hätte. Bevor die Nygardcrew an Bord auftauchte, hatte es zwischen ihr und Alpha ein kleines, stilles, zufriedenes Glück gegeben. Sicher, Peer Alpha war kein Idealpartner, nie gewesen, hatte seine Fehler wie jeder Mensch. Aber eines war er doch gewiß, mutig nämlich und entschlußkräftig, ein Mann halt, den kaum etwas umwerfen konnte und an dessen Seite man so geborgen war, wie es in dieser irrsinnig weiten Heimatlosigkeit nur möglich schien. Nun, da das Unglück geschehen war und im Wrack der »Solara III« Mut und Entschlußkraft gebraucht wurden, mangelte es dem Kommandanten ausgerechnet an diesen Eigenschaften. Rajna Kasabov vermißte plötzlich die gewohnt ruhige Hand, die
notwendig sekundenschnellen Entscheidungen, die Sicherheit, die sich auf ganze Besatzungen übertragen konnte. Nicht nur das Fahrzeug war beschädigt, auch Peer schien schwer verwundet zu sein. Der Kommandant Alpha war nur über eines froh: Die eigene Haut war nochmals gerettet, knapp zwar, sehr knapp, wenn er die schweren Verluste ins Kalkül zog, und ein Idiot wäre derjenige gewesen, der solche Warnungen des Schicksals in den Wind geschlagen hätte. Nie wieder würde er sich der verfluchten Barriere nähern! Die Gewinne aus der jahrelangen Arbeit reichten schließlich längst aus, sich irgendwo die angenehmen Seiten des Lebens vorführen zu lassen! Hilfe von außen, die Hoffnung, daß die Notrufe der »Solara III« gehört worden waren und eine Rettungsaktion in Vorbereitung war, darauf allein setzte Peer Alpha, und Rajna Kasabov erkannte in ihm den Partner nicht wieder, dem sie sich auf Gedeih und Verderb verbunden hatte. Mit einem solchen Mann hätte sie niemals etwas anzufangen gewußt, und die Trennung manifestierte sich in einer vorerst unsichtbaren Wand inmitten ihrer Kabine. Während Alpha kaum etwas tat, Fahrzeug und Mannschaft aus der Gefahrenzone herauszumanövrieren, kümmerte sich Rajna Kasabov um den Ersten Offizier. Aber es sah dennoch ganz danach aus, als würden die Pillen den lautlosen Kampf in Karels Körper gewinnen, als würde es ihnen gelingen, große Gedächtnisbereiche des Nygardschen Hirnes für immer zu löschen, als würde Karel Nygard zu jenen gehören, die ihre restlichen Lebenstage in Sanatorien verdämmerten. Jedenfalls sah das EEG nicht sehr gut aus. Doch vielleicht waren es gerade diese Träume, die den Kampf zugunsten des Ersten Offiziers entschieden, die immerwährende Umschichtung von Informationen, die erneute, doppelte und mehrfache Speicherung in immer neuen Rindenregionen, und meistens löschte das Medikament ins Leere.
Am vierten Tag jedenfalls erwachte Karel Nygard und erkannte sofort Rajna Kasabov. Und er wußte auf Anhieb, daß irgend etwas nicht stimmen konnte mit dieser Welt. Aber dann setzte sein Erinnerungsvermögen ein. Karel schrie auf. Es war ein tierischer Schrei, der durch das Wrack hallte, und dem Kommandanten Alpha mußte es eiskalt den Rücken heruntergelaufen sein, wenn es denn noch einen Kommandanten gab in diesem Wrack. »Ich bring ihn um!« schrie Nygard. »Ich bring ihn auf der Stelle um!« Aber selbst wenn ihn Rajna Kasabov nicht an der Liege festgebunden hätte, wäre er noch viel zu schwach gewesen, um aufstehen zu können und seine Worte in die Tat umzusetzen. Die Beine gehorchten ihm längst noch nicht wieder, und es wäre fraglich gewesen, ob er eine Waffe in der Hand hätte festhalten können. Die Kräfte reichten lediglich dazu, sich die EEGAnschlüsse vom Kopf zu reißen. Rajna Kasabov hob die Sonden wieder auf. »Du wirst ihn nicht umbringen«, sagte sie beruhigend. »Er ist es nicht wert. Und er trägt auch nicht die Hauptschuld, wenn du schon jemanden umbringen mußt, dann mußt du mich umbringen. Ich allein hätte wissen müssen, was dort draußen an Restwaffensystemen herumfliegt und auf welchen Positionen. Darin besteht schließlich ein Teil meiner Aufgabe als Historikerin. Ich habe versagt!« Sie stand so hilf- und mutlos neben ihm, als würde sie sich wirklich jederzeit und ohne Gegenwehr die Kehle zudrücken lassen, sobald er nur die Kräfte dazu würde aufbringen können. So schwiegen sie sich eine an, Rajna Kasabov hielt immer noch die EEG-Sonden in der Hand, und ihre Hilflosigkeit sog seinen Haß auf wie ein Schwamm das Wasser. Als alles Wasser aufgesogen war, wußte Karel, daß man bestimmte Dinge vertagen mußte, wenn man gemeinsam überleben wollte.
»Gib mir einen exakten Überblick«, sagte er deshalb nur. Rajna Kasabov schien aus ihrer Erstarrung zu erwachen und antwortete: »Die ›Solara III‹ ist bedingt manövrierfähig. Wir können ihre Lage stabilisieren und Ausweichmanöver fliegen. Ein Drittel des Fahrzeuges ist aufgegeben. Darunter sind fast alle Laborräume und deine Kabine. Die Energieversorgung ist momentan stabil. Aber wir müssen uns einschränken. Eine Nachrichtenverbindung zum Hangar gibt es nicht. Die Notantennen sind dafür nicht genügend leistungsfähig!« »Und weiter?« drängte Karel. »Welche Entscheidungen sind gefällt worden?« »Der Kommandant ist der Meinung, daß wir auf Hilfe von außen rechnen können und abwarten sollten!« »Die Mannschaft?« »Keine schweren, Verletzungen. Außer Reinke de Vos…!« Damit war alles gesagt, und eines Tages würde man Tschilin Mohrung aus ihrer Anabiose wiederbeleben müssen, und sie würde mit ihren großen Augen Ausschau halten nach eben jenem Reinke, und das würde der Moment werden, in dem Karel Nygard einige Parsek Distanz zwischen sich und der Mohrung wünschte. »Wie steht es um die Anabiosekammer?« fragte er und dachte, daß er doch immer zur falschen Zeit keinen Arsch in der Hose hatte. Als Hauptmann hätte es sich auch leben lassen, dann hätten sie diesen Seelenverkäufer nie betreten müssen, und Reinke wäre noch am Leben. »Unversehrt«, antwortete Rajna. »Aber sie frißt halt sehr viel Energie, meint der Kommandant!« Und wie aufs Stichwort wurde die Kabinentür geöffnet, und Alpha stand im Raum. »Bevor Sie etwas sagen«, begann er, »möchte ich Ihnen für Ihren außergewöhnlichen Einsatz meinen Dank aussprechen!« »Auf Ihren Dank pfeife ich, Alpha!«, schrie Nygard nun doch, und Alpha zuckte zusammen. »Ich werde Ihnen das Kommando
entziehen, sobald ich mich einigermaßen erholt habe. Und wägen Sie bis dahin jede Handlung sorgfältig ab, Mann! So einfach kommen Sie mir jedenfalls nicht davon, Alpha!« Karel Nygard drehte sich zur Wand. Peer Alpha und Rajna Kasabov gingen. Und erst jetzt bemerkte der Erste Offizier den Geruch des süßen Parfüms, der im Raum hing. Auf der Erde hätte er unverzüglich ein Fenster geöffnet. Nichts prägte sich schneller und nachhaltiger ein als der Erfolg. Der Nahrungserfolg zumal. Das Pflanzentier taumelte durch die verlassene Stadt wie durch das Land der Schlaraffen. Nichts jedoch machte auch träger, einfältiger, bewegungsloser als der Erfolg. Der Nahrungserfolg zumal. Es lag dem Pflanzentier inzwischen wesensfern, im wilden Toben durch die Straßen zu surren, unter sengender Mittagssonne weite Strecken zu verwirbeln, das flache und weite Umland Schlaraffias erkundend zu durchrasen. Wenn sich die Tierpflanze widerwillig bewegte, und schon dabei ächzten ihre tierischen Symbionten, dann trollte sie sich nur noch fett und faul von Haus zu Haus, um sich vor dem nächsten Gebäude erneut auf die Lauer legen zu können, fladenbreit in sich selbst ruhend, während ein Kundschafter auf Eiweißjagd ging. Alle Wege waren kurz geworden, alle Bahnen vorgezeichnet, und die Tierpflanze wußte und bemerkte nicht, daß sie sich auf einer Kreisbahn wälzte, und sie erkannte auch das Silo nicht wieder, vor dem die neue Taktik den ersten Erfolg gezeigt hatte. Die Tierpflanze tat, was sie in der letzten Zeit immer getan hatte, sie spaltete einen Kundschafter ab und legte sich grün und träge in die Sonne. Der Kundschafter tat auch, was er immer getan hatte, er witterte nach Beute. Diesmal jedoch war der Duft nur noch sehr schwach und jede Spur alt. Was völlig normal war, denn Rattus rattus war längst erbeutet und verarbeitet, und es fehlte dem Kundschafter wie dem gesamten Pflanzentier ein langfristiges Erinnerungsvermögen, selbst an die Erfolge.
Der schwache Beuteduft lockte den Kundschafter ständig tiefer in die Gänge und Schluchten des aufgegebenen Getreideberges, und das war letztlich sein Untergang. Denn die Symbionten, die sich während der ersten Jagd auf Rattus rattus in diesen Gängen verloren hatten, waren noch am Leben und leisteten, um weiterhin am Leben zu bleiben, ganze Arbeit. Bei den Symbionten handelte es sich um Pilze und bestimmte Bakterienstämme, die ihrerseits untereinander neue Symbiosen eingegangen waren und die im Zuge ihrer Nahrungsverwertung große Mengen Kohlendioxid freisetzten. Unter dieser Atmosphäre entwickelten sie sich prächtig, aber das Gas wurde dem Kundschafter zum Verhängnis. Er büßte allmählich seine Beweglichkeit ein, verlor jegliche Orientierung, hatte längst seinen letzten Sauerstoff verbraucht, seine tierischen Bestandteile starben ab, und schon wuchs ihm ein Myzelfaden in den Restkörper. Die Tierpflanze aber lag ahnungslos und träge in der Sonne, und nach Stunden löste sich ein zweiter Kundschafter aus ihrem Körper und folgte der Spur seines Vorgängers. Die stark entzündeten Augen Maarlis hinderten die Katze Sylvie nicht daran, das Spiel mit ihrer Maus unentwegt fortzusetzen. Allenfalls änderte sie die Methoden der Betreuung ihrer Beute, denn es wäre allzu lächerlich gewesen, einen halbblinden Jüngling durch die A-Ebene zu schleifen und auf diese Art und Weise die Antrittsbesuche fortzusetzen. Aber eingeplant waren diese Besuche nun einmal, und notwendig waren sie auch, denn verblitzte Augen schienen weder Sylvie noch anderen A-Terraten ein ausreichender Grund zu sein, gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen. »Hör mal«, versuchte Manuel zwar zu protestieren, »ich bin schon froh, wenn ich ein paar vage Umrisse erkenne und den Weg zur Toilette allein finde, verschieb doch diese verdammten Antrittsbesuche um eine oder zwei Wochen!«
»Nichts wird verschoben«, entschied Sylvie. »Die Leute sind eingeladen, und du wirst dich gefälligst ein bißchen zusammenreißen und mich machen lassen! Du wirst sehen, es wird alles glimpflich über die Bühne gehen.« Nach diesem Satz packte sie Manuels Kopf und träufelte ihm zum dritten Mal an diesem Tag die Panopolusschen Tropfen in die entzündeten Augen. »Aber ich bitte Sie«, sagte kurze Zeit später ein gewisser Gabriel Steiner zu ihm, »Sie haben es überhaupt nicht nötig, sich zu entschuldigen, Maarli! Sie haben sich lediglich die wichtigste Fähigkeit der Terraten bewahrt. Die Neugier nämlich, in die Sonne zu sehen!« Manuel erfuhr, daß jener Gabriel Steiner einen Teil des Kommunikationssystems überwachte und dem Rat Rechenschaft abzulegen hatte über jede ungewöhnliche Aktivität im Schacht. »Und welche Vorfälle rechnen Sie zu den ungewöhnlichen Aktivitäten?« fragte Manuel und mußte dabei an sein Telefonat mit Jacob Schwerte denken. »Nun«, erklärte ihm der Besucher zuvorkommend, »es handelt sich dabei gewöhnlich um Anrufe über sehr viele Ebenen hinweg, vor allem von unten nach oben, die die Zahlungsfähigkeit des ETerraten beispielsweise weit übersteigen und die ohne illegale Tricks gar nicht zu führen sind.« Sylvie Debora servierte inzwischen Tee, und Manuel mußte die Tasse ertasten, weil immerzu ein dunkler Schleier über sein Gesichtsfeld schwamm. »Was glauben Sie denn, Manuel«, sagte Steiner zwischen zwei Schlucken, »was da nicht alles an Betrügereien versucht wird. Von der Manipulation der Zählwerke über die Herstellung von Falschmünzen bis zum Versuch der Parallelkommunikation. Aber wir kommen allen solchen Versuchen gewöhnlich sehr schnell auf
die Schliche, glauben Sie mir. Denn eines muß doch herrschen im Schacht, Ordnung und Disziplin, wo kämen wir sonst hin!« Vielleicht an die Oberfläche, dachte Manuel, aber er hütete sich, diesen Gedanken auszusprechen. »Wäre dieses Ressort nicht auch eine interessante Aufgabe für Sie, Manuel?« schwatzte Steiner weiter, aber bevor Maarli ihm antworten konnte, sagte Sylvie Debora: »Ich bitte Sie, Gabriel, wir sind gerade erst dabei, uns einen Überblick über die vielen Möglichkeiten zu verschaffen. Ihr Angebot kommt zu früh, viel zu früh, wirklich!« Diesmal war Manuel froh darüber, daß sich Sylvie in seine Angelegenheiten eingemischt hatte, denn seine Antwort wäre höchstwahrscheinlich nicht so diplomatisch ausgefallen. Gabriel Steiner ging, und neue Besucher kamen und gingen wieder und berichteten dem neuen A-Terraten über ihre jeweiligen Verantwortungsbereiche und luden Manuel ein, teilzuhaben an ihren Problemen oder sie gar vollständig zu übernehmen. Und in den Pausen zwischen zwei Besuchen träufelte Sylvie Debora Augentropfen, und ganz allmählich klangen die Schmerzen ab und wurde der Blick Manuels klarer. Aber seltsam, schon wieder hing er begierlich an der Leiter, die zum Balkon führte. Von ihr ging ein Sog aus, der alle anderen Eindrücke überlagerte, trotz der immer noch entzündeten Augen. Zweimal in dieser Zeit wollte er Jacob Schwerte anrufen. Einmal hatte er bereits das Empfangsteil in der Hand, als ihn Sylvie Debora störte, und beim zweiten Versuch erinnerte er sich rechtzeitig an die Tätigkeit eines Gabriel Steiner und legte wieder auf, bevor sich Jacob Schwerte gemeldet hatte. Nach diesem Versuch quälte Manuel der Gedanke, ob er bereits in der Rapportliste Steiners auftauchte. Er überlegte, ob es nicht überhaupt besser wäre, auf diesen Verständigungsweg gänzlich zu verzichten und den direkten
Kontakt zu suchen, den kein Steiner lückenlos überwachen konnte, um den Rat nicht mit der Nase darauf zu stoßen, daß die 211er etwas planten, »Iru supren« nämlich! Denn dieser Plan mußte dringlicher denn je in die Tat umgesetzt werden, und mochte er im grellen Tageslicht auch noch so viele entzündete Augen fordern. Mit Ausnahme Ralf Belands hatten die Besucher Manuels nämlich sämtlich die gleiche Eigenschaft: Sie waren mit sich, mit ihrem Rang, ihrem Leben in dieser Ebene so zufrieden, daß sie allenfalls etwas Abwechslung durch Ämtertausch suchten, aber sie würden ihre Pfründe niemals gänzlich aufgeben für eine ungewisse und entbehrungsreiche Zukunft an der Oberfläche! Nein, beschloß Manuel bei sich, so leicht würde er es den Steiners aller Couleur nicht machen, sie sollten nicht so einfach jedes Wort mithören können, das da zwischen den 211ern gesprochen werden müßte. Man würde andere Mittel der Verständigung zu finden wissen als den offiziellen Kommunikationsweg. Er selbst würde in die C-Ebene gehen und mit Jacob die notwendigen Absprachen treffen, wenn er erst einmal wieder gesund sein würde. So viel Zeit allerdings mußte bleiben, um seine Augen ausheilen zu lassen, das Verständnis mußte er von Schwerte und von Alina und all den anderen 211ern einfach fordern können! Drei Tage später, die Antrittsbesuche in der Maarlischen Wohnwabe setzten sich schier ununterbrochen fort, nur Ralf Beland hatte sich nicht bei ihm blicken lassen, kam Panopolus, leuchtete in Manuels Augen und erklärte: »Na bitte, das war’s dann, junger Herr! Und beim nächsten Mal sind wir ein bißchen vorsichtiger!« Sylvie Debora, die natürlich wie ein Luchs neben dem BTerraten stand, fragte scheinbar harmlos: »Er ist also wieder völlig okay?«
»Völlig!« bestätigte ihr Panopolus. »Ich würde lediglich empfehlen, noch ein paar Tage mit den Augentropfen weiterzumachen, aber diese Maßnahme dient dann schon mehr der Prophylaxe. Die Therapie gilt als abgeschlossen.« Das Mäuslein war also wieder gesund. Es war überhaupt eine Schande, wie man sich als ordentliche Katze um seine Beute zu kümmern hatte! Als wäre man ein altes, klappriges Gestell und nicht die Schönste im Schacht der Terraten. Heute abend, sagte sich die Debora, heute abend werde ich ihn mir nehmen, bei meinem Goldkettchen, es hat sich ausgespielt, Maus ist Maus, Katz ist Katz, und Mann ist Mann! Vorerst jedoch war früher Morgen, bis zur Beutenahme war also ein langer Tag zu überbrücken, und es war für Sylvie Debora nicht einfach, Manuel ein Tagesprogramm zu organisieren. Zumal die Reihe der Antrittsbesuche unwiderruflich ihrem Ende entgegenging und nur noch wenige A-Terraten ausstanden. Nach einigen Überlegungen meldete Sylvie Debora ihren Schützling bei Danuta Massupek an. Allein. Mochte sich Manuel einmal aus eigener Kraft mit so einem Antrittsbesuch herumschlagen. Sie, Sylvie, hatte ihre gewissen Vorbereitungen zu treffen, und außerdem war das Verhältnis zwischen ihr und der alten Massupek nicht das beste. Sylvie Debora kannte in der ganzen A-Ebene überhaupt niemanden, der ein gutes oder gar ein herzliches Verhältnis zur alten Dame Massupek gehabt hätte, einer A-Terratin, der schon der Bart sprießte und die mit schockierender Dreistigkeit anderen immer wieder ungefragt die Spiegel vor die Gesichter hielt. Dort sollte sich Manuel seine Beulen ruhig allein holen, um so wohler würde er sich dann am Abend in ihren Armen fühlen! Die Massupek empfing Manuel dann auch alles andere als freundlich. »Frank und frei sag ich dir, viel Zeit habe ich nicht für dich! Sind mir sowieso lästig, sowohl diese Antrittsbesuche, als auch die
ganzen anderen gesellschaftlichen Konventionen, diese endlosen Spielchen um Macht und Einfluß und um möglichst wenig Arbeit, damit du mich von vornherein verstehst!« Der alten Dame war auf den ersten Blick anzusehen, daß sie sich nicht um die Gepflogenheiten ihrer Ebene kümmerte. Sie empfing ihren Gast in einem schäbigen weißen Laborkittel, dem man die zahlreichen Spuren ihrer Tätigkeit ansah, sie bot ihm keinen Begrüßungsschluck an, nicht einmal die Aufforderung, sich zu setzen. Wohin auch, denn der Raum, in den Danuta ihren jungen Besucher geführt hatte, enthielt nichts außer Regalen mit Büchsen und Flaschen, stapelweise alten Papieren, und es roch ein bißchen scharf. »Dann ist es sicherlich das beste, wenn ich gleich wieder gehe«, sagte Manuel und schickte sich an, den Wohnkomplex der Massupek wieder zu verlassen. »Hat mich trotzdem sehr gefreut«, sagte er noch, da hatte er schon die Hand an der Türklinke. »Halt, halt«, lenkte Danuta Massupek lächelnd ein, »so leicht kommst du mir nicht davon, Bürschchen. Zuerst erzählst du der alten Massupek, wie ihr es diesmal anstellen wollt!« »Wer ist wir? Und was wollen wir anstellen?« Da wurde die alte Dame Massupek plötzlich sehr lebendig, sie griff sich den jungen Maarli mit einer raschen Handbewegung an den Schultern, das ungleiche Paar drehte sich, angetrieben von der Kraft der Alten, im Kreis, und die Massupek schrie ihn an: »Iru supren, Iru supren, Iru supren!« Dann hielt sie inne, löste ihre Hände von seinen Schultern und sagte: »Herausschreien ist das eine, ihr Helden. Aber meistens schon der Anfang vom Ende! Und wenn ihr etwa denkt, euer Jahrgang wäre der erste gewesen, der diese grandiose Idee gehabt hätte, dann braucht ihr gar nicht weiterzumachen, dann habt ihr augenblicklich verloren. Schade um die Opfer, die das Vorhaben dann noch kosten wird. Oder schon gekostet hat!« Und während Manuel betroffen in diesem Vorraum stand, in dem es etwas streng roch, und kein Wort der Erwiderung fand,
winkte ihn Danuta Massupek mit ihrem Zeigefinger näher und fuhr fort: »Komm schon, mein Jungchen, ich will dir etwas zeigen. Damit du begreifst, wonach ihr geschrien habt!« Danuta Massupek ging voran. Im wilden Tanz um den Satz »Iru supren!« hatte sich die alte Dame den Fuß etwas vertreten, das rechte Bein ging schwer. Es wechselten die Räume, es wechselte der Geruch, der allerdings immer etwas streng blieb, und von Raum zu Raum herrschte größere Ordnung, mehr Sauberkeit, die weiße Farbe wurde dominant. Und das rechte Bein der Massupek ging immer schwerer. »Sie haben dir alle ihre Jobs angeboten, die lieben A-Terraten, hörte ich«, sagte sie zu Manuel und ging langsamer. »Die Debora soll in deinem Namen alle Angebote abgeschmettert haben, hörte ich auch. Bin immer ein bißchen mißtrauisch bei schönen Weibern, die sich von Ebene zu Ebene hochgeschlafen haben. Aber die Debora scheint es wirklich auch im Kopf zu haben, nicht nur in ihren Titten!« Danuta Massupek blieb vor einer Tür stehen und sagte zu ihrem Besucher: »Glaube ja nicht, daß ich das jedem zeige! Auch nicht jedem A-Terraten. Und rechne schon gar nicht darauf, daß auch ich dir meinen Job anbieten könnte. Du hättest es drauf und würdest ja sagen. Und dann stände ich schön da!« Die Massupek forderte ihrem Gast schon etwas ab. Zuerst der unfreundliche Empfang, dann die Überraschung des Tanzes, das unerwartete Wissen um den Satz »Iru supren!«, und nun stand Manuel zu allem Überfluß noch in einer Bioschleuse. Seine Haut wurde desinfiziert, UV-Licht tötete auch noch den letzten Keim, und trotz der blauen Brille kniff Manuel die Augen zu. Was wußte Danuta Massupek schon von seinen Lichterfahrungen, wieviel hatte Sylvie Debora von dieser seltsamen Alten gewußt, als sie ihn ausgerechnet zum Antrittsbesuch bei ihr allein geschickt hatte.
Wenn alle anderen Besuche ebenso ungewöhnlich und anstrengend verlaufen wären, dachte Manuel, während ein warmer Luftstrahl seinen Körper trocknete, kann ich sogar froh sein, daß ich mir zur rechten Zeit die Augen verblitzt und mich so selbst aus dem Verkehr gezogen habe! Auf der anderen Seite der Schleuse wartete Danuta Massupek bereits auf ihn. Eine völlig veränderte Massupek allerdings, nunmehr gekleidet in blendendes Weiß, nicht mehr in dem fleckigen Arbeitskittel, den sie bisher getragen hatte. Sie schien sich sogar straffer zu halten, auch das rechte Bein ging wieder leicht, und an ihrer Seite standen drei andere Terraten, deren Chef sie war, das erkannte Manuel auf den ersten Blick. Die Kaverne, in der sie standen, war langgestreckt und nahm scheinbar kein Ende. »Willkommen in der genetischen Bank der Terraten«, sagte die Massupek und stellte Manuel ihre Mitarbeiter vor. »Mustafa Al Key, Botanik, Georg Weiher, Zoologie, San Tri Minh, Mikrobiologie. An sie kannst du dich wenden, wenn du spezielle Fragen haben solltest. Aber ich glaube, du wirst so wenig kapieren, wie der Rat oder andere Besucher vor dir von unserer Arbeit kapiert haben!« Die beiden Männer und die junge Frau lächelten zu diesem Satz wissend und gaben Manuel die Hand. Es war kein Wort über ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ebene gefallen. Sylvie Debora hätte eine derartige Zuordnung auf keinen Fall zu erwähnen vergessen. Aber Danuta Massupek war eben Danuta Massupek, dieses Reich war ihr Reich, und es galten ihre Regeln, ohne jede Ausnahme! Ihr Reich konnte sich allerdings auch sehen lassen. Sie waren nur ein paar Schritte gegangen, und dann sprang ihn das Grün an: sattgrün, dunkelgrün, blaßgrün, olivgrün, hellgrün, giftgrün, gelbgrün, grün in allen Manuel Maarli nur vorstellbaren Schattierungen. Es rankte sich dieses Grün an den Kavernenwänden empor, es wucherte dem Licht entgegen, das mehr oder weniger gefiltert und gefärbt von der Decke strahlte, es
preßte sich gegen die Glasscheiben, durch die es von seiner Umgebung abgetrennt wurde, es war allgegenwärtig und doch sicher hinter Glas verwahrt. Manuel mußte einfach stehenbleiben und in die erste der Vitrinen starren, die sich über eine weite Strecke an der Kavernenwand hinzogen. Was Manuel sah, war nicht einfach nur eine Vitrine mit Pflanzen. Der Inhalt dieses Glaskastens wucherte und trieb, das kämpfte und blühte, das roch und das vermehrte sich. Und das war etwas, was letztlich den ästhetischen Empfindungen Manuel Maarlis zuwiderlief. In diesen Vitrinen gab es keine glatten Felswände, keine einfachen, regelmäßigen Strukturen, mit Ausnahme des Raumes selbst keine rechten Winkel. Wäre da nicht eine gläserne Trennscheibe gewesen, Manuel hätte zugeben müssen, daß ihn dieses Grün ob seiner Üppigkeit nicht nur begeisterte, sondern auch ziemlich ängstigte. Daß er gegen das Gefühl ankämpfen mußte, die Pflanzen könnten nach ihm greifen, ihn umschlingen, in ihn einwachsen, ihn durchdringen, in ihm wurzeln und durch die Energien seines Körpers noch viel schneller wachsen. Auch Danuta Massupek und ihre drei Mitarbeiter waren stehengeblieben. »Du solltest dir vor allen Dingen sehr genau ansehen, unter welchen Bedingungen dieses Leben zu existieren vermag«, sagte Danuta nach einiger Zeit zu ihm und verwies auf die Meßgeräte in der Vitrine. »Wir erhalten uns diese Lebensgemeinschaften, um die Keimfähigkeit unserer Samenbank von Zeit zu Zeit zu überprüfen. Und natürlich auch, um neues genetisches Material zu gewinnen und unsere Vorräte zu ergänzen. Aber glaube mir, wenn wir die Parameter auch nur einen einzigen Tag nicht exakt einhalten können, dann ist die ganze Pracht dahin!« Langsam ging Danuta weiter, und Manuel Maarli mußte ihr folgen, obwohl er vor mancher Vitrine gern länger stehengeblieben
wäre, so sehr hatte ihn der Anblick der blühenden Pflanzen inzwischen gefangengenommen. »Das war der Bereich der Feuchttropen«, erklärte ihm Mustafa Al Key. »Wir kommen nun zu den Sukkulenten.« Stachlige, dürre Gewächse ohne Blätter reckten sich empor. Die Lichtmenge war beeindruckend. In diesen Vitrinen schien die Decke ausschließlich aus starken Strahlern zu bestehen. Es wechselten die Klimazonen, es wechselte der Artenbestand, bis die kleine Terratengruppe schließlich vor einer Vitrine stand, in der nur ein kümmerliches grünes Geflecht ein paar Steine überzog und von den Stürmen, die von seitlichen Gebläsen erzeugt und dem dadurch aufgewirbelten Sand immer wieder verschüttet und freigelegt und nach kurzer Zeit abermals verschüttet wurden. »In dieser Vitrine siehst du nun die Lebensbedingungen, die in erreichbarer Entfernung vom Schacht an der Planetenoberfläche herrschen. Damit du dir keine Illusionen über die Oberfläche machst. Und deine Freunde auch nicht. Das ist sogar nur ein sehr vereinfachtes Modell. In Wirklichkeit sind die Schwankungen von Temperatur, Licht, Luftbewegung und Feuchtigkeit viel krasser, als wir sie mit unseren Mitteln simulieren können. Nicht einmal diese primitiven Flechten hätten gegenwärtig eine echte Überlebenschance!« Vor dieser letzten Vitrine ließen sie ihm Zeit. Verdächtig viel Zeit. Sie standen wie angewurzelt, während Manuel Maarli beobachtete, wie das schüttere Grün vom Wind mit Sand bedeckt wurde, wieder zum Vorschein kam, erneut verschwand, vom Regen überspült wurde und dennoch kaum Fuß fand zwischen Stein, Staub und Geröll. Schließlich legte die Massupek ihre Hand auf seine Schulter. Zum ersten Male spürte er, daß diese Hand zitterte, und die alte Dame sagte: »Das sind leider noch nicht alle schlechten Neuigkeiten, mein junger Freund!« Die kleine Gruppe betrat eine weitere Kaverne, und ein Tier sprang ihnen entgegen, halb so groß wie ein Terrat, mit kurzem,
goldfarbenem Fell und langen, dunkelbraunen Haaren um den Kopf. Das Tier schien die Besucher gut zu kennen, es leckte Georg Weiher die Hand, es riß seinen riesigen Rachen auf, es brüllte, es rieb seinen Kopf an Danutas Beinen, es ließ sich von San Tri Minh die Mähne kraulen. »Das ist unser Leo,« erklärte die Terratin. »Eigentlich ist Leo ein Löwe. Seit etlichen Jahren ausgewachsen. Aber du siehst ja selbst, wie ein Löwe benimmt er sich nicht!« Das hatte Manuel während seiner Ausbildung immerhin gelernt, daß Löwen einst zu den Beutegreifern gehört hatten, sich von Fleisch ernährten, kranke oder schwache Pflanzenfresser erbeuteten und so eines der wichtigsten Regelglieder im biologischen Kreislauf darstellten. »Er ist satt?« fragte er. »Leo ist niemals satt,« antwortete San Tri lachend. »Sieh doch selbst, wie er bettelt!« Direkt neben dem Raubtier Leo tauchte ein anderes Tier auf, nicht größer als ein Hase, und Manuel Maarli erwartete jeden Augenblick, daß Leo es als willkommene Beute betrachten würde. Aber nichts dergleichen geschah, obwohl ein schneller Prankenhieb ausgereicht hätte. »Du hast unser Dilemma schnell begriffen,« lobte ihn die Massupek. »Die Tiere sehen zwar noch so aus wie ihre Vorfahren, sie stammen schließlich auch aus dem gleichen Zellmaterial, aber ihr Verhalten hat sich so stark verändert, daß ihre Existenz jeden biologischen Sinn verloren hat!« Maarli ging noch zwei, drei, vier Schritte gänzlich automatisch weiter. Dann blieb er ruckartig stehen und sagte: »Dann sind wir Terraten überhaupt nicht mehr in der Lage, an die Oberfläche zurückzukehren. Nie wieder!« Es widersprach ihm niemand.
Es kam, wie es notwendigerweise kommen mußte. Das manövrierunfähig in der Barriere treibende Fahrzeugwrack »Solara III« war ständiges Angriffsziel einer Armada von Mikrometeoriten, bot dem Satellitenschrott längst vergangener Epochen ideale Angriffsflächen, und zuerst erwischte es natürlich die weit in den Raum ragenden Solarreflektoren, die Karel Nygard unter dem Einfluß des Medikamentes zur Aufbesserung der Energiebilanz ausgebracht hatte. Es zerschlug eine Solarzelle nach der anderen und verringerte die Energiebasis des Wracks von Umrundung zu Umrundung. Und meistens konnte die Besatzung dennoch von unwahrscheinlichem Glück reden, denn mancher Brocken trudelte haarscharf an der Außenhaut vorbei. Es stand nicht gut um die »Solara III«. Es stand auch nicht gut um ihren Ersten Offizier. Zwar schien der Kampf gegen die Nachwirkungen des Dopingmittels vorerst gewonnen, denn er verfiel nicht mehr in Bewußtlosigkeit, und es kehrten auch die quälenden Träume nicht wieder, und niemand, der ihn nur flüchtig kannte, hätte wesentliche Veränderungen seines Verhaltens feststellen können. Aber darin lag wohl das Problem, denn die ihn wirklich gut kannten, schliefen regungslos in der Anabiose, und Karel Nygard fühlte sich allein wie nie zuvor in seinem Leben. Später gestand er sich ein, daß er wieder einmal in einer entscheidenden Situation keinen Arsch in der Hose gehabt hatte, obwohl die Signale recht eindeutig gesetzt gewesen waren. Die Beine wollten wieder ihren Dienst tun, in die Arme waren die alten Kräfte zurückgekehrt, und sein Gehirn arbeitete präzise wie selten. Und weil das alles so war, weil sich scheinbar nichts geändert hatte, blieb Rajna Kasabov für ihn das, was sie immer gewesen war, nämlich die getreue Gespielin ihres Herrn und Meisters Alpha. Eine solche Einteilung machte die Welt überschaubarer, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, klare Fronten in schweren Zeiten! Meine Seite, deine Seite, und auf seiner Seite verbuchte Karel Nygard Raphaela Dimanci und Malev, den Funker, und Kun Suu,
also den zur Zeit lebendigen Teil der Nygardcrew, und auf der anderen Seite ordnete er Peer Alpha und Rajna Kasabov ein und irgendwo dazwischen Jacob Boer, dem er den simplen Passagier nicht mehr abkaufte. Seine Leute in der Anabiose, um Platz und Verpflegung und weiß Gott noch was zu sparen, aber an Bord ein Gast, scheinbar auf der Suche nach bleibenden Eindrücken! Zwei und zwei sind immer vier, dachte Karel und hatte längst vergessen, wie die Kasabov in der Krankenkabine vor ihm gestanden hatte, als er das Bewußtsein wiedererlangte und das Bedürfnis verspürte, eine Kehle zuzudrücken. Rein formal war der Machtwechsel glattgegangen, zu glatt, wie Karel manchmal befürchtete. Als seine Beine wieder wollten, als die Stimme kräftig genug war, hatte er die Restmannschaft zusammengetrommelt und erklärt, daß er das Kommando über das Fahrzeugwrack übernehmen werde, bis Hilfe von außen zu erwarten sei. Natürlich hatte Alpha nicht protestiert, wußte er doch, daß das Raumrecht auf seiten seines Ersten Offiziers stand. »Wir sind sieben Überlebende«, hatte Karel sagen können, »und es stehen uns drei Lander zur Verfügung. Unsere Energieversorgung ist nur noch für wenige Tage stabil, wir haben immer noch keinen Funkkontakt zum Hangar, und Malev sagt, daß dafür auch gar keine Chance besteht, weil die Antennen abgerissen sind. Wenn wir uns auf die Funknotbojen verlassen, dann könnten wir verlassen sein, denn es kann Wochen dauern, bis jemand dieses schwache Signal empfangen hat, und dann nochmals Wochen, bevor Hilfe zur Stelle sein kann. Sie würde uns dann vermutlich nicht mehr viel nützen. Wir haben nur eine Alternative zum Tod, nämlich die Aufgabe der ›Solara III‹ und die Notlandung auf der Erde. Nur von dort aus können wir Funkkontakt zum Hangar aufnehmen, nur dort haben wir eine echte Überlebenschance!« Es widersprach ihm niemand, doch Peer Alpha betrachtete höchst interessiert seine Fingernägel, und offene Zustimmung erhielt Karel nur von seinen Leuten.
»Es stände uns genügend Platz für diese sieben Personen zur Verfügung, wenn es nicht zusätzlich die Leute in den Anabiosekammern gäbe!« Exkommandant Alpha warf seinem Ersten Offizier einen Blick zu, aus dem vieles zu lesen sein mochte. Karel Nygard las daraus, daß man die Nygardcrew in den Anabiosekammern durchaus aufzugeben bereit sein könnte, wenn es hart auf hart um das eigene Leben gehe. Der Alphasche Blick schien eindeutig gewesen zu sein, denn Raphaela Dimanci nickte Karel aufmunternd zu. Das war es, was die Crew auszeichnete, ihre Einigkeit in kritischen Situationen. Und dazu bedurfte es nicht einmal eines Wortes. »Wir werden jeden der Lander mit der Maximallast von acht Mann besetzen«, fuhr Nygard fort. »Das heißt, wir werden die Anabioseleute auf jeden Fall herausholen, bevor wir den Kahn endgültig aufgeben. Koste es, was es wolle!« Erneut widersprach ihm Alpha nicht, aber Karel spürte deutlich, daß er nicht nur seine Crew vor sich hatte, für die diese riskante Entscheidung die normalste Sache der Welt gewesen wäre. Alpha und der Kasabov waren die eigenen Hemden sichtlich näher als der anabiotische Rock, und Jacob Boer hielt sich seit dem Unfall ungewöhnlich gedeckt. Für ihn war in jener Sekunde die Uhr stehengeblieben, in der die Atommine hochging. Und wenn der Exkommandant laut die Frage gestellt hätte, woher Nygard die Energie für den Revitalisierungsvorgang zu nehmen gedachte, dann hätte der Erste Offizier nur hilflos mit den Schultern zucken können. Aber er würde sie auftreiben, diese verdammte Energie, beim großen Bären, er würde sie auftreiben, das war er seinen Leuten in den Anabiosekammern schuldig! »Wir teilen uns in die Wache ein«, sagte nach der Besprechung der Funker Malev zu Karel. »Die Lander dürfen keinen Moment unbewacht bleiben. Ich traue Alpha nicht. Er hat zu schnell aufgegeben!«
Auf seine Crew war Verlaß, das hatte Karel immer gewußt. Und auch aus diesem Grund durfte man die Anabioseleute nicht ihrem Schicksal überlassen! Es lag das Pflanzentier noch immer auf der Lauer, und das Tageslicht wurde von der weißen Betonwand des Silos reflektiert, und seine Wärme sammelte sich im Körper des Pflanzentieres und regte die Tätigkeit der Symbioten an. Wenn die Sonne ihre Winkelgrade am Himmel entlanggewandert war, rückte der Körper ein paar Meter zur Seite und schickte einen neuen Kundschafter in das Gebäude, weil das Pflanzentier nahezu kein Gedächtnis hatte und die anderen Kundschafter längst vergessen waren. So ging der Tag seinen Weg. Als das Licht schwächer wurde, die Betonwand keine Wärme mehr abstrahlte, bemerkte die Tierpflanze, daß sie viel kleiner geworden war und daß es ihr an etwas mangelte. An Nährstoffen mangelte es und am Wohlbehagen. Die Nacht drohte kalt zu werden. Also rückte die Tierpflanze zum Schutz vor dem Wind noch näher an das Silo heran und kugelte sich ein. Zum Glück weit genug entfernt von der einzigen Öffnung des Betonklotzes. Noch einmal gründlich die Krallen geschärft und dann endlich zugeschlagen, denn die Spielmaus schien am Wachsen zu sein, und die Gefahr war real, daß sie urplötzlich nicht mehr in das Beuteschema der Sylvie Debora passen könnte. Die Zeit war überreif, Manuel Maarli war wieder gesund, er hatte den Besuch bei der alten Massupek gemeistert, das war schließlich viel mehr, als Sylvie ihm zugetraut hatte. Die Zeit war reif, mehr als das, jetzt oder nie war die Devise! Und Sylvie Debora wußte auch schon ganz genau, wie. Sie würde ihn ein letztes Mal zappeln lassen, den ganzen langen Nachmittag für Maarli unerreichbar bleiben, das würde sein Gier nur noch
steigern, und außerdem brauchte sie diesen Nachmittag für ihre Vorbereitungen. Sylvie Debora sah ihren Triumph deutlich vor sich. Wein würden sie gemeinsam trinken oder Sekt, nicht zuviel, gerade genug für Leichtigkeit und Leichtsinnigkeit, sie würden sehr eng tanzen, bis hin zur Bewegungslosigkeit, und schon dabei würde sie ihn leiten, in seine Schlafkaverne würde sie ihn leiten, auf die breite Liege würde sie ihn leiten, ganz allmählich würde das geschehen, aber unterwegs schon würden sich ihre Hände verirren. Sylvie Debora wurde gänzlich unruhig, wenn sie sich vorstellte, wie sein Glied wachsen würde in ihrer Hand, wie sie zwei Dinge gleichzeitig zu tun haben würde, den ungestümen Jüngling abzuwehren und zu lenken nämlich und dabei die beiderseitige Lust noch anzuheizen. Schon jetzt kostete sie das herrliche Gefühl, die köstliche Vorlust aus, was sie beide fühlen würden, wenn sie ihn endlich eindringen ließ, auf der breiten Liege und im rötlichen Dämmerlicht, und wie sie sich drehen würde auf ihm. Und sie würde ihren Körper mit Infrarotfarben bemalt haben, weshalb im roten Dämmerlicht ihre Brüste wie farbige Blitze vor seinen und vor ihren Augen zu tanzen beginnen würden. Denn Sylvie Debora hatte nicht ohne Grund in der Schlafkaverne ihres Schützlings einen riesigen halbrunden Spiegel anbringen lassen, der dessen Liege einschloß, wie eine Schale eine Muschel einschließt, und Sylvie Debora wurde durch nichts stärker erregt als durch den Anblick des Wippens ihrer Brüste, vor allem wenn sich lange entbehrte Lust breit machte, wenn diese Lust im Körper nach oben stieg, auf immer neuen Bahnen von ihr Besitz ergriff, wenn die Gedanken verstummten und nichts blieb außer wippender Wollust und dem Maarlischen Speer im Innern! Und so fuhr die schöne Debora mit Fingern und Pinseln und Quasten und Tupfern in die Schminktöpfe, ihre Haut war dünn und empfindlich geworden in der Zeit der Enthaltsamkeit, und schon in der langwierigen Vorbereitungsphase entwickelte sich die Vorlust gelegentlich zu stärkerer Lust, es waren aus diesem Grunde längere Pausen vonnöten.
Die Pausen verkürzte sie sich mit einigen Schlucken Mate. Das prickelnde Getränk hielt ihre Stimmung auf dem Punkt, Sylvie Debora fand sich aufregend, ihre Bemalung, die im normalen Licht unsichtbar war, präsentierte sich erst unter der Infrarotlampe. Den Nachmittag empfand sie allmählich als lang, als sehr lang, und ein bißchen stolz war sie auf ihre weibliche Grausamkeit der Maus Maarli gegenüber. Denn alle Außenverbindungen des Deboraschen Wohnbereiches waren gekappt, mochte sich der Junge die Finger nach ihr wundtelefonieren! Da jedoch hatte die Katze die Rechnung ohne ihre Maus gemacht. Während sich die Debora salbte und schminkte und auf den großen und den kleinen Wellen ihrer Vorlust den abendlichen Höhepunkten entgegenschwamm, bemühte sich Maarli kaum um einen Kontakt mit seiner schönen Betreuerin. Er hatte einmal anzurufen versucht, um Bericht über den Massupek-Besuch zu erstatten, die Verbindung war jedoch nicht zustande gekommen. Seine Pflicht erachtete er als erfüllt, Punktum, andere Dinge erschienen ihm jetzt viel dringlicher. Denn was er bei Danuta Massupek erfahren hatte, warf letztendlich den gesamten Plan seines Ausbildungsganges über den Haufen. Machte ihn zu wertloser Ideenspielerei. Sie hatten sich den Sprung zurück an die Oberfläche einfacher vorgestellt, die naiven 211er. Sauerstoffsammler aufgesetzt, Samen ausgestreut, dabei kräftig in die Hände gespuckt und angefangen! Aber daraus konnte nun nichts werden, weil sich sein Wissen um die Voraussetzungen geändert hatte, sehr gründlich sogar. Über die Konsequenzen des Massupek-Besuches wollte Manuel nicht allein nachdenken, geschweige denn einsame Entscheidungen fällen. Jetzt waren die Erfahrungen all jener gefragt, die bis vor wenigen Wochen den Ausbildungsstollen miteinander geteilt hatten, die sich während der Abschlußfeier an den Schultern gehalten und geschrien hatten: »Iru supren!« Jetzt mußte neu entschieden werden, ob vom großen Plan überhaupt noch etwas zu retten war!
In Maarlis Überlegungen spielte deshalb Sylvie Debora nur eine untergeordnete Rolle. Eher schon Alina Simon, vor allem aber Jacob Schwerte. Zum ersten Mal verließ der junge A-Terrat seine Ebene. Ging zum zentralen Fahrkorb, drückte auf die Ruftaste, es dauerte nur kurze Zeit, dann öffnete sich die Tür, und einige D-Terraten machte ihm devot Platz. Keiner von ihnen hatte zum Ausbildungsgang 211 gehört. Manuel war sich sicher, diese Leute nie zuvor gesehen zu haben. Die Fahrt des Korbes in die C-Ebene schien nicht zu Ende gehen zu wollen. Die D-Terraten starrten ihn schweigend an. Ihre Blicke deutete Maarli als eine Mischung aus Furcht und mühsam unterdrücktem Haß. Er konnte sich in dieser Interpretation durchaus täuschen, aber daß ihn niemand freundlich ansah oder ihm gar zulächelte, das war sicher, das hätte er beschwören können. In der C-Ebene herrschte lebhaftes Treiben. Im Hauptstollen dieser Ebene sah Maarli eine ununterbrochene Kette von Automaten und kleinen Buchten, in denen Waren aller Art unter lautstarken Diskussionen die Besitzer wechselten. An ihren einheitlichen Kleidungen leicht zu erkennen und zu unterscheiden, drängten sich vor allem D- und C-Terraten in diesem Stollen, und selbst im größten Gedränge blieb immer genügend Platz für Manuel Maarli. Die Terraten in dieser Ebene schienen ein Gespür dafür zu haben, daß da ein A-Terrat auf dem Wege war, und machten Platz. Als wäre es die normalste Sache der Welt, war Manuel in diesem Gewimmel, in diesem Hasten, Schreien, im Stoßen, im Feilschen und Schleppen völlig allein. Um ihn herum gab es stets einen Meter freien Raumes, um ihn herum verstummte das Geschrei, vor seinen Augen verschwanden irgendwelche Gegenstände eilig in Beuteln und Taschen. Und hinter ihm schlug die Woge der Geschäftigkeit wieder zusammen und nahm der Handel seinen Fortgang.
Manuel Maarli mußte einige Zeit suchen, bevor er Jacob Schwerte in dessen Schaltwarte entdeckte. Der ehemalige 211er saß vor einem Gründisplay und führte mit seiner rechten Hand die elektronische Maus. Mit ihr schob er einen Pfeil über das Bildmenü und löste so Ketten von Befehlen und Anweisungen eines Prozeßrechners aus. Von Manuels Anwesenheit nahm er erst Notiz, als der eine Hand auf seine Schulter legte. Jacob Schwerte sah nur kurz auf, dann wandte er sich wieder konzentriert seiner Arbeit zu. Keine Spur von Wiedersehensfreude, als er sagte: »Du also! Daß es dich noch gibt!« »Mach aber gefälligst einen Punkt, Jacob!« »Mach aber gefälligst einen Punkt, Jacob!« äffte Schwerte nach. »Schon ganz A-Terrat, der Herr Maarli! Da können in der Zwischenzeit deine ehemaligen Freunde bis zum Hals im Dreck stecken, das kümmert dich nicht, du machst dich halt rar und sagst dann noch, mach gefälligst einen Punkt, Jacob, und wisse die Ehre zu schätzen, die ich dir mit meinem Besuch angedeihen lasse!« »Du sprichst für mich in Rätseln!« »Ich spreche mit dir überhaupt erst wieder, Herr A-Terrat, wenn du stante pede zum nächsten Nahrungsautomaten gegangen sein wirst, wenn du dich auf dem Wege dorthin deiner alten Freundin Alina Simon erinnert haben wirst, wenn du ihr ausreichend Verpflegung verschafft haben und sie ihr in ihre Ebene getragen haben wirst, eigenhändig! Denn die hat sich auf dich und auf deine Hilfe verlassen, mein lieber Freund! Und der geht es wirklich dreckig! Danach kannst du wiederkommen, dann habe ich nämlich Feierabend und würde eine Freizeitstunde für dich opfern, Maarli!« Und Jacob Schwerte führte nach dieser Rede seine Maus so entschieden über den Bildschirm, daß es für Manuel gar keine andere Wahl gab, als seiner Aufforderung zu folgen und zum nächsten Verpflegungsautomaten zu gehen. Es waren genügend erreichbar, und es wurden ihnen auch ab und zu ein paar Kleinigkeiten entnommen. Dem A Terraten fiel es trotz des Abstandes, der sich sofort wieder um seine Person
bildete, auf, daß die Leute hier ihre Bons ganz schön drehten und wendeten, bevor sie sich von ihnen trennten. Zum ersten Mal schämte sich Manuel eines A-Privilegs, des Privilegs nämlich, auf solche Bons nicht angewiesen zu sein, sich nach Belieben bedienen zu können, allüberall im Schacht. Als er den Fahrkorb in die E-Ebene betrat, war er mit zwei schweren Beuteln voller Nahrungsmittel befrachtet. Alina würde künftig nichts vermissen müssen, nach welcher Köstlichkeit ihr auch immer der Sinn stehen sollte. Hatte sein Erscheinen in der C-Ebene schon eine deutliche Reaktion unter den dortigen Terraten bewirkt, hatte sich ein unüberwindlicher Abstand herausgebildet, so wirkte sein Ausstieg in der E-Sohle wie eine echte Sensation. Er verließ den Fahrkorb, das Leben in der Eingangshalle schien augenblicklich zu ersterben, die vielen E-Terraten verharrten regungslos, und es entstand eine bedrohlich wirkende Stille. Manuel Maarli begann sich unbehaglich zu fühlen. Fast schon empfand er Furcht. Denn die Leute schwiegen zwar und rührten sich nicht, aber sie sahen ihn an, und ihre Blicke waren nicht gerade freundlich zu nennen. Noch stand hinter ihm der Fahrkorb offen. Er hätte wieder einsteigen und mit seinen Beuteln in der Hand in seinen angestammten Bereich zurückfahren können, zu den Sylvie Deboras, den Ralf Belands, zu Danuta Massupek, aber während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, schloß sich die Tür, der Fahrkorb setzte sich ohne ihn in Bewegung, und es blieb ihm nur noch der Weg nach vorn. Ein E-Terrat kam schließlich langsam auf ihn zu, offensichtlich kein gewöhnlicher E-Terrat, denn seine herausragende Stellung war mit einer breiten grünen Armbinde kenntlich gemacht. Dieser Terrat blieb zwei, drei Schritte vor Manuel stehen und sagte: »Ich begrüße dich in unserer Ebene, A-Terrat! Dein Besuch ist für uns alle eine große Ehre. Darf ich dich nach deinem Begehr fragen?«
»Ich suche eine Terratin aus dem Ausbildungsgang zweihundertelf«, sagte Manuel und bemühte sich um Festigkeit in der Stimme. »Sie heißt Alina Simon!« »Dein Wunsch ist mir natürlich Befehl!« entgegnete sein Gegenüber und winkte zwei andere E-Terraten heran, die Manuel die schweren Beutel aus den Händen nahmen. »Wir werden dich durch unsere Ebene führen, A-Terrat!« Allmählich nahm das Leben in der Eingangshalle der E-Ebene seinen gewohnten Fortgang. Die Stollen dieser Ebene waren schlecht beleuchtet, holprig und feucht. Der Fels strahlte eine schwüle Wärme ab und trieb Manuel nach kurzer Zeit den Schweiß aus allen Poren. Die Luft roch verbraucht, und jeder Schritt strengte ihn an. Jetzt war er froh, daß er die beiden Nahrungsmittelbeutel nicht selbst zu schleppen brauchte. Manuel wurde von seiner Eskorte in eine Art Zentralkaverne geleitet. An der Stirnwand dieser Höhle hing eine große Stecktafel mit einigen hundert bunten Symbolkärtchen. Viele der Karten waren seit längerer Zeit nicht bewegt worden, auf ihnen hatte sich grauer Staub abgesetzt und begann die Farben abzudecken, während der neue Lack anderer noch glänzte. Man bot dem ATerraten einen Stuhl an, und der Terrat mit der Armbinde fragte den Besucher: »Verzeih, ich habe mir leider den Namen nicht gemerkt. Wen wolltest du besuchen?« »Simon, Alina Simon«, wiederholte Manuel. Der E-Terrat hatte nach wenigen Sekunden das richtige Kärtchen gefunden und erklärte: »Du hast Glück, A-Terrat! Simon, Alina hat zur Zeit Freiwache. Ich führe dich zu ihr, wenn du befiehlst!« »Du würdest mir damit in der Tat einen großen Gefallen erweisen«, entgegnete Manuel Maarli und mußte lächeln. Er hatte die begehrlichen Blicke seines Gegenübers auf die Pakete richtig
gedeutet. Ein kleines Päckchen wechselte unauffällig seinen Besitzer, und der E-Terrat wurde mit einem Schlag ganz erheblich freundlicher: »Im Vertrauen gesagt, A-Terrat, es wurde Zeit, daß sich jemand aus einer höheren Ebene mit dieser Person befaßt. Ich habe noch keinen einzigen Terraten erlebt, der uns derartige Schwierigkeiten bereitet hätte wie Alina Simon!« Manuel Maarli antwortete nicht, er starrte seinen Gesprächspartner nur eindringlich an. Der fühlte sich aufgefordert, seinen Bericht fortzusetzen. »Kein Gefühl für die Talpater, kein Gespür für den Gang der Erze, keine Ausdauer in ihrer tagtäglichen Arbeit, aber dafür Querulanz und Nörglertum, ausreichend für einen ganzen Jahrgang! Ich frage mich manchmal, was mit diesem Ausbildungsgang zweihundertelf geschehen sein mag. Aber jetzt bist du ja da, A-Terrat, ab jetzt wird wieder alles seinen Gang gehen!« Während der ganzen Zeit hatte der E-Terrat das ihm zugedachte Päckchen in der Hand gedreht und gewendet, hatten seine Finger gedrückt und gefühlt, und keine dieser Bewegungen war Manuel entgangen. »Du hast recht, E-Terrat«, sagte Maarli schließlich. »Ich werde mich kümmern. Wenn die Dinge so schlecht stehen, wie du sie mir geschildert hast, werde ich mich kümmern müssen!« Alina Simon schien den Besuch Manuels an diesem Tag und zu jener Stunde erwartet zu haben. Vielleicht aber hatte sich die Anwesenheit eines A-Terraten in der E-Ebene auch nur herumgesprochen, jedenfalls rannte sie ihm ungeachtet der Tatsache entgegen, daß Manuel von drei E-Terraten eskortiert wurde. Bevor er überhaupt zu reagieren vermochte, hing sie an seinem Hals, klammerte sich an ihm fest, und bis zu ihrer Wohnwabe waren noch reichlich hundert Schritte zurückzulegen.
Die Terraten seiner Eskorte blieben wie angewurzelt stehen und schienen jedes Wort, jede Bewegung und jede Geste zu registrieren. Schlimmer noch, andere E-Terraten gesellten sich hinzu, die Zahl der Beobachter wuchs unaufhaltsam. Manuels Besuch geriet zur Show, Alinas Verhalten zur unerhörten Sensation. Die jedoch schien von all dem nichts zu spüren, ihr Körper hing viel leichter als früher in Manuels Armen, und ihr Gesicht drängte sich an seines. Die kleine Karawane kam nur langsam voran, und Manuel verstand die Blicke seiner Begleiter inzwischen in aller Deutlichkeit zu lesen: Wenn dein Besuch solche Formen annimmt, Freundchen, dann lassen wir uns nicht mit einem Päckchen abspeisen, dann wirst du sehr viel tiefer in deine Geschenkbeutel greifen müssen, weil sich der Rat für derartige Liaisons immer sehr interessiert! Und zu allem Überfluß flüsterte Alina glücklich, aber viel zu laut: »Daß du endlich gekommen bist, mein Lieber, daß du endlich gekommen bist!« Dieser Satz verdarb den Preis vollends, und als Manuel die Wabentür der bescheidenen Simonschen Unterkunft endlich schließen konnte, hatten sich die Eigentumsverhältnisse an den Mitbringseln doch recht gründlich geändert. Für Alina Simon blieb das wenigste. »Ich hatte das alles eigentlich für dich vorgesehen«, sagte Manuel und legte den leicht gewordenen Beutel auf den einzigen Tisch der Wohnwabe. »Ist das jetzt noch wichtig?« fragte sie, und es leuchteten ihre Augen, daß er ihrem Blick nicht standzuhalten vermochte. »Wichtig ist doch nur, daß du endlich gekommen bist, daß wir uns wiedersehen können, daß es losgeht, ›lru supren!‹« Gleich würde sie wieder an seinem Hals hängen und sich an ihn drängen, und er würde ihren Körper erzittern fühlen unter jeder Berührung seiner Hand. Sie konnte ihn verschlingen in ihrer biegsamen und empfindlichen Gier, und er mochte das auch,
mochte es sehr, nur nicht jetzt, nicht an diesem Ort und zu dieser Stunde und auch nicht unter diesen Bedingungen. »Du hast ziemlich abgenommen«, sagte er deshalb so sachlich als möglich. »Reichen die Verpflegungsrationen auf deiner Ebene nicht aus?« Alina Simon überhörte die Bezeichnung »deine Ebene«, Alina erzählte Manuel, was sie hier vom ersten Tage an erlebt hatte, sie erzählte aus ihrer Sicht, sie gab ihre Version zum besten, sie sprach davon, wie ungemein tückisch sich die Talpater jedem Lenkversuch widersetzen konnten, wie verteufelt leicht und spurlos ein Erzgang im Taubgestein zu verschwinden verstand, sie sprach davon, daß ihre Kolleginnen ihre Hilflosigkeit schamlos auszubeuten versuchten und daß sie sich gegen diese Ausbeutung zur Wehr setzte, manchmal. Das alles war aus ihrer Sicht sicherlich richtig, und dennoch, wenn man den Simonschen Report auf seinen Kern reduzierte, und Manuel tat das, dann kam dabei jener Satz heraus, den der E-Terrat in seiner Kaverne bereits formuliert hatte: »Kein Gefühl für die Talpater, kein Gespür für den Gang der Erze, keine Ausdauer in ihrer tagtäglichen Arbeit, aber dafür Querulanz und Nörglertum, ausreichend für einen ganzen Jahrgang!« »Du mußt hier raus!« konstatierte Manuel, nachdem Alina ihren Bericht beendet hatte. »Natürlich«, entgegnete sie lachend, »muß ich hier raus. Wir alle müssen hier raus. ›Iru supren!‹« »Laß solchen Blödsinn!« fuhr er sie an. »›lru supren, Iru supren, Iru supren!‹ Als wäre dieses ›Geht nach oben‹ so einfach! Als müßten alle Terraten nur gemeinsam in den Fahrkorb steigen und die entsprechende Taste drücken, und es wäre natürlich sehr praktisch, wenn da auch noch draufstände ›Geht nach oben!‹, damit sich ja kein einziger Dussel verfährt, und schon ist die ganze Aktion erfolgreich gelaufen! Ich weiß inzwischen ein bißchen mehr über die Oberfläche als du. So einfach wird das nicht gehen mit
›lru supren‹, wie wir uns das ausgemalt hatten! Aber du mußt hier raus. Und zwar bald!« Das waren die Sekunden, die eine Welt verändern konnten. Eine ganz persönliche, kleine, im Grunde völlig unbedeutende Welt einer gewissen Alina Simon. Nach derartigen Sekunden stand zwar der Stuhl noch, wo er zuvor gestanden hatte, war zwar der Fels noch derselbe Fels und das trübe Licht in der Wohnkaverne der EEbene das gleiche trübe Licht wie zuvor. Und es war dennoch alles verändert. Bar jeder Hoffnung standen die Dinge nackt in der Gegend herum, und eines der nacktesten Dinge war für Alina Simon die Seele Maarlis. Da hatten sie also alle zusammen recht behalten, die behauptet hatten, A-Terrat sei und bleibe A-Terrat, man könne Feuer und Wasser nicht miteinander vereinen, gleichgültig, mit welchem Namen man die beiden Elemente auch belege. Und sie, das wußte Alina, sie war das Feuer, sie war das ›lru supren‹, sie loderte, und jener Fremde, der früher einmal Manuel geheißen hatte, war das kalte, das eiskalte Wasser, das wenig Mühe zu haben schien mit einem Feuerchen wie dem ihren, noch dazu ganz unten in der E-Ebene! »Es kann schließlich nicht eine unüberwindliche Schwierigkeit sein, seine Arbeit zu machen, unauffällig, wie wir es miteinander besprochen hatten«, sagte Maarli unterdessen. »Reiß dich gefälligst zusammen, ich hole dich hier raus, sobald ich einen Weg gefunden habe. Du kannst dich auf mich verlassen!« Manuel ging auf sie zu, aber Alina wich vor ihm zurück und stand mit dem Gesicht an die Kavernenwand gelehnt. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Also Kopf hoch, Alina. Ich lasse dich über Jacob mit zusätzlichen Nahrungsmitteln versorgen. Du siehst ja aus, als wärst du schon halb verhungert! Und unauffällig, Alina, unauffällig, wenn überhaupt noch etwas aus unserem gemeinsamen Plan werden soll!« Sie drehte sich nicht um, und sie antwortete nicht, und so verließ er schließlich ihre Wohnkaverne. Draußen wartete noch immer der
E-Terrat mit der Armbinde. Aber Manuel sprach auf dem langen Weg zum Fahrkorb kein Wort, sosehr der andere auch nach einer Bewertung der Simon, Alina durch einen Repräsentanten der höchsten Ebene gierte. Etwa zur gleichen Zeit, da Manuel Maarli in der E-Ebene den Fahrkorb betrat, um, wie verabredet, Jacob Schwerte aufzusuchen, hatte Sylvie Debora das Kunstwerk auf ihrer bloßen Haut fertiggestellt. Der Begriff Kunstwerk war keinesfalls übertrieben, denn von den Fußspitzen aus zogen sich verschlungene blaue und rote Streifen über ihren Körper, verwirbelten sich, wurden entfaltet, waren letztendlich zu einem Kelch gestaltet, dessen Grund der eine Punkt war, um den es heute zu gehen hatte, wie immer man es auch betrachtete. Unter der Rotlichtlampe begannen die Farben zu schillern, und wenn sie sich drehte oder wenn sie sich wand, wie sie es zweifelsfrei bald tun würde, die Beute Maarli unter sich und in ihr, dann verschmolzen die Farben zu einer wilden Melodie. Eine Sekunde überlegte Sylvie, ob es nun nicht doch an der Zeit sei, Manuel anzurufen und ihn vorzubereiten und einzustimmen, dem Spiel der Körper also das Vorspiel der Stimmen zuzugesellen, aber dann legte sie den Hörer wieder auf das Terminal. Was brauchte dieser Jüngling schon großartige Einstimmung, wie viele Worte waren notwendig, um einen Pfeil von einem gespannten Bogen zu bringen, wo doch jeder sah, wie die Sehne zitterte. Nein, der Beuteschlag würde unmittelbar erfolgen müssen, ohne die geringste Vorwarnung und ohne Wenn und Aber, denn ein jedes Ding hatte seine richtige Zeit! Sylvie Debora warf also einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Das Fell glänzte, die Krallen waren geschärft, die Pirsch konnte unverzüglich beginnen! Und als Manuel in der C-Ebene angekommen war und dort den Fahrkorb verließ, stand die Debora bereits vor seinem Wohnkomplex und ließ ihre Finger
über die Signaltastatur gleiten, langsam, zärtlich, wenn nicht gar mit einer gewissen Feierlichkeit. Sylvie Debora und Manuel Maarli befanden sich plötzlich, unvorbereitet und ohne voneinander zu wissen oder ohne es zu ahnen, in gleicher Situation: Nichts rührte sich! Sylvie Debora stand vor der Wabentür ihrer Beute herum, und es rührte sich nichts, Manuel Maarli saß vor Jacob Schwerte, und es rührte sich ebenfalls nichts. Da konnte er reden wie ein Buch, da konnte er Fakten aneinanderreihen, konnte sie logisch miteinander verknüpfen, so daß ein dichtes Netz von unumstößlichen Argumenten entstand, an diesem Schwerte prallte das alles ab. Der hatte ein Gesicht, das sich immer mehr der Felswand seiner kleinen Wohnkaverne anzugleichen schien und am Schluß kaum noch zu unterscheiden war von diesem Gestein. Grau, faltig, unbeweglich. Vor allem unbeweglich. Und während die Debora nun schon zum dritten oder vierten Mal die Signaltasten drückte, gar nicht mehr feierlich und auch nicht mehr zärtlich, und dabei das Gefühl hatte, jene wunderbar anregenden Farbschichten auf ihrer Haut würden zu blättern beginnen, sagte Jacob Schwerte, was für einen Bewohner der C-Ebene im Grunde eine Ungeheuerlichkeit war, zum A-Terraten Maarli: »Ich glaube, es ist besser, wenn du mir aus der Sonne gehst! Deine Aufträge für Alina werden erfüllt!« Manuel Maarli schlug die Schwertesche Wabentür zu. Nachdrücklich. Sylvie Debora öffnete den Maarlischen Wohnbereich mit Hilfe des Ratsrufes. Und trat ein. Nachdrücklich. Tschilin Mohrung spürte zuallererst ein leichtes Kribbeln in ihrer Nase. Dann wurde es allmählich etwas heller um sie, sie spürte, daß sie von irgendwoher auftauchte, ohne sich vorerst recht besinnen zu können, aus welcher Tiefe sie kam und wohin sie trieb.
Das Kribbeln setzte sich über Hände und Finger fort und wurde ausgesprochen lästig. In ihrem linken Arm wurde es warm, später heiß, und eine kaum noch erträgliche Hitze durchflutete nach und nach ihren ganzen Körper, und plötzlich gehorchten ihr die Augenlider auch wieder. Die Umrisse, die sie erkannte, waren noch verschwommen, aber es waren zweifelsfrei die Umrisse eines Menschen, und dieser Mensch konnte nur Reinke de Vos sein, wer sonst als Reinke! Die Hitze in ihr überstieg jedes vernünftige Maß, sie fühlte sich verbrannt und gebrüht, denn ihr Herz jagte unerbittlich ein dreihundertacht Grad Kelvin heißes Blut durch die Adern und nahm ihr so auch den letzten Rest der wohligen Kälte. Jeder Herzschlag tat weh, und niemand half ihr, niemand konnte ihr helfen, auch Reinke konnte ihr nicht beistehen, denn Tschilin Mohrung revitalisierte aus der Anabiose, und dieses Erwachen war ebenso quälend wie eine Geburt. »Langsamer fahren!« befahl eine Stimme, und obwohl die Laute aus weiter Entfernung an ihr Ohr zu hallen schienen und noch dazu ziemlich verzerrt waren, wußte Tschilin sofort, daß das nicht die Stimme Reinkes gewesen war, und ein unruhiges Zittern lief über ihre Haut. »Verdammt, ich habe gesagt, langsamer fahren!« Der Mohrungsche Herzschlag verlangsamte sich endlich, die innerliche Hitze war nun auszuhalten, allmählich erschlossen sich ihr weitere Erinnerungsfelder. Es war, als würde ein Gletscher abgetaut werden, und unter seinem Eis tauchten Städte und Dörfer auf, begannen auf den Feldern die Saaten zu sprießen, auf den Marktplätzen die Schalmeien zu wimmern und vor den Rathäusern die Flaggen zu wehen. Der Kahn hieß »Solara III« und war unterwegs zur legendären Stammheimat, zur Erde, aber der Kommandant war ein fieser Geizhals und deshalb die Anabiose mit ihrer verfluchten Revitalisierungshitze. Alles klar! Nur Reinke de Vos hätte anwesend sein müssen bei ihrer Wiedergeburt, so war es eigentlich
der Brauch zwischen ihnen, und sein unerklärliches Fehlen machte sie unruhig. »Ich kann nicht mehr langsamer fahren«, sagte eine andere Stimme. Es war die Stimme einer Frau, und Tschilin hatte diese Stimme noch nie zuvor gehört, dessen war sie sich sicher. »Es normalisiert sich«, sagte nun wieder die Männerstimme, und da es die Stimme eines Mannes war und in Tschilins Erinnerung langsam freigelegt wurde, daß sie eine Frau war, richtige Frau, fühlte sie sich vom Timbre dieser Stimme auf angenehme Weise aufgefangen. Für Sekunden spürte sie den Atem des Mannes in ihrer Nähe, es konnte nur Reinke sein, der da atmete, und sie registrierte, daß sie zwei Brüste hatte, in die die Lebenswärme zurückströmte, daß ihre Haut wieder Empfindungen aufnehmen konnte, Kälte und Wärme, aber halt nicht nur Kälte und Wärme, auch jene Schauer, die nur ein Mann bei ihr auszulösen vermochte. Dieser Mann müßte freilich Reinke de Vos heißen, und Tschilin Mohrung öffnete ihre Augen. Das Bild war immer noch unscharf, und sie hatte viel Mühe, den viel zu raschen Bewegungen der Personen folgen zu können, aber den Chef der Crew Karel Nygard erkannte sie auf Anhieb. Wenigstens Nygard, dachte sie enttäuscht und zog den ersten warmen Atemzug in ihre Lungen. Der erste Fragesatz mußte aus ihr heraus, denn sie wollte einen Grund erfahren, diesem de Vos seine Abwesenheit zu verzeihen. Der Satz sollte eigentlich lauten: »Wo ist Reinke?«, aber es wurde noch nichts mit einem ganzen Satz. Den eisigen Stimmbändern war nur ein klirrendes Kreischen zu entlocken. Es klang, als schnitte eine Kreissäge unversehens einen Nagel, und Tschilin erschrak vor sich selbst. Dennoch hatte Karel Nygard den Sinn dieser Laute richtig zu deuten gewußt. Die Stunde war gekommen, vor der er sich so gefürchtet hatte, die er vor sich hergeschoben hatte, bis ein Ausweichen nicht mehr möglich war, denn Tschilin Mohrung war die letzte seines Teams, die sie aus der Anabiosekammer des
Wracks der »Solara III« herausholten, und die Energiebasis war bereits so schmal geworden, daß sie nicht einen Tag länger hätten zögern dürfen. Erneut und hartnäckig wiederholte sich die Übung der Mohrungschen Stimmbänder, die an Geschmeidigkeit gewannen von Minute zu Minute. Die Antwort wurde unausweichlich, und im ersten Augenblick war er Rajna Kasabov regelrecht dankbar, denn sie sagte laut und deutlich: »Du mußt ihr die ganze Wahrheit sagen, von Anfang an die Wahrheit, Karel!« Diesen Satz hörte und verstand Tschilin, und sie wußte sofort, daß etwas Schlimmes passiert war, daß Reinke de Voß nicht kommen würde, nie mehr kommen konnte, und die Figuren um sie herum begannen sich zu drehen, schneller und schneller drehten sie sich, kamen auf sie zugerast, gleichzeitig tat sich ein großes, buntes Loch vor ihr auf, einem Kaleidoskop ähnlich. Dorthinein stürzte sie und schlug neben einem grellgelben Splitter auf. Sie lag eine Weile, bevor sie sich wieder rühren konnte. Die Scherben sollten sich nicht fügen lassen, rutschten ihr aus der Hand, schnitten in Arme und Füße, wechselten die Farben und veränderten ihre Formen. Aber da kannte man Tschilin Mohrung schlecht, keine Ruhe gab sie, wühlte im Glasbruch, setzte zusammen, sortierte und klebte sich das unendliche Puzzle an die Stirn. Als der Spiegel endlich vollendet war, sah sie hinein und erkannte deutlich, blau und gelb, Reinke de Vos. Reinke de Vos und niemanden sonst. Das sagte sie auch, und ihre Stimmbänder funktionierten, daß sie eine Opernarie hätte schmettern können, denn Reinke de Vos stand vor ihr, sie durfte ihm um den Hals fallen und ihn Geliebter nennen, und sie fühlte seine beruhigende und aufregende Hand auf ihrem nackten Rücken. Für Tschilin Mohrung war die Welt wieder in ihre Ordnung gekommen. Von jetzt an hatte sie eine unendlich groß erscheinende Auswahl zwischen Reinke de Vos und Reinke de Vos
und Reinke de Vos, weil sie ihn suchte, erkannte, entdeckte in jedwedem Mann. Manuel Maarli lag noch im tiefen Schlaf, als an der Tür seines Wohnbereiches der Ratsruf ertönte. Der Ruf war in der Schlafkaverne nicht mehr sehr laut zu hören, und deshalb träumte Maarli zunächst nur, draußen vor der Tür stände wieder jene unausstehliche und unersättliche Debora, schon wieder stünde sie dort, schon wieder plane sie ein Tänzchen mit ihm, und er drehte sich um und rollte sich zu einer schützenden Kugel zusammen. Aber das Geräusch ließ leider nicht nach, und ganz allmählich tauchte Manuel aus seinem Traum auf und erkannte sich im Spiegel seiner Schlafkaverne, glücklicherweise allein, keine Debora weit und breit, nur das Klingeln wollte nicht nachlassen. Meine Güte, dachte Manuel, während er sich die Augen rieb, was für ein irrer Abend war der vergangene Abend doch gewesen! Da war er nichtsahnend in seinen Wohnbereich getappt, in Gedanken noch halb in der C-Ebene bei Jacob Schwerte und seinem Steingesicht, noch längst nicht fertig mit Simonscher und Schwertescher Reaktion auf seine Wahrheiten, da hatte er sich noch über das intensive Rotlicht in seinem Flur gewundert und erstaunt und verständnislos das grellbunte Wesen gemustert, das da aus seiner Schlafkaverne auf ihn zugerast kam, das vor seinen Augen flimmerte und flackerte und das ihn laut anschrie: »Wo bist du gewesen, verdammt noch mal!« An dieser Stimme hatte er schließlich Sylvie Debora erkannt und an der Bemalung ihre Absichten, und noch vor drei Tagen hätte er für solche Eindeutigkeit dieser Frau glatt die Hälfte seiner Seele verkauft, wenigstens aber ein Viertel. Am gestrigen Abend jedoch war er mit Kopf und Herz noch bei den 211ern gewesen, bei seinen Freunden, die er vielleicht schon verloren hatte, bei seinen Bundesgenossen, bei Alina, der Geliebten, der ehemaligen Geliebten vielleicht schon!
Am gestrigen Abend war ihm nur nach Einsamkeit, an diesem Abend hätte er sich liebend gern im nachtdunklen Balkon verkrochen und den tiefziehenden Wolken nachgeschaut, deren Bewegungen selbst am Tage mehr zu ahnen als zu sehen waren. Das aber war einer Debora nicht beizubringen gewesen, die griff zu, die griff nun endlich und nun unerbittlich zu, die zerrte ihn förmlich in die Schlafkaverne, die riß ihm die Klamotten vom Leib, die schüttete ihm und sich den Sekt in die Rachen, die warf ihn unter und sich drauf! Er hätte sich vorher einfach nicht vorstellen können, daß jemand derart aufdringlich sein konnte wie jene Sylvie in ihrer verdammten Kriegsbemalung, die bei jeder Bewegung vor seinen Augen zu flimmern begann, mit der er nicht zu Rande kam, die die ganze Figur dieses Weibes auseinanderriß und in ihm das Gefühl zurückließ, es würden tausend bunte Fetzen auf ihm herumwüten. Aber seine Ängste schienen die Debora nur noch zu belustigen und anzustacheln, sie sirrte und stöhnte und lachte und schrie, es war die seltsamste Sinfonie, die Maarli je gehört hatte. Die Geräusche hätten ihn wahrscheinlich viel weniger gestört, sie hätten ihn im Gegenteil beflügelt, wäre nicht am gestrigen Abend auch noch von ihm verlangt worden, daß er der Dirigent des wilden Einfrauorchesters zu sein habe. Eines Klangkörpers, der weder piano noch gar pianissimo zu spielen verstand, dessen Töne forte und fortissimo klangen, ob er nun wollte oder nicht, und dessen Tempi sich auch nicht nach dem Taktstock eines Manuel Maarli zu richten gewillt waren. Kurz, da sie endlich gekommen war, kam er überhaupt nicht klar mit der Frau mit dem Goldkettchen. Sie interessierte ihn nicht, mochte sie nun noch so sexy riechen und noch so grell schillern und mochte ihre violette Brust vor seinen Augen so sehr hüpfen und springen, daß er nur noch gelbe Kreise wahrzunehmen vermochte. Ein bißchen tat sie ihm leid in ihrem hartnäckigen Bemühen, aber das nur, weil er nicht wissen konnte, was sie dachte, denn ihre
Gedanken waren wirklich nicht gerade schmeichelhaft für ihn. Sie dachte, er sei ein Klotz, ein verdammter, den zu erbeuten sich nicht gelohnt habe, der nicht einmal seine Hände richtig zu gebrauchen wußte, der immer und in hartnäckiger Bosheit an die falschen Stellen griff, zur falschen Zeit und mit dem falschen Krafteinsatz. Darauf konnte sie warten. Dieser Jüngling streichelte lust- und einfallslos, wo sie fest angepackt zu werden wünschte, der griff hart, fast gewalttätig zu, wo ihr ein Hauch von Berührung ziemlichen Spaß bereitet hätte, er tat ihr folglich ständig weh und war überhaupt nicht richtig bei der Sache. Es war keine rechte Terratenliebe mit einem solchen ungefügen Klotz, die ganze wohlvorbereitete und mit Raffinesse arrangierte Aktion erinnerte sie letztendlich eher an eine verquere Mischung aus Leistungspflügen und Federspleißen, nach drei Stunden jedenfalls hatte sie endgültig genug von dieser untauglichen Beute und warf seine Tür enttäuscht hinter sich zu. So war der gestrige Abend gelaufen, schlecht und anstrengend. Manuel war schließlich in einen unruhigen Schlaf gesunken, mitten in der Nacht ein paarmal aufgewacht, einmal war er gar in seinen Balkon gestiegen, aber dort war im Schein der blauen Notbeleuchtung nichts zu sehen gewesen außer seinem unmäßig verzerrten Konterfei, das sich im Kuppelglas spiegelte. Erst am frühen Morgen war sein Schlaf tiefer geworden, traumlos, wie er meinte, aber nun wurde Manuel vollends munter, denn der hartnäckige Besucher vor seiner Tür gab keine Ruhe. Wieder und wieder quäkte die Signalanlage. Und es kam ihm vor, als quäke sie jedes Signal um einige Phon lauter als das vorangegangene. Manuel stand auf und schlurfte zur Tür. Sylvie Debora hatte durchaus ihre Spuren hinterlassen. Ihre Krallen hatten seinen Rücken bearbeitet und feine Kratzer eingegraben. Aber für Zeugnisse dieser Art interessierte sich der frühe Besucher kaum. Vor der Tür des Maarlischen Wohnkomplexes stand Georg
Weiher, und zuerst mußte Manuel überlegen, woher ihm dieses Gesicht bekannt war, bis ihm schließlich einfiel, daß einer der drei jungen Leute Danuta Massupeks vor ihm stand. »Kommen Sie, bitte!« sagte Georg Weiher, und Manuel sah ihm an, daß etwas Außergewöhnliches passiert sein mußte. Danuta Massupek war schwerkrank und lag auf einer Liege. Neben ihrem Lager standen Mustafa und San Tri Minh. Die seltsame Alte schien gerade eingeschlafen zu sein, aber als Manuel sich auf Zehenspitzen ihrem Bett näherte, schlug sie die Augen auf und sah ihn lange und nachdenklich an. »Da liege ich nun, wie du siehst«, sagte sie. »Und ich muß es genauso machen wie die anderen A-Terraten auch. Nur, daß ich dir nicht irgendeinen Job anzubieten habe, sondern eine wirkliche Aufgabe. Eine wichtige Aufgabe. Die wichtigste im ganzen Terratenstollen…« Jedes Wort strengte die Greisin an. Sie schien seit Manuels erstem Besuch um viele Jahre gealtert zu sein. »Wirst du, Maarli, meine Wahl annehmen und die Verantwortung für den genetischen Bestand tragen, wenn man mich in die letzte Kaverne geschleppt haben wird?« »Das wird sicher noch hundert Jahre dauern«, hätte Manuel zu jedem anderen Terraten gesagt. Aber diese Frau hatte ihr Leben lang mit Geburt und Tod von Lebewesen zu tun gehabt, sie wußte genau, daß auch ein Terratenleben nicht ewig dauerte, daß es sich irgendwann vollendet, das eigene zumal. »Ich werde die Verantwortung übernehmen, Danuta Massupek. Ich werde pflegen und bewahren, was du gepflegt und bewahrt hast«, sagte Manuel. Die alte Dame nickte zufrieden und schlief wieder ein. Zwei Tage später trug man sie in die Totenkaverne.
»Er hat zu schnell aufgegeben! Ich glaube, es ist besser, wenn wir die Lander bewachen«, hatte der Funker Malev gesagt. Mit seinen Befürchtungen hatte Malev recht und nicht recht gleichermaßen, denn Alpha hatte überhaupt noch nicht aufgegeben. Im Gegenteil, Alpha dachte etwa so: Der Kopf hatte möglicherweise gewackelt, aber er war nicht ab. Das Fahrzeug »Solara III« war unbestritten nutzlos, aber noch war längst nicht alles verloren. Der Neukommandant Nygard hatte zwar die besseren Argumente und das Raumreglement auf seiner Seite, aber noch war man nicht einmal auf der Erde notgelandet, geschweige denn wieder in die sicheren Gefilde des Ausrüstungshangars zurückgekehrt. Und vielleicht, so dachte Alpha, genügte es bereits, nichts zu tun, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, sich quasi unsichtbar zu machen, um das Blatt später doch noch zu wenden. So dachte Peer Alpha, er hütete sich also, auch nur einen Blick auf die Lander zu werfen, die Bewachung war überflüssig. Im Gegenteil, Alpha zog sich völlig zurück, hockte stundenlang über uralten Erdkarten und ließ seinen ehemaligen Ersten Offizier agieren. Denn nur wer etwas tut, dem können auch Fehler unterlaufen. Darin sah Alpha seine einzige Chance! Aber Karel Nygard hatte Glück, hatte verdammt viel Glück, stets flogen die Satellitengranulate um ein paar Meter am Wrack vorbei, irgendwie schaffte er es auch immer, die benötigte Energie aufzutreiben, er holte seine Leute, einen nach dem anderen, aus der Anabiose, und es schien Alpha, als habe sein Gegenspieler für jedes Blatt das passende fünfte As in seinem Ärmel stecken. In diesem Punkt war Alpha gänzlich Realist. Die Karten waren verteilt, das Spiel hatte begonnen, und jener Karel Nygard hielt die höheren Trümpfe in seinen Händen, klare Sache. Aber so völlig klar auch wieder nicht, denn es sollte schon vorgekommen sein, daß sich jemand im Gefühl völliger Sicherheit verwarf, und dann war da immer noch der dritte Mann, der in diesem Fall eine Frau war und Rajna Kasabov hieß.
Das alte gute Raumpferd, das mit ihm durch dick und dünn getrabt war und das sich jetzt für seinen Kontrahenten in die Sielen legte und die Karre nach Kräften aus dem Dreck zerrte. Doch dieses Pferd hätte brennend gern die Koppel gewechselt, den anderen Stallgeruch angenommen, aber das bemerkte Nygard offensichtlich nicht, war halt kein Kenner alter Schule, der Narr, und somit stellte Rajna Kasabov die unberechenbarste Figur in diesem Spiel dar, das dem Exkommandanten Alpha durchaus noch nicht verloren schien. Und weil noch nichts entschieden war, schwieg man besser, starrte in die Karten und träumte von besseren Zeiten, von einer »Solara IV«, größer, effektiver, schöner als alle ihre Vorgängerinnen gleichen Namens. Denn auch ein Robinson fand gelegentlich eine wertvolle Muschel, und er würde schon dafür sorgen, daß sie an den richtigen Stränden notlandeten. Der alte und der neue Kommandant gingen sich aus dem Weg, solange das im Wrack der »Solara III« möglich war. Aber es war nicht sehr lange möglich, denn Nygard verbrauchte schier Unmengen an Revitalisierungsenergie, und die konnte er nur noch dadurch freisetzen, daß er einen Raum nach dem anderen von der Energieversorgung abtrennte. Die »Solara III« wurde also ständig kleiner, enger, kälter. Gleichzeitig aber vergrößerte sich die Besatzung, gesellten sich Leute hinzu, die Alpha noch nie zuvor gesehen hatte und deren Blicke alles andere als Freundlichkeit verhießen. Die ihn behandelten, als habe er diese verdammte atomare Mine höchstpersönlich gelegt, als habe er sein Fahrzeug mit Gewinnvorsatz ins Vakuum gepustet. Namen wie Ramanda Krooptana oder Wassilij Tentrakowski oder Su von Ejken sollte er sich merken, denn so nannten sich die Leute, die Nygard zum Leben erweckte und die jetzt plötzlich mit Nahrung versorgt werden mußten, und die ihren, seinen Platz in Anspruch nahmen.
In das Wrack der »Solara III« zog der akute Energiemangel ein, und während der Revitalisierungsphase für einen gewissen Winni Smith brach zum ersten Mal die Sauerstoffreproduktion zusammen. Karel Nygard hatte sich also zum ersten Mal verworfen. Es war kein wichtiger Stich, der da an Alpha ging, kein As, keine Zehn, aber immerhin, er brachte ein paar Augen ein, mit denen der Exkommandant nicht gerechnet hatte. Denn ob er wollte oder nicht, Karel Nygard mußte ihm den Befehl geben: »Sie legen mit Lander eins vom Wrack ab, setzen auf dem Planeten auf, nehmen eine Rettungsstation in Betrieb, stellen die Verbindung zum Hangar her und richten für Lander zwei und Lander drei einen Peilstrahl ein. Fühlen Sie sich dieser Aufgabe voll gewachsen?« Die Frage des Neukommandanten war natürlich ein Tiefschlag, und Alpha fühlte sich einen Moment versucht, mit einem kräftigen Fußtritt zu antworten. Aber dann erschien es ihm wichtiger, daß ihn Nygard überhaupt mit dieser Aufgabe betraut hatte. Von nun an war es seine Sache, den richtigen Strand zur Muschelsuche anzusteuern. Geschickt genug angestellt, war diese Notlandung der erste Schritt zu einer künftigen »Solara IV«. Und er würde es geschickt genug anstellen, darauf konnte sich Karel Nygard verlassen! Die Hauptsache war die freie Hand in der Auswahl des Landeplatzes! Und deshalb galt es, den Stich einzustreichen und den Kampf auf einen Nebenschauplatz zu lenken, auf die Auswahl der Landerbesatzung. Und wenn möglich, dabei natürlich einen zweiten Stich machen! Jacob Boer mußte mit an Bord, Boer und Rajna, vor allem Rajna Kasabov! Doch es zeigte sich, daß mit dem Glück, dem Kartenglück zumal, kein Bund zu flechten war. Kommandant Alpha spielte die vermeintliche Trumpfkarte »Landerbesatzung« aus und verlor. Rajna Kasabov hörte sich seinen Vorschlag nicht einmal an, und auch Jacob Boer erklärte rundheraus, er zöge es vor, an Bord des
Wracks zu bleiben. Gerade ihn träfen da gewisse moralische Verpflichtungen. Was jeder verstehen müsse! Lander I legte schließlich ab, am Bordcomputer saß zwar Peer Alpha, und formal oblag ihm auch das Kommando über den kleinen Vortrupp, aber ihm im Rücken saßen fünf Leute der Nygardcrew, und die ließen keinen Blick von seinen Fingern. Der Start von Lander I verbesserte die Situation der anderen Besatzungsmitglieder im Wrack der »Solara III« nur unwesentlich. Täglich wurden zwei, drei Mann aus der Anabiose geholt, die sich dann zitternd und frierend aneinanderdrängten, zuwenig Wärme, zuwenig Sauerstoff, von allem zuwenig und zuviel von der Angst, irgendwann könne während einer Revitalisierungsphase die Energieversorgung völlig zusammenbrechen. Zumal der Eispanzer um den Außenbordreaktor allmählich wieder anwuchs und der Reaktor nur noch mit zwanzig Prozent seiner Leistung gefahren werden konnte. Die Nygardcrew hatte dieses Fahrzeug von Anfang an wahrlich nicht geliebt. Sie hatten ihre Pflicht erfüllt, basta. Einen Auftrag des Vizepräsidenten ausgeführt. Keiner von ihnen hatte sich in diesem morschen Kasten wohl gefühlt, mit Ausnahme Alphas natürlich und vielleicht Rajna Kasabovs. Aber, obwohl sie das Fahrzeug nicht gemocht hatten, jetzt ging es ihnen doch an die Nieren, es Stück für Stück aufgeben zu müssen. Um die Energieversorgung für ein paar zusätzliche Umläufe und um die nächste Revitalisierung abzusichern. Dennoch sank mit jedem Umlauf die Temperatur im Wrack weiter ab. Nur noch zwei Räume waren heizbar, und auch in ihnen war es inzwischen eiskalt geworden, obwohl sich dort die Leute zusammendrängten wie die Heringe in einem Schwarm. Und natürlich gab es noch immer keinen Funkkontakt, weder zum Hangar noch zu Peer Alpha und der Besatzung von Lander I. Die Ungewißheit war schlimm. Viel schlimmer, das schlimmste aber war die letzte aus der Anabiose, Tschilin Mohrung. Die nämlich eilte lächelnd von Mann zu Mann, strich allen über die
Haare, drängte sich an jedermann und sagte »Reinke«. Sie sagte »Reinke« zu jedem Mann, sie drängte sich auf, sie konnte diesen Tod nicht akzeptieren, und niemand aus der Nygardcrew wollte ihr den Unfall wieder und wieder erklären. Dann nämlich füllten sich die großen blauen Augen der Mohrung ganz langsam mit Tränen, sie stand auf, setzte sich auf den Schoß des nächsten Mannes und sagte abermals »Reinke«. Nur war ihre Stimme dann noch trauriger als zuvor, und die Tränen wollten nicht wieder versiegen. Das war das Schlimmste in jenen letzten Tagen der »Solara III«, und jeder sehnte die Minute herbei, in der die beiden verbliebenen Landefähren vom Wrack ablegen würden, und jeder hoffte insgeheim, Tschilin Mohrung würde Passagier des anderen Landers sein. Einmal hätten sich die Männer beinahe geprügelt, wenn nicht Karel Nygard und Rajna gleichzeitig dazwischengegangen wären. Dann wäre es Jacob Boer schlecht ergangen, denn zuvor hatte Tschilin auf seinem Schoß gesessen und »Reinke« zu ihm gesagt. Daraufhin hatte er sie an den Schultern gepackt und sie so heftig geschüttelt, daß ihre langen, kraftlosen Arme wie Holzlatten um den Leib schlenkerten, und sie angebrüllt: »Er ist nun mal leider tot, dein Reinke, verunglückt, draußen, im Raum, und du machst ihn mit deinem ganzen Affentheater auch nicht wieder lebendig!« Den Sinn dieses Satzes hatte Tschilin nicht begreifen können oder wollen, für sie stand lediglich fest, daß Reinke de Vos ihr weh tat und sie anschrie, daß sein Gesicht sehr unfreundlich war, daß er sie vielleicht nicht mehr lieben könnte, was den Untergang der Welt bedeutet hätte, und sie begann zu schluchzen. Da waren die Männer der Nygardcrew wie die Furien auf Jacob Boer losgegangen, und der hatte Glück gehabt, daß die Kasabov die Szene beobachtet hatte und rechtzeitig zwischen ihnen stand, zumal auch Karel auftauchte und seine Männer zurückhielt. Wenn eine tätliche Auseinandersetzung auch verhindert werden konnte, Jacob Boer hatte sich mit seiner Unbeherrschtheit wahrhaftig keine Freunde gemacht.
Im Betonsilo fünfzig Grad nördlicher Breite, dreißig Grad östlicher Länge rumorten und arbeiteten die Symbionten. Sie fraßen sich durch den steinalten und steinharten Weizen, die schoben unablässig Myzelfäden in die Körner, sie weichten und trieben den Stein auf. Es geriet ein Berg in Bewegung, ein Steinberg aus vergessenem Getreide. Die Steinkörner quollen, ihre Stärkeanteile vergoren und gaben Kohlendioxid frei. Das Gas staute sich, und der Druck im Betonsilo stieg allmählich an. Stieg unaufhaltsam an, denn längst hatte das quellende Altgetreide jeden noch so kleinen Spalt, jeden Eingang und jeden Ausgang verstopft. Das quellende Gut drückte Zwischendecken aus ihren Halterungen. Es schob leichte Wände zur Seite. Es waberte und schäumte die Treppen hinauf und begann den gleichen Prozeß in der nächsten Etage einzuleiten. Bis es schließlich nichts mehr zu quellen und wabern, zu verstopfen und beiseite zu drücken gab. Bis das Silo vom Fundament bis zum Dach mit der gärenden, brodelnden Masse angefüllt war. Bis nur noch der Druck zunahm. Immer mehr zunahm. Bis er Werte erreichte, für die kein Konstrukteur dieses Silo berechnet hatte. Der Beton knirschte. Erste Risse zeichneten die Außenwände. Aber nur wenig Gas konnte entweichen, denn sofort wuchs die Quellmasse in den Spalt. Der Druck nahm weiter zu. Steigerte sich von Stunde zu Stunde. Das Pflanzentier hatte zu seinem Glück seine Runde durch die Straßenfluchten bereits wieder aufgenommen, als das Silo explodierte und sich Leben und Nahrung weit über die Stadt verstreute. Ein Festtag war angebrochen! Es wurde also die alte Dame Massupek auf ihren letzten Weg gebracht. Der terratischen Tradition entsprechend, war sie fest in
breite, helle Tücher gewickelt, so fest und eng, daß man nicht glauben konnte, ein Terrat könne jemals so schmal gewesen sein. Danuta Massupek hatte sich Verdienste um die Terratengemeinschaft erworben, und deshalb fiel ihr Abschiedszug auch größer und prächtiger aus, als das bei anderen Leichen üblich war. Hinter der Kristallschale, in der man sie trug, schritten Lima Verde, der Ratsvorsitzende, gestützt auf einen Stecken und auf Jeanne Perra. In gebührendem Abstand folgten die A-Terraten, und die wiederum wurden von Manuel Maarli angeführt. Ausdrücklich von Manuel Maarli, denn das Ratsmitglied Perra hatte ihm diese Position zugewiesen. Die langen, weißen Abschiedsgewänder der A-Terraten leuchteten unter den Lichtschlangen entlang des Weges auf. Die Strecke bis zur Totenkaverne war ziemlich weit, und Manuel drehte sich vergeblich nach Sylvie Debora um, die im hinteren Drittel des Zuges ging und ihn an diesem Tag noch keines Blickes gewürdigt hatte. Überhaupt ging es im Abschiedszug recht schweigsam zu, lediglich Ralf Beland winkte Manuel freundschaftlich und unbeschwert zu. Die vielen älteren ATerraten mochten wohl an den Weg denken, den Danuta Massupek getragen wurde und den sie noch vor sich hatten, vielleicht schon bald vor sich hatten. Den Schluß des Zuges bildeten Mustafa, San Tri und Georg Weiher. Angetan mit der Normalkluft von Bewohnern der C- und der D-Ebenen. Das alles bemerkte Manuel, nur Sylvie Debora verstand es immer wieder, sich einem Blickkontakt zu entziehen, denn in ihren Augen war er halt ein Klotz, dieser Maarli, ein ungehobelter, ein dummer Klotz, nicht des Ansehens wert und vor allem nicht der Mühe, die sie sich mit ihm hatte geben müssen. Im Auftrage des Rates, versteht sich, nicht etwa aus eigenem Antrieb! Aber nun, nachdem ihn die Perra eigenhändig an die Spitze des Abschiedszuges für die Massupek beordert hatte, jetzt war ihre, jetzt war Sylvies Verantwortung für diesen Klotz ohnehin beendet.
Denn von nun an war Manuel Maarli offiziell der Nachfolger Danuta Massupeks. Der Klotz hatte den ersten Schritt auf seinem Karriereweg in den Rat hinter sich gebracht. Viel rascher, als sie gedacht hatte! Schließlich gab es Manuel auf, sich ständig umzudrehen und nach Sylvie Debora zu schielen. Sollte sie doch nach dieser verkorksten Nacht an ihre Computer zurückkehren und ihre bunten Fummelchen entwerfen. Für ihn hielt das Leben eine andere, wesentlich wichtigere Aufgabe bereit. Ihm hatte der Rat den größten Schatz der Gemeinschaft anvertraut, den Sinn ihres gesamten unterirdischen Daseins. Er hatte künftig die Genbank zu verwalten, er hatte es nun in der Hand, den alles entscheidenden, alles verändernden Befehl zu geben: »Iru supren!« Sie würden staunen, die 211er, Schwerte und Alina, sie würden staunen! Jacob Schwerte entdeckte Manuel unter den Zuschauern, als der Abschiedszug die Totenkaverne erreicht hatte. Aber an Schwerte war nichts zu erkennen vom großen Staunen. Jacob blickte uninteressiert an ihm vorbei, als Maarli aufstand und nach altem Brauch auf die tote Dame Massupek zuging, sich vor dem weißen Bündel verneigte und sagte: »Der Rat hat mir deine Arbeit in die Hand gegeben, Danuta Massupek. Ich werde sie fortsetzen!« Danach ergriff der Ratsvorsitzende das Wort, aber seiner Rede wurde keine große Aufmerksamkeit zuteil. Wohl, weil man die Sätze bereits zu oft gehört hatte. Anschließend wurde das Bündel Massupek in den unbeleuchteten Teil der Kaverne befördert. Diese Arbeit übernahm ein Laufband, und es sah wirklich aus, als löse sich der Leichnam im Nichts auf. Der Augenblick höchster Feierlichkeit war gleichzeitig Abschluß der Zeremonie. Es leerte sich die Kaverne allmählich, und wieder verstand es Sylvie Debora, Manuel Maarli aus dem Wege zu gehen. Dafür verstand es ein anderer besonders gut, die Wege des Maarli mehrfach zu kreuzen. Bis der gar nicht mehr anders konnte,
als Kenntnis von der ausgestreckten Hand Ralf Belands zu nehmen. »Gratuliere, mein Bester, gratuliere!« rief der Künstler überschwenglich. »Hörte gerade noch, daß es dir schlecht erginge, wollte dich schon besuchen und ein bißchen aufmuntern, ein Fläschchen in Ehren hätte man schließlich auch mit verbundenen Augen leeren können, nicht wahr, da jagt schon die nächste Neuigkeit die alte aus dem Bau! Und was für eine Neuigkeit! Hat sich rechtzeitig auf die große Reise gemacht, die alte Massupek! Genau zum richtigen Zeitpunkt für dich! Gratuliere, mein Bester, gratuliere!« Beland hielt die Hand Manuels gepackt, und so gingen sie an Jacob Schwerte vorbei, zwei weißgekleidete A-Terraten im Gespräch vertieft, förmlich Arm in Arm, gleich zu gleich, und Beland redete wie ein Wasserfall. Schien zu wissen, daß sich ihm sein Gesprächspartner entziehen würde, sobald der Redeschwall zu Ende gekommen wäre, und deshalb tönte es unaufhörlich weiter: »Ich habe mir immer gedacht, Manuel Maarli, der schöne Jüngling, schuldet dir noch einen Abguß! Allein seiner Schönheit wegen verdient er, verewigt zu werden! Nein, nein, keine falsche Bescheidenheit, junger Mann, die Wahrheit muß die Wahrheit bleiben! Aber jetzt hat mich die Zeit überholt, von nun paaren sich Schönheit und Verantwortung, von nun an werden sich deine Züge ändern, jetzt ist also der richtige Zeitpunkt gekommen, jetzt!« Endlich gelang es Manuel, seinen Arm frei zu bekommen. Ein paar Zentimeter Distanz zu schaffen zwischen sich und Beland und diese Distanz zu verteidigen, Schritt um Schritt. »Weißt du«, sagte er zu Beland, »es ist wirklich eine völlig neue Situation für mich entstanden!« Er blieb stehen, auch Beland blieb stehen, und irgendwie blieb auch das Belandsche Lächeln stehen. Wie mitten im Gesicht vergessen stand es da. Jetzt wäre die richtige Zeit gewesen, dem Bildhauer oder dem Figurengießer eiskalt zu sagen: »Laß mich gefälligst in Ruhe mit
deinen Scheißabgüssen! Mach dir ein Foto von mir oder eine Computerabtastung, wenn es unbedingt sein muß, und dann nimm dir eine Klamotte aus dem Berg und hau drauflos, frei Hand und frei Schnauze, an Zeit fehlt es dir ja nicht!« Niemals wieder hätte sich ein Ralf Beland nach solchen Sätzen an seinen Arm gehängt. Aber da war noch die Sache mit den Baikonen und den Skulpturen, die irgendwo draußen herumstanden und die Beland haben wollte, haben um fast jeden Preis, notfalls auch gegen den Willen des »Rätchens«. Und einem möglichen Verbündeten tritt man halt nicht ohne Not in den Hintern. Deshalb versuchte sich Manuel in einem freundlichen Lächeln und sagte: »Ich befürchte, Ralf, ich werde in der nächsten Zeit allerhand um die Ohren und wenig Zeit für andere Dinge haben. Versprochen bleibt aber versprochen. Ich schlage vor, daß wir über alles heute abend reden. Diesmal werde ich ein paar Flaschen kaltstellen!« »Prächtige Haltung, mein Bester, gefällt mir«, antwortete Ralf Beland, fand sein vergessenes Lächeln wieder und steigerte es zum Grinsen. »Du die Flaschen, ich die Weiber, und dann machen wir zwei ein richtiges Faß auf!« Manuel dachte an die Nacht mit Sylvie Debora und hätte Ralf Beland am liebsten sofort wieder ausgeladen. Aber es war nun einmal ausgemacht, Flaschen und Weiber, und die schönste Terratin mit ihrem Goldkettchen fiel sicherlich nicht unter den Belandbegriff »Weiber«. Wer ihnen aus einiger Entfernung zusah, als sie sich trennten, mußte den Eindruck gewinnen, hier rissen sich die besten Freunde mit Mühe und für sehr lange Zeit auseinander.
III
Die Walze
Für die Restbesatzung an Bord des Fahrzeugwracks »Solara III« hatte die letzte Erdumrundung begonnen. Reichlich zwanzig Minuten noch würden sie durch das gefährliche Trümmerfeld der Barriere zu taumeln haben, dann würde der letzte Lander vom Fahrzeug ablegen und auf den Leitstrahl zusteuern, den Peer Alpha in der Zwischenzeit aufgebaut hatte und den sie schwach empfangen konnten, wenn sie den zukünftigen Landeplatz überflogen. Sonst hatten sie keinen Kontakt zur Außenwelt, weder zu Exkommandant Peer Alpha noch zum Ausrüstungshangar. Seit Stunden steckten sie in ihren Raumanzügen. Die Energieversorgung der »Solara III« war endgültig zusammengebrochen, die Luft aus dem Fahrzeug entwichen, die meisten der unverzichtbaren Ersatzteile in den Landern verstaut, der Flugschreiber gesichert, das Hydrauliköl war eingefroren, es schloß kein Schott mehr, und das Regenerationssystem arbeitete bereits seit Tagen nicht mehr richtig. Unüberriechbar stank das Trinkwasser nach Urin, und meßbar fiel der Sauerstoffwert der Fahrzeugatmosphäre dem untersten Grenzwert entgegen. Die »Solara III« war zum Teil der Barriere geworden, Schrott hatte sich zu Schrott gesellt, und ohne fremde Hilfe würden sie die Anziehungskraft des Planeten Erde niemals wieder überwinden können. Diese Hilfe würde ohne Zweifel kommen, so sicher wie das Amen in der Kirche würde diese Hilfe kommen, denn die Menschheit ließ ihresgleichen nicht im Stich, koste es, was es wolle. Aber ob jemand waghalsig genug war, ihretwegen die Barriere zu durchstoßen und direkt neben der Rettungsstation aufzusetzen, das war doch mehr als fraglich. Vermutlich würde man sie von einer sicheren Parkbahn aus großzügig mit Bauteilen versorgen und hoffen, daß man sie jenseits der Barriere wohlbehalten in die Arme schließen könnte. Zum
Empfangskomitee würde natürlich der Vizepräsident gehören, und jedes Krokodil würde ihn um die wunderhübschen Tränen beneiden. Aber die Arbeit würde an ihnen hängenbleiben, so oder so, Karel Nygard würde alle Kräfte seiner Crew aufbieten müssen, damit die Robinsonade nicht zum Dauerzustand geriet. Alles war verstaut, jeder hatte seinen Platz eingenommen, mit Ausnahme von Tschilin, die sich in eine Ecke gehockt hatte und auf Reinke de Vos wartete. »Komm bitte«, sagte schließlich Karel Nygard zu ihr, »wir müssen jetzt gehen. Reinke wartet auf uns!« Tschilin, die bisher, in ihrem Raumanzug versteckt, regungslos in der hintersten Ecke des Raumes gehockt hatte und nicht ansprechbar schien, stand sofort auf und folgte dem Crewchef. Sie würde jedem folgen, sie würde überall hingehen. Man brauchte ihr gegenüber nur zu behaupten, man sei Charon, der Fährmann, und der einzige Weg zu Reinke de Vos führe über den Acheron ins Reich des Hades. Sie würde bedenkenlos in den Nachen steigen und noch dazu jedweden Obolus für die Überfahrt entrichten. Der Lander legte ab, das Wrack der »Solara III« blieb rasch hinter ihnen zurück, und im Bordrechner waren nun deutlich die Koordinaten des Peilstrahls auszumachen. Es war der unstete Wind, der das Pflanzentier aus der Stadt vertrieb, nachdem die Energiereserven so gut wie aufgebraucht waren. Es war der Wind, der unablässig Staub aufwirbelte, ihn in trichterförmigen Schläuchen durch die Straßen schleifte und ihn wie wertlos gewordenes Spielzeug an irgendwelchen Ecken ablegte, um andernorts das Spielchen erneut zu beginnen. Und häufig, viel zu häufig, lagerte der unberechenbare Wind sein Staubspielzeug auf dem Pflanzentier ab, kaum, daß sich das in der Sonne ausgebreitet hatte, um in Ruhe assimilieren zu können. Dann hatten die Symbionten zu tun, die grüne Oberfläche von den Partikeln zu säubern, damit das Licht ungefiltert einwirken konnte. Doch kaum war diese mühselige Prozedur abgeschlossen, tauchte
erneut ein Windchen auf, ein Wind, ein Stürmchen, ein Wirbel, und der erstarb genau über dem Assimilationsplatz der Tierpflanze und entlud sich seiner Last. Es war der Wind, der das Pflanzentier aus der Stadt vertrieb. Und deshalb rollte es nun wieder über die Ebene, langsam und behäbig, denn es war nicht mehr die schlanke, tobende Walze wie vor ihrem Stadtleben, jetzt schwappte ein See über die Landschaft, bestehend aus einem zähen System sich gegenseitig garantierenden Lebens, untrennbar verbunden zu einer Gemeinschaft ganz neuer Art. Aber nicht nur das Pflanzentier hatte sich verändert, auch mit der Landschaft, durch die es trieb, waren Wandlungen vor sich gegangen. Die endlos flache Ebene bekam erste Wellen, sanfte, fast unmerkliche Wellen. Von Tälern aus konnte man immer noch das flache Land erahnen, aber allmählich verengte sich der Horizont, und an einem Tage um die Mittagsstunde hatte das Pflanzentier seine Mulde gefunden. Eine Mulde, die es ausfüllen konnte wie ein kleiner grüner See. Eine Mulde, die Schutz zu bieten versprach gegen den Energiemangel der Nacht, die tief genug war, daß sich die Wärme des Pflanzentiers auf die innersten Symbionten zurückziehen konnte, die flach genug war, um jederzeit Kundschafter über Hügelketten auszusenden nach Beute. In dieser Mulde konnte man eine schützende Haut ausbilden, gläsern für das Licht und stabil genug gegen den anfallenden Staub. In dieser Mulde konnte man fadenförmige Tentakeln in die Erde senken und sich jenen Stoff im Überfluß holen, auf den das Pflanzentier angewiesen war und den es doch häufig genug hatte entbehren müssen, Wasser! Und so füllte die Tierpflanze die Mulde von Ufer zu Ufer aus, spannte über sich eine stabile Haut, trieb Fäden in den lockeren Boden, und eine Unzahl von Kundschaftern durchstreiften bald darauf das Umland auf festen Bahnen, kehrten zurück in den Gesamtorganismus, um Beute abzuliefern oder um neue Energie
für die weiten Wege zu tanken. Die Tierpflanze war seßhaft geworden. Als Manuel Maarli am späten Nachmittag endlich aufwachte, tat ihm sein Kopf erbärmlich weh, und er hatte einen Geschmack im Mund, als habe er aus der nächstbesten Mülltonne gefrühstückt. Aus dem halbrunden Spiegel hinter dem Bett glotzte ihn ein breites, aufgedunsenes Gesicht an, dessen Lippen sich bewegten, als Maarli versuchte, die ersten Töne herauszuwürgen. Die Kopfschmerzen und die Übelkeit gingen zweifelsfrei auf das Konto des Künstlers Ralf Beland. Und der war nicht nur Künstler, wenn es um Skulpturen ging, der war auch Künstler im Saufen und in dem, was er unter dem Begriff »feiern« zusammenfaßte. Trotzdem war ihm Manuel dankbar. Denn während dieser »Feier« hatte man ihn so ganz beiläufig auf eine Idee gebracht, durch deren Verwirklichung sich fast alle seine Probleme lösen ließen. Sie würden staunen, alle würden sie staunen, von Sylvie Debora angefangen bis hin zu Jacob Schwerte! Wenn nur sein Kopf endlich wieder zu einem klaren Gedanken fähig wäre! Manuel rappelte sich hoch, tappte langsam in seine Wohnkaverne, denn dort, in irgendeinem Schubfach, mußte sich eine Tablettenschachtel befinden, hinterlassen vom alten Panopolus und deponiert noch von der vorsorglichen Sylvie. In der Wohnkaverne brannte nur bläuliche Notbeleuchtung, und Manuel stieß mit dem Fuß gegen eine leere Flasche. Dem Geräusch nach rollte die aber nur ein paar Meter und kam an einem Stuhlbein zur Ruhe. Manuel fand den Lichtschalter, fand seine Schachtel mit den Tabletten und erschrak vor dem Chaos, das sich seinen längst noch nicht klaren Blicken bot. Rausschmeißen hätt' ich ihn eigentlich müssen, dachte er und schluckte das Präparat. Rausschmeißen, sofort, als er in der Tür stand! Obwohl sich Ralf Beland auf seine Art genau an die Absprache gehalten hatte: »Du die Flaschen, ich die Weiber!«
Aber dann hatte er vor der Tür Maarlis gestanden, eingerahmt von vier Terratinnen, die aufdringlich grell geschminkt waren und in Klamotten vor ihm standen, denen man ihre Funktion unzweifelhaft ansah: möglichst schnell in die nächstbeste Ecke geworfen zu werden nämlich. »Hallo, Maarli, mein Bester, da bin ich, pünktlich wie ein Steinbeißer! Wie du es von Sylviechen gewohnt bist! Und hab ich nicht einen prächtigen Hühnerhof mitgebracht, mein Bester? Auf, laß uns vortrefflich krähen, Maarli, vortrefflich!« Er schob die vier Mädchen vor sich her in den Maarlischen Wohnbereich, und die bewegten sich, als wären sie seit undenklichen Zeiten hier zu Hause. »Zwei werden wir natürlich rausschmeißen, mein Bester«, sagte Beland lachend, und zu den Mädchen: »Strengt euch an, ihr Paradiesvögelchen, sonst verdient ihr am heutigen Abend nicht ein einziges Bönchen!« Eine der Terratinnen streckte ihm daraufhin die Zunge heraus, und Manuel entschied spontan, daß diese blonde Frau würde bleiben können. Es wollte kein Gespräch aufkommen, die Musik war zu laut, und die bunten Fetzen lagen inzwischen im ganzen Raum verstreut. Zwei Mädchen waren schon völlig nackt und tanzten miteinander eng umschlungen und der Welt offensichtlich weit entrückt. »Guck dir die verrückten Hühnchen an!« schrie Beland belustigt. »Als wäre dies hier die Insel Lesbos!« Ralf Beland war jedoch der einzige, der über seinen Satz lachen konnte. Für Manuel war die erwähnte Insel kein Begriff, trotzdem lächelte er höflich. Die Mädchen fühlten sich überhaupt nicht gestört, keine der vier. »Ich soll dich etwas fragen«, flüsterte ihm das blonde Mädchen zu. »Laß uns zusammen tanzen!« Beland hatte anscheinend völlig vergessen, weshalb er gekommen war. Kein Wort mehr von einem Abguß, kein Wort
von irgendwelchen Skulpturen, Ralf Beland flegelte sich in einen Sessel und hielt Manuel ein ums andere Mal sein Glas hin. »Das sind die seltenen Momente, in denen ich die Vorzüge der A-Ebene zu schätzen weiß«, rief er aus. »Du läßt nur ein paar Bons springen, und schon hüpft alles auf dein Kommando. Die prächtigsten Hühnerchen, die unser kleines Gemeinwesen zu bieten hat. Aber davon hat dir Sylvie natürlich nichts erzählt, Maarli! Die wollte dich allein vernaschen, mein Bester! Soll aber dann doch nicht so ideal gewesen sein…! Das gönn ich der Schönen, Maarli, du bist ein verdammt kluger Mann, und ich gönn das dem Luder!« Die Blonde hatte Manuel inzwischen in die Raummitte gezogen, ihre Arme um seinen Hals geschlungen, ihr Mund war ganz dicht an seinem Ohr, und sie flüsterte: »Ich soll fragen, ob du noch eine Mitarbeiterin in der Genbank anstellen kannst, ›lru supren!‹« »Eine grandiose Idee, das liebe Sylviechen sich totzappeln zu lassen!« schrie unterdessen Beland. »Totzappeln vor ihrem Spiegel, diesem Prachtstück!« »Wer läßt fragen?« »Das kann ich dir nicht beantworten. Aber die Terratin, um deren Einstellung du gebeten wirst, heißt Alina Simon. Du wüßtest dann schon.« An den Rest des Abends und der Feier hatte Manuel nur noch sehr undeutliche Erinnerungen. Er wußte, daß er sich mit der Blonden in seine Schlafkaverne abgesetzt hatte, er wußte auch noch, daß das Mädchen unerwartet nett und anschmiegsam gewesen war. Aber trotz allem hatte sie ihm nicht verraten, wer hinter ihrer Bitte um Einstellung stand. Irgendwann in der Nacht mußten dann alle gegangen sein, auch das blonde Mädchen, nur noch ein paar Kleidungsstücke und ziemlich viele leere Flaschen lagen in der Kaverne herum. Und auf dem Tisch ein Zettel mit einer krakeligen Handschrift, offenbar
von Ralf Beland hinterlassen: »War so richtig nett bei Dir, mein Bester! Sollten wir gelegentlich wiederholen. Und über den versprochenen Abguß müssen wir noch reden!« Manuel zerknüllte den Zettel, sammelte die Flaschen ein und warf die Nachricht, leere Flaschen und die restlichen Kleidungsstücke in den Regenerationsschacht. Nur bei einem der bunten Fetzen zögerte er ein klein wenig. Nach dem ersten Kaffee spielte auch der Kopf wieder mit. Trotzdem vergingen noch reichliche zwei Stunden, bevor es im Wohnbereich Maarlis, des Chefs der terratischen Genbank, wieder so aussah, wie es vor dem Belandbesuch ausgesehen hatte. Der Eingang zum Wohn- und Arbeitsbereich der Danuta Massupek öffnete sich, als Manuel seinen Daumen auf die Schließplatte legte. In derartigen Dingen reagierte der Rat schnell und gewissenhaft. San Tri Minh stand auf, als ihr neuer Chef eintrat. »Setz dich«, sagte Manuel. »Ich muß mit dir reden!« »Ich kann mir schon denken, was Sie zu sagen haben«, antwortete die Mikrobiologin. »Packt eure Sachen und schert euch in eure Ebenen. Ich bin der neue Chef, und ich bringe meine eigenen Leute mit. Das tut schließlich jeder Chef, und es ist sein gutes Recht.« »Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß ich nicht mit euch zusammenarbeiten will. Im Gegenteil, eure Verantwortung wird eher noch steigen, weil ich mich in diese Aufgabe erst einarbeiten muß und in der Zwischenzeit sehr auf eure Sachkenntnis angewiesen bin.« »Früher oder später, was macht das schon«, entgegnete ihm San Tri lächelnd. »Wir sind vorbereitet. Und es muß ja auch zu Veränderungen kommen, man braucht sich nur umzusehen!«
»Natürlich werden wir bestimmte Dinge künftig anders handhaben«, bestätigte Maarli. »Aber ich möchte unter keinen Umständen etwas überstürzen. Ich habe Zeit!« San Tri Minh lächelte, dann beugte sie sich wieder über ihr Mikroskop, als gäbe es Manuel Maarli überhaupt nicht. »Wie seid ihr eigentlich untergebracht?« unterbrach Manuel erneut ihre Arbeit. »Wir haben unsere Wohnkavernen in unseren jeweiligen Ebenen«, antwortete ihm San Tri. »Aber für gewisse Notfälle hatte uns die Chefin erlaubt, uns in den Räumen der Genbank Schlafplätze einzurichten. Nicht sehr bequem, aber es gab auch nicht sehr häufig Notsituationen.« »Ich möchte euch zunächst bitten«, sagte Manuel, »im ehemaligen Wohnbereich Danutas gründlich aufzuräumen. Ihr könnt am besten entscheiden, was unbedingt noch gebraucht wird, was in das Zentralarchiv eingestellt werden kann und was längst in das Regenerationssystem gehört hätte.« Er zeigte auf das sie umgebene Chaos aus Flaschen, Schachteln und vergilbten Papieren, von dem, wie schon bei seinem ersten Besuch, ein strenger Geruch ausging. »Und weil das natürlich allerhand zusätzliche Arbeit machen wird, werde ich eure Arbeitsgruppe verstärken. Bei dieser Gelegenheit richtet ihr euch im Wohnbereich ordentliche Unterkünfte ein. Es könnte ja sein, daß sich in der nächsten Zeit die Ausnahmesituationen häufen!« Noch am Nachmittag bestätigte der Rat die Neueinstellung einer gewissen Simon, Alina, bisher in der E-Ebene tätig, in den Arbeitsbereich der Genbank. Verbunden damit war ihre Höherstufung in die D-Ebene. Im ehemaligen Wohnbereich der Danuta Massupek wurde angestrengt gearbeitet. Und in der Kaverne eines A-Terraten namens Steiner saß eine blonde, junge Frau und berichtete:
»Wenn es überhaupt seitens des Jahrganges zweihundertelf gewisse Pläne gibt, die unser Gemeinwesen gefährden, dann ist ohne Zweifel Manuel Maarli der Kopf der ganzen Bande. Das Codwort ›Iru supren‹ jedenfalls stimmt!« »Dann wirst du ihn weiter unter diskreter Beobachtung halten« entschied Steiner. »Vorläufig keine Informationen an den Rat. Ich will sie alle. Ohne jede Ausnahme!« Im Lander III war es eng und heiß. Die acht Mann der Nygardcrew saßen dichtgedrängt. Selbst in ihren Raumanzügen begann es ungemütlich warm zu werden. Tschilin Mohrung summte ein trauriges Lied. Karel Nygard hatte den mit Abstand besten Platz inne. Er klemmte in einem engen Notsitz vor dem Landecomputer, aber ihm gehörte dieser Sitz immerhin allein, und die Ellenbogen des Nachbarn preßten sich nicht in seinen Magen. Sie hatten die Barriere ohne Zwischenfall hinter sich gelassen. Die Bremsraketen begannen zu singen, und der Druck der Schwerkraft auf die Körper verstärkte sich allmählich. Vor den Bullaugen zuckten die ersten roten Flammenstreifen der Bremskorona vorbei und wurden dichter und heller. Der Hitzeschild des Landers stand vor seiner höchsten Belastung, denn das kleine Fahrzeug war erheblich überladen und raste seinem Landeplatz mit weit höherer Geschwindigkeit entgegen, als das seine Konstrukteure geplant hatten, und es fiel Karel zunehmend schwerer, sich auf die Angaben des Display zu konzentrieren. Die Bremsdüsen fauchten beängstigend laut, und der gesamte Lander rumpelte, als zuckle er von Schlagloch zu Schlagloch einer gewöhnlichen Kreisstraße im alten Mitteleuropa. Karel Nygard rang nach Luft und hätte etwas darum gegeben, sich durch den Helm hindurch den Schweiß von der Stirn wischen zu können. Seine Zähne schlugen aufeinander, er fröstelte und hatte einen widerlichen blutigen Geschmack im Mund. Immer härter preßte ihn der Bremsdruck in den schmalen Sitz, immer
lauter schwollen die Geräusche an, immer heißer fauchte die Korona des Hitzeschildes an den Bullaugen vorüber. Der Funkverkehr mit der Gruppe um Peer Alpha aus Lander I setzte ionisationsbedingt aus, Karel Nygard fühlte sich hundeelend, und wenn er die Kraft aufbrachte, den Kopf nach seinen Leuten umzudrehen und in deren bleichgrüne Gesichter zu blicken, dann fiel es ihm schwer, dem beruhigend grünen Display des Landecomputers zu trauen. Das nämlich teilte ihm mit, daß alle Werte zwar relativ hoch seien, sich aber angesichts der Überlast durchaus im Normalbereich bewegten und der Kurs exakt eingehalten werde. Vom Planeten Erde war überhaupt nichts mehr zu sehen, noch nicht einmal das undurchdringliche, verschwommene Wolkengrau, das sie von der geostationären Umlaufbahn aus ständig vor Augen gehabt hatten. Karel Nygard fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben einem technischen Gerät, diesem Lander nämlich, hilflos ausgeliefert, obgleich er Hunderte Male Planeten angesteuert hatte. Aber dieser Planet Erde war nicht irgendein Planet, dieser Planet hatte seine Erfahrungen gemacht mit der Art Homo sapiens und schien willens zu sein, diese Erfahrungen nun zu vergelten, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Barriere, so schien es Karel in den Minuten des Landeanfluges, sei nur der Anfang. Alle anderen schienen ähnlich zu empfinden. Und sogar Tschilin Mohrung war verstummt. Sie hatte Angst, alle hatten sie Angst, die sich in diesem überladenen Lander aneinanderquetschten. Die Angst des Karel Nygard preßte seine Hände zusammen, als hätten sie rechts den Hals Peer Alphas und links die Kehle des dicken Vize umschlossen und müßten nur zudrücken, kräftig zudrücken, um alle Übel aus der Welt zu schaffen und dem Spuk eine Ende zu bereiten. Die Knöchel der Hände zeichneten sich weiß ab, die Fingernägel krallten in die Handballen, aber dennoch entstand kein Schmerz, der ihm Erleichterung verschafft hätte. Der Schmerz, den er fühlte, kam von innen, vom Kopf her, pochte
unbarmherzig gegen die Zahnwurzeln und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Zweihundert Sekunden bis zur Landung, signalisierte das Display des Computers, und alle außer Karel Nygard registrierten erleichtert das Nachlassen des Bremsdruckes. Alle außer Karl Nygard atmeten auf, daß der Hitzeschild durchgehalten hatte, alle außer Karel Nygard spürten den Lander aufsetzen, ein wenig holpernd, wie eben auf jener ramponierten Kreisstraße. Karel Nygard nahm seine ganze Kraft zusammen, um die Hände zu öffnen, um den Verschluß des Gurtes zu lösen, der wie ein Tonnengewicht auf seiner Brust lastete. Karel wollte seinen Fuß bewegen oder auch nur seinen Kopf drehen, aber das alles ging nicht. Denn irgendwann schlägt die Natur mit Gewißheit zurück, und jetzt genügte bereits die ungewohnte Schwerkraft des Planeten, um die Nachwirkungen des Dopingpräparates hervorbrechen zu lassen und auch an die vielen Röntgen zu gemahnen, die sich Nygard während der Reparatur des Außenbordreaktors eingefangen hatte. Sie läßt sich nicht betrügen, die Natur, dachte Karel, und er dachte es lächelnd, als beträfe es nicht ihn. Sie schlägt zurück. Unbedingt schlägt sie zurück! In jedem Fall schlägt sie zurück! Gnadenlos! Ausnahmslos! Das Pflanzentier hatte sich eingewurzelt und abgeschirmt. Aber das Leben wurde nicht leichter durch all das. Denn auf Gedeih und Verderb waren die Symbionten auf zu viele gleichbleibende Bedingungen angewiesen: Daß das tiefe Gestein ständig neues Wasser herantransportiert, daß die Sonne am Morgen immer die Wolken durchdrang und die Lichtmenge zur Verfügung stellte, die die Assimilation in Gang halten konnte, daß der Wind stets den Staub von der Schale putzte, um die pflanzlichen Symbionten ungestört arbeiten zu lassen.
Angewiesen war dieser Riesenorganismus vor allem aber darauf, daß seine Kundschafter, seine Jäger, seine Sammler, seine Sucher Tag für Tag Energie einbrachten. Daß sie am frühen Morgen die Schale verließen, daß sie ausschwärmten, daß sie jagten und tobten, wie es einst die Tierpflanze selbst getan hatte, als sie noch klein und walzenförmig durch die Steppe trieb. Und daß sie am Abend in den Gesamtverband zurückzufinden wußten, angereichert mit Energie für eine lange und kalte Nacht. Das Leben war nicht leichter geworden durch die Seßhaftigkeit. Denn je länger die Tierpflanze eingewurzelt und abgeschirmt und behütet in ihrer Senke vor sich hindräute, um so weiter wurden die Wege ihrer Kundschafter, um so häufiger kehrten sie auch erfolglos zurück, um so länger dehnte sich die lange, energiearme Nacht. Da half nur, hart zu sein gegen sich selbst. Die Tierpflanze begann zu registrieren, mit wieviel Energie sie jeden der tanzenden Irrwische aus der Schale entlassen hatte und mit wieviel mehr an Eiweiß, Stärke, Zucker ein Kundschafter zurückkehrte. Und sie begann, den Eintritt zu verweigern, wenn das Prüfungsergebnis negativ ausfiel. Um der Bilanz des Gesamtorganismus willen! Und so verengten und verschlossen sich die Schalendurchbrüche, und draußen schwirrten die erfolglosen Jäger um die Senke und wurden schließlich selbst zur Beute. Denn eines Nachts lief ein Kundschafter in den Hinterhalt eines anderen Kundschafters, und damit war eine Grenze überschritten. Jenseits dieser Grenze vollzog sich die Entwicklung der nächsten Tage. Es gingen sich die Kundschafter aus dem Wege, es kehrten sich die Verhältnisse um, von nun an war man stets Freund und Feind gleichzeitig, von nun an prüfte man lieber, ob man eine Chance hatte, in die Muttertierpflanze aufgenommen zu werden, von nun an kehrte man lieber nicht zurück, nicht einmal in die Nähe! Von nun an rasten, tobten, rollten zehn Walzen, hundert Walzen über die Landschaften, allesamt klein und unbedeutend gegenüber
dem Mutterpflanzentier, aber alle auf den Wanderschaften, ausgehend von dreiundfünfzig Grad nördlicher Breite, neunzehn Grad östlicher Länge! Zwischen ihnen stand Leo, der Löwe, und das Tier rieb seine mächtige Mähne an den Beinen Alinas. Die reinigte eine der Vitrinen, kraulte nebenbei den Löwen am Hals, und das Tier drehte wohlig seinen Kopf. »Du machst dich rar, seitdem du in der Genbank arbeitest«, sagte Manuel. »Kaum daß man dich ein paar Minuten allein sprechen kann!« »Ist es denn üblich, daß der große Chef seine Mitarbeiterinnen allein sprechen muß?« Leo gähnte, und Manuel sagte: »Laß gefälligst den Chef außen vor! Du weißt genau, daß unser Verhältnis anders ist!« »Ach«, entgegnete Alina, »ich soll also den Chef beiseite lassen, Herr Chef! Und in den nächsten zwei Minuten kommst du dann mit einer neuen Weisung, und es heißt: ›Alina, mach das und tue jenes, unterlaß dies, und von solchen Sachen läßt du in Zukunft deine Finger!‹ Wehe, ich würde dann auch nur eine Sekunde vergessen, wer hier der Chef ist!« »Du weißt genau, daß du Blödsinn redest. Natürlich bin ich für dich der Chef, zumal, wenn noch andere dabei sind. Schließlich trage ich für die Genbank die volle Verantwortung dem Rat gegenüber. Aber das muß nicht auf unsere persönlichen Beziehungen durchschlagen!« »Dem Rat gegenüber«, sagte Alina spitz. Leo bekam einen Klaps auf die Hinterhand und trollte sich. »Dem Rat gegenüber. Nicht also allen Terraten. Und schon gar nicht den Zweihundertelfern!« »Schon wieder Blödsinn. Weshalb hätte ich dich sonst aus deiner Ebene holen und hier einstellen sollen, wenn nicht nur um unseres Planes willen!«
»Dafür sollte ich dir wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit dankbar sein. Aber dich hat niemand gebeten, mich in deiner Genbank unterzubringen. Niemand, verstehst du!« Leo hatte seinen Rundgang durch die Kaverne beendet und rieb sich schon wieder an Alinas Beinen. Und Manuel Maarli drehte sich um und verschwand in der Schleuse. Im ehemaligen Wohnbereich der verstorbenen Danuta Massupek arbeiteten Mustafa, Weiher und San Tri Minh. In diesem Bereich waren die Veränderungen seit dem Tode der Massupek am auffälligsten. Das Chaos aus vergammelten Chemikalien, zerfallenen Gewebekulturen und vergilbten Protokollen war einer erkennbaren Ordnung gewichen. Die abgeplatzten Glasuren an Decken und Wänden waren nachgebrannt, selbst der Geruch hatte sich ganz allmählich verflüchtigt. San Tri, Georg Weiher und Mustafa Al Key waren damit beschäftigt, die Bestände der letzten Regale zu sortieren. Als Manuel neben ihnen stehenblieb, unterbrachen sie ihre Arbeit. »Noch drei oder vier Tage, dann werden wir durch sein«, sagte San Tri. »Noch mal möchte ich eine solche Arbeit nicht machen müssen.« »Hat sich trotzdem gelohnt«, warf Georg Weiher ein. »Denk ich auch«, sagte Manuel. »Ich werde sehen, ob ich ein paar Bons zusätzlich ausschütten kann. Wie macht sich übrigens die Simon?« Maarli sah während dieser Frage niemanden direkt an. Er bekam folglich auch keine Antwort. »Na, wie macht sie sich?« Diesmal hatte er sich direkt an Al Key gewandt. »Ich will mal sagen, sie macht sich gut. Sie macht sich manchmal fast zu gut. Will alles wissen und alles durchschauen. Möglichst sofort. Nur…« »Nur?« fragte Manuel.
»Was soll man lange um den heißen Brei herumreden, Maarli. Sie sehen ja, wenn man einmal eine kräftige Hand gebrauchen könnte…« Manuel nickte San Tri aufmunternd zu. »Das werdet ihr ihr bestimmt noch beizubringen wissen. Meinen Segen habt ihr jedenfalls!« Mit diesen Worten verließ Maarli seinen Wirkungsbereich. »Es wäre die günstigste Gelegenheit gewesen, ihm alles zu sagen«, meinte Georg. »Und was hätten wir ihm sagen sollen, wenn man fragen darf?« »Du vergißt nämlich, daß die beiden eng befreundet waren, als sie noch dem Ausbildungsgang zweihundertelf angehörten«, sagte Mustafa Al Key. »Ein Verhältnis hatten sie, um genau zu sein. Aber gerade das macht es natürlich nicht einfacher für uns, uns hinzustellen und ihm zu sagen: ›Ihre Alina macht sich ausgezeichnet, Chef, vor allem nachts macht sie sich ausgezeichnet, dann schleichen nämlich durch diesen Bereich die Kerle wie die Kater um den Baldrian!‹ Nein, mein lieber Georg, so etwas sagt man seinem Chef nicht, wenn man Wert auf einen sicheren Job legt. Und ich liebe meine Arbeit und möchte sie gern behalten. Mir ist es folglich gleichgültig, wie und wo unsere Kollegin Simon ihre diesbezüglichen Bedürfnisse befriedigen läßt!« San Tri Minh hatte sich in Fahrt geredet, und Mustafa pflichtete ihr bei. Nur Georg Weiher entgegnete: »Wenn ich mir über die Art ihrer Bedürfnisse und den Zweck ihrer Besucher auch so sicher wäre wie ihr, dann würde ich kein Wort verlieren!« »Kannst ja mal die Lampe halten«, sagte Mustafa lachend und wandte sich wieder den Chemikalienflaschen zu. Und auch San Tri Minh hatte plötzlich konzentriert zu schreiben, denn Alina Simon stand in der Kaverne, und keiner der drei wußte, wie viele Sätze dieses Gesprächs sie noch gehört haben mochte.
Als Manuel Maarli seinen Wohnkomplex betrat, überraschte ihn eine Nachricht. »Laß dich bitte möglichst bald bei mir blicken! Habe eine wichtige Information für dich. Unbedingt noch heute!« stand auf dem Bildschirm zu lesen, und die Unterschrift Sylvie Deboras blinkte verführerisch. Man soll schöne Frauen mit Goldkettchen nicht lange warten lassen, sagte sich der A-Terrat, löschte die Information und ging zur Kaverne der Debora. Sylvie Debora saß in einem schlichten roten Kleid vor ihrem Arbeitsterminal und entwarf das Schnittmuster für einen neuen Overall der C-Ebene. Sie rückte die einzelnen Stücke auf dem Bildschirm hin und her und ordnete sie zu ständig neuen Kombinationen um, damit die zur Verfügung stehende Fläche möglichst optimal genutzt wurde. »Setz dich«, sagte sie. »Ich bin gleich fertig. Mix uns in der Zwischenzeit einen Drink!« »Ich denke, deine Informationen sind so ungeheuer wichtig?« »Sind sie auch, Manuel. Für dich vor allem. Aber sie sind nicht sonderlich eilig. Bis du die Drinks gemixt hast, habe ich meine Arbeit abgeschlossen!« Manuel machte sich an der Bar zu schaffen, Sylvie Debora schaltete nach wenigen Minuten das Terminal ab, stand auf und kam auf ihn zu. Unter ihrem Kleid zeichnete sich deutlich das Hüftkettchen ab. »Wir sollten unseren kleinen Streit begraben«, sagte sie. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, entgegnete Manuel lächelnd. »Hatten wir uns gestritten?« »Ich rede davon, mein Lieber, daß man sich in der A-Ebene die Mäuler zu zerreißen beginnt. Über eine gewisse Alina Simon und ihre Sonderrechte in der Genbank. Man zerreißt sich die Mäuler so
heftig, daß dir Steiner eine Laus in den Pelz gesetzt hat. Und du in deiner Blauäugigkeit hast es nicht einmal bemerkt!« »Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr«, sagte Manuel, »von welcher Laus sprichst du?« »Blond, zärtlich, und eingeführt von einem gewissen Ralf Beland. Dämmert es nun?« »Kann nicht sein«, entgegnete Manuel. »Das war vor Alina. Aber wenn es stimmen sollte…!« »Es stimmt!« sagte Sylvie lächelnd. »Und du wirst dir gefälligst nicht anmerken lassen, daß das Ungeziefer entlarvt ist. Du wirst weiterhin nett und freundlich mit ihr schlafen und ihr so ganz nebenbei die Sorte Informationen stecken, die Steiner bekommen soll!« »Bist du etwa eifersüchtig, Sylvie?« »Red doch keinen Unsinn, Manuel! Es stimmt, ich wollte eine Zeit mit dir zusammenleben, und vielleicht werden wir es irgendwann beide wollen und dann auch tun. Nein, ich mag es ganz einfach nicht, wenn dieser Steiner seine Leute auf uns ansetzt. Soll er sich in den anderen Ebenen austoben, dazu ist er da, denn der Rat muß schließlich wissen, was im Schacht vorgeht. Aber wenn er in den eigenen Kreisen zu wildern beginnt, muß er einen kräftigen Denkzettel bekommen. Er wird sich vor dem Rat so lächerlich machen, daß er seinen Hut an den nächsten Nagel hängen muß und einen Platz in der B-Ebene zugewiesen bekommt!« Manuel füllte die Gläser bereits zum zweiten Mal. »Das ist übrigens nicht nur meine Meinung«, sagte Sylvie, »andere A-Terraten vertreten den gleichen Standpunkt!« »Okay«, entschied sich Manuel. »Der liebe Steiner soll haben, was er sich verdient hat. Obwohl ich sehr bedaure, deshalb schon wieder gehen zu müssen. In einer halben Stunde kommt nämlich meine Laus!«
Die blonde Steinerlaus war pünktlich wie immer. Und sie trennte sich wie stets leicht von ihren bunten Fetzen. Und sie roch wie jedes Mal verteufelt gut. Crewchef Karel Nygard hörte noch, wie die Luke des Landers geöffnet wurde. Er spürte deutlich, daß seine Leute ausstiegen und die Federbeine des Gerätes, der Überlast nach und nach erleichtert, von Mann zu Mann weicher schwangen. Er hörte die Leute vor Freude schreien und rufen, er meinte sie wirklich hüpfen zu sehen und einander zu umhalsen, stand doch jetzt endlich und unwiderruflich fest, daß man das Leben über alle Unfälle und Fährnisse hinweggerettet hatte. Gevatter Hein hatte zwar seine Sense gedengelt, wohl auch zum Schwunge angesetzt, aber auf ihrer Seite gab es halt einen Crewchef, auf den sie sich verlassen konnten, in guten wie in bösen Tagen. Er hatte die Energie beschafft, sie aus der Anabiose erwecken zu können, hatte sie durch die verfluchte Barriere gesteuert und hatte sie sicher auf die Planetenoberfläche gestellt. Hoch soll er leben, und hundert Jahre soll er werden, der Chef Karel Nygard! Aber wo zum Teufel steckte der eigentlich, und es war Tschilin Mohrung, natürlich und ausgerechnet Tschilin Mohrung, die ihn zusammengesunken auf seinem Notsitz entdeckte. Da fanden die Freudenschreie ein jähes Ende, und es reckten sich ihm Hände entgegen. Das alles bekam Karel Nygard zwar mit, er versuchte sich sogar mit einem Lächeln, aber die Veränderung der Gesichtszüge gelang ihm ebensowenig wie die Bewegung von Händen und Füßen. Drei Mann seiner Crew hoben ihn schließlich aus seinem Notsitz, aus der Fähre, deren Federbeine ein letztes Mal befreit ächzten, dann war für seinen Transport nur eine löchrige Plane verfügbar, und die Wolken sahen vom Planeten ebenso grau aus wie von der Umlaufbahn. Nur näher waren sie, und es ging eine irrsinnige Hektik von ihrem raschen Zug aus.
So trugen sie ihn eine Strecke Weges, an jeder Planenecke einer seiner Männer, und es war wahrhaftig nicht der Triumphzug, den sie sich in den letzten Tagen der »Solara III« erwünscht und erträumt hatten. Schließlich fielen die Männer sogar in Laufschritt. Ein Weilchen war nichts um und in ihm als das Schaukeln der Plane. Später mußte der eilige Zug wohl ein Gebäude erreicht haben. Karel Nygard fand sich auf einer Liege wieder, und es führte ein Plastschlauch von seinem Arm zu einer Flasche über ihm. Eine Stimme war auch da, und die Stimme sagte: »Was machst du schon wieder für dumme Sachen, Karel!« So klang, und er war erstaunt darüber, daß er im Grunde keine andere erwartet hatte, die Stimme von Rajna Kasabov. In seinem Zimmer war es wohltuend still, aber draußen auf dem Gang wurde lautstark und heftig gestritten. Sie stritten mit Peer Alpha, und Karel verfluchte abermals die Sekunde, in der er dem Wunsch, dem Befehl, dem Wunschbefehl seines Vizepräsidenten nachgegeben hatte. Der Tressen wegen, der höheren Rangabzeichen! Es eilten die zahlreichen jungen Tierpflanzen über das Land, sie assimilierten, sie verwerteten erbeutetes Eiweiß, Teile ihrer Symbionten waren sulfurphag, kurz, es existierte praktisch kaum eine Energiequelle, die sie nicht zu verwerten verstanden. Und trafen sie zufällig aufeinander, dann waren Kämpfe unausweichlich und, furchtbar, denn nur einer, ein einziger verließ die Arena, und in seinen Organismus eingebunden waren die Symbionten des Bruders, es potenzierten sich seine Kräfte, und es vervielfältigten sich seine Möglichkeiten. Im Grunde wurde gerungen um den Besitz der seltenen Symbionten, um die Fähigkeit, eine Nahrungsnische mehr besetzen zu können als die Konkurrenz. Evolutionärer Zwang seit Anbeginn des Lebens. Und natürlich waren die Pflanzentiere immer bereit, die Reste der menschlichen Zivilisation zu verschlingen, noch dazu, wenn
sie sich so verlockend anboten. Denn eine der jungen Walzen war mitten in einer weiten Landschaft auf einen Kuppelbau gestoßen, in dem Nahrung, Energie, Leben förmlich zu sehen, zu riechen, zu fühlen zu schmecken waren. Unter der Kuppel dieses Bauwerkes grünten und blühten die Pflanzen, unter der Kuppel wucherte das Leben, aber es gab eine gläserne Trennwand, und lange suchte die Tierpflanze nach Zugängen. Aber sosehr sie auch suchte, sosehr sie sich dünn machte, sooft sie Fäden aus ihrem Organismus herausschob und in vermeintliche Ritzen einzudringen versuchte, die Bemühungen der Tierpflanze blieben erfolglos. Es gab keinen Eingang, es existierte kein Spalt, kein Riß, keine Fuge! Inzwischen tobten die tierischen Symbionten und drohten, den nichtgeformten Leib zu sprengen. Beute und Nahrung so nahe zum Greifen, zum Stechen, zum Beißen und dennoch unerreichbar! Die Tierpflanze machte sich breit und dünn und überzog die Glaskuppel mit einem grünlichen Flaum. Die bakteriellen Symbionten versuchten, das Material zu zersetzen, die Silikone abzutrennen, das Glas aufzuweichen und zu durchlöchern. Doch die Kuppel hielt diesem Angriff stand. Aber dann entdeckte das Pflanzentier doch eine Chance. Es erkannte einen Spalt, den Eingang, den Sieg. Aber der Spalt war eng, der Eingang gut gesichert, und der Sieg folglich ein Pyrrhussieg. Denn nur die kleinsten virusartigen Symbionten vermochten einzudringen, aber ihr Eindringen wurde sofort registriert, und noch bevor sie Schaden anrichten konnten, beendete UV-Licht hoher Intensität ihre Existenz. Das Pflanzentier war auf eine der Rettungsstationen der Menschheit gestoßen, und noch war deren ausgeklügelte Technik dem biologischen System Walze überlegen. Man konnte nicht gerade sagen, daß die Arbeit in der terratischen Genbank zu den abwechslungsreichsten, spannendsten oder gar
aufregendsten Tätigkeiten im Schacht gehörte. Die Arche Noah der Terraten lag wohlverwahrt und gut gesichert bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt in den Kältezellen. Man hätte sie dort gut und gern Tausende von Terratengenerationen unbeaufsichtigt liegenlassen können, ohne daß sich die geringsten Veränderungen ergeben hätten. Das System war technisch perfekt, noch niemals hatte es eine Panne gegeben. Es war ausgelegt, um auf lange Zeit den Keim dessen zu verwahren, was einst das Leben auf dem Planeten ausgezeichnet hatte: Fülle, Überfülle an Pflanzen, Tieren, Mikroben. Ökologische Netzwerke Tausender miteinander verknüpfter und voneinander abhängiger Arten. Und wenn es schon, zumindest vorläufig, nicht möglich schien, zur Oberfläche zurückzukehren und dort ein zweites Paradies aufzubauen, dann sollten wenigstens die Vorbereitungen dazu nach Kräften vorangetrieben werden! So hatte es einst der Rat beschlossen, der Beschluß war bereits viele Generationen alt, aber niemals war er aufgehoben oder auch nur modifiziert worden. Und deshalb hütete traditionell ein A-Terrat, jetzt Manuel Maarli, die Genbank; Georg Weiher, Mustafa Al Key und San Tri Minh waren für ihre jeweiligen Teilbereiche verantwortlich, und neuerdings gab es eine Alina Simon, von der niemand so recht wußte, was sie eigentlich tat, nicht einmal Maarli. Der hatte lediglich angeordnet, der Simon alle gewünschten Auskünfte zu erteilen, sie sozusagen einzuarbeiten, aber über ihren späteren Verantwortungsbereich hatte er sich ausgeschwiegen. Und die Simon stellte viele Fragen und holte jede Menge Auskünfte ein, während die anderen den Kühlzellen nach festgelegtem Programm genetisches Material entnahmen, es in den Klimavitrinen vermehrten und den erzielten Überschuß wieder in der Kälte verstauten. Sie taten das, was schon ihre Vorfahren getan hatten, sie vermehrten den genetischen Reichtum der Terraten. Langsam, sicher und gleichmäßig. Da war nicht viel Spektakuläres in dieser Arbeit, kaum etwas Spannendes, das Ganze war eher eine
langweilige Routinetätigkeit, wenn man den Mechanismus erst einmal durchschaut hatte. Und vor allem Georg Weiher und San Tri Minh hatten lange genug unter Danuta Massupek ihren Dienst getan, um den Mechanismus der Genbank zu durchschauen, im Gefühl zu haben, wie groß eine Ernte auszufallen hatte und wann und aus welchem Grund etwas nicht stimmte. Seit Maarli die Leitung übernommen hatte, stimmte einiges nicht. Von einem genau feststellbaren Zeitpunkt an fielen die Ernten geringer aus, waren die erzielten Überschüsse minimal, und das vor allem im pflanzlichen Bereich. Dieser Zeitpunkt fiel ziemlich genau mit dem Dienstbeginn der Alina Simon zusammen, und Weiher und San Tri mußten nur zwei und zwei addieren, um auf vier zu kommen. »Es konnte gar nicht angehen, daß sie Nacht für Nacht zwei, drei, vier Männer zu Besuch hat!« sagte Georg Weiher zu seiner Kollegin. »Solche Bedürfnisse hat kaum jemand. Ich denke, in diesem Punkt kannst du mir zustimmen!« »Ich habe sogar einige Zeit geglaubt, daß sich die Dame ihr Bonguthaben auf horizontale Weise aufbessert«, erwiderte San Tri. Sie saßen im ehemaligen Wohnbereich der Danuta Massupek zusammen, denn dort hatte sich jeder der vier Mitarbeiter der Genbank eine kleine Kaverne eingerichtet. Die San Tri Minhs war gelblich getönt, und beide saßen auf bequemen Matten. »Vielleicht geht es sogar um Bons«, sagte Weiher. »Nur halt auf eine völlig andere Weise, als wir uns das gedacht hatten!« San Tri warf ein: »Das genetische Material hält sich nicht lange. Es muß in eine Tiefkühlzelle. Und die gibt es meines Wissens nur bei uns. Folglich kann man mit Zellkulturen und Embryoblasten keinen Handel aufziehen!« »Ich befürchte«, sagte Weiher, »daß unser Wissen über die vorhandenen oder nicht vorhandenen Tiefkühlzellen nicht auf dem neuesten Stand der Dinge sein könnte! Da bereitet sich etwas vor, da müssen viele Leute am Werke sein! Und wenn Steiner
hinter die Sache kommt, dann werden Köpfe rollen. Der Kopf unseres Chefs scheint mir bedenklich zu wackeln!« Die beiden Biologen schwiegen eine Weile. »Chef hin, Chef her«, fuhr San Tri schließlich fort, »wie verhalten wir uns? Sollen wir Maarli informieren, daß mit der Simon eine Laus in unser aller Pelz sitzt? Oder haben wir unsere Arbeitsplätze nur behalten, weil es so aussieht, als hätten wir von alldem nichts bemerkt? Wenn Maarli nämlich davon weiß und die Simon abschirmt, dann wäre es besser für uns, wir würden unsere Augen geschlossen halten und nichts mitbekommen. Überhaupt nichts!« Georg Weiher hatte zu diesen Sätzen zustimmend genickt und entgegnete nun: »Unsere Chancen sind wirklich nicht sehr hoch. Wir hocken zwischen zwei Mühlsteinen. Der eine heißt Steiner, der andere Maarli. Einer von beiden wird die Sache verlieren, die sich unter unseren Augen zusammenbraut!« »Es ist mir völlig gleich, wer der Verlierer sein wird. Ich will diese meine Arbeit behalten, verstehst du! Um jeden Preis!« »Ich auch«, sagte Georg. »Und deshalb werden wir uns teilen. Du schlägst dich auf die Seite von Maarli, ich mich auf die Seite von Steiner. Einer von uns gehört auf jeden Fall zu den Siegern. Und der hilft dem Verlierer aus der Patsche!« Sie kannten sich genug, um solche Vorschläge machen zu können. Der Sieger würde sein Wort einlösen, dessen konnten sie sich beide sicher sein. Und deshalb sagte San Tri Minh nur: »Und Mustafa?« »Sieht nichts, hört nichts, sagt nichts«, antwortete Weiher. »Folglich lassen wir ihn aus dem Spiel. Vorläufig!« Die Tür seines Krankenzimmers wurde geöffnet. Vorsichtig und nahezu lautlos, doch Karel Nygard bemerkte jede, auch die geringste Bewegung. Außer dieser winzigen Bewegung gab es nämlich nichts mehr im Raum, was er nicht tausendfach und öfter
betrachtet hatte. Langeweile war überhaupt kein Ausdruck für seinen Zustand. Der Spalt war jetzt breit genug, und Jacob Boer steckte seinen Kopf in das Krankenzimmer. Besser Boer als niemand, dachte Karel und versuchte seinem Besucher zuzulächeln. Das Lächeln mußte ihm gründlich mißlungen sein, jedenfalls reagierte Boer nicht drauf, und so mühte sich Nygard, den Arm zu heben und seinen Gast hereinzuwinken. Der schloß die Tür und schob sich umständlich einen Stuhl neben das Bett des Kranken. Dann setzte er sich und starrte Nygard an. Auch das Boersche Lächeln gelang nicht besonders gut. Es steht also wirklich beschissen um mich, dachte Nygard. Ich werde die verdammten Tressen nicht bekommen, deretwillen das alles passieren mußte. Oder allenfalls wird man sie mir postum anhängen. Wenn der Herr Vizepräsident sein Wort zu halten beliebt! »Ich dachte mir«, sagte Boer, »ich besuch dich mal. Es kann mich sowieso keiner brauchen dort draußen. Sie tun und machen und hetzen, als müßten sie die Welt neu erschaffen! Da bin ich ihnen nur im Wege. Aber wenn ich dich störe, dann gehe ich natürlich wieder. Ein Wort genügt!« Karel schüttelte den Kopf, und der Besucher Jacob Boer blieb auf seinem Stuhl sitzen und starrte unentwegt in das Gesicht des Kranken. Das Gesicht Karel Nygards war klein und schmal geworden, der Teint gelb und die weißen Haare zipfelten auf dem Kopfkissen. Die Bartstoppeln waren grau. Niemand fand Zeit, den Kranken zu rasieren, Rajna Kasabov nicht, und man konnte Tschilin Mohrung, die ihm gelegentlich ihren Besuch abstattete, beim besten Willen kein Rasiermesser in die Hand drücken. »Werde ich dich erst einmal rasieren«, sagte Boer, »so kann man schließlich nicht herumliegen, wenn man amtierender Kommandant ist. Das ist nicht gut für die Disziplin. Sofort fängt die Mannschaft an zu gammeln!«
Der Rasierschaum war warm und leicht und schmeichelte. Und Boer hatte eine leichte Hand. Die Klinge glitt wie eine Feder über die hohlen Wangen des Kranken. »Besser?« fragte Boer, und diesmal gelang Karel der Versuch eines Lächelns. Danach hockte Jacob Boer wieder auf seinem Besucherstuhl und schwieg eine lange Zeit. »Alle sagen sie, daß du bald stirbst«, begann er schließlich leise. »Und vielleicht mußt du wirklich bald sterben. Du hast dir allerhand Röntgen eingefangen. Man sieht, daß es dir schlecht geht. Deshalb kommt dich auch niemand besuchen. Weil sie alle Angst vor dem Tod haben. Vor einem fremden Tod besonders. Er macht die Besucher so entsetzlich hilflos, weißt du! Ich habe auch Angst. Aber ich komme trotzdem. Vielleicht komme ich, weil ich mir wünsche, daß wir tauschen könnten. Du bist viel nützlicher als ich. Doch, Karel, das ist Tatsache, darüber gibt es nichts zu streiten!« Dabei sah er Nygard mit seinem starren Blick unverwandt an, als wolle er zwischen diesen Sätzen ganz etwas anderes sagen: Da hörst du, was sie über dich denken, deine vielgeliebte Crew, mein Lieber. Du hast sie zwar rausgehauen, aber jetzt liegst du selber auf den Brettern und bist schon tot für sie, noch bevor du den letzten Atemzug genommen hast! Dagegen würde ich aber, mein lieber Freund, zumindest proben würde ich den Aufstand! Aufgeben kannst du dich später immer noch. Du meinst, für einen gewissen Karel Nygard sei es schon fünf vor zwölf? Wennschon, dann blieben aber immer noch dreihundert Sekunden, mit denen sich durchaus etwas anfangen ließe, oder etwa nicht? »Dann erzähl ich dir mal«, sagte Boer, nachdem er das alles gedacht hatte und ziemlich sicher war, daß der Neukommandant seinen Gedanken gefolgt war, »dann erzähl ich dir mal, was draußen los ist. Es sieht nämlich nicht danach aus, als warteten sie nur auf Hilfe vom Hangar und vertrieben sich aus purer Langeweile die Zeit mit Raketenbauten. Es sieht eher danach aus,
als würden sie sich unter dem Kommando von Peer Alpha für eine kleine Ewigkeit einrichten!« »Erzähl«, flüsterte Karel und war selbst darüber erstaunt, wie kräftig er noch oder schon wieder flüstern konnte. Zum dritten, zum vierten, zum fünften Mal hintereinander drückte Maarli auf den Rufknopf seines Kommunikationsterminals. Aber das Terminal blieb stumm und dunkel, keine Nachricht ging aus seinem Wohnbereich heraus, keine Information von außen konnte ihn erreichen. Manuel trat schließlich wütend mit dem Fuß gegen das Terminal und setzte seine Wanderung fort: Schlafkaverne, Hobbyhöhlen, Flur, verschlossene Ausgangstür. Selbst der Zugang zum Balkon war blockiert, auch die Nahrungsautomaten waren stillgelegt, und offensichtlich hatte man ihn sogar von der Sauerstoffversorgung der A-Ebene abgeschnitten. Auf jeden Fall begann es im Wohnbereich allmählich zu riechen wie auf der Sohle der EEbene. Ein erneuter Fußtritt gegen das verstummte und erblindete Kommunikationsterminal, ein weiterer Fußtritt gegen einen der Sessel, ein Kissen in den Spiegel hinter dem Bett geschleudert, aber das alles half nichts, änderte nichts, Maarli war und blieb ein Gefangener, und nur die Tatsache, daß er ein A-Terrat war, schützte ihn vorläufig davor, in den E-Stollen verschleppt und dort in einer kahlen, schlechtbelüfteten Zellenkaverne verwahrt zu werden. Aber viel wert war dieser Statusschutz nicht, denn vor dem Rat hatte Steiner das Sagen, und wieder trat Manuel wütend nach dem Sessel. Er hätte Alina nicht trauen dürfen, nicht Sylvie Debora, nicht Jacob Schwerte und nicht San Tri Minh! Niemandem hätte er vertrauen dürfen, blind war er die ganze Zeit über gewesen, blind und taub, nicht viel mehr wert als sein abgeschaltetes Kommunikationsterminal! Das hatte er Alina Simon zu verdanken!
Eines Tages, es mochte jetzt etwa sechs Wochen her sein, hatte er es nicht mehr ertragen wollen, daß sie so wortlos neben ihm herarbeitete, nichts tat und alles, aber kaum einen Blick hatte für ihn. Er war nach Dienstschluß noch einmal in die Genbank gegangen. Er hatte es gut getroffen, denn nur Mustafa und Alina waren in ihren kleinen Kavernen. Alina hatte einen Stoß Papiere auf ihrem Schreibtisch liegen. Die Papiere waren vergilbt und rochen streng, sie stammten offensichtlich aus dem Bestand der Danuta Massupek und gehörten entweder in das Zentralarchiv oder in die Regenerationsanlage, auf keinen Fall aber auf Alinas Schreibtisch. Doch die hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Papiere vor ihm abzudecken oder in einem Schreibtischfach zu verstauen. Nein, sie blieben offen vor Manuel liegen, und wenn er überhaupt ein Gespräch mit ihr führen wollte, mußte er sie geflissentlich übersehen. Heute nun wußte er, genau das hatte sie bezweckt. Übersah er an diesem Abend die Papiere, mußte er später zwangsläufig noch ganz andere Dinge übersehen, und ihre Rechnung war natürlich aufgegangen. »Ich denke«, hatte er begonnen, »es ist nun an der Zeit, unseren Streit zu begraben. Endgültig!« »Wir haben keinen Streit miteinander. Wir sind lediglich verschiedene Wege gegangen, Maarli. Seit dem Ende des Ausbildungsganges zweihundertelf!« »Dabei muß es nicht bleiben«, sagte er und versuchte so, eine Brücke zu bauen. »Hab ich dich nicht unterstützt, wo immer ich es konnte? Von der E-Ebene an?« »Und jetzt willst du kassieren, oder? Die Zinsen deiner Großzügigkeit eintreiben? Soll ich mich zuerst hinlegen oder zuerst ausziehen, wie hättest du es gern?« Alina riß sich die Bluse vom Körper. »Wir haben genau gewußt, daß du irgendwann kommen würdest!« schrie sie ihn an. »Du Großkotz! Alles mit ein paar Bons regeln oder über deine Beziehungen, alle für käuflich und jeden für
korrumpierbar halten, aber im übrigen hübsch den eigenen Arsch in der angenehmsten Wärme unterbringen!« In dieser Situation hätte Maarli als A-Terrat nur zwei Möglichkeiten gehabt. Entweder hätte er sich dieses Weib nehmen müssen, zumal sie bereits so gut wie nackt vor ihm stand und herumtobte, oder er hätte ihr sehr drastisch und überlegen klarmachen müssen, daß es im Terratenstaat Grenzen gibt, die man als D-Terratin nicht ohne Folgen überschreitet, und daß sie das gerade getan hatte. Der Rat hätte ihrer sofortigen Abberufung ohne eine einzige Rückfrage zugestimmt, denn noch lief ihre Probezeit in der Genbank. Die zweite Möglichkeit wäre die richtige gewesen; am vergnüglichsten sicherlich eine Mischung aus beiden, und wenn er heute noch einmal vor der Wahl stehen würde, wüßte Manuel Maarli sehr genau, wie er sich zu entscheiden hätte. Aber an diesem Abend war er einfach gegangen, hilflos vor so grundloser Verdächtigung und unfähig zu einem Entschluß, weil der nach Lage der Dinge endgültig zu sein hatte. Er hatte das Verhalten der Alina Simon genauso zu übersehen versucht wie die Papiere auf ihrem Schreibtisch. Er hatte während der nächsten Tage den Kopf in den Sand gesteckt, er hatte selbst noch solche Fakten übersehen, die eigentlich kaum noch zu übersehen waren. Die Aktion »Iru supren!« lebte, sie hatte ihre Anziehungskraft behalten, dafür war Alina Simon aktiv, aber der Plan der 211er wurde halt ohne ihn vorbereitet und durchgeführt, schlimmstenfalls sogar gegen ihn. Völlig klar wurde der Sachverhalt, als San Tri Minh einige Tage später auf eine Gelegenheit wartete, in der sie mit ihrem Chef allein in einer der Zuchtkavernen zu tun hatte. »Ich möchte Sie«, sagte San Tri leise, »rein informativ, davon in Kenntnis setzen, daß zur Zeit die Vermehrungsrate unserer Saatproben theoretisch weit höher liegen müßte, als es sich in den Ernten darstellt!«
San Tri Minh hatte sich den Satz sorgfältig zurechtgelegt. Er enthielt ausreichende Information, um eine Warnung abzuleiten, aber er ließ ihr immer noch einen Weg zurück offen. Sie hatte keine Namen genannt und keinen konkreten Verdacht geäußert. Manuel Maarli hielt das Gespräch auf einer unverbindlichen Ebene. »Hat es derartige Erscheinungen in der Genbank schon vor meinem Amtsantritt gegeben?« fragte er. Herunterspielen, die ganze Sache herunterspielen, Normalität aus der Ausnahmesituation machen! »Danach könnte man allenfalls das Zentralregister befragen! In meinem Verantwortungsbereich lag die Ausbeute jedenfalls stets knapp unter dem theoretischen Wert!« An mir liegt es nicht, Maarli. Ich spiele am Schluß nicht die Dumme! wußte Manuel zu übersetzen. »Sind die Fehlbestände allgemein verbreitet, oder beschränken sie sich auf spezielle Arten?« Er beißt an, dachte San Tri. Er beißt endlich an. Er mußte anbeißen! Laut sagte sie: »Ich habe das Gefühl, die Verlustrate betrifft alle Versuchsreihen. Aber wenn Sie mich beauftragen, werde ich Ihnen sofort eine Liste der betroffenen Arten zusammenstellen!« Na bitte, dachte Manuel. Aus und vorbei. Plan »Iru supren!« geplatzt. Gescheitert am Übereifer der eigenen Mitarbeiter. Aber er konnte nichts anderes tun als anzuweisen: »Tu das gelegentlich, San Tri. Es eilt zwar nicht, aber einem solchen unerklärlichen Phänomen sollte man auf jeden Fall nachgehen. Ich danke dir für deine aufmerksame Arbeit!« Damit hatte er San Tri Minh stehenlassen und sich vor seinen Rechner gesetzt. Das Zentralregister hatte ihm bereitwillig alle Daten, die Genbank betreffend, überspielt. Und San Tri Minh sollte von seiner Anweisung halten, was sie wollte!
Manuel Maarli hatte sich wieder offen nach allen Seiten gedünkt. Und sicher. So sicher, daß er an zwei Dingen nicht im Traum gedacht hatte. Daß nämlich erstens die Daten, die da auf seinem Kommunikationsterminal erschienen, kunstvoll frisiert waren, und zweitens, daß sich ein gewisser Steiner vor Freude die Hände rieb, als er sah, welches Datenmaterial der Leiter der Genbank aus dem Zentralregister abrief. Das Leben des Karel Nygard weitete sich ganz allmählich wieder aus. Hatte es sich bereits gänzlich auf wenige Punkte des geschwächten Leibes reduziert, hatte es Welt bereits völlig aus seiner Sphäre ausgegrenzt, Welt in allen ihren Teilen, den Hangar wie den Vizepräsidenten, »Solara III« und Peer Alpha, Rajna Kasabov und die Barrieren, Reinke de Vos und Tschilin Mohrung, die Nygardcrew und den Planeten Erde, Jacob Boer und die Rettungsinsel, war die Lebenssphäre des Karel Nygard zu irgendeinem undefinierbaren Punkt im Inneren des Leibes zusammengeschrumpft, so gewann sie nun eine schier unendliche Dimension dazu: das Bett, das eigene Bett. Das Fluchtburg sein konnte und/oder Gefängnis, in dem man ruhen und/oder leiden konnte, das weich und warm genug war wie ein Nest und/oder flach und hart, ein Nadelbrett eines Fakirs und jede Falte eine potentielle Schmerzensstelle für den wundgelegenen Rücken. Und der Raum, in dem dieses Bett stand, nannte eine Tür sein eigen, und mit dem Öffnen dieser Tür begannen die Besuche Jacob Boers. Vier Besuche an vier Tagen, die schon ihr eigenes Zeremoniell entwickelt hatten, Jacob Boer öffnete diese Tür jeweils betont leise und vorsichtig, schob sich danach geräuschvoll den Besucherstuhl an die richtige Position vor das Bett, man starrte sich minutenlang schweigend an, der erste Satz kam schließlich vom Besucher: »Werde dich mal wieder rasieren müssen!« Die Welt Nygards erweiterte sich um das Erlebnis des warmen Seifenschaumes. Die Klinge wurde von sanfter Hand geführt,
niemals gab es einen Kratzer oder einen Schnitt gar, das hatte Jacob Boer drauf. Danach wieder Schweigen, aber bereits viel entspannter. Die Veränderungen in den Gesichtszügen des anderen, die Veränderungen der Welt waren registriert. Vor allem Nygard begann zu lächeln, hatte er doch sein Gegenüber längst durchschaut, und sage ihm keiner, dieser Passagier Jacob Boer wäre nicht mindestens so durchtrieben wie sieben ausgestopfte Luchse. Wenn er sich auch nur noch sehr dunkel daran zu erinnern vermochte, zu welcher Tiergattung man die Luchse zu zählen hatte. Begegnet war er einem solchen Tier noch nie, nicht einmal in ausgestopftem Zustand. »Wirklich schade, daß du bald stirbst, Nygard. Wirst leider nicht mehr mit eigenen Augen sehen können, welche Riesenshow Alpha hier abzieht! Und wie sogar die Leute deiner Crew mit Feuereifer am Werke sind!« Der Versuch des Luchses, den Käfig aufzubrechen und die Welt in dieses Krankenzimmer einzuschleusen. Zwei Sätze und zwei gute Gründe, die Galle Karel Nygards zum Überkochen zu bringen. Peer Alpha also und seine eigene Crew! Mochte sie doch allesamt der Teufel holen, oder viel besser, denen würde er noch zu beweisen haben, daß die längst vorbereiteten Nachrufe in ihren Schubläden weniger wert waren als Makulatur, daß der Heldentod verschoben war, verschoben auf den Sanktnimmerleinstag! Er, Nygard, hatte sich jedenfalls noch nicht abgeschrieben, und wenn sie das Bärenfell bereits zu verteilen begannen, während der Bär noch hüpfte, dann sollten sie sich gefälligst sehr vor seinen Tatzen hüten! Ein gewisser Alpha ganz besonders! »Erzähl schon!« drängte Karel Nygard erwartungsgemäß seinen Besucher, und die Nygardsche Stimme wurde von Tag zu Tag kräftiger. Überhaupt war es so, daß der Medizincomputer seine Prognose ständig korrigieren mußte. Die Überlebenschancen des Neukommandanten stiegen. Vorerst lediglich um unmaßgebliche
Stellen hinter dem Komma, aber es handelte sich auch erst um den vierten Besuch Jacob Boers. Geduld war vonnöten. »Erzähl schon!« drängte also Nygard. Nach so eindringlicher Aufforderung war es nur zu natürlich, daß wieder ein Stückchen Welt eingeschleust werden mußte, der Besucher konnte gar nicht umhin, wovon sonst sollte er berichten! Jacob Boer knüpfte an frühere Erfahrungen, frühere Welten des Karel Nygard an und sagte: »Der Peer Alpha«, sagte Boer also, »der Peer Alpha hat im Wrack der ›Solara III‹ nicht ohne Grund stundenlang vor seinen Karten gehockt. Er hat schon die richtige Rettungsinsel für sich und uns ausgesucht, der alte Fuchs. Und seine Idee könnte das pure Gold wert sein!« Schon wieder ein Tier, das sich so schwer einordnen ließ. Fuchs. Groß, klein, lebendig, ausgestopft, Gras oder Fleisch? »Welche Idee?« unterbrach der Kranke. »Herrgott, wenn du nicht willst, daß ich dich rausschmeiße, dann laß dir die Würmer gefälligst nicht einzeln aus der Nase ziehen!« Jacob Boer lächelte nur freundlich. Drohungen solcher Art kamen ihm sehr gelegen. »Diese Rettungsinsel soll nach dem Willen von Alpha zu einem Zentrum für irdischen Tourismus ausgebaut werden. Damit sich Leute wie der Vizepräsident durch die Barriere schleusen lassen können, auf gefahrlosem Wege natürlich, dennoch soll es ein gehöriger Nervenkitzel werden, damit sie ihre weisen Köpfe schütteln können über die Wüstenlandschaften, die unsere Urahnen hinterlassen haben, und damit sie auch ihrer Hochachtung Ausdruck verleihen können, denn die Altvorderen haben schließlich so manche heute noch beeindruckende technische Leistung vorzuweisen. Und ein kleines Souvenir ist sicherlich im Preis solcher Reise inbegriffen! Wirklich schade, daß du bald stirbst, Karel! Du müßtest dir die Planungen einmal ansehen! Andererseits, über die Kosten für eine
solche Safari brauchen wir beide uns keinen Kopf zu machen, die könnten wir ohnehin nicht aufbringen. Für uns bleibt das Leben in den Außenanlagen und auf den Neuplaneten, aber selbst das wirst du nicht mehr erleben!« »Gibt es endlich eine Verbindung zum Hangar?« Mit dieser Frage war die Welt fast wieder so groß wie vor der Katastrophe. Zu groß vielleicht! »Die schweigen sich aus. Obwohl wir auf allen Kanälen…« Die schweigen sich aus! Hatten ihn in die Falle gelockt und schwiegen sich jetzt aus. Es war zuviel Welt, die da auf den Kranken einstürmte, es war keine gute Welt, da zog er sich doch lieber in seine Fluchtburg zurück und leierte die Zugbrücke ganz nach oben. Nicht einmal Boer war der Zutritt gestattet. Auch das gehörte zum Ritual! Als sich die vielen jungen Körper endgültig von der Muttertierpflanze abgetrennt hatten und damit der Prozeß der Vermehrung in Gang gekommen war, hatte sich die Aufteilung der Symbionten keineswegs gleichmäßig vollzogen, und von Gerechtigkeit war schon gar nicht die Rede. Recht unterschiedlich ausgestattet, waren die Sprößlinge in alle Winde verweht worden, und es waren Nachkommen dabei, in denen die kleinen, leichten, einzelligen, assimilierenden Symbionten derart dominierten, daß schon ein Windhauch genügte, sie vom Boden abzuheben und schwebend durch die Region zu treiben. Dem hielt mancher Quasiorganismus nicht stand. Er, zerfiel, und seine Bestandteile wurden früher oder später willkommene Beute seiner ehemaligen Brüder. Manchmal, in vielen Regionen eher oft, war der Wind sehr viel stärker als nur ein Hauch. Er riß die jungen Quasiorganismen mit sich fort, in die Weite, in die Höhe, in und über alle Wolken.
Diejenigen Organismen, die nicht zerfielen, die die auseinanderstrebenden Symbionten zu binden verstanden, fanden in den Wolkennebeln beste Lebensbedingungen. Stets das gleiche diffuse Licht, die immerfeuchte Luft, Kohlendioxid im Überfluß. Und so trieben von West nach Ost, von Nord nach Süd die ersten grünen Wolken über den geschändeten Planeten Erde, und wo sich ihre Wassermassen ergossen, waren es grüne Tropfen, die zum Boden fielen und die das neue Leben weit über die Oberfläche verbreiteten. Eine Lebensform, die aus Symbiosen von Einzelorganismen bestand und die dennoch wie ein Gesamtorganismus reagierte. Die Tierpflanze hatte sich die Lüfte erobert. Das Gefühl, den Entwicklungen gewachsen zu sein, ja, sie in seiner Hand zu haben und zu lenken, hatte nicht lange angehalten. Welche Terratengruppe auch immer konkret hinter dem Plan »Iru supren!« stand, denn Alina Simon war lediglich Werkzeug, ein sehr geschicktes und sehr geeignetes Werkzeug, aber eben nicht mehr, wer also immer hinter »Iru supren!« stand, der wurde ganz allmählich immer unverfrorener. Der ließ von seinem Werkzeug nicht nur den überwiegenden Teil der Ernten beiseite schaffen, der begann nun schon, in der Datenkartei der Genbank zu wühlen und schickte sich schließlich an, die Kriterien neu festzulegen, nach denen die verschiedenen Arten dem Kälteschlaf entrissen und dem Vermehrungstest zugeführt wurden. Der sprengte alle Grenzen, der begann, sich der Fessel Manuel Maarli vollends zu entledigen, der mußte sich auf der einen Seite ungemein sicher fühlen, und dem mußte andererseits die Zeit ziemlich unter den Nägeln brennen. Manuels Position als Leiter der Genbank und als A-Terrat wurde von Tag zu Tag unhaltbarer. Schon lächelten sich Georg Weiher und San Tri Minh wissend und verächtlich zu, wenn ihr Chef im Arbeitsbereich auftauchte. Schon längst fragten Alina Simon und Mustafa Al Key nicht mehr nach seinen Anordnungen. Die beiden
legten eine Geschäftigkeit an den Tag, die deprimierend auf ihn wirkte, weil er sie nicht angewiesen hatte. Weil es im Gegenteil nach seinen Weisungen in der Genbank eher gemächlich zugegangen wäre, hätte sich nur jemand daran gehalten. Er spürte von Tag zu Tag deutlicher, daß er das Heft keineswegs mehr in der Hand hatte. Und er wäre schon zufrieden gewesen, wenn der, der das alles steuerte, wenigstens den Schein gewahrt hätte. Mit Alina Simon jedoch war nicht zu reden. Blieb nur Jacob Schwerte als Gesprächspartner. Doch der, zwei Ebenen unter Maarli angesiedelt, benahm sich so, als stehe er mindestens ebenso viele Stufen über ihm, und hatte schon gar nicht ernsthaft mit sich reden lassen. »Wir wollen deine Stellung durchaus nicht gefährden, Maarli. Das können wir uns überhaupt nicht leisten, wenn ich ehrlich sein soll. Es geht also um einen Modus vivendi. Du wirst über Alina von unseren Beschlüssen hören!« Schluß, aus und basta. Keine Diskussion. Die Verstrickung Maarlis in den Plan »Iru supren!« nahm zu, aber sie hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Bereits einen Tag nach dem Gespräch mit Schwerte hatte ihm die Simon einen Rechnerausdruck auf den Schreibtisch gelegt und lächelnd gesagt: »Jacob meinte, daß diese Arten durchaus das Testprogramm für die kommende Woche abgeben könnten. Damit wir wenigstens in die gleiche Richtung rudern, wenn wir schon notgedrungen im selben Boot sitzen!« Ein Blick Maarlis auf die Papiere genügte. »Iru supren!« wollte aufs Ganze. Der Rechnerausdruck enthielt durchweg Arten, die sich den unterschiedlichsten Bedingungen sehr gut anpassen konnten, Arten, die möglichst viel Sauerstoff freisetzen, Arten, die folglich große Mengen an Kohlendioxid verbrauchten. Keine empfindlichen Sensibelchen, keine Gewinner von Schönheitswettbewerben. Harte Burschen waren gefragt, Pioniere
reinsten Wassers, die Sand in Humus zu verwandeln die Fähigkeit hatten und denen ein Sturm nicht gleich den gesamten Blütenstand zerzauste. Blütenstände waren überhaupt nicht gefragt. »Iru supren!« setzte voll auf Windbestäubung. Noch immer, so sagte sich Maarli jetzt, da er in seinen Räumen eingeschlossen war und nicht einmal wußte, ob die 211er wirklich zur Oberfläche vorgedrungen waren oder ob Steiner vorzeitig Wind von der Sache bekommen und zugeschlagen hatte, damals wäre noch immer eine Chance gewesen, sich aus dem Sumpf zu ziehen. An den eigenen Haaren sozusagen. An jenem Tag hatte er minutenlang mit dem Gedanken gespielt, Steiner zu umgehen, eine Audienz beim Rat zu erwirken und dort die Karten auf den Tisch zu legen. Die ganze Aktion »Iru supren – Geht nach oben!« wäre aufgeflogen, und er hätte bis ans Ende seiner Tage ein ruhiges Leben in der A-Ebene führen können, unbehelligt von den Schwertes und den Simons auf der einen, den Steiners auf der anderen Seite. Ein ruhiges und behagliches Glück im Kreise von Sylvie Debora und Ralf Beland. Das Erlebnis der kleinen Nichtig- und Wichtigkeiten eines bonlosen Lebens in Ruhe und ohne die geringsten Sorgen. Die Aussicht war ihm durchaus verlockend erschienen. Aber wenn nicht andere, so würde er sich selbst nach einem solchen Schritt nur noch einen Judas nennen können, einen Verräter, der verantwortlich dafür war, daß die Jugendträume der 211er vorzeitig in die Totenkaverne geschleppt wurden, der verantwortlich zeichnete, daß die Gemeinschaft aller Terraten möglicherweise eine ihrer letzten Chancen verpaßt hatte! Die Minuten der Versuchung vergingen, Maarli hatte die Liste unterzeichnet, und der nächste Schritt war damit getan. Nur noch einer stand aus. Der ließ nicht lange auf sich warten. Drei Tage später bereits stand Jacob Schwerte plötzlich in der Genbank. Natürlich war dort längst Arbeitsschluß, sie waren allein, und Schwerte sagte:
»Wir benötigen dringend bestimmte Materialien, die nur du bestellen kannst. Ich habe eine Aufstellung vorbereitet!« »Wer ist ›wir‹, und wozu werden die Sachen gebraucht?« »Komm, Maarli, frag nicht! Mach, was dein Teil der Aufgabe ist! Jeder an seinem Platz, keiner weiß alles. Nur so werden wir sicher an die Oberfläche gelangen!« Jacob Schwerte war wieder gegangen, seine Bestellung lag auf Maarlis Schreibtisch, und sie war umfangreich. Noch einmal kurz die Versuchung. Sich Jeanne Perra offenbaren! Die Hand zuckte nach dem Kommunikationsterminal, aber im Grunde gab es für Manuel Maarli schon keinen Weg mehr zurück. Zu viele Dinge hätte er dem Rat inzwischen erklären müssen, die ohne sein Zutun nicht möglich gewesen wären. Und so ging Maarli auch diesen letzten Schritt. Er unterschrieb die Liste der angeforderten Materialien, und es fiel ihm nicht einmal auf, daß er mit dieser Bestellung einen großen Posten der gleichen Folie orderte, aus der sie in der Genbank die Anzuchtvitrinen zusammenschweißten. Die Bestellung war jetzt fünf Tage alt, und das gelieferte Material war in der ersten Nacht aus der Genbank verschwunden. Maarli hatte nicht gefragt, wohin man es gebracht hatte. Die Antwort kannte er im voraus: »Jeder an, seinem Platz, und keiner weiß alles!« Die folgenden Tage waren scheinbar ereignislos verstrichen. Aber am heutigen Morgen hatten plötzlich Steiner und Jeanne Perra in seiner Schlafkaverne gestanden. Manuel war ziemlich unsanft geweckt worden, und Jeanne Perra hatte ihn angeschrien: »Dir werden wir dein Handwerk legen, mein Lieber, dir werden wir das Handwerk gründlich legen!« Und Steiner hatte geschwiegen, aber gelächelt und die Nahrungsautomaten versiegelt und sicherlich auch das Kommunikationsterminal lahmgelegt und die Tür verschlossen.
Das alles war so schnell gegangen, daß Manuel den gesamten Vorgang erst so richtig begriffen hatte, als er schon wieder allein in seinem Wohnbereich war. Als Gefangener, wie er sehr bald hatte feststellen müssen. Erneut trat Manuel gegen das Kommunikationsterminal. Es war einfach keine Zeit, der eingespielten Zeremonie Genüge zu tun. Es war keine Zeit, die Tür leise und vorsichtig zu öffnen, keine Zeit, den Besucherstuhl geräuschvoll zu plazieren, keine Zeit für die obligaten prüfend wohlwollenden und langdauernden Blicke, nicht einmal Zeit für Seifenschaum und Klinge, denn es gab ungeheuer Wichtiges mitzuteilen, und das Wichtige sprudelte wie von selbst aus Jacob Boer heraus: »Sie haben sich gemeldet!« Danach erst ließ er sich auf den Stuhl fallen, jetzt endlich war Zeit, die Wirkung der Sensation auf Karel Nygard in Ruhe auszukosten. Sie hatten sich endlich gemeldet, jetzt war das Schicksal der »Solara III« und ihrer Besatzung allüberall im Raum bekannt, jetzt endlich würde ein Hilfsapparat ohne Beispiel seine Arbeit aufnehmen. Bald, sehr bald schon würde man den ungastlichen Planeten Erde wieder verlassen können, jetzt endlich waren die Zeiten von Angst und Entbehrung, von Sorgen und Ungewißheit vorüber; das Leben, das richtige, das normale Leben hatte sie wieder eingeholt, wenngleich es bisher nur aus einem unscheinbaren Funkspruch zu bestehen schien: »Hilfe in etwa dreiunddreißig Zeiteinheiten zu erwarten!« Dreiunddreißig Zeiteinheiten, das waren umgerechnet knappe dreihundert Erdentage, und so lange hielt man in dieser Rettungsinsel spielend durch, jetzt, nachdem das Ende des Tunnels deutlich als schwacher Lichtschimmer erkennbar war. Und vorerst kostete Jacob Boer die Wirkung dieser Sensationsnachricht aus. Und war enttäuscht.
Denn auf Nygard wirkte diese Nachricht nicht als Sensation, für ihn handelte es sich um eine längst erwartete, allenfalls überfällige Information. Es hatten ihn nie die geringsten Zweifel geplagt, daß man sie etwa in dieser Einöde im Stich lassen könnte. Der Vizepräsident war gewiß ein gewaltiges Schlitzohr, aber alle seine Schlitzohrigkeit fand dort ihre Grenze, wo es um die Sicherheit seiner Leute ging. »Wie hat Alpha auf den Funkspruch reagiert?« fragte Nygard, und Jacob Boer stellte erstaunt fest, daß Nygard bereits rasiert war. So hatten sie denn beide ihre wichtigsten Neuigkeiten an den Mann gebracht, herausgesprudelt die eine, wortlos mitgeteilt die andere, und es war durchaus ungewiß, welche Neuigkeit langfristig von größerer Bedeutung für die Mannschaft der »Solara III« sein würde. »Was hat Alpha zum Funkspruch aus dem Hangar gesagt?« wiederholte Nygard seine Frage. »Ach, der!« antwortete ihm Jacob Boer mit deutlich spürbarer Herablassung. »Der denkt doch nur an sein künftiges Tourismusgeschäft. Plündert die umliegenden Ortschaften aus, daß es jeden normalen Menschen grausen würde. Und deine Leute sind ganz diensteifrig dabei!« Karel Nygard überhörte geflissentlich den deutlichen Seitenhieb. Mit seinen Leuten würde er bald genug Schlitten fahren, ein paar Tage noch, sobald ihm wieder die notwendigen Kräfte zur Verfügung standen, dann würde er den Haufen zurück in die Spur bringen, so wahr er Nygard hieß! Über seinen Haufen, über die Nygardcrew, erzählte man dem Schwerkranken zur Zeit besser nicht die Wahrheit. Dann hätte man ihm nämlich erzählen müssen, was sich seit dem Aufsetzen von Lander II und III in der Rettungsinsel ereignet hatte, und davor warnte der Diagnosecomputer nachdrücklich. Karel Nygard hatte im Glauben zu bleiben, daß seine Mannschaft und Peer Alpha gemeinsame Sache machten, daß die ganze Schar am Morgen über das Land fiel wie weiland die Heuschrecken über
Ägypten, und am Abend ihre liebe Not hatte, die reiche Beute in den Kellern der Station zu verstauen. Dieser Glaube machte nämlich den Neukommandanten wütend, und Wut, so jedenfalls der Medizin-Computer, war zur Zeit das beste Mittel, die inneren Kräfte freizusetzen, die allein Nygards Leben retten konnten. Folglich durfte man ihn unter keinen Umständen von drei Vorgängen in Kenntnis setzen, die sich seit der Landung in der Rettungsinsel abgespielt hatten, teils hinter den Kulissen, teils aber auch auf offener Bühne. Der erste Vorgang spielte sich völlig hinter den Kulissen ab, zu bemerken waren allenfalls seine Auswirkungen. Dabei hatte Peer Alpha jeden Schritt einkalkuliert, jede Wirkung vorausberechnet. Schließlich kannte er die Festung am besten, die es zu erstürmen galt, ihre unerschütterlichen Bastionen und vor allem ihre leicht zu überwindenden Schwachpunkte. Die Festung hieß Rajna Kasabov, und er würde die Zugbrücke einladend heruntergelassen vorfinden, dessen war er sich sicher. Die Kasabov konnte auf Dauer nicht ohne ihn existieren, nicht mehr nach all den gemeinsamen Jahren und erfolgreichen Flügen. Nur halt ein bißchen Fett war vonnöten, weil die Tore in den Angeln quietschten und sich die Kemenate kaum noch öffnen ließ. Und so richtete Peer Alpha unmittelbar nach seiner Landung Rajnas Kajüte ein, verteilte Teppiche an den Wänden und verstreute Kissen in allen vier Ecken. Gestaltete einen weichen Raum für eine weiche Frau, versprühte vom Duft, den sie liebte, und wartete dann gelassen auf Lander II und Lander III. Rajna Kasabov, daran zweifelte er keine Sekunde, würde den Weg zurück an seine Seite finden, an die Seite des Erfolgreichen, und der Erfolg lag auf dem geschundenen Planeten allenthalben nur so bereit, er wartete förmlich darauf, geborgen zu werden, jede Siedlung eine Fundgrube. Es taten sich Perspektiven auf, die weit über eine »Solara IV« hinausführen würden. Und er hielt das alte Raumpferd Kasabov für klug genug, den Hafer meilenweit zu wittern.
Doch dann setzten Lander II und III auf, auf seinem sauberen Leitstrahl übrigens, das Freudengeheul der Nygardleute brach jählings ab, sie schleppten im Laufschritt eine Flickendecke in die Station, und auf dieser Decke krümmte sich ihr Chef, Karel Nygard. Kein guter Start für den Minnezug Alphas. Aus der Erstürmung der Burg entwickelte sich eine langwierige Belagerung, aushungern, hieß die Devise. Aber es war ein schier aussichtsloser Kampf, sprudelte im Burghof doch eine Quelle und trug im Burggärtchen ein Apfelbäumchen reiche Frucht. Rajna Kasabov kümmerte sich tagelang ausschließlich um Karel Nygard, selbst zu einem Zeitpunkt noch, als längst klar schien, daß da nur noch ein lebender Leichnam zu versorgen war und das Ende des selbsternannten Kommandanten unvermeidlich. Rajna Kasabov hatte sich endgültig entschieden. Die Zugbrücke blieb oben, die Kemenate vor Peer Alpha verschlossen, da nutzten ihm selbst die betörendsten Düfte nichts! Aber das alles verschwieg man dem halbtoten Nygard lieber, denn dieser Vorgang schwächte seinen Gegner entscheidend, und wenn Karel Nygard zu seiner Genesung etwas wirklich brauchte, dann war es eine starke, eine übermächtige Wut auf den erfolgreichen und gesunden Gegner. Auch vom zweiten wesentlichen Ereignis seit der Landung erzählte man ihm besser nichts. Jacob Boer schon gar nicht, denn der war Opfer und Täter in Personalunion. Und je nach Temperament und Einstellung hatte man ihm anerkennend auf die Schultern geklopft. Die Grundlage für das spätere Geschehen hatte Boer noch im Wrack der »Solara III« gelegt. Unbewußt natürlich, als er Tschilin Mohrung an den Schultern gepackt, sie geschüttelt, daß ihre langen Arme wie lose Zaunslatten schlackerten, und ihr die Wahrheit ins Gesicht gebrüllt hatte: »Er ist nun mal leider tot, dein Reinke, verunglückt, draußen, im Raum, und du machst ihn mit deinem ganzen Affentheater auch nicht wieder lebendig!«
Daß die Mohrung den Sinn dieses Satzes nicht begriffen hatte, nicht begreifen wollte, lag auf der Hand, blieb sie doch hartnäckig dabei, für jeden Mann den gleichen Namen zu gebrauchen und die für den echten Reinke de Vos aufgesparte Zärtlichkeit ziemlich gleichmäßig auf all die falschen zu verteilen. Dennoch mußte der Boersche Satz seine Wirkung nicht gänzlich verfehlt haben, denn Tschilin tauchte jetzt überall dort auf, wo sich auch Jacob Boer aufhielt. Das Gleichgewicht ihrer Zärtlichkeiten begann sich zu verschieben, Tschilin bildete ganz allmählich eine Rangordnung der Reinkes aus, und an deren Spitze stand nun einmal Jacob Boer, ob er es wollte oder nicht. Boer, eingedenk der heftigen Reaktionen, zu denen die Nygardcrew fähig war, ging Tschilin Mohrung aus dem Weg, wo immer das möglich war. Aber es wurde immer seltener möglich, denn so groß die Rettungsstation auch im Vergleich zum Wrack der »Solara III« war, so klein war sie gegenüber dem Einfallsreichtum der Mohrung, sich ihrem Reinke de Vos zu nähern, sich anzuschleichen, einen Blick zu erhaschen, ein Lächeln, eine Berührung. Ein Lächeln, eine Berührung. Eine Berührung, Berührungen! Auf Berührungen war Tschilin Mohrung aus, mit jedem Tag, der verging, war sie heftiger darauf aus und eindeutiger, denn was ist das für eine Liebe, die nicht auch auf Berührungen aus ist! Und deshalb wurden die Röcke der Tschilin Mohrung kürzer, die Ausschnitte tiefer, der Gang eindeutiger, ein einladendes Wippen und Zittern lockte von ihren Rippen, in immer eindeutigerer Absicht drängte sich Tschilin an Jacob Boer, und das in aller Öffentlichkeit. Da war ihrerseits auch die Sicherung des Besitzstandes im Spiele, denn bei all den Frauen an Bord der Station mußte der Mohrungsche Anspruch bekräftigt werden auf diesen Reinke de Vos, vor allem auf diesen! Jacob Boer nun war weder Fisch noch aus Holz, und wenn sie sich ihm entgegendrängte, dann spürten sie beide, daß sich da etwas regte. Und nur zu gern hätte er über dieses blonde Haar
gestrichen und diese Brüste gegriffen. Und er hätte seine Kajütentür nicht abends vor ihr verschlossen, oder er hätte sie doch wenigstens gern geöffnet, wenn er sie vor dieser Tür spürte, wenn sie auf die Klinke drückte, wenn sie Jacob geflüstert hätte, Jacob und nicht Reinke! Dies alles spielte sich vor den Kulissen ab, auf offener Bühne sozusagen, und konnte keinem verborgen bleiben. Tschilin Mohrung blieb jedoch beim Namen Reinke, es bot sich folglich keine Brücke dar, über die die beiden hätten schreiten können. Aber sie waren schließlich keine Königskinder, und das trennende Wasser war auch nicht unendlich tief, und so bedurfte es nur eines Anstoßes, um den flachen Graben zu durchwaten, und der Anstoß ging wieder von Tschilin aus. Eigentlich waren es zwei Anstöße, und der eine bestand darin, daß Tschilin ganz allmählich zu unterscheiden lernte zwischen den Reinkes und einigen anderen Männern, die künftig wieder ihre eigenen Namen tragen durften und aus dem Besitzstand Tschilins ausgegliedert waren. Der Funker Malev war der erste, dem diese Ehre zuteil wurde. Sein richtiger Name ging Tschilin leicht von der Zunge, und der Diagnosecomputer nannte diese Entwicklung einen wichtigen Schritt zur völligen Gesundung der anabiosegeschädigten Patientin. Der zweite Anstoß war weit weniger erfreulich und hatte hauptsächlich mit der Sicherung des vermeintlichen Mohrungschen Besitzstandes zu tun. Er bestand darin, daß Jacob Boer und Rajna Kasabov im Aufenthaltsraum der Station saßen und ihren Kaffee schlürften. Das taten sie immer, wenn sie sich über das weitere Vorgehen im Fall Nygard verständigen wollten, und diese Verständigung war täglich vonnöten. Tschilin kam dieses Gespräch erheblich zu vertraulich vor, sie stürzte sich wie eine Furie auf die Kasabov, zerrte an Haar und Bluse, denn schließlich war es ihr und nur ihr Reinke, der in aller Öffentlichkeit mit einer fremden Frau schöntat!
Natürlich griff Reinke-Jacob de Vos-Boer ein und hielt die Tobende fest. Endlich hielt er sie fest, sie wurde zu Wachs in seinen Händen, und sekundenschnell verflog all ihre gefährliche Aggressivität. »Du solltest sie endlich nehmen«, sagte Rajna und brachte mit einigen Handgriffen ihre Kleidung in Ordnung, zog eine Spange aus ihrem zerzausten Haar und ging zur Tür. »Du kannst sie nicht länger warten lassen, sonst dreht sie uns noch völlig durch, und wir müssen sie in ihrer Kabine isolieren! Der Computer sagt auch, daß sie Chancen hat, wenn du ihr ein paar Schritte entgegenkommst! Sie ist doch nicht häßlich, so groß kann das Opfer nicht sein!« Es wurde keine sehr gute Nacht. Tschilin Mohrung, der langen Abstinenz und der Sicherung ihres Besitzstandes wegen, war unersättlich. Sie gönnte ihm Schlaf nur viertelstundenweise und fiel dann wieder über ihn her. Es war nicht nur keine sehr gute Nacht, es waren schlimme Stunden, und sie blieben unbefriedigend für beide Seiten. Manchmal schien es, daß zumindest Tschilin ihre Erfüllung finden würde, aber dann mischte sich in ihr Stöhnen, in ihr Entzücken, in ihre lustvollen Schreie der immer wieder gestammelte Name »Reinke«, und dann war für Jacob Boer natürlich alles vorbei. So schlimm war die Nacht, daß Boer jede Eule, jede Nachtigall, jeden Geier mit Freude zur Lerche erklärt hätte, aber auf diesem Planeten flogen nun einmal keine Vögel mehr, weder am Tag noch in der Nacht! Erst als der Morgen graute, fielen beide in einen unruhigen Schlaf. So ging diese Nacht herzlich schlecht ihrem Ende entgegen. Aber Tschilin hatte nun endlich ihren Reinke de Vos gefunden, sie gab ihn nicht wieder frei, und vom Spiegel, auf den sie einst gefallen, wuchsen ein paar Scherben wieder zusammen. Sie sah hinein und erkannte, daß es Rechtens auf der Welt nur einen einzigen Reinke de Vos geben konnte, erschrak darüber ein bißchen und fühlte sich gleich darauf überglücklich, daß sie sich
den einzigen, den richtigen, den wahren Reinke mit todsicherem Instinkt herausgepickt hatte. Tschilin Mohrung richtete sich in der Kajüte Jacob Boers häuslich ein, und sie lebte mit ihm, wie sie vor dem Start der »Solara III« mit de Vos gelebt hatte. Die Crew akzeptierte dieses Zusammenleben, hatte man doch nun seine Ruhe vor ihren Nachstellungen. Auch davon erzählte man dem Teamchef Karel Nygard nichts, denn er würde nur eine seiner Sorgen verlieren, die Sorge um Tschilin Mohrung. Und wenn ihn etwas aufrecht hielt, dann waren es immer noch die Sorgen um seine Leute, um seine Crew, wie schmählich die ihn auch im Stich ließ! Schon gar verschweigen mußte man ihm den dritten Vorfall, obwohl oder gerade weil er in diesem Part eine Hauptrolle spielte. Die Sache war aus purer Verzweiflung geboren, und die Aktienmehrheit am Entstehen des Planes hatte Raphaela Dimanci. Als sich nämlich der Diagnosecomputer im Fall Nygard nicht mehr scheute, Tag und Stunde des Ablebens zu prophezeien, hatte sie in ohnmächtiger Verzweiflung die Speicher nach ähnlichen Fällen durchwühlt, war auf die Suche gegangen nach dem Strohhalm für den Ertrinkenden und war fündig geworden. Das Schlüsselwort hieß »psychologische Mobilmachung«, und es wurde von einem Fall berichtet, den man im weitesten Sinne mit dem Karels vergleichen konnte. Raphaela war mit ihrem Wissen zum Funker Malev gerannt, gemeinsam hatten sie an einem Programm gebastelt, Rajna Kasabov war ins Vertrauen gezogen worden, dann die gesamte Nygardcrew, und es hatte sich eine heftige Diskussion entwickelt. Aber die Fakten sprachen für die Idee der Dimanci, sicherer Tod nach dem bisherigen Therapieplan, eine Chance von einigen wenigen Prozenten nach der neuen Methode. Da griff man schließlich bereitwillig zum Strohhalm, und mancher wünschte sich ein paar Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück, damals
nämlich hätte beten geholfen. Und das hätten sie für ihren Teamchef fraglos getan. Und so sah die »psychologische Mobilmachungs-Therapie« für Karel Nygard aus: Besuche waren ab sofort einzustellen, die Pflege auf ein Mindestmaß zu beschränken, bis dem Kranken schließlich ein Bart gewachsen sei. Es mußte in ihm das Gefühl entstehen, von Gott und aller Welt, vor allem aber von seiner Crew, verlassen zu sein. Dann würde die Zeit gekommen sein für Jacob Boer und seinen schlimmen Satz: »Du stirbst zwar bald, und vielleicht lohnt es sich deswegen schon gar nicht mehr, aber ich werde dich trotzdem rasieren. Und weil das halt einige Zeit dauert, kann ich dir getrost erzählen, daß sie dich schon abgeschrieben hat, deine vielgeliebte Crew, daß dein Fell längst verteilt ist. Sie machen gemeinsame Sache mit deinem Intimfeind Alpha und lauern auf deinen letzten Atemzug. Also tu ihnen schon den Gefallen, hast ihnen doch bisher jeden Gefallen getan!« Dabei hatten Rajna Kasabov und die Mehrzahl der Crew zitternd in einiger Entfernung von der Tür gestanden, denn so ein schlimmer Satz, der konnte einen Gesunden auf die Bretter hauen, geschweige denn einen Schwerkranken. Aber der Computer hatte recht gehabt, und Jacob Boer hatte seine Rolle souverän gespielt. Tagtäglich fiel die Prognose des elektronischen Mediziners günstiger aus, ein paar Wochen noch, und Karel Nygard würde endgültig über den Berg sein. Ein Wunder war geschehen, und vielleicht hatte doch jemand gebetet, klammheimlich! Frühestens in ein paar Wochen also würde man Nygard von diesen Hintergründen berichten können. Besser aber überhaupt nicht! Als sich die vielen jungen Körper endgültig von der Muttertierpflanze abgetrennt hatten und damit der Prozeß der Vermehrung in Gang gekommen war, hatte sich die Aufteilung der Symbionten keineswegs gleichmäßig vollzogen.
Recht unterschiedlich ausgestattet, waren die Sprößlinge in alle Winde verweht worden, und es waren Nachkommen dabei, in denen übermäßig viele Symbionten dem Wasser zugeneigt waren, Symbionten, die auf die ständige Verfügbarkeit dieses Stoffes angewiesen waren und die selbst im Quasiorganismus zu verdorren drohten in der schattenlosen weiten Landschaft. Viele dieser Nachkommen fanden nicht genügend Wasser, verdorrten wirklich und wurden früher oder später zur willkommenen Beute ihrer ehemaligen Brüder. Manche aber, vom Glück begünstigt, trafen auf Restgewässer, tauchten ein in die Feuchtigkeit und begannen sich unter Wasser zu versorgen und zu vermehren. Einige der Quasiorganismen hatten kein Glück, weil sich ihr Wasserreservoir doch nur als ein vergleichsweise winziger Tümpel entpuppte, der im Sommer austrocknete, ohne Rücksicht auf das Leben, das in ihm gewohnt hatte. Andere Organismen waren glücklicher dran. Sie stießen auf Fließgewässer, in denen es von Nährstoffen nur so wimmelte und mit deren Strömung sie durch die Welt getrieben wurden, talwärts, dem Meere zu. Wenn die Symbionten dem Salzgehalt standhielten, wenn sie sich einen Platz an der lichtführenden Oberfläche erstritten, wenn der Quasiorganismus seine Struktur behaupten konnte, dann fand er in den Wogen beste Lebensbedingungen. Die Tierpflanze hatte sich das Wasser zurückerobert. Der Tag hatte für Steiner als Tag seines großen Triumphes begonnen. Sie waren endlich ausgebrochen, jene Handvoll Verrückter, die schon während des Abschiedsfestes für den Ausbildungsgang 211 ihr »Iru supren!« herausgeschrien hatten. Sie hatten das Sicherheitssystem der Zentralschleuse irgendwie überwunden und standen jetzt auf der Oberfläche herum, aber er, Gabriel Steiner, verantwortlich für den Bestand der Terratengemeinschaft, hatte sie keine Sekunde aus den Augen
verloren, und sehr bald schon würde ihre wilde und unüberlegte Aktion in sich zusammenbrechen, denn er hielt den Kopf der Aktion gefangen, er hatte Manuel Maarli entlarvt, von dem man wußte, daß er der Favorit für die nächste Vakanz eines Ratssitzes war. Daraus würde nun nichts werden, dessen Doppelspiel war endgültig ausgespielt, die Karriere dieses Maarli war zu Ende, ehe sie noch recht begonnen hatte. Der vakante Ratssitz gebührte, wenn schon, denn schon, einem anderen, einem Fähigeren, einem Loyaleren, beispielsweise ihm, Gabriel Steiner! »Es gibt absolut keinen Grund zur Beunruhigung«, hatte er deshalb zur Perra gesagt, die den schwerkranken Lima Verde im Rat vertrat. »Sie werden dort oben stehen wie die Tölpel und nicht wissen, wie es weitergehen soll, denn wir haben ihren Kopf. In drei, vier Stunden wird alles vorüber sein!« »Man hätte den Ausbruch verhindern müssen«, entgegnete ihm die Perra. »Die Fakten waren eindeutig genug. Man hätte den Rat früher unterrichten müssen, man hätte ihnen unbedingt zuvorkommen sollen, mein lieber Steiner!« Die Bemerkung der Perra war zwar eine deutliche Kritik gewesen, aber Steiner hatte diese Kritik weggesteckt, als wäre sie nie ausgesprochen worden. Der Kopf der Hydra war in seiner Hand, saß gefangen in der A-Ebene, und der Sieger würde am Ende zweifelsfrei Steiner heißen! Und dieser Rat, speziell jedoch diese Frau verstanden nicht viel von seiner Arbeit. »Ich wollte lediglich völlig sicher gehen und die gesamte konspirative Gruppe stellen!« sagte er laut. »Damit sich der Unruheherd später nicht insgeheim weiter ausbreiten kann und wir endgültig Ruhe haben werden!« »Wollen wir nur hoffen, daß Sie recht behalten, Steiner. Im Moment sieht es jedenfalls nicht so aus, als würde plan- und ziellos gehandelt!« In der Tat, es sah wirklich nicht aus, als ständen die Ausbrecher hilflos und ihrer Führungsspitze beraubt untätig an der Oberfläche
herum. Sie hielten nach wie vor die ersten beiden Stollen unterhalb der Hauptschleuse besetzt, lehnten alle Verhandlungen mit dem Rat ab, und einmal pro Viertelstunde fuhren die Schleusentore auseinander und gaben den Weg an die weite Oberfläche frei. Das Öffnen der Schleusentore konnte der Rat gerade noch feststellen, blockieren konnte die Perra das Schleusensystem nicht, denn die Ausbrecher hatten irgendwo im Stollen das Energiesystem angezapft, sich autark gemacht, und das war so geschickt geschehen, daß bisher niemand die Fehlschaltung entdeckt und behoben hatte. Keine Arbeit von Laien, dieser Steiner hatte versagt, gründlich versagt! War vermutlich einer falschen Spur aufgesessen, und es galt herauszufinden, wer sie gelegt hatte! Von einem der Balkone aus konnte man die Rebellen sogar sehen. Unter den Augen des Rates bauten sie transparente Hütten, verstauten Gerätschaften, und aller fünfzehn Minuten brachten die Hunte neue Ladung. Als hätte terratischer Reichtum kein Ende! Es war weniger die Tatsache, daß die Ausbrecher auf der Oberfläche standen, die Jeanne Perra ängstigte, sie war vielmehr darüber schockiert, daß unter den Augen Steiners im Schacht eine neue Machtstruktur entstanden sein mußte, eine regelrechte Organisation, die es verstanden hatte, insgeheim die schwierigsten Probleme zu lösen. Was, wenn es diese oder eine andere Organisation als ihr Ziel angesehen hätte, die Macht im ganzen Schacht zu übernehmen? Erneut öffnete sich die Hauptschleuse, und Jeanne Perra hätte zu gern gewußt, woher die Güter stammten, die da jedesmal transportiert wurden. »Lassen Sie diese San Tri Minh bringen!« wies sie Steiner an. »Wir können nicht untätig herumsitzen und auf den Zusammenbruch der Revolte wie auf ein Wunder warten!« San Tri Minh war im Grunde fein heraus. Sie stand wie die personifizierte Unschuld vor dem Rat und konnte beinahe wahrheitsgemäß antworten: »Ja, ich hatte Unregelmäßigkeiten
bemerkt, und ich hatte meinen Vorgesetzten darüber informiert. Ich konnte nicht ahnen, daß Maarli die Information mißbrauchen könnte. Wo ihm doch der Rat gerade erst sein Vertrauen bekundet hatte!« »Haben Sie nachgefragt, zu welchen Resultaten Ihre Hinweise geführt haben?« »Es war schon schwierig genug, die genauen Fehlbestände zu ermitteln!« Eindeutiger äußerte sich da schon Georg. Weiher: »Als ich bemerkte, daß ständig Material aus der Genbank entwendet wurde, habe ich mich direkt an den Sicherheitsdienst gewandt und Meldung erstattet!« Gabriel Steiner nickte zufrieden, und die Perra fragte: »Weshalb hatten Sie nicht ebenfalls Ihren Vorgesetzten Maarli unterrichtet?« »Unter der Leitung der Danuta Massupek gab es in unserer Bank niemals irgendwelche Unregelmäßigkeiten. Deshalb bestand für mich kein Zweifel an einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der neuen Leitung und den Fehlbeständen an Genmaterial. Ich habe mich nicht geirrt, wie man jetzt weiß!« Zufriedenheit strahlte von Steiners Gesicht. Wir haben überall unsere Leute sitzen, sie kommen freiwillig, weil sie Vertrauen haben, uns entgeht nichts, die Revolte wird zusammenbrechen, ein paar Stunden Geduld noch. Und danach wird abgerechnet! Mit schöner Regelmäßigkeit zeigten die Kontrollgeräte an, daß die Tore der Hauptschleuse geöffnet wurden. Mit schöner Regelmäßigkeit gingen die beladenen Hunte ihren Weg. Das wiederholte sich, die Zeit verstrich, nach Steiners Prognose mußte die Ratlosigkeit draußen bereits gewaltig und das Ende der Rebellion nahe sein. Schließlich sagte die Perra: »Entweder ist Maarli nicht der Kopf, Steiner, oder er hat die Sache so hervorragend organisiert, daß sie auch ohne seine
Anwesenheit abläuft! Ich werde mich mit ihm unterhalten müssen. Und das werde ich allein tun, mein Lieber!« Begonnen hatte der Tag für Gabriel Steiner als Tag des Triumphes! So vergingen die langen Tage des Karel Nygard. Ein Bein aus dem Bett gestreckt, die Bettdecke zur Seite geschlagen, wie herrlich leicht das ging, wie gut das tat, wie wunderbar kühl die Luft zwischen den Zehen dahinstreichen konnte. Es geht tatsächlich aufwärts mit dir, Nygard, sagte er sich mehrfach pro Stunde. Die Fortschritte des Heilungsprozesses waren selbst an der Atzung abzulesen, denn die Zeit der Schlapperbreie und der Vitaminkonzentrate war ausgestanden. Der Automat reichte nun schon einmal ein Schnitzel herüber, richtig mit Messer und Gabel zu essen. Da konnte man doch glatt vergessen, daß es sich bei der Schlemmermahlzeit auch nur um Synthesefleisch handelte, um den gleichen Stoff also, aus dem auch die Schlappersüppchen gekocht worden waren. »Es geht steil aufwärts mit dir!« sagte sich Karel Nygard laut und brachte es nach einiger Zeit fertig, auch das zweite Bein aus dem Bett zu strecken, sich aufzurichten und völlig frei die Beine baumeln zu machen. Er spürte die Kraft in sich, selbst ein drittes Bein zu bewegen, wenn ihm denn eines gewachsen wäre. So vergingen die langen Tage, und was an dem einen Tag noch Erlebnis gewesen war und große Kraft- und Willensanstrengungen gefordert hatte, das war am nächsten Tag bereits Selbstverständlichkeit. Die ersten Schritte schlossen sich an. Tapsig, bis zum Spiegel führend, die Hand stets am Bettknauf. Dann folgte der Gang durch das Zimmer, die Eroberung des weiten Raumes zwischen Tür und Spiegel, zwischen Schrank und Bett, vorbei am Besucherstuhl. Was machte es schon aus, wenn sich Jacob Boer
um Stunden verspätete. Er, Nygard, war durchaus wieder in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, von den allerpersönlichsten bis hin zu den allerwichtigsten, den Fragen der Zukunft dieser vertrackten Reise. So vergingen die langen Tage, und nachdem genügend von ihnen verstrichen waren, verließ der Kommandant Karel Nygard sein Krankenzimmer und stand nach kurzer Zeit im Leitstand der irdischen Rettungsstation, und er hatte diesen Leitstand mit untrüglicher Sicherheit auf Anhieb gefunden. Jetzt erst begriff Karel, daß diese Station weit mehr war als eine Notunterkunft für ein Häuflein havarierter Kosmonauten. Er stand im Leitstand eines gut ausgebauten Ausrüstungshangars, dem mehrere Stationen angegliedert waren, in denen es Platz und Material im Überfluß gab. Der Leitstand war leer, aber die Karte an der Wand bewies, daß Alpha ganze Arbeit geleistet hatte. Überall im Umkreis von rund fünfzig Kilometern blinkten die Radarsonare der verschiedenen Arbeitsgruppen. Die Karte sagte ihm nichts. Die Küstenlinien schienen ihm ganz erheblich von allen Konturen abzuweichen, die man ihm als Jugendlichem vom Planeten der Ahnen eingetrichtert hatte. Allerdings, der Unterricht über den toten Planeten Erde hatte ihn damals nur wenig interessiert. Schließlich war das Weltall prallvoll von Planeten, und die Ausbreitung der Art Homo sapiens hatte gerade begonnen. Eine Zivilisation zweiten Grades tat ihre ersten Schritte, wie ihm erklärt wurde, und diese Zivilisation hielt in überreichem Maße lohnende Aufgaben für einen jungen Mann bereit. Der zerstörte Planet Erde hatte in den Augen seiner Generation nicht sehr viel gezählt. Gewiß, dieser Planet hatte das Leben der Art Homo sapiens hervorgebracht und eine gute Weile getragen. Dafür gebührte ihm Dank und die Anerkennung seiner Sonderstellung unter allen anderen Himmelskörpern sowie ausreichende Rettungsstationen.
Doch selbst deren außergewöhnliche Dichte war Karel Nygard stets wie ein sentimentales Zugeständnis vorgekommen, ohne eigentliche Notwendigkeit, denn er war überzeugt, daß auf diesem Planeten kein einziger Mensch mehr lebte, dem diese Stationen würden nützlich sein können. Das war für ihn so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wie selten stieß schon jemand ohne Not durch die Barriere, setzte seinen Lander ohne Zwang auf die gebrochenen Betonpisten! Niemand außer ein paar Piraten verflog sich unter diese einförmig graue Wolkendecke, unter der nichts und niemand mehr leben konnte! Die Menschheit hatte den Planeten Erde verlassen, wie der Same die Pflanze verläßt. Unwiderruflich! Jetzt allerdings wünschte Karel sich, er hätte sich damals stärker für den Herkunftsort des Homo sapiens interessiert und nicht nur für dessen atemberaubende Perspektiven, denn Peer Alpha war ihm vor allem deshalb um Nasenlängen voraus, weil er das getan hatte. Kurz, die aktuelle Karte konnte ihm nicht verraten, in welche Weltgegend der Exkommandant sie geführt hatte, doch das war für Karel ohnehin belanglos, weil Bezeichnungen wie Afroeurasien oder Amerika ihre ursprüngliche Bedeutung längst verloren hatten. Wenn der Meeresspiegel eines Planeten ansteigt, weil seine Polkappen abschmelzen, verändern sich seine Küstenlinien bis zur Unkenntlichkeit. Die Karte informierte ihn vor allem darüber, daß seine Leute weit verstreut über das Land in kleinen Gruppen arbeiteten. Sie teilte außerdem mit, daß Alpha nicht ohne Grund über seinen Karten gehockt hatte. Nicht nur diese Rettungsinsel, sondern ein gutes Dutzend anderer in ihrer näheren Umgebung waren reaktiviert worden, und daraus folgerte, daß Alpha ein großer Gangster war. Jede einzelne Insel enthält nämlich Material und Treibstoff in ausreichender Menge, um sich daraus ein kleines Raumfahrzeug für die Umlaufbahn bauen zu können. Die
Besatzung der »Solara III« hätte also den ungastlichen Planeten längst wieder verlassen können. Oben, jenseits der Barriere, hätte man auf ein Ersatzfahrzeug vom Hangar warten können, ohne das geringste Risiko einzugehen. Aber statt dessen räuberte Peer Alpha zusammen mit seiner Crew in den verlassenen Städten, und Nygard konnte sich leicht ausrechnen, was sie dort suchten und wieviel Gewinn zu erwarten war. Aber das Display der Zentrale zeigte etwas an, was Nygard fast wieder umgehauen hätte. Es gab auf diesem Planeten nichtmenschliches Leben. Deutlich bildeten sich seine Spuren auf dem Display ab. Aber um diese wahre, diese einzige Sensation kümmerten sich weder Peer Alpha noch seine Leute. Es war ursprünglich eine ganze Welt aufzuteilen gewesen. Der Kuchen schien unbegrenzt zu sein. Hemmungslos konnte man sich ein Stück herausschneiden, so groß wie immer man konnte oder wollte, denn die Tierpflanze war allein gewesen auf ihrer Welt. Aber inzwischen regneten aus den Wolken grüne Tropfen, die auf das Land fielen und dort starben oder überlebten, inzwischen schwemmte das Meer schleimige Körper an den Strand, die dort starben oder überlebten, und wenn ein Quasiorganismus wo auch immer überlebte, dann breitete er sich aus und wuchs. Das galt für alle Formen der Pflanzentiere, und wenn schließlich zwei Quasiorganismen aufeinandertrafen, dann fraß der Große den Kleinen, denn das war Lebensart auf diesem Planeten seit Milliarden von Jahren, und die Überlebenden verteidigten ihre angestammten Territorien. Es entstanden Reviere, der Kuchen war plötzlich bis auf wenige Krümel verteilt, und die Stücke waren gar nicht so unbändig groß ausgefallen.
Eine Frist von exakt vier Stunden, von zweihundertvierzig Minuten hatte Gabriel Steiner der Ausbrechergruppe zugestanden, und er war sich seiner Prophetie so ungemein sicher, weil er schließlich den Kopf der Bande unschädlich gemacht hatte, und weil keine Rebellion ohne ihren führenden Kopf auskommen kann. Allenfalls fünf Stunden würden sie durchhalten, höchstens sechs, maximal aber sieben, jedoch auf keinen Fall die kommende Nacht an der Oberfläche verbringen. Das Ratsmitglied Jeanne Perra freilich hatte diese Aussage von Anfang an bezweifelt. Aus gutem Grund, denn sie hatte von einem Balkon aus mit eigenen Augen ansehen müssen, daß die Rebellen äußerst zielstrebig und planvoll zu Werke gingen, und die Perra hatte in den Aktivitäten an der Oberfläche nie die geringsten Anzeichen dafür zu entdecken vermocht, daß die Sache sehr bald in sich zusammenbrechen werde. Die Nacht war gekommen, die Ausbrecher an der Oberfläche geblieben, die Nacht war vergangen, der Rückzug ausgeblieben, die Steinersche Prophetie hatte sich als falsch erwiesen, Gabriel Steiner selbst war verstummt. Eine erneute Sitzung des Rates war ohne seine Teilnahme einberufen worden. Seine große Chance auf einen Ratssitz war unwiderruflich vertan, und Manuel Maarli hatte gewonnen. Doch der mehrfach verfluchte Maarli rannte noch immer durch seinen Wohnbereich, war noch immer abgeschnitten von der terratischen Umwelt, ohne jede Nachricht vom Gang der Dinge auf der Oberfläche, bei schlechter Luft und geringer Kost. Der verfluchte Maarli trat gegen Sessel und Wände, schlug auf die Tastatur des Terminals ein, hilflos und voller Wut. Denn wenn die 211er bei ihrem, bei seinem Plan geblieben waren, und alle Ereignisse der letzten Wochen in der Genbank sprachen dafür, dann wußte Manuel genau, wie es weitergehen würde. Schon jetzt müßten sie eigentlich die Überdachung der Hauptschleuse abgeschlossen haben, bereits jetzt müßten sie über den ersten
Raum an der Oberfläche verfügen, in dem grüne Pflanzen gedeihen konnten, in dem sich ausreichend Sauerstoff produzieren ließe, um unabhängig vom Schacht an der Oberfläche des Planeten zu überleben. Von diesem Raum aus würden sie in den nächsten Tagen in kleinen und kleinsten Gruppen ausschwärmen, würden sie die Ebenen in der Nähe der Hauptschleuse mit Gewächshäusern überziehen; von diesem Raum aus würden sie die ersten Anbauversuche im Freiland überwachen und sich künftig über das ganze Land ausbreiten, endlich eine wirkliche Aufgabe für viele Terratengenerationen; und es war zum Verzweifeln, daß er nicht dabei war, daß der Rat ihn in seiner eigenen Wohnung gefangenhielt und daß er nicht einmal von einem glücklichen Ausgang der Affäre zu träumen wagte. Die anberaumte Ratssitzung mußte in den Wohnbereich Lima Verdes verlegt werden. Die Krankheit des Vorsitzenden, die die Krankheit fast aller Terraten war, hatte sich während der letzten Wochen verschlimmert. Verde konnte nicht mehr aufstehen, und über seinem Bett hing griffbereit eine Sauerstoffdusche. Doch der Staub in der Lunge ließ sich auch durch reinen Sauerstoff nicht mehr ausblasen, der Berg war dabei, seinen Tribut zu fordern, und Lima Verde würde der nächste sein, der Danuta Massupek in die Kaverne folgte. Aber noch war der Vorsitzende im Amte, noch konnte sich Jeanne Perra hinter seiner Autorität verstecken. Denn während draußen die Rebellen unabsehbare Gefahren für das Volk der Terraten heraufbeschworen, lauerten im Rat die Appels und die Halfelds auf ihre Chancen, selbst Ratsvorsitzende zu werden, und in ihren Plänen tauchte der Name Perra wohlweislich nicht mehr auf. Die Sitzung des Rates geriet schon von ihrer äußeren Form her zur Krisensitzung. Es war nichts mehr übriggeblieben von den erhöhten Stühlen und der prachtvoll ausgestatteten
Sitzungskaverne, von Förmlichkeit und Feierlichkeit der Beratungen, diesmal bildete das Bett mit dem um Luft ringenden Vorsitzenden die Kulisse, eines Vorsitzenden, der nur noch flüstern konnte und den, wenn überhaupt jemand, allenfalls Jeanne Perra verstehen konnte. Denn die saß direkt neben seinem Köpf und beugte sich bei jedem Satz zu ihm herab. Die hielt die Sauerstoffdusche wie ein Zepter in der Hand, mit dem es sich trefflich regieren ließ. Ein paar Zentimeter näher heran an das eingefallene, stopplige Gesicht, und die Stimme des Vorsitzenden wurde kräftig genug, um auch von Kleber Halfeld verstanden zu werden. Ein paar Zentimeter zurückgenommen, und es bedurfte der Perraschen Übersetzung. Und zwischen getreulicher Übersetzung und freier Interpretation lag nur eine sehr kurze Spanne. Zudem leistete sich Henry W. Appel zu Beginn der Ratssitzung einen entscheidenden Fehler. »Wir drehen ihnen einfach die Energie ab!« hatte er ausgerufen. »Ein Anruf von mir in der E-Ebene genügt, und im ganzen Schacht dreht sich kein einziges Rad!« »Natürlich«, konterte Jeanne Perra. »Es dreht sich kein Rad, es arbeitet in der Genbank keine Kühlzelle, es bricht das Regenerationssystem in sich zusammen, und danach wird es noch ganze drei Tage dauern, bis der letzte Terrat erstickt ist! Ein wirklich prachtvoller Vorschlag, Kollege Appel!« Jeanne Perra wies demonstrativ auf das Kommunikationsterminal. »Rufen Sie schon an, Appel! Rufen Sie an! Geben Sie endlich Ihre Anweisung!« Natürlich wäre es noch viel wirkungsvoller gewesen, wenn sie aufgestanden wäre und ihrem Kontrahenten den Hörer in die Hand gedrückt hätte. Aber Jeanne Perra rührte sich um keinen Preis vom Kopfende dieses Bettes weg. Zumal der Vorsitzende in diesem Moment zu flüstern anhub. Viel war nicht zu verstehen, aber immerhin das Wort »Reformen«. Und damit ließ sich schon allerhand anfangen.
»Tun wir doch nicht so«, konnte die Perra also sagen, »als wäre die jetzige Situation in der Geschichte der Terraten einmalig. Seit etlichen Generationen wissen wir, daß jede Jugend Pläne ausarbeitet, sich den ganzen Planeten zu erobern, wissen wir, daß ihnen der Schacht zu klein geworden ist, zu dunkel und ohne ausreichende Perspektive!« Es widersprach ihr niemand, aber Kleber Halfeld machte sich seine Notizen. Es galt, auf der Hut zu sein. »Ich ganz persönlich«, fuhr die Perra fort, »bin Ratsmitglied geworden, weil ich es war, die für meine Generation einen Plan ausgearbeitet hatte, weil ich es war, die nicht länger warten wollte, weil ich es war, die um jeden Preis ihre Chance suchte. Und wenn ich mich recht entsinne, mein lieber Halfeld, bist du aus ganz ähnlichem Grund in den Rat aufgenommen worden. Es ist uns also immer gelungen, diesen Tatendrang, dieses Aufbegehren in nützliche Arbeit für die Gemeinschaft einfließen zu lassen. Das wird uns zweifelsfrei auch diesmal gelingen, nur wird der Preis ein bißchen höher sein, den wir zahlen müssen, weil die Aktion schon zu weit fortgeschritten ist. Aber noch nie, und damit gebe ich dem Vorsitzenden recht, nie haben wir ernstlich darüber nachgedacht, ob es nicht wirklich Zeit wäre, unserem Volk eine neue Aufgabe zu geben. Den jungen Terraten mehr zu bieten als das Überleben in der Sicherheit des Schachtes. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir ihnen nicht eine größere Perspektive bieten müssen als die, sich möglichst reibungslos in die bestehenden Strukturen einzupassen!« Der Vorsitzende in seinem Bett und unter seiner Sauerstoffdusche hatte zweimal genickt. Daß seiner zustimmenden Kopfbewegung die Bewegung der Sauerstoffdusche in Jeannes Hand vorausgegangen war, erkannten die anderen Ratsmitglieder nicht. Kleber Halfeld nicht, weil er zu sehr mit seinen Notizen beschäftigt war, und Henry W. Appel hatte noch nie einen Blick für feinere Bewegungen gehabt.
Der Vorsitzende hatte genickt. Das war entscheidend. Aber noch war die Partie für die Perra nicht gewonnen, denn jetzt endlich hatte Halfeld seine Notizen beendet und nahm sich das Wort. »Ich bin mit allem sehr einverstanden, was du sagst, Jeanne«, begann er, und die Perra wußte, da seine Rede so begann, daß er nichts Gutes im Schilde führte. »Vor allem bin ich einverstanden, was die Perspektive der jungen Leute angeht. In diesem Punkt bin ich sogar sehr mit dir einverstanden. Nur, ich stelle mir halt die Frage, ob es wirklich ein lohnendes Ziel ist, sie mit der vagen Möglichkeit der Rückbesiedlung der Oberfläche zu ködern. Wir wissen erstens längst, daß dieses Ziel unerreichbar ist und unerreichbar bleiben wird. Sagen wir ihnen endlich die Wahrheit und richten wir uns zweitens in diesem Berg endgültig ein. Wesentlich komfortabler für alle, mit viel größeren Entfaltungsmöglichkeiten für jeden! Aber in welcher Form wir uns zu einem Reformpaket durchringen werden…, vorerst geht es doch darum, die Macht unseres Gremiums unter allen Umständen wiederherzustellen und zu festigen! Denn die Regierbarkeit des Schachtes bleibt Voraussetzung allen zivilisierten Lebens!« »Bravo!« rief Appel dazwischen, und der Vorsitzende schüttelte unter leichter Anleitung der Perra seinen Kopf. Dessen ungeachtet fuhr Kleber Halfeld fort: »Wir müssen unbedingt auf die Revolte reagieren, solange die Rebellen noch von uns abhängig sind. Abhängig sind sie auf zwei grundlegenden Feldern. Sie brauchen von uns Energie, und sie verbrauchen unseren Sauerstoff. Den können sie nämlich erst dann produzieren, wenn sie in ausreichender Menge grüne Pflanzen gezogen haben werden!« »Abschalten, sag ich doch!« rief Appel und schlug sich klatschend auf die Schenkel. Sein Einwurf blieb unbeachtet. »Über die Energiezufuhr kommen wir leider nicht an sie heran«, sagte Haifeld. »Sie sind clever genug, die Versorgungsleitungen an tausendundeiner Stelle erneut anzuzapfen. Und immer wieder!«
»Abschalten!« rief Appel abermals, und Jeanne Perra fuhr ihn wütend an: »Geben Sie endlich Ruhe, Appel! Sie stören!« Zu allem Überfluß lächelte Verde. »Wir kommen ihnen jedoch über den Sauerstoff bei«, sagte Halfeld langsam. »Ohne jedes Risiko. Wir verordnen dem gesamten Volk eine Schlafpause, und in dieser Zeit sammeln wir die Herren Rebellen ein. Wie man nach einem Fest die leeren Flaschen einzusammeln pflegt. Sie werden ihre Niederlage erst begreifen, wenn längst alles vorbei ist!« Henry W. Appel stand vor Staunen der Mund offen. Lima Verde sog fast genüßlich an dem Gas, das da aus seinem Schlauch strömte. Darauf waren sie alle angewiesen, dazu gab es keine Alternative. Nicht im Schacht und nicht oben. Diesem Stoff konnte der Rat beimischen, was immer er für nötig erachtete. Jedes beliebige Gas, euphorisierend oder lähmend. Nicht schlecht, Halfeld, wirklich nicht schlecht! Eine Idee, die ich dir nicht zugetraut hätte! Nur Jeanne Perra saß mit versteinertem Gesicht neben dem Bett des Vorsitzenden und schwieg. Wenn sie noch wenige Sekunden länger geschwiegen hätte, hätte sie sich in die Niederlage hineingeschwiegen. »Das nenne ich eine wunderschöne Reform«, sagte sie schließlich gerade noch rechtzeitig. »Ein Neuanfang für das Volk, eine Umorientierung aller terratischen Werte, aber vorher müssen wir leider erst einmal ein ganzes Volk einschläfern, damit es reif wird für die großen Veränderungen! Was willst du später eigentlich mit den Rebellen anfangen? Wie willst du verhindern, daß sie uns nach ihrer totalen Niederlage bei der ersten passenden Gelegenheit an die Kehle gehen? Auf sie zu verzichten hieße wiederum, eine ganze Generation aus dem Terratenleben auszuschließen. Die fähigsten Leute. Ich kann dir jederzeit eine Namensliste der Rebellen geben!«
»Wir wissen doch alle«, schrie Henry W. Appel dazwischen, »daß es dir nur um den Namen Maarli geht!« Auf diesen Satz hin regte sich vor allem Lima Verde. Den Maarlis gegenüber fühlte er sich immer in der Pflicht. Da gab es alte Freundschaften und Verbindlichkeiten, von denen ein Klotz wie Appel keine Ahnung hatte. Der Vorsitzende richtete sich halb auf und sagte ziemlich deutlich: »Jeanne!« Das war in seinem Zustand sehr viel und machte den Weg frei für den Sieg des Perraschen Konzepts. Und das sah vor, zunächst mit den Rebellen zu verhandeln, sie wieder einzugliedern, ein bewährtes Rezept seit eh und je, ihnen Teilhabe anzubieten an der Macht im Schacht. Und nur als das absolut letzte Mittel käme für sie die Halfeldsche Methode in Frage. Über Zeit meinte Jeanne Perra reichlich zu verfügen. Die Rebellen würden etliche Wochen benötigen, bevor sie sich sauerstoffautark machen konnten. Außerdem müsse man die langanhaltende moralische Wirkung einkalkulieren. Undenkbar, daß Terraten Atemgifte gegen das eigene Volk einsetzten! Die Entscheidung des Rates fiel einstimmig. Der Vorsitzende Lima Verde stimmte dem Plan der Perra zu, weil er mit diesem Beschluß die letzte Krise seiner Regentschaft gelöst glaubte. Die Perra würde es schon machen! Henry W. Appel stimmte mit Kleber Halfeld, und Halfeld schließlich gab sein Okay, weil ihm die Niederlage der Jeanne Perra absehbar erschien. Und damit wäre dann endlich der Weg frei für einen Ratsvorsitzenden Kleber Halfeld, für ein völlig anderes Leben aller Terraten. Er, Kleber Halfeld, stellte sich einen Schacht vor, in dem es in allen Tavernen, in den Gängen, vor den Fahrkörben und in den Wohnwaben grünen und blühen würde. Er war schon immer dagegen gewesen, die genetischen Schätze der Ahnen in der Genbank verschwinden zu lassen, wo sie der Mehrheit aller Terraten unzugänglich bleiben mußten. Er stellte sich eine Lebensform vor, in der jeder ständig seine Chance haben würde. In der die strikte Trennung der Ebenen aufgehoben wäre, in der
der Tüchtige freie Bahn hatte, seine Lebensumstände selbst zu bestimmen, sich eine Unterkunft in der Ebene zu leisten, die er bezahlen konnte. Und an der Spitze ein Rat unter seiner Leitung, der die Kraft aufbringen würde, die wenigen Querulanten notfalls zu ihrem Glück zu zwingen! Es war natürlich Sylvie Debora, die die Tür von Manuels Wohnbereich öffnete, die das Kommunikationsterminal freigab, die die Nahrungsautomaten entriegelte und die Sperre des Balkonschalters löste. »Hatte ich dir nicht deutlich genug gesagt, daß dir Herr Steiner eine Laus in den Pelz gesetzt hat?« fragte sie Manuel vorwurfsvoll und schob ihn gleichzeitig in die Sanitärkaverne. »Mußtest du dich unbedingt in Dinge hineinziehen lassen, die nicht deine Angelegenheit sind, konntest du dir nicht sorgfältigst überlegen, was du wann und wem erzählst? Aber jetzt ist es glücklicherweise ausgestanden, mein Kleiner. Du machst dich ein bißchen frisch, und danach reden wir über alles!« Noch bevor Manuel reagieren konnte, begann sie aufzuräumen. Besonders die von seinen Fußtritten malträtierten Sessel hatten es ihr angetan. Und so stand Manuel Maarli unter der warmen Dusche, die endlich funktionierte, das warme Wasser tat Haut und Seele gleichermaßen wohl, alles schien vorüber, er war nur aus einem Alptraum aufgewacht, er war wieder A-Terrat, und was in diesem Schacht konnte man Besseres sein als A-Terrat! »Jetzt gefällst du mir schon entschieden besser«, sagte Sylvie zu ihm, als er, frisch angezogen, die Sanitärkaverne verließ. Sie mochte es, wenn in seinen Haaren noch Spuren der Feuchtigkeit schimmerten und die Haut nach Seife roch. Aber das sagte sie ihm natürlich nicht, denn Sylvie Debora glaubte ziemlich genau zu wissen, was man jungen Männern sagen darf und was nicht. Der Frühstückstisch war gedeckt, aus beiden Tassen kräuselte Dampf, und die Debora bat mit kleiner Handbewegung zu Tisch.
»Du wirst bald Besuch bekommen, Manuel«, sagte sie. »Der Rat will dich mit einer wichtigen Aufgabe betrauen. Genaues weiß ich leider auch noch nicht, aber es hat sicher mit dem Ausbruch zu tun. Du mußt nur gründlich zuhören und tun, was von dir verlangt wird, dann brauchst du dir um unsere Zukunft keine Sorgen zu machen!« Da wußte Manuel, daß dies alles hier seinen festen Preis hatte. Daß er zwischen dem Luxusleben als A-Terrat und der Herausforderung der Oberfläche zu wählen hatte, wie schon in der ganzen Zeit zuvor. »Wenn du noch ein einziges Mal ›Kleiner‹ zu mir sagst, fliegst du raus!« sagte er zur völlig überraschten Debora. »Dann wird dir auch dein wunderschönes Kettchen nicht helfen können. Und du wirst es gefälligst einzig und allein meiner Entscheidung überlassen, was ich tun werde, wenn der Rat seine Wünsche an mich heranträgt!« »Gut gebrüllt, Löwe!« sagte Jeanne Perra vom Eingang her. »Ich hoffe nur, daß wir uns trotzdem einigen können. Du läßt uns bitte allein, Sylvie!« Das Wörtchen ›bitte‹ war die reine und im Grunde überflüssige Höflichkeitsfloskel. Der Wunsch der Perra war ein Befehl. Sylvie Debora stand ziemlich wütend auf und ging, ohne Manuel noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Mochte der Teufel wissen, was der Rat ständig an diesem unmöglichen Klotz fand! »Ich will dir nicht verhehlen«, begann die Perra, »daß ich eine gewisse Sympathie für deinen Plan hege. Andererseits stehe ich im Rat mit dem Rücken an der Wand. Weil das Vorgehen deiner Freunde nun einmal illegal ist. Man darf nicht einfach am Rat vorbei oder gar gegen den Wunsch des Rates die Hauptschleuse besetzt halten, man darf nicht tonnenweise Material aus dem Schacht entwenden, an die Oberfläche verbringen und sich dort festsetzen! Man darf einfach nicht gegen den Willen des Rates handeln. Niemand darf das! Und deshalb gibt es die Forderung, mit äußerster Härte gegen deine Freunde vorzugehen!«
Dann laßt euch mal etwas einfallen, dachte Manuel. Wenn der Rat wirklich über die angedrohten Machtmittel verfügt, hätte er den Ausbruch längst beendet. Aber der Rat kommt nun einmal nicht an die Hauptschleuse heran! »Ich verstehe sehr gut«, fuhr die Perra fort, »daß unser Volk eine neue Aufgabe braucht. Der Berg ist inzwischen durchlöchert wie ein Schwamm, wir hüten und vermehren den genetischen Schatz der Ahnen, aber das tun wir bereits seit vielen Generationen. In Wirklichkeit drehen wir uns also im Kreis, schaffen nichts Neues, bewirken nichts. Ich bin dafür, die Oberfläche zu erobern!« Manuel sah das Ratsmitglied erstaunt an. »Natürlich«, sagte die Perra, »muß das alles in vernünftigen Bahnen verlaufen. Da müssen die technischen und organisatorischen Möglichkeiten des Schachtes in Rechnung gestellt werden, es müssen großflächige Versuchsreihen geplant und durchgeführt werden, die Oberfläche muß in der Ausbildung unserer jungen Terraten eine sehr viel größere Rolle als bisher spielen, weil wir ausgesprochene Spezialisten für oben benötigen werden, auch von ihren körperlichen Voraussetzungen her. Alles Dinge, die in deinem Plan keinen Niederschlag gefunden haben.« »Wir wollten vor allem ein Zeichen setzen«, sagte Manuel. »Das ist euch gelungen, und der Rat hat begriffen«, räumte die Perra ein. »Jetzt kommt es jedoch darauf an, eine gemeinsame Sprache zwischen dem Rat und deinen Freunden zu finden. Das wirst du übernehmen, Manuel Maarli!« Jetzt wäre es an Manuel gewesen, der Perra reinen Wein einzuschenken. Ihr offen und ehrlich zu sagen: »Mag sein, daß es ursprünglich mein Plan gewesen ist. Mag auch sein, daß ich als Chef der Genbank gewisse Zulieferungen zu verantworten habe, aber inzwischen bin ich mit einigen der Rebellen verfeindet, und ich wäre als Mittler die denkbar ungeeignetste Person. Selbst einem Ralf Beland würden sie mehr Glauben schenken als mir!« Das hätte Manuel sagen müssen, aber er sagte es nicht. Statt dessen ließ er Jeanne Perra reden: »Rein organisatorisch wäre es
natürlich am günstigsten, die Genbank einfach um eine oberirdische Versuchsstation zu erweitern. Damit unterständen alle Aktivitäten an der Oberfläche dir als dem Leiter der Genbank. Aber ich fürchte, deine Freunde werden sich auf einen solchen Vorschlag nicht einlassen. Man könnte natürlich auch eine eigene Arbeitsgruppe installieren, gleichberechtigt mit der Genbank. Und schließlich und endlich könnte man den Rat um die Leiter von Genbank und Außenstelle erweitern. Du siehst, du hast einen recht weiten Verhandlungsspielraum. Nutze ihn, Manuel Maarli, und verhindere um jeden Preis, daß dort draußen irgendwelche riskante Experimente veranstaltet werden, die die Sicherheit des Schachtes und damit aller Terraten gefährden. Denn darin liegt die Hauptaufgabe des Rates: Den nachfolgenden Generationen das Überleben zu sichern!« Eine halbe Stunde später war Maarli auf dem Weg zur Hauptschleuse. Die Zugangswege waren terratenleer. Der Fahrkorb stand offen und setzte sich in dem Moment in Bewegung, in dem ihn der Unterhändler des Rates betreten hatte. Ringsum herrschte eine fast unheimliche Stille. Nur das allgegenwärtige feine Singen der Sauerstoffversorgung schien etwas lauter als sonst zu sein. Der Fahrkorb hielt direkt vor der Hauptschleuse. Maarli wurde bereits erwartet. Vor ihm standen zwei E-Terraten. Ihre Gesichter schienen ihm bekannt und fremd gleichzeitig zu sein, denn es fehlte ihnen die Botmäßigkeit, die sonst ihre Mienen beherrschte. »So sieht man sich also wieder, A-Terrat«, begrüßte ihn einer der Männer. »Und wir werden dich auch diesmal zu Alina Simon führen! ›lru supren‹, A-Terrat!« Diese Sätze erinnerten Manuel natürlich an seinen Besuch in der E-Ebene, und es stellte sich bei ihm das gleiche Gefühl der Bedrückung her wie damals. Jetzt existierte jedoch ein sehr viel realerer Grund: Seine Begleiter waren bewaffnet, und sie trugen
ihre Waffen offen und furchteinflößend an den Gürteln. Es wurde Manuel nun auch klar, weshalb eine Jeanne Perra die Verhandlungen nicht selbst führte. Auch war im Plan der 211er von Waffen nicht die Rede gewesen. Und dann stand der Unterhändler des Rates vor der Hauptschleuse. Angetan war Maarli mit einer dunklen Schutzbrille und einem Sauerstoffsammler vor dem Gesicht, mit dem es sich fast so gut atmen ließ wie in der ausgezeichneten Luft der AEbene. Das Licht blendete jedoch trotz der dunklen Brillengläser, und seine Bewacher wichen nicht einen Zentimeter von seiner Seite. Manchmal spürte er sogar den Druck ihrer Pistolen durch seine Kombination hindurch. Der Raum erschien ihm riesig. An einer der Wände wurde noch gearbeitet. Kleine Schweißroboter hefteten die transparenten Planen an die Metallgestelle des Gebäudes. Deshalb reichte auch die Sauerstoffversorgung aus dem Schacht noch nicht aus, deshalb die Sammler. Aber während an der einen Wand noch die letzten Platten eingesetzt wurden, pflanzten Terraten an einer anderen Stelle bereits die ersten grünen Pflanzen. Seine beiden Begleiter, oder sollte man sie besser Bewacher nennen, führten ihn zu einer kleinen Gruppe von Terraten, die auf dem Boden hockten und zwischen sich eine Art Karte liegen hatten. Zu dieser Gruppe gehörten Alina Simon, Jacob Schwerte und Mustafa Al Key. »Iru supren!« sagte Jacob zu ihm, und seine Stimme klang wegen des Sammlers seltsam dumpf. »Du siehst, Maarli, wir haben es geschafft. Weil wir unserer eigenen Kraft vertraut haben. Und nun laß hören, was uns der Rat anzubieten hat!« Es war ein zweiter und ein dritter Blick auf das Display nötig, aber Karel hatte schließlich ausreichend Zeit für zweite und dritte Blicke. Im ersten Augenblick wirkte es seltsam auf ihn: Dort draußen in einer Wüste aus Sand und Schutt, unter stetig trübem Himmel und immerwährendem Sauerstoffmangel ausgesetzt, lebte
etwas. Und jedesmal, wenn dieses Etwas einen der Sensoren rings um die Rettungsstation berührte, bildete sich seine Spur auf dem Display ab. Das lebende Etwas war also im Gegensatz zu seiner Crew nicht ständig auf dem Bildschirm zu erkennen. Es flammte auf, es bewegte sich weiter, es verlosch wieder und signalisierte an anderer Stelle erneut seine Existenz. Und manchmal meldete es sich so nahe an den Standorten der Menschen, daß es Karel Nygard nicht in den Kopf wollte, man könne dieses lebende Etwas gar übersehen haben. Zunehmend empfand Nygard die Informationen des Displays in der Zentrale der Rettungsinsel als etwas Bedrohliches. Während sich seine Leute im ständigen Kontakt sowohl untereinander als auch mit der Zentrale befanden und ihr beruhigendes Signal im Abstand von wenigen Sekunden abstrahlten, dünkte Nygard jenes Unbekannte, das da über das Bild huschte und hier und dort aufleuchtete, nicht mehr so harmlos, wie er es sich im ersten Augenblick vorgestellt hatte. Denn wenn ein solches Wesen groß genug war, den Kontakt der Biosensoren auszulösen, wenn es offensichtlich lebte, dann mußte es sich ernähren. Ernähren, das aber wußte Karel Nygard nur zu gut, kann sich nichts aus sich selbst heraus. Dann nämlich wäre es ein Perpetuum mobile, und solche Konstruktionen kann es bekanntlich nicht geben. Nicht in der Technik, nicht in der Biologie und an keinem Ort des Weltalls. Ein Tier mußte Beute machen, wenn es überleben wollte, und die Beute dieses Wesens konnten durchaus auch seine Männer sein, wenn sie nicht unverzüglich gewarnt würden, seine Crew, die er durch alle Fährnisse dieses Fluges, dem Widerstand Peer Alphas zum Trotz, unter Opfern in diese Rettungsstation geführt hatte. Und die er auch weiterhin zu führen gedachte, bis in die Sicherheit des Hangars, wo man endlich würde abrechnen können mit einem Manne wie Alpha, und wo diesmal auch der Vize sein Fett abbekommen würde, so wahr er Karel Nygard hieß! Die Situation auf dem Display spitzte sich zu. Nicht nur, daß die Zahl dieser Lebenszeichen ständig zunahm, nein, einige dieser
Wesen näherten sich unaufhaltsam den Standorten seiner Leute, und die reagierten weder auf die Gefahr noch auf Nygardsche Funksprüche. Wähnten den Alten wohlaufgehoben in seinem Krankenzimmer, in seinem Bett und kurz vor dem Abkratzen, auf keinen Fall jedoch in der Zentrale, und hatten den Sprechverkehr abgeschaltet. Da mochte sich Karel die Kehle aus dem Hals schreien, seine Männer gingen weiterhin ihrer Beschäftigung nach, räuberten in den verlassenen Städten herum, teilten im Geiste bereits die Beute und sahen einfach nicht, welche Gefahr ihnen da zu drohen begann! Die Kraft Nygards hatte immerhin ausgereicht, sich aus dem Bett zu erheben, das Zimmer zu verlassen, in der Zentrale das fremde Leben zu entdecken und die Gefahr zu erkennen, jetzt aber forderte die Krankheit ihren Tribut. Sie forderte ihn auf seltsame Weise. Da wurde für Karel aus Rot plötzlich Grün, aus oben unten, aus der Zentrale der Rettungsinsel auf der Erde plötzlich wieder das Wrack der »Solara III«, und Karel Nygard glaubte allen Ernstes, es sei ein Leck abzudichten, damit jene seltsamen Wesen nicht eindringen konnten. Es war für den Kranken in den Entscheidungssekunden völlig klar, daß zum Abdichten derartiger Lecks Fahrzeuge besonders brauchbar wären. Fahrzeuge zumal, die sich luftdicht abschließen lassen und deren breite Ketten jedem Schwimmsand zu widerstehen wußten. Solche Fahrzeuge entdeckte Karel Nygard nämlich aufgereiht in den Tiefdecks der Rettungsinsel, und irgendwie gelang es ihm sogar, die Kanzel eines dieser bulligen Gefährte zu erklimmen, sich auf den Fahrersitz fallen zu lassen und das Kabinendach über sich zu verschließen. Dann wußte er sich eine Weile an nichts mehr zu erinnern. Nicht daran, daß das Gefährt wirklich angesprungen war, nicht, daß es Kreise gedreht hatte im Tiefdeck, nicht, daß Pfeiler gerammt worden waren während dieser Irrfahrt, nicht daran, daß er auf irgendwelche Weise schließlich das Leck, den Ausgang gefunden hatte. Nur noch, daß ihn das helle Licht ziemlich blendete und daß
er in der weiten Landschaft nichts erkennen konnte außer einer Staubfahne, wenn er sich umdrehte. Aber die rührte von den Ketten seines eigenen Bulldozers. So raste Karel Nygard über die Oberfläche des Planeten Erde und sah nicht die kleinen, grünen Gebilde, die vor ihm herrollten, die seinen Weg kreuzten und die gelegentlich unter die Ketten gerieten. Er entdeckte schließlich in der Ferne die Skyline einer Stadt und vermutete dort seine Crew. Wie er später zum Halten gekommen war, wußte Karel Nygard nicht. Überhaupt wußte er von den Ereignissen dieses Ausfluges nichts mehr gänzlich genau. Es mischten sich in ihm Realität und Traum auf ganz seltsame Weise. Ein Bild aber prägte sich ihm unauslöschbar ein. Er sah sich in einer Reihe mit seiner Crew stehen, an vorderster Front sozusagen, wo von alters her sein Platz war. Neben ihm agierten Rajna Kasabov und Jacob Boer, und die Kasabov lächelte ihm auf eine Weise zu, die weit mehr war als nur ein freundschaftlich-unverbindliches Lächeln unter Kollegen. Alle Mitglieder der Nygardcrew hielten ihren Breitstrahler in den Händen, deren Laser sich in das wimmelnde Grün zu ihren Füßen fraßen und die schwarze, verkohlte Brocken hinterließen, die unter den Tritten der Leute zu glasartigem Staub zerbröselten und vom Winde verweht wurden. So ähnlich mußten weiland die Ahnen über ihre Wiesen und Felder geschritten sein, in einer Reihe, dicht beieinander, ihre Sensen schwingend, erntend für die eigene kleine Sippschaft. Die Nygardcrew hingegen fuhr keine Ernte ein. Ihre Beute waren Pflanzentiere, kleine und große, ihre Zahl mochte in die Tausende gehen, und ein Ende dieses ungleichen Kampfes war nicht absehbar. Nur dessen Ausgang. Denn während die eine Partei lediglich eine tödliche Waffe führte und sie ohne zu zögern einsetzte, vertraute die andere Partei einfach ihrer Zahl. Und die stieg mit jedem Regentropfen an. Millionenfach! Karel Nygard wußte später nicht mehr so ganz genau, wie er wieder in sein Krankenzimmer, in sein Bett, in die heile Welt der
Rettungsinsel gelangt war. Er wußte nur noch, daß er seiner Crew zum zweiten Mal während dieser Tour das Leben gerettet hatte. Rajna Kasabov beließ ihm diesen Glauben. Wochen später kam Entsatz vom Hangar. Als Peer Alpha und die Nygardcrew den Planeten der Ahnen verließen, war der Kampf gegen die grünen Walzen zu täglicher, unumgänglicher Routine geworden. Kein Ende abzusehen. Während des Rückfluges zum Hangar, selbst der Vize war ihnen ein Stück weit entgegengekommen, um der verlorengeglaubten Crew die Hände schütteln zu können, wurde Karel Nygard von Rajna Kasabov umsorgt. »Hat doch das alte Raumpferd in der Tat den Stall gewechselt«, murmelte Peer Alpha vor sich hin, während er in seiner Kajüte saß und an wirksamen Schutzmaßnahmen gegen die unheimlichen grünen Walzen tüftelte. Denn so leicht gab ein Peer Alpha nicht auf. Es fand die erste reguläre Ratssitzung nach dem Ausbruch der Rebellen statt, und die Sitzung war in mehrfacher Hinsicht denkwürdig. Der Vorsitzende Lima Verde ließ sich von Jeanne Perra vertreten. Er hatte ihr ausdrücklich sein Stimmrecht übertragen, und als Kleber Halfeld das Schreiben Verdes verlas, lief sein Kopf puterrot an. Die Perra also führte den Vorsitz, war demzufolge für die Nachfolge vorgesehen und verfügte zu allem Überfluß auch noch über zwei Stimmen. Da konnte man, so dachte Halfeld bei sich, auch sofort aufstehen und gehen. Aber er tat das nicht, denn diese Ratssitzung war öffentlich, und er hätte den Terraten seiner Ebene nur schwer erklären können, daß er ihre Interessen am wirkungsvollsten dadurch vertrat, daß er protestierend die Sitzung verließ. Das hätte ihm keiner seiner Leute abgenommen. Und auf deren Unterstützung war er angewiesen, wenn der Kampf um die Macht nicht von vornherein verloren sein sollte. Seine Terraten wollten heraus aus der Enge
ihrer Ebenen, und das sollten und konnten sie unter seiner Regentschaft auch! Schließlich, und das war das denkwürdigste an jener Sitzung, war der Rat um zwei neue Mitglieder erweitert worden. Alina Simon und Manuel Maarli nahmen ihre Plätze so selbstverständlich und selbstbewußt ein, als hätten sie schon seit vielen Jahren im wichtigstem Gremium der Terraten Sitz und Stimme. Der Beifall der Besucher brandete auf, als Alina ihren Platz einnahm. Dagegen rührte sich beispielsweise für einen Henry W. Appel kaum eine Hand. Denkwürdig war auch die erste Rede der Simon im Rat. »Es ist noch nicht lange her«, begann sie, »da wurden wir Rebellen genannt und Ausbrecher und Deserteure, und jeder weiß, was sonst noch. Jawohl, wir haben rebelliert, wir sind ausgebrochen, und viele von uns sind aus ihren ehemaligen Ebenen desertiert. Das alles stimmt, und wäre uns der Erfolg der Aktion versagt geblieben, dann würde man uns jetzt nicht nur Rebellen, Ausbrecher und Deserteure nennen, sondern uns auch so behandeln! Und dabei haben wir nur getan, was auch unsere Vorfahren getan haben, als sie sich der allgemeinen Evakuierung in den freien Weltraum widersetzten und in diesem Schacht das Volk der Terraten begründeten. Mit einer klar umrissenen Aufgabe übrigens. Mit dem festen Ziel, die Ökosphäre dieses Planeten wiederherzustellen, irgendwann!« Eigentlich, dachte Manuel Maarli, ist das meine Rede. Eigentlich müßte ich sie halten, weil ich sie ausgearbeitet habe, als wir uns alle noch im Ausbildungsschacht 211 herumdrückten und von der Oberfläche träumten. Aber sie haben keinen Platz mehr für mich. Das sagen sie nicht so direkt, sie sagen, ich säße nun einmal als Leiter der Genbank an der richtigen Stelle, und keiner von ihnen habe die Fähigkeit, pünktlich und zuverlässig die bestellten Arten zur Verfügung zu halten. Und weil sie sich in diesem Punkt mit
Jeanne Perra einig sind, sitze ich nun im Rat und in der Genbank fest und werde die Oberfläche nie richtig zu Gesicht bekommen. Immer nur als Gast, immer nur, wenn es die dienstlichen Belange zwingend erfordern, immer nur, wenn es die Herren Rebellen nötig haben, mir gegenüber mit ihren Erfolgen zu prahlen. »Setz dich zu mir in den Rover!« hatte ihn Mustafa Al Key neulich aufgefordert, ausgerechnet Al Key, der eigentlich unter sein Regime in die Genbank gehörte und dort seine Pflicht zu erfüllen gehabt hätte, »ich will dir unsere erste Freilandalgenfarm zeigen!« Natürlich war das Wasser des Weihers grün, und die Meßgeräte dicht über der Oberfläche wiesen eindeutig einen Sauerstoffüberschuß nach, Erfolg auf der ganzen Linie. Aber so recht freuen konnte sich Manuel nicht. Es war eine Selbstherrlichkeit im Auftreten Al Keys gewesen, die ihm die Lust genommen hatte. Wir, die neuen Schöpfer! Wir, die Gott-Terraten! »Wir hoffen, daß sich der Besatz gut entwickeln wird und sich reichlich vermehrt«, hatte ihm sein ehemaliger Mitarbeiter erklärt. »Das Gewässer hat einen regulierbaren Abfluß zum nächsten Fließgewässer und wäre deshalb hervorragend geeignet, Ausgangspunkt der Rekultivierung eines größeren Hydrosystems zu sein. Ich hoffe natürlich auch, daß die Genbank in der Lage sein wird, die Algenart noch etwas zu optimieren. Meine besten Grüße also an Georg Weiher und San Tri Minh!« Die Spitze war deutlich genug gewesen, und sie war nicht die einzige dieser Art. Die Rebellen waren nicht nur die Sieger, sie benahmen sich auch durchaus, wie sich Sieger seit alters her zu benehmen pflegten. Nicht die Spur von Verständnis, wenn sich der Schacht außer Stande sah, ihren maßlosen Wünschen unverzüglich und auf der Stelle nachzukommen. Schon gar kein Verständnis für die Belange der Genbank. Aber in diesem Punkt blieb Manuel Maarli unerbittlich. Keine einzige Zelle über die genetische Mindestreserve hinaus. Nicht für gutes Zureden und nicht gegen erbitterte Vorwürfe. Und später nur noch im Tausch
gegen die Ernten der Oberfläche, sie mochten sich da nur keinen Illusionen hingeben, die Damen und Herren Ausbrecher. Ein Glück nur, daß er in diesem Punkt in Jeanne Perra eine ebenso zuverlässige Verbündete hatte wie die Gegenseite, wenn es um den Einsatz an der Oberfläche ging. »Ich will versuchen, deutlich zu erklären, was ich unter ›optimieren‹ verstehe«, hatte Mustafa hinzugefügt. »Es soll niemand auf die Idee kommen, wir wollten bestimmte Arten, hier diese Alge, nur genetisch etwas aufmotzen und auf Teufel komm raus zur Sauerstoffproduktion zwingen. Wir sind nicht das Regenerationssystem des Schachtes. Unsere Aufgabe ist schwieriger. Hochgezüchtete Systeme brechen nämlich zusammen, wenn sich auch nur eine grundlegende Umweltbedingung ändert. Wir wollen aber möglichst komplette Ökosysteme installieren, weil die sich einem breiten Spektrum von Umwelteinflüssen selbst anzupassen verstehen. In diese Richtung bitten wir die Kollegen der Genbank bei der Auswahl ihrer Arten zu denken!« Es mußte Mustafa völlig klar sein, daß er Eulen nach Athen trug. Aber er konnte nicht anders, als die kleine Spitze loszuwerden, wenn sein ehemaliger Chef schon einmal gezwungen war, ihm zuzuhören. Manuel tauchte aus seiner Erinnerung auf und hörte wieder Alina Simon zu. Sie hatte in ihrer Rede vor dem Rat, die eigentlich eine Rede an alle Terraten war, das Wort ›Genbank‹ gebraucht. Mit diesem Wort war natürlich Maarli angesprochen. »Auch die Mitarbeiter der Genbank, und allen voran ihr Leiter, sollten schleunigst begreifen, daß unsere Vorfahren das genetische Material nicht zum Selbstzweck gesammelt und im Schacht deponiert haben. Wir brauchen das Material jetzt, wir brauchen es an der Oberfläche, und ein gewisses Mindestrisiko erscheint uns durchaus vertretbar!« Denkwürdig auch dies: In ihrer ersten Rede vor dem Rat beschuldigte ein neues Ratsmitglied einen anderen Kollegen, seine
Aufgaben nicht den Erfordernissen entsprechend zu erfüllen. Für Sekunden herrschte eine Totenstille in der Sitzungskaverne. Nur Henry W. Appel lächelte ganz unverhohlen. »Es gibt«, sagte Manuel Maarli und stand auf, »es gibt Sätze, die kann man nicht unwidersprochen im Raum stehenlassen, besonders, wenn sie in aller Öffentlichkeit gesagt worden sind. Die Vertreterin der Arbeitsgruppe Oberfläche beschuldigt mich also, die Arbeit ihrer Gruppe dadurch zu gefährden, daß ich bestimmte genetische Materialien nicht herausgebe, sondern in der Genbank horte. Stimmt das, Simon?« Jeder in der Kaverne spürte, daß es bei diesen beiden nicht nur um die Oberfläche oder um die Genbank ging. Zwischen den neuen Ratsmitgliedern Simon und Maarli stand der Ausbildungsgang 211, stand der Unterschied der Ebenen, in denen sie bisher gelebt hatten, standen Sylvie Debora und Jacob Schwerte, und man hätte die Aufzählung beliebig fortsetzen können, denn immer hatte sich der eine auf der einen, der andere auf der anderen Seite der terratischen Welt befunden, wenn es zum Schwur gekommen war. Er wird immer recht behalten, dachte Alina. Formal wird er immer wieder recht behalten. Wie damals in der Genbank, als er kurz nach dem Start der Aktion Oberfläche lächelnd vor ihr gesessen hatte, die Liste der angeforderten Arten und einen unscheinbaren Rotstift in der Hand. Dann hatte dieser Rotstift auf ihrem Papier zu wüten begonnen, und das hämische Lächeln des Manuel Maarli war dabei immer breiter geworden. »Ich bin ja bereit, alles für deine Arbeitsgruppe zu tun, was in meinen Kräften steht«, hatte er ihr schließlich gesagt. »Aber auch eure Forderungen müssen im Rahmen bleiben. Vor allem jetzt, wo jede Ebene auf ihren Gärtchen besteht, ihren Wiesen in den Kavernen, ihren Blümchen, wo möglichst jeder noch seinen Leo haben möchte. Ich erfülle gern alle Wünsche, ich bin aber nicht bereit, irgendwelcher Forderungen wegen die Mindestreserven
anzugreifen! Auch nicht für die Arbeitsgruppe Oberfläche. Ihr könnt also nur einen Teil des bestellten Materials bekommen, so leid es mir tut!« Sie wußte ganz genau, daß es ihm keineswegs leid tat. Nicht im geringsten. Man mußte sich nur sein lächelndes Gesicht ansehen. Und wenn die Arbeitsgruppe Oberfläche doch noch scheitern würde, würde er wie selbstverständlich aufstehen und sagen: »Hättet ihr auf mich gehört, wäre das alles nicht passiert!« Und die Perras und Halfelds und Appels würden einen solchen Satz äußerst wohlwollend aufnehmen. »Du darfst nicht denken, ich hätte die Zeit in deiner Genbank verschlafen!« versuchte Alina zu entgegnen. »Ich kenne mich in den Beständen der Vorfahren ziemlich gut aus. Mustafa war mir ein ausgezeichneter Lehrer, mein lieber Maarli. Daß du uns beispielsweise Poa anua ablehnst, ist der reine Witz. Das Zeug hast du tonnenweise in deinen Kühlzellen herumliegen!« »Das ›Zeug‹, wie du soeben zu sagen pflegtest, wird auch in reichlichen Mengen benötigt. Entsprechend groß muß die Mindestreserve sein. Wenn du mir gütigst verraten würdest, unter welchen Bedingungen ihr das Gras einsetzen wollt, könnte ich euch wahrscheinlich eine Ausweichart anbieten.« »Versuche zur Grundaussaat im Freiland«, hatte sie ihm daraufhin kurz angebunden geantwortet. Die Wahrheit ging ihn nichts an. Er gehörte nicht zum Team, und die Methode der Fernaussaat stammte nicht aus dem ursprünglichen Plan der 211er, aus seinem Plan also, und schon deshalb würde er ihren Einsatz nicht gutheißen. Und sie setzten einfach auch ein bißchen auf das Glück, wenn sie die Samenmischungen in die Transparentkugeln verpackten und weit über das Land verschossen. Sie hofften lediglich, daß die Lebensmunition auf feuchten Boden fallen würde, sie hofften, daß die Wurzelsäure das Hüllmaterial wirklich zur rechten Zeit zersetzt haben würde, sie hofften, daß sich die grünen Inselchen gegen die unfreundliche Umwelt würden behaupten können. Ihre Hoffnungen wurden nur durch einige
Laborversuche bestärkt, und durch die Beobachtung jener Kugeln, die sie in unmittelbarer Nähe der Hauptschleuse ausgesetzt hatten und die sich allmählich zu entwickeln begannen. Nicht gerade prächtig, aber immerhin. Und nun stellte ihnen ein Manuel Maarli ein Bein und verweigerte ihnen die geforderte Menge Poa anua. »Pos badensis«, schlug er vor. »Danke«, hatte sie ihm geantwortet und war aufgestanden. »Du weißt genau, daß die Art nicht robust genug ist. Wir werden uns halt an den Rat wenden müssen!« »Ich wiederhole meine Aussage«, sagte sie nun vor dem Rat und vor allen Terraten, »die Arbeit unserer Gruppe wird durch die restriktiven Maßnahmen des Leiters der Genbank über jedes erträgliche Maß hinaus behindert!« »Es sei dann ja wohl auch die Überlegung gestattet«, hielt ihr Manuel entgegen, »welche anderen Bereiche unseres Lebens ihrerseits von der Arbeitsgruppe Oberfläche behindert werden!« Durch den Satz hatte er sich mit Appel und Halfeld verbündet. »Aber stellen wir solche Überlegungen hintan«, fuhr er fort. »Sollen ruhig die Tatsachen sprechen. Die Arbeitsgruppe hat bisher über neunzig Prozent ihrer durchaus nicht bescheidenen Forderungen prompt und vorrangig erfüllt bekommen. Die Arbeitsgruppe ihrerseits hat bisher nur unbedeutende Mengen genetischen Materials zurückgeliefert, obwohl sie sich dazu verpflichtet hatte. Sie verwendet ihre Ernten, als gäbe es keine anderslautenden Absprachen! Die Verantwortung für die Vollständigkeit des genetischen Materials verbietet es mir, die Mindestreserven anzugreifen. Denn bisher hat die Arbeitsgruppe Oberfläche auch sehr viel Glück gehabt. Keine langanhaltende Trockenheit, keine schweren Unwetter, keine strengen Fröste haben die Oberfläche heimgesucht. Das alles kann jederzeit kommen, wird langfristig mit Gewißheit passieren, und dann wird man mit empfindlichen Verlusten zu
rechnen haben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, Simon, wird mir deine Arbeitsgruppe auf den Knien danken, wenn ich das Schatzkästchen öffnen und einen erneuten Anlauf ermöglichen kann! Und danach wieder einen und wieder und wieder und immer wieder!« Alina Simon spürte, daß Manuel Maarli dem Rat die besseren Argumente vorgetragen hatte. Das machte sie wütend, und in ihrer Wut war sie eine schlechte Verliererin. Sie tat, was der Stellung ihrer Arbeitsgruppe in den Augen aller Zuschauer schadete. Sie stand auf und verließ die Ratssitzung. Der Kuchen war verteilt. Es hatte jede Tierpflanze ihr Stück erhalten oder sich erkämpft, die Pflanzentiere hatten sich in ihren Revieren eingerichtet und gaben sich ihren Hauptbeschäftigungen hin, dem Nahrungserwerb und der Reviervergrößerung. Und dabei erwies es sich plötzlich, daß gerade in dem Stück des Kuchens, der einer der Tierpflanzen zugefallen war, unerwarteterweise eine Rosine versteckt war. Eine gewaltige Rosine, prall und süß und voller fremden Eiweißes. Unvermeidbares war eingetreten. Das neue und das alte Leben waren aufeinandergetroffen. Unvermeidbar deshalb, weil man einen Kuchen nur einmal verteilen kann. Ein Pflanzentier war auf den Algenweiher der Arbeitsgruppe Oberfläche gestoßen. Es war eingetaucht in das grüne, lebende, assimilierende Wasser, es hatte die Algenstämme in seinen Körper eingesaugt und eingebaut, es hatte sich berauscht an der Menge der Nährstoffe und war in dieser feuchten Mulde liegengeblieben, satt und träge wie jemand, dem unerwartet das große Los zugefallen war und der sein Glück noch nicht voll begreifen konnte. Denn kaum, daß das Pflanzentier die Algenkultur der Terraten in seinen Stoffwechsel symbioniert hatte, witterte der Quasiorganismus bereits neues Eiweiß, das sich dem Standort näherte. Das Pflanzentier im Algenweiher schickte seine Kundschafter in das Land.
Als Maarli Jacob Schwerte hereinkommen sah, wußte er sofort, daß es Ernst war und daß es diesmal ums Ganze ging. Maarli saß mit Sylvie Debora in einer kleinen Tanzkaverne in der B-Ebene, die sich zum Treffpunkt all jener Terraten entwickelt hatte, die irgendwie mit dem Außenprojekt befaßt waren. Die Musik hatte leise vor sich hingedudelt, auf der Tanzfläche hatten sich Terraten von D und C gedrängt, aber das ging inzwischen im ganzen Schacht ziemlich wahllos durcheinander und war keine Besonderheit mehr, die sich nur Mitglieder der Arbeitsgruppe Oberfläche herausnehmen durften. Jacob Schwerte kam also auf Manuel Maarli zugestürmt, geradewegs, als habe er gewußt, in welcher Kavernennische der Leiter der Genbank und die schönste Terratin saßen. Schwerte war völlig außer Atem. Er schwitzte, und seine Haare klebten an der Stirn. »Wir brauchen jede Hand!« sagte er zu Manuel. Und weil Maarli sofort aufstand, stand auch Sylvie Debora auf, und die anderen Gäste in der Kaverne begriffen sehr schnell, daß irgend etwas nicht stimmen konnte. Die Musik brach ab, und schon im Herauslaufen hörte Maarli die Pendeltür der Tanzkaverne hart zuschlagen. Jacob Schwerte gab ihm auch jetzt noch keine Erklärung. Er ging auch nicht zur Hauptschleuse, er rannte fast. Manuel Maarli hatte viel Mühe, den langen Schritten Schwertes zu folgen, für Sylvie Debora in ihren hohen Absätzen gab es keine Chance. Schließlich rannte sie hinter den beiden Männern her, in jeder, Hand einen Schuh. Der Fahrkorb war unterwegs, sie mußten warten, und Jacob Schwerte trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Kommandodisplay. »Mach schon!« murmelte er, »mach schon, verdammt noch mal, altes Scheißding!«
»Was ist denn eigentlich los?« fragte Manuel. »Der Teufel ist los! Wirst du gleich selbst erleben!« In diesem Moment kam endlich der Fahrkorb. Schwerte sprang hinein, drückte auf die Tastatur, und die Tür begann sich zu schließen, noch bevor Sylvie Debora ihr weites Kleid im Inneren des Korbes untergebracht hatte. Es gab einen kaum wahrnehmbaren Ruck, und ein hauchdünnes Goldkettchen lag auf dem Boden des Fahrkorbes. »Nun habt ihr es endlich geschafft«, sagte die Debora und bückte sich nach dem Kettchen. Und weder Manuel noch Jacob Schwerte halfen ihr bei der Suche nach dem Glitzerding. Im Hauptstützpunkt der Arbeitsgruppe, im Glaspalast direkt über der Hauptschleuse, war hektische Betriebsamkeit. Aus allen Himmelsrichtungen kommend, drängten sich die kleinen Landfahrzeuge vor der Eingangsschleuse, die der Rat, entsprechend seinem Sicherheitskonzept, gegen die Stimme der Alina Simon durchgesetzt hatte. Die Fahrzeuge brachten auf ihren Ladeplanken Behälter voller grüner Pflanzen in den Stützpunkt, die dort eilig aufeinandergestapelt wurden, bevor die Fahrzeuge wieder davonrasten. Jacob Schwerte forderte Maarli und die Debora mit einer Handbewegung auf, in einem der Mobile Platz zu nehmen. Erst, als sie den Glaspalast hinter sich gelassen hatten, begann er zu reden: »Kannst du dir vorstellen, daß uns deine Genbank das genetische Material für die Art X liefert, aus dem sich dann in der freien Wildbahn die Art Y entwickelt?« »Theoretisch schon«, antwortet Manuel. »Das würde man dann eine Mutation nennen müssen!« »Du wirst Gelegenheit haben, dir deine ›Mutation‹ genauer anzusehen!«
Die Gegend kam dem Leiter der Genbank bekannt vor. Und er hatte recht. Keine zweihundert Meter trennten sie von dem Gewässer, an dem ihm Mustafa Al Key damals voller Stolz seine Algenkultur vorgeführt hatte. Und dort kämpften jetzt die Mitglieder der Arbeitsgruppe Oberfläche, unter ihnen Alina Simon, einen schier aussichtslosen Kampf. In diesem See wallte und waberte es, er schien nicht mehr aus Wasser zu bestehen, aus dem See schoben sich lange, grüne Fühler in die Landschaft, und die Terraten der Arbeitsgruppe versuchten mit Sandsäcken das Vordringen des »Wassers« einzudämmen. Der Kampf mußte bereits seit Stunden andauern, denn der Sandsackring war beträchtlich angewachsen, ohne den See bereits wirkungsvoll eingegrenzt zu haben. »Du mußt eine Probe von dem Zeugs nehmen!« schrie ihn Schwerte an. »Wir müssen endlich wissen, um was es sich eigentlich handelt. Und du greifst dir eine Schaufel!« sagte er zu Sylvie Debora, »weil es ums Ganze geht!« Sylvie Debora tat, wie ihr geheißen. Barfuß stakte sie davon. Manuel sah ihr kurz nach, denn er ahnte nicht, daß es das letzte Mal war, daß er sie sah. Denn Sylvie Debora hatte die Frontlinie noch nicht erreicht, als das Pflanzentier urplötzlich seine Taktik änderte. Nicht mehr die zahlreichen kleinen Fühler schoben sich gegen das fremde Eiweiß vor, nein, mit einem gewaltigen Satz übersprang ein großer Teil des Quasiorganismus die nun lächerlich niedrige Barriere und atmete die fremden Wesen ein, die sich ihm entgegengestellt hatten. Mit Haut und Haar wurde das fremde Eiweiß verstoffwechselt. Manuel Maarli sah sie in der grünen Welle verschwinden und nicht wieder auftauchen, als hätte es sie nie gegeben. Dann fühlte er sich am Arm gepackt und in das Fahrzeug gezerrt, dessen Motor lief und das Jacob Schwerte nun mit Höchstgeschwindigkeit der rettenden Schleuse entgegenjagte.
Denn das fremde Wesen war hinter ihnen her und hatte andere Mitglieder der Arbeitsgruppe von ihren Fahrzeugen abgeschnitten, für sie war keine Hilfe möglich. Am späten Abend endlich hatte sich Ralf Beland in die rettende Schleuse durchgeschlagen. Er war, wie an den Tagen zuvor, im Museum gewesen und konnte über Funk benachrichtigt werden. In einem weiten Bogen hatte er daraufhin das Katastrophengebiet umfahren, war nur langsam vorangekommen, weil am Horizont der Sand grünlich geflimmert hatte. Und er hatte sich um keinen Preis der Welt von einem Container trennen wollen, dessen Gewicht seinen kleinen Geländewagen überforderte. Der Behälter war bis zum Platzen mit Bildern und Büchern vollgestopft, Material einer Kulturbank für alle Terraten. Die weite Erde gehörte von nun an für sehr lange Zeit ihr allein. Der Tierpflanze. Die weite Erde gehörte von nun an für sehr lange Zeit ihm allein. Dem Pflanzentier. Es existierte keine ökologische Nische, die nicht nach und nach besetzt wurde, keine klimatische Veränderung auf dem Planeten, die nicht überstanden worden wäre. Denn zwei Umstände garantierten den Erfolg dieses neuen Lebens. Das Pflanzentier, die Tierpflanze, die Walze verfügte über unendlich viel Zeit. Selbst ein schlechtes Jahr, selbst der Verlust vieler tausend junger Walzen war keine Katastrophe mehr, die den Bestand des neuen Lebens ernsthaft gefährden konnte. Der Planet Erde wurde allmählich von einem grünen, lebenden, atmenden, assimilierenden Teppich überzogen. Seine Atmosphäre enthielt Sauerstoff in nie zuvor gekannten Mengen. Und die Differenzierung des neuen Lebens schritt unaufhaltsam voran. Neuen und gewohnten Wegen folgend. Denn Evolution ist ein unaufhaltsamer Prozeß!