REINHARD JIRGL
GERMAN MONITOR No. 65 General Editor: Ian Wallace
International Advisory Board Daniel Azuélos Anna Ch...
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REINHARD JIRGL
GERMAN MONITOR No. 65 General Editor: Ian Wallace
International Advisory Board Daniel Azuélos Anna Chiarloni Geoffrey V. Davis Helen Fehervary Gert-Joachim Glaeßner Gerd Labroisse Pól O’Dochartaigh Wolfgang Schopf
Université de Picardie-Jules Verne, Amiens Università di Torino TU Aachen Ohio State University Humboldt-Universität, Berlin Vrije Universiteit, Amsterdam University of Ulster, Coleraine Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main
REINHARD JIRGL Perspektiven, Lesarten, Kontexte
Herausgegeben von
David Clarke und Arne De Winde
Amsterdam - New York, NY 2007
Cover Photo: Reinhard Jirgl Cover design: Aart Jan Bergshoeff The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN-13: 978-90-420-2137-2 (Bound) ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2007 Printed in the Netherlands
Inhalt Die Autoren
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Zitierweise der Werke von Reinhard Jirgl
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Einleitung David Clarke
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Laudatio auf Reinhard Jirgl Helmut Böttiger
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‘Schreiben – das ist meine Art, in der Welt zu sein’ Gespräch in Briefen mit Reinhard Jirgl Clemens Kammler und Arne De Winde
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Liebesurteil, Einverleibung und ein mieser Gottesdienst Reinhard Jirgls Blick auf die DDR Karen Dannemann
61
Anti-Ödipus in der DDR Zur Darstellung des Verhältnisses von Familie und Staat bei Reinhard Jirgl David Clarke
89
Das Erschaffen von ‘eigen-Sinn’ Notate zu Reinhard Jirgls Schrift-Bildlichkeitsexperimenten Arne De Winde
111
Ästhetischer Radikalismus in der Posthistoire Zum literarischen Bild der Geschichte in Reinhard Jirgls Hundsnächte Simon Ward
151
(Nicht)eingelöste Utopien in der ‘Andernwelt’ USA? Erzählstrategien in Reinhard Jirgls Roman Die atlantische Mauer Christine Cosentino
179
Die Lebensläufe Reinhard Jirgls Techniken der melotraumatischen Inszenierung Erk Grimm
197
Unschärferelationen Anmerkungen zu zwei problematischen Lesarten von Reinhard Jirgls Familienroman Die Unvollendeten Clemens Kammler
227
‘Das Aufbrechen der verpanzerten Wahrnehmung’ Reinhard Jirgls Roman ABTRÜNNIG – ein (un)vermeidbarer Amoklauf Dieter Stolz
235
Bibliographie Reinhard Jirgl Arne De Winde
253
Register
273
Die Autoren Helmut Böttiger studierte Germanistik in Freiburg, wo er mit einer Dissertation über DDR-Literatur promovierte. Bis 2001 war er Feuilletonredakteur der Frankfurter Rundschau. Jetzt lebt er in Berlin und arbeitet als Kolumnist und Kritiker. David Clarke promovierte an der Universität Wales in Swansea mit einer Arbeit zu Christoph Hein. Anschließend lehrte er an den Universitäten Mainz und Nottingham Trent. Heute arbeitet er als Dozent für Germanistik an der Universität Bath. Wissenschaftliche Veröffentlichungen in den Bereichen deutsche Gegenwartsliteratur, Filmwissenschaft und ostdeutsche Literatur. Christine Cosentino studierte an der Humboldt-Universität Berlin, an der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg, und promovierte 1971 an der Columbia University. Sie ist Mitbegründerin der Internet-Zeitschrift glossen und Autorin zahlreicher Publikationen zur DDR-Literatur, zur deutschen Gegenwartsliteratur, zum Expressionismus und zur deutschen Lyrik. Karen Dannemann studierte Germanistik und Psychologie an der FU bzw. HU Berlin. Es folgten zwei längere Aufenthalte in Neuseeland und Schottland, in denen sie als DAAD-Praktikantin und DAAD-Lektorin an dortigen Universitäten tätig war. Seit 2002 arbeitet sie freiberuflich für das Goethe-Institut Berlin und seit 2003 auch als Lehrbeauftragte an der FU Berlin. Sie schreibt z.Zt. an einer Dissertation über Reinhard Jirgl. Arne De Winde ist seit 2004 Assistent für Forschung des Fonds für Wissenschaftliche Forschung – Flandern an der Universität Löwen und arbeitet an einer Dissertation zum Werk Reinhard Jirgls. Forschungsschwerpunkte sind u.a.: moderne deutschsprachige Erinnerungsliteratur, ‘Kulturpessimismus’, Intertextualität und Mundartdichtung. Erk Grimm lehrt Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft am Barnard College der Columbia University in New York. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart, zur DDR-Literatur sowie zum Bildungs- und Großstadtroman.
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Clemens Kammler ist seit 2001 Professor für Germanistik und Literaturdidaktik an der Universität Duisburg-Essen. Neben Arbeiten zur Philosophie Michel Foucaults veröffentlichte er auch zahlreiche Essais zur deutschen Gegenwartsliteratur und zur Literaturvermittlung. Dieter Stolz, Jg. 1960, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Münster und Berlin. Von 1993 bis 1999 war er Wissenschaftlicher Assistent an der TU Berlin. Er promovierte mit einer Arbeit zum literarischen Werk von Günter Grass. Stolz ist Mitherausgeber der Grass-Werkausgabe, war 10 Jahre lang Redakteur der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter und bis Ende 2005 Programmleiter beim LCB. Er publizierte zur internationalen Gegenwartsliteratur, erhielt Gastdozenturen und Lehraufträge im In- und Ausland und arbeitet seit 2006 als freier Lektor. Simon Ward studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Oxford und promovierte dort mit einer Dissertation zu Wolfgang Koeppen. Heute arbeitet er als Dozent für Germanistik an der Universität Aberdeen, wo er gegenwärtig ein Buch über visuelle Erinnerungskultur im Nachkriegsdeutschland vorbereitet.
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Zitierweise der Werke von Reinhard Jirgl Bei Zitaten aus Buchveröffentlichungen von Reinhard Jirgl erscheinen die folgenden Siglen mit den jeweiligen Seitenzahlen in Klammern. Texte werden ausschließlich nach der Erstausgabe zitiert. MutterVaterRoman. Roman
(Aufbau, 1990)
MVR
Uberich. Protokollkomödie in den Tod
(Jassmann, 1990)
UP
Im offenen Meer. Schichtungsroman
(Luchterhand, 1991)
IoM
Das obszöne Gebet. Totenbuch
(Jassmann, 1992)
oG
Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität
(Bublies, 1993)
Z
Abschied von den Feinden. Roman
(Hanser, 1995)
AF
Hundsnächte. Roman
(Hanser, 1997)
H
Die Atlantische Mauer. Roman
(Hanser, 2000)
AM
Genealogie des Tötens. Trilogie
(Hanser, 2002)
GT
Gewitterlicht. Erzählung/Das poetische Vermögen des alphanumerischen Codes in der Prosa
(revonnah, 2002)
Gl
Die Unvollendeten. Roman
(Hanser, 2003)
U
ABTRÜNNIG. Roman aus der nervösen Zeit
(Hanser, 2005)
At
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David Clarke Einleitung Reinhard Jirgl wurde 1953 in Ostberlin geboren und verbrachte die ersten zehn Jahre seiner Kindheit in der märkischen Kleinstadt Salzwedel an der damaligen deutsch-deutschen Grenze im Hause seiner Großmutter.1 Die Kontraste zwischen der Welt der Großstadt und der der Provinz haben Jirgls Schriften tief geprägt: In seinen Romanen wechseln sich die Darstellung der verfallenen Stadtlandschaft, in der das Menschenleben auf eine genormte Frustration reduziert wird, und die der miefigen Stimmung der Provinz ab. In beiden Umfeldern herrscht in gleichem Maße Geltungs- und Rachsucht: ein Krieg aller gegen alle. Die Nähe der Heimatstadt Salzwedel zum ‘Todesstreifen’ der innerdeutschen Grenze hat ebenfalls Spuren in Jirgls Texten hinterlassen: Dieses Gebiet nimmt eine zentrale Stellung in seinem wohl bekanntesten Werk ein, der Roman-Serie aus den Büchern Abschied von den Feinden (1995) und Hundsnächte (1997). Autobiografisch geprägt sind auch die vielen Hinweise auf das Flüchtlingsdasein, das sowohl in den schon erwähnten Texten als auch in dem Roman Die Unvollendeten (2003) explizit behandelt wird. Seine eigene Familie war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Sudetenland vertrieben worden, und die Geschichten über den Verlust der Heimat bestimmten seine Kindheit: ‘Nahezu der gesamte Alltag fand im innerfamiliären Raum sich verwoben mit dieser Thematik’.2 Allerdings sind nicht nur Flüchtlinge und Vertriebene wiederholt die zentralen Figuren in seinen Texten, sondern auch die gesellschaftlichen Außenseiter im Exil der eigenen Heimat. Nach seiner Rückkehr nach Berlin zu seinen Eltern im Jahre 1964 ging Jirgl nach der 10. Klasse von der Schule ab und wurde als Elektromechaniker ausgebildet. Er holte das Abitur in Abendkursen nach und konnte sich schließlich 1971 an der Humboldt-Universität zum Studium der Elektromechanik anmelden; das Studium schloss er 1975 ab. Nach dem Berufseinstieg als Elektromechaniker unternahm Jirgl erste Schreibversuche. Er arbeitete von 1978 bis 1995 als Beleuchtungstechniker an der Volksbühne und versuchte, wie auch andere junge ostdeutsche Autoren der 80er Jahre, die sich dem offiziellen Literaturbetrieb entzogen
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David Clarke
hatten, neben diesem Broterwerb zu schreiben. Erst 1985 bot er einem DDRVerlag einen Text an: Diese Arbeit mit dem Titel MutterVaterRoman wurde trotz der Fürsprache Heiner Müllers mit der Begründung abgelehnt, sie vertrete eine ‘nichtmarxistische Geschichtsauffassung’.3 Bis 1989 entstanden dann verschiedene Texte für die Schublade, die erst im Jahre 2002 in dem Band Genealogie des Tötens Jirgls Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht wurden. Sein MutterVaterRoman kam 1990 nachträglich auf den Markt, und zwar unter der Ägide von Gerhard Wolf beim Aufbau-Verlag, doch ging dieses schwere und dunkle Buch über die Aufbaujahre der DDR im Vereinigungsgetümmel unter.4 Nach der Wende und der deutschen Einheit hatte Jirgl Schwierigkeiten, einen der großen Verlage für seine Arbeiten zu interessieren. Der Autor spürte deutlich, dass für ihn in der Literaturlandschaft des vereinigten Deutschlands kein Platz vorgesehen war. In Abschied von den Feinden lässt er eine Verlagslektorin auftreten, um ihr Worte in den Mund zu legen, die der Autor selber in dieser Zeit von ähnlicher Seite hatte hören müssen: wissen Sie: alle Autoren, die wir bei=uns aus der Alten-DDR unter Vertrag haben, sind ja in den letzten Jahren depressiv geworden & haben aufgehört zu schreiben. Sie aber haben weitergeschrieben, und das ist jetzt Ihr Problem. (AF 80; Vgl. dazu GT 818)
Die Hartnäckigkeit, mit der Jirgl weiterschrieb und die er sicherlich als Außenseiter in der DDR schon vor dem Mauerfall hatte lernen müssen, zahlte sich erst 1993 mit der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises aus. Diese Auszeichnung wurde ihm für das noch unfertige Manuskript von Abschied von den Feinden zuteil, das schließlich bei Carl Hanser in München erschien. Für dieses Werk, das Die Zeit als literarisches ‘Ereignis’ feierte,5 wurde Jirgl einhellig von der Kritik gelobt. Erst mit diesem Erfolg konnte er seine Arbeit an der Volksbühne aufgeben und sich ganz dem Schreiben widmen. Es folgten bis 2005 vier weitere Romane. Jirgls Werke stellen sowohl für Leser als auch für die Literaturwissenschaft eine beachtliche Herausforderung dar. Seine Texte zeichnen sich durch ihre motivische und stilistische Vielschichtigkeit aus: Sie nehmen auf die literarische Moderne sowie auf die moderne Gesellschaftstheorie und Philosophie Bezug und brechen Erzählperspektiven und -stimmen konsequent auf, um sie ineinander überfließen zu lassen. Jirgls polyphone
Einleitung
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Stimmen-Montagen erhalten durch den Umgang des Autors mit der Schrift als Material eine weitere Dimension. Wie Arne De Winde in seiner aufschlussreichen Analyse von Jirgls Schreibverfahren in diesem Band feststellt, schafft Jirgl durch seine eigenartige Orthografie, seine arabeskhaften Figuren und sein Spiel mit der Unlesbarkeit Textgeflechte, die sich der Fixierung auf einen eindeutigen Sinn widersetzen. Dieter Stolz zeigt auch in seinem Aufsatz, wie in Jirgls vorläufig letztem Roman ABTRÜNNIG die Herstellung von so genannten ‘Links’ im Text den Leser zur Eigensinnigkeit auffordert, was zu einem allgemeinen ‘Aufbrechen der verpanzerten Wahrnehmung’ beitrage. Abgesehen von dieser textimmanenten Herausforderung an Leser und Interpreten lassen Umfang und thematische Fülle von Jirgls Werk die Herausbildung einer gemeinsamen ‘Linie’ oder eines ‘exhaustiven’ Überblicks in einer Aufsatzsammlung dieser Art kaum erwarten. Dies war auch nicht die Absicht der Herausgeber, als wir dieses Projekt ins Leben riefen. Vielmehr war uns klar, dass die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit, die Jirgls Werken inzwischen zunehmend zuteil wird, eine grundlegende Buchpublikation nötig machte, um Ausgangspunkte für künftige Forschung zu schaffen. Dabei mussten wir damit rechnen, dass sich die Geister an diesem komplexen Autor scheiden würden. Dies ist unserer Meinung nach eine Stärke des Projekts, da die Vielseitigkeit der Jirgl-Interpretationen, die hier vorgestellt werden, auch weitere Forschung zu seinem Werk anregen soll. Helmut Böttigers ‘Laudatio’ auf Jirgl aus Anlass der Verleihung des Kranichsteiner Literaturpreises liefert einen Überblick über Jirgls literarisches Schaffen und deutet an Hand von dem Roman Die Unvollendeten, für den Jirgl in erster Linie diesen Preis bekam, auf die Zentralität der Familienthematik bei diesem Autor hin. Die Darstellung der Familie wird auch von David Clarke aufgegriffen, der die Auseinandersetzung mit der Familie als Machtkonstellation bei Jirgl primär im Hinblick auf ihre Verzahnung mit Machtstrukturen des DDR-Staates untersucht. Diese Analyse von Jirgls Kritik am Staatssozialismus dient Clarke als Ausgangspunkt, von dem aus er das Subjektbild des Autors untersucht. Clarkes Lektüre von Jirgl als DDRAutor wird durch Karen Dannemanns Beitrag ergänzt, wobei hier der Schwerpunkt auf den frühen Text MutterVaterRoman liegt. Dannemann erläutert, wie Jirgl in diesem Roman auf satirische Mittel zurückgreift, um
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David Clarke
die pseudoreligiösen Ansprüche der SED-Ideologie und ihres menschenfeindlichen Geschichtsbildes bloßzulegen. Bei Simon Ward und Christine Cosentino steht dementgegen die Auseinandersetzung Jirgls mit der Zeit nach dem Kalten Krieg im Mittelpunkt, die Ward in Jirgls Roman Hundsnächte im Sinne des Leerlaufs eines ‘posthistorischen’ Zustands an Hand von der Ruinendarstellung im Text auslegt. Cosentinos Text schlägt aber optimistischere Töne an: Durch eine detaillierte Analyse der Farben- und Zahlensymbolik in Die atlantische Mauer sowie der Mythenrezeption Jirgls zeigt sie auf die grundsätzliche Offenheit des Textes hin, was die Möglichkeit der Veränderung und des persönlichen Aufbruchs betrifft. Die zwei anderen Beiträge des Bandes greifen politisch kontroverse Aspekte von Jirgls Schriften auf. Clemens Kammler argumentiert gegen Lesarten von Die Unvollendeten, die dem Autor eine zweifelhafte Gleichmacherei vorwerfen, was die Darstellung von Opfern des Zweiten Weltkriegs betrifft. Ebendiese Lesarten werden aber bei Erk Grimm aufgegriffen, dessen Analyse eines weitverzweigten intra- und intertextuellen Motivnetzwerks ein Bild des männlichen Subjekts bei Jirgl feststellt, das Verbindungen zum rechtskonservativen Denken an den Tag lege. Dabei entdeckt Grimm ein ganz anderes Subjektverständnis bei Jirgl als andere Autoren dieses Bandes (etwa Clarke), und diese Meinungsunterschiede dürften als Angregung zur Diskussion in der künftigen Jirgl-Forschung dienen. Eine weitere Hilfe für diese Forschung bietet die ausführliche Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur von und zu Jirgl, die von De Winde zusammengestellt wurde. Die teilweise weit auseinander gehenden literaturwissenschaftlichen Perspektiven, die hier versammelt werden, werden durch ein wichtiges und facettenreiches ‘Gespräch in Briefen’ zwischen dem Autor Jirgl und De Winde und Kammler ergänzt, in dem Jirgl sich unter anderem mit seiner Ästhetik und der eigenen Position im literarischen Feld beschäftigt. Danksagung Dieses Projekt wäre selbstverständlich ohne den Einsatz unserer Autoren unmöglich gewesen, die ihre Originalbeiträge sämtlich auf Anregung der Herausgeber schrieben, in einigen Fällen nach einer längeren Pause in ihrer
Einleitung
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Beschäftigung mit Jirgls Werken. Ihnen sei für ihr außerordentliches Engagement gedankt. Unser Dank gilt weiterhin: Reinhard Jirgl, der dieses Projekt durch seine Beteiligung an dem ‘Gespräch in Briefen’ großzügig unterstüzte; Professor Ian Wallace, Herausgeber der Reihe ‘German Monitor’ für die Möglichkeit, dieses Buch zu veröffentlichen; Claudia Horzella vom Hanser Verlag, die für uns ein Umschlagbild fand; Dem Fotografen PeterAndreas Hassiepen (München), der das Bild machte und uns erlaubte, es anzuwenden. An der Korrektur des Bandes waren folgende Kolleginnen und Kollegen beteiligt: Bernd Koch (Bath/DAAD); Helga Mitterhumer (Salzburg); Axel Goodbody (Bath); Renate Rechtien (Bath); Annette Blühdorn (Bath); Bart Philipsen (Löwen); Anke Gilleir (Löwen); Pieter Vermeulen (Löwen). Wir danken Euch für die tatkräftige Unterstützung! Bath, im Juni 2006. Anmerkungen 1
Die biografischen Teile dieses Textes gehen auf den folgenden Beitrag zurück: David Clarke und Arne De Winde, ‘Der Schriftsteller Reinhard Jirgl,’ Deutsche Bücher, 35 (2006), 2, S. 107-119. 2
Reinhard Jirgl, ‘Endstation Mythos. Sie sind wieder da – die deutschen Heimatvertriebenen. Doch was öffentlich diskutiert wird, schafft nicht unbedingt Klarheit’, Frankfurter Rundschau, 24. März 2004, Beilage S. 1.
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Zur Entstehungsgeschichte des Frühwerks siehe Reinhard Jirgl, ‘Schlusswort für einen “Nachlaß zu Lebzeiten,”’ (GT 815-833).
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Der Roman fand jedoch etwas später einiges literaturwissenschaftliche Interesse, wie die Analysen von Peter Böthig und Erk Grimm zeigen. Vgl. Böthig, ‘Reinhard Jirgls Faschismusanalyse,’ in: ders., Grammatik einer Landschaft: Literatur aus der DDR in den 80er Jahren, Lukas Verlag: Berlin, 1997, S. 30-35; Grimm, ‘Alptraum Berlin: Zu den Romanen Reinhard Jirgls,’ Monatshefte für Deutschen Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur, 86 (1994), 2, S. 186-200.
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David Clarke
Iris Radisch, ‘Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sterben sie noch heute. Ein literarisches Ereignis. Reinhard Jirgls Roman Abschied von den Feinden, ein deutschdeutsches Dokument,’ Die Zeit, 7. April 1995.
Helmut Böttiger Laudatio auf Reinhard Jirgl Sehr geehrte Damen und Herren, Reinhard Jirgl ist in den letzten Jahren richtig auffällig geworden. Sein Name wurde fast schon zu einem Symbol für etwas, was es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, zumindest arbeitete ein großer Teil des Kulturjournalismus daran, die letzten Reste davon endgültig auszumerzen: das Schwere nämlich, das Tiefe, das unverständliche Deutsche.1 Natürlich ist das vor allem ein Missverständnis, aber Jirgl wurde immer wieder bemüht, wenn es um das Sperrige ging und um Lesehürden, ja – Jirgl scheint geradezu Barrikaden zwischen sich und dem Leser aufgebaut zu haben, Barrikaden aus Buchstaben und Satzzeichen und Interjektionen; man brauchte nur ‘Jirgl’ zu sagen, und man wusste Bescheid. Jirgl ist das, wovor uns die Germanistikprofessoren immer gewarnt haben. Seine Texte wurden zum Gegenentwurf dessen, was man für ‘Popliteratur’ hielt oder das neue deutsche, junge Erzählen. Aber vermutlich ist das alles ganz falsch. Wenn man genauer hinsieht, fällt vor allem eines auf: Zum selben Zeitpunkt, als die deutsche Gegenwartsliteratur anfing, so eine große Konjunktur zu haben, Mitte der neunziger Jahre, erschien auch Reinhard Jirgl zum ersten Mal in einer größeren Öffentlichkeit. Das kann kein Zufall sein. Reinhard Jirgl kam buchstäblich aus dem Nichts. Er schrieb und schrieb, seit er 1978 seine Stellung als Elektronikingenieur aufgegeben hatte und sich als dreizehnter Beleuchter bei der Ostberliner Volksbühne über Wasser hielt. Er schrieb die ganze DDR entlang, ohne dass sich von diesen Papiermassen etwas abgetragen hatte; 1989 lagen sechs dicke Manuskripte in den Schubladen. Das Buch Abschied von den Feinden, mit dem er 1995 endlich für eine größere Öffentlichkeit hervortrat, war keines der alten, sondern sein neuestes Manuskript – da trat ein Autor, der die Vierzig schon überschritten hatte, ohne öffentliche Vorgeschichte, aber mit einer autonomen, manisch entwickelten eigenen literarischen Sprache auf die Bühne. Es ist eine Literatur, die mit dem Sterben des Staates wuchs: Die Sprache wurde immer übermächtiger, je mehr das Leben aus dem zu Beschreibenden wich. Der Alltag in diesen Texten besteht nur noch aus Resten, sämtliche
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Helmut Böttiger
Gegenstände und Lebewesen sind grau und zerschlissen, und in ihnen lauern die Zeichen, die sich zu furiosen Endzeitgemälden zusammensetzen. Die Bilder kommen zwar aus dem Arsenal des verrottenden Sozialismus, sie stehen aber für weit mehr. Der Zerfall der DDR setzte eine Literatur frei, die über die DDR hinausweist und akute Zeitgenossenschaft fasst. Die schwarze Phantasie dieser Ostmoderne, diese apokalyptisch anmutende Negation aller Utopien und humaner Werte hat nur noch bei Wolfgang Hilbig einen Vergleich. Jirgl jedoch ist sperriger. Vermutlich hat das etwas damit zu tun, dass er nicht aus dem proletarischen Vollen schöpfen konnte und musste, sondern aus der Familienhölle der wie auch immer Angestellten heraus schrieb. Jirgls Hölle ist die des Kleinbürgertums der DDR, und das ist etwas äußerst Zähes, Pechfarbenes, das verzerrt und verrenkt nach seinem Ausdruck schreit. Familienkonstellationen stehen bei Jirgl immer im Mittelpunkt, im kleinen spiegelt sich die große Brache wider. Das erste veröffentlichte Buch von Jirgl enthält schon das vollständige Programm, das besagt allein der Titel: MutterVaterRoman. Die gesamten achtziger Jahre hindurch lag dieses Buch beim Aufbau-Verlag, bis es endlich 1990, als sich überall die Rahmenbedingungen zu ändern schienen, hektisch nachgeschoben wurde – in einer Reihe, die ‘außer der reihe’ hieß. Und noch viel später, äußerst spät, nämlich erst im Jahr 2002, erschien ein dicker Wälzer, der drei große Manuskripte sammelte, die Jirgl in den achtziger Jahren geschrieben hatte. Der Hanser Verlag wollte dabei, trotz der koketten Auflage von 300 Exemplaren, nicht den Eindruck einer bibliophilen Preziose erwecken. Die drei frühen Bücher wurden in einer biegsamen Kladde im DIN-A-4-Format zusammengeheftet, wie aus dem Copy-Shop. Die Texte sind wie eine Examens- oder Magisterarbeit ins Reine geschrieben, und die Lettern auf der Titelseite wirken wie aus einer Zeit getippt, als es noch Schreibmaschinen gab, und so etwas Ähnliches war es auch: Die ästhetische Übersetzung der Jirglschen Texte ins Aufschreibesystem ist der alte Robotron-Computer der DDR, der Einbruch des technisch Gewaltigen und Grobschlächtigen in die geduckte und abblätternde Schreibkammer des Prenzlauer Bergs. Hier ist Jirgls Literatur im wilden Urzustand zu besichtigen: Eine Sprachwüste, in der sich Zeichenschichten herausarbeiten, und die ausdifferenzierten Perspektivenwechsel und Sprechsituationen der späteren Romane fußen auf dieser Basis, die als nihilistisches, alles zersetzendes
Laudatio auf Reinhard Jirgl
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Theater kenntlich wird: Trümmermonologe, die sich keiner dramaturgisch gängigen Form mehr fügen wollen. Heiner Müllers Produktionsästhetik hat in Jirgls unbändiger Materialsammlung deutliche Spuren hinterlassen. Vor allem der erste Teil, ‘Klitaemnestra Hermafrodit’, weist auf die in der DDR damals übliche Aneignung der Antike – ein Umspielen der Sklavensprache, ein Ausweichen auf scheinbar zeitlose Szenarien. Es funktioniert wie bei Heiner Müller: Der Text springt zwischen Prosa und Sprechtexten, und das zeitweilig hohe Pathos, das die klassische und aufklärerische Aneignung der Griechen zitiert, wird durchbrochen von Gossensprache und Dialekt. Die Genealogie des Tötens beweist, dass Jirgl in der DDR undruckbar war. Das hielt ihn von allen Fährnissen staatlich legitimierter Opposition fern. Mit seinen Sprachmonolithen entzog er sich dem staatlichen Zugriff von vornherein. In landläufiger Prosa, in realistisch und psychologisch vorgeformten Erzählhaltungen konnten in der DDR durchaus kritische und nonkonforme Inhalte veröffentlicht und verbreitet werden. Jirgls Inhalt aber war vor allem die Form. Diese Form konnte, so sehr manche Gutmeinende dies auch versuchten, nicht mit dem sozialistischen Realismus zusammengedacht werden. Und wie sich in den neunziger Jahren herausstellte: mit dem kapitalistischen Realismus auch nicht. Jirgl entfernt sich radikal von der üblichen Rechtschreibung und von der gewohnten Grammatik. Die Abfallprodukte der Gesellschaft, der Familie, des Glaubens an Ideale und soziale Möglichkeiten: Sie durchdrangen die immer dicker werdenden Romane, und das differenzierte auch die ästhetischen Mittel dieses Autors immer weiter aus. Jirgl hat in die deutsche Sprache einige eigene Pflöcke eingetrieben, so dass sie zu einer Kunstsprache wird, zu etwas Stilisiertem und fremdartig Rhythmisiertem. Er unterscheidet allein fünf Formen der Schreibweise für die Konjunktion ‘und’, das Arno Schmidtsche Buchhalter-& ist nur eine davon. Effektvolle Signale wie Frage- oder Ausrufezeichen stehen am Satzanfang, um den Sprech- und Denkfluss ungeahnt zu stauen, und am befremdlichsten wirkt Jirgls Manie, fast alles, was mit den Pronomen ‘ein, eine, eines’ und mit der Zahl ‘eins’ zu tun hat, auch als Zahl zu schreiben: Mit einer 1. Diese Genauigkeit, diese Ausdifferenzierung des sprachlichen Materials ist das Gegengewicht dazu, dass alle Sicherheiten schwinden, dass nichts Vorgegebenes mehr trägt. Das exakte Zeichensystem entspricht dem
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Helmut Böttiger
Verschwimmenden dessen, was erzählt wird. Jirgls Satzzeichen sind Zeichen der Auflösung. Der DDR hat Jirgl sein Schreiben entgegengesetzt. Während die Realität immer weniger greifbar wurde, erwies sich einzig und allein die Sprache als kontingent – bis hin zu einem Bild in Abschied von den Feinden, das wie die Vorstudie zu einer Poetologie des Autors Jirgl wirkt. Über den kollektiven Selbstmord eines Indianerstamms wird da gesagt: ‘Die sterbenden Leiber verrenkten die Gliedmaßen zu klobig abgewinkelten Figuren – sie ähneln darin ihren Schriftzeichen’ (AF 214). Schrift und Körper: In der literarischen Vergegenwärtigung verschmilzt dies, in den Buchstaben wird die Subjektivität aufgehoben. Dass die Schrift das Leben in sich aufgesogen hat, wird in vielen Bildern Jirgls deutlich. So endet der große Roman Hundsnächte damit, dass eine der Hauptfiguren in einer Ruine verendet. Wo das Leben aufhört, wo der Roman beginnt, wo das Leben in den Roman übergeht, wird dabei offengelassen und als das eigentliche Thema bewusst. Die Figur des Bruders, die schon in Abschied von den Feinden eine zentrale Rolle spielte, hat sich nun, am Ende der Hundsnächte, literarisch verselbstständigt, sie ist zu einem Sinnbild für das Schreiben selbst geworden. ‘Ich schreibe also bin ich’ (H 512), hallt es aus der Ruine; die Figur schreibt, während sie stirbt. Das Schreiben befördert das Sterben, gewährt aber parallel dazu in paradoxer Weise einen Aufschub. Die hitzigen, expressiven Satzbilder, die Jirgl dafür findet, treiben diese Vision immer weiter: Die schimmligen Tapetenreste, die beschriftet werden, das zittrige Gekrakel mit einem Bleistiftstummel. Am Ende schreibt die Figur fiebernd mit ihrem Blut weiter, überführt ihr Leben symbolisch in die Schrift. Das ist die ungeheure Wucht von Jirgls Texten: Diese Literatur macht tabula rasa. Diese Literatur meint es ernst. Und diese existenzielle Dimension ist wohl nur vor dem Hintergrund der DDR her verstehbar. Es gibt einen Punkt, an dem das landläufige Erzählen offenkundig nicht hinreicht. Jirgls Textur besteht aus Fragmenten, aus Prosablöcken, aus theatralischen Monologen oder Dialogen. Zusammengehalten werden sie vor allem von einer unverwechselbaren Grundfarbe der Bilder, von immer wiederkehrenden Motiven. Da ist das gesamte Bewusstseinsgeröll des zwanzigsten Jahrhunderts am Werk, da geht es expressiv zu und anarchisch, da zerstieben alle Ideologien und Weltentwürfe.
Laudatio auf Reinhard Jirgl
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Eines der charakteristischen Jirglschen Motive sind zum Beispiel die Fliegenschwärme in Abschied von den Feinden. Fliegen fallen in Schwärmen am Weihnachtsabend in die Kirche der mecklenburgischen Kleinstadt ein; Fliegen verkleben die Scheiben des stillstehenden Zuges, Fliegen umschwirren den Körper eines gepfählten Eroberers im mittelamerikanischen Dschungel wie den Körper des Pferdes, das an der DDR-Grenze im Minenfeld zerschunden wird. Die Fliegen, die uniformen Insekten sind ein Signum, das den Sprachfluss dieser Romane, ihr Zeitbild durchdringt: Sie sind Sendboten des Zersetzenden. Die Fliegen scheinen keinen eigenen Lebenswillen zu haben, sondern in einem fremden Auftrag auszuschwärmen, im Dienst fremder, uneinsehbarer Mächte zu stehen; es ist das Schwirren eines totalitären Systems, das die Individualität des Einzelnen auflöst. Nach den beiden großen DDR-Phantasien Abschied von den Feinden und Hundsnächte betrat Jirgl neues Terrain. Im Jahr 2000 erschien Die atlantische Mauer. Die großen Bücher Jirgls aus den neunziger Jahren hatten auf die Implosion der DDR reagiert. Nun stehen die USA, der Fluchtpunkt in der Neuen Welt, im Mittelpunkt des Schreibens. Der Osten ist aufgebrochen. Es geht in diesem Roman um Menschen, die abrupt alle gewohnten Bezüge hinter sich lassen. Hier erschreibt sich Jirgl neue Felder, ohne dass dies seiner Ästhetik irgendeinen Abbruch täte. Dass man aus seiner Vergangenheit nicht herauskommt, war immer ein Grundimpuls seines Schreibens, und hier wird das mit konkreten Ausbruchsversuchen bewiesen. Die Welt ist zwar nicht zu retten, aber sie ist größer geworden. Auch in der Atlantischen Mauer geht es um das, was einmal kurz und präzise ‘das Un-Glück-Geschichte’ genannt wird. Dass es verblüffend viele Gemeinsamkeiten zwischen der DDR und den USA gibt, zwischen dem entindividualisierten Osten und den leeren weiten Feldern des Kapitals, kommt Jirgls Wahrnehmungswut augenscheinlich zugute. Spürbar wird plötzlich, dass es Jirgl gar nicht so sehr um die DDR geht. Er greift über sie hinaus, er schreibt sich in ihre Zukunft genauso wie in ihre Vergangenheit. Die DDR war nur ein Kristallisationspunkt unter vielen anderen. Das neueste Buch Die Unvollendeten, das im Frühjahr 2003 erschienen ist, macht das schon durch seine Form deutlich. Es erzählt eine Familiengeschichte über vier Generationen hinweg, und einen Schwerpunkt bildet dabei die Vertreibung aus dem Sudetenland. Den glühenden MonologKaskaden des ersten gedruckten Buches, des MutterVaterRomans von 1990,
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Helmut Böttiger
wird damit eine Art Fundament gelegt; die autobiographische Folie des Jirglschen Schreibens ist noch nie so deutlich geworden wie in diesen Unvollendeten. Mit einer Reaktion auf die Sebaldsche ‘Luftkrieg’-Diskussion oder auf Grass’ Untergang der ‘Wilhelm Gustloff’ hat Jirgls Buch nichts zu tun. Es geht nicht um eine politische Bewertung oder um eine zeitgeschichtliche Differenzierung. In den wüsten Bildern der Vertreibung, in eindringlichen Szenen von Hass, Tod und Gier bleibt nichts von den Versuchen übrig, den Menschen humanistisch zu veredeln – schon bevor die sozialistische Diktion auf deutschem Boden Platz greift. Es ist frappierend, wie hautnah Jirgls Sprache, seine immer wieder innehaltende und neu aufbrechende Form die Atmosphäre längst zurückliegender Tage vermittelt. Mit fast naturalistischen Schilderungen, grob- wie feinkörnig vergrößerten Details tritt dem Leser die chaotische, mörderische Zeit von 1945 und 1946 entgegen. Vier Frauen stehen im Mittelpunkt: Johanna ist mit ihren Töchtern Hanna und Maria, nach der kurzfristigen Vertreibung aus ihrer Heimatstadt Komotau, auf dem ‘Treck…’ (U 5), sie irren kreuz und quer durch Deutschland. Hannas Tochter Anna ist von ihnen getrennt worden. Sie findet nach etlichen Erniedrigungen und Zermürbungen zur Familie zurück, die in einem Nest in der Altmark, am äußersten Rand der Sowjetischen Besatzungszone gestrandet ist. Es gibt viele Momente in diesem Buch, die sich festhaken. Der schwächelnde Hund, der von den streunenden Hunden in Komotau bei lebendigem Leib gefressen wird. Die Angehörigen der SS, die von den Tschechen geschnappt und gespenstisch leise auf einem Sportplatz hingerichtet werden. Der spitze, schwarze Mund der kleinen Frau, die einer Deutschen auf deren Spießrutenlauf zum Bahnhof den Ring von der Hand reißt. Die vier zentralen Frauen sind zwar zweifellos Opfer, doch es ist eigentümlich, dass sie nicht ausschließlich als Opfer erscheinen. Die katholisch-starre, selbstgerecht-duldende Haltung, mit der sie die Ereignisse hinnehmen und akzeptieren, hat etwas Gespenstisches. Hier ist der Keim gelegt zu den Familiendramen, die Jirgl in all seinen Büchern entfaltet hat: Die Familie wird in ihren verqueren Gefühlssträngen, in ihren Dumpf- und Gemeinheiten als zerstörerischer Staat im kleinen gezeigt, in ihr ist die Monströsität der DDR bereits angelegt. Der zweite Teil des Romans, der die
Laudatio auf Reinhard Jirgl
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gesamten vier Jahrzehnte der DDR umfasst, wirkt deswegen wie ein Appendix zu den breit und minuziös geschilderten Monaten von Vertreibung und Nachkrieg. Der dritte Teil, der an wenigen Tagen des Jahres 2002 spielt, nimmt das Zeitgefühl des Anfangs wieder auf: Der 1953 geborene Sohn Annas hat Krebs, liegt in der Charité und schreibt einen letzten, schonungslosen Brief an seine Frau, mit sarkastischen Ausfällen gegen den zeitgenössischen Literaturbetrieb, wie man sie von Jirgl noch nicht gelesen hat. Niedrige Instinkte, Verlogenheit und Dumpfheit – dies ist mühelos auch in der neudeutschen Gegenwart aufzufinden. Zwischen den Tagen der Vertreibung und der Krebserkrankung des Nachgeborenen gibt es einen Zusammenhang, der aber nicht eigens thematisiert wird. Nur bestimmte Motive und Assoziationsnetze verdichten das Ganze, sie werden einmal ‘Zeit-Tunnel […] zwischen Heute u: Damals’ (U 210) genannt und tauchen in allen zeitgeschichtlich aufgeladenen Situationen wie nebenbei auf: Es sind beiläufig wirkende Bilder wie ‘die ausgeblichenen Socken’, ‘Hammerschläge’ oder ‘das schwarze O’. Durch diese immer wieder genannten Wörter, die etwas anderes sind als Leitmotive, entsteht so etwas wie ein Durchbruch durch die Zeiten, wird die Chronologie durch ein anderes Prinzip außer Kraft gesetzt – Chiffren der Zeitlosigkeit und der fortwährenden Lähmung. Die Funktion dieser Wörter erinnert im Übrigen an die Mechanismen der Traumdeutung: Nicht die schrecklichen Alp-Bilder sind affektiv stark besetzt, nicht das Schlachten und Vernichten – es herrscht eine Art Schmuggel-Prinzip, durch das der Träumende bei scheinbar banalen Anlässen schweißgebadet aufwacht. Die letzten Worte des Buches, vom letzten, männlichen Ausläufer der Familie auf seinem Sterbebett gesprochen, sind in ihrer Lakonie äußerst beredt. Vorher wurde wissenschaftlich exakt das Zellwachstum der Krebszellen beschrieben, und dann heißt es zum Schluss: ‘Es geht weiter’ (U 251). Damit schließt sich auch ein Bogen zum ersten Satz. Dieser setzte unvermittelt ein mit: ‘Später rückten Lautsprecherwagen in die Ortschaft ein’ (U 5). Es gibt ein Vorher und ein Künftiges, das der Roman scheinbar nicht fassen kann, es aber unmerklich bereits in sich aufgehoben hat. Jirgl hat unbeirrt weitergeschrieben, seit 1978 schon, quer zu allen vermeintlichen Zeitbedürfnissen und Geschmacksurteilen. Und dass er so lange durchgehalten hat, wird jetzt allmählich belohnt. 1999 erhielt er plötzlich den Breitbach-Preis von der Mainzer Akademie: Damit konnte er
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Helmut Böttiger
unbehelligt ‘drei Jahre weiterschreiben’, wie er sagte. Jetzt kommt der Kranichsteiner Literaturpreis hinzu, und der ‘Rheingau-Literaturpreis’ vor einigen Wochen war bereits eine gewisse Versöhnung: Mit ihm sind nämlich auch 111 Flaschen Rheingau-Riesling verbunden. Damit werden die Gegensätze von West und Ost spielerisch aufgehoben, was bei diesem Autor besonders angeraten scheint. Denn Jirgl hat als erster Autor massiv darauf aufmerksam gemacht, dass der Osten nicht nur ein geographischer, sondern auch ein existenzieller Zustand ist und schon längst auf den Westen übergegriffen hat. Texte, wie sie Jirgl schreibt, beweisen, dass die Literatur gerade auch heute ihren eigenen Raum hat. Es ist nicht mehr der Raum, den sie besaß, als sie noch das Leitmedium war. Es ist nicht mehr der Raum aus der Zeit, bevor es Film, Fernsehen und Informationstechnologie gab, und literarische Texte, die heute die Möglichkeiten dieser Medien bloß kopieren, sind mit ihrer Veröffentlichung bereits vergessen. Texte wie die von Jirgl aber zeigen, dass es etwas gibt, was nur mit den ureigenen Mitteln der Literatur ausgedrückt werden kann. Es ist nicht sofort übersetzbar. Es behauptet seinen Eigensinn. Und es entrümpelt den Kopf: Plötzlich erkennt man, dass manchmal – und sei es nur alle paar Jahre – ein Buch erscheinen kann, das alle Berechnungen außer Kraft setzt. Dann merkt man wieder, wofür die Literatur eigentlich da ist. Anmerkungen 1
Diese Laudatio auf Reinhard Jirgl wurde zum Anlass der Verleihung des Kranichsteiner Literaturpreises im November 2003 gehalten.
Clemens Kammler und Arne De Winde ‘Schreiben – das ist meine Art, in der Welt zu sein’ Gespräch in Briefen mit Reinhard Jirgl I Allgemeine Positionierung im literarischen Feld CK/ADW: Noch im Jahr 2000 sprach Iris Radisch in einem ‘DDR-Literatur der neunziger Jahre’ betitelten Text + Kritik-Heft von ‘Zwei getrennten Literaturgebieten’ in Deutschland.1 Traf diese Diagnose Ihrer Meinung nach zu und wenn ja, hat sie noch immer Gültigkeit? RJ: Ich kenne zwar diesen Text von Iris Radisch nicht, kann also zu einer dort lesbaren Diagnose nichts sagen, doch werden gelegentlich an mich zum Thema ‘DDR-Literatur’ entsprechende Fragen herangetragen, zu deren Beantwortung ich etwas Grundsätzliches sagen möchte. Weil der Begriff ‘DDR-Literatur’ auch die Bezeichnung des (glücklicherweise 1990 verschwundenen) Staates DDR in sich trägt, lag und liegt bei solcherart vorgenommener Begriffsbildung die Gefahr eines grundlegenden Missverständnisses in der Luft, nämlich die auf dem Gebiet der einstigen DDR entstandene Literatur, geschrieben von Schriftstellern, deren Sozialisation in ebendiesem Land stattgefunden hat, zu verwechseln bzw. in eins zu setzen mit einerseits ‘staatstragender’ Literatur sowie allgemein eine thematische Grundausrichtung (Pro oder Contra) auf die DDR zu vermuten. Zudem legt ein solchermaßen unscharfer Begriff die irrige Vorstellung einer kollektiven Geschlossenheit bei den Schriftstellern, ihren Produkten und der Leserschaft nahe, und sei dies auch nur innerhalb gewisser ‘Szenen’ und ‘Nischen’. Weder die literarische Thematisierung gesellschaftlicher Verhältnisse während der DDR-Jahre, noch die Auseinandersetzung mit staatlichen Systemerscheinungen wollen mir ausreichend Grund sein, überhaupt von ‘DDR-Literatur’ sprechen zu können. Entscheidend hingegen waren und sind, neben den sozialen die geistigen Herkünfte der einzelnen Autoren, in ihren Arbeiten (bewusst oder nicht) gesuchte und festzustellende Zugehörigkeiten zu Stilrichtungen und Formkonzepten innerhalb der
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aktuellen Literaturen oder aber deren Geschichte (z.B. Expressionismus, Neue Sachlichkeit etc.). Ich halte es daher für wesentlich produktiver, die während der DDR-Zeit und danach von Schriftstellern, die in der DDR sozialisiert wurden, geschriebenen Werke nach den zuletzt genannten Kriterien zu beurteilen; einen totalisierenden Begriff ‘DDR-Literatur’ (wie alle totalisierenden Begriffe) erachte ich für unzureichend. Man lasse sich doch von den einst großmäuligen und heute weinerlichen Parolen derer nicht täuschen, die aus der DDR ein bis dato neues historisches Ereignis im Sinn des Humanismus und des Menschheitsfortschritts herbeireden wollten. Die DDR, und mit ihr der gesamte sowjetisch geprägte Staatssozialismus, war seinem Wesen nach ein im Bürgertum des 19. Jahrhunderts stehen gebliebenes System, um daraus den Terror des losgelassenen Kleinbürgertums aufzurichten. Der begann 1917 in Russland, endete 1989 in Mitteleuropa und war daher ein Spezifikum innerhalb der Historie der Bourgeoisie. Somit sind sämtliche Erscheinungen innerhalb dieser staatssozialistischen Periode, wie die aller übrigen, anhand der Kriterien bürgerlicher Politik-, Ökonomie- und Kulturkritik zu betrachten, und dazu gehören auch die in der DDR geschriebenen Literaturen vor 1989. Ohne Frage gab und gibt es Unterschiede in den einzelnen Werken, die mit der (sozialen, gesellschaftlichen) Verortung (verzeihen Sie das schreckliche Wort) des einzelnen Autors zu tun haben. Die Spezifik in den gesellschaftlichen Verhältnissen während der DDR-Jahre ließ naturgemäß andere Schreibsituationen und damit andere Werke entstehen, als z.B. in Westdeutschland. Das ist aber kein Widerspruch zu dem eben Gesagten, weil in der Einzelbetrachtung der Werke auch die singulären Machteffekte – sowohl auf den einzelnen Autor als auch die von ihm ausgelösten – deutlich werden, gegen die oder mit denen die Werke zustandegekommen sind. Ein in Westdeutschland aus politischen Gründen problematisierter Autor (ich denke z.B. an Peter-Paul Zahl, gleichgültig, was man literarisch von seinen Werken hält) dürfte in seinen Repressionserfahrungen kaum Unterschiede aufweisen gegenüber solcherart von der DDR-Staatsführung verfemten Autoren, obwohl die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der ehemaligen Bundesrepublik und der DDR verschieden waren. Will man somit in den Werken deutsch-deutscher Autoren echte Unterschiede ausfindig machen, und sie sind beträchtlich, dann sollte der
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Blick auf die singuläre Situation eines jeden Autors gerichtet sein, was zugleich heißt, auf pauschalisierend vereinheitlichende Zuschreibungen und einseitige Ausrichtung auf eine Staatsmacht zu verzichten, selbst dann, wenn der eine oder andere Schriftsteller dies ausdrücklich für sich in Anspruch genommen hat. Denn es gab niemals ‘die’ DDR, ebensowenig wie es ‘die’ Bundesrepublik gab, desgleichen ‘der’ DDR-Bürger und demzufolge ‘die DDR-Literatur’ nicht existierten. CK/ADW: Wie würden Sie – ggf. abweichend von den diversen Etikettierungen der Literaturkritik – Ihre eigene Position innerhalb des Spektrums deutschsprachiger Gegenwartsliteratur bestimmen? RJ: Seit ich vor etwa 15 Jahren von der Öffentlichkeit mit meinen Arbeiten als Schriftsteller wahrgenommen wurde, ist von verschiedenen Kritikern kaum ein Autorenname der Moderne vergessen worden, mit dem ich nicht angebliche schriftstellerische Ähnlichkeiten oder Zugehörigkeiten haben soll. Mit andern Worten: Die Ratlosigkeit, meinem Werk ein Etikett zu verpassen, um mich daran zu messen und zu wiegen, ist so groß, dass die Suche nach Etikettierung mitunter wichtiger erscheint als die Kenntnisnahme meiner Arbeiten als solche. Ich schreibe nicht, um in einem etablierten Ordnungssystem unterzukommen, eher umgekehrt geht es mir darum, aus den Wirklichkeiten des Ich und des Außen, diesem Konflikt- und Spannungsfeld des Menschen, meine eigene textuelle Ordnung (in Orthografie und Zeichensetzung) zu (er)finden. Wie diese Ergebnisse dann von der Kritik eingeordnet werden, und ob ich mich daraufhin wiedererkenne, das ist mir, wie betont, gleichgültig. Das Tier im Wald bekümmert sich nicht um Linné. II Ästhetik, Intertextualität CK/ADW: Lassen Sie uns zunächst noch einmal zu Ihren literarischen Anfängen zurückkehren. Wie stellte sich Ihnen als Schriftsteller der ehemaligen DDR das Verhältnis zwischen Leben und Kunst dar? Funktionierte das Lesen und Schreiben von Literatur gewissermaßen als eine Überlebungsstrategie, eine ‘Methodik des Entkommens’ aus einer das Individuum entwertenden Realität?2
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RJ: Zunächst ist das zu bejahen, doch läuft es nicht (im Übrigen auch bei Arno Schmidt nicht) auf einen simplen Eskapismus hinaus. Ich verstehe mein Schreiben als eine Form des Angriffs: auf das erniedrigte Leben; auf das allzeit herrschende mentale und soziale Unrecht, das in meinen Texten mitunter eine solche Zuspitzung erfahren hat, damit es erkannt und verneint werden kann! Das Verneinen (d.h. die Verweigerung der Affirmation, auch der ästhetischen) hat dabei nicht auf dem Papier, sondern im Kopf des Lesers stattzufinden. Das hat nichts mit im üblichen Sinn verstandener ‘engagierter Literatur’ zu tun, meint nicht etwa Pro oder Contra einer politischen Partei oder Bewegung. Auch ist das vordergründig keine Frage von in den Texten transportierten Inhalten. Ich habe beim Schreiben sehr bald das Unzureichende, auch das Unlautere, empfinden müssen, die Bedeutung von Texten, nicht zuletzt deren politische, im Bereich des Inhalts allein zu suchen und festzumachen. Die Netze der Inhalte sind infolge ihrer Steuerbarkeit durch machtvolle Diskurse viel zu weitmaschig, will sagen: viel zu beliebig, um als Gradmesser für Bedeutung allein fungieren zu können. Hierbei handelt es sich allein um eine Problematik der Form. Allein die Formen, auch die literarischen, sind konkret. Anhand ihrer lohnt es zu streiten, wenn man will, sich zu engagieren. CK/ADW: Hatte die Möglichkeit, nach dem Fall der Mauer endlich ‘frei’ sprechen zu können, einen Einfluss auf Ihren Schreibstil? Anders gefragt: Wie haben sich die Bedingungen der literarischen Produktion in der Post-89Ära verändert? RJ: Der Wechsel hat sich bei mir in enorm positiver Weise bemerkbar gemacht, zuallererst auf der rein äußerlichen, praktischen Seite: Ich durfte erstmalig meine Manuskripte, auch die während der DDR-Zeit entstandenen, nach und nach veröffentlichen. Schließlich lag nach der ‘Wende’ das gesamte DDR-Gebilde als ein offener Steinbruch zutage, darin die Lebensläufe von Menschen verstreut, die mit dem Ende des Staates DDR ja nicht aufgehört hatten zu leben – eher umgekehrt. Und diese Fülle an Materialien, die auch nach literarischen Bearbeitungen verlangten, boten mir enormen Fundus. Insofern hatte F.C. Delius recht, wenn er 1993 in der Laudatio zu meinem Döblin-Preis sagte, dass ‘niemals zuvor die Zeit zum Schreiben so günstig
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war wie heute’.3 Freilich gilt es, das einmal in der Literatur bereits Gesagte und Gemachte nicht schablonenhaft nachzuzeichnen und in lediglich anderen Kulissen und Kostümen zu wiederholen. Ein ‘Recycling’ autoritär gewordener Verfahren zu betreiben, das wäre mir zu einfach und vor allem zu wenig. Vielmehr sind aus den Ergebnissen insbesondere der klassischen Moderne – der für uns zunächstliegenden, noch immer virulenten Literaturepoche – die für unsere Gegenwart erweiterten und durchaus neuartigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Das habe ich in meinen Arbeiten versucht. Die Widerstände, die jedwedem Schreiben sich entgegenstellen, sind für mich nach der ‘Wende’ in diesem Sinn eher materialhafter Natur. Das ist gegenüber der Zeit vor 1989 ein glückhafter Zustand, weil ich mich zudem nicht länger dafür entschuldigen muss, Schriftsteller zu sein, aber nichts veröffentlichen zu können. Ihre Frage schließlich nach Änderungen in meinem Schreibstil zielt, so höre ich das zumindest heraus, eher auf Änderungen in der Schreibweise. Den Stil bestimmt bekanntermaßen sowohl die bewusste Seite der SprachAuswahl, als auch die Gesamtheit von allem im Sprachlichen nichtbewusst Enthaltenen: so die physiologische Konditioniertheit des Schriftstellers; das in seiner Gegenwart übliche, verfügbare Sprach- und Umgangs-Sprechmaterial, kurzum die kommunikative Seite einer jeden Sprache. Dagegen wird unter Schreibweise ausschließlich der nach bewussten, frei gewählten Kriterien vollzogene Sprach-Zugriff verstanden. Erst in der Wahl seiner Schreibweise bekundet ein Schriftsteller seine Freiheit, wenn Sie so wollen, sein Engagement. Roland Barthes hat diesem Thema einige wesentliche Überlegungen gewidmet. Und diese Schreibweise suche ich aus dem Gegenstand und dem Material meiner je aktuellen Arbeit selbst herzunehmen, und zwar hinsichtlich sämtlicher Bestimmungsgrößen für einen Text: also Zeit, Tempi, Satzperiode, Sprachebenen etc. Und weil die Wechselwirkungen zwischen Außenwelt und dem Subjekt des Schreibers nach 1989, wie erwähnt, sich gehörig verändert haben, dürften gegenüber der Zeit davor auch meinen Schreibweisen größere Veränderungen widerfahren sein als zuvor. CK/ADW: Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund den Zusammenhang Ihres Oeuvres ein? Bemerken Sie eine gewisse stilistische oder thematische Entwicklung in Ihren Werken oder konstituieren diese eher ein
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monolithisches, auf die immergleichen historischen Traumata bezogenes Textgewebe? RJ: Ich bin, wie Sie wissen, unter den Verhältnissen der DDR sozialisiert, naturgemäß sind mir daher die verschiedenen Biografien, Denkweisen und Erfahrungen von gleichfalls in der einstigen DDR aufgewachsenen Menschen unmittelbar vertraut. Speziell der Konflikt zwischen dem Ich einer Person und den äußeren Lebensverhältnissen bildet von jeher einen Kernpunkt in meinem Werk. Somit interessierte mich in meinen Arbeiten, die während der DDR-Jahre entstanden sind (aber nicht veröffentlicht werden durften), ebendieser Konflikt, der in jedem Fall sowohl aktuell spezifische als auch zeit- und systemunabhängige Dimensionen aufweist. Das mag komplizierter klingen, als es ist. Dahinter verbirgt sich lediglich ein – mit Beziehung auf Foucault – ‘archäologischer’ und ein ‘genealogischer’ Blick auf den Schreib(Arbeits-)Gegenstand Mensch, der hinausführt über bloß zeitverhaftet politische Gegebenheiten. In den Arbeiten, die ich nach der Wende schrieb, haben mich dann zunächst die Fortsetzungen der Biografien dieser in der DDR sozialisierten Menschen interessiert: Wie haben, weil es auch diesmal eine ‘Stunde Null’ nicht gab, diese Menschen unter veränderten äußeren Bedingungen ihr Leben fortgesetzt? Wie müssen sie auf die Rückkehr alter, repressiver Typiken und zugehöriger Gestalten im neuen Gewand reagieren (siehe hierzu Hundsnächte)? Welche inneren und äußeren Gegebenheiten haben bei ihnen welche Reaktionen provoziert? Demzufolge konnte es nicht ausbleiben, dass meinen schriftstellerischen Weg auch die Lebensläufe von Menschen kreuzten, die aus der alten Bundesrepublik kamen. Sie habe ich längst in die Themenfelder meiner Arbeiten einbezogen. Ich habe dabei mitunter festgestellt, dass die in jedem Lebenslauf einmal getroffenen Grundentscheidungen über eine bestimmte Lebenshaltung – affirmativ oder verweigernd, gleich unter welchen äußeren Gegebenheiten – allemal entscheidender und prägender waren und sind, als die äußerliche, lediglich akzidentelle Zugehörigkeit zu einem Land. Bisweilen erhielt ich den Eindruck, dass auf beiden Seiten der Mauer Menschen auf gleicher Höhe gelaufen sind, und als die Mauer dann fiel, stand man sich unmittelbar gegenüber. Das, trotz Unterschieden im Detail, zu erkennen und produktiv zu machen, war nicht allein zur damaligen Zeit
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wichtig, um sich weder an die Geschwätzigkeit noch an die kruden Einheitsraster medial vermittelter Feindschaftslinien (so der ‘Ossi/Wessi’Unfug) zu verlieren. Das gilt übrigens bis heute. CK/ADW: Auf der Suche nach historischen Vorbildern für Ihre Texte haben die Kritiker immer wieder auf die Prosa Arno Schmidts verwiesen. Wie wichtig war diese tatsächlich für Ihren literarischen Werdegang? Und was sind Ihrer Meinung nach die Unterschiede zwischen Ihrem hypermimetischen, alphanumerischen Sprachsystem und dem Schmidts? RJ: Praktisch von der ersten Minute an behauptete so mancher Rezensent meine schriftstellerische Nähe zu Arno Schmidt, und derlei geschieht bis heute. Auch Rezensenten sind mitunter konservativ (um es vorsichtig auszudrücken) und vermeiden bisweilen, ihnen liebgewonnene Wahrnehmungsmuster zu korrigieren. Ironischerweise wird der gleiche, einmal festgemachte Sachverhalt von dem einen als Lob und vom anderen als Tadel verwendet, so dass in summa diese Vergleiche sich gegenseitig wieder aufheben dürften.Nun sollte man allerdings auch beim Lob in dem Maße Gerechtigkeit walten lassen wie beim Tadel Genauigkeit. Beides scheint mir angesichts solchen Vergleichens allerdings eher der Reflexmotorik mancher Journalisten zu erliegen, die sich durch das einmal behauptete Signal dann den weiteren Blick auf das Andere, eventuell sogar Neue, das meine Schreibweise erbringen könnte, selbst versperren. Die Wahrheit, kurz gesagt, ist, dass die Werke von Arno Schmidt für mich seit vielen Jahren die Bedeutung des Mutmachers übernommen haben; Mut zu den eigenen Vorhaben zu entwickeln, die von Schreibkonventionen abweichen. Gerade das ist niemals zu unterschätzen, hat doch Arno Schmidt selbst seinerzeit die fiktive Zwiesprache mit Alfred Döblin gesucht und dem ‘Hetärengeschwätz’ der Kollegen mit Recht vorgezogen, um Zuspruch oder Kritik gegenüber den eigenen Formkonzepten auf diesem Weg sich zu verschaffen. In diesem Sinn sehe ich meine Nähe zu Arno Schmidt bis auf den heutigen Tag (alles andere wäre eine dreiste Anmaßung meinerseits). Aber machen Sie das mal einem Rezensenten klar! Zur Thematik des Mimetischen und des alphanumerischen Codes Folgendes: Meine Absichten und Motive für die Verwendung des gesamten
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alphanumerischen Codes, aus dem unsere Sprache nun einmal seit ca. viertausend Jahren besteht, habe ich vor etwa zwei Jahren in einer Poetikvorlesung unter dem Titel ‘Die wilde und die gezähmte Schrift’ sehr ausführlich erörtert, auch in der (unterirdisch gehegten) Hoffnung, daraufhin jene in Ihrer Frage angesprochenen Unterschiede zu dem Schmidtschen System deutlich werden zu lassen.4 Um den ursprünglichen Ansatz für meine Entscheidung, so zu schreiben wie ich schreibe, hier zu wiederholen, sei bemerkt, dass des Menschen Zugriff auf Wörter und Zeichen stets ein individueller ist, zeit seines Lebens nach Identität und Einsheit mit sich, der Welt und den Dingen in der Welt suchend. Hingegen die Betrachtung vom Standpunkt der Sprache – die nicht wäre, gäbe es den Menschen nicht, der benennt und spricht – ist allerdings dieser Mensch lediglich eine Durchgangsstation für die Wörter und Zeichen; deren Bestand, von der Grammatik geordnet, je weiter der Mensch in-sichgeht, um Wörter und Zeichen zu finden, ein desto allgemeineres, typisches Gut für die Sinnstiftung einer menschlichen Gesellschaft darstellt. Nicht also in seiner Tiefe, sondern allein auf seiner Oberfläche, dieser dünnen Schichtung des Ich, ist der Mensch individuell; hier erhält er seine Originalität. Möglichkeit bzw. Fähigkeit, in-sich-zu-gehen, seinen Bestand an Wörtern zu befestigen, um durch deren Allgemeingut in den untersten Sprachschichten selber allgemein, d.h. sozialisierbar und innerhalb einer Gesellschaft mitteilbar werden zu können, entscheidet über des Menschen Fähigkeiten, in einer Gesellschaft als integrabel sich zu erweisen. Späterhin, innerhalb der die Gesellschaft durch den Umgang mit den Regeln der Wörter und Zeichen ordnenden, gruppierenden und umgruppierenden Grammatik erfährt Sprache ihre fortlaufenden Sinn- und Bedeutungswandlungen. Alles Denken des Menschen heißt Denken in und mit den Wörtern. Die später zu Schrift gewordene Sprache, dem Gemeingut der Anfangsschicht entstammend, setzt, durch die hierarchischen Ordnungsprinzipien der Grammatik, Sprache und Wirklichkeit in Form von Gesellschaft als identisch. So lässt das Individuellste das Flüchtigste bestimmen. Das macht den in der Wirklichkeit seiner Sprache denkenden Menschen in diesem Sinn zu einem ewigen Anfänger. Entgegen dem Augenschein ist die von uralten Regeln geprägte Sprache daher die ‘wilde’ Sprache. Denn sie negiert die Oberflächenschicht des Ich, dort, wo, wie erwähnt, jedes Menschen Originalität sich formuliert, die jeden
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Einzelnen mit seinen Wörtern in seiner Sprachfindung von allen übrigen unterscheiden könnte, und prägt und überwacht mit der rigorosen Geste des Gesetzgebers ein normatives Sprachraster. Das verstehe ich unter ‘Wildheit’, man könnte auch sagen: Diktatur. Wildheit aber hat nichts mit Freiheit zu tun, ebenso wie der hemmungsloseste Mensch nicht der freieste Mensch ist. Mit andern Worten, die ‘wilde’ Sprache verhält mit diktatorischer Geste jegliches Sprechen und Schreiben vollkommen im Bereich der Kommunikation, während alle übrigen davon abweichenden Formen mehr und mehr der Ausdrucksseite von Sprache, der Information, zustreben. Hierher gehört auch der alte Satz der Informatiker: ‘Je mehr Kommunikation, desto weniger Information’. Den in solchem Stadium belassenen Menschen muss eine elementare Enttäuschung befallen, schließlich Trauer: nämlich Trauer über die Verwehrung, seinen Willen zum Ich in seiner Sprache zu entfalten oder zu verfalten, an den Wörtern sich zu bereichern, damit bislang nicht bestehende Wort- und Satzkonstruktionen sich zu erschaffen. Denn vielleicht ist diese Lust ja nur meine Lust?, diese Trauer trage nur ich?, diese Einsamkeit ist nur meine? Welchem Regelwerk diktatorischer Allgemeinheit sollte ich sie und mich dann unterwerfen und warum? Sollte die Angst so vieler, einer Gemeinschaft, einer Familie, Partei, einem Klüngel oder einem Verein nicht anzugehören, tatsächlich auch meine Angst sein? Und sollte ich mich daraufhin, wie ebenso viele, unter allen Umständen den Gesetzen der unheiligen Kommunikation unterwerfen? Warum sollte ich so etwas wollen müssen? Die Schrift, zusammenfassend gesagt, ist vor viertausend Jahren aus den Körpern ausgebrochen; im gelungenen Text findet sie dorthin zurück. Somit sucht im Schreiben das Inszenatorische – der Körper-Text, der auf der Bühne seiner Buchseiten steht – seinen Ausdruck. CK/ADW: Wie Heiner Müllers intertextuelle Montagen verraten auch Ihre Texte eine starke Faszination für den antiken Mythos. Wo genau liegt für Sie die Sprengkraft dieses antiken Materials? Wir denken hierbei vor allem an Klitaemnestra Hermafrodit oder die Marsyas-Figur im MutterVaterRoman. RJ: In meinem Text Klitaemnestra Hermafrodit (die lautbezogene Schreibform ist wesentlich) habe ich die ‘glatte’ Oberfläche des zu Literatur
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gewordenen Mythos nicht einfach nachgezeichnet, sondern habe sie aufgebrochen und die Fragmente als Sprach-Material für Gegenwärtiges benutzt, wie auch umgekehrt: Gegenwärtiges der ‘mythischen Oberfläche’ implantiert, sie aufgeladen mit Geschehnissen aus einer anderen Wirklichkeit, um durch diese Diskontinuität ein mythisches System zu verbrauchen wie ein Industrieprodukt, somit Zugang zu finden für sedimentierte Erfahrungsschichten des Menschen. Die Verbrauchbarkeit eines Mythos wird hierbei signalisiert durch eine, von der Konvention schon im Titel abweichende Schreibform der Hauptfiguren: Klitaemnestra, Aegist, Krisotemis, Orest, Hermafrodit. Sowohl die antiken Mythen als auch die des Alltags (im Sinn von Roland Barthes) haben insofern Faszination für mich,5 weil in ihnen aufbewahrt die zeitlos gemachte historische Zeit liegt: Mythen stellen bekanntermaßen eine enthistorisierte, aus den Zeitläufen herausgenommene und verewiglichte Erzählung dar. Doch die erzählten Geschichten beinhalten – wie der Bernstein zuweilen ein Insekt – einen unermesslichen Reichtum an historischen Informationen, und die lassen sich durch Aktualisierung ihrer Erzählmuster reanimieren. Allgemein gesagt, ein Volk, das fähig ist, seine Seinsweisen in Mythen zu fassen, die befähigen, Lebenssituationen zu chiffrieren und weiterzutragen, ist, nach Nietzsche, kein junges, vielmehr ein ‘spätes’, ein ‘herbstisches’ Volk mit einer ausgereiften Kultur. Das gilt für die Antike jener Zeit, in der die beiden Euripides-Texte, auf die ich mich beziehe, geschrieben wurden wie für die Gegenwart. Noch immer, bis auf den heutigen Tag, vermögen daher antike Mythen unsere Konflikte in der gegenwärtigen Gesellschaft zu formulieren. So zeigen sich bisweilen – freilich stets in aktuellen Masken – die Wiederkehr der Medea-Gestalt oder die der Argonauten: der Kolonialismus und sein Echo, der Terrorismus. Aufmerksam machen möchte ich in diesem Zusammenhang noch auf eine andere als die genannte Bedeutung antiker Literatur für meine Arbeit. Obwohl ich Prosa schreibe, hat die Struktur antiker Dramen, insbesondere darin die des Chores, für mich große Bedeutung. Eine Bezugnahme darauf stellen in Abschied von den Feinden die Wir-Stimmen jener Dörfler dar. Dies nun ist eine recht weitläufige Assoziation, der gebotenen Kürze halber seien hier nur Stichworte erwähnt. Gelesen auf der Ebene von Macht-Beziehungen verdeutlicht der Chor die Pluralitäten der Macht als singuläre Mächte (eine Vorstellung, die 120 Jahre nach Marx auch in der Belletristik Allgemeingut
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sein sollte). Eindimensionale Gewaltherrschaft ist stets nur ein Spezialfall von Machtpraxis, und nicht einmal ein sehr effizienter, weil die volkstümliche Seite eines solchen Regimes dabei nicht zum Tragen kommt: die Macht von Unten, die die Staatsmächte ihrerseits formuliert, trägt und ausprägen hilft. Hieraus entsteht die Fülle aufeinander bezogener, von ‘Oben’ und ‘Unten’ gegenseitig abhängiger Machteffekte, von denen ich bisweilen rede. ‘Die’ Macht, so eine spätere Erkenntnis Foucaults, verbietet nicht nur, vielmehr, weil viel effektiver, gebietet sie: statt Verbote Strategien von Zulassung und Ausgrenzung, statt Gleichheit vor dem Recht Gleichheit von Chancen etc. Ein politisches System à la Orwells 1984 wäre in der Praxis nicht lange überlebensfähig. Das ist weder Beruhigung noch Beunruhigung angesichts politischer Entwicklungen, es zeugt vielmehr von der Geschmeidigkeit der Machtpraktiken, die mit der sexueller Macht am nächsten verwandt und ‘subkutan’ verbunden erscheint. CK/ADW: Ihre dichte Textur mit manchmal essayistischen Einschüben zeugt auch von einer intensiven und ambivalenten Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen, philosophischen und (natur)wissenschaftlichen Diskursen. Wie schätzen Sie diese Wechselwirkungen oder Grenzüberschreitungen zwischen Kunst bzw. Literatur und Theorie bzw. Philosophie ein? RJ: Ihre Frage spricht meinen Wunsch aus, den ich in Bezug auf die gegenseitigen Verschränkungsmöglichkeiten zwischen diesen Diskursen, die Sie ansprechen, habe. Spezialistentum ist eine Voraussetzung, kein Endzweck, und Wissen, egal aus welchen Quellen stammend, hat allemal produktive Potentiale, die auch ein Literat für seine Arbeiten als ‘Schreibschub’ einsetzen kann. Schließlich ist es ja nichts Neues, man muss es nur wieder einmal betonen, dass jegliches Schrifttum zunächst unter literarischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann. Ob ein Physiker eine Abhandlung schreibt über Elementarteilchen, ein Philosoph oder Soziologe eine spezifische Theorie oder ein Mathematiker einen Beweis formuliert – für all dieses Tun sind Erfahrung, Imagination, Kreativität erforderlich; Mithin alles Elemente, die auch dem Schreiben von Literatur zueigen sind. Ein gutes Beispiel für dieses Wissen sind Montaignes ‘Essais’, und das wieder zu erkennen erleichtert nicht allein den interdisziplinären Austausch, sondern
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präzisiert den Wirklichkeits-Begriff, den Grundbaustein für eines jeden Arbeit. Doch was einen in der Öffentlichkeit stattfindenden, interdisziplinären Austausch und eine daraus folgende Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe betrifft, so weiß ich auch um die vielfältigen Schwierigkeiten solcher Praxis einer anvisierten Wechselwirkung, nicht zuletzt, weil dabei immer Menschen im Mittelpunkt stehen. Und, wie Brecht sagte, ‘Menschen sind menschlich und keine Engel’ – immer werden Eitelkeiten, persönliche Bemächtigungsstrategien, Besitzstandswahrungen und ähnlich ‘naturhafte’ Kräfte dagegenwirken.6 Das aber ist kein Grund, zumindest in der eigenen, singulär stattfindenden Arbeit, auf diese Einflüsse zu verzichten und diesbezügliche Literaturen nicht für sich nutzbar zu machen. Poesie muss nicht immer inzestuös aus Poesie sich nähren. Und das Schöne am Schreiben ist die Einsamkeit des Schreibers; ich habe es dabei ‘nur’ mit mir selber und meiner Verantwortung zu tun. À propos Inzest. Mir waren und sind stets Kontakte mit Künstlern aus anderen Kunstgattungen – Maler, Musiker, Theater- und Filmemacher – für mein eigenes Tun als Schriftsteller wesentlich fruchtbarer, als der Kontakt zu Leuten der eigenen Zunft. Nicht allein, weil auf allen Etagen, wo ein Mozart ist, auch ein Salieri sich einfände, sondern weil die Formensprachen anderer Künste, so verschieden von der meinen, eben dadurch den Blick auf die eigenen Formkonzepte praktisch ‘von der Seite’ her, also mitunter aus einem heilvoll kritischen Abstand, gestatten. CK/ADW: Unmittelbar daran schließt sich die Frage nach der Besonderheit des Ästhetischen an: Ist die Kunst Ihrer Meinung nach ein autonomer Diskurs neben anderen, eine souveräne Subversion der Vernunft aller außerästhetischen Diskurse oder beides zugleich?7 RJ: Ich halte tatsächlich dafür, die Souveränität einer Kunstform wie die einer Wissenschaft nicht in der Abkapselung und Selbsthege zu sehen, sondern erst durch die Fähigkeit, anderes – durchaus den eigenen Positionen widersprechendes – Wissen in sich hereinzunehmen und zu verarbeiten. Erst daraus wird eigene Souveränität gegeben. Das Spartendenken ist obsolet, irgend disziplinäre Selbstständigkeit seit langem eine Illusion.
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In politischer Hinsicht allerdings kann es nirgends Autonomie, auch nicht in der Kunst, geben: Es hieße, den Machtbegriff sehr eingeengt sehen, nämlich einzig mit Bezug auf diese, gerade hier und jetzt herrschende Macht, während alles zu dieser Macht nicht auf direkte Weise Gehörende dann als machtfrei vorgestellt wird. Das aber ist ein Trugschluss. Denn innerhalb jeder Gesellschaft muss jedwede Kraft sich zunächst als solche artikulieren. Und sie muss das auf dem Tableau von Macht tun, bestenfalls als Gegen-Macht. Die Strukturen aber sind vergleichbar, besonders gut zu sehen an den so genannten ‘Unter’-, ‘Hintergrund’- bzw. ‘Independent’-Kulturen, nicht nur in denen der Diktaturen, wenngleich dort vielleicht am deutlichsten sichtbar. Nicht so sehr der Mut, eine Freiheit zu wagen, kennzeichnet den Autonomie-Gedanken, sondern viel eher, den Mut zu entwickeln, der darin besteht, sich von seiner eigenen Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit eine solche Vorstellung zu machen, welche die Grenzen dieser Fähigkeiten aufzeigt. Das Problem also, inwieweit innerhalb der Totalität des Wissens für den Einzelnen auch Wissen denkbar sowie durchführbar ist. Hierher gehört, was Kant über den öffentlichen und den privaten Gebrauch der Vernunft sagte.8 Im Ästhetischen, wenn man diese eigentlich unzulässige Trennung vom Politischen einmal tun will, scheint mir die Lage keineswegs anders: Auch hier vollziehen sich Zulassung und Abstoßung auf Herrschafts-Strukturen; jegliche Avantgarde überdies als Verlängerung (Sublimierung) von Asketentum. So erweist ‘das Ästhetische’ sich als ‘Andock-Station’ für alles Politische, was immer heißt für alles Machtbesetzte. Im Behaupten eines Autonomie-Prinzips (in der Kunst) will ich nurmehr eine pathetische SelbstTäuschung bzw. einen Werbetrick des (Kunst-)Marktes erkennen. Der Begriff der ‘Subversion des Ästhetischen’ erscheint mir überdies fragwürdig, zumindest ist er in der Vergangenheit allzuoft missbräuchlich als pure Markt- und Verkaufskategorie für irgendwelche Kunst-Produkte verwendet worden; er ist zu einem entwürdigten Begriff geworden. Ich denke, es geht nicht um Subversivität, sondern um Wissen, das in unmittelbaren Beziehungen zu den Eigengesetzlichkeiten sowohl einzelner Wissenschaften als auch einzelner Kunstgattungen steht. Diese Beziehungen und Besonderheiten gilt es produktiv zu machen. (Ein gewiss blauäugiger Wunsch angesichts einer komplett verwalteten, in Zuständigkeiten und Fonds
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ressortierten Gesellschaft wie dieser bestehenden – aber deswegen kein Grund, auf Wünsche zu verzichten.) CK/ADW: Auffällig ist Ihre Auseinandersetzung mit Denkmodellen einer konservativen, gleichsam antimodernen Moderne. Worin erblicken Sie die Aktualität und die Brisanz der kulturpessimistischen Philosophie des vergessenen und vielfach diffamierten Denkers Oswald Spengler? Denn, wie Jacques Bouveresse angemerkt hat, ‘gehört [es] heute [...] zum guten Ton, über Spengler zu spotten, ohne sich der Mühe zu unterziehen, ihn zu lesen’.9 RJ: Die Bemerkung von Bouveresse, die Sie zitieren, halte ich für zutreffend, es ließen sich zudem eine Fülle weiterer Namen nennen, die unter ähnlicher ‘Damnation’ standen oder noch immer stehen, denn die Kriterien, ob jemand im politisch-korrekten Sinn wohnstubenfähig sei, wechseln wie die Moden. Alles in allem ist dies eine leider seit langem, und, wie ich nach der ‘Wende’ feststellen musste, keineswegs allein an die pervertierten Formen östlicher Diskursmodelle gebundene Praxis. Woher sie kommt, sich festsetzen konnte und weshalb sie sich immer weiter fortschreiben kann – ein steiniges und letztlich unergiebiges Feld. Da ist es gut zu wissen, dass es in Deutschland (zuletzt in der Weimarer Zeit) auch einmal anders war. Zu Ihrer Frage nach Spengler. ‘Modern’, ‘antimodern’, ‘geschichts- und kulturpessimistisch’ (Wie mag wohl ein Geschichts- und Kulturoptimist reden? Wahrscheinlich mit dem Lautsprecherton für Großraumübertragungen während des Papstbesuchs in Zeiten wiederaufrüstenden Christentums...) – ich denke, all diesen Wertungen ist Spenglers Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes weit überlegen, denn es geht darin substantiell um sehr viel mehr.10 Was durch Fachwissenschaftler an spezifischer Kritik über alle Jahrzehnte seit dem Erscheinen des Untergang des Abendlandes an dieses Werk herangetragen wurde, um schließlich über diesen Philosophen das Vergessen zu verhängen, das dürfte sich ob der zänkischen Kleinlichkeiten oftmals selbst entlarven als eine lehrstuhlhafte Besitzstandswahrung und Anmaßung fachbeherrschender Ausschließlichkeitskompetenz, mithin berechnete Nörgelei derer, die sich ihre akademischen Pfründe nicht schlechtreden lassen wollen; mit echter Kritik hat das wenig zu tun. ‘Das Vergessen wirkt als Ausflucht’ – so schrieb zurecht einer seiner gewiss schärfsten und
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kompetentesten Kritiker im deutschsprachigen Raum nach dem 2. Weltkrieg, Adorno.11 Natürlich ist hier weder Ort noch Platz, sowohl über Spenglers Hauptwerk als auch über Adornos Kritik daran, die mir ihrerseits als kritikwürdig erscheint, zu referieren. Zumal jener Titel von Adornos Essay, auf den ich mich hier beziehe – ‘Spengler nach dem Untergang’ – mir zu eng an den tatsächlich untergegangenen NS-Staat gebunden erscheint, so als sei der Nationalsozialismus die Teleologie des Abendlands. Obwohl der Schock darüber, was zu diesen Zeiten an geplanter und durchgeführter Vernichtung des Menschen durch Menschen realisiert wurde, nur allzu verständlich ist. Dennoch, nicht weil ich meine, der Nationalsozialismus habe in grundsätzlicher Weise bis in die heutige Zeit sich ideologisch wirksam fortsetzen können, erscheint mir das Konstatieren eines Untergangs unzutreffend, weil das Abendland weit mehr ist als der Nationalsozialismus, und es ist noch immer nicht untergegangen, wobei die Untergangspotentiale derzeit wieder sehr aktiv zu wirken beginnen, aber auf anderen Ebenen als denen des Nationalsozialismus. Und genau hierin sehe ich die Aktualität, ja die Akutheit von Spenglers prognostischen Analysen. Ich habe jedenfalls bislang keine treffenderen und vor allem umfassenderen Einschätzungen des Kultur- und Politikzustands gelesen, als die Spenglers: die Beschreibungen der modernen Weltstädte mit deren darin hausender Bevölkerung – die Verwandlung von Demokratie zu Massendemokratie, Kultur zu Massenkultur, von der Aufklärung zum Aberglauben: das salbungsvolle Heilsgeschwätz und der Esoteriktinnef innerhalb ‘der Zweiten Religiosität’; die Verselbstständigung der politischen Parteien – die Versklavung der Massen durch die einstmals den freien Gedanken befördernden Medien: ‘Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit’.12 Sätze, die unmittelbar aus der Gegenwart zu kommen scheinen, sie sind aber über 80 Jahre alt. Nicht allein Spenglers spezifisch prognostische Analysen, die sich mit einer furchtbar hohen ‘Trefferquote’ auszeichnen, sind das für mich derzeit Bedeutende allein, sondern seine aus dem abendländischen Kulturzustand wie eine darin von jeher enthaltene Chiffre herausgelesene Gefahr der Verwandlung von Demokratie zur Gewaltherrschaft – Spengler gab dieser Entwicklung den treffenden Namen ‘Cäsarismus’: ‘Sieg der Gewaltpolitik
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über das Geld. Zunehmend primitiver Charakter der politischen Formen. Innerer Zerfall der Nationen in eine formlose Bevölkerung. Deren Zusammenfassung in ein Imperium von allmählich wieder primitivdespotischem Charakter’ – ‘Die Welt als Beute’ – ‘Langsames Heraufdringen urmenschlicher Zustände in eine hochzivilisierte Lebenshaltung’. Es gibt mittlerweile einen Namen für diesen fortschreitenden Zustand: Globalisierung. Ich möchte nicht darüber richten, ob Spenglers Hauptthesen, beruhend auf einer klimaxartigen Kulturkreis-Theorie, nun pessimistisch seien oder nicht; der unerträglich populistische Ton eines ‘gesunden Volksempfindens’ scheint mir an der Diffamierung Spenglers, er habe den Nationalsozialismus vorbereitet, mitzureden (wobei man geflissentlich seine rigorose Abwendung von Hitler und Goebbels übersieht). Weshalb ich Spenglers Philosophie nicht bis in die letzte Konsequenz zu folgen vermag, liegt an einer Auflösung der von ihm selbst stets in den Mittelpunkt aller geschichtlichen Entwicklungen gerückten TatsachenKategorie, um vielmehr in irrationalen, mystizierenden Begriffen wie ‘Blut’, ‘Rasse’, ‘kosmischer Takt’ sowie in einer a priori gesetzten, gewissermaßen überirdischen ‘Menschenkenntnis’ zu erstarren. Mithin setzt sich daraus eine (zwar unausgesprochene, doch folgerichtige) oberste Richterinstanz: ein strafender Jahwe als Weltbeweger und deren Richter zugleich. Zusammenfassend zu Ihrer Frage zurückkehrend: Jene Autoren, deren geistige Resultate, um es einmal so platt zu sagen, von mir zwar nicht in toto angenommen werden können, daraufhin in toto abzulehnen, wäre eine äußerst unproduktive Haltung. Vielmehr geht es mir um das Produktivmachen des Heterogenen. Diese Haltung darf nicht mit einem Plädoyer für die Beliebigkeit des anything goes verwechselt werden; ein solcher Denk- und Arbeitsansatz, um nun auch davon zu sprechen, bedarf als Maßstab und Navigator eines persönlichen Ethos. Das heißt, sein Subjekt innerhalb einer komplexen Arbeit (des Schreibens) zu platzieren als sein eigenes Objekt, um aus dem Zusammenwirken der Elemente, die diese Arbeit (des Schriftstellers) ausmachen, in gewisser Weise jetzt und hier sich selbst zu erfinden. Auf der einen Seite bestehe ich dabei auf der strikten Trennung zwischen Denken/Schreiben vom Sein. Auf der anderen Seite bedarf ich, um Denken und Erfahren in Literatur umzusetzen, der unterschiedlichsten Erkenntnisse
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anderer – Ideen und Analysenergebnisse mit Werkzeug-Charakter (Irrtümer und Irrwege stets in Rechnung gestellt) –, damit die Formentscheidungen für das Schreiben meiner Texte auch unmittelbare Bedeutung haben für meine ‘schreiberische Lebenspraxis’. III Erinnerung, Geschichte CK/ADW: Das thematische Gravitationszentrum Ihrer Texte ist die Erinnerung einer unvergangenen Vergangenheit. Ihre selbstreflexiven Romane (wie z.B. Hundsnächte) sind unheimliche Grenzgänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Leben und Tod. Sie sind denn auch von unzählbaren revenants, ‘Toten, die nicht sterben können’ bevölkert. Könnte man hier von Literatur als einem Medium der Totenbeschwörung sprechen? Und inwieweit kann solche Literatur im Sinne Heiner Müllers als ‘Liebe zur Zukunft’ interpretiert werden, kann Erinnerung mit anderen Worten als ‘Vehikel künftiger Befreiung’ fungieren?13 RJ: Im ersten Teil Ihrer Frage zielen Sie vermutlich auf Faulkners inzwischen zu Tode zitierten Satz aus Requiem für eine Nonne, wonach die ‘Vergangenheit niemals tot, sondern nicht einmal vergangen’ sei. An anderer Stelle, und ich finde bedeutender, heißt es, ‘daß die Zeit etwas Fließendes ist, das existent wird nur als punktuelle Inkarnation im einzelnen Menschen’. Weiter bei Faulkner: ‘Es gibt kein “Es war”, nur ein “Es ist”. Gäbe es ein “Es war”, dann gäbe es weder Schmerz noch Sorge’.14 – Nicht dem Tod als einzelne, vom Leben abgetrennte, ihm nicht zugehörende und daher mit tiefer Angst besetzte Instanz gilt mein Blick, sondern der (es versteht sich: unsentimentalen) Einbeziehung des Todes in des Lebens Erfahrung: ‘Der Tod ist die tiefste Erinnerung’, so lautet ein Epigramm von Ernst Jünger.15 Ich muss gar nicht die Mystiker bemühen, um diesen Ausspruch in seiner physischen Konsequenz auf ein überpersönliches Wissen zu verstehen. Wenn meine Literatur einer Beschwörung nahekäme, dann wohl der einer Lebensbeschwörung. Das ist, zumal in der verwalteten Zeit, wo die Existenz von Menschen den Verwaltern des Lebens in deren Ratlosigkeit oftmals lediglich als Kostenfaktor, Sozialschmarotzertum und überzähliges Fleisch erscheint, ein viel provokanterer Ansatz, als Literatur in Angst, Schmerz und Sorge regressiv zu ersticken. Ob damit aber zugleich eine Liebe zur Zukunft
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ausgesprochen ist, lasse ich dahingestellt. In jedem Fall erscheinen mir auch die ‘Ewig Morgigen’ nur als eine besondere Art von Gegenwartsflüchtlingen. Literatur allgemein gilt als Synonym für das Erinnern. Das ist richtig als die eine Seite von Literatur, die ihrerseits jedoch, und genau wie das Erinnern selbst, durchaus janusköpfig erscheint. Denn der Vorgang des Erinnerns zerbricht die einst bestehende Geschlossenheit dessen, aus dem die Erinnerungsinhalte bestehen; er bringt emphatisch aufleuchtende Einzelheiten hervor, indem er im Verwobensein mit der Gegenwart frühere Zusammenhänge verdunkelt und Abhängigkeiten aufkündigt. Mit andern Worten, das Erinnern erschafft sich ein eigenes (empirisches) Archiv und damit eine eigene Historizität. Entgegen der Übermacht des Realitätsprinzips also ist gerade das Punktuelle des Erinnerungsvermögens zunächst ein Mittel gegen die (psychische) Unterdrückung. Auch in diesem Sinn bietet das Erinnern, als die in der Psyche spezifische Wiederkehr des Vergangenen, einem Ausspruch Marcuses zufolge ‘das Vehikel künftiger Befreiung’.16 Dies einerseits. Demgegenüber, bemerkte Adorno in Minima Moralia, hat gerade durch die Verstrickung jedweden Erinnerns mit ‘dem Fluch der empirischen Gegenwart’, die Konstitution der ‘Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnis’, das Erinnern ‘darum nicht bloß den rettenden, sondern auch den infernalischen Aspekt’.17 Somit kann Erinnerung allein zum ‘Vehikel künftiger Befreiung’ ohne die bewusste (Trauer-)Arbeit des Subjekts nicht fungieren. Gerade aber durch die in dieser Gegenwart (wieder) gesuchte Ichlosigkeit, die Instabilität des Subjekts, um unter dem Dominat einer bewusst falsch verstandenen Flexibilität der Persönlichkeit eine vermeintlich sichere Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Arbeits- und Konsumtionsprozess zu erhalten, muss das Erinnern und dessen Bestand, das Gedächtnis, erheblich Schaden nehmen, indem es die in ihm enthaltene Dimension der Befreiung – nämlich Erfahrung – entwertet. CK/ADW: Nicht nur in Die Unvollendeten, sondern schon in Ihrem Erstling MutterVaterRoman greifen Sie Themen auf, die zu den verdrängten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte gehören, nämlich Luftkrieg, Flucht und Vertreibung. Was ist Ihre Meinung über W.G. Sebalds Hypothese eines
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‘Überlieferungsdefizits’, einer Tabuisierung des Bombenkriegs in der deutschen Erinnerungskultur?18 RJ: Ob man, auf den Bombenkrieg bezogen, von einem echten Tabu in der deutschen Nachkriegszeit sprechen kann, möchte ich zumindest bezweifeln (Ich werde auf den Unterschied von ‘Tabu’ und ausgeblendeter Wahrnehmung im Sinn von ‘Ungelittenheit’ noch zurückkommen). Was mich zweifeln macht – im Übrigen desgleichen bezüglich der Thematik von Vertreibungen deutscher Bevölkerung aus ihrer osteuropäischen Heimat nach dem 2. Weltkrieg –, was mich also an einem echten Tabu für diese Themen zweifeln lässt, das ist ihre Präsenz in der deutschen Nachkriegsliteratur. Hinsichtlich des Bombenkriegs hieße das zumindest den großartigen Roman von Gert Ledig Vergeltung übersehen, um nur dieses eine Buch zu nennen.19 Mit andern Worten: All diese Themen waren präsent, wurden der Öffentlichkeit angeboten – und meistens übergangen, denn die erste Phase des Erinnerns, insbesondere an Traumata, das ist immer ein gewolltes Vergessen. Woher im gesellschaftlichen Maßstab (West-)Deutschlands der Wille zum Ausblenden sowohl des alliierten Bombenkriegs als auch der Vertreibungen Deutscher aus ihrer osteuropäischen Heimat herrührt, das lässt sich leicht erahnen: Diese Ungelittenheit bezeigt ihre Herkunft aus der unmittelbaren Nachkriegszeit hinsichtlich einer vielleicht bis dato einmaligen gesellschaftspolitischen Konstellation. Aufbauend auf einer Verwobenheit von Ethik, Ökonomie und Politik ließ hier in den Westzonen ein ‘Wirtschaftswunder’ sich installieren, das auf einem kollektiven Schuldbekenntnis an den NS-Verbrechen basierte, wobei – und das ist die eigentliche Besonderheit – des Einzelnen wahre Meinung zur Schuldfrage weitgehend unwichtig blieb! Nicht selten fanden so ehemalige NSParteigänger und noch immer überzeugte Nationalsozialisten die Fort- und Weiterführung ihrer Berufskarrieren, solange sie nur verbal und habituell das ‘Schuldticket’ lösten, um im Zug zum gesellschaftlichen und privaten Wohlstand mitzufahren. Da störten sowohl die Erzählungen vom alliierten Bombenkrieg als auch die Vertreibungen, werfen sie doch ein differenziertes Licht auf die Siegermächte des 2. Weltkriegs. Auch jener späterhin in Westdeutschland geleistete ‘Lastenausgleich’ für Flüchtlinge und Vertriebene sollte diese Thematik genau mit den Hilfsmitteln der Ökonomie ‘entsorgen’,
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wie eine Schamkultur mit dem wirtschaftlichen und politischen Erstarken der Bundesrepublik sich etablieren konnte. Bei Schuldkultur versus Schamkultur, um diese von Helmut Lethen in seinem Buch Verhaltenslehren der Kälte verwendeten Termini aufzugreifen,20 verfügt erstere die Internalisierung von Normen zum individuellen Gewissen, während letztere die Normen in Konventionen gesichert sieht. Schuldkultur sucht nach verborgenen Absichten oder unbewussten Motiven des Einzelnen in der Gesellschaft; Schamkultur nach sichtbaren sozialen Effekten. Hieraus wiederum die erste ihr Ziel im guten Gewissen erkennt; Schamkultur dagegen im angemessenen, öffentlichen Betragen. Vor diesem Hintergrund, will mir scheinen, war und ist die Bereitschaft, dem Kanon von der Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des NS-Regimes sich zu unterstellen, an den privaten Wohlstand in der jeweiligen bundesdeutschen Gegenwart unmittelbar gekoppelt. Denn bezeichnenderweise, seit zu Beginn der 1990er Jahre in immer größeren Bereichen der Gesellschaft ebendieser Wohlstand zu bröckeln beginnt, die sozialen Systeme, mehr und mehr aufgegeben, ihre Wirksamkeit einbüßen, sehe ich die erwähnte Schuld-Bereitschaft im selben Maß schwinden. Daher mag man heutzutage in den Villenvorstädten sich schuldiger fühlen als in den Scharen Arbeitsloser auf den Fluren der Sozialämter. Somit stellt dieses Wahrnehmungsdefizit an die nachfolgenden Generationen die Aufgabe, auf dem ‘Vehikel der jeweiligen Gegenwart’ das Gedächtnis zu befragen, um vom Grad vorherigen Vergessens die Qualität des Erinnerns bestimmen zu lassen. Ich sehe erst diese Gegenwart dafür als geeignet an, liefen doch die meisten derartigen Bemühungen zu Zeiten des Kalten Kriegs Gefahr, sofort als Instrumente der östlichen wie der westlichen Propaganda eingesetzt und somit noch einmal missbraucht zu werden. CK/ADW: In einem Essay über das transhistorische Trauma der Vertreibung, ‘Endstation Mythos’, machen Sie einen Unterschied zwischen ‘Tabu’ und ‘Ungelittenem’.21 Können Sie diesen Unterschied verdeutlichen? RJ: Ein Tabu, seinem aus animistischen Kulturen stammenden Sinn gemäß, heißt einen Ort nicht betreten, eine Person nicht berühren, ein Wort oder einen Sachverhalt nicht aussprechen bzw. nicht benennen zu dürfen etc. Das
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Tabu ist somit eine dunkle Stelle, ein nicht diskursiver Unort innerhalb einer Kultur. Dagegen bedeutet Ungelittenheit durchaus die Möglichkeit, einen Sachverhalt anzusprechen oder in ihm gemäße Diskurse einzubinden und diese auch zu führen, doch wird ihnen die breite öffentliche Akzeptanz verweigert bleiben; einzig in ‘Nischen’, ‘Szenen’ oder speziellen ‘Zirkeln’ wird ihnen Gehör geschenkt. Doch nicht selten finden sich ebendiese Gemeinschaften von der öffentlichen Mehrheit stigmatisiert, so die Landsmannschaften als ‘ewig Gestrige’, ‘unverbesserliche Revanchisten’ etc. Derlei ist geschehen z.B. mit dieser Vertriebenenthematik in der deutschdeutschen Öffentlichkeit nach dem 2. Weltkrieg – im Westen unter zwar anderen Aspekten als im Osten, doch blieb das Resultat das gleiche. Daher ist mitunter eine Ungelittenheit noch restriktiver als ein Tabu; denn ein Tabu kann man mit einiger Courage brechen, und der Tabu-Brecher wird mitunter hoch geehrt. Doch wie soll man für eine Thematik Gehör finden, die (aus welchen Gründen auch immer) von niemandem gehört werden will?! CK/ADW: Die Unvollendeten ist auch Gegenstand vehementer Kritik geworden. Der Sozialpsychologe Harald Welzer stellte die These auf, dass dem Roman eine Harmonisierungsstrategie oder ein ‘neues Einverständnis’ zugrunde liege und dass die Fluchterfahrung im Grunde kaum eine generationsübergreifende Rolle spiele. Wie stehen Sie zu diesen Thesen?22 RJ: Soviel ich von Welzer selbst gehört habe, hat er mein Buch gar nicht recht gelesen, er fühlte sich von meiner eigenwilligen Orthografie und Syntax irritiert. Wie ich weiterhin hörte, richtet sich seine Unterstellung auf die im Roman einer, im Übrigen erfundenen, Figur in den Mund gelegte Erzählung mit der für traumatische Geschehnisse typischen ‘blinden Stelle’: Ein gerade 20-Jähriger, der in den letzten Kriegstagen zu einer SS-Wachmannschaft für einen jener berüchtigten ‘Todesmärsche’ befohlen wurde, erlebt einen Aufstand dieser Häftlinge. Die SS-Leute, darunter der Erzähler, geraten in Panik und schießen wild um sich. Der Erzähler benutzt das allgemeine Chaos zum Desertieren; er will, so seine Erzählung, nicht bemerkt haben, wann und auf wen – auf die Häftlinge, die eigenen Leute, die Wachhunde – auch er geschossen habe, einzig dass er schoss, sei ihm bewusst geworden. Nun ist mein Buch Die Unvollendeten weder eine soziologische Studie, noch ein
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Bericht oder eine Historiographie, sondern ausgewiesenermaßen ein Roman, somit zugehörig zu einem speziellen Schrifttum namens Literatur. Sämtliche Rezensionen, die mir zugänglich wurden, haben sich – ob zusprechend oder ablehnend – indes einer solch trivialen Ideologisierung, wie sie Welzer vornimmt, enthalten. Ist doch jedem Kritiker, der bei Verstand ist, die Eigengesetzlichkeit von Literatur bewusst, worunter zuallererst das Wissen fällt, dass ein Roman aus der Kollision zwischen Faktischem und Fiktion besteht (so auch diese Einzelerzählung aus dem Mund einer erfundenen Figur), mithin der Analogieschluss vom Erzählten auf die Intentionen des Autors purer Nonsense wäre. Somit also sehe ich die Kritik von Welzer als keine Kritik an, sondern als eine unsachgemäße Bemerkung von jemandem, der offenbar von Literatur nichts versteht oder nichts verstehen will. Nun, zum zweiten Punkt Ihrer Frage möchte ich nicht in den Fehler von Welzer verfallen, indem ich über einen Text rede, den ich nicht gelesen habe. Denn Sie spielen vermutlich auf den Essay ‘Schön unscharf’ an, worin auch dieser Vorwurf des ‘Harmonisierungsbestrebens‘ gegen Die Unvollendeten vorkommen soll.23 Wenn zudem in Welzers Essay, wie Sie in Ihrer Frage formulieren, die Behauptung aufgestellt wird, die Fluchterfahrungen hätten im Grunde keine generationenübergreifende Bedeutung, dann ist dieser Autor in einem großen Irrtum befangen. Er hätte sich einmal von seinem Schreibtisch aufmachen sollen, um mit Nachkommen dieser Vertriebenen zu sprechen; ihm wären dann Geschichten zu Ohren gekommen, die seine vorgefasste Aversion gegen diese Thematik zunächst als solche entlarvt hätten, und, wenn er redlich ist, diese Aversion sodann als korrigierwürdig erschienen lassen hätte. Ein solchermaßen Sichtaubstellen gegen Wirklichkeiten will mir als eine bedenkliche intellektuelle Fehlleistung erscheinen, die letztlich wenig zum Gegenstand, aber sehr viel über deren Träger aussagt. Schließlich noch ein Wort zur ‘Harmonisierungsstrategie’. In seinem Buch Opa war kein Nazi hat Welzer in den über die Generationen innerhalb der Familien weitergetragenen Erzählungen von den unterschiedlichsten Kriegsvorkommnissen diese nachträglichen Harmonisierungstendenzen ausfindig gemacht.24 Ich halte seine in diesem Buch mitgeteilten Ergebnisse für sehr bemerkenswert. Doch meine ich, wäre hier anhand des erstellten Materials zusätzlich das psychologische Moment und die daraus folgende äquivoke Technik des Erinnerns an eigentlich alles der Erinnerung sich
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Sperrende noch zu untersuchen geblieben (und die Befragten waren ja zum Großteil noch Lebende), anstatt allein auf der Ebene der absichtsvollen Fälschung und nachträglichen Berichtigung zum Zweck der Harmonisierung von wirklichen Geschehnissen zu arbeiten. Denn dann könnten diese Fundstücke noch ein gutes Stück weiterbringen. So aber bleibt letztlich das eintönige Resultat von lügenhaften und absichtsvoll groben Fälschern der eigenen Geschichte, was einmal mehr nur jene längst durchinstrumentalisierte Doktrin von der ‘Kollektivschuld der Deutschen’ weitertragen heißt. Im Übrigen staune ich darüber, dass Welzer nicht bemerkt haben will, wie sehr dieser (aus Versatzstücken echter Erzählungen herkommende) Bericht, den ich einer erfundenen Figur eines 20-Jährigen in den Mund gebe, in die von ihm selbst in seinem Buch aufgezeigte Typik passt! IV Die ‘Wiederkehr des Immergleichen’ – Genealogie, Gewalt und Utopie(verlust) CK/ADW: In Ihrer genealogischen Prosa scheint ein permanenter Krieg aller gegen alle zu herrschen. Die Jirglsche Welt scheint in einen circulus vitiosus von Tod, Gewalt und Vernichtung verstrickt. Droht diese Logik nicht, alles Historische zur ewigen Permutation der immer selben Gewalt zu machen und auf solche Weise die Besonderheit historischer Traumata wie jene des Holocausts zu unterschlagen? RJ: Die angesprochene ewige Permutation kann so nur auf den ersten Blick auf meine Arbeiten entstehen. Wenn ich seinerzeit im MutterVaterRoman die Bemerkung machte: ‘Troja war gestern’, so ist das als eine Anspielung auf die Atavismen in jeglichem Heute (also auch in der damaligen DDR, als ich dieses Buch schrieb) zu verstehen; die Vorstellung vom Lauf der Zeit enthält weder ein Heils- noch ein Unheilsversprechen per se. Atavismen sind auch genau die Risse im Fundament des je Bestehenden, die auf das darin eingemauerte Unrecht aufmerksam machen können, das die Pflicht zum handelnden Überwinden aufwirft. In jeglicher Historie ist nach meinem Dafürhalten und nunmehr auch nach meiner Erfahrung (siehe das ‘Verschwinden’ der Mauer und den Untergang des Staatssozialismus) ein zu hohes Maß an Zufallsentwicklung, an Chaos und Unwahrscheinlichkeit enthalten, als dass von einem kausalen, nach dem Erreichen gewisser
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Prämissen dann zwangshaft so und nicht anders ablaufenden Geschichtsprozess, etwa wie ihn Ernst Nolte entwirft und wie er sich auch in anderer, zirkulärer Figuration bei Spengler findet, gesprochen werden kann. Allerdings sollte auf solch historischen Unwägbarkeiten auch nicht allzuviel Vertrauen lasten. Was die Besonderheit des Holocaust im 20. Jahrhundert am jüdischen Volk angeht – ich möchte im übrigen hierfür das bessere Wort Shoah anbieten, denn glücklicherweise ist das jüdische Volk eben nicht, wie das die NS-Führung beabsichtigte, vollkommen vernichtet und ausgebrannt worden –, was also die Einmaligkeit der Shoah betrifft, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Völkervernichtungspläne weder erstmalig noch in einer gewissermaßen ‘von einem fremden, bösen Stern’ herabgefallenen Einmaligkeit, die noch niemals gegeben und auch niemals wiederholbar wäre, zustande gekommen sei. Ebenso wie die NS-Diktatur auf dem Boden einer bürgerlichen Demokratie sich etablieren konnte (Hitler kam bekanntlich legal und nicht durch einen Staatsstreich an die Macht), so verweist auch die Shoah im 20. Jahrhundert auf eine lange abendländische Geschichte der Pogrome. Und darüber hinaus noch viel weiter und tiefer in die Geschichte: Inwieweit das Buch Esra tatsächlich historische Vorkommnisse über einen befohlenen und durchgeführten Völkermord wiedergibt, sei dahingestellt und ist nicht das Problem. Wesentlich ist die Sanktionierung von Völkermord als Erzählung in einem für das Abendland kulturstiftenden Werk, der Bibel. Wer das Buch Esra liest, wird sehen, dass die Nazis nur weniges noch hinzuerfinden mussten. Wenn man also von Wiederkehr des Immergleichen sprechen möchte, dann nur in dem Sinn, dass man nicht der Möglichkeiten und Machtmittel zur Unterdrückung und Vernichtung von Menschen und Ethnien vergessen sollte, die in der Historie bereits einmal möglich gewesen sind. Denn letztlich auch die Technologie der Völkervernichtung, vom Nationalsozialismus perfektioniert und durchgeführt, bildet ein Archiv des Wissens, auf das zurückzugreifen von je anderen, künftigen Mächten nicht völlig unvorstellbar sein dürfte. CK/ADW: Kann die Welle von Terroranschlägen am Anfang des 21. Jahrhunderts in diese Wiederkehr des Immergleichen integriert werden oder handelt es sich hier um eine wesentlich differente, d.h. neue Form der
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Gewalt? In welchem Sinne führt der aktuelle Alarmzustand, wie Sie in Ihrem Hamlet-Aufsatz behaupten, zu einem ‘Neuen Konventionalismus’?25 RJ: Um zunächst mit dem zuletzt Angesprochenen zu beginnen, habe ich nicht vornehmlich von einem aktuellen Alarmzustand, sondern von der akut gewordenen Permanenz des Alarmzustands gesprochen. Darin sehe ich eine große Tücke, weil sie das Sensorium für Gefahren beim Menschen abstumpft und zu Gleichgültigkeit, schließlich zu Resignation führen muss. Hierher gehört die sattsam bekannte Bemerkung Luhmanns, wonach all unser Wissen von der Welt aus den Medien stamme. Inhärent ist darin auch eine beständig notwendige Kritik an medialer Wissensübermittlung enthalten. Denn die mediale Wirklichkeit ist nicht die wirkliche Wirklichkeit, sondern – gemäß dem alten Nachrichten-Grundsatz: ‘Eine gute Nachricht ist keine Nachricht’ – wirkt die mediale Übermittlung von Wirklichkeiten grundsätzlich auch als eine ‘Symmetriermaschine für Katastrophik’. Nach wie vor widerfahren, zum Glück, nicht allein nur hierzulande den meisten Menschen zeit ihres Lebens weder Mordanschläge, Raubüberfälle noch ein finanzieller oder sonstiger Ruin; ihr Leben verläuft, glücklicherweise, auf Katastrophen bezogen in einem großen Asymmetrieverhältnis. Die mediale Zurechtmachung von Wirklichkeit aber negiert diese lebendige Erfahrung, indem sie das Potential für allumfassende Bedrohtheit in der erlebbaren Wirklichkeit der Menschen entscheidend zur Symmetrie verzerrt. Man muss nur einmal jemanden sprechen hören, der ‘seiner’ Zeitung, ‘seinem’ Radio- oder TV-Sender unbesehen glaubt! Ein hohes Potential sinnlos produzierter Angst findet sich aktiviert. Doch weil dieser exaltierte Zustand gegen Bedrohtheit auf die Dauer in der menschlichen Psyche nicht haltbar ist, folgt der hohen Aufmerksamkeit irgendwann einmal die Abstumpfung. Ganz davon abgesehen, dass z.B. durch die permanente Gegenwart von Bildern des Terrors und Elends auf der diskreten Fläche des Fernsehbildschirms oder dem Titelblatt einer Zeitung die allmähliche Gewöhnung an diese Bilder erfolgen muss, so dass für den Fall tatsächlich hier und jetzt zuschlagender Katastrophen die dann allerdings überlebensnotwendige Wahrnehmungs- und Reaktionsbereitschaft nahezu fehlt, vom derart dressierten Mangel an menschlicher Hilfs- und Solidaritätsbereitschaft zu schweigen. Man kann lange darüber spekulieren, ob, und wenn ja, warum
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dies ein von den (Medien-)Mächten her beabsichtigter, zumindest aber willkommener Zustand sein könnte... Zum ersten Teil Ihrer Frage; Von einer ‘Wiederkehr des Immergleichen’ habe ich, zumindest in dem intendierten Sinn, nirgends gesprochen. Es wäre mir auch zu einfach, diesen circulus vitiosus als grundlegend gesetzt und de facto unausweichlich anzunehmen. Vielmehr hat nicht zuletzt die jüngste Geschichte in Deutschland die Risse und Unwägbarkeiten, aus denen Geschichte nun einmal von jeher besteht, aufgezeigt – oder sollte ich den Fall des Staatssozialismus nahezu in der gesamten Welt als Ausdruck ebenjenes circulus vitiosus von immerderselben Gewalt ansehen?! Dazu könnte sich allenfalls ein ehemaliger Staatsfunktionär hergeben, der seine Kommandohöhe verloren hat. Was allerdings aufzeigt, dass auch eine reine Historie (ohne Interessenaspekte) nicht existiert. Um die Verbindung des permanenten Alarmzustands mit dem Erscheinen eines ‘Neuen Konventionalismus’ als allgemein sich etablierende Geisteshaltung mit vielerlei Spielarten aufzuzeigen, muss ich aus dem von Ihnen angesprochenen Aufsatz kurz wiederholen, worin für mich die Kennzeichen dieses vermeintlich paradoxen Begriffs hinsichtlich seiner historisch politischen Bedeutung in der Gegenwart bestehen. Es lässt sich geradezu ein Katechismus dieses neuen konventionellen Denkens erstellen, und ich begebe mich, um dies zu verdeutlichen, auf die Seite jener, die dieser konstatierten Begrifflichkeit anhängen: Die ‘Aufklärung’ und in deren Folge die Moderne haben einerseits dem Menschen die Metaphysik entzogen (‘Gott ist tot’), andererseits sind die Freiheits-Träume aus dem Inthronisieren der progressiv vorgestellten Menschheit an den Klippen der Diktaturen zerschollen. Das metaphysische Defizit gilt es nun aufzufüllen: Gott als Werte-Schöpfer, die Zehn Gebote als allzeit gültiges, ethisches Regelwerk. Das Ich des Einzelnen ist eine gleitende Größe; dessen Verfestigung gilt es zu vermeiden. Vorgestellte Perspektiven: die reine Wissenschaft, die interesselose Geistigkeit, Information ist zu verwandeln in Kommunikation. Grundlage für Kommunikation ist die Sprache. Alles Expressive, das auf die Launenhaftigkeit eines dahinter verborgenen Ich verweist, ist abzulehnen. Dies gilt auch für die Historie, die eine endliche Menge aus Fakten ohne Geheimnis bildet. Also lassen sich aus diesen Fakten fertige Gültigkeiten produzieren. Historisches dient nicht länger als Denkperspektive. Die Gesellschaft prägt einerseits das verbindlich
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Normative: Werte; sie sind weder historisch noch gesellschaftlich determiniert, sind nicht gegeben von konkret gesellschaftlichen Machtverhältnissen, sondern rein phänomenal; andererseits ist das Konsensuelle der Urheber für funktionsfähige Handlungsmuster – die Hierarchiegebilde in der Geschäftsund Arbeitswelt. Beides im Zusammenschluss bildet, nach dem Ende des Industriezeitalters, eine Menge an Personeneinheiten zur funktionsfähigen Gesellschaft und versetzt diese, durchaus im sportiven Sinn, ‘in Form’. Die Lebensweise des Einzelnen ist dem Epochebegriff unterstellt; Mikrobiographien und -lebensweisen sind zu überwinden. Unter Ägide solcher Konventionen werden die Wiederlegitimierung und das Aufmarschfeld zur Durchführbarkeit von zunächst konventionellen Kriegen, auch in seit Jahrzehnten scheinbar krieglos gebliebenen Regionen in Europa, erneut aufbereitet. Zudem, seit vor Jahren die massive Telepräsenz von Kriegshandlungen und -zerstörungen, sei es als Live-Übertragung à la CNN bei den Kriegen am Golf, sei es in Form von historischen Dokumentationen als ‘Aufklärung zur Geschichtsaufarbeitung’ oder schlicht als Spielfilme aller Couleur, mithin jene oben angesprochene Okkupation des Fernsehbildschirms durch Imagination ‘des’ Krieges, stattfand, dürfte das beim Zuschauer den Effekt der allmählichen Gewöhnung an kriegerische Darstellungsformen und Berichterstattung via Bildschirm herbeiführen. Hiermit, so meine ich, bildet sich augenfällig der Zusammenschluss des ‘Neuen Konventionalismus’ mit jenem oben angesprochenen permanenten Alarmzustand, und hieran wird auch eine von vielen möglichen Interessenlagen sichtbar, die jene ‘Symmetriermaschinen zur medialen Unruhestiftung’ in Konjunktur versetzen. Diese Konjunktur aber lässt rasch vergessen, dass auch die gegenwärtigen Terroranschläge Ausdruck eines Imperialismus sind, hier des arabischen, der solange nicht nur toleriert, sondern von westlichen Regierungen, insbesondere von US-Regierungen, sogar unterstützt wurde, bis er sich aus dem einem jeden Imperialismus eigenen Expansionsbestreben heraus auch gegen die einstigen Verbündeten wandte. Kurzum, Angst, Kriege, Katastrophen sind solange marktfähig und kommerzialisierbar, bis die Wirklichkeit den Markt erobert und aus der Simulation wieder die Echtheit hervortritt. Dann treten Ernstfälle ein, über die die Betroffenen sich längst schon im simulierten Medienalarm ‘informiert’ sehen, woraufhin das Reagieren dann um so schwerer fallen
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dürfte. Das heißt, der permanente Alarmzustand erschafft den paradoxen Zustand einer hochinformierten Dummheit. CK/ADW: Gibt es für Sie Auswege aus dieser Situation? Interessiert sie wie Heiner Müller ‘die Lücke im Ablauf, das Andere in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, der vielleicht erlösende FEHLER’ oder sind diese Müllerschen Utopiereste Teil des ‘Narrenspiels der Hoffnung’ (Benn)?26 RJ: Ein Kompromissvorschlag: Das Vertrauen auf den unauslotbaren Abgrund menschlicher Dummheit, getragen von allen Wahnideen aus Glaube, Liebe, Hoffnung, die eben daraus Makel und Feigheiten, Niederlagen und Triumphe produzieren, die meistens nicht oder nicht so im ‘Drehbuch der Hoffnungen’ standen, sind die einzig festen Größen, auf die man hinsichtlich der menschlichen Geschichte vertrauen darf. Das mag sehr anmaßend klingen. Doch ein Schriftsteller hat, wie kaum ein anderer mir bekannter, in seinen besten Romanen ein Licht in diesen Abgrund schwärzester Dummheit geworfen: Hamsun. Geschichte also lebt von den Fehlern, was das Narrenspiel hoffnungsfroher Geschichte-Macher unbedingt miteinschließt. CK/ADW: Liegt das Positive Ihres literarischen Projektes vielleicht nicht sosehr in einem Gegenprogramm als vielmehr in der Kritik selbst, in einem so genannten aktivistischen Pessimismus? RJ: Vielleicht hatte der Aufklärer Kant wirklich damit recht, als er dem Menschen zur Überwindung seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit das Sapere aude! des Horaz: Wage zu wissen! empfahl; was heißen soll: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne Leitung einer anderen Autorität zu bedienen!27 Mithin erblickte Kant des vernunftbegabten Menschen höchste Aufgabe in der Kritik letztlich um der Kritik willen. Das zielt auf den universalen Gebrauch der Vernunft, einer, die außerhalb jeden bestimmten Zweckes steht, weil ansonsten Aufschub und Verhärtung des Willens, schließlich jener Despotismus droht, der uns aus den gehabten Diktaturen her sehr bekannt ist. Wie sollte ein Schriftsteller darüber hinaus wollen oder gar
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können, und wie sollte weiterhin Pessimismus etwas anderes sein als ein Stilprinzip?! Denn ganz entsprechend dem zyklischen Verlauf des Erinnerns, dem Synonym für das Schreiben an sich, nachvollziehen die so entstandenen Texte diese zyklische Bewegung in ihrer Erzählstruktur. Sie formulieren hieraus ein ihnen allgemeines Subjekt, das zugleich Objekt aller Sprache sowie der Sprache aller ist: Durch das Spiel mit den vom Autor erdachten Eindrücken die Schaffung von Echtheit in der Vermitteltheit zum differenten Außen: ‘Gegen-Natur’ als der Befreiungsakt gegen die Diktatur des einen Realitätsprinzips. In dem neugegründeten Subjekt kommen an diesem SpielOrt alle Texte zusammen, wie Schach-Spieler in einem Spiel auf mehreren Feldern zugleich. Doch heißt Spiel so untrennbar mit seinem Gegenpart, der Wirklichkeit, sich verwoben, dass es jedem Spiel am wirklichen Ernst nicht gebrechen kann. In diesen Zusammenhang gestellt sehe ich meine Arbeit. CK/ADW: In Ihrem zusammen mit Andrzej Madeła verfassten Essayband Zeichenwende kritisieren Sie die Homogenisierungsbestrebungen jeglichen Humanismus und behaupten, dass mit dem Untergang des Sozialismus auch das ‘Ende “des” Menschen’ besiegelt worden ist. Sie setzen der Utopie oder der gewaltsamen Vereinheitlichung einer Vielzahl von Diskursen die Erfahrung oder das Experiment entgegen. Nach diesem radikalen, posthumanistischen Differenzdenken führt das Subjekt ein völlig zerstreutes, atomisiertes Leben. Können Sie diesen Seinszustand, den Sie als ‘Nuklearität’ umschreiben, näher erläutern? RJ: Zum Verständnis dieser Aufsätze zunächst ein Wort zu ihrer Entstehungszeit. Sie sind kurz vor sowie kurz nach der ‘Wende’ in der Zeit von Frühjahr 1989 bis Herbst 1990 geschrieben worden. Es war für Madeła als Literaturwissenschaftler und mich als Schriftsteller die für uns schnellstmögliche Art, auf die verschiedenartigsten äußeren Umbruchsituationen zu reagieren. Diese Bezeichnung ist nicht übertrieben, denn viele über die Jahre davor zementierte Gesellschafts-Machtverhältnisse sind binnen kürzester Zeit zerfallen und haben sich aufgelöst, ‘atomisiert’, mitunter in bedenklicher Weise. Gesellschaftliche Bruchstellen, wie nach Sprengungen die geologischen Schichtungen in Steinbrüchen, lagen offen zur Schau und mussten in andere Zusammenhänge eingeordnet werden, damit
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man mit ihnen umgehen konnte. Insbesondere große Schlagwörter wie Humanismus, Macht, Utopie etc., auf deren Konjunktur sämtliche vorhergehenden Gesellschaftsverhältnisse basierten, gerieten in problematische Zustände, weil ihre definitorische (vermeintliche) Homogenität zerbrochen war; oppositionelle Kreise, die nun unversehens und meist gegen ihren Willen mit exekutiver Gewalt in der noch existierenden DDR sich auseinanderzusetzen gezwungen waren, definierten sich einerseits in völlig anderer Weise, doch über dieselben Begriffe wie die Nomenklatura. Insbesondere der Macht-Problematik, weil Macht kein Synonym ausschließlich für Verbote ist, auch nicht allein auf der juridischen Folie abgehandelt wird, also deren differenzierte Betrachtung notwendig machte (wir haben bereits oben über Machteffekte gesprochen), kam daher eine wesentliche Bedeutung zu. Hierfür erhielten einige Schriften von Foucault, so z.B. Die Ordnung der Dinge, die ich Mitte der 1980er Jahre gelesen hatte, eine überaus erhellende, hilfreich praktische Funktion, weil einigen seiner Analysenergebnisse nun die unmittelbare Entsprechung in der äußeren Wirklichkeit zu widerfahren schienen.28 Foucault hatte in einem Interview mit Paolo Caruso im Übrigen darauf hingewiesen, dass mit dem Satz vom ‘Verschwinden’ bzw. der ‘Auflösung des Menschen’ ja nicht etwa dessen leibliches oder gesellschaftliches Verschwinden auf diesem Planeten gemeint sei, sondern vielmehr dessen Zerstreuung in Strukturen und Beschreibungen mikrophysikalischer Macht-Diskurse des Humanismus:29 in die Spezialwissenschaften der Ökonomie, der Biologie, der Gerichtsbarkeit, Moral, Medizin, Sexualität, als Objekt der gesellschaftlichen Arbeitsprozesse usw. Das heißt, in all diesen Diskursen vom bzw. über den Menschen, die nach jeweils spezifischen Mustern mit den ihnen eigenen Termini funktionieren, kommt das Subjekt des Menschen, d. i. der Mensch in seiner kohärenten Wahrheit nicht vor; sein Subjekt war und bleibt verschwunden – ‘zerstreut’, ‘atomisiert’. Zu dieser Erkenntnis Foucaults kam anhand der ‘Wende’-Ereignisse in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland plötzlich die Greifbarkeit hinzu. Und so haben Madeła und ich in unserem Buch zunächst im Vorwort und sodann in einzelnen Texten u.a. darzustellen versucht, nicht wie in Ihrer Frage vermutet, dass mit dem Ende des Sozialismus das Ende des Menschen besiegelt worden sei (eine solche, verzeihen Sie, sentimentale Teleologie
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lehnten wir ab). Sondern wir haben einmal zu zeigen versucht, dass der Sozialismus kein ‘Verrat an den ethischen Werten des Humanismus’ (wie das einige Argumente bis heute glauben machen wollen), sondern vielmehr in seiner ethischen Konsequenz und in seinem Scheitern vielleicht die letzte große soziale Erzählung des christlich geprägten Abendlands gewesen sei. Übrigens als konsequentester Umsetzungsversuch humanistischer Werte: die gesellschaftliche Kontrolle wie die Kontrolle des Gesellschaftlichen durch die Eliminierungsversuche naturhafter Zwänge. Mit andern Worten, der Sozialismus war insofern der konsequente Nachfolger der Aufklärung, in deren Mittelpunkt die Emanzipation der Menschheit stand, was ihrerseits das Totalisierungsprinzip in der Macht-Politik voraussetzte, um dem großen Projekt vom ‘diesseitigen Glück des Menschen’ zur Wirklichkeit zu verhelfen. Ein grandios aufgezogenes Spektakel, das, im Stechschritt daherkommend, vom Totalitarismus über die Konzentrationslager hin zur Vernichtung der Substanz, nämlich des leiblichen Menschen, marschierte, so dass diesem Spektakel, das sein eigenes Versprechen nicht einlösen konnte, die Zuschauer davongerannt sind. Des Weiteren suchten wir daraufhin zu zeigen, dass die Entdeckung der gesellschaftlichen Vielfalt an Stellen, wo bisher legitimiertes Denken die Einheit reflektierte, Konsequenzen haben musste für den posttotalitären Humanismus: Weil nach dem Wegfall des einen nivellierenden Machtdiskurses auch nicht mehr ‘der’ vereinheitlichte Mensch mit seiner ihm angedichteten, teleologischen Befreiungsperspektive von gesellschaftlichen Zwängen behauptet werden konnte, greift das humanistische Denken auf Konglomerate zurück, darunter Schlagworte firmieren wie ‘Vermenschlichung der Technik’, ‘Befriedung der Welt durch unumschränkten Handel’ (Globalisierung; der Begriff des Politischen wird von dem des Ökonomischen aufgesogen), woraus das Setzen einer ‘Ethisierung von Ökonomie und Politik’ erfolge. All diese Bruchstücke von Ideologien, Themen, Projekten sind jetzt aus der Klammer des gesellschaftlichen Diskurses vor 1989 zwar entbunden, doch deswegen nicht einfach verschwunden, sie haben allenfalls ihre totalitäre Rolle eingebüßt. Daher wirken sie nach dem Zerbrechen der repressiven Totalität, verstreut in singuläre Sozioformen, wie nukleares Material: in vielfache soziologische Topografien verstreut, aus punktuellen Zentren strahlend mit ambivalenter Wirkung und vermutlich hoher
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Halbwertzeit, denn die große, christlich-abendländische Erzählung vom ‘Glück des Menschen in einer allseits gerechten Gesellschaft’ hat nur eben die Form, nicht aber den Inhalt gewechselt. CK/ADW: Könnten Sie näher darauf eingehen, warum Sie nach dem ‘Ende der Utopien’ eine Sonderstellung für ‘die’ technische Utopie einräumen? Sie scheinen sich da sehr stark an der Chaostheorie und Benns Hypothese einer ‘progressiven Zerebration’ zu orientieren?30 RJ: Die ‘technischen Utopien’ gehören zu jenen Bestandteilen, die ich oben bezeichneter ‘Nuklearität’ zurechnen möchte: Residuen aus dem Projekt Aufklärung, worin von jeher ‘der Wissenschaft und Technik’ zur Zähmung, Abrichtung und Kontrolle aller ‘unvernünftigen’ Natur, auch der des Menschen, die Priorität gegolten hat. Vielleicht konsequenterweise musste daraus, wie im Politischen der Diktator, im Wissenschaftlichen die Gestalt des Technokraten als die dem verordneten Humanismus folgerichtige Gestalt erscheinen. Mit meiner Bemerkung von einer gewissen Sonderstellung der Technik, um hier keinem Irrtum zu erliegen, habe ich keinen neuen ‘Hoffnungshorizont’ für utopistisches Denken entwerfen wollen, sondern ich habe von der argumentativen Ebene jener Technik-Utopisten her versucht zu sagen, dass ‘die technischen Utopien’ von jeher lediglich Bestandteile der allgemeinen Emanzipationserzählung der Menschheit von den Zwängen der Natur waren und sind. Sie können sich durch den Wegfall gewisser rhetorischer Corollarien aus den Systemzeiten lediglich eines frisch erscheinenden Glanzes erfreuen, indem sie ‘das Funktionieren’ zum Fetisch erheben; ihre Wurzeln indes reichen weit hinab in den christlichabendländischen Humanismus. V Schlechte Zeit für Literatur? CK/ADW: In den 90er Jahren häuften sich unter Schriftstellern die Klagen darüber, dass die Literatur zu einem marginalen Medium geworden sei. Andere, wie der Medientheoretiker Norbert Bolz, bezeichneten die Literatur als medienhistorisch überholt oder übten sich in der fröhlichen Bejahung dessen, was sie ‘Ende der Gutenberg-Galaxis’ und ‘Untergang des literarischen Humanismus’ nannten.31 Wie stehen Sie zu solchen Diagnosen?
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RJ: Witzigerweise verbreiten die Propheten des Endes der Literatur ihre Äußerungen immer per Buch. Denn sie wissen genau, würden sie ausschließlich andere Medien als das von ihnen gescholtene Buch bevorzugen, wären als erstes sie selber und ihre Sätze vergessen. Die Ironie: Diese Schriftverlorenen werden durch ihre Prognosen selber zum besten Beweis dafür, dass es mit dem Buch noch lange nicht zu Ende sein kann. All diese Hervorbringungen verdrückten Grolls gegen das Buch sind für mich ephemere Erscheinungen letztlich frustrierter Schreiber, Schafe im Wolfspelz, die nach einer Marktlücke für sich und ihre Frustration schielen. Die allerdings ist keineswegs neu; hatte doch McLuhan schon Anfang der 1960er Jahre in seiner blauäugig euphorischen Feier des Fernsehens u.a. auch das Ende des Buches verkündet. Ich weiß um die Begrenztheit, auch die Korrumpierbarkeit des gesunden Menschenverstands, doch ist dies noch lange kein Grund, auf ihn völlig zu verzichten. Hingegen ein anderes Moment will mir in diesem Zusammenhang wesentlich erscheinen. Keine Frage, in den letzten Jahrzehnten hat die Rolle des Schreibens sich grundlegend verändert, und wer sich heute hinsetzt, um ein Buch zu schreiben, der unternimmt – dem äußeren Anschein nach zuwider – dennoch etwas grundlegend Anderes, als dasselbe Tun vor beispielsweise 30 Jahren. Nicht allein, dass von der Literatur die fremd an sie herangetragenen Anforderungen, die allsamt um den Kern des so genannten gesellschaftlichen Engagements, des unbedingten Gebots zum Sicheinmischen der Schriftsteller in tagespolitische Akzidenzien (ob sie von dem Gegenstand etwas verstanden oder nicht), gruppiert waren, nun wie unsachgemäß aufgetragene Tünche vom bröckeligen Untergrund der sich verändernden Wirklichkeiten abgeplatzt sind und – dankenswerterweise – somit der Schriftsteller auf seine ureigenen Fähigkeiten sich besinnen kann. Nicht allein dies also bewirkte die veränderte Rolle von Literatur heute. Sondern es waren und sind die Verwerfungen der Wirklichkeiten im Innern der Schrift selbst, den alphanumerischen Code, aus dem unsere Schrift nun einmal besteht, betreffend.- Ich habe darüber in dem bereits oben erwähnten Vortragstext ‘Die wilde und die gezähmte Schrift’ gesprochen. Nicht allein, dass das Spannungsverhältnis innerhalb des alphanumerischen Codes noch niemals ein ruhend statisches gewesen ist, vielmehr hat in den letzten drei Jahrzehnten dieser Konflikt an Schärfe derart zugenommen – die Popularisierung der Computer samt ihrer primitiven
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Binär-Code-Sprache setzt hierbei einen vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, nicht deren Beginn –, dass einige Autoren tatsächlich verführt waren zu behaupten bzw. zu hoffen, die Schrift werde von der Ziffer und dem Piktogramm abgelöst und ausgelöscht werden. Derlei Behauptungen, und keineswegs allein wegen der Schriftverliebtheit eines Autors von Büchern, heißt nicht nur das Kind mit dem Bad ausgießen, sondern, und entscheidender, heißt das, die wesenseigene Fähigkeit der Schrift zur Erweiterung innerhalb ihres eigenen Geländes verkennen. Die Schrift nämlich verfügt über äußerst flexible Eigenschaften. Im alphanumerischen Code bestehen, kurz gesagt, zwei miteinander unvereinbare Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des Alphabets und die Wirklichkeit der Ziffern. Man hat in der Hirnforschung erkannt, dass beispielsweise das Lesen eines von links nach rechts zu einem Satzende hin geradlinig verlaufenden, alphabetischen Textes andere neurophysiologische Vorgänge auslöst, als das Lesen (Entziffern – Erkennen) einer beliebigen mathematischen Formel. Bereits die einzelne Ziffer inmitten eines alphabetischen Textes zwingt den Leser in seiner Lesetätigkeit zum ‘Umschalten’ von der linearen Wirklichkeit der Buchstabenwörter zur ‘insulären’ Wirklichkeit der Zahlen. Mit einem Satz gesagt: Der alphanumerische Code widerspiegelt die beiden Wirklichkeitsbedürfnisse des auditiv und visuell in der Welt seienden Menschen. Und der muss demnach eine Möglichkeit finden für den Ausdruck zu beschreibender Erscheinungen sowie für den zu kalkulierender (abzählbarer, zu wertender) Sachverhalte. Darin genau finden sich die Gründe zur Verschriftlichung und zur Verzifferung auch unserer Wirklichkeiten wieder. Aus diesem niemals ruhenden Spannungsverhältnis zwischen Buchstaben und Zahlen – man meint, darin den einstigen erbitterten Kulturkampf der Buchstaben gegen die Ideogramme noch immer zu erkennen – ergeben sich wesentliche Schlussfolgerungen für das literarische Schreiben einerseits, wie anderseits und insbesondere für die vielleicht bedeutsamste Fähigkeit der Schrift überhaupt: In der Schaffung und Bewahrung eines Langzeitgedächtnisses nicht nur für Literatur, sondern allgemein für alles Verschriftlichen selbst. CK/ADW: In dieser medienhistorischen Situation, so lautete eine andere Diagnose, bleibe den Autoren im Grunde nur die Wahl zwischen einer Anpassung an den Medienbetrieb oder einer letztlich esoterischen
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Gegenposition. Überspitzt formuliert: Man entscheidet sich entweder dafür, Drehbücher zu schreiben oder schreibt so, dass eine Verfilmbarkeit des eigenen Textes praktisch ausgeschlossen ist. Stimmen Sie mit dieser Diagnose überein oder sehen Sie die Möglichkeit eines dritten Weges? RJ: Eine wie auch immer geartete Entweder/Oder-Situation will mir als uninteressant erscheinen, weil sie für das Kreative kaum einen Platz bietet, sondern lediglich die gesellschaftlichen Zwänge – auch die eines Schriftstellers – zementiert, indem das kreative Muss mit dem Muss des wirtschaftlichen Überstehens in eins geworfen wird. Zudem setzt eine solche Auffassung eine einzige Kunstgattung – den Film – gegenüber dem Schreiben in ein unzulässiges Dominat. Auch scheinen mir solche und ähnlich lautende Diagnosen allzu ephemer, um wirkliche Bedeutung zu haben. Ob es zwei, drei oder mehrere Wege gibt, in dieser Gegenwart als Schriftsteller zu bestehen, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Das Liebäugeln mit der Verfilmbarkeit der eigenen Texte ist nicht verwerflich, nur verlässt der Schriftsteller damit das eigene Medium, indem er sich den Gesetzen eines anderen, des Films, ausliefert. Film und Literatur haben unterschiedliche Formensprachen, sie sind nicht ohne weiteres ineinander übersetzbar. Mehr noch als ‘der’ Film erscheint mir ‘das’ Schreiben als ein Selbstzweck, ein Kulturgut. Das ist ein teilweise mit finanziellen Mitteln (Stipendien, Preisen) von staatlicher und/oder privater Seite zu förderndes Medium. Das heißt, auch Schreiben bzw. die gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers, bekundet in der Setzung seines Selbstzwecks den grundlegend perversen Zustand von Kultur. Doch eine Gesellschaft, die sich ihrer Perversionen nicht im Klaren ist oder diese gar mittels ‘Kommerzialisierung’ umzuwerten und auszutreiben trachtet, ist übel dran. Auf solchen Zustand, denke ich, tendiert Ihre Frage. Mich erinnern derlei Bestrebungen an jene Kulturkreise, worin die Jungfräulichkeit ehefähiger Frauen ein Gebot ist, und wo dem nicht so ist, weil die Jungfernschaft längst verloren ging, wird vor der Hochzeit das Hymen operativ wiederhergestellt, um dem kulturellen Befehl zur Virginität genüge zu tun. Im übertragenen Sinn: Der subventionierten Literatur durch operative Kommerzialisierung (Streichung von Mitteln, unbedingte Verkaufbarkeit ihrer Produkte als das maßgebende Kriterium) zum Liberalismus zu verhelfen und dem Schriftsteller als
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‘Selbstverdiener’ zur kapitalistischen Unschuld. Hierfür träfe dann tatsächlich das Goethe-Wort zu, wonach alles, was besteht, wert ist, dass es zugrunde geht. CK/ADW: In Brechts Gedicht ‘Schlechte Zeit für Lyrik’ heißt es: ‘In mir streiten sich / Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum / Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. / Aber nur das zweite / Drängt mich zum Schreibtisch’.32 Was – wenn nicht die Freude am Schönen oder der Wunsch, politisch einzugreifen – drängt Sie heute, ein halbes Jahrhundert nach Brechts Tod, immer noch zum Schreibtisch? RJ: Was das politische Eingreifenwollen per Schrift angeht, so wusste bereits Oscar Wilde, dass mit der Schreibfeder keine Revolution und mit einem Pflasterstein kein Buch zu schreiben sei. Und wenn Georg Büchner den Hessischen Landboten verfasste, so hat er dies ausdrücklich nicht als Schriftsteller getan, der politisch einzugreifen gedachte, sondern als Bürger, der schreibend seine Meinung kundtun wollte. Das ist ein großer Unterschied. Zu dem Brecht-Gedicht (das ich für so schlecht halte, dass man darüber reden kann) ist zunächst zu sagen, dass der darin benannte Anstreicher – Hitler – mehr geschrieben und geredet, als gemalt oder gezeichnet hat; die Titulierung mit ‘Anstreicher’ entstammt vermutlich einem gewissen großbürgerlichen Milieu, deren Zugehörige sich schon dadurch als Kulturträger wähnten, dass sie über den aus subbürgerlichen Verhältnissen stammenden Hitler (wie über jeden anderen mit ähnlicher Herkunft) die Nase rümpften, um ihm daraufhin nur um so willfähriger zu Diensten zu sein, sobald jener die Macht erlangte, zu der die ‘Kulturträger’ ihm verholfen hatten: kulturell verzierte Überheblichkeit als Freibrief zum Mitmachen und Mitverdienen unter allen Umständen. Dies zum einen. Brecht aber hatte eine Kulturhoffnung, die, aus der Romantik kommend (‘der edle Wilde’), sich antibürgerlich gab: ‘das Genie aus dem Wald’. Er hätte wissen müssen, und hat es bestimmt gewusst, dass innerhalb einer Industriegesellschaft aus einem solchen Typus – gescheitert an Bildung und Kunst und ausgestattet mit einer irrsinnigen Macht – schließlich nur eine Figur hervorgehen konnte: ein Hitler. Brecht, wie jeder kluge Mensch, hat vermutlich Angst vor der eigenen Hoffnung bekommen, und vielleicht
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deshalb den Arturo Ui zur Grimasse in einem kleinen Gaunermilieu verzerren, d.h. verkleinern müssen. Die Antithese Apfelbaum/Anstreicher gibt mir nun Gelegenheit, auf Ihre Frage mit einer Paraphrase zu antworten: Weil der ‘Anstreicher’ mittlerweile selbst zum Apfelbaum, der Blüten treibt, geworden ist, d.h. zum ‘Naturgegenstand innerhalb einer Biologie der Macht’, interessieren mich in diesem Zusammenhang sowohl der Schattenwurf dieses Apfelbaums als auch die Gestalten, die bisweilen auftreten, im Schatten den Stamm zu suchen, um die Säge anzusetzen. Damit wäre zweierlei erreicht: Ich könnte sowohl über den ‘Anstreicher’ als auch über den Apfelbaum schreiben, anders gesagt: über das Ich im Konflikt mit dem Nicht-Ich. Schreiben – das ist meine Art, in der Welt zu sein und daran habe ich noch immer Interesse. Um schließlich auf die Frage, weshalb heute überhaupt schreiben?, zu antworten, erinnere ich mich an Dürrenmatt, der nach seinem Schreibgrund befragt, einst geantwortet hat: ‘Aus beruflichen Gründen’. Dem möchte ich nichts hinzufügen. Anmerkungen 1
Iris Radisch, ‘Zwei getrennte Literaturgebiete: Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West,’ in: Heinz Ludwig Arnold, Hg., DDR-Literatur der neunziger Jahre (text+kritik. Sonderband 9), Boorberg: München, 2000, S. 13-26.
2
Vgl. Maike Bartl, Ein erloschener Leuchtturm: Pharos oder von der Macht der Dichter und die “Methodik des Enkommens” in den Juvenilia, Arno Schmidt Stiftung: Bargfeld, 2001.
3
Friedrich Christian Delius, ‘Soviel Spannung war nie. Laudatio auf Reinhard Jirgl und Andreas Neumeister’ [Zur Verleihung des Alfred-Döblin-Preises], Sprache im technischen Zeitalter, 31 (1993), 126, S. 179-186 (hier: S. 186). Auch unter: http://www.fcdelius.de/lobreden/lob_jirgl_neumeister.html 4
Reinhard Jirgl, ‘Die wilde und die gezähmte Schrift: Eine Arbeitsübersicht,’ Sprache im technischen Zeitalter, 42 (2004), 171, S. 296-320. Vgl. dazu Arne De Windes Beitrag in diesem Band. 5
Roland Barthes, Mythen des Alltags, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1964.
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6
Bertolt Brecht, Dreigroschenroman, in: ders., Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 16 [Prosa I], Suhrkamp/Aufbau: Frankfurt a.M., Berlin, Weimar, 1990.
7
Vgl. Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst: Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1991.
8
Immanuel Kant, ‘Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?’ in: Ehrhard Bahr, Hg., Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. (Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland), Reclam: Stuttgart, 1974, S. 9-17.
9
Jacques Bouveresse, ‘Spenglers Rache: Die überraschende Aktualität eines Vergessenen,’ Neue Rundschau, 107 (1996), 4, S. 57-82.
10
Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, dtv: München, 1993. 11
Theodor W. Adorno, ‘Spengler nach dem Untergang,’ in: ders., Gesammelte Schriften, Band 10.1 [Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild], Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1977, S. 47-71. 12
Spengler, Untergang des Abendlandes, S. 1141.
13
Heiner Müller, ‘Nekrophilie ist die Liebe zur Zukunft: Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz,’ TransAtlantik, (1990), 4, S. 40-45. 14
William Faulkner, Requiem für eine Nonne, Deutsche Buch-Gemeinschaft: Berlin, Darmstadt, Wien, 1961, 1. Akt, 3. Szene. Vgl. Peter Nicolaisen, William Faulkner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 1981. 15
Ernst Jünger, ‘Epigramme,’ in: ders., Werke, Band 8 [Essays IV. Fassungen], Klett: Stuttgart, 1963, S. 645-654 (hier: S.653).
16
Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft: ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1987, S. 25.
17
Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 4, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1980, S. 187. 18
W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Hanser: München, 1999, S. 17.
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Gert Ledig, Vergeltung. Roman, Fischer: Frankfurt a.M, 1956.
20
Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1994. 21
Reinhard Jirgl, ‘Endstation Mythos. Sie sind wieder da – die deutschen Heimatvertriebenen. Doch was öffentlich diskutiert wird, verschafft nicht unbedingt Klarheit,’ Frankfurter Rundschau, 24 März 2004. 22
Vgl. dazu Clemens Kammlers und Erk Grimms Beiträge in diesem Band.
23
Harald Welzer, ‘Schön unscharf: Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane,’ Mittelweg, 36 (2004), 1, S. 53-64.
24
Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Fischer Taschenbuch: Frankfurt a.M., 2002.
25
Reinhard Jirgl, ‘Vom Geist des Uralten zur globalisierten Angst,’ Die Horen, 49 (2004), 213, S. 47-55. 26
Heiner Müller, ‘Bildbeschreibung,’ in: ders., Werke, Band 2 [Die Prosa], Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1999, S. 112-119 (hier: S. 118). Gottfried Benn, ‘Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit,’ in: ders., Sämtliche Werke, Band III [Prosa 1], Klett-Cotta: Stuttgart, 1987, S. 217-224 (hier: S. 220).
27
Immanuel Kant, ‘Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?’.
28
Michel Foucault, Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1974.
29
Paolo Caruso, ‘Gespräch mit Michel Foucault,’ in: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Ullstein: Frankfurt a. M., 1978, S. 7-31. Vgl. IoM 253-254. 30
Gottfried Benn, ‘Akademie-Rede,’ in: ders., Sämtliche Werke, Band III [Prosa 1], S. 386-393 (hier: S. 386). 31
Norbert W. Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis: Die neuen Kommunikationsverhältnisse, Fink: München, 1995. 32
Bertolt Brecht, ‘Schlechte Zeit für Lyrik,’ in: ders., Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 14 [Gedichte 4], S. 432.
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Karen Dannemann Liebesurteil, Einverleibung und ein mieser Gottesdienst Reinhard Jirgls Blick auf die DDR This chapter examines Reinhard Jirgl’s portrayal of the GDR, a portrayal which not only includes an implicit criticism of the apparatus of state itself, but also – and principally – incorporates an analysis of the effect of that state apparatus on its citizens. The chapter goes on to examine two aspects of Jirgl’s view of the GDR in detail: firstly, the replacement of religion by socialist ideology; and secondly, the physical exploitation of the inhabitants of the GDR. Finally, the chapter analyses Jirgl’s exploration of these themes in a key satirical passage from MutterVaterRoman. ‘Konflikte [...] sind das einzige, was mich interessiert’1
Stets erweist sich Reinhard Jirgl sowohl in seinen Essays und Interviews als auch in seinen Romanen nicht nur als scharfsichtiger Analytiker und Kritiker problematischer gesellschaftlicher Prozesse und Zustände, die er auf Art der Archäologen Schicht für Schicht bloßlegt, sondern er sucht als Beobachter ebenso Zugang ‘für sedimentierte Erfahrungsschichten des Menschen’ (GT 823).2 Auch daher gilt seine Neugier ‘den Kellern […], nicht den Fassaden’.3 Er erarbeitet auf diese Weise ein sehr präzises Gesellschaftsbild von unten, wobei er das Vorgefundene zuspitzt und verschärft, um eine Verneinung von Missständen bzw. fragwürdigen Entwicklungen im Kopf des Lesers zu provozieren.4 Obgleich Jirgl stets auf die Kontinuitäten in der menschlichen Historie verweist und diese auch aufzeigt, soll hier sein Blick auf die DDRGesellschaft anhand wesentlicher Aspekte exemplifiziert werden.5 Dazu werden wichtige Motive identifiziert, die sich in nahezu all seinen Romanen verzweigen und sich gleichsam zu einer rhizomatischen Struktur auswachsen.6 I Über-Größen Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, welche Mittel und Methoden Jirgl in seinen Romanen aufzeigt, mit denen in undemokratisch organisierten Staatsformen politische Macht etabliert und durchgesetzt wird und wie sich diese auf die Betroffenen auswirkt. Die in den Romanen sichtbar gemachten
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Verhältnisse des Alltags stehen in einem offenen Widerspruch zum proklamierten offiziellen Selbstbild des sozialistischen Staates, der bekanntlich ein Staat des Volkes zu sein vorgab. Doch es existiert, wie deutlich wird, eine auch die privatesten Bereiche erfassende Allgegenwärtigkeit der Staatsmacht im Leben der Romangestalten, die sich zu behaupten suchen – sofern sie sich nicht schon dem permanenten ‘Angebot zum Einschlafen’ ergeben haben.7 Die Einwirkung des Staates und dessen Willkür zeigen sich besonders massiv im Prinzip der ‘Sippenhaft’, mit dem in Abschied von den Feinden die zurückgelassenen Angehörigen der westflüchtigen Männer bzw. Väter durch Verhaftung, Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder in ein Heim sowohl bestraft als auch prophylaktisch diszipliniert werden sollen (vgl. AF 47ff.) – womit Jirgl Foucaults Theorien in Überwachen und Strafen beglaubigt.8 Gleiches droht den ‘Klassen-Klauns, d[en] Widerspenstigen, auch d[en] seltsam Gestörten’ (H 232), also den potentiellen ‘Störenfrieden’ und Nichtangepassten, bereits von Schule und Kinderheim an. Auf eindringliche Weise wird in Abschied von den Feinden, Hundsnächte, ABTRÜNNIG und Die Unvollendeten in kurzen Szenen dargestellt, wie man frühzeitig versuchte, die Kinder auf die gewünschten Maße zu stutzen. Nur wenige ‘Abtrünnige’ vermögen ihren Eigensinn wie das ‘Genie-aus-dem-Wald’ (At 217-269) zu bewahren, dessen eindrückliche Geschichte das Herzstück des vorerst letzten Romans in Jirgls Gesamtwerk bildet. Überwiegend äußern sich die den Romanfiguren eingeschliffenen Spuren andauernder erlittener Übergriffe der Staatsmacht einerseits in der Aufgabe jedweder Widerständigkeit und somit fatalistischer Akzeptanz wie auch in der Imitation der Gewaltakte, was sich in deren willfähriger Rekrutierung zu Handlangern der staatlichen Macht zeigt, andererseits in den verheerenden Folgen für die Persönlichkeit, die ein authentisches Leben kaum noch erlauben. So wie die Ärzte, Schwestern und Erzieherinnen in Abschied von den Feinden das Ethos ihres Berufs verfehlen und zu willigen Vollstreckern staatlicher Gewalt werden, wird im selbigen und im Roman Hundsnächte die allgegenwärtige Bedrohung durch die Exekutive des Staates demonstriert. In diesen Romanen wird nicht nur unmissverständlich gezeigt, wie Disziplinierungsmaßnahmen und Restriktionen von stupiden ‘Bengel[n]’ (AF 196) durchgesetzt werden, deren gefährliche Macht aus ‘Langeweile + Dummheit + Schusswaffe’ (H 257) resultiert, sondern anhand der entsprechenden Charakterisierungen
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auch, dass die Staatsmacht mitnichten eine abstrakte unveränderliche Größe ist: Sie geht vielmehr von mit Defiziten und Schwächen behafteten Menschen aus, was ebenso aus Jirgls machtanalytisch fokussierter Darstellung der Führungsschicht deutlich wird. Diese Funktionäre an den Schaltstellen der Macht genießen offenbar skrupellos und unbekümmert um grassierende Rechtsbeugungen und Repressionen ihre Partizipation am Herrentum; das Schwelgen in den Möglichkeiten der Macht, wozu gehört, sich mit ‘Festtagen und Audienzen’ (AF 197) feiern zu lassen, ist Jirgl zufolge ein Attribut der herrschenden Schicht aller Klassengesellschaften und wird auch im Sozialismus nicht suspendiert. Es ist Symptom jener typischen Aura saturierter & paranoider Selbstüberschätzung wie sie zu Allenzeiten die Hofhunde der-Macht kennzeichnet, mit den von-Oben ihnen zugeworfnen & hin&wieder auch mal u ganz-nach-Launen der-Oberen entzogenen Kuchenkrümeln vom Tisch-der-Macht nun ihrerseits in der Manier ihrer Herren als Herren schillernde Spielchen mit Jüngern & Vasallen treiben durften, die [...] daraufhin ihrerseits jene erduldeten Spielchen mit den nunmehr von ihnen Abhängigen &sofort bis hinein ins Aschgraue weitertreiben konnten..... (H 317)
Die hier beschriebene Machtkaskade funktioniert, so lässt sich schlussfolgern, als Systemprinzip in (vor allem diktatorischen) Staaten zum Zweck der Betonierung der Hierarchie und somit der zu ihrem Bestand notwendigen Abhängigkeiten. Die erwähnten Vasallen der Macht sind in den Romanen omnipräsent. Mit der Betonung jener Methode der Machtsicherung zeigt Jirgl, dass der praktizierte Sozialismus sich prinzipiell der bewährten Methoden und Paradigmen aus Gesellschaftsmodellen bedient, die er doch qua ‘fortschrittlicher und für das Volk konstituierter Staat’ ablehnt und bekämpft, sie aber in der Praxis teilweise gar perfektioniert und allein aus diesem Grunde bereits mit dem proklamierten Aufbau einer neuen Gesellschaft scheitert. Die Staatsführung übernahm darüber hinaus mit dem Ziel der Konsolidierung der Macht, so konkretisiert Jirgl weiter, systematisch klerikale Verfahren, die sich bereits im Personenkult niederschlagen. Im Text ‘Sprengung einer Gasanstalt’ in Im offenen Meer wird auf – im Doppelsinn – gewichtige Tote rekurriert. Angesichts überdimensionaler Büsten im Stadtbild Berlins reflektiert der Erzähler über deren Häufigkeit sowie den
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Umstand, dass derart die Toten zu ‘allerhöchster Bedeutsamkeit sanktifiziert’ werden; doch spräche auch das Überdimensionale dieser Denkmäler für die Größe des ‘Schuldbewußtseins’ aufgrund der Reduktion der berühmten Toten auf den ‘Kopf als Formel’ und reine ‘Funktionalität’ (IoM 176). In psychoanalytisch geprägter Deutung erscheinen ihm die ‘überdimensionalen Kopf-Abbildungen [...] wie die Zwangshandlungen eines “späten Gehorsams”, einer “Wiedergutmachung” u Bannung gegenüber dem unbewusst gehegten Kastrations-(Vergessens)-Wunsch’ (IoM 176). Hier vereinigen sich ‘Furcht’ vor den ideologischen Vätern mit deren zweckgeleiteter Benutzung; die Installation von übergroßen Denkmalsfiguren verweise letztlich auf einen nur ‘reine[n] Mythos’ (IoM 176), wie es heißt. Das Phänomen der ‘Sanktifizierung’, das hier als Problematik thematisiert wurde, führt Jirgl in anderen Romanen weitaus gründlicher aus. Auf eine äußerst konkret verankerte Weise wird im Roman Abschied von den Feinden anhand einer Beschreibung des Schlafsaales in einem Kinderheim – in das die zwei durch Staatseingriff verwaisten Brüder gesteckt werden – auf die Neubesetzung der durch die ‘Abschaffung der Religion’ vakanten Stelle Bezug genommen – der Wechsel von christlichen zu sozialistischen ‘Heiligen’ erfolgt ganz gegenständlich. Und jene Empore [...], worauf Heute der Platz des Saalwärters war [...], trug einst den Altar & anstelle des Kreuzes mit der draufgenagelten Holzfigur, hing auch hier Heute an diesem Ort, mit dem roten Fahnentuch, der Farbe des Blutes & der Macht, der Macht des Blutes wie des Blutes der Macht, umwunden, die Porträtfotografie des Staatspräsidenten, dasselbe Gesicht wie draußen auf dem langen Flur, dieselben Augen, in die-Zukunft..... starrend. (AF 114)
Vom ‘Blut der Macht’ umgeben, vermeidet der Repräsentant des Staates – dessen Abbild in der DDR tatsächlich in jedem Schulzimmer, Leitungsbüro und öffentlichen Raum anwesend war – demnach den Blick auf die unerquickliche Gegenwart und zieht es vor, sie zugunsten der ‘Zukunft’ zu übersehen. Auch in der Überhöhung der – stets verheißungsvollen – Zukunft zu einem ausschließlichen Kriterium für die Gestaltung des Lebens und die Rechtfertigung für die repressive, entsagungsvolle Verfassung der Wirklichkeit liegt ein gemeinsames Element von Kirche und der ‘neuen’, säkularen Gesellschaft. Damit wird auf einen weiteren, beide verbindenden
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Aspekt verwiesen: ein Glaubensgebot, das kritisches Hinterfragen nicht vorsieht und zulässt. Jirgl charakterisiert den Prozess der angestrebten Lancierung der sozialistischen Ideologie als Ersatzreligion zudem mit dem Hinweis auf die Integration weiterer Rituale und Verfahren der Kirche in verbindliche staatsmachtliche Vorgehensweisen und somit deren Säkularisierung. Der Enkel in Die Unvollendeten, der bei den streng katholischen, ehedem aus dem Sudetenland vertriebenen Verwandten aufwächst und sich dann nach der Rückkehr zur Mutter mit einem eifrigen Ideologen als Stiefvater arrangieren muss, erlebt verblüffende Analogien. ‘Früher [...] mußte ich im Religionsunterricht die 10-Gebote-der-Kristen pauken / Heute bleuten mir der Mann, den ich Vater nennen sollte, & die-Lehrer im Unterricht die IO-Gebote-derSozialistischen-Moral ein’ (U 186).9 Ernst Bloch brachte diese Übertragung bzw. das Ausgießen der bewährten Hohlformen mit nunmehr sozialistischen Inhalten unübertroffen prägnant auf die Formel ‘Ubi Lenin, ibi Jerusalem’.10 Heiner Müller ging überdies soweit, das Festhalten an christlichen Strukturen und Ritualen wie dem Personenkult für das Scheitern des Sozialismus verantwortlich zu machen,11 während Jirgl zumindest die Auffassung vertritt, dass vor allem im Rückgriff auf die klerikalen Rituale Beichte und Buße und in der Form der Maßregelungen, die unter anderen Namen fortbestanden, deren Fruktifikation für ein störungsfreies Funktionieren des sozialistischen Machtapparates ersichtlich wurde.12 Sein theoretischer Ansatz, dass die ‘Vorläuferform’ des sozialistischen Systems ‘die katholischen Praktiken der Beichte, Buße und Inquisition’ seien, die dann in einer ‘Pseudomorphose eines pervertierten, religiösen Systems’ auferstanden, findet ähnlich unmissverständlich in seinen Romanen Eingang.13 In Hundsnächte tauschen der Ingenieur und seine Frau angesichts alter Fotos Erinnerungen an äußerst unerquickliche Ereignisse aus, die in die Erkenntnis münden: ‘KRITIK&SELBSTKRITIK – –Die Fortsetzung der Katholischen Inquisition mit anderen Mitteln – –und jede Leugnung I Geständnis’ (H 256). Diese ritualisierte Maßnahme lässt Jirgl typischerweise im entsprechenden Ambiente stattfinden: Im Rahmen von Strafappellen wurden unter ‘den riesigen Bildnissen von Marx Stalin Pieck vor allen Versammelten [...] Kritik-&-Selbstkritik’ abgehalten (At 221), wie der namenlose Einzelgänger‘aus-dem-Wald’ in ABTRÜNNIG rückblickend erzählt, der alle möglichen Erziehungsinstanzen durchlaufen hat. Hier erfolgt somit die Synthese von
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übermächtigem Totenkult und Selbstkritik. In Letzterer vereinigte sich bekanntlich der Zwang zum Bekenntnis, gefehlt zu haben, also die Confessio, mit der Demütigung (die zudem noch öffentlich stattfand) sowie dem Paradoxon einer verordneten ‘Selbstverpflichtung’ zur Buße und dem auferlegten Abarbeiten der Schuld, somit Sühne, durch besonders eifrige Befolgung der nunmehr sozialistischen Gebote und die Übernahme etwelcher Sonderaufgaben. Jirgls Beobachtungen, bereichert mit dem Wissen um die erwähnten ‘Festtage und Audienzen’, also existierende Privilegien und Sonderrechte, stützen Bourdieus Diktum, dass der reale Sozialismus eine ‘Art offizieller Religion mit korrumpierten Priestern’ sei.14 Jirgl bereichert diese Analogie, indem er seinen Protagonisten in Die Unvollendeten die Erkenntnis formulieren lässt, dass sich ‘DIE-KOMMUNISTEN’ von den Katholiken lediglich im ‘MIESEREN GOTTESDIENST.....’ (U 187) unterschieden. Das konstatierte Resultat dieser und weiterer Monotheismen ist gleichermaßen verheerend; denn sie ziehen einen ‘Troß der Grausamkeiten’ nach sich, woraus folgt, dass im Wirkungs- und Machtbereich von ‘Allah bis Zentralkomitee’ stets ‘1&dieselbe Scheiße [existiert] : Duckmäusertum Speichelleckerei Denunzianten Hasserfülltes Dahinvegetieren & schleimige Afterkumpanei’ (oG 100). Diese Verdammung aller Verheißungen und Utopien stammt aus den Mündern der ‘Väterärzte’ in Das obszöne Gebet, die als Wissende den nach ägyptischem Vorbild auf seiner Totenreise befindlichen Uberich begleiten und den Abschied vom Leben auf scharfe und sarkastische Weise kommentieren. II Das menschliche ‘Alfabet’ Die ‘Väterärzte’ thematisieren damit bereits einen alle Romane umspannenden Aspekt in Jirgls Werk, die nun nachzugehende Problematik nämlich, wie sich Menschen unter restriktiven gesellschaftlichen Bedingungen wie jenen in der DDR verhalten. Der dortige Alltag war, folgt man dem Kommentar in Das obszöne Gebet, also mitnichten weitgehend durch Wärme und Anteilnahme geprägt: Die vielbeschworene gegenseitige Solidarität wird als Mythos entlarvt, denn das auf diese Weise apostrophierte Verhalten ist durchsetzt einerseits von den erwähnten Beobachtungen von Brutalität und Demütigung, andererseits macht Jirgl unverkennbar deutlich,
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dass die gepriesene Hilfsbereitschaft nichts mit Uneigennützigkeit zu tun hatte, sondern auf Egoismus im Rahmen eines gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses basierte. Angesichts all der Güter aus DDRProduktion, die nach der Wende an den Wegesrändern lagern, wird in Abschied von den Feinden konstatiert, dass dies Alibis einstiger Zugehörigkeit [sind], deren Zentren stets alles Tun fokussierten, deren soziales Gewicht Menschengruppen zusammenpreßte – Versorgungs-gemeinSchafften, Händler&schieberringe, Gefühls&wirtschaftsklicken, Frühkapitalismus bei delikater Q-Wärme, bei Partychips & Etagenfick Laubenpieperschwoof & steigendem Wechselkurs deMark-her [...]. (AF 263)
Die sich gegenseitig behilflichen ‘Cliquen’ waren somit Ausdruck einer verschärften Gier nach materiellen Produkten und harter Währung, und sie etablierten Tauschregeln, die an menschliche Gesellschaften gemahnen, welche gar noch frühestem Kapitalismus vorausgingen. Darüber verständigen sich in Die Unvollendeten der Erzähler und ein Bauarbeiter auf entsprechende Weise: Jedeskind weiß [...], hiesiges Geld in jeder-Höhe is vollkommen Ohnewert, aber auch De-Mark-allein ist zum Dazugehören-auf-Dauer nicht hinreichend. !Du=selbst mußt der-Gegenwert sein. – Damit sind sowohl die eigene Arbeitskraft als auch BEZIEHUNGEN fürs Materialbeschaffen gemeint [...]. (U 233)
Der Sozialismus, seinem Selbstverständnis nach eine progressive, sogar die fortschrittlichste Staatsform jener Zeit, förderte und etablierte aufgrund der desolaten Wirtschaft und Versorgungslage somit eine Subgesellschaft nach Art einer Wirtschaftsform, auf der bereits die Stammesgesellschaft beruhte. Die Konsequenzen dieses Gebarens liegen auf der Hand: Wer nichts Adäquates zu bieten hatte, wer Fähigkeiten und Berufe ohne Gebrauchswert und keine nützlichen Verbindungen hatte, dem wurde auch nicht geholfen. Auf diese Weise erfolgt in Jirgls Romanen eine Spaltung der Bevölkerung in einerseits die sich arrangierende ‘Menge’ und andererseits die ‘Einzelnen’, also die ‘Alleingelassenen’ bzw. ‘Abtrünnigen’. Das eiserne Tauschgesetz bekommen auch die Vertriebenen des Sudetenlandes zu spüren, die sich ihrerseits dem Kodex des Eigennutzes nicht verpflichtet fühlen und deren Ziel auch in den unwirtlichen Zeiten darin besteht, Anstand zu bewahren. ‘Alles was man besitzt kann einem genommen
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werden, aber Anstand u Stolz, die kann einem !keiner nehmen –’ (U 9). Sie werden daher erwartungsgemäß umso gnadenloser ausgenutzt, und bald schon sind für Hanna (die Großmutter des Erzählers), die statt materieller Güter ‘CHARAKTER’ hamstert, ‘Menschen u Gemeinheit längst synonym geworden’ (U 9). Das ‘Alfabet-des-Lebenwollens: Arschkriechen Betrügen Chauvinismus Diebstahl Faulheit Geilheit, über Raffsucht Schweinkram Treuebruch, hin bis Z wie Züchtigung’ (U 57) beherrscht auch die Bevölkerung des (östlichen) Nachkriegsdeutschlands im Allgemeinen hervorragend;15 den mittel- und nahezu rechtlosen Flüchtlingen, die mit Redlichkeit und ‘Anstand’ über die Runden kommen wollen, wird dies so schwer wie möglich gemacht. Wie weit das mitleidlose Ausnutzen von Notlagen und Rechtschaffenheit gehen kann, erlebt Hanna, als sie ihr Untermietverhältnis beendet. Die ältere Frau, die sie einstmals uneigennützig gepflegt und der sie unter Entbehrungen Lebensmittel und Medikamente besorgt hatte, erweist sich, indem sie immer neue Vorwände zum Erpressen von noch mehr Geld samt Zinsen erdenkt, als unerbittliche und kaltherzige Wucherin (vgl. U 106f., 112ff.), die hier aufgrund von konsequent, d.h. völlig unbeirrbar verfolgtem ‘Anstand’ im Gegensatz zu Raskolnikows berühmtem Opfer nicht im Mindesten gefährdet ist. Hilfe für Schwache gibt es nicht in der Gesellschaft, die Jirgl in seinen Romanen zeichnet; das muss auch eine weibliche Hauptfigur in Hundsnächte erfahren, der späterhin zum Erhalt ihrer Tochter und ihrer selbst nur der Ausweg bleibt, sich zu prostituieren. Denn als ihr Mann durch einen Stasihierarchen zum (politisch motivierten) Selbstmord getrieben wird, finden sich keine Bekannten, Verwandten und Freunde zur Unterstützung einer Frau bereit, die ‘wie alljene all-I gebliebenen Menschen, viel zu klein, viel zu bedeutungslos sind, um dann aus der I Mal aus Versehen oder Mutwillen losgetretenen Lawine jemals wieder mit heiler Haut hervorkommen zu können – –’ (H 318). Die mit dem Stigma der politischen Missbilligung Gezeichneten werden aus Furcht, Feigheit und vorauseilendem Gehorsam gemieden; ferner wird ihnen auch jede Unterstützung entzogen bzw. verweigert. In dieser ‘wirklich kalt gewordenen Zeit [...] zogen [sie] sich wie vor einer Leprösen zurück: ihre Füße wanken schon: Da wollen wir sie rasch noch treten.....’ (H 316). Den perfekt organisierten, passgenau verbandelten Cliquen auf der einen Seite stehen somit die Alleingelassenen gegenüber, deren Unglück und politischer Makel sie zu gesellschaftlichen
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Parias machen. ‘Diese Art von All-1-sein – [...] – das gab es nur in diesem Land, bis zum Schluß’ (H 257). Dies ist die Erfahrung, die Jirgls Figuren machen: Wer Chancen zum Übervorteilen Anderer nicht skrupellos ausnutzt und auf Moral und Gerechtigkeit beharrt, wer sich zudem nicht beizeiten die Bekanntschaft und den Schutz Höhergestellter, d.h. ‘deren schmieriges, aber ein Überstehen ½wegs sicherndes Mäzenaten- bzw. Protektorentum’ (H 317) sichert, wird stets und überall für die anderen bezahlen und Leidtragender bleiben. ‘Solidarität, Froint, gibts nur im Brockhaus’ (U 62), schallt die Stimme des feisten Stasi-Zynikers aus Hundsnächte bis zu den ‘unvollendeten’ Flüchtlingen hinüber. Jirgl zeichnet eine Phänomenologie menschlicher Kaltherzigkeit, Geschäftstüchtigkeit und Perfidie im sozialen Alltag, die sich bis zu Verrat und Existenzvernichtung ausweiten kann. Seinem Verfahren der ‘Zuspitzung’ ist es zu verdanken, dass trotz der gelegentlichen, quantitativ verschwindend geringen Gegenbeispiele ein entmutigendes Bild einer auf Egoismus und Skrupellosigkeit basierenden Gesellschaft entsteht. Die Romane vermitteln somit, dass der Sozialismus, der mit der Vision eines ‘neuen Menschen’ angetreten war, das menschliche ‘Alfabet’ zumindest nicht anders als seine Vorläufer und Konkurrenten buchstabiert. III Einverleibungen Jener Befund gründet sich nicht zuletzt zu einem überaus wesentlichen Anteil auf die Vergiftung des sozialen Klimas durch Anschwärzung und Verrat, was Jirgl zum Ausgang für die Entwicklung einer aufschlussreichen Metaphorik nimmt, die nun näher betrachtet wird. Das verbreitete Denunziantentum nämlich wird in den Romanen aus einem Bedürfnis nach Erkenntnis und dem ‘Willen zum Wissen’ hergeleitet,16 das sich jedoch in seiner eigentlichen Form im allgemeinen Klima der Überbehütung und Informationsvorenthaltungen durch den ‘vormundschaftlichen Staat’ nicht entfalten kann und auf diese Weise sublimiert wird.17 In 1 Land wie diesem, [...] wo das 1zige Gebot & die einzig wirkliche Gefahr die fortwährende Aufforderung zum Einschlafen darstellt, kann der Zweite Hunger des Menschen – nach seinem Ersten Hunger, dem Hunger nach Brot, gilt der Zweite
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dem Hunger nach Wissen – nur Sättigung finden im Kannibalismus. Fehlendes eigenes Leben muß ersetzt werden durch fremdes Leben [...]. (AF 195)
Dies ist Teil einer resignativen Analyse des ausreisenden älteren Bruders, die seinem ‘Abschied von den Feinden’ unmittelbar vorangeht. Kannibalismus ist ergo ein Symptom fehlenden als auch verfehlten Lebens.18 Er sichert erstens eigenes Überleben um den Preis der Einverleibung und damit Vernichtung anderer; er tritt zweitens dann auf, wenn das eigene Leben nicht mit intellektueller Wachheit und Wissen gefüllt und reflektiert werden kann, wenn folglich das eigene Leben aus sich selbst heraus nicht genügend ‘Nahrung’ bietet, sich nicht aus sich selbst heraus speisen kann. Dies ist die Erklärung für die nicht unbeträchtliche Anzahl ‘dummer Bengel’ mit Schießgewalt als auch für die unselige Entwicklung des jüngeren Bruders in Abschied von den Feinden, der sich als informeller Mitarbeiter der Stasi verpflichtet. Ihm ermangelte die Stärke und Energie für ein eigenes Leben – die Erklärung unterschreibt er in ‘1 Nacht der Stromsperre, voll mit Gewalt & Blut’, die aber auch erfüllt ist von seiner Schwäche und seinem Scheitern (vgl. AF 153). Er absorbiert, verinnerlicht das Leben seines Bruders, fungiert als begieriger ‘Schatten’ und ‘Spitzel’, als ‘Entwerfer von Spuren’ (AF 194). Die Handlungsweisen der zwei Brüder symbolisieren exemplarisch die zwei äußeren Pole, mit den Gegebenheiten des bedrohten eigenen Lebens umzugehen. Das bedeutet auch, dass sie zugleich zwei mögliche Lebensentwürfe einer Person unter identischen Bedingungen verkörpern und repräsentieren, ja sie sind in ihrer unaufhörlichen gegenseitigen Spiegelung gewissermaßen in ihrer Essenz die zwei Seiten einer Person und somit die Konkretion des Möbiusbandes. Der Versuch des Jüngeren, dem Einschlafen zu entgehen, besteht darin, sich dem Staatssicherheitsdienst zu verdingen; sein Bruder entzieht sich den Alternativen ‘Schlaf’ oder Spitzeldienst durch die Übersiedlung in den Westen. Des Weiteren existiert ein Mittelweg, zu dem die Verhältnisse im ‘Irr-Wahna DeDeR’ (U 198) implizit einladen – die Doppelexistenz. Das bedeutet, wie es der ältere Bruder als Jurist in der DDR praktiziert, ein geteiltes Dasein in ‘Doktor Jekyll u Mister Hyde in=sich am Leben zu erhalten; den I im Sein, den andern im Denken’ (AF 27). Doch abgesehen davon, dass damit eine permanent schizophrene Existenz unausweichlich wird, kann dies keine prinzipielle Option darstellen, und diejenigen, die auch diese Möglichkeit verwerfen, zugleich aber wach und
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wissbegierig bleiben, entbehren jeglichen Schutzes; sie sind ausgeliefert – das muss die vom älteren Bruder zurückgelassene ‘Frau mit dem Gesicht einer weißen Füchsin’ in Abschied von den Feinden erfahren, hatte sie doch beschlossen, auf diese Ödnis, die zu ihr zu gehören schien, sich nicht einlassen zu dürfen : lieber zu Nichts gehören, zu Nichts werden, entrücken, von sich selber abwesend sein: Alles, !bloß nicht jenem kleberig=zähen Absterben-bei-lebendigem-Leib sich gleichmachen & Ireihen lassen – :und so ein Leben der steten Abwehr, des sysifoshaften Ringens gegen solch titanisches Hinabziehen, wo sich Kräfte Lüste Begierden verbrauchen, besser: wo gar nichts an Lustvollem, Begehrens- & Wünschenswertem mehr sich auffinden lassen will [...]. (AF 202)
Dieser Versuch eines authentischen Lebens ohne Verstellung und Lüge, zudem auch ohne Flucht, wird aber massiv bestraft und endet schließlich in Vernichtung – damit erneut Adornos berühmte Worte bestätigend, dass ein richtiges Leben im falschen unmöglich sei.19 Es gibt für diese Frau nichts mehr, wofür es sich noch lohnte zu leben; was bleibt, ist lediglich ein ‘Dagegenhalten’. Unter diesen Bedingungen gibt es keine externe Energiequelle; die notwendige Stärke dafür muss daher im Inneren erzeugt und bereitgestellt werden. In jenem ‘sysifoshaften’ Kampf praktiziert die Frau ein Sich-Verzehren, einen gleichsam nach innen gerichteten, also buchstäblichen Autokannibalismus. Kannibalismus an sich verweist jedoch prinzipiell zunächst einmal auf eindeutige Aggressionen gegen andere Vertreter der eigenen Spezies, die bei domestizierten Tieren typischerweise Folge von Stress sind. Dieser Stress herrscht offenbar im Ostberlin der achtziger Jahre, wo der Leser dem ‘Zirkel der Verwesung’ (IoM 183-201) begegnet. Diese Geschichte aus Im offenen Meer handelt von einer hexenartigen Frau im Keller eines Berliner Mietshauses, die in einem großen Kessel herumrührt, und dabei fördert die Kelle 1 Jacke hervor, der Ärmel glitscht auf den Kesselrand nieder – : + 1 Hand, weißbleich zerkocht mit borstigem Haar auf dem Handrücken, rutscht aus dem Ärmel der Jacke. Lachend rädert die Alte weiter im Topf + hebelt aus dem grauen-Sud noch weitere Menschenteile [...]. (IoM 190)
Dies ist der Einstieg in eine alptraumhafte Kannibalismusszene, in deren weiterem Verlauf auch zwei afghanische Begleiter des Erzählers in
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ebendiesem Kessel zu Tode kommen. Damit entsteht in der Beziehung zu den Fremden eine für die Anthropophagie wesenhafte Ambivalenz, da hierbei zwar die Grenzziehung und Distanz zu ihnen aufgehoben wird – sie werden ‘aufgenommen’ und ‘einbezogen’, d.h. integriert, – jedoch geschieht das um den Preis ihrer Vernichtung. Akzeptanz wird ihnen nur gewährt als ‘Futter’ zur Erhaltung der hiesigen Bevölkerung. Dieser auf Kannibalismus zielende (gesellschaftliche) Vorgang, der gemeinhin mit einem ‘Nullzustand menschlicher Kultur’ gleichgesetzt wird,20 kann hier mit der Vokabel ‘eingekesselt’ beschrieben werden, welche wiederum mit Gewalt und Krieg konnotiert ist. Damit wird ein Motiv aus dem MutterVaterRoman, wo der archaische Kannibalismus in Folge von Kriegshandlungen auftritt, wiederaufgenommen. In einen ganz ähnlichen Kontext, allerdings zeitlich und lokal präzise verortet, stellte auch Heiner Müller den Kannibalismus: In Stalingrad im Kessel / Haben sie mich ausgekocht. Das war kein Krieg mehr. / Wir hätten Gras gefressen, aber ich hab / Kein Gras gesehn. Wir haben keinen Knochen / Gefragt, ob er vom Pferd ist oder ICH / HATT EINEN KAMERADEN.21
Es ist Müllers wie auch Jirgls Anliegen zu zeigen, wie skrupellos und zügig man sich menschlich-kultureller Errungenschaften, worunter Nächstenliebe, Freundschaft, Kameradschaft zu zählen sind, im Ernstfall entledigt. In ‘einer barbarisierten Welt, die stets auf einen Verlust von Menschlichkeit hinweist’ ist immer eine ‘Steigerung von Gewalt’ zu vergegenwärtigen.22 Im erwähnten Romandebüt Jirgls wird dieses Motiv variiert und in einer dem Müllertext vergleichbaren Weise mit dem Kontext ‘Krieg’ versehen, der als überhöhter, staats- und ‘gottgefälliger Kannibalismus’ (MVR 166) herausgestellt wird – der Krieg verspeist die Soldaten. Essen war seit den Anfängen der Menschheit auch mit dem Töten Unterlegener, mithin die Erfüllung des Wunsches zu essen mit dem Imperativ des Tötens verbunden und daher mit vitalistischer Macht. Sowohl allegorischer als auch ‘realer’ Kannibalismus stellt die letzte Stufe in der Reihe der Praktiken von Machtausübung über Menschen dar, da mit ihm die Ausnutzung des Menschen am konsequentesten betrieben wird: Wer über Menschen herrschen will, sucht sie zu erniedrigen; ihren Widerstand und ihre Rechte ihnen abzulisten, bis sie ohnmächtig vor ihm sind wie die Tiere. Als
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Tiere verwendet er sie [...]. Sein letztes Ziel ist immer, sie sich ‘einzuverleiben’ und auszusaugen.23
Solange aber menschliche Beute im Rahmen politischer Aktivitäten sich durchaus im allgemeinen staatsmachtlichen Konsens befindet, sie eingeplant und in Kauf genommen wird, muss innerhalb dieses Kontextes eines autorisierten allgegenwärtigen Kannibalismus der reale normal erscheinen. Der desertierte, durch kriegsverwüstete Landschaften mäandernde Walter ‘ist sich selbst der Nächste’ und frisst, was ‘krepiert’ – aber ‘wieviel Tote frißt ein Krieg’ (MVR 169).24 Der ‘figurative Kannibalismus’ eines jeden Krieges wird in dieser Szene in den realen überführt, ersterer ist dabei nicht nur nicht weniger verwerflich, sondern im Grunde barbarischer, da er hemmungs- und bedenkenlos vollzogen wird. Die zügellose kriegerische Ingestion beruht auf ‘hemmungslose[r] Gier’ und nicht auf ‘naturhaft-wilde[r] Raserei’ und ist somit ‘ein Produkt der europäischen Zivilisation’, deren strenge militärische Hierarchien auf unbedingtem Gehorsam fußen. 25 Als ein Soldat, der Gehorsam verinnerlicht hat, lernt Walter ebenso ‘den Wünschen eines Sterbenden [der Walter anwies, ihn zu essen, K.D.] zu folgen. Seine Worte sind mir Befehl, wozu hab ich Soldat gelernt. Befehl heißt Frei-Spruch vom Verbrechen, der neue Ablaß’ (MVR 167).26 Die Rechtfertigung im Sinne von Gewissensabsolution, wie hier Walters Argumentation demonstriert, ist der Schlüssel zur Funktionsweise sämtlicher vom Staat (sowie jedwedem Machtinstrument) ausgehender Gewalt und Verbrechen: Jeder Agierende war immer nur Befehlsausführender. Und selbst die in der Hierarchie Führenden konnten sich immer noch auf den Dienst an der höheren Sache berufen – auch hierbei dem christlichen Paradigma folgend. Die Vorgänge des Verzehrens verweisen auf den Mund, dessen Funktion allerdings eine zwiefache ist: Zu der des Essens tritt die des Redens. Die Dichotomie von Sprache und Anthropophagie ist, wie Daniel Fulda feststellt, eine populäre (Gegensatz-)Paarbildung, da der topologische Ort des Verspeisens zugleich ebenjener der verbalen Mitteilung sei. Gleichwohl verkörpert dieses Paar die Maximalpole der interpersonalen Beziehung, da erstere Funktion durch physische Vernichtung als auch Verwertung charakterisiert ist, während letztere durch kommunikative Einbindung des Anderen Verständigung zum Ziel hat.27 Begreift man diese Funktionen als
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komplementär und transponiert sie auf eine gesellschaftstheoretische Ebene, evoziert dies die These, dass umso mehr von der Substanz der Menschen ‘verschlungen’ wird, je weniger es zu einer echten, d.h. dialogischen, Kommunikation kommt. Hierin liegt ein bedeutsamer Ausgangspunkt für die markante Kannibalismusmetaphorik in Jirgls Romanen. Daher ist die Opferung im wortwörtlichen Kriegsgeschehen nur eine von mannigfachen Szenerien für kannibalische Vorfälle in selbigem und weiteren Romanen.28 Krieg als übergreifende gesellschaftscharakterisierende Metapher und ‘eigentliche Form der Geschichtlichkeit’ bestimmt das Verhältnis der Menschen zueinander auch in den Zeiten, in denen der ‘echte’, der Krieg im Wortsinn, pausiert.29 MER – Insel der Ordnung thematisiert die radikale Umgestaltung der Gesellschaft im verschärften Ausnahmezustand. Menschen, die als Urlauber auf die Insel fuhren, erleben ihre stufenweise Degradierung und Entwürdigung zu rechtlosen Gefangenen. Im oberflächlichen Frieden des lagergleichen Zustandes der ‘Insel der Ordnung’, der indes eine Variante eines ständigen ‘Krieges ohne Front’ (AF 193) bedeutet, ernähren sich die Kasernierten, wenngleich zunächst unwissend, von ihresgleichen – ‘ein Fluch, der Nachbar der Stoff zum Überleben..... Aus Kannibal bist du, zu Kannibal wirst du. Und Darwin schlägt Rollerückwärts zum Fest der neuesten Auferstehung.....’ (GT 420). Die gnadenlose sozialdarwinistisch motivierte Herabwürdigung menschlichen Lebens zu verwertbarem ‘Material’ hat damit einen Tiefpunkt erreicht; die Kesselsuppe mit ‘Kannibalenbrocken’ (GT 502), zu denen auch die zuvor von den drei Hauptpersonen begehrte Frau verarbeitet wurde,30 führt jedoch immerhin zu einer letzten Auflehnung der durch die Realität des Irrsinns eingekesselten Inselbewohner gegen das Vertieren (vgl. GT 502). Doch der einzig mögliche Ausgang aus dem Wahnsinn und der Absurdität der Situation wird in deren Steigerung gesehen: d.h. sich selbst dem Irrsinn zu ergeben. ‘So wurden Landschaften des Wahnsinns, Nullpunkte des Lebens, zu den einzigen Gefilden, deren Besiedlung sich noch lohnte’ (GT 503). Die Null- und Endpunkte des Lebens entäußern sich somit als Folge absoluter Verfügung über Menschen in der Inhumanität des Kannibalismus und im Wahnsinn, demnach im physischen und mentalen Tod. Die Opferung der Schwachen markiert zugleich aufgrund der dehumanisierenden Konsequenz einen äußerst starken historischen Rückfall. Während er aber ein provozierter ist und Ausdruck der Klimax der
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menschenverachtenden Strategie des Überlebens des Stärkeren, kommt es in Im offenen Meer zu einem unerhörten Ereignis, da sich die prinzipiellen anthropophagen Machtverhältnisse von Essendem und Gegessenem verkehren. Einem ‘Großen Fressen’ (IoM 149) aus im Doppelsinn vorgeblicher Verehrung – ‘Denn Opfer / dem Höchsten darf nur höchstes Opfer sein’ (IoM 148) – dient am Ende ein privilegierter Schriftsteller ‘mit Beziehungen’ im Text ‘Die Profezeiung des I-Ging’ (IoM 135-149) als Speise, was mit einer Aufführung von dessen Bearbeitung des Tantalos-mythos vorbereitet wird. Die Kunst und Götterwelt erfordern Blutopfer, nur ist dieses hier gegen alle Tradition selbst ein Hochstehender, ein Privilegierter und dem Mythos gemäß Gott, zudem mit Zeus der ‘allerhöchste’.31 Mit dessen Vertilgung werden Ungleichgewicht und Unrecht nivelliert, Gefressener und Fressender sind nun, da ein Leib, ‘unzertrennbar’ (IoM 149). Das Machtpotential des Gottes Zeus wird durch den Machtlosen verschlungen, in den es damit, sowohl der traditionellen ritualisierten Anthropophagie als auch antiken Mythen folgend, übergeht.32 Im Sinne von Claude Lévi-Strauss folgt das Geschehen dieser Szene dem Prinzip von ‘ursprüngliche’ Anthropophagie praktizierenden Gesellschaften, da ‘in der Einverleibung gewisser Individuen, die furchterregende Kräfte besitzen, das einzige Mittel [ge]sehen [wird], diese zu neutralisieren oder gar zu nutzen’.33 Auch in der Tötung und im Verspeisen des Freudschen ‘Urvaters’ offenbaren sich vergleichbare Motive.34 Der privilegierte Schriftsteller fiel seinem Glauben an die eigene Unantastbarkeit und an die ewige Dankbarkeit des anderen, von ihm einstmals protegierten unbekannten Kollegen, zum ‘Opfer’. Er verkannte auf fatale Weise die Richtung der ihn betreffenden ‘Heilserwartung’ (IoM 141). Die gewissermaßen gottgegebene, hier zugleich auch sozialistische Hierarchie wird auf diese Weise gestürzt und aufgehoben – das kannibalische Ritual ist somit eine Form der Revolution, da mit dem Essen ‘des Gottes’ die etablierte Ordnung zerstört und die Göttergemeinde ‘enthauptet’ wird. Der Weg ist frei für die Machtübernahme durch die ‘Sterblichen’, somit frei für eine neue Ordnung – analog der Ersetzung der Freudschen ‘Vaterhorde’ durch den ‘Brüderclan’, die durch die erwähnte Tötung und das Verspeisen initiiert wurde.35 Daher kann man konstatieren, dass ähnlich wie in Heiner Müllers Hamletmaschine, das ‘Gott-Essen [...] auf den Übergang vom patriar-
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chalischen System (Stalinismus) zur Herrschaft der Söhne an[spielt], die sich vorgeblich der Egalität (Demokratie) verpflichten’.36 Dieser ‘Vorfall’ findet in Das obszöne Gebet sein Gegenstück. Dort erzählt Uberich von der Bevorratung eines Spezialitätenrestaurants mit Menschenfleisch. Ein erscheinender Revisor, demnach kontrollierender Repräsentant einer machtbefugten Behörde und daher ein vergleichbarer ‘Patriarch’, verspeist ungerührt das ihm vorgesetzte und nur kümmerlich kaschierte Menschenfleisch: Der Revisor dem die Speise kredenzt war Verzieht keine Miene scheint Nichts zu bemerken von der UNGEHEUERLICHKEIT auf seinem Teller Er beginnt seelenruhig sein Mahl [...] Finger auf dem Teller [...] winzige Hände 1 Stück Unterarm 1 Schenkel [...] ißt ohne 1 Miene zu verändern 1 Stück nach dem anderen von diesem Mahl -. (oG 75)
Die hierarchischen Verhältnisse sind hier (wieder) derart konsolidiert und unverrückbar, dass revolutionäre Umkehrungen jenseits des Vorstellbaren liegen; die Opferung der Menschen für den Tisch der ‘Oberen’ ist durchaus in aller vorhandenen Ordnung, und daher dringt das Ungeheuerliche ihres Tuns den Vertretern der Macht nicht einmal ins Bewusstsein. Das Faktum der praktizierten Anthropophagie in all den geschilderten Szenen vollzieht sich indes stets im ideologisch verfügten Rahmen, denn es ist der vollendete, da konsequent realisierte und gesteigerte Materialismus einer Gesellschaftsordnung, auf dessen theoretischer Basis sich der sozialistische Staat errichtet hatte. Der Materialismus gipfelt in der ‘Verwertung der eigenen Substanz, des Menschen selbst’ (GT 830), so Jirgls These. Symbolischer Kannibalismus ist zwar ein überzeitliches Phänomen, das sich jedoch in undemokratischen, ‘monologischen’ Staatsformen besonders prägnant zeigt und sich auf alle Bereiche der Gesellschaft erstreckt. Er entspricht in den hier untersuchten Romanen weniger der Theorie Freuds von einer Einverleibung des geliebten ‘Anderen’, sondern ist Ausdruck und Resultat von Gier, Oppression, Machthunger. Die auf die DDR-Gesellschaft applizierte Kannibalismus-Metaphorik ist ein bildhaftes und drastisches Exempel für die Einspeisung des Menschen in die Ideologie,37 ferner für den vollkommenen Verlust solidarischen Verhaltens und das Prinzip, das eigene (politische wie private) Überleben und Behaupten auf Kosten anderer zu organisieren. Damit ist der Mensch
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auch den je Anderen lediglich noch interessant als ‘Substanz’, darin dem ‘Nutztier’ vergleichbar, nicht als genuin ebenbürtiges und Respekt verdienendes Gegenüber. Der entwertete Mensch, der in den modernen Gesellschaften nurmehr als je funktionierende Einheit Geltung hat, entspricht mit seinen jeweils relevanten Fähigkeiten den nutzbaren Schlachttier-Teilen: Dort steht er dann, der-Mensch, Körper & Gehirn markiert wie beim Fleischer auf der Schautafel das Rindviech zum Ansehn der saftigsten Stücke : ?!Das soll er also sein, der Mensch..... Und wenn ja: Für ?!wen gäbs dann auch nur ?I Grund, ihn zu ?preisen – außer für den Kannibalen. (AM 351)
Während korrelierend zu dieser Erkenntnis die Preisgabe der Menschen, Gemetzel und Barbarei, also die Fleischopfer, den roten Faden im MutterVaterRoman, aber auch durch die darin sich ineinander verhakenden Zeiten bildet, stellt eine scharfe Gesellschaftssatire einen zentralen, in sich geschlossenen Teil des Buches dar, der im Folgenden näher untersucht wird. IV Soik und Jaik und Neu-Deutschland Walter gelangt im Laufe seiner achtjährigen Odyssee zu ‘einer obskuren, fäkalischen Einsiedlergesellschaft, einer Sekte, die auf einer Müllhalde lebt’, und deren Leben unter Ausschluss jedweder Kreativität und Arbeit vollständig bürokratisiert ist.38 Diese ‘Einsiedlergesellschaft’ namens ‘NeuDeutschland’ (MVR 216 u. passim), die auf Unrat und Schrott ihr Gemeinwesen angesiedelt hat und sich in zusammengestoppelte Lumpen hüllt, ist gewissermaßen eine, Orwells ‘Oceania’ nachempfundene, degenerierte sozialistische Gesellschaft. Sie verfügt ‘über eine Art utopisch-sozialistisches Programm [...] SOIK UND JAIK, eine Art Gegenbild zu Campanellas Sonnenstaat oder auch bildliche Ausführung eines “Scheißstaates”’.39 Das erscheint durchaus plausibel, da Fäkalien unausweichlich zum ‘Stadtbild’ gehören und auch das höchste Regierungsorgan in einer ‘fahrbare[n] Bedürfnisanstalt’ (MVR 277) untergebracht ist. Es liegt daher nahe, den höchst sonderbaren Einkaufszettel, der mit herausgehobenen ‘15 Rollen Klopapier !!!’ (MVR 260) endet, als exklusive Belieferungsdirektive für diese Regierungsbeamten zu interpretieren, deren ‘Ausstoß’ sich offenbar immer mehr verdünnt – die also mithin nichts Substanzielles mehr von sich
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geben; Logorrhoe und Diarrhoe bezeichnen diese Tatsache auf analoge Weise. Während man also die vordem erläuterten anthropophagen Szenen und Bilder nach psychoanalytischer Lesart der oralen Phase der Libido zuordnen kann, die gleichwohl charakteristischerweise mit sadistischen Impulsen durchsetzt ist, verweist diese Satire sozusagen auf die ‘sadistisch-anale’ Entwicklungsstufe, welche Freud zufolge ‘Befriedigung in der Aggression und in der Funktion der Exkremente’ sucht.40 Beide Entwicklungsetappen haben somit exzentrisch-aggressiven sowie einen in höchstem Grad un(ter)entwickelten als auch unreifen Charakter und sind damit bestenfalls Vorstufen einer ausgereiften, ‘erwachsenen’ Existenz – oder deren Depravation. Da diese Gesellschaft um ein ‘fäkalisches’ Zentrum herum organisiert ist, bietet sich eine weitere Lesart mit Canetti an, der darauf verweist, dass sich Verdauung und Ausscheidung ‘wohl als der zentralste, wenn auch verborgenste Vorgang der Macht’ ansehen lassen: Man neigt dazu, nur die tausendfachen Späße der Macht zu sehen, die sich oberirdisch abspielen; aber sie sind ihr kleinster Teil. Darunter wird tagaus, tagein verdaut und weiterverdaut. Etwas Fremdes wird ergriffen, zerkleinert, einverleibt und einem selber von innen her angeglichen; durch diesen Vorgang allein lebt man.41
Verdauung wird hier dem Prozess der Machtausübung gleichgesetzt, Kot ist das materialisierte Resultat der Vernichtung, damit aber auch das ‘uralte Siegel jenes Machtprozesses der Verdauung’.42 Auf dem Weg, den ‘die Beute’ durch den Körper des Fressenden geht, ‘wird sie langsam ausgesogen; was immer verwendbar an ihr ist, wird ihr entzogen. Was übrig bleibt, ist Abfall und Gestank. Dieser Vorgang [...] ist aufschlußreich für das Wesen der Macht überhaupt’.43 Das durchorganisierte Staatswesen, das sich also aufrecht und am Leben erhält aufgrund des Aussaugens ihrer ohnmächtigen Bevölkerung, beruht auf einem ‘Zentralrat’ (MVR 217, 229), zahlreichen absurden Ministerien und anderweitigen Regierungsinstitutionen mit paradoxen und umständlichen, aber durchaus sehr aussagekräftigen Bezeichnungen (Vgl. MVR 228f. und 274ff.).44 In Walters Beobachtungen und seiner Charakterisierung dieser Gesellschaft werden alle Auswüchse des ‘real existierenden Sozialismus’ in
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extremer Weise satirisch überhöht; das betrifft neben der Organisation des Staates sein Erstrecken bis in die privatesten Belange, was in der Institution eines Liebesvollstreckungsbüros LIEVOBÜ gipfelt und Teil eines totalitären Kontroll-, Überwachungs- und auch Vernichtungsapparates darstellt – sogar das Observationsministerium wird observiert. Die vielfachen Ämter dienen der bürokratischen Verwaltung des Lebens und bemänteln den desolaten Zustand des Gemeinwesens, stellen ihn jedoch zugleich auch bloß, da die blamable Notwendigkeit solcher Institutionen evident gemacht wird (vgl. MVR 275), was geradezu den Vergleich mit den staatlichen DDR-Institutionen einfordert. Die ins Extrem getriebene bürokratische Abkürzungsmanie – so wird Walter zum ‘Gefährlichen Gefangenen Neu-Deutschlands’, ‘GEGEND’ (MVR 218) erklärt – und die verwendete ‘Reihe euphemistischer Vokabeln’ trägt zu einer ‘prätentiösen Stilistik’ der entsprechenden Ministerien, ‘deren rohe Aufgabenbereiche keineswegs mit ihrer einschmeichelnden Betitelung harmonisieren’ (MVR 274), bei und sind sprechende Beispiele für die, an anderer Stelle geäußerte, ‘ekelhafte Rhetorik’ einer Diktatur.45 Dazu gehören auch, um in den Worten Jaspers zu sprechen, ‘Schlagworte, die alles erklärenden Universaltheorien, die groben Antithesen’: Begriffe werden dabei zu Fahnen und Zeichen. Die Worte werden falschmünzerisch gebraucht zur Verwendung in einem verkehrten Sinn [...]. In der durch die Weisen der Propaganda sophistisch ruinierten Sprache weiß man dann schließlich nicht mehr, was die Worte eigentlich bedeuten.46
Die typische Umwertung von Begriffen und Wörtern als ein Kennzeichen der ‘korrumpierten Sprache’ zur Sicherung der bestehenden Hegemonie erhält in der Darstellung Neu-Deutschlands eine eklatant bedrohliche Note,47 denn eine Menschenopferungszeremonie nennt man dort ‘Liebesvollstreckung’ (MVR 215) und eine Hinrichtung ‘Liebesurteil’ (MVR 257).48 Wenn eine entsetzliche Sache nicht bzw. nur euphemistisch benannt werden kann, ist sie als eine solche nicht mehr vorhanden, da keiner imstande ist, die Wahrheit über sie zu erzählen; die Sprache, die doch dazu dienen soll, sich über die Wirklichkeit zu verständigen, hat mit dieser nichts mehr gemein. Angesichts des desolaten Zustandes Neu-Deutschlands, in dem anscheinend nur noch die Ämter und Ministerien funktionstüchtig sind, das aber ‘einem wesentlich höheren Kulturniveau entstammen’ muss, blickt Walter
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der Tatsache ins Antlitz [...], daß offenbar wenig Jahre ausreichend sind, das Werk aus Jahrhunderten wie eine altersschwache Fassade im Handumdrehen abbröckeln zu lassen, wonach ein Zustand von décadence wie eben jener hier geschaute die Oberhand gewinnt. (MVR 273-274)
Er gelangt zu der höchst deprimierenden Erkenntnis, daß der Mensch, als Kategorie verstanden, in jeden noch so beliebigen Zustand von décadence sinken kann bis in vollkommene Lethargie & Starre, unter deren Wirkung er bereit scheint, nur jede denkbare Grausamkeit & Entwürdigung mit Gleichmut zu ertragen, sofern ein Terrorsystem seinen Unterdrückungsmechanismus unverschleiert zu Schau & Anwendung bringt, so daß selbst die UrInstinkte des Menschen, der Wille, die eigene Existenz zu erhalten, getilgt & annulliert sind [...]. (MVR 277)
In diesem Staat wird aufgrund des Arbeitsverbots und der maskulinen Unisex-Gesellschaft jeder Vitalismus unmöglich gemacht; ‘das einzige Liebesobjekt’ besteht in einer ‘Ansammlung halb verkrüppelter Denkmäler mit Aktfotographien’. Die totale Absenz von Frauen verweist auf eine grundsätzlich sterile und impotente Gesellschaft, die daher zum Untergang verurteilt ist. Aus der Verbindung dieser Tatsache eines realen ‘Liebesentzugs’ mit dem menschenverachtenden Zwang, in müllähnlichen Behausungen zu vegetieren, kann nur eins entstehen: ‘Ressentiments & Haß & Terror gegen Alles & Jeden, einschließlich & insbesondere gegen sich selbst’ (MVR 277). Dass sich mit dieser Gesellschaft ein unfassbarer Abstieg vollzogen hat, erkennt Walter ebenso, als er ein offenbar geheimes Dokument mit dem Titel ‘Soik und Jaik – Grundpfeiler für ein Neues Deutschland’ (MVR 237ff) findet, in dem philosophische Abhandlungen und programmatische Ausführungen dem Titel entsprechend die geistige Grundlage des neuen Staates bilden sollten.49 Im zweiten Kapitel dieses Pamphlets werden die Phasen des ‘Aufbaus der neuen Gesellschaft’ erläutert: In der ‘soistischen Entwicklungsphase’ (MVR 258) als ‘erste[r] Phase der jaistischen Lebensform’ (MVR 244) findet eine ‘totale Institutionalisierung des Lebens’ (MVR 258) statt, die der ‘jaistische[n] Endphase’ (MVR 258) vorausgeht. Dies parodiert unverkennbar die marxistisch-leninistische Theorie vom Sozialismus ‘als erste[r], niedere[r] Stufe der einheitlichen kommunistischen
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Gesellschaftsformation’, während als Kommunismus ‘i.e.S. deren höhere Phase [...] die höchste Stufe in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, in der es keine Klassen mehr gibt’, bezeichnet wird.50 Sowohl die soistische Phase als auch die sozialistische dien(t)en dazu, die institutionellen und ökonomischen Grundlagen zu legen sowie die Gesellschaft und die Menschen umzubilden, d.h. für die kommende Gesellschaft zu- bzw. abzurichten, und verlangen daher der Bevölkerung die größten Opfer ab. Der Analogien gibt es noch weitere: Die Ausführungen im Dokument zeigen, wie aus einleuchtenden Prämissen abstruse Konsequenzen gezogen werden; so beschließt man kurzerhand aufgrund der Einsicht, dass ein Volk zur Unterordnung tendiert, triebgesteuert und verführbar sei, das Volk abzuschaffen (MVR 249f.), wie auch die durch den Arbeitsprozess hervorgerufenen Hierarchien und Ungleichheiten Anlass für die ‘LIQUATION DES ARBEITSPROZESSES’ (MVR 258), somit für ein Arbeitsverbot sind. Dieses konsequent umgesetzte theoretisch-praktische Prinzip gipfelt im Beschluss, während der so genannten ‘jaistischen Endphase’, alles zum Staat zu machen, denn ‘sobald “alles Staat ist”, wird eine Unterscheidung in Staat & Nicht-Staat überflüssig, mithin auch der Begriff & das Denken in diesen Begriffen’ (MVR 259). Bereits zuvor wird von der ‘Soik’ unmissverständlich gefordert, dass der absolute Staat errichtet werden müsse (MVR 251), was gewissermaßen der Diktatur (des Proletariats) entspricht. Dieser ‘absolute Staat’ wie auch die Diktatur kann verstanden werden als konkrete Realisation des ‘Willen[s] nach Totalität derjenigen, die im Besitz des Instrumentariums der Macht sind’ (Z 125). Im Laufe der programmatischen Ausführungen also werden die Präliminarien der Überlegungen auf eine tendenziöse Weise weiterentwickelt, missinterpretiert und pervertiert, was letztlich zu dem vorgefundenen Status der Gesellschaft führte. Es sind demnach zwei Übel, die eine Gesellschaft degenerieren und somit in einen barbarischen Zustand zurücksinken lassen: Eine theoretische Schrift unreflektiert und unkritisch als sakrosankt, als unantastbares Heiligtum zu behandeln und zweitens, sich auf deren alleingültige Exegese durch selbstherrliche wie auch selbstbefugte Ideologen und Praktiker zu verlassen; d.h., die Unfehlbarkeit von Programm und Exegeten absolut zu setzen, was indes als konstituierendes Prinzip der kommunistischen Bewegung und der sozialistischen Gesellschaftsordnung gelten kann.
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In einem solchen Staat ohne Kontrollinstanzen, aber mit einem sich verselbstständigenden Beamtenapparat muss es in zwingend voraussehbarer Weise zur unmäßigen Ausübung institutionalisierter Macht und zu Machtmissbrauch sowie dessen gleitender Ausweitung und Perfektionierung kommen. Das Resultat ist eine pervertierte Version, eine Karikatur eines Staates. Das hier geschaffene Porträt eines Staatswesens, das das Leben entwertet hat und aufgrund des ausschließlichen Schutzes seiner eigenen Institutionen ein vollkommen selbstreferentielles Gebilde darstellt, in dem die Bevölkerung marginalisiert wird, in dem sie nur noch statistische Funktion hat, dient Jirgl zu einer konsequent durchgespielten Fiktion des Endstadiums der damals beobachteten und analysierten Entwicklungsansätze zu einem solchen Staat. ‘Neu-Deutschland’ basiert also auf dem erkannten absurden Potential des ‘real existierenden’ Sozialismus. V Überschreitung Die Aussichtslosigkeit dieses sozialistischen Gesellschaftsversuchs erkennend und unter den massiven und allgegenwärtigen Auswirkungen der Doktrin der Verwertung des Menschen leidend, die unweigerlich einhergeht mit der Missachtung der Menschenwürde, sowie um der Gefahr des ‘Einschlafens’ zu entgehen, reifte seinerzeit wie in so vielen Menschen im älteren Bruder des Abschiedsromans der Entschluss, das Land zu verlassen, in der Hoffnung, damit all die Beschränkungen, Bedrückungen und Gewalteinwirkungen hinter sich lassen zu können. Doch es ist eine trügerische Erleichterung und Euphorie, die den älteren Bruder befällt, als er seine Ausreise betreibt. Ich werde diesen Teil der Welt nicht mehr riechen müssen, ich werde um I Art von Angst ärmer sein: Und !das werde ich als Gewinn betrachten. Denn ich werde dieses Treiben nicht mehr mitansehen müssen, dieses Treiben aus Blut & kaltschnäuziger Demütigung in diesem Ententeich des Größenwahns – :Er hat sich geirrt. (AF 31; Kursivierung von K.D.)
Die Hoffnung des ausreisenden älteren Bruders erfüllt sich demnach nicht – auf Ängste, Demütigungen, Größenwahn musste er unausweichlich auch im anderen Deutschland treffen. Doch das Ausmaß des sozialistischen
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Größenwahns, der sich in aufgeblähten Worten und Visionen spiegelte, bleibt unerreicht. Grandioser Aufmarsch. !Grandiose Siege. Die Amis überrannt. !Sieg !Sieg. [...] Der Sozialismus !siegt. Stechschritt EnVauAh. Von Unter den Linden direkt auf den Kudamm. !Triumfale Siegesparaden. Fahnenklirr & Ordenhagel. [...] Traumes Ende: zum Siegen kein Telefon. (AM 206)
Der Größenwahn basierte, so zeigt diese Passage, auf militärischen Träumen, realitätsfernen Überschätzungen und expansiven Visionen, mithin mit einem – den offiziellen Verlautbarungen widersprechenden – aggressiven Potential, das auf die sozialistische Weltherrschaft abzielte. Er äußerte sich aber bekanntlich ebenso in ökonomischer und politischer Hinsicht, was vor allem eine absolute selbstherrliche Ignoranz aller diesbezüglichen Probleme und der Verkennung ihrer Konsequenzen bedeutete. Der Rechtsanwalt in Hundsnächte, identisch mit dem älteren Bruder des Abschiedsromans, reflektiert denn auch über die Substanzlosigkeit des Sozialismus, ‘I Kriegskommunismus in Pfannkuchenwärme’ (H 283), der den Charakter eines andauernden Provisoriums besaß. Sein Resümee lautet: Drinnen u Draußen unter allem Pomp & kindisch=aggressivem Maulheldentum indes Niederlage & Scheitern ins Markenzeichen gebrannt. Od: nicht Imal das, nur von Anfang-an I schäbigen, miserablen Zusammenbruch anheimgegeben, I im Grunde gleichgültiges, lustlos u daher unmenschliches Remis über Jahrejahrzehnte hinweggeschleppt – Solang es hält hälts – [...]. (H 283-284)
Es ist daher die Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen der Menschen, die diesen permanent vom Zusammenbruch bedrohten Gesellschaftsversuch zur Behauptung einer Idee auf besondere Weise verwerflich macht. Jenes übergreifende Desinteresse, so wurde in allen untersuchten Romanen deutlich, äußert sich einerseits in einer unumschränkten Verfügung des Staates über Körper und Geist der Menschen, die nach klerikalem Vorbild permanenten Indoktrinationen sowie unbegrenzter Reglementierung ausgesetzt sind, es wirkt andererseits in den sozialen Beziehungen ungebremst fort. Die Menschen sind daher doppelt gefangen: in der stets gegenwärtigen Macht des Staates wie auch in ihrer Habitualität, d.h. der Übernahme bzw. Beibehaltung der gleichartig von Machtinteressen geleiteten Verhaltensweisen gegeneinander.
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Der modernen Entwertung des Menschen, so ist nach der Lektüre von Jirgls Romanen zu konstatieren, setzt auch der sozialistische Staat nicht nur nichts entgegen, sondern er bedient sich zu diesem Zweck sogar der in anderen gesellschaftlichen Kontexten erfolgreich erprobten Mittel. Der Sozialismus reiht sich aufgrund einer radikalen Be- und Ausnutzung seiner ‘materiellen Substanz’, des Menschen, in das Kontinuum von Machtverhältnissen ein, die diesem grundsätzlich eine Opferrolle im ‘blutig=obszön=banalen 3-Groschen-Roman namens Geschichte’ (AF 120) zuweisen. Anmerkungen 1
Werner Jung, ‘Material muss gekühlt werden [Gespräch mit Reinhard Jirgl],’ neue deutsche literatur, 46 (1998), 3, S. 56-70 (hier: S. 61). 2
Ich danke Prof. Dr. Roland Berbig für die nützlichen Hinweise und Kommentare zu dieser Thematik.
3
Heiner Müller, ‘Vorwort,’ in: Reinhard Jirgl, Uberich. Protokollkomödie in den Tod, S. 1-2 (hier: S. 1). 4
Vgl. Jirgls diesbzgl. Erklärung im Interview dieses Bandes.
5
Leider muss hierbei auf die in Jirgls Werk äußerst bedeutsame Thematisierung des Fortlebens faschistoider Strukturen und Denkmuster im DDR-Staat verzichtet werden. 6
Ich verwende die Metapher ‘rhizomatisch’ in Anlehnung an Deleuze und Guattari. Zum Terminus vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Rhizom, Merve: Berlin, 1976, vor allem S. 9ff.
7
Reinhard Jirgl im Interview mit Gudrun Boch. Unter http://radiobremen.de/online/bremer_literaturpreis/preistraeger_2006.html.
8
Zum Einfluss Foucaults auf Jirgls Werk siehe Arne De Winde, ‘Die FoucaultRezeption des Schriftstellers Reinhard Jirgl,’ in: Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher, Hg., Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989: Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Synchron: Heidelberg, 2004, S. 153-171. De Winde äußert sich darin auch detailliert zur erwähnten Problematik. 9
Diese Gebote sind zum großen Teil nur Aushängeschild; wiederum analog zur Kirche fördert die Gesellschaft Bigotterie und etabliert sie gar erst: Das Gebot zum Führen eines
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tadellosen Lebenswandels und der Achtung der Frau wurde unterlaufen durch die Doppelmoral des Staates, der z.B. in Leipzig stets zur Zeit der Messen, wenn also viele Ausländer kamen, einen ‘großen Fleischmarkt’ (U 148) einrichtete, somit Prostitution nicht nur ermöglichte, sondern initiierte. 10
‘Wo Lenin, da Jerusalem’. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1959, S. 711.
11
Vgl. Heiner Müller, “Jenseits der Nation”: Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, Rotbuch: Berlin, 1991, S. 30: ‘Das Scheitern des Sozialismus ist das Ergebnis der Unzucht mit dem Christentum’. 12
Bereits seit der Gründung der DDR wurde sich, vor allem hinsichtlich der Verbrechen der Nationalsozialisten, strategisch dieser Methoden bedient. Die Kommunisten ‘sprachen von Kollektivschuld, verlangten Sühne, boten aber gleichzeitig Vergebung an’. Antonia Grunenberg, Antifaschismus – ein deutscher Mythos, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 132. 13
Vgl. Reinhard Jirgl, ‘Brief vom 27. Dezember 1992,’ in: Richard Zipser, Hg., Fragebogen: Zensur. Zur Literatur vor und nach dem Ende der DDR, Reclam: Leipzig, 1995, S. 200-210 (hier: S. 204). 14
Pierre Bourdieu, ‘Revolution. Volk und intellektuelle Hybris. Ein Gespräch,’ Freibeuter, 49 (1991), S. 27-34 (hier: S. 28).
15
Ein ähnliches ‘Alfabet’ existiert in ABTRÜNNIG, wo die Hauptperson die vermeintlichen Vorbehalte der ‘menschlichen Gesellschaft’ gegen sich auflistet: ‘anmaßend, boshaft, dumm, eitel=frech, hinterhältig, säuisch=gemein, vergrätzt, verlogen – : kurzum, befähigt zum gesamten Alfabet menschlicher=Dreckheiten.....’ (At 441).
16
Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1977.
17
Rolf Henrich, Der vormundschaftliche Staat: Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 1989. 18
Dieses Verständnis des Phänomens ‘Kannibalismus’ unterscheidet sich stark von dem Sigmund Freuds, der es bekanntlich der oralen Phase der Libido zuordnete: Der Kannibale verleibe sich das begehrte und geschätzte Objekt ein; ‘er hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er frißt die nicht, die er nicht irgendwie lieb haben kann’. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die Zukunft einer Illusion, Fischer: Frankfurt a.M., 1993, S. 67.
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19
Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1969, S. 42.
20
Christian Moser, Kannibalische Katharsis: Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis, Aisthesis: Bielefeld, 2005, S. 9.
21
Heiner Müller, Germania Tod in Berlin, in: ders., Stücke, hg. von Frank Hörnigk, Reclam: Leipzig, 1989, S. 191-236 (hier: S. 211). 22
Vgl. Anna Campanile, ‘“Die Diskurse kommen und gehen, der Appetit bleibt.” Kannibalismus im Theater der Nachkriegszeit: George Tabori, Werner Schwab, Libuše Moníková, Heiner Müller,’ in: Daniel Fulda und Walter Pape, Hg., Das andere Essen: Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, Rombach Druck- und Verlagshaus: Freiburg, 2001, S. 445-481 (hier: S. 475).
23
Elias Canetti, Masse und Macht, in: ders., Gesammelte Werke, Band 3, Hanser: München und Wien, 1994, S. 245f. 24
Auf Seite 85f. des Romans sind Auflistungen der Anzahl der Kriegstoten aus ‘den größten militärischen Auseinandersetzungen der vergangenen dreieinhalb Jahrhunderte’ gegenübergestellt. 25
Moser, Kannibalische Katharsis, S. 82.
26
In diesem Roman ist das Befehlen und Gehorchen ein fataler männlicher Charakterzug, der Kriege erst ermöglicht. Vgl. MVR 150: ‘Ich höre als erstes ihre Stimme: –Wenn du ein FEIGLING bist morgen früh und nicht gehst. Wenn du bleibst... –Es ist Krieg, Margarete! [...] GESTELLUNGSBEFEHL’. Zudem wird hier der maskulin-kriegerische Zugriff auf die Sprache deutlich, mit dem Margarete spielt, denn ‘Feigling’ zu sein, erfordert größten Mut. 27
Vgl. Daniel Fulda, ‘Einleitung: Unbehagen in der Kultur, Behagen an der Unkultur. Ästhetische und wissenschaftliche Faszination der Anthropophagie,’ in: Fulda und Pape, Das andere Essen, S. 7-51 (hier: S. 14f.). Jirgl spricht der Sprache allerdings eine ‘vampiristische’ Funktion zu, da Welt für sie Inhalt und Beute sei (Z 116). 28
Der ganze Roman erhebt den Krieg und das Kriegsgeschehen zum zentralen Thema, er ist somit trotz des Fokus auf dem Zweiten Weltkrieg ‘eine Parabel auf alle möglichen Kriege’. Peter Böthig, ‘Reinhard Jirgls Faschismusanalyse,’ in: ders., Grammatik einer Landschaft: Literatur aus der DDR in den 80er Jahren, Lukas Verlag: Berlin, 1997, S. 3036 (hier: S. 31).
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Böthig, ‘Reinhard Jirgls Faschismusanalyse,’ S. 31.
30
Dies ist die einzige Situation, in der sich auf eindeutige Weise ‘das begehrte und geliebte Objekt’, wenn auch unbewusst, einverleibt wird (GT 501). Zugleich erhält dieser Vorgang eine sexuelle Konnotation: Die Männer besitzen nun auf diese Art die Frau, die sich ihnen lebend stets aufs Neue entzogen hat.
31
In der griechischen Mythologie war es Tantalos’ Sohn Pelops, also ein Schutzloser, der verspeist werden sollte (weil Tantalos die Allwissenheit der Götter testen wollte). Die Stoßrichtung dieser Szene aus Im offenen Meer kann ebenso als gegen Schriftsteller- und andere Künstlerkollegen gewertet werden, die zur Macht keine Distanz hielten.
32
Für den Zyklopen Polyphem beispielsweise kam bei der Begegnung mit Odysseus ausschließlich dessen Verzehrung als einzige Form sozialer Interaktion in Betracht; auch Kronos verschlang bekanntlich seine Kinder, somit deren (die seinige übersteigende) Potenz, um seine eigene Entmachtung zu verhindern.
33
Zit. nach Moser, Kannibalische Katharsis, S. 15. Es ist hier nicht der Ort, den Wahrheitsgehalt von Berichten und Überlieferungen zu Praktiken ‘kannibalischer’ Gesellschaften, der immer noch umstritten ist, zu diskutieren.
34
Vgl. Eva Horn, ‘Leichenschmaus: Skizze zu Kannibalismus und Psychoanalyse,’ in: Annette Keck, Inka Kording und Anja Prochaska, Hg., Verschlungene Grenzen: Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften, Narr: Tübingen, 1999, S. 298-307 (hier: S. 301).
35
Vgl. Sigmund Freud, ‘Totem und Tabu,’ in: ders., Kulturtheoretische Schriften, Fischer: Frankfurt a.M., 1974, S. 287-444 (hier: S. 426, 430). 36
Hendrik Werner, Im Namen des Verrats: Heiner Müllers Gedächtnis der Texte, Königshausen & Neumann: Würzburg, 2001, S. 135.
37
Damit ist sie vordergründig die wörtliche Umsetzung von Büchners oft kolportierter Sentenz ‘[D]ie Revolution [...] frißt ihre eignen Kinder’ (Georg Büchner, Dantons Tod, 1. Akt, 5. Szene), die wiederum Wolfgang Leonhardt zum Titel seiner autobiographischen Schrift inspirierte. Wolfgang Leonhardt, Die Revolution entläßt ihre Kinder, Kiepenheuer & Witsch: Köln, 1987.
38
Böthig, ‘Reinhard Jirgls Faschismusanalyse,’ S. 33f.
39
Böthig, ‘Reinhard Jirgls Faschismusanalyse,’ S. 34
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40
Sigmund Freud, ‘Abriß der Psychoanalyse,’ in: ders., Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Fischer: Frankfurt a.M., 1972, S. 7-61 (hier: S. 16). 41
Canetti, Masse und Macht, S. 246.
42
Canetti, Masse und Macht, S. 247
43
Canetti, Masse und Macht, S. 245
44
In Orwells Nineteen Eighty-Four existieren vier vergleichbare, auch durch schiere physische Größe übermächtige Ministerien, deren Zuständigkeits- und Aufgabenbereich stets das Antonym ihres Namens ist. Vgl. George Orwell, Nineteen Eighty-Four, Penguin: Harmondsworth, 1954, S. 7.
45
Reinhard Jirgl, ‘Dialektik der Courage: Wie der Zusammenbruch der DDR begann,’ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juni 2003.
46
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Piper: München, 1983, S. 171f.. In seiner Darstellung (Erstveröffentlichung 1949) bezog er sich allerdings nicht explizit auf den Charakter einer Diktatur, sondern auf sein ‘Zeitalter’, dessen Merkmal das ‘Denken in Ideologien’ sei.
47
Reinhard Jirgl, ‘Die wilde und die gezähmte Schrift: Eine Arbeitsübersicht,’ Sprache im technischen Zeitalter, 42 (2004), 171, S. 296-320 (hier: S. 299). Er bewegt sich mit diesem Terminus in der Tradition einer Sprachkritik, die sich vor allem im Umkreis der Frankfurter Schule mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Sprache beschäftigte; dies wurde daher auch durch die Schriftsteller der Nachkriegsliteratur häufig und nachdrücklich problematisiert. 48
Hierbei stand bis in die Formulierung hinein eindeutig George Orwell Pate: Die ‘Hinrichtungen in den Kellern des Ministeriums für Liebe’ sind alltägliches Vorkommnis im Staat ‘Oceania’, wie er ‘1984’ existiert. George Orwell, Nineteen Eighty-Four, S. 43 und 7.
49
Sämtliche Darlegungen des Dokuments sind, mit Ausnahme der hervorgehobenen Begriffe und des Titels, im Roman in Fraktur gedruckt.
50
Lexikonredaktion des VEB Bibliographisches Institut Leipzig unter der Leitung von Heinz Göschel, Hg., Meyers Handlexikon in 2 Bdn., VEB Bibliographisches Institut: Leipzig, 1977, Band 2, S. 408 und Band 1, S. 614 (‘i.e.S.’= in engerem Sinne).
David Clarke Anti-Ödipus in der DDR Zur Darstellung des Verhältnisses von Familie und Staat bei Reinhard Jirgl This chapter examines the representation of the family and its relationship to the power of the GDR state in the texts Uberich. Protokollkomödie in den Tod, Abschied von den Feinden and Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten=Leben. Jirgl’s representation of familial socialisation and his critique of psychoanalysis are shown to bear a number of similarities with the anti-Oedipal philosophy of Gilles Deleuze and Félix Guattari in their attempt to formulate a resistance to the human subject produced by modern industrial societies. Despite the pessimistic tone of many of Jirgl’s texts, a reading of his work through Deleuze and Guattari allows for the discovery of certain utopian moments in Jirgl’s portrayal of an oppressive civilization.
Anfang der 80er Jahre formulierte Günter Gaus, der ehemalige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, seine These von der ostdeutschen ‘Nischengesellschaft’. In dieser Schrift argumentierte Gaus, dass ‘der […] alte Adam’ in seiner Privatsphäre, in der die Familie eine herausragende Rolle spiele, alle Versuche der ideologischen Vereinnahmung durch den DDR-Staat überdauert habe.1 Gaus’ Bemerkungen stellen eine versuchte Normalisierung der DDR-Wirklichkeit dar, indem er für eine zunehmende Ähnlichkeit zwischen einer angeblich entpolitisierten westdeutschen Gesellschaft und seinem ebenso entpolitisierten Gegenpart im Osten argumentiert.2 Gaus’ These, die zweifelsohne bestimmte Taktiken der Anpassung und des Widerstands gegenüber der SED-Ideologie in der Zeit des ‘real-existierenden Sozialismus’ identifiziert, hat in erster Linie die Schwäche, das Familienleben als einen sozialen Raum darzustellen, der jenseits des Zugriffes des Staates existiert – als eine ‘Fluchtburg’, um mit Gaus zu sprechen.3 Nach der Wende, und nachdem vor allem das Eindringen der DDR-Staatssicherheit in die Privatsphäre in seinem vollen Ausmaß ans Tageslicht gekommen ist, scheint eine solche These eher zweifelhaft. Wenn wir aber von den spezifischen historischen Bedingungen des ‘Privaten’ in der DDR absehen, scheint es auch problematisch, dass Gaus die Funktion der Familie als
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Transmissionsriemen gesellschaftlicher Normen und als Ort der – womöglich repressiven – Primärsozialisation ausklammert. Wie zum Beispiel die Psychoanalyse seit Freud nahelegt, ist die Familie die gesellschaftliche Formation, in der ‘jedes neue Mitglied der menschlichen Rasse dazu erzogen wird, sich genau so zu benehmen und genau so zu fühlen, wie diejenigen, die ihm schon vorausgegangen sind’.4 Darüber hinaus, wie Michel Foucault erkennt, hat der moderne Staat es sich zunehmend zum Ziel gesetzt, alles ‘Private’ und ‘Persönliche’ unter seine Aufsicht zu bringen, um damit die ‘Gesetze des Staates’ mit den ‘Gesetzen des Herzens’ identisch zu machen.5 Dies gilt in einem noch höheren Maße für eine Diktatur, die den ‘neuen Menschen’ erziehen wollte: Die Familie muss für das DDR-Regime von höchstem Interesse gewesen sein, besonders dort, wo die von der Familie an das Kind weitergegebenen Werte nicht mit seiner Ideologie übereinstimmten. In der Folge stellt sich die Frage, wie unter diesen Umständen der staatliche Anpassungsdrang etwa mit dem an und für sich Repressiven des Familiengebildes zusammengewirkt haben kann. Obwohl diese Frage sich kaum mit einem für jedes Subjekt gültigen Modell beantworten lassen dürfte, fällt auf, wie oft sich in der kritischen DDRLiteratur staatliche Unterdrückung und familiäre Erziehung decken, oder wie häufig Konflikte mit dem Staat durch die Anwendung von Familienmetaphorik dargestellt werden. Für Monika Maron in ihrem Roman Stille Zeile Sechs (1991) spiegelt die Entmündigung des Kindes in der Familie die patriarchalische Einstellung der Machthaber wider. Eine ähnliche Situation stellt sich in Volker Brauns kontroverser Erzählung Unvollendete Geschichte (1975) dar, in der die Ablehnung des Verlobten der Tochter durch ihren SED-Funktionär-Vater zwar aus ideologischen Gründen geschieht, aber Elemente des patriarchalischen Willens zur Macht recht unverhohlen eine Rolle spielen. Bei Kurt Drawert in seinem autobiografischen Buch Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992) dient die autoritäre Erziehung durch den regimetreuen Vater als Anlass, die patriarchalischen Kontinuitäten zwischen der DDR und der Nazizeit aufzudecken, die in der Figur des ebenso autoritären Nazi-Großvaters veranschaulicht werden. Es sind aber nicht nur Väter, die an der repressiven Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in der kritischen DDR-Literatur mitwirken. In Wolfgang Hilbigs Erzählung Die Weiber (1987) etwa wird die Macht des
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Staates als eine kastrierende dargestellt, die dem Protagonisten den Weg zur erotischen Erfüllung durch ihre prüden Moralvorstellungen versperrt, die von der ihn überwachenden Mutter kräftig unterstützt werden; er arbeitet schließlich auch in einer Wäscherei – Sinnbild des moralisch ‘sauberen’ Staates DDR6 – wo er den Frauen voyeuristisch nachstellen darf, ohne die Objekte seiner Begierde je erreichen zu können. Eine vergleichbare und ähnlich groteske Darstellung der DDR als Mutter-Staat findet man in Thomas Brussigs vielverkauftem Nachwenderoman Helden wie wir (1995). Hier ist die Mutter auch eine Vertreterin der moralischen ‘Sauberkeit’, eine Hygieneexpertin, die die Sexualität des Sohnes unterdrückt; die Verbindung zwischen dieser famliären Repression und staatlicher Ideologie wird schließlich auf krasse Art und Weise verdeutlicht, indem der Sohn später die Berliner Mauer und damit das DDR-Regime mit seinem überdimensionalen Penis gestürzt haben will. Obwohl Brussigs Text kaum als realistisch bezeichnet werden kann, wirft er die Frage nach möglichen Strategien des Widerstands gegen einen Staat auf, der die Familie als Sozialisationsraum im Dienste der eigenen ideologischen Erziehung einspannt. Wie auch bei Hilbig führt die Entmündigung durch Familie und Staat zu einer Erotomanie, in der der Protagonist versucht, sich Zugang zur Position eines Subjekts zu verschaffen, welches das Machtzeichen Phallus besitzt. Im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari kann man hier von einer Ödipalisierung des Subjekts sprechen. Die kastrierende Familienkonstellation entmachtet nicht nur das Subjekt, sondern bestimmt weitgehend die Bahnen seiner Rebellion, da sich der Protagonist als Kastrierter das Besitzen des Phallus durch – meistens erfolglose und beschämende – erotische Abenteuer zum Lebensinhalt macht. Angeblich im Besitz eines Riesenphallus gelingt es ihm am Schluss des Romans, die Berliner Mauer und damit die Macht der Familie und des Staates zu stürzen. Dies zeigt sehr deutlich, dass seine kastrierende Erziehung noch weit gehend seine Fantasien bestimmt, auch wenn er glaubt, sich durch diese Fantasien von der Macht dieser Erziehung befreit zu haben. Ähnliches ließe sich von Marons Stille Zeile Sechs sagen, wo die Protagonistin ihren Vaterersatz, den SED-Politiker Beerenbaum, symbolisch tötet, ohne sich dabei von der Last der Vergangenheit befreien zu können. Der Vatermord ergibt sich zwangsläufig aus der repressiven Familienkonstellation, womit die Väter ironischerweise die Formen der Rebellion ihrer Kinder vorbestimmen. Nicht
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nur das: Wie die Erzählerin erkennt, ergibt sich ihr Aufstand aus dem Wunsch heraus, die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu ziehen, da er sie nur als eine zu Erziehende wahrnehmen kann.7 Wie Deleuze und Guattari argumentieren, entstehen solche ödipalen Wünsche nur durch Repression und können dementsprechend in ihrer Erfüllung keine Befreiung von der Repression darstellen.8 Die theoretische Auseinander-setzung von Deleuze und Guattari mit der Familie als Sozialisationsraum im Zeichen von Ödipus und mit der Psychoanalyse von Freud und Lacan bietet in dieser Hinsicht einen produktiven Denkansatz und erlaubt uns einen Widerstand zu denken, der nicht in den ödipalisierenden Mechanismen von familiärer und gesellschaftlicher Erziehung verstrickt bleibt. Während Freud und Lacan den Prozess der Ödipalisierung als unabdingbare Voraussetzung der Subjektwerdung und damit der Sozialisation konzipieren, machen Deleuze und Guattari deutlich, dass das Subjekt, das in diesem Prozess entsteht, eine verkümmerte Form der menschlichen Existenz darstellt. Endziel der Sozialisation im Zeichen von Ödipus ist Deleuze und Guattari zufolge ein so genanntes ‘molares’ Subjekt, das heißt eine konstante, integrierte Subjektivität, die gesellschaftliche Normen einfach wiederholt. Die molarisierte ‘Person’ wird, wie Brian Massumi den Ansatz von Deleuze und Guattari zusammenfasst, einer Kategorie unterworfen und muss sich dieser Kategorie konform verhalten, um sich überhaupt als Subjekt erleben zu dürfen.9 Der Staat, sei es der kapitalistische oder der sozialistische, hat ein klares Interesse daran, diese Kategorien durchzusetzen, weil durch sie die Wünsche des Subjekts gelenkt werden und damit die gesellschaftliche Disziplin aufrecht erhalten wird. Das Subjekt, das von Reinhard Jirgl beschrieben wird, weist Ähnlichkeiten mit dieser unfreien, ‘molaren’ Person von Deleuze und Guattari auf. Bei Jirgl ist das Subjekt, der Argumentation seines gemeinsam mit Andrzej Madeła verfassten Aufsatzes zufolge, ‘in funktionale, meß- und abrechenbare Prozesse verstreut’ (Z 29), sei es im Sozialismus oder im Kapitalismus. Dieses Subjekt ‘wird in medizinischen und soziologischen Diskursen definiert’ (Z 100) und verarmt an der stereotypen, instrumentalisierten Sprache der höchst funktionalisierten Gesellschaftsordnung, die seine Wünsche und Fantasien gestaltet und seinen Körper und seine Lust instrumental im Sinne der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion lenkt (Z 42). Die angepassten Subjekte solcher Sozialisation werden sehr oft als undifferenzierte
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‘Masse’ dargestellt, die durch ihr angepasstes Verhalten die bestehenden Machtverhältnisse aufrecht erhalten und Außenseiter mit Gewalt ausgrenzen, die aber für ihre Konformität durch massenmediale Genüsse wie Fernsehen, Pornografie, Musik und so weiter mit einem ‘Erleben in rentablen Mustern’ (GT 517) kompensiert werden.10 Diese Prozesse der Subjektwerdung können in der Terminologie von Deleuze und Guattari im Sinne einer ‘De-’ und ‘Reterritorialisierung’ verstanden werden: Während der Einzelne zerstückelt wird, damit die Fragmente seines Selbst für Prozesse der gesellschaftlichen Produktion eingespannt werden können – zum Beispiel Arbeit, Konsum –, wird er ideologisch ‘reterritorialisiert’, damit er sich als molares, einheitliches Subjekt innerhalb einer hierarchisierten Machtstruktur sehen kann, was bei Jirgl vor allem in der Gewalt der ‘Horde’ gegen Außenseiter erlebt wird. Jirgls Darstellung der menschlichen Subjektivität weist vordergründig pessimistische Züge auf: Der Teufelskreis von Unterdrückung, Anpassung und Gewalt scheint sich kaum durchbrechen zu lassen. Dies gilt genauso für manche Familien, die von Jirgl beschrieben werden, wie zum Beispiel im ‘Libretto für Stimmen und Vocoder’ »Papa Mamma Tsombi«, das einen Teil der Trilogie Genealogie des Tötens bildet. In dieser Familiengeschichte wird das Dreieck Vater-Mutter-Kind als Raum der Unterdrückung, des Machtkampfes und des Auslebens von perversen Gelüsten enthüllt, der wahrlich keine Zuflucht vor einer repressiven Gesellschaftsordnung bietet, sondern sie eher in kleiner Form reproduziert oder vorwegnimmt. Dies wird in dem kleinen, dem Libretto vorangestellten Text ‘“1984”’ unterstrichen. Auf den bekannten antiutopischen Roman George Orwells Bezug nehmend wird hier eine – ostdeutsche – Nachkriegsgesellschaft beschrieben, in der ‘an Jackenaufschläge[n] fertige Weltbilder hängen’ (GT 95) und ‘Razzien & Ausweiskontrollen’ (GT 96) Alltagserscheinungen sind. In solchen Zeiten, stellt der Text schließlich fest, ‘[w]endet man sich allgemein den FAMILIEN zu’ (GT 96). Mit anderen Worten erscheint die Familie als Zuflucht vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder als private ‘Nische’ im Sinne von Gaus’ Analyse. Das Familiendrama, das anschließend in »Papa Mamma Tsombi« vorgestellt wird, bringt als sein bezeichnendes Produkt jedoch das behinderte Kind Fine hervor, das ‘apathisch im Kinderzimmer [sitzt], still weinend u sabbernd auf die Einflüsse aus dem unverstandenen Draußen reagierend’ (GT 99). Tine, das andere Kind, verschafft sich einen radikalen Ausweg aus
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diesen Familienverhältnissen, in denen die Kinder für die Machtkämpfe der Eltern ausgenutzt werden, und zwar durch die Ermordung der ganzen Familie. Nach der Tat geht Tine mit ungewissem Ziel ‘hinein ins Gewirre der großen Stadt’ hinaus (GT 191), und obwohl die Zerstörung der Familie als Befreiuung betrachtet werden kann, erfahren wir nicht, wie jenseits dieser Familienkonstellation die Zukunft für Tine aussehen wird – falls sie überhaupt noch eine hat. In bestimmten Texten Jirgls – vor allem in den Romanen Abschied von den Feinden und Kaffer – entdeckt man jedoch eine Auseinandersetzung mit der Subjektwerdung, die nicht nur die Schnittpunkte zwischen familiärer Repression und dem poltischen Status quo aufdeckt, sondern auch den Wunsch formuliert, sich eine Daseinsform vorzustellen, die jenseits der gesellschaftlich auferzwungenen Identität existiert. Wie im Folgenden zu zeigen ist, wird die Subjektwerdung in diesen Texten im Sinne einer Ödipalisierung dargestellt, wobei der DDR-Staat eine wesentliche Rolle spielt, sich also private und staatliche Deformationen überschneiden. Jirgls ödipale Subjekte erproben unterschiedliche Formen des Widerstands, jedoch sind es letztlich nur diejenigen, die die ödipale Rebellion erfolgreich hinter sich lassen, die auch andere Möglichkeiten des Seins entdecken. Als Gegenbeispiel kann an dieser Stelle aber zuerst Jirgls kurz nach der Wende veröffentlichter Text Uberich. Protokollkomödie in den Tod angeführt werden, dessen Titel schon auf die darin enthaltene Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse hindeutet. Dieser Text bietet ein Beispiel einer gescheiterten Rebellion, in der das Subjekt an erster Stelle versucht, der Ohnmacht durch eine Identifikation mit der Autorität zu entkommen, sich aber letztendlich in ein präödipales Reich zurückziehen will. Wie Deleuze und Guattari argumentieren, können bestimmte Formen des Widerstands nur als Varianten der Anpassung verstanden werden. So ist auf der einen Seite der Aufstand beim Erzähler von Thomas Brussigs Roman und beim Protagonisten von Uberich eigentlich nur ein Ausleben männlicher Fantasien, die durch die ödipalisierende Gesellschaftsordnung bestimmt werden. Auf der anderen Seite sieht man beim Protagonisten von Uberich, dass die Fantasie eines Rückzugs aus der ödipalen Konstellation, wo diese sich auf den Körper der ‘schrecklich undifferenzierten Mutter’ bezieht, genauso als Produkt der ödipalen Sozialisation verstanden werden kann, die diese schließlich nicht in Frage stellt.11
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Nach einem Nervenzusammenbruch und einem Aufenthalt in einer Nervenklinik entkommt Herr U., der Protagonist dieses Textes, der aktiven Teilnahme an der Arbeitergesellschaft DDR, indem er zurückgezogen in der Wohnung seiner Mutter zu leben versucht. Er bringt am Anfang der Erzählung die Prostituierte Rosi in diese Wohnung und, statt sie nach dem Geschlechtsverkehr zu bezahlen, bietet er ihr die Möglichkeit, bei ihm als bezahlte Beischlafpartnerin und Putzfrau zu wohnen. Dieses Angebot ist aber auch mit der Drohung verbunden, die Frau an die Behörden zu verraten, falls sie seinen Vorschlag nicht akzeptiert. Dieser Hinweis auf die Macht des Staates, der sich beide dadurch widersetzen, indem sie sich der Arbeitswelt entziehen, macht deutlich, inwiefern Herr U. sich noch in seiner Unangepasstheit mit dem Staat identifiziert. Die ungewöhnliche Rechtschreibung des Text-Titels bezieht sich sowohl auf den eigentlichen Namen von Herrn U., der nur einmal erwähnt wird (UP 96), als auch auf das ‘Über-Ich’ bei Freud, das heißt auf den symbolischen Vater, der die Macht der Gesellschaftsordnung darstellt. Der vaterlose Herr U., der diese Vaterlosigkeit mit vielen anderen ostdeutschen Männern bei Jirgl teilt, hat bis zu seinem Rückzug aus der Gesellschaft ein ‘Arbeits= & Anstaltsleben’ (UP 116) geführt. Der Staat hat seinen Körper als Rädchen im Industriegetriebe in Dienst genommen, was ihn seelisch und physisch zerrüttet hat. Jedoch reproduziert er in der scheinbaren Freiheit seines Invalidenlebens die gleichen Machtverhältnisse, unter denen er selber gelitten hat. Seine Beziehung zu Rosi lebt hauptsächlich davon, dass er in der Rolle des Arbeitgebers über den Körper eines anderen Menschen bestimmen kann, so wie der Staat über ihn bestimmt hat. Die geregelte Unfreiheit der Arbeitswelt wird im privaten Bereich reproduziert, indem zum Beispiel Rosi von Herrn U. penible Rituale des Coitus und des Saubermachens vorgeschrieben werden. Besonders bei der Haushaltsführung überträgt Herr U. Modelle aus der eigenen unterdrückten Existenz draußen in der sozialistischen Gesellschaft auf sein Zusammenleben mit Rosi: Betten werden kontrolliert, wie er das selber bei der Nationalen Volksarmee erleben musste (UP 31), außerdem wird die Wohnung für das Saubermachen in ‘Plan-Quadrate’ aufgeteilt (UP 35; vgl. auch UP 22). Als weitere, die gesellschaftliche Disziplin imitierende Einrichtung richtet Herr U. sogar eine Art Schule in der Wohnung ein, wo er als ‘Held & Normengeber’ (UP 43) die passive Rosi belehren darf. Das Machtgefühl von Herrn U. erfährt dann
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seinen Höhepunkt, als er Rosi wie einer Arbeiterin am Ende des Monats ihr Geld auszahlt (UP 69-72). Wie im Laufe der Erzählung jedoch offenbar wird, hat die Beziehung zu Rosi für Herrn U. eine zwiespältige Funktion. Ihre finanzielle und körperliche Unterwerfung erlaubt es ihm, sich mit der Macht zu identifizieren, wobei staatliche und männliche Herrschaft sich überschneiden. Schließlich muss Rosi nicht nur gehorchen und passiv bleiben, sondern auch vor dem Beischlaf das erigierte Glied von Herrn U. bewundern und seine sexuellen Leistungen loben (UP 17). Doch der Körper der Frau ist für Herrn U. nicht nur das Objekt seiner privaten Macht, sondern auch eine Erinnerung an eine andere Art von Geborgenheit, die stark mit seiner Mutter, Mammke, verbunden ist. Bezeichnend für diesen Text sind vor allem die Bilder des Schmutzes und des Ekels, die die Beschreibung der schmuddeligen Wohnung und von Herrn U. selbst dominieren. Herr U.s Fantasieleben ist auf Körperausscheidungen fixiert: Er verbietet Rosi die Wäsche zu wechseln (UP 16) und wäscht sich den eigenen Intimbereich nie. Die Gerüche, die in seinem ‘von Vaginalsekret & alten Samenresten verklebt[en] Schamhaar’ entstehen, riecht er ‘voll Entzücken’ (UP 19), da sie ihm als ‘Hieroglyphe der Geborgenheit’ aber auch als Symbol ‘des Schreckens der Geborgenheit’ dienen (UP 19). Die Art dieses Schreckens wird am Ende der Erzählung klar, als Herr U. versucht, sich wieder mit dem Körper der Mutter zu vereinigen. Mammkes sterbender Körper, der mit dem ‘mütterlichen Brodem der Verweseung’ (UP 109) assoziiert wird, produziert einen Ekel erregenden ‘Gestank’ (UP 118), und die beiden Frauen verschmelzen in Herrn U.s Fantasie zu einem einzigen Gebilde, in dem sich Schweiß, Blut und Exkremente vermischen (UP 96). Diese Bilder und Fantasien können als Ausdruck des Wunsches nach einer Auflösung der Grenzen des Subjekts verstanden werden, den Julia Kristeva in ihrem psychoanalytischen Modell der Mutter-Kind-Beziehung umreißt. Für Kristeva ist der Mutterkörper das Objekt, das das Kind verwerfen muss, um Eingang in die ödipalisierte soziosymbolische Ordnung zu finden.12 Die verloren gegangene ‘Doppelbeziehung’ mit der Mutter stellt für Kristeva eine Daseinsform dar,13 in der die Grenzen des Körpers und damit des Subjekts verschwimmen, das heißt in der die Identität aufgelöst wird. Der Mutterkörper wird bei Kristeva mit Ekel erregenden, ‘abjekten’ Substanzen wie Blut, Sperma, Erbrochenem, Urin und Fäkalien verbunden, die den
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Unterschied zwischen Innen und Außen verwischen, was auch in den Fantasien von Herrn U. deutlich zu erkennen ist. In solchen Fantasien, argumentiert Kristeva, entkommt das Subjekt der abgeschlossenen und integrierten Subjektposition der ödipalen Gesellschaftsordnung.14 Jedoch macht Jirgls Text im Sinne von Deleuze und Guattari deutlich, inwiefern der Körper der Mutter nur auf Grund seiner Positionierung in der ödipalen Konstellation diese Fantasiefunktion annehmen kann: Nur wenn der Mutterkörper schon vom Vater besetzt gehalten wird und damit für das Kind als das die Ganzheit versprechende verlorene Objekt funktioniert, kann er als scheinbarer Ausweg aus der ödipalen Subjektposition fungieren. Im Mutterleib entdeckt Herr U. einen Ort, der schon von seinem verschwunden geglaubten Vater besetzt worden ist (UP 119). Schließlich ist dieser Drang, sich wieder mit dem Mutterkörper zu vereinen, eine Flucht, die keine ist, und Herr U. muss leblos vor der ‘Grenzlinie’ des Mutterleibs liegen bleiben, an ‘jenem Punkt, den er […] zeitlebens gesucht hat’ (UP 118). Insofern entdeckt man bei Herrn U. Merkmale der autoritären Männlichkeit, die Klaus Theweleit mit dem theoretischen Ansatz von Deleuze und Guattari analysiert hat: Das angepasste männliche Subjekt wird hin- und hergerissen zwischen der Behauptung der als Zwangsjacke erlebten ödipalen Subjektposition, die die Frau unterwirft, und dem Wunsch nach der Auflösung dieser Identität in dem Fließenden und Grenzenlosen, das mit dem Frauenkörper identifiziert wird.15 Im Roman Abschied von den Feinden übernimmt der Körper der Mutter für die beiden Erzähler eine ähnliche Funktion. Hier wird aber die Rolle des Staates als ödipalisierende Macht deutlicher als in dem oben besprochenen Uberich. In Abschied von den Feinden werden Bilder von Übelkeit und Ekel erregenden Substanzen primär mit der Verhaftung der Mutter in Verbindung gebracht, die wiederholt vom älteren der beiden Brüder oder aus dessen Perspektive vom jüngeren geschildert wird. Während die Mutter von Beamten der Staatssicherheit festgenommen wird, konzentriert sich die Aufmerksamkeit des älteren Kindes auf das Marmelademesser auf dem Frühstückstisch. Der Junge fragt sich, ob die Fliege, die er dort sieht, in der ‘sirupartig[en] Masse’ kleben bleibt, und muss sich übergeben, wofür er dann mit einer Ohrfeige von einem der Stasi-Männer bestraft wird: ‘[I]n die widerliche Klebrigkeit & in den süßen Geschmack mischten sich Schmerz & Blut’ (AF 49). Dieser ‘alte Ekel’ (AF 58), der an verschiedenen Stellen des
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Textes wiederkehrt, ist, dem Modell Kristevas folgend, von komplexem Ursprung. Kristeva argumentiert, dass die fließenden, Ekel erregenden Substanzen, die mit dem Mutterkörper in Verbindung gebracht werden, einen möglichen Ausweg aus der Situation des kastrierten ödipalen Subjekts bieten, zugleich aber Furcht erregend sind, weil sie eine tödliche Auflösung des Subjekts bedeuten. Solche Substanzen sind also faszinierend und Angst einflößend zugleich.16 In dem Moment, als die Brüder gewaltsam vom Mutterkörper getrennt werden, erfährt der ältere eine Übelkeit, die gleichzeitig das Verlangen nach diesem Körper und die Furcht vor der Auflösung in der ‘sirupartig[en] Masse’ bedeutet. Schließlich wird er aus diesen Fantasien von der bestrafenden Hand des Vater-Staats gerissen, der hier eine kastrierende Rolle spielt und die beiden Brüder als ödipalisierte Subjekte der sozialistischen Gesellschaftsordnung identifiziert. Hier sollte klar werden, dass die Trennung von der Mutter zwiespältige Gefühle erweckt und nicht ausschließlich als negativ bezeichnet werden kann. Der offene Mund der Mutter, die schreiend von ihren Kindern entfernt wird, wird zum Beispiel als ‘ein […] tiefes, unergründliches Schwarz’ (AF 138) dargestellt, das mit dem Tod assoziiert wird. Der ältere Bruder macht hier sogar einen Vergleich mit einem Bild, das anscheinend aus der Darstellung des Letzten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo stammt (1535-1541), in dem eine verdammte Seele, mit einem Fuß im Licht, gegen Teufel kämpfend, in die Hölle gerissen wird (AF 138). Die Fliege, die in der Erinnerung des älteren Bruders an die Verhaftung der Mutter eine so wesentliche Rolle spielt, gehört zu einem Fliegenschwarm, der die beiden Brüder den ganzen Text hindurch verfolgt. Seine Bedeutung lässt sich am deutlichsten in der Textsequenz erkennen, in der die beiden Kinder von ihren Adoptiveltern zu Weihnachten zur Messe in die Kirche gebracht werden. Diese Sequenz bezieht sich auf eine Reihe von Bildern, die an anderen Stellen im Text auftauchen, und wird explizit mit der Verhaftung der Mutter in Verbindung gebracht, indem Beschreibungen dieser Verhaftung an mehreren Stellen in die Erzählung des Kirchgangs eingefügt werden. Die Beschreibung der Kirche beginnt mit einem Bild der Heiligen Familie: Unter einem Holzkreuz, einem Zeichen patriarchalischer Autorität, sehen die Brüder eine Krippenszene. In der Fantasie des älteren Bruders zeigen sich aber allmählich Risse und Wurmlöcher in den Figuren, die jeden Moment ‘splittern’, ‘bersten’ und ‘platzen’ könnten. An diesem Punkt glaubt
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er, einen Fliegenschwarm zu sehen, der sich von Aas ernährt, das seiner Vorstellung nach in der Kirche verstreut liegt (AF 166). Dieser Fantasie folgt eine Selbstidentifizierung des älteren Bruders mit Christus am Kreuz, dessen Wunden er mit den eigenen blutigen Füßen vergleicht, die man für den Kirchgang in neue Schuhe hineingezwungen hat. Sein eigenes Blut, so fantasiert er, müsse auch die Fliegen anziehen (AF 166 ff.). Hier konzentriert er sich plötzlich auf den Geruch der übrigen Gemeinde im Kirchengebäude. Dieser Geruch stellt die Grenzen der einzelnen Körper in Frage und macht aus den versammelten Menschen ein einziges Wesen. Dieses wird dann mit dem Modell des menschlichen Körpers aus Pappe verglichen, dessen innere Organe er im Spiel auseinander genommen hat (AF 167). Dieses Spiel erzeugt ein fiebriges ‘Entsetzen=Abscheu =Entzücken’ (AF 167), das heißt die gleiche Mischung aus Faszination und Ekel, die Kristeva mit der Fantasie der Auflösung der Körpergrenzen des Individuums verbindet. Bis zu diesem Punkt in dieser Sequenz hat der ältere Bruder also Fantasien der Auflösung der Körpergrenzen genießen können, die ihm anscheinend erlauben, der kastrierenden Autorität der Gesellschaft zu entkommen, hier in der Symbolik des Christentums mit seinem Vater-Gott zu sehen. Er stellt sich sogar einen alternativen Gott vor, der weder bestraft noch das Subjekt schmerzhaft für die eigenen Zwecke in vorgegebene Muster – vgl. die Schuhe des Kindes – hineinzwingt. An der Stelle dieses ödipalen Gottes tritt ‘der Totenkopf des Fliegen=Gottes’ (AF 168), dessen Körper wie der aufklapp- und auseinandernehmbare Pappkörper im medizinischen Atlas aussieht. In der Fantasie des älteren treten dann die beiden Brüder in den Körper dieses ‘unfertigen Menschen’ (AF 168) ein – und auf einmal vergisst das Kind die Qual seiner blutenden Füße und stellt sich vor, wie es, von Fliegen überdeckt, erstickt. Hier verbindet sich offenbar der Wunsch nach der Auflösung der Identität als Antwort auf die Zwänge der gesellschaftlichen Erziehung mit einem todesähnlichen Zustand, der, wie schon angemerkt, mit der Fantasie des Mutterkörpers in Verbindung gebracht werden kann. Der religiöse Kontext dieses Erlebnisses ist in dieser Beziehung von großer Wichtigkeit, weil solche Rituale nicht nur als Zeichen der Unterwerfung unter Gott, den kastrierenden Vater, verstanden werden müssen – wie bei dem auch in der Kirche zu sehenden Bild von Abraham und Isaak (AF 172) –,17 sondern auch als Ausdruck des Willens zur Auflösung der Identität in einem größeren
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Ganzen interpretiert werden können, wobei das Subjekt seiner Kastration in der Zerstörung der Identität entkommt.18 Ähnliches kann auch auch von den kindlichen Gewaltfantasien der beiden Brüder gesagt werden. Diese entstehen durch die Lektüre eines Buchs zur Geschichte der Konquistadoren in Zentralamerika, aus dem längere Passagen regelmäßig in die Erzählung der beiden Brüder einfließen. Die beiden Erzähler aus dem Konquistadoren-Buch sind ein Soldat und ein Priester, die hauptsächlich ihr eigenes Leiden und das ihrer Landsleute beschreiben, als sie sich im Dschungel verlaufen und in die Hände Einheimischer fallen. Die zitierten Szenen aus dem Buch zeigen Menschen- und Tieropfer, bei denen die Gekreuzigten eine Übertretung der eigenen Körpergrenzen erleben. Die Verschmelzung mit der Natur als undifferenziertem und betont weiblichem Prinzip – ‘die genaueste Form für die-Frau’ (AF 211) – erinnert wieder an die Funktion des mütterlichen Körpers in der Fantasiewelt des älteren Bruders, die auch in diesem Fall mit religiöser Symbolik vermischt wird. Zum Beispiel wird von einer Reihe gekreuzigter Körper erzählt, die im Verwesen Wurzeln in die Erde zu schlagen scheinen (AF 213), um dort in der ‘unersättlich[en] Gefreßigkeit’ der Natur zu verschwinden (AF 214).19 Die Obsession des älteren Bruders von der Verhaftung der Mutter und den damit assoziierten Bildern der Auflösung und des Ekels hat offenbar nichts mit der eigentlichen Mutter zu tun, mit der er als Erwachsener wieder zusammengeführt wird. Vielmehr sucht er ein vages und undefiniertes ‘Es’, ‘das Große Geheimnis’ (AF 139), in der erotischen Beziehung zu einer anderen Frau, die bloß als ‘die Frau’ bezeichnet wird, aber auch als ‘dies dunkle Zentrum all meines Sprechens’ erlebt wird (AF 310). Ihre Ähnlichkeit mit der Mutter wird durch die Ähnlichkeit der beiden Lebenswege unterstrichen: Beide Frauen werden von der Staatssicherheit inhaftiert und kommen in psychiatrische Anstalten. Hier wird die Praxis der Psychiatrie deutlich mit dem patriarchalischen Herrschaftsdenken des Staates verbunden, der vor allem in der Figur des Ehemanns der ‘Frau’ verkörpert wird, einem Chefarzt mit Stasikontakten, der ihrer versuchten Rebellion mit der Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik ein Ende setzt. Die Wünsche und Fantasien des jüngeren Bruders werden auch weit gehend von der ödipalen Gesellschaftsordnung im Zeichen der Staatsmacht determiniert. Obwohl er ihn nicht bewusst erlebt hat, scheint er den Verlust der Mutter kompensieren zu wollen, indem er sich der ehemaligen
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Liebhaberin seines Bruders bemächtigt, nachdem sein Bruder die DDR verlassen hat. Seine Beziehung zu der Frau ist vom Wunsch gekennzeichnet, im Sex die ‘Last des eigenen Körpers’ (AF 182) abzuwerfen, doch sind diese Fantasien der Auflösung mit einem Machtdenken verbunden, das die Frau gleichzeitig unterwerfen will, was ihn auch mit der Figur des Herrn U. aus Uberich verbindet. Beim ersten Beischlaf zum Beispiel versucht er sie zu erwürgen, so dass sie bluten, spucken und sich entleeren muss (AF 149). In diesem Gewaltakt werden also Substanzen produziert, die wir wieder im Sinne Kristevas mit dem verlorenen Mutterkörper in Verbindung bringen können. Gleichzeitig ist aber klar, dass solche präödipalen Wünsche beim jüngeren Bruder in Verbindung mit dem Wunsch nach Macht auftreten, die er nur in der Anpassung an das Gesellschaftssystem erleben kann. Aus diesem Grunde verrät er die Frau an den Staat und lässt sie von ihm bestrafen, wie auch seine Mutter in seiner Kindheit vom Staat bestraft wurde. Der jüngere Bruder wird vom älteren als typisches Produkt der DDR-Sozialisation beschrieben: ‘[E]r fühlte immer familiär und blieb, was er war: im Osten ein Arbeiter, bei Seinesgleichen’ (AF 139). Er ist also dem älteren Bruder zufolge das perfekte ‘molare’ Subjekt im Sinne von Deleuze und Guattari: Seine Identität ist eine genormte, unveränderliche, die im Kontext der familiären Sozialisation, in diesem Fall bei den Adoptiveltern, entsteht. Trotz seiner gelegentlichen Fantasien der Rückkehr in den präödipalen Zustand, zum Beispiel durch Sex mit dem Mutterersatz, der ‘Frau’, ist er eine zum Gehorsam erzogene Person oder, wie ‘die Frau’ feststellt, eine bloße ‘Attrappe’ der Macht (AF 146). Dementsprechend überrascht es nicht, dass er ‘die Frau’ verrät und schließlich ermordet, als er sie nicht unter seine Kontrolle zu bringen vermag. Die Situation der beiden Brüder macht also deutlich, inwiefern die DDRSozialisation die Wünsche sowohl der Konformen als auch der Oppositionellen in bestimmte Bahnen zu lenken vermag, indem sie sich der Familienkonstellation von Ödipus bedient. Der Titel des Textes deutet aber auf den Wunsch vor allem des älteren Bruders hin, Abschied zu nehmen von dieser Vergangenheit, das heißt anders zu fühlen und zu wünschen. Die Tötung des jüngeren Bruders, die – als Racheakt für seinen Verrat an der ‘Frau’ – schon vor dem Beginn des Romans stattfindet, bietet offenbar kein Entkommen aus der Erinnerung an diese Vergangenheit. In der Bahn sitzend muss der ältere Bruder das Vergangene immer noch verarbeiten, ist immer
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noch von der quälenden Erinnerung an die Trennung von der Mutter und den damit verbundenen Fantasien befallen. Wie Simon Ward schon bemerkt hat, kann sein Aussteigen aus dem Zug, nachdem er die Notbremse gezogen hat, als Versuch interpretiert werden, aus der Geschichte auszusteigen.20 Dieser Ausstieg aus oder Abschied von der bisherigen Lebensgeschichte muss aber auch als Abschied von einer bestimmten Form der Subjektivität interpretiert werden, die in der repressiven Sozialisation zustande gekommen ist. Dem Ausstieg aus dem Familiendrama bei Abschied von den Feinden folgt eine traumartige Sequenz, in der der ältere Bruder ins Niemandsland des ehemaligen Grenzgebiets eindringt, wo er den Hof findet, den seine Adoptiveltern im Zug der Grenzbefestigung Anfang der 60er Jahre räumen mussten. Dieser ‘blind[e] Punkt’ (AF 321) ist ein Gebiet, das, von der Macht des DDR-Staates verlassen, bisher keine neue Funktion in der Nachwendegesellschaft erhalten hat, also noch nicht von der neuen Ordnung kolonisiert wurde. Dementsprechend kann es als Freiraum benutzt werden, in dem andere Formen der Existenz zur Geltung kommen können.21 Dieses verlassene, unbesetzte Gebiet zwischen den Gesellschaftsordnungen fungiert als ein Ort für Halluzinationen, in dem verschiedene Stimmen und verschiedene Wirklichkeiten das Denken des älteren Bruders zu durchkreuzen scheinen, bis zu dem Punkt, wo die Grenzen seiner eigenen Identität fließend werden. Diese Art von Halluzination wird ausdrücklich als Zuflucht vor seiner Wirklichkeit formuliert: ‘Und Entkommen heißt: Was ich denken kann, das ist’ (AF 308-309). Diese Situation weist viele Ähnlichkeiten mit dem schizophrenen Zustand des ‘Werdens’ auf, der von Deleuze und Guattari beschrieben wird. Wie Massumi bemerkt, kommt ‘verwahrlosten Orten’, die eine Art Spalte im kolonisierten gesellschaftlichen Raum darstellen, hier eine besondere Bedeutung zu.22 In der Ruine des Hofes ist der ältere Bruder ‘ich-los, bloß u seiend’ (AF 306), doch hat dies nichts mit der todesähnlichen Auslöschung in der Vereinigung mit dem verlorenen Mutterkörper zu tun. Die ‘Dämmerzustände’ (AF 306), in die er eintritt, lassen verschiedene Diskurse und Bilder, Vorstellungen und Wirklichkeiten nebeneinander auftreten und in Beziehung zueinander kommen. Durch ihn sprechen plötzlich verschiedene Figuren wie der ermordete Bruder oder ein alter, anscheinend verrückter Mann, der vorher murmelnd neben ihm in der U-Bahn saß (AF 309, 312, 316).
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Dies stellt den Höhepunkt einer allmählichen Vermischung der verschiedenen Stimmen im Text dar. Während am Anfang des Romans den beiden Brüdern und dem ‘Wir’ der Kleinstadtbevölkerung eigene Kapitel zugeteilt werden, wird im Laufe der Erzählung diese Unterteilung immer undeutlicher, bis sich schließlich die verschiedenen Stimmen überschneiden und der Leser nach Indizien im Text suchen muss – zum Beispiel ‘mein älterer/jüngerer Bruder’ –, um die verschiedenen Figuren auseinanderzuhalten. Dieser Prozess setzt sich dann in Hundsnächte fort, als am Ende des Romans die Stimme des anderen Erzählers, eines Ingenieurs, in die des immer noch in der Ruine hockenden älteren Bruders übergeht, bis die Grenze zwischen den verschiedenen Identitäten letztlich verloren geht. Der Ingenieur stellt schließlich fest, dass die auf alte Papierfetzen hingekritzelte Lebenserzählung des älteren Bruders auch seine eigene Geschichte erzählt, so dass er selbst als Erfindung eines anderen Subjekts dasteht (obwohl auch das Gegenteil stimmen könnte). Nach der Zerstörung der Ruine im Niemandsland am Schluss von Hundsnächte befindet sich der Ingenieur an der gleichen Küste, die der ältere Bruder am Ende von Abschied von den Feinden in einem traumartigen Zustand erlebt. Hier wird nochmal die traumatische Trennung von der Mutter aus dem früheren Roman einmontiert (H 518), so dass es zunehmend unklar wird, welche der beiden Figuren, der Ingenieur oder der ältere der beiden Brüder, eigentlich erzählt. Wie an den Figuren am Strand zu sehen ist, die in dieser Version der Traumlandschaft beschrieben werden (H 518), wird hier das Ich als Maske bloßgestellt, als etwas Provisorisches und Bedingtes, das zugunsten einer Multiplizität von kleinen Identitäten aufgegeben werden kann, die nicht mehr in der auferzwungenen Ordnung des gesellschaftskonformen Selbst integriert sind.23 Zusammenfassend kann man schlussfolgern, dass Abschied von den Feinden eine Art Opposition gegenüber einer repressiven Gesellschaftsordnung zu formulieren versucht, die einen Ausweg aus der unter dieser Ordnung entstandenen Persönlichkeitsstruktur möglich machen könnte, was zum Beispiel Herrn U. aus Uberich nicht zu gelingen vermag. Dabei ist Abschied von den Feinden keineswegs der einzige Text von Jirgl, der sich mit einer solchen Problematik auseinander setzt. Die Veröffentlichung der Trilogie von Texten unter dem Titel Genealogie des Tötens 2002, die von Jirgl als sein ‘Nachlass zu Lebzeiten’ beschrieben wird (GT 815), erlaubt uns
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jetzt, die Wichtigkeit dieser Thematik für Jirgl als DDR-Schriftsteller richtig einzuschätzen. Hier ist vor allem der Text Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten=Leben, wie im Folgenden gezeigt wird, von großem Interesse. Dieser Text besteht zum größten Teil aus dem Monolog eines anscheinend geisteskranken Mannes unbestimmten Alters, der aus der Provinzstadt Birkheim nach Berlin gezogen ist, nachdem er angeblich in einem brutalen Überfall einem Polizisten die Augen ausgestochen hat. Als vaterloses Kind, dessen Mutter sich ebenfalls aus der Gesellschaft in ihre Wohnung zurückgezogen hat, lebt er jetzt in einem verfallenen Haus in Ostberlin, wo er von einem Psychoanalytiker beobachtet wird. Obwohl in Abschied von den Feinden die Psychiatrie im Allgemeinen einer Kritik unterzogen wird, indem ihre disziplinäre Funktion in einer repressiven Gesellschaftsordnung unterstrichen wird, ist es vor allem Kaffer, wo die Praxis und die Ziele der Psychoanalyse unter die Lupe genommen werden. Wie bei Deleuze und Guattari wird hier die Funktion des ödipalisierenden Diskurses der Psychoanalyse dem subversiven schizophrenen Zustand entgegengesetzt. Die bizarre Situation, die in diesem Roman dargestellt wird, dreht sich um den Machtkampf zwischen einem Psychoanalytiker und einem Subjekt, das sich aus der erdrückenden Enge seiner Kleinstadt-Erziehung zurückgezogen hat, um ‘[e]ndlich allein [zu] sein’ (GT 584). Dieses Allein-Sein-Wollen, das eine Weigerung der Anpassung an die bestehende Gesellschaftsordnung darstellt, die einheitliche, normierte, disziplinierte Subjekte produzieren will, teilt das Subjekt mit vielen Figuren bei Jirgl. Der Analytiker hat sich auf der anderen Seite das Ziel gesetzt, seinen unfreiwilligen Patienten ‘ins Eisen [s]einer Rüstung Wissenschaft’ zu pressen (GT 539) und ‘Ordnung zu schaffen in der Wüste seines Redens & Plapperns’ (GT 618). Am Vorabend der Wende hocken der Patient und der Analytiker in den zwei Zimmern der Altbauwohnung nebeneinander und der Analytiker versucht, das Verhalten seines Patienten im Sinne eines ödipalen Konlfikts zu deuten und in dieses Verhalten korrigierend einzugreifen. Die Ödipalisierung des Patienten wird so weit getrieben, dass der Analytiker sich eine notdürftige Maske aus einer Plastiktüte bastelt und einen autoritären Vaterersatz mimt, um damit den angeblichen ‘ungelösten VaterKonflikt’ (GT 625) des Patienten zu beseitigen oder – in anderen Worten – die Identifikation mit dem Vater als Vertreter der Gesellschaftsordnung zu fördern. Die Motivation des Analytikers ist von dem Bedürfnis geprägt, in
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den Augen seiner Vorgesetzten seine Fähigkeiten als Arzt zu beweisen, also auch selber als angepasstes Subjekt zu gelten. Um seinen Platz in der Gesellschaftsordnung zu sichern, braucht er den Patienten, und er stellt sogar Versuche an, einen Ersatz für ihn zu finden, als der Patient sich weigert, seine Situation mit den ödipalen Kriterien der Psychoanalyse zu verstehen (GT 745). Der Analytiker verlangt vom Patienten, dass er sich an die Vergangenheit, das heißt vor allem an die Familienvergangenheit erinnert, und stürzt sich mit Begeisterung auf jedes Detail in der Erzählung des Patientien, das eine Deutung seiner Krankheit in diesem Sinne erlauben könnte (zum Beispiel GT 591). Dieses ‘Stochern im Erinnerungsschlamm’ (GT 736) bringt aber keine den Analytiker zufrieden stellenden Ergebnisse hervor, da die Erzählung des Patienten von ihm selbst durchgehend als ‘Lügen’ bezeichnet wird. Kennzeichnend für dieses Erzählen ist nicht die Erinnerung, sondern die – vom Alkoholkonsum angeregte – Fantasie, mit der er sich gegen ‘das Erinnern=pausenlos’ (GT 532) der Analyse verteidigt. Der Analytiker möchte in den typischen Lebensstationen des Subjekts – zum Beispiel dem ersten Schultag oder den Erfahrungen mit der ersten Freundin – eine geschlossene Krankheitsgeschichte entdecken, der er als Vertreter der Gesellschaftsordnung mit der Heilung dieses ‘Monstrum[s]’ (GT 539) das richtige Ende setzen könnte.24 Der Analytiker ist jedoch zunehmend frustriert, dass die Episoden, die er zu hören bekommt, entweder nicht stimmig oder ganz offensichtlich Fantasie-Produkte sind, wie zum Beispiel in der Erzählung über die Einschulung, in der der Patient angibt, mit magischen Kräften die Schule versteinert zu haben (GT 535-536). An Stelle des vom Analytiker vorgezogenen Modells der Subjektivität, die sich der Macht der gesellschaftlichen Disziplin unterwirft, setzt der Patient in seiner Erzählung ein fließendes und betont unproduktives Ich, das sich der gesellschaftlichen Integration gänzlich verweigert. Erstens lehnt er es ab, eine Vergangenheit zu haben, das heißt er weigert sich, die angeblich prägenden Erlebnisse seiner Lebensgeschichte als wesentlich für die eigene Selbstwerdung zu betrachten. Diese Erlebnisse lassen sich letztendlich nicht festlegen, weil die fehlende Erinnerung ihre Wahrhaftigkeit nicht garantieren kann. Zweitens weigert sich der Patient einen Körper anzunehmen, der im Prozess der Vergesellschaftung rentabel gemacht werden soll.
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Den Normen des Arbeiterstaats DDR trotzend zieht sich der Erzähler in ein Bett zurück, dessen Vorgänger das Kreisbett der eigenen Geburt war (GT 631), und listet die eigenen Organe auf, die kein zusammenhängendes körperliches Ich mehr darstellen (GT 544 ff.). Er kehrt damit in ein früheres Stadium zurück, vor dem Eingang des Ichs in die Gesellschaft, das an den ‘Körper ohne Organe’ bei Deleuze und Guattari erinnert. In diesem Zustand lässt sich der ‘deterritorialisierte’ Körper nicht mehr durch die gesellschaftlichen Produktionsprozesse in Dienst nehmen und nicht mehr mit den entsprechenden Wünschen und Fantasien der angepassten Subjektivität besetzen. Sein Körper stellt keinen strukturierten ‘Organismus’ mehr dar, aus dem sich ‘nützliche Arbeit’ würde ziehen lassen.25 Sinnbild dieses desintegrierten Körpers ist der ‘Dauer-Ständer’ (GT 552) des Patienten, der keineswegs mit einer klar definierbaren Lust, geschweige denn mit einem bestimmten Objekt zu verbinden ist. Diese Erregung ohne Ursache und ohne Ziel lässt sich nicht in den Triebhaushalt des ödipalisierten Subjekts integrieren und stellt für den Analytiker ein entscheidendes Problem dar, das er zu lösen versucht, indem er der Zuhälter des eigenen Patienten wird und die Kundinnen sich auf dem Glied des reglos im Bett Liegenden vergnügen lässt. Hier zeigt Jirgl auf skurrile Weise, wie die Gesellschaftsordnung letztlich darauf hinausläuft, dass sie den Körper gewinnbringend zu organisieren – das heißt zu reterritorialisieren – vermag. Die Totalverweigerung der Gesellschafft stellt der ewige Schlaf des Subjekts dar: Er fordert sogar die ganze Menschheit dazu auf, im Bett zu vegetieren, um der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion ein Ende zu setzen (GT 549). Die dritte Form der Auflehnung, die in der Figur des Patienten entdeckt werden kann, findet in der Sprache statt. In erster Linie weigert er sich, durch seine eigenen Worte Sinn zu produzieren. Stattdessen ruft er immer wieder das obszöne Kompositum ‘Fotzelecken’ bei seinen gelegentlichen Gängen in den Hof, um seinen Nachttopf zu entleeren. Diese Weigerung, für die übrige Gesellschaft sinnvoll und verständlich zu sein, steht neben seiner verworrenen Lebenserzählung, die viel Erfundenes und Ungereimtes aufzeigt. Statt eine lineare und sinnvolle Erzählung zu liefern, die ihn für den Analytiker und damit für die Behörden verständlich machen könnte, kombiniert er unaufhörlich Erinnerungen, Wunschbilder und Fantasien aus verschiedenen ‘Schubladen’ (GT 604), die nichts über die Verfassung seiner
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‘Seele’ verraten, wie die affektbeladene Sprache des angepassten Bürgers (GT 600). Das Geheimnis des Ichs ist – entgegen der Psychoanalyse – nicht mehr in der Sprache zu entdecken, vielmehr wird diese zu einer spielerischen Kombination von Wortmaterial. Das Ich selber lässt sich schwer definieren und lässt sich auch immer wieder neu erfinden: Die Grenzen der eigenen Rede verschwimmen, so dass der Patient sich die Frage stellen muss, ob nicht der Analytiker ein Echo seiner Selbstgespräche sei (GT 576). Wieder haben wir es hier also mit einem Zustand zu tun, der stark an die von Deleuze und Guattari beschriebene Schizophrenie erinnert, durch die das verwaltete Subjekt den Mechanismen der Herrschaft zu entfliehen versucht, die in diesem Fall sehr deutlich mit der Psychoanalyse und der von ihr vorgeschriebenen familiären Sozialisation in Verbindung gesetzt werden. Das familiäre Dreieck entpuppt sich in diesem Text nicht als unabdingbare Voraussetzung einer geglückten Subjektwerdung, sondern als repressives Gebilde, das im Dienst der Anpassung steht. Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Familie, Staat und repressiver Subjektwerdung bei Reinhard Jirgl macht deutlich, inwiefern Jirgls Texte uns erlauben, eine Alternative zur ödipalen, angepassten, ‘molaren’ Identität zu denken, die auch von Deleuze und Guattari angegriffen wird. Trotz des pessimistischen Untertons einiger Texte Jirgls, und ich denke hierbei vor allem an Werke wie MutterVaterRoman und Die Unvollendeten, scheint es zumindest bei Abschied von den Feinden und Kaffer andere mögliche Formen der Existenz zu geben, die eine Befreiung aus dem tödlichen Kreislauf der menschlichen Zivilisation darstellen. Obwohl Familie, Gesellschaft und Staat zusammenwirken, um eine genormte, angepasste Subjektivität hervorzubringen, können Einzelne Auswege finden, Räume, wo die Fantasie andere Formen des Denkens und des Seins ermöglicht. Die Frage, wie sich solche Räume in der Wirklichkeit würden verwirklichen lassen, lässt sich kaum durch solche literarischen Texte beantworten: Mit ihren Mitteln aber schaffen sie eine Ahnung von anderen Zuständen, die doch utopisches Potential besitzen. Anmerkungen 1
Günter Gaus, Wo Deutschland liegt: Eine Ortsbestimmung, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1983, S. 157.
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2
Gaus, Wo Deutschland liegt, S. 159.
3
Gaus, Wo Deutschland liegt, S. 178.
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4
R.D. Laing, The Politics of Experience and The Bird of Paradise, Harmondsworth: Penguin, 1967, S. 57. Deutsche Übersetzung von DC. 5
Michel Foucault, Madness and Civilization: A History of Insanity in the Age of Reason, übersetzt von Richard Howard, London: Routlege, 1971, S. 61. Deutsche Übersetzung von DC. 6
Mit seinen ‘10 Geboten der sozialistischen Moral’ forderte zum Beispiel Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED 1958 die DDR-Bevölkerung auf, ‘sauber und anständig’ zu leben.
7
Monika Maron, Stille Zeile Sechs, Fischer Taschenbuch: Frankfurt a.M., 1993, S. 113.
8
Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia, übersetzt Robert Hurley et al., Athlone: London, 1984, S. 116. In diesem Kapitel beziehe ich mich hauptsächlich auf das Werk Kapitalismus und Schizophrenie, das aus den Büchern Anti-Ödipus (1972) und Tausend Plateus (1980) besteht. Der Untertitel der beiden Bände, Kapitalismus und Schizophrenie, deutet keinesfalls darauf hin, dass es sich hier nur um eine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft handelt. Vielmehr nehmen Deleuze und Guattari moderne ‘Staatsgesellschaften’ unter die Lupe, wobei klar gemacht wird, dass diese Kritik auch für verschiedene Formen des modernen Industriestaats ihre Gültigkeit hat. Vgl. Deleuze und Guattari, Anti-Oedipus, S. 260-261. 9
Brian Massumi, A User’s Guide to Capitalism and Schizophrenia: Deviations from Deleuze und Guattari, Swerve: Cambridge, Mass., 1992, S. 55.
10
Ich setze mich mit dem Bild der ‘Masse’ bei Jirgl in einem anderen noch nicht erschienen Beitrag weiter auseinander. Vgl. David Clarke, ‘“Störstellen”: Architecture in the Work of Reinhard Jirgl,’ in: Frank Finlay et al., Hg., Interactions: Contemporary German-Language Literature’s Dialogue with the Arts, erscheint 2006.
11
Deleuze und Guattari, Anti-Oedipus, S. 311.
12
Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay in Abjection, übersetzt von Leon R. Randiez, Columbia U.P.: New York, 1982, S. 2. 13
Kristeva, Powers, S. 54.
14
Kristeva, Powers, S. 4.
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15
Theweleit argumentiert, dass zum Beispiel der Faschismus für solche autoritären männlichen Subjekte einen Ausweg aus dieser Zwickmühle bietet, indem er die Frau unterwirft und gleichzeitig eine Art Auflösung des Ich ‘in den männlichen Grenzen der Massenformation’ erlaubt. Klaus Theweleit, Männerfantasien 1 + 2, Piper: München, 2000, S. 453.
16
Kristeva, Powers, S. 54.
17
Der ältere Bruder bemerkt sogar, dass er jahrelang entgegen der biblischen Überlieferung geglaubt habe, Abraham hätte seinem Gott tatsächlich seinen Sohn geopfert (AF 172).
18
Kristeva, Powers, S. 64. Ähnliche Überlegungen zur Funktion des Rituals werden auch von Georges Bataille aufgestellt, der die Religiosität mit einer Aufhebung des Selbst und einer Rückkehr in die ‘Kontinuität der Existenz’ gleichstellt. Georges Bataille, Eroticism, übersetzt von Mary Dalwood, Penguin: Harmondsworth, 2001, S. 24.
19
Bei Kristeva ist die Kreuzigung auch ein Symbol der ‘Abjektion’, das heißt der Auslöschung der Subjektivität durch das Aufheben der Körpergrenzen. Kristeva, Powers, S. 150.
20
Simon Ward, ‘“Zugzwang” or “Stillstand”? – Trains in the Post-1989 Fiction of Brigitte Struyzk, Reinhard Jirgl and Wolfgang Hilbig,’ in: Stuart Taberner und Frank Finlay, Hg., Recasting German Identity: Culture, Politics, and Literature in the Berlin Republic, Camden House: New York, 2002, S. 173-189.
21
Vgl. dazu Christine Cosentino, ‘“Dieses Deutsche in den Deutschen”: Auflösung und Kontinuität in Reinhard Jirgls Alptraumroman Abschied von den Feinden,’ Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft , 30 (1997), 4, S. 307-314.
22
Massumi, A User’s Guide, S. 104.
23
Dazu Dorothea Olkowski, Gilles Deleuze and the Ruin of Representation, University of California Press: Berkeley, 1998, S. 150-151.
24
Wie Deleuze und Guattari bemerken, ist diese Form der Erinnerung eine Art ‘Reterritorialisierung’, in der man versucht, in dem Kind den zukünftigen Erwachsenen zu entdecken und die Identität der beiden festzulegen. Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia, übersetzt von Brian Massumi, Athlone: London, 1988, S. 294. 25
Deleuze und Guattari, A Thousand Plateaus, S. 159.
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Arne De Winde Das Erschaffen von ‘eigen-Sinn’ Notate zu Reinhard Jirgls Schrift-Bildlichkeitsexperimenten Opposing a strand of criticism prevalent amongst reviewers of Jirgl’s texts, who tend to dismiss the author’s orthographic experiments as derivative and superficial, this chapter explores the archeo-genealogical impetus of these arabesque textual constellations, which exist on the borderline between image and text. The first and second part of the essay analyses Jirgl’s (meta)theoretical reflections on the search for an individual(istic), corporeal language and his exploration of the productive tensions within the alphanumeric writing system. In a third excursus, a close reading of an excerpt from Hundsnächte shows how Jirgl’s typographic mechanisms, which reactivate the material and graphic substance of the printed character, function on a microtextual level, i.e. on the level of the word and the sign. Finally, a reading of Das obszöne Gebet demonstrates how these mechanisms manifest themselves on a macrotextual level. Das obszöne Gebet presents itself as a disseminating textual network, requiring a physiognomic or rhythmic mode of reading.
Exkurs 0: Zwischen Klar- und Quertext Am Grab des Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen stehend, liest Josef Butz, der badische Nachfahr des Simplicius, die Ablehnungsbriefe auf sein autobiographisches Baden-Dubel-Manuskript. Scheinbar stößt diese zum Schiftsteller – oder besser: zum Schrift(auf-/schau-/hin-, etc.)steller – avancierende Dubel-Gestalt mit seinem die gesamthochdeutsche ‘KrachmaTick’ dekonstruierenden ‘AIGEN-Text-Haus’ auf skeptische Reaktionen, wie die folgende von Dr. Müller-Klute-Pirrwitz: 1 Intelligent und schreibt in einer Dubelsprache! Wenn das nicht Heuchelei ist. Sie posieren als Doofkopf und geben sich damit ein unverwechselbares Image. Ihr Epigonentum von Joyce und Schmidt, was Wortdeformationen betrifft. [...] Allerdings, allerdings, Herr Butz, gehen Sie sprachlich ziemlich weit. Sie verdrehen nicht nur Sätze, sondern auch Wörter, wenn auch das nicht neu ist. [...] Abschließend kann ich nur sagen: Lassen Sie das Deutsch, so wie es ist, und lernen Sie selbst zuerst richtige deutsche Grammatik.2
Diese scharfe Kritik an einer ‘Wort&Satzverdrehsprache’ betrifft natürlich nicht nur die Dubelsche Autorfigur im Roman, sondern auch den Autor des
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Baden-Dubel-Romans selbst, Hubert Konrad Frank. Und nicht zufällig wird dieser vergessene oder unterschätzte Schriftsteller gerade in den Notaten Reinhard Jirgls gewissermaßen rehabilitiert, denn auch dieser (ost)deutsche Autor gehörte lange Zeit zu ‘jenen Talenten, die stets entmutigt werden’ und deren Suche nach einer souveränen Schreibweise und Textkonstruktion auf Unverständnis stößt.3 In den irritierten Reaktionen auf Jirgls Verwendung einer verschrobenen Typographie und einer sperrigen Privatorthographie enthüllt sich die Tatsache, dass manche Kritiker dem Dr. Müller-Klute-Pirrwitz nicht unähnlich sehen: Die Verwandtschaft zwischen Schmidt und Jirgl ist eklatant, unübersehbar, selbst in Sachen Ich-Perspektive folgt er Arno Schmidt treu wie ein Husky. Für den ‘Epigonen’ Jirgl ist das vielleicht vorteilhaft, da er sich dadurch ... (er)kennBar [sic] von allen anderen Romanautoren seiner Generation abhebt, vielleicht ist es aber auch unvorteilhaft, hat die Kritik doch schon dem Schmidt ‘unreine Originalitätssucht’ nachgerühmt, da er ja selbst nicht der Erfinder der Erfindung war, wie man im Rückblick auf Lukian, Philostratus und andere, also nicht erst bei James Joyce, feststellen muss.4
Wie Josef Butzes wird auch Jirgls Verschriftlichungssystem hier als ein strategisches oder sogar pedantisches ‘Image’ verleumdet, dem im Grunde ein ‘unübersehbares’ ‘Epigonentum’ zugrunde liege. Dabei hängt der Kritiker selbst jedoch einer Ursprungs- oder Originalitätsideologie an, die jegliche Sprachexperimentalität im Keim erstickt, da diese nur die ‘unreine’ oder degenerierte Kopie einer ursprünglicheren ‘Erfindung’ sein kann. Dass die Arno Schmidt, James Joyce, Lukian und Philostratus umfassende Ahnenreihe von einem ‘und andere’ komplementiert wird, führt vor, wie die Ahnensuche ein immer schon verfehltes oder sogar absurdes Unternehmen ist, das sich ad infinitum fortsetzen lässt. Darüber hinaus ist dieses Bilden von genealogischen Ketten symptomatisch für eine ultrahermeneutische Literaturkritik und deren zwangsneurotische Neigung, die Alterität des literarischen Textes zu verleugnen. Auch Jirgl selber hat die gewalttätige oder sogar totalitäre Tendenz der ‘Schablonierung’ durchschaut: Die Ablehnung erfolgt aus der leidigen Kritikersucht, Altbekanntes der Moderne, durch offizielles Kritiker-Maß inzwischen sanktioniert, im neu hinzukommend Anderen aufzuspüren, um sogleich dies neue Andere auf das Bestehende zu
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reduzieren – und wenn nicht ausschließlich zu verwerfen, so doch dem Neuen die Mängel des Alten anlasten zu können; den Sack zu dreschen, wo der Esel gemeint ist. (WiK 199)
Diese Kritik sollte jedoch auch nicht dahin führen, die tatsächlich unleugbaren Beziehungen zwischen Jirgl und anderen Autoren, wie z.B. Arno Schmidt, zu verkennen. Die entscheidende Frage ist jedoch, wie Jirgl diese unterschiedlichen Schreibweisen in seiner dichten intertextuellen und interdiskursiven Textur zitiert, inszeniert und weiterentwickelt. Die Diffamierung von Jirgls Verschriftlichungssystem als Produkt ‘unreiner Originalitätssucht’, ‘Brimborium’ oder ‘Kalauer und Künsteleien’ verrät darüber hinaus ein gewisses logozentrisches Verlangen nach Klartext, das die Schrift auf ein bloßes Transportmittel oder Derivat eines (einzigen) Sinns reduziert.5 Dass Volker Hages Allergie der Konstruiertheit und Absichtlichkeit von Jirgls Schreibweise gegenüber tatsächlich auf eine Einengung der Schrift auf eine zweitrangige, instrumentale oder kommunikative Funktion zurückzuführen ist, bezeugt seine plakative Verwendung von folgendem Brecht-Zitat: ‘Ich weiß nicht, warum die Jüngsten so krampfhaft an ihrem Material herumneuern und mit der Reform bei der Sprache anfangen, die doch recht eigentlich das Unbedachteste, Leichtwiegendste, Schwebendste sein soll’.6 In gleicher Linie beklagt sich auch Horst Samson in seiner Rezension von Die Unvollendeten darüber, dass man vom ‘Jirgl-Stil’ ständig aus dem Lesefluss herausgezerrt wird und von (hinter)frag(ungs)würdigen Manierismen und unangemessenen Wortverzerrungen (‘si-Bierjen’, also Sibirien), von Tautologien und Ist-Gleich(heits)zeichen belästigt, von Numeralien, die als unbestimmte Artikel herhalten müssen (... und nur manch 1 Bö warf der Reglosen 1ige Schreie-Fetzen herüber’, S. 14), von deplatzierten oder fehlenden Satzzeichen, von Zahlenkonstruktionen nach dem ‘sprachgeilcoolen’ Ab!2-Date-Modell des ‘4you’ abgelenkt, von Versalien, die den Leser ausbremsen. ‘Der Tscheche brüllte fuchtelte mit seiner Puschke JEDER 6. WIRD !ERSCHOSSEN.’7
Samson verkennt hier die bedeutungsgenerierende und gesellschaftsanalytische Funktion, die – wie Clemens Kammler und auch Timm Menke ausführlich nachgewiesen haben – Jirgls subversives Verschriftlichungssystem in diesem Flüchtlingsroman (und noch spezifischer in den erwähnten Textstellen) erfüllt.8 So z.B. intensivieren im letzten von Samson zitierten
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Prosa-Zitat das Fehlen des Kommas, des Doppelpunktes und der Anführungszeichen, und das deplatzierte Ausrufungszeichen den Eindruck von Angst und Bedrohung, wobei Versalien als graphemisches Indiz einer dehumanisierenden, Menschen auf zählbares Material reduzierenden Befehlssprache eingesetzt werden. Schon dieser eine Satz illustriert, wie Jirgls polysemantisches Spiel mit Dialekt, Kursivierung, Lesezeichen, Worttrennungen und -kontraktionen – im Gegensatz zu Samsons eigenem (Jirgl parodierenden) Herumbasteln mit Klammern – nicht als belästigende Spielerei oder Albernheit ohne Erkenntnisgewinn betrachtet werden darf, sondern vielmehr Teil eines allgemeineren archäo-genealogischen ‘Projekts’ ist. ‘Engagement’ ist also nicht sosehr oder nicht nur im Bereich des Inhalts von Jirgls Romanen zu suchen, sondern an erster Stelle auf der materiellen Ebene des Wortzeichens. Wenn wir einige Umwertungen durchführen, liefert Samson jedoch unabsichtlich einige Kernwörter für unsere Analyse der Verschriftlichungsmechanismen in Jirgls Prosa. So zum Beispiel kann Manierismus bar seiner pejorativen Konnotationen als eine metahistorische Kategorie für eine selbstreferentiell werdende Kunst der Kombinatorik aufgefasst werden. In diesem Beitrag werden wir untersuchen, wie Jirgl als Vertreter einer ‘anagrammatische[n] Ästhetik des literarischen Materials der Buchstaben und des Mediums der Schrift’ betrachtet werden kann, deren zentrales Verfahren tatsächlich das der Deplatzierung ist.9 Als Bewegkraft der Textkonstitution wird sich das Verfahren der Arabeskisierung herausstellen, in dem Grenzen in und zwischen Texten oder Textarten, Grenzen in und zwischen Wörtern verrückt und in diesem Prozess auch zersetzt oder verwischt werden. Schon Roland Barthes hat darauf hingewiesen, dass ‘[d]ie einzig mögliche Subversion auf dem Gebiet der Sprache [darin] besteht [...], die Dinge zu verschieben.’10 Wie Anselm Haverkamp argumentiert, erinnert ‘Deplatzierung’ oder verschobene Darstellung – in Anlehnung an Freuds Konzept der ‘Nachträglichkeit’ – jedoch auch an Verdrängung und Latenz als das aus dem Verborgenen Drohende. In diesem Sinne fügen Jirgls Texte sich in eine ars memoria ein, die die ‘unter der Oberfläche des politisch, ideologisch oder kulturell Thematisierten liegenden Frakturen und Latenzen’ markiert und exponiert.11 Außerdem betont das (rechtschreibreformierte) Wort ‘Deplatzierung’ auch die räumliche Dimension dieser entstellenden Bewegung. Wie wir noch ausführlich besprechen werden, findet in Jirgls Textur nämlich eine
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gegenseitige Kommentierung und Kontaminierung von Schrift und Bild statt. Gerade diese eigensinnige Schriftbildlichkeit von Jirgls Texten fordert eine ihrer Materialität oder Rhetorizität gerecht werdende Lektürepraxis. In diesem Sinne favorisieren Jirgls Texte ein so genanntes räumlichkonstellatives Lesemodell, das deren ausbremsende oder diskontinuierliche Wirkung nicht als ästhetizistische Verfallserscheinung deutet, sondern als die Möglichkeitsbedingung eines nicht-fixierenden, sich der Dispersion widmenden Lesens. Es handelt sich um eine Lektüre, die ‘wiegt’ (‘pèse’), am Text klebt, die nicht an ‘die Entfaltung [effeuillement] der Wahrheiten’ interessiert ist, sondern an ‘die Gefaltet-heit [feuilleté] der Signifikanz’.12 Der Wortwechsel mit Hage und Samson stellt sich also als die Konfrontation zweier, fundamental unterschiedlicher Text- und Lektüremodelle heraus, die von Roland Barthes folgendermaßen auf den Punkt gebracht wurde: Erstens: der ‘Text der Lust’: der befriedigt, erfüllt, Euphorie erregt; der von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht, an eine behagliche Praxis der Lektüre gebunden ist. Zweitens: der ‘Text der Wollust’: der in den Zustand des Sichverlierens versetzt, der Unbehagen erregt (vielleicht bis hin zu einer gewissen Langeweile), die historischen, kulturellen, psychologischen Grundlagen des Lesers, die Beständigkeit seiner Vorlieben, seiner Werte und seiner Erinnerungen erschüttert, sein Verhältnis zur Sprache in eine Krise bringt. Hier haben wir also ‘das Anrennen gegen die Grenzen der Sprache’ und den unlesbaren Roman – im Supermarkt der Bücher besser bekannt als ‘der experimentelle Roman’.13
Jirgls Romane sind gerade solche Texte der Wollust, die den Lesenden in Fremdheitserfahrungen oder das Oszillationsfeld von Verstehen, Verstehenwollen und Zurückgewiesenwerden führen.14 Bevor wir verfolgen, wie dieses unheimliche ‘Anrennen gegen die Grenzen der Sprache’, diese Arbeit im Signifikanten sich konkret in Jirgls Texten gestaltet, werden wir die metaliterarischen Reflexionen des Autors einer tiefgehenderen Lektüre unterziehen. Exkurs 1: Genealogie und Originalität Immer wieder setzt Reinhard Jirgl sich in sprach- oder schrifttheoretischen Texten mit seinem eigensinnigen, so genannten alphanumerischen Schriftsystem auseinander. Es handelt sich hier einerseits, wie im obszönen Gebet
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und in Abschied von den Feinden, um ‘Legenden’ oder erklärende Vor- und Nachworte, andererseits aber auch um eigenständige, einander komplementierende und revidierende Aufsätze, wie z.B. ‘Das poetische Vermögen des alphanumerischen Codes in der Prosa’ (Gl 50-77) und die ‘Arbeitsübersicht’ ‘Die wilde und die gezähmte Schrift’.15 Obwohl Jirgl immer wieder mit Recht betont, dass Essayistik und Literatur zwei unterschiedliche Textuniversen bilden, erinnern diese verschachtelten, meta- oder hyperreflexiven Texte an die rhetorische Kongenialität oder Gleichursprünglichkeit von Philosophie (‘Denken’) und Dichtung (‘Andenken’) und fordern in dieser Hinsicht eine eigenständige Lektüre heraus. Im Folgenden werden wir denn auch versuchen, Jirgls ‘Exkurse’ oder ausschweifende Denkbewegungen in ‘Die wilde und die gezähmte Schrift’ mitzuvollziehen. Im ersten Exkurs entwickelt Jirgl ein psycholinguistisches Schichtungsmodell, das die gängige Identifizierung von Innerlichkeit und Individualität unterminiert: ‘Je tiefer in die Schichtungen des Ich hinabgestiegen wird, desto unpersönlicher, allgemeiner – mit einem Wort: desto typischer wird der Mensch in seiner “Sprachlichkeit”’ (wgS 297). Während sich aus der Perspektive des in-sich-gehenden Menschen auf der unteren Schicht ein Zusammenfall von ‘Sprache, Gesellschaft und Wirklichkeit’ (wgS 297) vollzieht, handelt es sich aus der Perspektive der Sprache selbst um eine Verstrickung des Menschen in der Präformiertheit von Sprache. In Jirgls Ausdruck findet auf dieser tiefen Ebene eine Unterwerfung des Individuums unter ein gesellschaftlich prädisponiertes, diskursives Regelwerk statt, die zwar einerseits zwischenmenschliche Kommunikation ermöglicht, aber andererseits auf der (quasi-restlosen) Integration und Sozialisierbarkeit des Menschen basiert. In diesem Sinne kann die Suche nach einem a-identitären oder asozialen sprachlichen Freiraum niemals auf dieser Ebene stattfinden, sondern nur in den oberen, scheinbar nur äußerlichen Schichten: ‘Nicht also in seiner Tiefe, sondern allein auf seiner Oberfläche, dieser dünnen Schichtung des Ich, ist der Mensch individuell; hier erhält er seine Originalität’ (wgS 297). Als Katalysator dieser individuellen sprachlichen Produktivität wird eine dialektische Spannung zwischen Enttäuschung und Ent-Täuschung dargestellt. Ausgangspunkt dieser Reflexionen ist eine akribische Lektüre des Bibelverses: ‘Im Anfang war das Wort[, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort]’. Im Gegensatz zu Luthers Bibelübersetzung, in der es ‘am Anfang’ heißt, nimmt Jirgl auf die
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etymologische Bedeutung des hebräischen Wortes ‘be’reschith’ (‘im Anfang’) und die neutestamentarische Formulierung im Johannesevangelium Bezug. Während die Präposition ‘am’ den Ursprung punktuell und logozentrisch fixiert, setzt, wie auch Sabine Lammers argumentiert, das ‘im’ ‘irgend etwas vor den Anfang von Welt und beschreibt auf diese Weise einen doppelten Ursprung: Ein Ursprung aber, der im Sinne der beschriebenen OntoTheologik doppelt ist, ist nicht’.16 Jirgl selbst bringt diese unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Präpositionen folgendermaßen auf den Punkt: ‘Es läßt an keinen, weder punktuellen noch andersartigen Ursprung denken, sondern vielmehr an ein weitverzweigtes Quellgelände, somit auch an mannigfache Herkunft von Sprache’ (wgS 298). Jirgl scheint hier in einen impliziten intertextuellen Dialog mit zwei philosophischen Texten zu treten: erstens mit Walter Benjamins sprachtheoretischer Lektüre der Genesis (‘Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen’), zweitens mit Michel Foucaults grundlegendem Aufsatz über ‘Nietzsche, die Genealogie, die Historie’. In seiner sprachphilosophischen Gedankenkonstruktion lokalisiert Benjamin am paradiesischen Ursprung der ‘Offenbarung’ die magische Unmittelbarkeit einer adamitischen Sprache, in der eine prästabilisierte, in Gott verbürgte Harmonie zwischen der Sprache der Dinge, der Namensprache des Menschen und dem schöpferischen Wort Gottes herrscht. Dieser Zustand der Vollkommenheit der Erkenntnis zerstreut sich jedoch mit dem ‘Sündenfall des Sprachgeistes’, der ‘Geburtsstunde des menschlichen Wortes’.17 Mit dieser Zäsur tritt sowohl eine Verdinglichung der Sprache – d.h. eine Reduktion der Sprache auf ein bloßes Zeichensystem bzw. ein Mittel der Mitteilung – als eine unendliche babylonische Vervielfältigung der Sprachen auf, die nun nicht mehr restlos ineinander übersetzbar sind. In seiner Interpretation des Bibelverses betont Jirgl jedoch, das der ‘reine’ Ursprung von allem Anfang an kontaminiert war. Jedem Anfang liegt immer schon ein Disequilibrium oder ein Ungenügen zugrunde: ‘Nichts würde je begonnen werden, wäre alles bereits vollendet; vollendet ist allein das Nichts, hinsichtlich der Sprache das Schweigen’ (wgS 298). In gleichem Sinne weist auch Nikolaus Müller-Schöll auf die Paradoxie (des Anfangs) im Zentrum von Benjamins Sprachphilosophie hin, das unmögliche Verhältnis von Geist und Sprache:
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War am Anfang das Wort, stellt sich die Frage, wer oder was es ausgesprochen hat, ging ihm der Gedanke voraus, so ist die Frage, wie er ohne Manifestation im Wort möglich war. Wort und Gedanke bedingen insofern einander, schließen sich jedoch auch aus: Entweder war der Gedanke immer schon Wort, dann war sein Aussprechen von Anfang an möglich, aber unnötig. Oder aber der Gedanke war anfänglich nicht Wort, dann war sein Aussprechen nötig, aber gewissermaßen unmöglich.18
Jirgls Vertreibung der ‘Chimäre des Ursprungs’, seine Suche nach dem jeglichem Anfang inhärenten Verfall macht ihn zum Genealogiker im Sinne von Michel Foucaults erwähntem Nietzsche-Aufsatz.19 Der genealogische Blick lehnt die Suche nach einem metaphysischen Ursprung als Täuschung ab und widmet sich stattdessen einer Analyse der Herkunft, die uns zu den unzähligen und unübersichtlichen Ereignissen und Zufälligkeiten zurückführt, die jeglicher Wahrheit oder Begrifflichkeit zugrundliegen – oder diese vielmehr verabgründen: ‘[Er] beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; [er] zerteilt, was man für eins hielt; sie zeigt die Heterogenität dessen, was man für kohärent hielt’.20 Diese erschütternde oder enttäuschende Konfrontation mit der Inkohärenz umschreibt Jirgl als einen ‘erste[n] Riß im Integrationszustand’ (wgS 298) des sinnsuchenden Menschen, in der vermeintlichen Identität von Wirklichkeit und Sprache. Er entdeckt, dass er sich immer schon in einem post-adamitischen Sprachzustand befand, in dem eine unüberbrückbare ‘Benennungs-Distanz’ (wgS 297) herrscht. Auffällig ist hier vor allem die unterschiedliche Rolle des Kinderspiels: Während Benjamin – zumindest in seinem Sprachaufsatz von 1916 – in Nachfolge von Hamann die Sprache des Ursprungs mit einer Natürlichkeit und (Gottes-)Nähe versieht, wie er sie auch im Kinderspiel anzutreffen meint, ist das Kinderspiel mit seinen unaufhörlichen, die etablierte Erwachsenenwelt irritierenden Serien von Warum-Fragen in Jirgls Text Ausdruck einer intuitiven Einsicht in die Arbitrarität oder Gesetzlosigkeit jeglicher Setzung. Die entscheidende Frage in Jirgls Text ist nun, wie man die enttäuschende Erfahrung der negativen Verlässlichkeit aller sprachlichen Äußerung verkraftet. In Jirgls Analyse bietet die politische Macht alle Kräfte auf, um die unaufhebbare Ambivalenz oder Kontingenz, die jede Sinnstiftung subvertiert und zugleich ermöglicht, zu verneinen. Sie versuche das In-FlussSein der – sprachlichen – Realität, die so genannte différance, mittels zum
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göttlichen Gesetz hypostasierter Regelsysteme zu fixieren. Wir können in diesem Zusammenhang mit Nikolaus Müller-Schöll von der zerstörerischen Logik des ‘Immanentismus’ sprechen, in der jegliche die vermeintliche Reinheit bedrohende Normabweichung eliminiert werden soll.21 Wir begegnen hier einer ihre Gewalttätigkeit in Regelsystemen verankernden Gesellschaft, für die laut Jirgl die so genannte ‘wilde’ (Ur-)Sprache symptomatisch ist, deren Sprecher sich vollkommen innerhalb des normativen Sprachrasters bewegen, das von einer totalisierenden Grammatik prästabilisiert wurde. Hier zeichnen sich zwei Reaktionsmöglichkeiten des Menschen auf die Enttäuschung ab: Man lässt sich von den staatlichen Restabilisierungsversuchen verführen, ‘fügt sich’, bedient sich einer ‘von Macht korrumpierte[n], [...] unterworfene[n] Sprache’ (wgS 299), oder man vermag, Enttäuschung strategisch in ‘Ent-Täuschung’ – im Sinne einer ‘Enthüllung’ dieser Gewalt-Phänomene – umzuwerten. Was im letzteren Fall enthüllt wird, ist die Tatsache, dass die Sprache ein Ort der Konfrontation und des Kampfes ist, der Schauplatz eines ‘barbarischen und unaussprechlichen Wimmelns’.22 Für den genealogischen Blick, der sich dem Trassieren von (latenten) Verschränkungen von Leib und Geschichte widmet, ist das Wort also niemals ein bloßes Transportmittel geistigen Inhalts, sondern ein ‘Leib des Werdens’:23 Demzufolge trägt sich in das geschriebene Wort in seiner physiologischen bzw. charakterologischen Gestalt genau wie in einem menschlichen Leib immer auch in unmittelbarer Weise die Historie des Menschen ein. (wgS 301)
Diese auf Nietzsche rekurrierende Umschreibung des Wortes als eines Objekts, in dessen Physiognomie sich Geschichte und Erfahrung sedimentieren, eröffnet jedoch die Möglichkeit des Individuums, einzugreifen oder ‘von sich zu informieren’ (wgS 300). Informieren wird hier im Sinne von Vilém Flusser als ein ‘grabendes Schreiben’ begriffen, eine individualistische ‘Geste des Sich-befreien-Wollens’,24 die nicht mit ihrem radikalen Gegenteil, ‘sich kommunizieren’ verwechselt werden sollte.
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Exkurs 2: Die Spannungen innerhalb des alphanumerischen Codes Aus der Erfahrung der Unzulänglichkeit und der totalitären Willkürlichkeit des gesellschaftlich verbindlichen Sprach-Schrift-Reglements heraus sucht Jirgl nach einer ihm gemäßen, ‘gezähmten’ Schreibweise, die die Konflikte sowohl der inneren als der äußeren Wirklichkeit destilliert oder reflektiert: Im Textgebilde sollen in der Gesamtheit die Spannungen und Konflikte der äußeren Wirklichkeit durch die ‘Bandbreite’ literarischer Mittel in der Wirklichkeit des Textes – in bearbeiteter, zugespitzter, ‘inszenierter’ Wirklichkeits-Form – sich wiederfinden. (wgS 311)
Entgegen der hermeneutischen Neigung, Bedeutung vor allem auf der inhaltlichen Ebene von literarischen Texten zu verorten und die Schrift solchermaßen auf ein transparentes Transportmittel von Ideen zu reduzieren, betont Jirgl die subversive Eigengesetzlichkeit des Schriftmediums selbst.25 Mittels Zitate und Anspielungen führt Jirgls Argumentation den subtilen intertextuellen Dialog mit Benjamins Sprachaufsätzen fort, und konkreter mit dessen Überlegungen über die Magie der Sprache. Einerseits bezeichnet diese Magie sowohl in Jirgls als auch in Benjamins Text die Unmittelbarkeit und Unendlichkeit der Sprache: Denn gerade, weil durch die Sprache sich nichts mitteilt, kann, was in der Sprache sich mitteilt, nicht von außen beschränkt oder gemessen werden, und darum wohnt jeder Sprache ihre inkommensurable einzig geartete Unendlichkeit inne. Ihr sprachliches Wesen, nicht ihre verbalen Inhalte bezeichnen ihre Grenze.26
Sowohl im ante-lapsum als im post-lapsum Zustand weist diese Eigendynamik der Sprache auf eine unaufhebbare Kontingenz oder eine produktive Differenz zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeits-Form hin. Wie Nikolaus Müller-Schöll betont, steht der Begriff der Magie so in der Tat für ‘die nie restlos voraussagbare noch letztgültig beschreibbare Veränderung oder différance, die mit jedem Sprechen einhergeht’.27 Andererseits führt die Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die Medialität aber zu einer Wiederentdeckung des ‘mimetischen Vermögens’ der Sprache, das ‘unsinnliche Ähnlichkeiten’ oder ‘Verspannungen’ zwischen dem Schriftbild (des Textes, des Wortes, des Buchstabens usw.) und dem Bedeuteten bzw.
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dem Gesprochenen stiftet.28 In diesem Sinne betont Jirgl, dass seine eigenwilligen Schrift-Bildlichkeitsexperimente nicht auf Erfindung basieren, sondern auf dem Wiederfinden von Möglichkeiten, die von jeher – seit der Vorherrschaft des Phonozentrismus aber verdeckt – im ‘Innern der Schrift’ (wgS 303) anwesend waren. Es handele sich ‘lediglich’ um die verschärfte Wiederbelebung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Ikonographischen und dem Alphabetischen innerhalb des so genannten ‘alphanumerischen Codes’ (wgS 303). Dass es sich hier tatsächlich um eine Wiederentdeckung handelt, führt Jirgl in einer schriftarchäologischen Kurzhistorie vor, die vor allem auf den Schrifttheorien von Vilém Flusser basiert. Wie Flusser führt Jirgl die Erfolgsgeschichte des Alphabets auf eine fundamentale und gewaltsame ‘Umwertung’, die vor viertausend Jahren stattfand, zurück: ‘Das magische, bildergebundene Denken (die Ikonographie) mußte dem begrifflichen, dem kritisch-diskursiv gebundenen Denken weichen’ (wgS 304). Die tiefgreifende Prägung, die die abendländischen Kulturen durch die alphabetische ‘Psychotechnologie’ erfuhren, scheint hier vor allem zweifach: erstens scheint das alphabetische Schreiben in seiner Linearität und Eindimensionalität überhaupt erst ‘historisches’ oder ‘kritisches’ Bewusstsein ermöglicht zu haben; zweitens basiert die alphabetische Schrift auf einem ‘Prinzip der Abstraktion’, in dem Sinne dass sie die Sinne gegen den Sinn, die Wahrnehmung gegen Konzepte austauscht,29 oder um die prägnante, auch von Jirgl zitierte Sentenz zu verwenden: ‘Man schreibt alphabetisch und nicht ideographisch [oder in Jirgls Version: ikonographisch, A.D.W.], um ikonoklastisch denken zu können’.30 In seinen spracharchäologischen Schriften (wie auch in seiner Prosa) enthüllt Jirgl jedoch die Un-Reinheit jeglicher ‘Wende’ oder jeglichen ‘Neuanfangs’, indem er die Spuren des Alten im Neuen verfolgt: Allerdings, wie das bei Umwertungen häufig geschieht, verbleiben im Umgewerteten Rückstände des Exorzierten, und so verbergen sich, Scherben auf archäologischen Fundstätten gleich, Reste des Umzuwertenden im Umgewerteten als eine Art inhärenter Opposition; hier also das Bildhafte in der als bilderlos beabsichtigten alphanumerischen Schrift. (wgS 305)
Jirgl betont an dieser Textstelle zwei Manifestationsweisen des im vermeintlich Eigenen fortlebenden Anderen: erstens die graphische Gestalt
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der Buchstaben oder deren ‘mimologische Reaktivierung’,31 zweitens die eigene Physis von Ziffern, die innerhalb des Gleichberechtigung suggerierenden alphanumerischen Codes (und a forteriori in dessen poetischer Ausprägung) verdrängt wurden. Unter dem ersten Aspekt verstehen wir nicht so sehr Jirgls den gedanklichen Abstraktionsgestus aufbrechenden Wort-, Satz- und Textdekonstruktionen, sondern vielmehr das Produktiv-Machen der Bildhaftigkeit des einzelnen Buchstabens. Buchstaben führen nämlich eine spannungsvolle Doppelexistenz: zum einen sind sie ‘durchsichtige, konventionalisierte Zeichen in Wörtern’, über die man hinweglesen sollte, zum anderen bilden sie aber ‘autonome figurale Formationen’.32 Dass der latente ikono- oder piktographische ‘Ursprung’ des Alphabets sich jederzeit wiederbeleben lässt, illustrieren für Jirgl z.B. die Kunstwerke von Arcimboldo, den Surrealisten und vor allem dem ‘Jugendstil’-Künstler Erté. Diesem letzten Menschenbuchstaben-Künstler widmete Roland Barthes übrigens einen Essay ‘Erté oder An den Buchstaben’, der Jirgls Argumentation entscheidend geprägt hat.33 Auch Jirgl selbst setzt jedoch die optische und physiognomische Energie der Buchstaben frei, so dass sich in ihnen ‘bild-, also dinghafte Konfigurationen bis hin zu ethischen Versinnbildlichungen [...] ausmachen’ (Gl 56) lassen. Beide Lesarten sollten hier mit einem Beispiel illustriert werden. Im ‘Tribunal de Sade’-Vorspiel auf Klitaemnestra Hermafrodit, das so von Wort- und Satzzerrüttungen strotzt, dass nur eine akribische Lektüre dem Text gerecht werden kann, wird eine dekadente ‘Be-Trieb’sWeihnachtsfeier’ (GT 12) evoziert, auf dem ein (macht)geiler Chef auf obszön-brutale Weise zwischen ‘Kleider-Ständer[n]’ (GT 14) über eine Untertanin herfällt: ‘die Beine gespreitet, die Frau das X mit Lochinmitten, derzeit grad od gekrümmt vom Scheff-persöhnlich besucht’ (GT 14). Dieses X setzt ein zweifacher Prozess in Gang: einerseits wird der Buchstabe figuriert, indem der Arme und Beine spreizende Frauenkörper gewissermaßen auf den Buchstaben projiziert wird, andererseits defiguriert der Buchstabe die Frau, indem er sie abstrahiert oder verdinglicht. Als Beispiel für die ethische Versinnbildlichungskraft des isolierten Buchstabens kann hier vor allem auf das Motiv des ‘SCHWARZEN O’ in Die Unvollendeten hingewiesen werden. Dieses ‘O’ funktioniert nämlich als ein unaussprechliches, abgründiges Zentrum – eine traumatische Krypta –, um das herum sich der Zeugnisbericht des krebskranken Erzählers fortspinnt: es
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ist einer der ‘Zeit-Tunnel [...] zwischen Heute u: Damals, Orte, an denen Alles wiederkehrt’ (U 210).34 Der isolierte Buchstabe taucht zum ersten Mal auf, als die Hauptfigur ins mit einem Mal fremd gewordene Gesicht der toten Urgroßmutter blickt: ‘auf-mich zukommend der offene Mund, groß wie der Buchstabe O IM SCHWARZEN WORT TOD –:’ (U 172). Das ‘O’ stellt somit eine Verbildlichung von aufklaffenden oder leeren Mündern und Augen dar und wird solcherweise zum Sinnbild von Tod, Abgrund und Vernichtung (vgl. U 201, U 204, U 213 usw.). Wenn es mit Lust konnotiert wird, indiziert es gewissermaßen das stets drohende Umkippen von Eros in Thanatos: ‘aus deinem Mund dem SCHWARZEN O die rauhen Laute der Gier’ (U 248, vgl. U 184, U 197). Darüber hinaus wird der Gesamttext von der tödlichen Wirkung des ‘SCHWARZEN O’ infiziert: idealistische Begriffe wie ‘ORDENTLICHE FAMILIE’ (U 184) und ‘GOtt’ (U 177-130) sind von allem Anfang an schon von Verfall und Tod befallen. Das unendlich ausfüllbare O unterminiert jedoch zugleich jegliche Verankerung in einem logos oder ratio, es widerstrebt einer eindeutigen Symbolisierung und eröffnet stattdessen eine unendliche Bewegung oder Vergleitung des Symbols, die nicht durch ein letztes Signifikat reguliert werden kann. Das Fortleben des Ideogrammatischen im alphanumerischen Code äußert sich in Jirgls Texten nicht nur in einer Bildlichkeit der Buchstaben, sondern auch in einem Auf-die-Spitze-Treiben der inneren Spannung im alphanumerischen Code, nämlich der zwischen seinen beiden Komponenten, der alphabetischen und der numerischen (dem Ideogramm verbundenen) Denkund Schreibart. Flusser mitunter fast wörtlich zitierend betrachtet Jirgl den alphanumerischen Code als Produkt eines Zusammenspiels oder -stoßes von ‘zwei miteinander unvereinbaren Wirklichkeiten’: der auditiven der Buchstaben und der visuellen der Zahlen.35 Das Unterbrechen von alphabetischen Zeilen durch Zahlen erfordert somit vom Leser ein gehirnverrenkendes ‘Umschalten’ von einer linearen zu einer kreisenden, multidimensionalen Denk- und Lesart. Mit dem strategischen Einsatz von Ziffern in seinen Textgebilden versucht Jirgl, zwei kulturhistorischen Tendenzen entgegenzuarbeiten: zum einen versucht er, die Vergewaltigung der Zahlen durch die Buchstaben (und dies vor allem in poetischen Texten) aufzuheben; zum anderen widersetzt er sich (der Hypothese) einer (restlosen) Ablösung der Buchstaben durch den digitalen Code. Die Verteidigung der Schrift kommt hier alles andere als einem hoffnungslosen, reaktionären Aufbegehren gegen
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die informatische Revolution gleich, sondern vielmehr einer Anerkennung der ‘Flexibilität’ (wgS 307) der Schrift. In dieser Hinsicht sind die beiden Ausbruchsrichtungen aus der Schrift, nämlich ‘die Rückkehr zum Bild’ (wgS 308) und ‘der Vorausschritt zu den Zahlen’ (wgS 308), im Grunde Tendenzen, die sich innerhalb der Schrift abspielen.36 Dass die Spannungen innerhalb des alphanumerischen Codes sich tatsächlich nicht befriedet, sondern vielmehr verschärft haben, ist Inhalt auch der Argumentation Sigrid Weigels in ihrer kritischen Weiterentwicklung des Flusserschen Modells. Sie weist darauf hin, dass gerade (natur)wissenschaftliche Disziplinen wie die Genetik und Kybernetik durch einen ‘Codierungsmix’ gekennzeichet werden, d.h. dass sie Aufschreibesysteme benötigen, die aus Buchstaben, Zahlen und Bildern bestehen.37 Auch Jirgls literarische Texte funktionieren als eine ars combinatoria, in der zum Ärgernis der an einem konventionalisierten Schriftbild festhaltenden Wortkultur Buchstaben mit Ziffern kombiniert und verschachtelt werden. Dabei handelt es sich nicht nur (wie wir weiter unten sehen werden) um das Unter- und Zerbrechen von Wörtern und Sätzen durch isolierte Ziffer, sondern auch um das Einrücken von naturwissenschaftlichen Formeln und sogar statistischen Tabellen und Graphiken. Gerade diese wissenschaftlichen Intermezzi illustrieren jedoch, dass das Plädoyer für eine ‘Freiheit der Ziffer’ (Gl 70) keiner Verherrlichung der Ziffer als eines die Wirklichkeit adäquater erfassenden Mediums gleichkommt. Das alphabetische und das numerische System komplementieren sich in ihrem Versuch, eine letztendlich unbegreifliche und unbegriffliche Wirklichkeit zu verstehen. So scheinen die wissenschaftlichen Einschübe in Jirgls MutterVaterRoman auf den ersten Blick plausible Hypothesen zu formulieren, stellen sich aber bei näherer Betrachtung als ihre eigene Rhetorizität herausstellenden Konstrukte dar. Der Text exponiert die Ununterscheidbarkeit oder Gleichursprünglichkeit von Prophetie und Wissenschaft durch ein Ad-Absurdum-Führen des wissenschaftlichen Diskurses. So wird zum Beispiel eine Graphik – mit ‘KURVENDISKUSSION’ (MVR 121) – in den Text eingefügt, die die Periodizität großer militärischer Konflikte aufzeichnet und unter Zu-Grunde-Legung dieser Tatsachen wird das Jahr des nächsten militärischen Konflikts in größerem europäischen Ausmaß (der so genannte ‘NOSTRADAMUSPUNKT’) vorausgesagt. An anderer Stelle werden Tabellen aus B.Z. Urlanis’ Bilanz der Kriege eingerückt, in denen die ‘Gesamtverluste’ ‘aller Kriege’
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verzeichnet und in die allgemeine ‘Exponentialfunktion der Form y=f(x)=ax’ eingepasst werden. Schon die konsequente Kursivierung von Letterkombinationen wie ‘po’, ‘sam’, ‘ständig’ dekonstruiert die heilige Aura des Wissenschaftsdiskurses, indem sie ihn auf seine eigene Triebökonomie zurückführt. Darüber hinaus tangiert diese Montage das von Jirgl auch in Essays thematisierte, unlösbare Dilemma der Demozid-Statistik: ‘wir rechnen in großen Zahlen jenseits von Begreifen, das ist der Neue Katholizismus, und STATISTIK das neue Dogma’ (MVR 84). Einerseits übersteigen die Zahlen jede Grenze des Verstehens und konfrontieren den Rezipienten mit der Tatsache, dass ‘die Globalisierung, in deren Zeichen dieses Jahrhundert getreten ist, zuerst die Globalisierung des Mordes war’; andererseits löscht das Zahlenregime aber die Singularität der Leidenserfahrung aus: ‘Der Code der Zahlen ist erinnerungslos. Zahlen verzeichnen und archivieren die Toten, sie geben einen abstrakten Speicher her, der eine andere Form von Massengrab ist’.38 Leseübung 1: Mikrotextuelle Schriftbildlichkeitsverfahren Jirgls sprach-optische Spiele stellen den Versuch dar, aus der ‘Zweidimensionalität des beschriebenen Papiers’ herauszubrechen in ‘die Dreidimensionalität der Körper-Welten’ (wgS 306). In Nachfolge von Roland Barthes spricht Jirgl hier von einer Erotik des Text-Gebildes und einer Lust am Text. Auffällig ist hier vor allem, wie Jirgl das Erscheinen des Text-Körpers mit dem des menschlichen Körpers vergleicht: in ihrer unfügsamen Materialität und Kontingenz werden beide als ein Dorn im Auge der totalitären Biopolitik der Moderne betrachtet, die ‘das’ Lebendige oder einfach Da-Seiende zu normieren und zu normalisieren versucht: den Körper ‘gilt es abzurichten, zu schleifen, in Denk- und Sprachgestik tautologisch gleichzuschalten’ (wgS 310). Aus dieser Perspektive ist das konventionelle, der gutbürgerlichen Erwartungshaltung entsprechende Druckbild das Produkt einer solchen tautologischen Gleichschaltung, das wegen seiner Schablonenhaftigkeit das Sammeln oder Vermitteln von neuen Erfahrungen verhindert und solcherweise zur ‘Petrifizierung’ (Gl 61) oder zum ‘Tod der Sprache’ (Gl 62) beiträgt. Die Frage drängt sich hier aber unvermeidlich auf, ob Jirgls Legenden, in denen die Bedeutung jedes Wort- und Satzzeichens akribisch verzeichnet
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wird, nicht gerade die Lust (des Lesers) am Text verderben oder, schlimmer noch, sogar zu einer neuen Disziplinierung des Körperlichen führen. Jirgl selbst begegnet diesem Vorwurf, indem er behauptet, dass sein Aufschreibesystem keinesfalls als ‘eine starre Systematik, gar [...] ein Dogma’ (wgS 313) zu verstehen ist, sondern vielmehr als ein ‘DialogAngebot’ (wgS 313), das den Leser im Idealfall zu einem Mitarbeiter am Text macht. Diese Mitarbeit umschreibt Jirgl als das Entdecken von – kontextgebundenen – ‘Übersetzungsmöglichkeiten [...], die durchaus andere als die vorgeschlagenen Bedeutungen hervorbringen können’ (wgS 313). Es handelt sich somit um ein Modell, das ‘von vorneherein als unfertig zu betrachten’ ist,39 da es vom Leser übersetzt (und d.h. immer auch modifiziert) werden muss. In diesem Sinne stellt Roland Barthes in Sade Fourier Loyola dem geschlossenen und orthodoxen System eine offene, dialogische Systematik gegenüber, die übertragbar oder applizierbar ist unter der einzigen Bedingung, dass sie – vom Rezipienten – deformiert wird. Darüber hinaus zeugen Jirgls Umschreibungen der physiologischen und charakterologischen Bedeutungen von einer poetischen Eigendynamik und einer Detailbesessenheit, die jeden einfachen Anwendungsversuch von vornherein dementieren, so z.B. wenn der Ziffer 1 als ‘Symbol [...] für ein spartanisches, ja geiziges Wesen’ herhalten muss: ‘die Person sei aber desgleichen ehrlich, im Sinn von geradeheraus, im Urteil gerecht, geistig flink und von schneller Auffassungsgabe. [...] Scheu vor lange dauernden oder körperlich schweren Arbeiten, dabei genau bis pingelig’ (wgS 314), usw.. Gerade in diesem Exzessiven liegt aber die Provokanz des Jirglschen Verschriftlichungssystems, denn, wie Barthes betont, ist Freiheit nicht das Gegenteil der Ordnung, sondern ‘die paragrammatisierte Ordnung’.40 Statt eine Paraphrasierung der in Jirgls Legenden aufgelisteten Verschriftlichungsmitteln anzubieten, möchte ich nun das Dialog-Angebot annehmen und mit einer Lektüre von zwei Text(stell)en erwidern, Das obszöne Gebet und einem Fragment aus Hundsnächte. Diese Leseübungen werden sich vor allem auf Mechanismen der Schriftbildlichkeit oder der so genannten ‘Grammatextualität’ (Lapacherie) konzentrieren und Jirgls Texte als Gefügen von Schrift betrachten, die die (latente) Spannung zwischen Schrift und Bild produktiv auf die Spitze treiben und somit die LeserInnnen in die Unentscheidbarkeit zwischen Lesen und Schauen werfen.41 Unser Augenmerk wird sich auf die Frage richten, wie Jirgl Schriftbildlichkeits-
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strategien auf den unterschiedlichsten mikro- und makrotextuellen Ebenen einsetzt: dabei wird der Fokus auf der Ebene des Zeichens, des Satzes, der Seite, des (Gesamt-)Textes und sogar auf der Ebene des Inter- oder Metatextuellen liegen. Folgendes Zitat aus Hundsnächte ist Teil einer hasserfüllten Machtanalyse eines ehemaligen Stasi-Funktionärs, die sich vor allem gegen die so genannten loyalkritischen DDR-Autoren mit ihren ‘herzzerreißenden Widersprüchen’ richtet.42 DIE VERHÖRE.....
Wissen Sie, da gab es, manchmal, so: VERHÖRE..... - !o beileibe nicht mit den Wertvollen-Seelen, die Bücher schrieben vonner Besseren-DeDeR :!die haben wir rausgeschmissen, verkauft od mit Zuckerbrot&peitsche an=uns gefesselt [...] & weiter Heulen Schampannjersaufen & vom Wa(h)ren Sozialismus trällern - :!Was sollten wir bei Denen ?verhören; bei solch ½roten TugendSchabracken & ½schwarzen Faustan-Pillendrehern: die Ganzebande nich I Arschtritt wert, u haben also ihre Zahnprothesen drinbehalten dürfen - :!Nein: DIE-VERHÖRE nur mit dem Pack, das aus den Kellern kam die es nicht geben durfte:Arbeitslosen Assis Bummelanten verstunkne Penner Landstreicher Säufer Pißbuden-Schwuchteln & R-Flüchtlinge Diebe Schieber Kinderficker, die ohnehin keiner ansehn mochte – Jeschieht sonen Säuen doch janz!recht (:hinsichtlich des Verschwindenmachens solcher Kreaturen waren wir beim-Volk..... !wirklich populär wie damals Hitler), Typen wegschaffen, nach denen kein Hahn & kein Politmagazin krähte, aber !die waren wirklich gefährlich für uns, waren die tiefen Risse im Fundament [...]. (H 381-382)
Unabhängig vom transportierten Inhalt, werden die LeserInnen hier mit einem befremdenden, ‘anders gestellten Schriftbild’ (Gl 61) konfrontiert, dessen Andersartigkeit vor allem auf so genannten diagrammatischen Verschriftlichungsmechanismen basiert. Abgesehen von den auf gebrochene Charaktere deutenden (Dezimal-)Brüchen, figurieren diese zwar nichts (wie im Falle der oben besprochenen ideogrammatischen Buchstaben), aber sie zerstören die idealtypische Linearität und Eindimensionalität der Schrift durch eine beziehungsreiche Verflechtung von Spuren und Zeichen.43 Diese Reaktivierung der materiellen und graphischen Substanz der Signifikanten findet hier vor allem auf grammatischer, d.h. auf Zeichen- und Wortebene, statt, und zeigt sich vor allem in folgenden, hier nur schematisch vorgestellten, Strategien.
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Zunächst fallen die ‘wimmelnden Typographien’ (‘typographies foisonnantes’) und ganz spezifisch die unterschiedlichen Drucktypen auf.44 Durch typographische Kunstgriffe wie Kursivierung und Großschreibung verlieren Buchstaben ihre vermeintliche Transparenz und wird der Leser dazu gezwungen, auf den Text zu schauen. Die Großschreibung von ‘VERHÖRE’ und die Kursivierung der Aussage des ‘Volkes’ illustriert, wie die ‘typographische Harmonie’ zugunsten einer ‘mimetischen Logik’ zerstört wird.45 Es scheint hier nämlich ‘Kongenialität’ oder eine Konvergenz zwischen Typographie und Textbedeutung aufzutreten.46 Während Kursivierung hier eine ironische, kritische Distanz dem Gesagten gegenüber andeutet, signalisieren die Majuskel eine aggressive, entindividualisierende Sprache der Macht, deren Bedrohung noch von der unmittelbaren Nachfolge der 5 Punkte verstärkt wird. Nach Jirgls eigenen Erklärungen deuten die 5 Punkte – die prägnanterweise auch dem Wort ‘Volk’ hinzugefügt werden – nämlich ‘eine latent vorhandene oder unmittelbar bevorstehende Gefahr, im äußersten Fall den Tod – die Auflösung’ (wgS 318) an. Dass die expressive oder mimetische Verwendung von Majuskeln jedoch über sich selbst hinausschießen und in eine an Sinnlosigkeit grenzende Hypermimetik umkippen kann, illustrieren die gleichsam bruiistischen Unterbrechungen von der Rede des so genannten Wahnsinnigen in der Atlantischen Mauer: KKKKKRRRRRRRRRRRRRRRRRRKKKKKIIIIIRRRRRRRRRRRRRRRKKRR RRRRRRRRRRRIIIIIIIIIRRKRRRRRRRRRRRRRIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIISCH SCHSCHSCHDDRRRRRRRRRRRRRIIIIIIIIIIIIISCHSCHIIIIIIIIIIINGNG. (AM 224)47
Zwar tragen diese visualisierten Geräusche zu einer Beschreibung des ‘Lebens in der Tiefe’ als einer brutalen, auch die Sinne angreifenden Umoder Unwelt bei, letztendlich desindexikalisiert sich jedoch die Typographie und somit entsteht ein autonomes graphisches Gebilde. Die Absicht, das Auditive so akkurat wie möglich ins Visuelle zu übertragen, äußert sich in unserem Fallbeispiel in noch zwei weiteren Aspekten: erstens in der Interpunktion, zweitens in der Verwendung von Dialekt. Jirgls von der Norm abweichende Interpunktion und Satzgliederung zeugt von einem Verlangen, das ‘reale[..] Sprech-Verhalten von Menschen im Alltag’ (wgS 318) abzubilden. Wie Brecht bereits anmerkte, kann dieses Ziel aber niemals durch eine bloße Imitation des alltäglichen Redens erreicht
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werden, sondern nur durch dessen Zuspitzung. Im Anschluss an Brechts Betrachtungen über die gestische Sprache in der Literatur spricht Jirgl hier von einer ‘Formgebung von Sprach-Gesten’ (wgS 317). Auch in unserem Beispiel schafft das Beseitigen, Deplatzieren und Anhäufen von Interpunktionszeichen eine expressive Form, die das Verhalten des Sprechenden, sowohl im Sinne von Handeln als auch Haltung zeigen, sinnfällig macht: diese Rede gestaltet sich als eine nie zu Ende kommende, fast nie von Punkten unterbrochene Suada. Auch das Fehlen von Kommas in der ‘Arbeitslosen Assis Bummelanten [usw.]’-Enumeration drückt diese (Sprach)Wut aus und versinnbildlicht in seiner ‘Frontbildung’ die alles Andere oder Asoziale ausgrenzenden Praktiken der modernen Normalisierungsgesellschaft. Das allgemeine Interpunktionsprinzip Jirgls kann also folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden: ‘was physisch, im ErscheinungsSinnbild eines Satzes, zusammengehört, [soll] von einer sturen Grammatik nicht zerrissen werden’ (wgS 317), und natürlich auch umgekehrt, wie sich z.B. am ironisch wirkenden Setzen von ‘manchmal’ zwischen Kommas erweist. Zur Bewahrung der emotionalen Intensität der außertextuellen Wirklichkeit im Text trägt auch das eigenwillige Setzen von Frage- und Ausrufezeichen bei. Entgegen der konventionalisierten Positionierung von Frage- und Ausrufezeichen am Satzende, erscheinen sie in Jirgls Texten nicht nur – wie im Spanischen – am Satzbeginn, wo sie dann gewissermaßen als ‘Notenschlüssel’ (wgS 318) wirken, sondern auch innerhalb eines Satzes zur Akzentuierung einzelner Wörter oder Silben. Wie die sarkastische rhetorische Frage ‘!Was sollten wir bei Denen ?verhören’ illustriert, ermöglicht die Kombination beider Verfahren in ein und dem selben Satz Intonationsmodulierungen, die den pulsatorischen Stimm(ungs)schwankungen des Alltags gerecht werden. Die textuelle Mimesis zeigt sich auch in dem Einbrechen von mundartlichen Sprachkonstruktionen. Meistens wird der Dialekt zur Kennzeichnung einer autoritären, xenophoben ‘Masse’ benutzt (Jeschieht sonen Säuen doch janz!recht) und erscheint als ein rundum abgedichtetes System aus eingefahrenen Redewendungen und Normierungen. Zur gleichen Zeit aber hat die Integration von (verschriftlichter) Mundart in einen literarischen Text eine gewisse deterritorialisierende oder herrschaftsunterminierende Wirkung, indem diese befremdenden Buchstabenkombinationen
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‘die petrifizierten Sprachbunker der Hoch-Sprache’ (WiK 194) erschüttern. Dass auch der mimetische Impuls, ‘dem Volk aufs Maul zu schauen’ in eine hypermimetische Drift umkippen kann, geht vor allem aus dem so genannten Synchrontext Mamma Pappa Tsombi. Libretto für Stimmen u Vocoder hervor.48 Dieser hyperrealistischen Übersteigerung der Realität liegt ein ‘Exzess an Präzision, eine Art manischer Exaktheit der Sprache’ (Roland Barthes) zugrunde.49 Eine weitere wichtige Schriftstrategie in dem Beispiel, das wir hier in ausschweifenden Bewegungen umkreisen, ist die der Wortkombinatorik und zerlegung, in der bestehende Wörter(kombinationen) orthographisch manipuliert werden. Entgegen dem verstaatlichten, seine eigene Arbitrarität verdeckenden Rechtschreibungssystem erscheinen Wörter in Jirgls Texten in einer Physiognomie, die der Lust des Schrift-Stellers und dessen genealogischem Blick entsprechen. Es handelt sich hier im Sinne von Roland Barthes um eine ‘subtile Subversion’, die keine Destruktion, sondern vielmehr eine Dekonstruktion oder Entstellung beabsichtigt: ‘Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstellen statt sie zu zerstören?’50 In diesem Sinne erfährt die Sprache eine permanente Redistribution: kanonisierte Sprachpartikel werden gewissermaßen zweckenfremdet, d.h. ihrer orthodoxen Bedeutung entledigt, um in neuen Sinnzusammenhängen aufzutreten. Gerade diese Übergänge interessieren aber den Autor: ‘was er will, ist der Ort eines Verlusts, die Spalte, der Schnitt, die Deflation’.51 Im gleichen Sinne heißt es auch in Jirgls Baden-Dubel-Essay: der deutsche ‘Basis’-Text [wird] durchlaufend Veränderungen, Variationen unterzogen: Der Bedeutung nach einunddasselbe Wort, einundderselbe Satz erscheinen plötzlich anders, ‘weiter’, entwerfen und lösen neuerliche Sinngefüge aus. (WiK 195)
Wörter werden zu leeren Echoräumen, in denen konkurrierende Bedeutungen widerhallen. Jirgl selbst spricht hier von der Restitution einer ‘Freiheit im Wort’, in dem Sinne, dass die Anerkennung der materiellen Substanz des Wortes unendliche Signifikationsprozesse in Gang bringt: wie Hubert Konrad Frank ‘seziert er vom toten Leib der gesellschaftlichen Rede Hautschicht um Hautschicht des repressiven einen Sinns und bemächtigt sich des bloßliegenden Wortmaterials in seinem Sinn’ (WiK 196). In Formulierungen wie ‘Kol-leck-tiefs’ (GT 14), ‘Hoot-kot-Tür’ (GT 15) oder
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‘Schei-Dung’ (GT 16) tritt eine alternative, genealogische Etymologie hervor, die am Ursprung keinen einheitlichen Sinn findet, sondern das Hasardspiel oder ‘die Würfel’, wie Foucault es in einem Aufsatz zu J.-P. Bissets Studien über den Ursprung der Sprache formuliert: Der Urzustand ist für ihn [Bisset] vielmehr ein fließender, veränderlicher, unendlich durchdringbarer Sprachzustand, die Möglichkeit, sich darin in alle Richtungen zu bewegen, die Freiheit zu jeglicher Transformation, Umkehrung, Zerlegung, die Vervielfältigung des Bezeichnungsvermögens an jedem Punkt, in jeder Silbe oder jedem Laut.52
Auch in Jirgls Methodik des Verschriftlichung vervielfältigt sich die Sprache, wird sie in ihren materiellen Komponenten zerlegt, um unkontrollierbare Assoziationsmöglichkeiten freizusetzen. Was bei der Wort-Zerlegung zum Vorschein kommt, ist eine ‘emulgierte Sprache’, deren phonetische Bausteine von verdrängter körperlicher (d.h. sexueller, skatologischer, gewalttätiger usw.) Energie durchtränkt sind: sie ‘gräbt [...] die Silben in den Körper ein’.53 Eine Wortkombination wie ‘Wa(h)ren Sozialismus’ illustriert, wie Jirgls ‘Deformationen im Wort’ (WiK 194) Teil eines genealogischen Unternehmens sind, das die historischen Narben und Bruchstellen der Wörter abtastet. Das Einklammern des (h) bewirkt eine Entleerung der hochtrabenden humanistischen Vokabel ‘Wahren’ und dekonstruiert solcherweise die Epochenillusion vom ‘wahren Sozialismus’, an der die so genannten loyalkritischen Intellektuellen angesichts der sich überall abzeichenden Stagnation des ‘real existierenden Sozialismus’ festhielten. Die Transformation von ‘Wahren’ in ‘Waren’ erzeugt aber auch eine erschütternde assoziative Beziehung zwischen Kapitalismus und Sozialismus: letztere wird als eine von allem Anfang an ausverkaufte oder von ihrem Gegenteil kontaminierte Idee dargestellt. Darüber hinaus entspricht dies der (an den so genannten Literaturstreit erinnernden) Porträtierung der loyalkritischen Autoren als heuchlerische und querulantische OpportunistInnen, die sich als DissendentInnen ausgeben, sich im Grunde aber geschmeidig der offiziellen Parteidoktrin anpassen. Zu dieser sarkastischen Demaskierungsstrategie gehören z.B. auch der Bindestrich in der weich humanistischen Formel ‘Wertvollen-Seelen’, das Geschäftliches signalisierende Kaufmanns-Und in der Redewende ‘Zuckerbrot&peitsche’ (die auch den sadomasochistischen Motivstrang fortsetzt) und das Gleichheitszeichen in ‘an=uns gefesselt’, das
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die Ununterscheidbarkeit von diesen Intellektuellen und der Macht betont. Durch das Einmontieren der ‘Wahren-Sozialismus’-Parole führt der Text jedoch unausweichlich auch einen intertextuellen Dialog mit deren Begründer, Friedrich Engels. Zufällig oder nicht, aber in Texten, wie ‘Der Status quo in Deutschland’ und ‘Die wahren Sozialisten’ wird dieser Terminus als Schimpfwort für eine pseudo-kommunistische, heuchlerische ‘literarische[..] Clique’ verwendet, die selbst nicht weiß, wen sie repräsentiert, und deshalb wider Willen den deutschen Regierungen in die Arme taumelt, die ‘den Menschen zu realisieren’ glaubt und nichts realisiert als die Vergötterung des deutschen Bürgerjammers.54
Wie der Stasi-Funktionär, richtet also auch Engels seine Giftpfeile auf eine ‘spitzfindige’ Gesellschaft, die sich in Gewissensskrupel und eine deutschbiedermännische Sentimentalität hüllt. Die Tragweite von Engels’ Schlussfolgerung ‘Der wahre Sozialismus ist durch und durch reaktionär’ beschränkt sich im Kontext von Hundsnächte jedoch nicht auf dieses gesellschaftliche Segment.55 Leseübung 2: Das obszöne Gebet als Gefüge von Schrift Zum Schluss werden wir der Frage nachgehen, wie sich die oben besprochene Grammatextualität auf makrotextueller (und dies heißt auch inter- und metatextueller) Ebene gestaltet, und zwar anhand von dem in der Kritik weitgehend unbeachteten Werk Das obszöne Gebet. Dieses Totenbuch, wie es im Untertitel heißt, stellt das makabre Psycho-Protokoll eines lebenden Toten (oder umgekehrt) dar, der in Erwartung seines unausweichlichen aber auch heraufbeschwörten (Krebs-)Todes ein Erinnerungen und Phantasmagorien vermischendes Streitgespräch mit dem ‘CHOR DER VÄTERÄRZTE’ führt. Er glaubt, die Stimme seines Vaters (oder seiner Väter) aus dem Krebsgeschwür seiner sterbenden oder bereits gestorbenen Mutter zu vernehmen. Der hochkomplexen Verschachteltheit dieses Textes gerecht zu werden, würde eine tiefgehende Lektüre erfordern; im Rahmen dieses Aufsatzes müssen wir uns jedoch auf die Präsentation einiger allgemeiner, als Denkanstöße zu betrachtender Lesehypothesen beschränken,
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in denen die oben dargestellten Betrachtungen über Jirgls Sprachtheorie und seine Schriftbildlichkeitsstrategien gewissermaßen synthetisiert werden. Im essayistischen Vorwort zu Das obszöne Gebet mit dem vielsagenden Titel ‘Zur Erotik eines Text-Gebildes. Die Obszönität und das Ägyptische Totenbuch’ findet gewissermaßen ein ritueller Selbstmord des Autors statt, indem das nachfolgende Text-Gebilde als ein jeden Ursprung zerstörender Sprach-Raum dargestellt wird: Es gibt keine aus dem Text hinauslaufenden Wirkungslinien, die es wahrzunehmen, zu verfolgen, zu interpretieren und schließlich am Ufer einer anderen Wirklichkeit jenseits des Textes zu verankern gälte. Es gibt auch kein ‘Nachleuchten’ irgend-1er Wahrheit, die im Dunkel einer anderen Wirklichkeit außerhalb des Textes vielleicht Wegweiser sein könnte. (oG 9)
In einem spannungsvollen Dialog mit posthermeneutischen Theoremen wird hier die irreduzible Abwesenheit einer auktorialen Intention oder einer sinnverbürgenden Instanz inszeniert, die den Text zu einem ‘Feld ohne Ursprung’ macht, ‘oder jedenfalls ohne anderen Ursprung als die Sprache selbst, also dasjenige, was unaufhörlich jeden Ursprung in Frage stellt’.56 Tatsächlich funktioniert Jirgls Text als ein atopisches Schrift-Gebilde, das den hermeneutischen Drang zur Entzifferung oder zur Entschlüsselung eines Sinns oder einer Wahrheit dementiert. Die Frage drängt sich jedoch auf, ob diese Befreiung des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit gegenüber dem Logos, die sowohl von Barthes als auch Derrida als ‘Verwaisung’ oder Abwesenheit des Vaters figuriert wird, nicht im obszönen Gebet selbst durch die Inszenierung der autoritären Stimme des Väterchors rückgängig gemacht wird: Anweisungen Befehle Zahlen Texte aus Vater Geschwür ?Kann ich verstehen Weisen an !Vorwärts Befehlen !Weiter ?Wirklich Vorwärts ?Wirklich Weiter ?Od anderes ?Gütiges ?Beruhigendes ?Endlich Verständliches ?Kann ich verstehen Jeder Befehl befiehlt !Vorwärts Jede Anweisung weist an !Weiter ?Kann ich verstehen Ich werde gehorchen Wie ich gehorcht habe immer ohne Verstehen der Stimme Geschwür Gehorsam geschworen Vorwärts Weiter Zahlen od Flüche in Zahlen Die nächste [...]. (oG 21)
Auf den ersten Blick scheint es hier um eine so genannte logophonozentrische Figuration zu gehen, in der die Stimme als Ort der
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erfüllten und wahrhaften Präsenz des göttlichen Wortes erscheint. Es handelt sich jedoch um eine raunende, murmelnde Stimme, deren Gebote nicht immer schon begriffen oder verstanden wurden, sondern vielmehr in ihrer tautologischen Sinnlosigkeit erfahren werden: ‘Jeder Befehl befiehlt !Vorwärts Jede Anweisung weist an’. Dass diese Befehle tatsächlich Produkte eines performativen Spiels auf der Ebene des Signifikanten sind, suggeriert auch die nähere Umschreibung der Anweisungen, denen die Hauptfigur sich zu unterwerfen vorgibt, so z.B. in folgenden Zeilen: ‘Wohl denen Die ohne Tadel sterben / !Die wandeln in UNSEREN Gesetzen’ (oG 46). Es handelt sich hier nämlich um eine ‘Parasitierung’, ein verzerrendes Iterieren von Luthers 119. Psalm.57 Dieser Prozess bringt nicht nur eine ‘wesentliche Dehiszenz’ in die Befehle des Väterchors ein, sondern kontamiert darüber hinaus die Reinheit der heiligen Worte: beide werden in ihrer rhetorischen Materialität oder ihrer ‘graphematische[n] Struktur’ bloßgelegt.58 Natürlich enthält diese gegenseitige Kommentierung auch eine machtanalytische Komponente, aber, wie wir in einer weiteren Hypothese anmerken werden, situiert sich die Provokanz dieser Textstelle vor allem in der Ersetzung von ‘leben’ durch ‘sterben’. Ein weiteres Indiz für die Brüchigkeit der väterlichen, logozentrischen Macht ist die Tatsache, dass sie den toten Körper der Mutter als Resonanzraum ihrer Stimme braucht. Die Geräusche des leise wachsenden Schimmels auf der Bauchhaut der Mutter und das sie in Vibrationen versetzende Gemurmel der Väter (die Stimme des Über-Ichs) sind ununterscheidbar geworden. Im Krebsgeschwür erkennt der Sohn die Züge des Vaters. In diesem Sinne erscheint das Zwiegespräch zwischen dem Chor der (versagenden) Vaterärzte und dem Sohn als eine Lektüre von ‘Geflechten aus Schimmel’ (oG 17) oder wuchernden ‘Rhizomen’ (oG 17) oder, wenn man noch einen Schritt weitergeht, als ein Schreiben im Schimmel (oG 23) von Texten, die mit dem Schreiber selbst jedoch ununterscheidbar sind: ‘Ich bin Texte texte Ich’ (oG 23) oder ‘überall Schimmel überall Zeit der feine weiche Pelzbewuchs überall ich Die schimmelige Hieroglyphe Hieroglyphe des Schimmels Zeichen der Verwesung’ (oG 18). Die logozentrischen Grenzen zwischen ‘Schrift der Seele, Schrift des Körpers, Schrift des Innen und Schrift des Außen’ sind mit anderen Worten völlig verwischt:59 was übrig bleibt, ist eine körperliche Schrift. Wie auch Derrida in Bezug auf das in unserem Text äußerst wichtige Motiv des Hieroglyphischen anmerkt,
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verschwinden der – scheinbar selbstpräsente – Name und das Wort in einer ‘reinen Schrift’. Zufällig oder nicht verwendet Derrida für dieses permanente Vergleiten oder Differieren des Signifikaten die bekannte Krebsmetapher Dissemination. Gerade Dissemination war und ist aber die wichtigste Konsequenz von Jirgls Zitat aus dem Vorwort: auch wir werden nämlich als Leser auf die materielle Oberfläche des Jirglschen Textes zurückgeworfen und können ‘nur’ ihre rhizomatische Struktur abtasten, der extravaganten Bewegung des Signifikanten folgen: Die vielfältige Schrift kann nämlich nur entwirrt, nicht entziffert werden. Die Struktur kann zwar in all ihren Wiederholungen auf allen ihren Ebenen nachvollzogen werden [...], aber ohne Anfang und ohne Ende. Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden. Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen: Sie führt zu einer systematischen Befreiung vom Sinn.60
Tatsächlich funktioniert Das obszöne Gebet als ein polysemantisches, nicht-fixierbares Netzwerk ohne Zentrum, das die Schrift an die Fläche verweist und an die Grenzen der Lesbarkeit treibt. Das zur gleichen Zeit stakkatisch und suadisch anmutende Stoßgebet ist aus monolithischen, punktlosen Wortkonvoluten zusammengesetzt, die einander addieren, kommentieren, permutieren und repetieren. Beispiele von Wortfetzen, die die gesamte Textur auf traumatologische Weise durchziehen, sind ‘ich öffne die Augen In Träumen’ (z.B. oG 17, 19, 24, 28, 29, 35 usw.) oder ‘Der kleine Totenschädel zu Shakespeares Füßen’ (z.B. oG 28, 35, 37, 42, 44 usw.). Eine solche bewegliche Schriftlichkeit oder arabeske, ‘pulsierende Oberfläche’ verlangt jedoch ein anderes als das lineare Lektüremodell.61 Meiner Meinung nach nötigen Jirgls Texte (und insbesondere Das obszöne Gebet) zu einem räumlich-konstellativen Leseverfahren, wie es von Bettine Menke in ihrer Lektüre der (auch für Jirgl prägenden) Benjaminschen ‘Lehre vom Ähnlichen’ entwickelt wurde und hier kurz reproduziert wird. Die zentralen Kategorien eines solchen Lektüremodells sind ‘Ornament’, ‘Konstellation’ und ‘Gestöber’. Texte wie Das obszöne Gebet haben eine ornamentale oder arabeske Struktur, in dem Sinne, dass die Schrift in ihnen als eine zerstreute, nicht-lineare Organisiertheit erscheint, die ‘nicht abbildet, nichts repräsentiert – als sich selbst’.62 Angesichts dieses Gekritzels heißt Lesen das Wahrnehmen oder besser Erstellen einer ‘Konstellation’, einer schriftbildlichen
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‘Organisation (in) der Fläche’.63 Weil dieses Lesbar-Machen jedoch immer an einen ‘Augenblick’ gebunden ist, fixiert es nicht nur, sondern schließt es auch aus, ist es somit nicht nur konstruktives Lesen, sondern auch ein destruktives ‘Herauslesen’. Die jeweils hergestellte Lesbarkeit wird bestimmt durch unzählbare, nur für einen blitzhaften Moment suspendierte Unlesbarkeiten; diese ständige Gefahr einer interpretatorischen Kippbewegung macht das Ornament zu einem nicht endgültig fixierbaren ‘Vexierbild’: Vexierend instabil ist das Ornament, insofern an jeder seiner (jeweiligen) Sichtbarkeiten deren Möglichkeit eines Um-Kippens des ‘Bildes’ in die jeweils nicht realisierten, ausgeschlossenen Un-Lesbarkeiten sich ankündigt.64
In diesem Sinne bedeutet, einen Text ‘physiognomisch’ zu lesen, sich dem ‘Rhythmus’ der Verschiebungen zu überlassen, sich in einen textuellen Raum von nicht fixierbaren Bewegungen, Oszillationen und Widersprüchlichkeiten zu begeben.65 Ein von mir aus dem obszönen Gebet herausgelesenes, metareflexives Vexierbild für diese Vexierbildhaftigkeit des literarischen Textes ist das des ‘Gordischen Knotens’, das die Hauptfigur verwendet, um die alles überwucherende ‘Bastionen des Schimmels’ zu evozieren: ‘Der Gordische Knoten & Die Fäulnis Und nirgends 1 Schwert Und nirgends 1 Alexander’ (oG 18). Ausgehend von der analogischen Beziehung zwischen Schrift und (Schimmel-)Gewebe verdichtet dieser ‘Satz’ die Wirkung des Jirglschen Textes: eine von keiner hermeneutischen Gewalt lösbare Unentscheidbarkeit. Die metapoetische Metaphorik des Gewebes schließt aber noch eine andere schriftbildliche Dimension des Jirglschen Textes auf, nämlich seine komplexe Para- und Intertextualität, die die Zersetzung einer geschlossenen Gestalt und einer einheitlichen Bedeutung bewirkt. Roland Barthes’ folgende ‘hyphologische’ Hypothese trifft also auch auf Das obszöne Gebet – und allgemeiner auf die gesamte Jirglsche Textur – zu: [Der Text] besteht aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe aus Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.66
Auch in Jirgls polyphonem Text werden die heterogensten (geschichts)philosophischen, (natur)wissenschaftlichen und literarischen
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Intertexte und -Diskurse ‘verwendet’ oder zitiert, d.h. ‘isoliert und versetzt/ eingesetzt in einen anderen Text-Raum’.67 Wie die Raum-Metaphorik nahelegt, handelt es sich auch bei Intertextualität um ein die Linearität durchbrechendes Schriftbildlichkeitsverfahren; Zitate fungieren gewissermaßen als Schalt- und Schnittstellen, die über den Rahmen des Textes hinausweisen und diagrammatisch auf andere Text-Räume hinweisen. Wie die Interaktion zwischen beiden Text-Räumen eine Form der doppelten Destruktion annimmt, hat Bettine Menke in ihrem grundlegenden Aufsatz über ‘Benjamins Gedächtnis der Texte’ ausführlich dargelegt: einerseits wird das verwendete Wort ‘heraus-gelesen’, d.h. aus seinem signifikatorischen Zusammenhang gerissen, andererseits wird es ‘hinein-zitiert’, d.h. es verhakt sich als eine Art Fremdkörper in dem neuen Textraum, der damit auch neu konfiguriert wird. Der Einbruch eines anachronistischen, hermetischen Fremdkörpers zersetzt das Selbst-Identische und löst ein vexierendes Zusammenspiel von Identität und Differenz aus; es entstehen, um es in den Worten Nikolaus Müller-Schölls zu sagen, ‘Verweis-Ketten ohne Ende’.68 Das Diachrone wird auf teleskopische Weise in eine synchrone, spannungsgesättigte Konstellation projiziert und diese Verschränkung von Zeiten zerstört die Ordnung der Kontinuität. Was dabei entsteht, ist eine anagrammatische Gedächtnis-Textur, gekennzeichnet durch [e]ine nicht-lineare diskontinuierliche textuelle Zeit-Räumlichkeit, einen in sich zerspaltenen und zerstreuten Raum der Beziehungen, der Differenzen, der aufzückenden und verlöschenden Aktualitäten: ein ‘Gitterwerk’ (Derrida) von Differenz und Beziehung, eine Textur von Aktualitäten und Berührungen, aus ‘Zeitraffern’ und ‘Verjüngungen’, von An- und Abwesenheit.69
Durch das Wechselspiel von De- und Re-Kontextualisierung wird die Bedeutung des Zitats aber nicht nur re-konstituiert, sondern auch re-iteriert, was (wie wir schon bei Jirgls Re-Iteration des Lutherschen Psalms sahen) immer schon eine Kontamination enthält. In diesem Sinne sind Jirgls Paratexte immer auch ‘Parodie- und Parasitärtext[e]’.70 Verwenden heißt in diesem Zusammenhang immer auch Zu-(einem niemals erreichbaren)EndeDenken, d.h. eine Position in ihren unhaltbaren, aporetischen Voraussetzungen und Konsequenzen herausstellen. Ein Beispiel, wo dieses ‘Verwenden’ oder ‘Produktivmachen des Heterogenen’, wie Jirgl sein Montageverfahren im Interview in diesem Band
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erläutert, deutlich hervortritt, ist einer der Träume der Hauptfigur von einem alleszerstörenden Attentat. So phantasiert er, wie er den so genannten fäkalen, d.h. steril-totalitären Gesellschaftszustand subvertiert, indem er ihn gewissermaßen auf die Spitze treibt. Dazu füllt er Marmeladengläser mit seiner eigenen Scheiße und versendet sie an alle (kultur)politischen Institutionen – ‘die Kloaken=der=verwalteten=Welt’ (oG 61) – und löst dadurch einen weltweiten tödlichen Virus aus. Unter der Einwirkung dieses allgegenwärtigen ‘VIRUS[SES] IM ABENDLAND’ (oG 72) gerät die Gesellschaft aus den Fugen, bricht jede Ordnung zusammen und die Erde verwandelt sich zu ‘einem Einzigen riesigen Schlacht-&Gräberfeld’ (oG 63). Die Evaporation aller Konventionen und Bindungen reduziert die Menschen auf ‘Menschentiere Tiermenschen’ (oG 101), ‘blödsinnige[..] Freß- & Tötungsmaschinen Deren 1zige Motorik Gewalt’ (oG 99) ist. In der ‘große[n] Fäkropole Berlin’ (oG 69) herrscht ein grausamer und terroristischer Bürgerkrieg aller gegen alle, in dem sich jedoch schnell zwei Fronten herausbilden: der Westen und der Osten, konkreter: ‘Der Westteil Der Islamische Sektor / Der Ostteil das Restdeutschland’ (oG 78). Um der Falle einer vorschnellen Politisierung oder Ideologisierung von Jirgls Text entgehen zu können, sollten wir auf das mediale Arrangement des Textes, dessen Inszenierung und Re-Inszenierung von Meinungen und Diskursen achten. Diese ‘VIRUS’-Phantasie variiert auf subtile Weise Antonin Artauds Essay ‘Das Theater und die Pest’, in dem die Pest ebenfalls als Katalysator des Triumphs der so genannten schwarzen Mächte, eines Herausbrechens der latenten Grausamkeit in Mensch und Gesellschaft auftritt. Die Untergangsvision einer Sandwerdung Europas rückt jedoch ebenfalls das bis jetzt metapoetisch interpretierte Motiv des ‘Gordischen Knotens’ in ein neues Licht. Der ‘Gordische Knoten’ ist nämlich ebenfalls die zentrale Denkfigur von Ernst Jüngers gleichnamigem Essay, in dem er als ‘Sinnbild aller großen Begegnungen zwischen Europa und Asien’, zwischen West und Ost, zwischen Freiheit und Despotie fungiert.71 Diese Dichotomie wird aber auch in den Menschen selbst verlegt, der solchermaßen vom unaufhörlichen Kampf zwischen zwei phylogenetischen Prinzipien, von einem ‘Nebeneinander des Unvereinbaren’ zerrissen wird.72 In dieser Konstellation bedeutet der Schwertstreich des Alexander den (stets nur vorläufigen) geistigen Triumph des Menschen über seine Tiefe. Die virtuelle Ausgangshypothese des Jirglschen Textes ist jedoch das Fehlen des
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Schwertes, die Abwesenheit des erlösenden Aufklärers bzw. Usurpators; die ‘stahlharte’ (oG 19), apokalyptische Vision könnte somit als ein literarisches Weiterspinnen des Jüngerschen Satzes: ‘Wo das Schwert der Themis rostet, werden die Schlachtmesser blank’ betrachtet werden.73 In beiden Texten lebt, wenn die Ordnung als solche auf dem Spiel steht, das ‘kainitische Gesetz’ wieder auf; die Weltstädte werden permanent von einem Umschlag der Hochzivilisation in Barbarei bedroht. Dargestellt wird eine Spirale von sich selbst anfeuernder, sinnloser Gewalt, die nur in einem apokalyptischen Weltbürgerkrieg münden kann, der ‘weniger zu den Kriegen als zu den Naturkatastrophen wie die Seuchen und Sintfluten’ gerechnet werden soll.74 Entgegen der wohlfeilen Bekenntnisse der Friedfertigkeit im (Post-)Wendeklima legt die (Re-)Inszenierung von Jüngerschen Theoremen tieferliegende Konstellationen bloß, die in jede Gegenwart bedrohend hineinragen. Literatur erschient hier als ein Medium, das uns in unsere eigenen Abgründe blicken lässt, oder wie Anselm Haverkamp es formuliert, uns ‘dazu bringt, zu erkennen und einzugestehen, was wir gar nicht umhinkommen zu wissen, aber uns nicht einzugestehen wagen’.75 Das obszöne Gebet steuert jedoch auch auf den ultimen Abgrund hin, die Ziffer ‘0’ oder den Tod. Wie wir bereits in der Er- oder Zersetzung von ‘leben’ durch ‘sterben’ im intertextuellen Spiel mit Luthers 119. Psalm ahnen konnten, situiert sich die Obszönität von Jirgls Text in einer Pervertierung des traditionellen Gebets. Jirgl selbst spricht in seinem Vorwort von einer zweifachen ‘ZERSTÖRUNG’ (oG 8). Einerseits erfährt die Funktion des Zeremoniells eine radikale Umkehrung: das Gebet funktioniert nicht länger als ‘eine universelle Arznei’, wie Novalis es einmal nannte, oder eine Bitte um eine ganzheitliche Änderung zum Guten, sondern ganz im Gegenteil als ‘eine unzählig oft wiederholte Bitte um das bereits Eingetretene: das Sterben, die Verwesung’ (oG 9), oder wie es im Text heißt: ‘Obszönes Gebet um Alles was ich hab werden können um Alles was ich schon immer war Auswurf einer Fotze für die Hunde’ (oG 128). Andererseits wird das Gebet durch diese ausgehöhlte Funktionalität und den radikalen Wirkungsverlust zu einem tautologischen, buchstäblich Nichts transportierenden Text-Gebilde, was den Blick für ‘die Wort-Organe, Hautpartien, erogenen Zonen des Gebet-Sprech-Körpers’ (oG 9) freisetzt. Die Abwesenheit eines Signifikats wird darüber hinaus noch komplementiert durch eine radikale Abwesenheit des Kontextes oder des semantischen Horizontes, da der Basistext, auf dem
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Jirgls Protokoll basiert, das Ägyptische Totenbuch, das Produkt einer gestorbenen Religion ist. In einer auch im Text omnipräsenten Metaphorik des Infiziösen und der Dissemination bringt Jirgl die (selbst)zerstörerische Wirkung dieser (intertextuellen) ‘Aufpropfung’ (Derrida) auf den Punkt: Der Text ist eine Zerstörung des Textes=selbst. Die Sprache darin wird zum Komplicen des Todes: Das Ägyptische Totenbuch, die Folie zum Text, als der aus einer toten Religion injizierte Virus in den Körper der Literatur dieser Gegenwart, so daß der Text seinen eigenen Zerfall, sein Sterben, feiert. Der Text wird somit zur ritualisierten Praxis seiner Selbstzerstörung. (oG 10)
Der den ägyptischen Lebensgeistern gewidmete Text enthüllt sich als der Reise-Bericht eines Toten auf dem Wege zum Westen, dem Totenland. Die oben dargestellte arabeske Schriftbildlichkeit wird dabei von einem unwiderruflichen ‘Countdown’ (oG 13) durchkreuzt, der von sechsstelligen Zahlen bis zu ‘jener Zahl die 1 Zahl zu sein Noch nicht lange (in Zahl-Zeiten gesehn) die Ehre hat’ (oG 167), führt. Im unmittelbaren Bevorstehen des Todes entwickelt sich eine thanatographische Sprachwut, ein rhapsodisches Verlangen, alles zu sagen oder zu bewahren: ‘!Alles Sagbare sagen müssen Alles u kein Trost Und irgendwann Alles gesagt alle Wörter alle u Kein Kredit mehr !Pleite u fertig’ (oG 52). Die Grenze des Todes stellt das Sein der Sprache in Frage, führt sie bis zur Selbsterschöpfung. Hier zeichnet sich der von Michel Foucault erläuterte Raum einer Zusammengehörigkeit von Sprache und Tod ab. In Übereinstimmung mit Jirgls Erklärung von Obszönität und Tautologie könnte man mit Foucault von ‘einer sich selbst überlassenen Sprache’ sprechen, die dazu verurteilt ist, unendlich zu sein, weil sie sich nicht mehr auf das Sprechen des Unendlichen stützen kann. [...] Eine Sprache, die kein Sprechen, keine Verheißung wiederholt, sondern endlos vor dem Tod zurückweicht und dabei unaufhörlich einen Raum eröffnet, in dem sie stets Analogon ihrer selbst ist.76
Hier treten drei wichtige Komponenten von Foucaults ‘Ontologie der Literatur’ hervor,77 die auch von äußerster Wichtigkeit für Das obszöne Gebet sind. In diesem Text wird nämlich ein Sprechen, das zur gleichen Zeit dem Tod benachbart und doch gegen ihn gerichtet ist, inszeniert: ‘Wozu Schreiben aber Ich weiß das noch weniger Wenn Schreiben nichts als
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Tautologie zum Leben’ (oG 28). Die Erfahrung der Grenze oder der Leere setzt ein endloses ‘Gemurmel’ frei, ‘das sich wiederholt und sich selbst erzählt und sich endlos verdoppelt in einer phantastischen Vervielfältigung und Verdichtung’.78 Das sprechende ‘Ich’ tritt in einen murmelnden Spiegelraum ein, wo es sich auflöst und sich in einander überlagernde Stimmen zerstreut: ‘Sprechend raunend murmelnd Stimmen ?Wer spricht ?Wer schreibt ?Wer denkt ?In welcher Reihenfolge ?Wer ?Der Schimmel ?Das endlose endlose Flüstern Raunen Murmeln der Bakterien ?’ (oG 166). In der Leerstelle des sprechenden Subjekts zirkuliert ‘nur formloses Rauschen und Rieseln’.79 Ein solches deliriöses, gegen die Grenze der Erfahrung anrennendes Schreiben, in dem eine permanente Destrukturierung des ‘Ichs’ stattfindet, könnte mit Simon Harel als ‘eine Schrift [écriture] der Psychose’ umschrieben werden.80 In diesem Grenzbereich der Psychose, in den das sprechende Subjekt durch die Abwesenheit des Gottes-Vaters und die Sehnsucht nach einer Einheit mit dem Mutterkörper geworfen wird, findet eine Kaskade von signifikatorischen Umbesetzungen und Zerrüttungen statt. Diese glossolalische oder desemantisierende Tendenz des Psychotischen schafft jedoch die Möglichkeit, die so genannten semiotischen Bedürfnisse und Triebe, also die Körperlichkeit des Subjekts in die Sprache einzubringen: ‘eine Schreibpraxis, die, den Sinn bis zum Sinnlichen und Triebhaften entfaltend, den Nicht-Sinn erreicht und dessen Pulsschlag in eine Ordnung, die nicht mehr “symbolisch”, sondern “semiotisch” ist, bringt’.81 In diesem Sinne versucht auch Jirgls Prosa, sprachliche Strukturen und Reglementierungen aufzusprengen, um die anarchische, erotische Dimension des Sprachmaterials freizusetzen. Der Versuch, den Körper in den Text einzuschreiben, resultiert in einer Textur, die nicht sosehr Repräsentation ist, sondern vielmehr ‘der Einbruch einer triebhaften Abstützung, einer vielförmigen und erogenen Infrasprache’.82 Indem solch ein erogenisierter Text-Körper die ideographischen und hieroglypischen Potentiale der Schrift wiedererweckt, eröffnet er auch einen nicht-linearen, multidimensionalen Lese- und Denkraum. In einigen metaliterarischen Hasstiraden wird eine solche Schreibpraxis, die vom Pathos einer Befreiung des Körpers ausgeht, als eine riskante Verausgabung, eine ansteckende tödliche Krankheit inszeniert. Das Verlangen nach einer Subversion der Grausamkeit, das in einem intensiven
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intertextuellen Dialog mit Antonin Artaud entfaltet wird, manifestiert sich zunächst in dem Traum eines Attentats auf die verknöcherte Kultur des ‘Parnaß’ oder der Meisterwerke, die in ihrer bürgerlichen Konformität zu Komplizen der Macht geworden sind: ‘!Die Klassik der Tod !Der Tod die Klassik’ (oG 30). Die sprachlich-stilistische Stereotypie und die Interessenvermischung zwischen Politik und Literatur haben ‘Die Potenz der Sprache Die Lust an Wörtern kastrier[t]’ (oG 32): Und Sprache längst gestorben Gebiert Intrigen Kompromisse & Komplotte Miß Geburten aus der dummen Mutterfotze Politik [...] Die ungeschriebenen man weiß Die besten Winde aus dem Arsch des Pegasus Ein Mief & schweißdurchtränkt die Wäsche Gerüche Schleim vom Arschfick mit der Macht [...]. (oG 36)
Um diesen Zustand einer total(itär)en Sterilität oder ‘Fäkalität’ zu durchbrechen, sollten infektiöse ‘Texte der Subversion’ (oG 33) in den Parnass eingeschleust werden. Diese Subversion besteht jedoch nicht aus einem nur scheinbar subversiven ‘Anti’, das stets vom Staat integriert werden kann, sondern aus einer homäopathischen Strategie: ‘Die schärfste Waffe ist aus jenem Stoff Aus dem der Anderen Waffen sind similia similibus curantur’ (oG 33). Eine die ‘Litterattour in Scheiße’ (oG 35) verwandelnde Poetik treibt der Zustand der Fäkalität derart auf die Spitze, dass jede Kreativität in endloser Wiederholung und Simulation erstickt, so dass die totalitäre Maschine nur in tautologischer Selbstdestruktion münden kann: ‘Fressen Scheiße Scheiße Fressen Und bleibt ein öder Untergang’ (oG 40). Wir sind hier Zeuge einer eskalierenden Repetition, die jedoch die Möglichkeit des Neuen, der Lust neu eröffnet, denn, wie Roland Barthes in Le Plaisir du Texte aufmerkt: ‘Wiederholen bis zum Exzess ist Eintreten in den Verlust, in den Nullpunkt der Bedeutung’.83 Die Aushöhlung der stereotypisierten Sprache von innen her legt die Materialität der Sprache frei und ermöglicht solcherweise neue Möglichkeiten kreativer Vitalität. Eine ähnliche Dynamik treffen wir in den ‘grausamen’, metaliterarischen ‘Aufzeichnungen eines Maschinisten (geschrieben mit infektiöser Tinte)’ (oG 115) an, in denen vom Leerlauf oder der Selbstdestruktion des ‘VOLK’S THEATER[S] DER FÄKALITÄT’ (oG 98) berichtet wird. In essayistisch anmutenden Ausführungen, in denen mitunter fast wörtliche Entsprechungen mit Artauds Texten sichtbar werden, wird eine ‘fäkale’, d.h. eine sich selbst wiederholende, sterile Theaterkultur der Repräsentation evoziert. Es handelt
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sich um ein politisch gesättigtes Theater ‘Ohne Spaltungen’ (oG 118), in dessen Simulationsräumen Körperlichkeit, Gewalt und Konfliktualität systematisch ausgegrenzt (oder kastriert) werden: ‘Das Theater der Fäkalität, das Theater / Des obsolenten, fäkalen Dämons, ist das totalisierte Verdikt / Gegen das ERSCHEINEN DES MENSCHLICHEN KÖRPERS’ (oG 126). In Jirgls virtueller Gedankenkonstruktion kippt jedoch die ständige, tautologische Reduplikation des Nichts in eine Selbstzerstörung um, die als kannibalistischer Aufstand im Theater vorgeführt wird. Gerade dieser Einbruch der Gewalt, diese temporäre Störung aller Ordnungen lässt aber den menschlichen Körper wiedererscheinen und eröffnet solcherweise die Möglichkeit eines performativen, vitalen Theaters oder – allgemeiner – einer Literatur der Grausamkeit, die ‘nicht mehr den Gesetzen der Repräsentation, Einfühlung und Verstellung unterworfen wäre, sondern eine vitale Funktion hätte, einen konkreten, nicht mehr bloß abbildenden Bezug zum Leben’.84 Die Durchkreuzung der Gesetze der symbolischen Repräsentation wirft uns auf den ‘KÖRPER[..] der Sprache’ (oG 125) zurück, dessen endlicher, rhythmischer Bewegung wir zu folgen genötigt sind. Anmerkungen 1
Hubert Konrad Frank, Baden-Dubel. Simplicius neu, Aufbau-Verlag: Berlin und Weimar, 1992, S. 165. 2
Frank, Baden-Dubel, S. 166.
3
Reinhard Jirgl, ‘Wut im Kopf oder das heiße Eisen Mensch. Notate zum Roman Baden-Dubel von Hubert Konrad Frank,’ Die Horen, 48 (2003), 212, S. 189-199 (hier: S. 189). Im Folgenden unter der Sigle WiK zitiert.
4
Horst Samson, ‘Befremdliche Syntax und “plebejische Phonetik”,’ Frankfurter Neue Presse, 26. April 2005.
5
Volker Hage, Propheten im eigenen Land: Auf der Suche nach der deutschen Literatur, dtv: München, 1999, S. 147-148. 6
Hage, Propheten im eigenen Land, S. 148.
7
Samson, ‘Befremdliche Syntax und “plebejische Phonetik”’.
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8
Clemens Kammler, ‘Literarisierte Erinnerung: Reinhard Jirgls Familienroman Die Unvollendeten,’ Deutschunterricht (2005), 4, S. 18-23; Clemens Kammler, ‘Literarisches Lernen in der Erinnerungskultur,’ Essener Unikate (2005), 26, S. 94-103; Timm Menke, ‘Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten – Tabubruch oder späte Erinnerung?’, Glossen, 20 (1994). Unter: www.dickinson.edu/glossen/heft20 /menke.html 9
Anselm Haverkamp, Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg, Kadmos Verlag: Berlin, 2004, S. 50. 10
‘Das “Anrennen gegen die Grenzen der Sprache” – Methoden des Schreibens und Strategien des Lesens. Treffen in Paris, 18. Februar 1965. Eine Diskussion mit Roland Barthes, André Breton, Gilles Deleuze und Raymond Federman’. Unter: http://lichtensteiger.de/Methoden%20des%20Schreibens.pdf.
11
Haverkamp, Latenzzeit, S. 123.
12
Roland Barthes, Le Plaisir du Texte, Éditions du seuil: Paris, 1973, S. 23 [Übersetzung A.D.W.].
13
‘Das “Anrennen gegen die Grenzen der Sprache”’.
14
Vgl. Carl Pietzcker, ‘“Mein Herzschlag der Rhythmus eines Fremden in einem Fremden, der wie ich sagen hörte, nicht sterben kann.” Fremdheitserfahrung in und mit Reinhard Jirgls Hundsnächte,’ in: Ortrud Gutjahr, Hg., Fremde, Königshausen und Neumann: Würzburg, 2002, S. 199-218 (hier: S. 216).
15
Reinhard Jirgl, ‘Die wilde und die gezähmte Schrift: Eine Arbeitsübersicht,’ Sprache im technischen Zeitalter, 42 (2004), 171, S. 296-320. Im Folgenden unter der Sigle wgS zitiert. 16
Sabine Lammers, Die De-Chiffrierung der Schrift oder die transzendentale Obdachlosigkeit des Weiblichen im System der Zeichen, Dissertation, Universität Hamburg, 1999, S. 69. 17
Walter Benjamin, ‘Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen,’ in: ders., Gesammelte Schriften, Band II.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1977, S. 140-157 (hier: S. 153).
18
Nikolaus Müller-Schöll, Das Theater des konstruktiven Defaitismus: Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller, Strömfeld: Basel, 2002, S. 79.
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19
Michel Foucault, ‘Nietzsche, die Genealogie, die Historie,’ in: ders., Von der Subversion des Wissens, Ullstein: Frankfurt a. M., 1978, S. 72.
20
Foucault, ‘Nietzsche, die Geneaologie, die Historie,’ S. 90.
21
Müller-Schöll, Das Theater des konstruktiven Defaitismus, S. 210.
22
Foucault, ‘Nietzsche, die Genealogie, die Historie,’ S. 99.
23
Foucault, ‘Nietzsche, die Genealogie, die Historie,’ S. 88.
24
Vilém Flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, European Photography: Göttingen, 2002, S. 15.
25
Auch im ‘Nachwort’ der Genealogie des Tötens betont er, dass ‘allein in der Wahl seiner Schreibweise sowie in der Textkonstruktion [...] der Autor sein Engagement und seine Souveränität [erweist]’ (GT 833). 26
Benjamin, ‘Über Sprache überhaupt,’ S. 143. Vgl. wgS 310.
27
Müller-Schöll, Das Theater des konstruktiven Defaitismus, S. 97.
28
Walter Benjamin, ‘Lehre vom Ähnlichen,’ in: ders., Gesammelte Schriften, Band II.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp: Frankfurt, 1977, S. 204-210 (hier: S. 208). 29
Derrick de Kerckhove, Schriftgeburten: Vom Alphabet zu Computer, Fink: München, 1995, S. 29.
30
Flusser, Die Schrift, S. 34. Vgl. wgS 304.
31
Jean-Gérard Lapacherie, ‘De la grammatextualité,’ Poetique, 59 (1984), 15, S. 283-294 (hier: S. 286). [Übersetzung A.D.W.] 32
Ina Schabert, ‘Das Doppelleben der Menschenbuchstaben,’ in: Susi Kotzinger und Gabriele Rippl, Hg., Zeichen zwischen Klartext und Arabeske: Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs “Theorie der Literatur”, veranstaltet im Oktober 1992, Rodopi: Amsterdam, 1994, S. 95-106 (hier: S. 96).
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33
Roland Barthes, ‘Erté oder An den Buchstaben,’ in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1990, S. 110-135.
34
Vgl. Tanja Van Hoorn, ‘Erinnerungs-Poetiken der Gegenwart: Christoph Ransmayr, Reinhard Jirgl, W.G. Sebald,’ Der Deutschunterricht, 57 (2005), 6, S. 54-62.
35
Flusser, Die Schrift, S. 29. Vgl. wgS 307. Siehe auch Vilém Flusser, Krise der Linearität, Benteli Verlag: Bern, 1988.
36
Flusser spricht hier in ähnlichem Sinne von einem ‘Zurück zur Imagination’ und einem ‘[V]orwärts ins Kalkulieren’. Flusser, Die Schrift, S. 154.
37
Sigrid Weigel, ‘Die “innere Spannung im alphanumerischen Code”: Buchstabe und Zahl in grammatologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive,’ in: Bernhard J. Dotzler und Sigrid Weigel, Hg., fülle der combination: Literaturforschung & Wissenschaftsgeschichte, Wilhelm Fink Verlag: München, 2005, S. 357-380 (hier: S. 380). 38
Hartmut Böhme, ‘Gewalt im 20. Jahrhundert: Demozide in der Sicht von Erinnerungsliteratur, Statistik und qualitativer Sozialanalyse,’ figurationen 0 (1999), S. 139–157.
39
Bertolt Brecht, zit. nach Müller-Schöll, Das Theater des konstruktiven Defaitismus, S. 317.
40
Roland Barthes, Sade Fourier Loyola, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1974, S. 128.
41
Vgl. Jean-Gérard Lapacherie, ‘Typographic Characters: Tension between Text and Drawing,’ Yale French Studies, 84 (1994), S. 63-77 (hier: S. 65).
42
Iris Radisch, ‘Zwei getrennte Literaturgebiete: Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West,’ in: Heinz Ludwig Arnold, Hg., DDR-Literatur der neunziger Jahre (text+kritik. Sonderband 9), Boorberg: München, 2000, S. 13-26 (hier: S. 13).
43
Lapacherie, ‘De la grammatextualité,’ S. 287.
44
Lapacherie, ‘Typographic Characters,’ S. 291.
45
Lapacherie, ‘Typographic Characters,’ S. 68.
46
Lapacherie, ‘Typographic Characters,’ S. 70.
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47
Schon beim Versuch, diesen ‘Satz’ abzutippen, wird man mit der Tatsache konfrontiert, dass es sich um ein einzigartiges, unkopierbares graphisches Gebilde handelt. Unvermeidlich schlüpfen (Übersetzungs-)Fehler hinein: man deformiert den Satzspiegel, man macht Zählfehler, die ‘I’-Majuskeln gruppieren sich wie römische Zahlen automatisch zu zweit oder zu dritt, und vor allem der Zwischenraum, der im Original zwischen der ersten ‘R’-Serie und der zweiten ‘K’-Serie besteht, kann nicht übernommen werden, weil sonst die ‘K’-Serie automatisch auf eine neue Zeile springt.
48
Auch Helmut Böttiger weist in einer Rezension auf diese Tendenz zum Hyperrealistischen hin. Helmut Böttiger, ‘Trümmerliteratur,’ Die Zeit, 47/2002. 49
Barthes, Le Plaisir du Texte, S.44 [Übersetzung A.D.W.].
50
Barthes, Sade Fourier Loyola, S. 141. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Roland Barthes’ Plädoyer für eine ‘freie’ Orthographie, die eine körperliche, phantasmagorische Praxis des schreibenden Subjekts wäre. Roland Barthes, ‘Gewähren wir die Freiheit des Schriftzugs,’ in: ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2005, S. 52-54. 51
Barthes, Le Plaisir du Texte, S. 15 [Übersetzung A.D.W.].
52
Michel Foucault, ‘Sieben Thesen über den siebten Engel,’ in: ders., Schriften zur Literatur, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2003, S. 271-285 (hier: S. 272).
53
Foucault, ‘Sieben Thesen über den siebten Engel,’ S. 273, 281.
54
Friedrich Engels, ‘Der Status quo in Deutschland,’ in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 4, Dietz Verlag: Berlin, 1972, S. 40-57 (hier: S. 42). Vgl. Friedrich Engels, ‘Die wahren Sozialisten,’ in: Marx und Engels, Werke, Band 4, S. 248-290. 55
Engels, ‘Der Status quo in Deutschland,’ S. 42.
56
Roland Barthes, ‘Der Tod des Autors,’ in: Fotis Jannidis, Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam, 2000, S. 185-193 (hier: S. 190).
57
Jacques Derrida, ‘Signatur Ereignis Kontext,’ in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart: Reclam, 2004, S. 68-109 (hier: S. 97). 58
Derrida, ‘Signatur Ereignis Kontext,’ S. 100, 101.
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59
Jacques Derrida, ‘Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift,’ in: ders., Die différance, S. 31-67 (hier: S. 50).
60
Barthes, ‘Der Tod des Autors,’ S. 191.
61
Bettine Menke, ‘Ornament, Konstellation, Gestöber,’ in: Susi Kotzinger und Gabriele Rippl, Hg., Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, S. 307-326 (hier: S. 326).
62
Menke, ‘Ornament, Konstellation, Gestöber,’ S. 311.
63
Menke, ‘Ornament, Konstellation, Gestöber,’ S. 323. Dass Jirgls Texte tatsächlich durch eine räumlich-konstellative Organisation der Schrift gekennzeichnet werden, bestätigt das so genannte Linkverfahren in ABTRÜNNIG, das erfahrungs- und bedeutungsgenerierende Kreuz- und Querverbindungen herstellt, die, um es in Jirgls Benjamin zitierenden Worten zu sagen, die ‘verpanzerte Wahrnehmung’ aufbrechen.
64
Menke, ‘Ornament, Konstellation, Gestöber,’ S. 321.
65
Menke, ‘Ornament, Konstellation, Gestöber,’ S. 323.
66
Barthes, ‘Der Tod des Autors,’ S. 190.
67
Bettine Menke, ‘Das Nach-Leben im Zitat: Benjamins Gedächtnis der Texte,’ in: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, Hg., Gedächtniskunst: Bild – Raum – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1991, S. 74-110 (hier: S. 88).
68
Müller-Schöll, Das Theater des konstruktiven Defaitismus, S. 561.
69
Menke, ‘Das Nach-Leben im Zitat,’ S. 100.
70
Müller-Schöll, Das Theater des konstruktiven Defaitismus, S. 507.
71
Ernst Jünger, ‘Der Gordische Knoten,’ in: ders., Werke, Band 5, Klett: Stuttgart, 1960, S. 389-494 (hier: S. 394).
72
Jünger, ‘Der Gordische Knoten,’ S. 433.
73
Jünger, ‘Der Gordische Knoten,’ S. 433.
74
Jünger, ‘Der Gordische Knoten,’ S. 468-469.
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Haverkamp, Latenzzeit, S. 133.
76
Michel Foucault, ‘Die Sprache, unendlich,’ in: ders., Schriften zur Literatur, S. 86-99 (hier: S. 98-99). 77
Foucault, ‘Die Sprache, unendlich,’ S. 89.
78
Foucault, ‘Die Sprache, unendlich,’ S. 88.
79
Michel Foucault, ‘Das Denken des Außen,’ in: ders., Schriften zur Literatur, S. 208233 (hier: S. 231). 80
Simon Harel, Vies et morts d’Antonin Artaud: Le séjour à Rodez, Les Éditions du Préambule: Longueuil, 1990, S. 7. [Übersetzung A.D.W.] 81
Julia Kristeva, ‘Artaud entre psychose et révolte,’ in: Catherine Bouthors-Paillart, Antonin Artaud: L’énonciation ou L’épreuve de la cruauté, Droz: Genève, 1997, S. IXXIII (hier: S. XI) [Übersetzung A.D.W.]. Für eine gründliche Analyse der Jirglschen Ästhetik des Ekels oder des Abjekten siehe David Clarkes Beitrag in diesem Band. 82
Harel, Vies et morts d’Antonin Artaud, S. 9 [Übersetzung A.D.W.].
83
Barthes, Le Plaisir du Texte, S. 67 [Übersetzung A.D.W.].
84
Patrick Primavesi, ‘Heiner Müllers Theater der Grausamkeit,’ in: Christian Schulte und Brigitte Maria Mayer, Hg., Der Text ist der Coyote: Heiner-Müller-Bestandsaufnahme, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2004, S. 143-166 (hier: S. 147).
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Simon Ward Ästhetischer Radikalismus in der Posthistoire Zum literarischen Bild der Geschichte in Reinhard Jirgls Hundsnächte This chapter constitutes a socio-semiotic investigation of the representation of three topoi – the ruin, the railway and the desert – in Reinhard Jirgl’s novel Hundsnächte. The analysis highlights Jirgl’s diagnosis of a ‘posthistorical’ society, which links back to the mood that dominated his earliest texts written in the GDR. Identifying some of the cultural determinants of Jirgl’s ‘posthistorical’ literary aesthetic, such as Nietzsche, it shows how his post-unification engagement with the GDR past and the German present is to be read within a ‘Zivilisationskritik’ that is rooted in posthistorical analyses of society. The chapter concludes by historicising Jirgl’s literary strategies through demonstrating affinities with the ‘aesthetic radicalism’ of Wolfgang Koeppen in his ‘posthistorical’ diagnosis of the state of the nascent Federal Republic in the 1950s.
In seinem 1994 veröffentlichten Aufsatz macht Erk Grimm einige Bemerkungen zum Geschichtsbild in den am frühsten veröffentlichten Texten von Reinhard Jirgl. Er beschreibt die Darstellung einer ‘veralteten Industriekultur des Arbeiters’ in MutterVaterRoman, die ohne Tod und Erlösung in einer Stadt des ubiquitären Verfalls stirbt.1 Für Jirgls frühe Romane konstatiert er, dass ‘ein zentrales Denkmotiv der Romane [die…] Stillegung von Geschichte’ ist, die sich in der ‘stillgelegten Zeit’ der ‘zeitlosen Gefrierzone’ Ostberlins ausdrückt; eine Halbstadt, die ‘die Industriekultur der Moderne konserviert[e]’ und die industrielle Metropolis der Moderne ‘in einem abgeschlossenen urbanen Raum versiegelte’.2 Dies kann man vielleicht als historische Tatsache betrachten; das ‘Denkmotiv’ erfährt aber eine ästhetische Darstellung als Bild im literarischen Text.3 Im Folgenden möchte ich untersuchen, inwiefern dieses Geschichtsbild der frühen Texte auch bei einem späteren Text, Hundsnächte, noch bestimmend ist. Ergibt sich das Bild einer stillstehenden Geschichte in einem Roman, der sich (auch) mit den Veränderungen im Osten Deutschlands nach der Wende befasst? Weil ein Geschichtsbild kein Abbild der Realität, sondern ein ästhetischer Entwurf und eine imaginäre Transformation der Realität ist, wird der Status des Ästhetischen und des Literarischen dann das Anliegen des zweiten Teils des Aufsatzes sein.
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Wie kommt diese Darstellung der Geschichte zustande? In den beiden frühen Texten, MutterVaterRoman und Im offenen Meer, gibt es einen IchErzähler, dessen ‘Textdiskurs’ ‘an einer Geschichtsphilosophie, deren kulturpessimistische Züge unverkennbar sind’, festhält.4 Grimm spricht von einem ‘Erzähldiskurs’, der Spenglers Verfallsgeschichte und Foucaults Anthropologie als Subtexte einsetzt, von einem ‘Text, der die automatisch emportauchenden Greuel-Bilder der deutschen Geschichte’ speichert. Diese Umschreibungen deuten darauf hin, dass dieses Ich mit einer ‘Autor-Figur’, die diese Texte künstlerisch ohne ‘ethische Kommentare’ nach einer ‘somatologischen Ästhetik’ gestaltet,5 gleichgesetzt wird. Diese Lesart geht also davon aus, dass sich die Figur des Autors hinter den vielen Erzählstimmen in seinen Texten verbirgt und den Grundton des Geschichtsbildes bestimmt.6 Dass von einer Autorenintention noch ausgegangen wird, könnte nach dem literaturwissenschaftlichen Tod des Autors als Problem der Literaturkritik betrachtet werden, die noch einem veralteten Kunstbild verpflichtet ist. Es wird im Voraus festgestellt, dass nichts eine langsame, reflektierende Lektüre des Buches ersetzen kann, die dann allen selbstrelativierenden Ansätzen gerecht werden könnte.7 Jirgls Gesellschafts- und Kulturkritik setzt schon bei der Sprache ein, und die Kritik bleibt daher eine ästhetische, die auf ihrer Komplexität besteht. Sprache fungiert gerade nicht als Ordnungsinstrument, sondern widersteht der glatten Kommunikation. Es geht bei Jirgl prinzipiell um die Möglichkeiten von Literatur und nicht um die Analyse der Geschichte. Nimmt man aber die Auflösung des gesellschaftlichen Subjekts als Gesellschaftsanalyse in Jirgls Texten ernst, dann spricht aus seinen Texten nicht eine Person, und bestimmt nicht der Autor, sondern im Grunde das gesellschaftliche Zeichensystem, das der Autor dann in einem bewussten Spiel (zer)stört.8 Der zweite Teil dieses Aufsatzes befasst sich mit diesem Spiel, und schlägt einen Kontext für Jirgls ästhetischen Radikalismus vor, da es eine der Funktionen der Literaturkritik sein kann, die literaturhistorischen Kontexte von Texten zu erläutern. Es kommt aber darauf an, was für einen Kontext man methodisch voraussetzt. Man kann Jirgls Werk zum Beispiel im Kontext von ostdeutschen Autoren der 90er und der geschichtlichen Erfahrung seit 1989 bzw. 1953 lesen.9 Obwohl die DDR und ihr Ende schon eine wichtige Rolle spielen, kann man Jirgls Schreiben auch in den kulturellen Kontext der
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(anti)modernen Kulturkritik von Nietzsche, Benn, Spengler sowie Foucault stellen; Autoren, die auf ihren eigenen kultur- und zeitspezifischen Zeichensystemen aufbauen.10 Ich möchte die Kontextualisierung von Jirgls Werk bewusst problematisieren, indem ich meinen Annäherungsversuch in den Rahmen einer kultursemiotischen Methode stelle. Jede Kultur besteht aus einem Zusammenspiel von Zeichensystemen, die dann in komplexer Art und Weise in der Literatur verarbeitet werden.11 Wenn man diese Zeichen untersucht, kann man auch Einblicke in die Problematik bekommen, mit der sich diese Kultur beschäftigt. Obwohl eine solche Methode die Frage der schriftstellerischen Absicht in gewisser Weise außer Kraft setzt, bleibt noch die komplexe Frage: Welches kulturelles Zeichensystem bestimmt aber das Schreiben Jirgls? Man muss beide Traditionen (d.h. DDR und Zivilisationskritik) in Betracht ziehen. Ausgehend von Grimms These einer ‘stillgelegten’ Geschichte fange ich mit der Hypothese an, dass Jirgls Schriften über die DDR-Zeit der Posthistoire angehören. Dieser Begriff wird von Grimm selber nicht benutzt, obwohl die Geschichte dieses Begriffs die Verbindung zwischen der Kulturkritik der Moderne von Spengler, Jünger und Benn und Foucaults Analyse historischer Machtdispositive gut erklärt. Die Posthistoire als Begriff wird von Arnold Gehlen, dessen Gedanken noch von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes geprägt waren, schon in den fünfziger Jahren verwendet.12 Für Gehlen war die Posthistoire ein Zeitalter der Kristallisation, in dem ein epochales Gefühl der Zeitlosigkeit und eine düstere Ahnung eines anbrechenden entropischen Endzustands herrschsten. In der Posthistoire ist die Superstruktur aus Wissenschaft, Wirtschaft und Technik so vielfältig und kompliziert, dass sie für den Einzelnen völlig undurchschaubar wird, was dann Konsequenzen für die künstlerische Produktion hat.13 Da aber die Posthistoire als Diagnose der Moderne schon bis in die 20er zurückreicht, auch wenn die damaligen Prognosen von Spengler und Jünger nun überholt und obsolet erscheinen, hat diese Diagnose nun wahrscheinlich weniger mit dem Ende der DDR und des Staatssozialismus als dem vermeintlichen Ende der Geschichte zu tun. Die Posthistoire fängt sowieso in der Kultur der DDR schon 1977 bei Heiner Müllers Hamletmaschine an.14 Stefan Wolle argumentiert ähnlich im Bezug auf das staatliche Geschichtsbild in der DDR.15 Nichtsdestotrotz muss man bei Texten von Autoren aus der Ex-DDR die historische Erfahrung der DDR-Gesellschaft mitdenken, die
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sich ein teleologisches Geschichtsbild gegeben hatte und einen ‘falschen’ Optimismus des gesellschaftlichen Fortschritts sowie die Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit zur Staatsideologie gemacht hatte. Dieses Geschichtsbild, vielleicht längst ungültig, ging dann 1989 endgültig unter. Für Autoren wie Müller und Jirgl war die Posthistoire, d.h. eine Situation des geschichtlichen Stillstands, in der DDR aber schon längst eingetreten, wie von Grimm an Jirgls früheren Texten dargestellt wird. Hier drängt sich die Frage auf, wie der Vereinigungsprozess als geschichtliche Erfahrung in ein solches posthistorisches Geschichtsverständnis literarisch integriert wird? Zu ihrer Beantwortung nehme ich zwei wichtige Topoi aus Hundsnächte – die Ruine und die Eisenbahn – unter die Lupe. Diese Topoi sind im Bewusstsein der drei Haupterzählenden (Anwalt, Ingenieur und Architekt) fest verankert. Sie sind allgemeine Embleme des technologischen Fortschritts, entweder als dessen Rückstände oder als dessen Verkörperung. Wie die Ruinen von Ostberlin in den früheren Texten ein Bild der stillstehenden Geschichte entstehen lassen, kann man ausgehend von diesen Topoi das Entstehen eines anderen Geschichtsbildes in Hundsnächte untersuchen. Anschließend untersuche ich kurz die literarische Bearbeitung eines dritten Topos der Posthistoire in Hundsnächte – der Wüste –, um durch die Komplexitäten dieses Motivs eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung von Jirgls ästhetischen Strategien in Hundsnächte zu versuchen. Ruine Als Symbol sowohl des historischen Fortschritts als auch des Verfalls hat die Ruine, hauptsächlich seit der Romantik, eine lange Tradition.16 Hermann Bühlbäcker hat Ruinendarstellungen in der Literatur zwischen 1774 und 1832 untersucht und sieht diese Darstellungen als ‘literarisch[e] Antworten auf die fundamentalen Umwälzungen der Epochenschwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert’.17 Es dominiere aber weder die Ruinenmelancholie noch die Ruinensehnsucht, sondern der konstruktive Aspekt eines Neubaus aus Ruinen. Die Ruine markiere daher einen Schwellenzustand vor dem Anbruch einer neuen Zeit. Die Ruine hatte auch eine ähnliche Bedeutung in einem Staat, der angeblich aus Ruinen auferstanden war. Im MutterVaterRoman wird auf diese Tradition in der DDR kurz angespielt.18
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Die Ruine ist ein dominanter Ort in Hundsnächte, nicht nur weil sie als Lokus des Schreibens und des Erinnerns fungiert, sondern weil sie auch ein wichtiges Element in den Skulpturplänen des Architekten-Künstlers Eule ist.19 Obwohl es physische Ruinen im Text gibt, muss man berücksichtigen, dass die Ruine auch eine Funktion als Vergleich bzw. Metapher hat. Hier bedeutet sie dann nichts Materielles, sondern ist Teil des Textdiskurses geworden. Diese Beispiele zeigen die Grenzen einer dekodierenden Analyse auf, da die Erzählenden sowohl Teil der fiktiven Welt sind, die (wenn überhaupt) außerhalb ihrer selbst existiert, aber auch diese Welt durch ihre Erzählungen aktiv mitgestalten. Die kulturelle Bedeutung der Ruine in der fiktiven Welt von Hundsnächte wird dadurch eher unterstrichen, weil die Ruine dann als Teil des kulturellen Zeichensystems des jeweiligen Erzählenden (wie der Gesamtkultur) angesehen werden muss. Da die sprachliche Darstellung bei Jirgl immer so präzise ist, fangen wir mit der genauen Beschreibung des Ruinenorts an: Ruinen, zu Ruinen verfallen –, Restegemäuer von einem vor Jahrzehnten evakuierten Dorf inmitten der Iöde, von Schlingpflanzen Baumwerk Weinranken & Büschen im Griff wie unter einer unendlich langsam sich schließenden Faust, [...] fahle Nägel & Krallen an den Klauen pflanzlicher Wesen, die mit der unfaßbaren Geduld aller Pflanzen auf das Verschwinden von Zeit lauern, Zeit die sie, die Pflanzen, seit Anbeginn in Bann geschlagen hält, um dann im Augenblick des Lösens von dieser Fessel in I Explosion von Wachstum vorschnellend über die schäbigen Gemäuerreste u die gesamte Landschaft herzufallen, der Menschen u der übrigen Alpträume sich bemächtigend, dies=Alles wie Knüllpapier von-sich schleudern würden, um an anderer Stelle, wo solcherart Leben dann hingeworfen wäre, Alles schon Getilgte, Weggeworfne & Zerstörte mit der den Pflanzen eigenen, chlorophyllhaften Geduld noch I Mal von-vorn beginnen zu lassen […]. [...] Das ehemalige Grenzland & der Todessstreifen wurden noch immer von Allen gemieden [...]. Das war, als bestünde das einstige Verbot, diesen Teil der Welt zu betreten, noch ebenso weiter fort, wie die unmittelbare Todesdrohung selbst – so als sei auch nach dem Verschwinden der Grenze diese Aura des Todes noch immer vorhanden, tief in die Landschaft aus vergiftetem Sand wie in die Gehirne eingebrannt, um ihre Wirkung, die in Alten Zeiten als die eines Fluches genannt worden wäre, noch immer aufrechtzuerhalten und umso zäher fortzusetzen, je weiter die Wirklichkeit dieser I Art der Drohung des Sterbens in den Tiefen & im Schlamm der Geschichte versank….. (H 10-11)
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Das Auffallende an dieser Beschreibung ist, dass diese Ruinen selber zu Ruinen verfallen sind. Das heißt, sie waren schon Ruinen, d.h. Gebäude ohne Funktion, bevor sie dann einem Prozess des Verfalls preisgegeben wurden. Der ursprüngliche Prozess der Ruinierung, die Entlassung in die Funktionslosigkeit, fand während der DDR statt, wo das ‘Aufrücken von Heerscharen östlicher Bürokratie’ (H 10) diesen Ort zum Verschwinden gebracht hatte. Dieser Prozess der bürokratischen Erfassung des deutsch-deutschen Grenzlandes, der erfolgreicher als jede frühere Armee des klassischen Zeitalters des Kriegs war, bringt das Ende der ‘organischen’ Benutzung dieses Raums zugunsten des Überwachungsstaats. Dieser Ruinenort, der eigentlich durch Prozesse der Bürokratisierung in einen abstrakten militärisch überwachten Raum verwandelt wurde, ist auch und gerade deswegen ein ‘verfluchte[r] Ort’ (H 74), wie man ihn in der vormodernen Zeit (hier etwas ungenau ‘Alte Zeit’) beschrieben hätte.20 Der Ingenieur impliziert (im typischen Konjunktiv von Hundsnächte), dass sogar der geplanteste Ort niemals völlig abstrakt werden könne, da ihm der Tod immer innewohnt. Gleichzeitig wird ein naturgeschichtliches Bild für das Verschwinden der DDR-Anlagen verwendet, die im ‘Schlamm der Geschichte’ versinken, ein Bild, das den Triumph der Natur über eine veraltete technologische Ordnung suggeriert. Das Gegenteil dieses Staats und seines Menschenwerks stellt dann das pflanzliche Wesen dar, das in einer typischen Ruinenbeschreibung als ‘Schlingpflanzen Baumwerk Weinranken & Büschen’ erscheint und als aktiver Mitgestalter des Raums beschrieben wird, da es ‘auf das Verschwinden von Zeit lauert’. Die stillgelegte Zeit der DDR, ‘die eingefrorene Hauptstadt’ der früheren Texte, lässt sich noch an der ehemaligen Grenze auffinden, wo ein entropischer Endzustand der menschlichen Zeit wahrzunehmen ist. Das pflanzliche Wesen ist Teil eines naturgeschichtlichen Prozesses, der bislang ‘in Bann’ gehalten wurde, aber jetzt über ‘die gesamte Landschaft’ herfällt, sich ‘der Menschen bemächtigend’.21 Es ist das pflanzliche Wesen als seltsamer geduldiger Agent der (nichtmenschlichen) Geschichte, das das ‘Getilgte, Weggeworfene & Zerstörte’ verwendet, um einen neuen Anfang einzuleiten. Für diese ‘pausenlose’ Arbeit des pflanzlichen Wesens gibt es im Roman zahlreiche Belege (z.B. H 264). Diese Ruinen können, nach Jirgls Hinweis im Gespräch mit Werner Jung, als Zeichen einer zerstörten klassischen Arbeitswelt gesehen werden, in der Leben und Arbeit noch an einem Ort vereint waren.22 Hier wird nochmal die
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‘ambivalente Wertschätzung des sozialistischen Alltags’ in Jirgls Texten evident.23 Diese Ruinen sind aber auch Embleme einer Naturgeschichte, die auf das Ende der menschlichen Ordnung der Natur wartet. Es gibt keine Rückkehr zu einer heilen Welt, aber die Natur heilt sich selber, nach dem Ende der menschlichen Geschichte. Doch ist diese Geschichte nur scheinbar an ihr Ende gekommen. Es ist gerade diese natürliche Wiedergeburt, die durch den Einsatz der Fremdenlegion, dieses Vorreiters der neuen ‘supermodernen’ Arbeitswelt, verhindert werden soll.24 Obwohl die Ruine eine Rückkehr zur Naturgeschichte verspricht, dominiert dann der technologische Fortschritt doch noch die Natur. In Hundsnächte wird diese Ruine nicht von außen als Ruinenbild betrachtet, sondern sie wird als Verfallsraum erfahren. Es entsteht daher keine einfache Ästhetisierung der Ruine im traditionellen Sinne, sondern eine für Jirgls Texte typische, präzise Beschreibung der körperlichen Erfahrung, die das Ekelhafte an dieser Erfahrung hervorhebt. Die meisten Beschreibungen der Ruine im Text beschwören den Verfall und betreffen die Gerüche und Fliegenschwärme, die dort zu erleben sind. Die Ruine fungiert als Lokus der Erzählungen und Erinnerungen, für die es draußen anscheinend keinen Platz gibt. Dementsprechend sind es die intellektuellen Außenseiter, der deklassierte Anwalt, der deklassierte Ingenieur und später der deklassierte Architekt, die sich hier in der Ruine versammeln. Außerhalb der Ruine herrscht der Zeitplan der zeitgenössichen Arbeitswelt, nach dem die Auslöschung der Ruine möglichst zügig zu geschehen hat. Für den Zeitraum des Romans steht die Ruine als Störstelle in einem Geschichtsprozess, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Diese Erfahrung des Stillstands wird in dem Teil des Buches für den Leser besonders erfahrbar, in dem zwischen Seite 201 und Seite 272 der Satz vom Ingenieur, der sich ‘nahe dem Eingang im Innern der Ruine u am Rand jener Halde aus Papier’ (z.B. H 224, 299, 241, 259, usw.) befindet, ständig wiederholt wird; ein Satz, der die Verbindung von Schreiben und Ruinen herstellt, und der suggeriert, dass das Schreiben ein organischer Vorgang sei. Wie dieser wiederholte Satz und die äußere Handlung deutlich zeigen, ist in der fiktionalen Welt von Hundsnächte die Ruine der Ort, an dem der Geschichtsprozess zum Stillstand gebracht wird. Eine solche Funktion kann auch den Ruinenentwürfen von Eule zugeschrieben werden, für den typische Neubauten schon ‘von-Anfang-an Ruinen’ sind (H 448), da Ruinen selber
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Rohbauten für eine kommende Architektur sein können (H 449). Eule würde die glatten Fassaden der neueren Architektur mit seinen Ruineneinfügungen unterbrechen, und somit die Gebäude in einem ungelösten liminalen Zustand zurücklassen.25 Die konstruierte Ruine steht somit zwischen SchonVergangenem und Noch-zu-Kommendem in einer Gegenwart von unsicherer Dauer. Eules Entwurf von Rohbauten einer kommenden Architektur findet keine materielle Entsprechung in der Romanwelt von Hundsnächte: Diese Ruine wird ausgelöscht. Nur das Schreiben kann die Auslöschung aufhalten. Die Entsprechung zur Ästhetik von Eule/Till Hohn besteht darin, dass Hundsnächte eine Ruine, Emblem des ‘Nicht-Identischen’, in die glatte Landschaft des vereinigten Deutschlands, genau an dessen Schnittstelle, stellt.26 In seinem Aufsatz zur ‘Ruine in der Posthistoire’ stellt Hannes Böhringer fest, dass ‘die Posthistoire [...] die Epoche nach dem Ende der Geschichte [ist], die Zeit nach dem Ende der Zeit, wo eigentlich nichts mehr, zumindest nichts Neues geschieht, weil die Zeit stillsteht’.27 Die geschichtliche Wende bringt eine neue Arbeitswelt, aber diese wird dann nicht als etwas Neues dargestellt, sondern eher als eine beschleunigte Modernität, die im Kontrast zur DDR Ruinen nicht einfach stehen lassen kann oder will.28 Wie Böhringer argumentiert, ist die Posthistoire eher ein Zeitgefühl. Die Ruine in Hundsnächte ist die ästhetische Inszenierung eines solchen Gefühls. Wenn man daher die Ruine in Hundsnächte als Bild der Posthistoire zuordnet, so ist dieses ein Bild, das den Stillstand als ästhetische Strategie gegen den Rationalisierungsdrang einer verselbstständigten Technik inszeniert. Es ist die immer fortschreitende Technik, die zum Stillstand gebracht wird. Der sich der Arbeitswelt verweigernde Einzelne schreibt dann in den Ruinen der Geschichte: Die Ruine ist das Sinnbild des Standorts einer Literatur, die einen posthistorischen Zustand diagnostiziert. Eisenbahn Ein wichtiges Zeichen im Zeichensystem der DDR-Kultur war die Eisenbahn oder besser das gesamte Eisenbahnwesen als Sinnbild des teleologischen Fortschritts und auch als Sinnbild einer Arbeitswelt, in der sich eine harmonische Gesellschaft bildete, die diese Zukunft in Brigaden zusammenbaute.29 Wie zur Ruine muss auch angemerkt werden, dass die Eisenbahn
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nicht nur als ein sich auf Materielles beziehende Symbol fungiert, sondern dass sie auch zur Metapher für die Erzählenden wird. Das Bewusstsein der erzählenden Außenseiter ist anscheinend vom Bahnwesen geprägt. Von der Mitte des Romans bis zum Ende wird die Bahn immer häufiger als Metapher verwendet (H 175, 277, 325, 342, 358, 361, 371, 407, 435, 443). Diese Metaphern haben häufig mit Grenzzuständen des Wartens, des Abschiednehmens zu tun. In Bezug auf das Eisenbahnwesen sind Jirgls Beobachtungen zum geplanten Radweg (eine ganze andere Form der Fortbewegung), die er im Gespräch mit Werner Jung erwähnt, für den Interpreten einleuchtend. Da stellt Jirgl fest, dass wenn [Arbeit und Freizeit] so ineinanderwachsen, nach gleichen Kriterien, nach dem gleichen Zeichensystem, so heißt das dann, daß die Unterscheidung überflüssig geworden ist zwischen Arbeit und Freizeit. Freizeit verschwindet, Arbeit genauso und damit auch die Definition des gesellschaftlichen Subjekts.30
Jirgl stellt hier eine gesellschaftliche Entwicklung fest, die den berühmten Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger von 1958 wiederholt, der ‘eine Theorie des Tourismus’ aufstellte, aber eigentlich eine grundlegende Kritik der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft – und nicht nur dieser – enthielt.31 Enzensberger zeichnet die Verschränkung von Arbeit und Freizeit seit Anfang der Moderne nach und argumentiert, wenn auch pessimistisch gestimmt, für ein noch unvollendetes Projekt der Aufklärung, da die Ausflucht in den Urlaub immer mit der Sicherheit der Rückfahrkarte in die bürgerliche Gesellschaft unternommen wird. Am Ende zitiert er Otto Weininger, der meinte, von einem Bahnhof aus könne man nicht in die Freiheit fahren.32 Die Eisenbahn, die zugleich den industriellen Fortschritt und das Reisen in die Ferne ermöglicht, ist auch ein Symbol der Dialektik der Aufklärung, die durch den eigenen Rationalisierungsdrang die Grenzen ihrer Rationalität geschaffen hat. Jirgls Wiederholung dieser Einsicht im Kontext des vereinigten Deutschlands ist interessant, erstens weil die Tourismustheorie, von der Enzensberger 1958 ein ziemlich einsamer Vertreter war, sich jetzt dem postfordistischen gesellschaftlichen Subjekt eher heiter angepasst hat,33 und zweitens weil die Eisenbahn, Enzensbergers Metapher der modernen Eingeschlossenheit in dem technologisch gesteuerten geschichtlichen Prozess, auch ein beliebter
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Topos bei Jirgl ist, der in Hundsnächte besonders auffällig erscheint, und hier auch Einblick in den Status des gesellschaftlichen Subjekts in der Posthistoire ermöglicht. In Abschied von den Feinden steigt der Anwalt aus dem stillstehenden Zug, gewissermaßen als Ausstieg aus der Geschichte, wie ich an anderer Stelle schon argumentiert habe.34 Dieser ‘Zug der Geschichte’ erscheint als dominierendes Eisenbahnmotiv in Hundsnächte. Der ‘Große Dunkle Zug’ (H 227) erscheint für den Ingenieur als Jungen anfangs als Allegorie des (ungenannten) Holocausts, ‘auf Weiterfahrt wartend & voll mit Menschen, in Güterwaggons gepfercht Häftlinge im letzten Krieg’ (H 67). Ein ähnlicher Zug taucht dann auch in der Erzählung der als Prostituierte tätigen Frau auf, die sich an den Grüne-Minna-Zug, den ‘GROTEWOHLEXPRESS.....’ (H 257) erinnert, der Häftlinge nach Bautzen in das StasiGefängnis brachte. Solche Waggons wurden aber auch vom Hitlerregime und den sowjetischen Besatzern benutzt, um Gefangene zu transportieren. Die Eisenbahn, statt Symbol des unaufhaltsamen Siegs des Sozialismus zu sein, fungiert hier als Symbol der staatlichen Ordnung schlechthin, als Symbol der Kontinuität einer sich der Technologie bedienenden Diktatur, das die traumatische Vorgeschichte des posthistorischen Zustands versinnbildlicht. Die Deutung des Großen Dunklen Zugs als Zug eines sich selbst dienenden technologischen Fortschritts bedeutet aber keine Relativierung des Holocausts, bedenkt man die Beobachtungen Zygmunt Baumanns zum Verhältnis von Modernisierung und Holocaust und Enzenbergers Ausführungen 1958, die die Industrialisierung des Mordes als ein Produkt der modernen Massengesellschaft betrachten.35 Die Darstellung des Eisenbahnwesens gewährt auch Einsicht in die Stellung des gesellschaftlichen Subjekts. Am Provinzbahnhof in Westfalen träumt der Ingenieur, dass er den Großen Dunklen Zug am Ende des kurzen Bahnsteigs sieht. Obwohl der Ingenieur im Traum diesen Zug nicht erreicht, empfindet er später am ersten Arbeitstag in der Fremdenlegion ein Gefühl von Glück, als er an seinem ersten Tag in der Fremdenlegion in dem Vorortzug sitzt und glaubt angekommen zu sein, ‘dort, wo ich sein sollte, im Innern des Großen Dunklen Zugs.....’ (H 501). Diese Umdeutung des Großen Dunklen Zugs in eine Maschine, in der das Subjekt ein Glücksgefühl erlebt, bedarf einer Erklärung. ‘Angekommen’ könnte hier Brigitte Reimanns dem Sozialistischen Realismus verpflichteten Bildungsroman Ankunft im Alltag
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(1961) entnommen worden sein, der die Geschichte der erfolgreichen Anpassung der Persönlichkeit an die DDR-Gesellschaft gestaltet. Wie viele andere DDR-Texte dieser Zeit, wie Irmtraud Morgners Das Signal steht auf Fahrt (1959), eignet sich dieser Roman die Eisenbahnmetapher an, um den – nicht aufzuhaltenden – Fortschritt der Industriegesellschaft DDR zu verbildlichen. Hundsnächte spielt ganz bewusst auf diese Tradition der Eisenbahnmetapher in der Literatur der DDR an: Die Geschichte von einem Arbeiter aus der Fremdenlegion wird erzählt, der ‘sich [niederkniet] & seinen Kopf auf die Schienen [legt]’ (H 429). Anders als bei Christa Wolfs Protagonistin in Der Geteilte Himmel (1963) hat diese postsozialistische Erzählung keinen glücklichen Ausgang, wie die detaillierte Beschreibung des schmerzvollen, fast verpatzten Selbstmords klar darstellt (H 429-430). Das Verhältnis zwischen Subjekt und Technologie, bei Wolf am Ende noch harmonisch gestaltet, läuft bei Jirgl entweder auf grauenvollen Tod oder eher ironisierte Anpassung im Fall des Ingenieurs hinaus. Obwohl das Eisenbahnwesen Symbol einer modernen technologisierten Gesellschaft bleibt, kann es sich auch der postindustriellen Arbeitswelt und dem Verfall der klassischen Arbeitswelt nicht entziehen. In einem Teil des Romans erinnert sich der Ingenieur, wie die Fremdenlegion einen Provinzbahnhof im Westen abreißen sollte. Dieser Provinzbahnhof ist auch ein Zeichen einer altgewordenen (d.h. dem Verfall preisgegebenen) Modernität. Er befindet sich unter den Bahnhöfen, die an stillgelegten Strecken liegen. Der Zustand dieser ‘halben Ruinen’ wird wie immer präzise beschrieben: ‘pissezerfressnen Blech & Gemäuer die reinsten Salpetergruben’ (H 426). Dieser Bahnhof gehört der ‘Altmoderne’ an; er ist ein Überbleibsel aus einem früheren Stadium des technischen Fortschritts. Hier zeigt sich wieder die ambivalente Haltung von Jirgls Texten angesichts eines ‘industriell geprägten, ostmodernen Daseins’, die auch industrielle Überreste im Westen aufspürt.36 Bei Jirgl ist die Eisenbahn, wie bei Kafka in Die Verwandlung (1915), sowohl Emblem eines abstrahierenden Rationalisierungsdrangs als auch typisch für eine noch industrielle Arbeitswelt, wo Arbeit gesellschaftliche Identität stiftet. Das Erste sieht man auch in Jirgls Kritik der neuen Bahngebäude, die in den letzten Jahren in Berlin gebaut wurden.37 Das Letzte sieht man deutlich in der Figur von Hanna in Die Unvollendeten, deren Identität durch ihre Tätigkeit für die Reichsbahn abgesichert wird.38
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Der Zug in Hundsnächte versinnbildlicht dann den technologischen Fortschritt und das Verhältnis zwischen Technologie und gesellschaftlichem Subjekt. Hundsnächte reflektiert aber auch neuere Entwicklungen im Eisenbahnwesen, nämlich die Einführung des ICE. Der Ingenieur erinnert sich an eine Nachtfahrt mit diesem Zug, dessen fast unhörbare Geräusche der Fortbewegung deutlich anders als die der anderen Züge des Textes sind: Dahingleitend vibrierend als sei dieser Zug selber der elektrische Strom, der ihn antrieb & der durch Überlandleitungen summend mit Licht- vielmehr mit Nachtgeschwindigkeit von Elektronen floß – ICE : Bisweilen die Nachricht, daß beim Streckenbau wieder Etwas gefunden worden war: noch intakte Bomben aus dem letzten Krieg […] – od aber prähistorisches Zeug [...]; tausende von Jahren Vergangenheit, die erst durch die Wühlarbeiten an der Zukunft ihre Wiederauferstehung erleben –: Nichts was verschwunden war, ist wirklich verschwunden [...]. (H 493-494)
Der ICE ist ein Emblem der ‘Supermoderne’, als Zeichen einer beschleunigten Modernität.39 Auch dieser ‘supermoderne’ Zug wird zum Stillstand im ästhetischen Raum des Romans gebracht, weil in diesem Raum als literarisches Prinzip das Zusammentreffen von Gegenwart und Vergangenheit ermöglicht wird. In einer posthistorischen Welt gehört dann alles, sowohl Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg als auch ‘prähistorisches Zeug’, in gewisser Weise der Vorgeschichte ‘[der] festgehaltene[n] Schrecksekunde des Modernismus, in der die fortschreitende Modernisierung aller Lebensbereiche als unabwendbares Verhängnis bewußt wird’:40 Das Vergangene ist, wie der Erzählende bemerkt, nie wirklich verschwunden und kann als Störung in dem glatten Funktionieren des technologischen Systems inszeniert werden. Die Eisenbahn war im 20. Jahrhundert noch literarisches Sinnbild einer sich fortwärts bewegenden Gesellschaft (wenn auch in die Katastrophe). Bei Jirgl wird sie eher als Zeichen sowohl eines sich beschleunigenden technologischen Fortschritts als auch, wie die Ruine, als ein ästhetisches Zeichen des geschichtlichen Stillstands inszeniert. Angesichts der Darstellung von Ruine und Eisenbahnwesen können wir zusammenfassen, dass das Geschichtsbild in Hundsnächte eine immer fortschreitende Rationalisierung vorstellt, die aber dann im literarischen Text zum Stillstand gebracht wird. Eine solche fortschreitende Rationalisierung ist
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auch Teil der Diagnose eines posthistorischen Zustands, die auf das vereinigte Deutschland mit seinem ‘supermodernen’ ICE und seiner Fremdenlegion übertragen wird. Die ästhetische Darstellung dieser fortschreitenden Rationalisierung bietet solchem angeblichen Fortschritt eine Art Widerstand, wobei auch die ambivalente Wertschätzung einer veralteten Moderne zum Vorschein kommt. Traumatisierende persönliche Beziehungen prägen das Menschenbild in Hundsnächte. In der technologisierten Gesellschaft setzt sich auch in der Posthistoire die traumatisierende Erfahrung ohne optimistischen Ausblick weiter fort. Wie verhält sich die Literatur zu einer solchen Diagnose? Bislang sahen wir, wie Hundsnächte die Symbole des Fortschritts literarisch gestaltete. Im Folgenden geht es um die Erläuterung der Stellung einer solchen Literatur in der Posthistoire. Wüsten In seinem Aufsatz nennt Böhringer die Wüste als ein weiteres, vielleicht zutreffenderes Bild für die Posthistoire, da sie angeblich nicht ‘die unvermeidliche Romantik der Ruine’ enthält.41 Hundsnächte ist ‘den Wüsten’ gewidmet, obwohl man nicht sicher sein kann, ob damit Menschen oder aride geographische Bereiche gemeint sind.42 Im Vergleich zu den Ruinen und Eisenbahnen im Text kommen materielle Wüsten in Hundsnächte aber sehr selten vor, es sei denn, man ließe die Großstadt Berlin mit Spengler als Wüste gelten, was aber vielleicht bloß das Weiterdichten einer Metapher durch den Leser wäre.43 Ansonsten erscheinen die Wüsten als Bild auf der Landkarte in den Erinnerungen des Ingenieurs, dem ‘die schnurgeraden Grenzverläufe’ (H 266) auffallen, die auf der Schulklassenlandkarte ‘über die Sandfarben hinwegzogen’ (H 266) sind: ‘u diese Wüste wächst.....’ (H 267).44 Diese Teilung eines Raumes, der natürlich keine festen Grenzen kennt, gehört wieder dem abstrahierenden Prozess der Modernisierung, die überall Grenzen feststellen muss. Die ‘schöne sandfarbene Wüstenkarte’ wird zur utopischen Projektionsfläche für den Jungen, ‘eine ungeheure, schöne sandfarbene Fläche !ohne den !geringsten Makel – ein Sandland weithingebreitet – die Farbe der Stille’ (H 268). Die Projektion eines Raumes jenseits der technologischen Moderne wird aber (im Kursiv) schon in Frage gestellt: ‘Was Dünen dort aufwerfen, könnte auch Felsgestein sein od
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Maschinengetrümmer –: Die gescheiterte Expedition’ (H 269). Dieses Kursive kommt oft als Gegenstimme zum Vorschein, um gewisse Erzählstränge in Frage zu stellen, wie bei einer anderen kräftigen, im Textbild isolierten Beschreibung der Ruine geschieht: Die Nacht ertrinkt im Nebel – Regenschritte bröseln über schründige Ziegelmauern ins Innere der Ruine, u starke feste Windschnüre fädeln sich durch die Lücken im Stein; die Nacht tritt noch einmal über die Ufer, färbt die Stunde mit Teerfarben wie einen Fluß zur Hochwasserzeit – : ?!Wie und der Regen schwemmte alles Mensch&steingewordene zurück in den Sand, aus dem Stein & Menschen einst gekommen sind – – (H 483)
Hundsnächte bejaht hier die Naturgeschichte nicht, sondern die Naturgeschichte ist eine der kulturellen Bild- und Metaphernquellen, aus denen sich der Text speist. Und zu diesen Metaphernquellen gehört dann auch die erste Hälfte von Friedrich Nietzsches Zarathustra-Diktum, das im vorigen Abschnitt zitiert wird: ‘Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt’.45 Für die Funktion solcher anscheinend hingeworfenen Zitate bietet der Text eine vielleicht zu offen(sichtlich)e Erklärung: vielmehr mochte all dies umherliegend Geschriebene als letztendlich geheimnisloses Flickenwerk aus der Bilder&schriftenwelt von Unmengen zerrissener zerfledderter und aufgeweichter Bücher Zeitungen Journale Briefe amtlicher Protokolle […] herrühren, deren Überbleibsel & Reste Ifach der Zufall [...] verscharrt haben soll[te] [...] inmitten der Schäbigkeit von I weiter und weiter zusammenstürzenden Ruine in ihrem faulmäuligen Gähnen […]. (H 505-506)
Die Aussage ist anscheinend klar: Auf der Müllkippe der Ruinen der Geschichte gibt es keine Geheimnisse, die es zu entziffern gilt. Als Vorläufer der Posthistoire sind Nietzsches Texte Bestandteile der ‘Bilder&schriftenwelt’ der posthistorischen Kultur, aus der Jirgls Texte entstehen. Dies könnte eine Erklärung der Intertextualität bei Jirgl als spielerische ‘bricolage’ sein. Man könnte aber auch die Wiederverwendung von solchem Material im Müllerschen Sinne ernsthafter untersuchen. Es ist offensichtlich, dass Nietzsches Texte als Basismaterial für Hundsnächte fungieren.46 Nietzsches Welt- und Kunstauffassung wird als Material verwendet, und seine kulturkritische Diagnose wird im Text verarbeitet, nicht einfach wiederholt. Ich unternehme hier jetzt eine kurze Untersuchung eines Nietzschemotivs im
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Text, um einige zaghafte Gedanken zur Ästhetik von Hundsnächte zu formulieren. Während sich der Ingenieur seinen Eintritt in die Ruine überlegt, sitzen die Arbeiter der Fremdenlegion am Lagerfeuer und trinken. Die Beschreibung der Arbeiter ist nicht nur Nietzsche verpflichtet, sondern auch Thomas Mann. In ihrer trunkenen ‘zunehmende[n] Ekstase’ (H 100) erinnert dieser Chor an den dionysischen Chor in der Geburt der Tragödie (1872), die ein ahistorisches Geschichts- und Menschenbild enthält: ‘dieser Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben’.47 Das Bild erinnert auch an Gustav von Aschenbachs zweiten Traum von der ‘Halde mit Leibern, Flammen, Tumult und taumelndem Rundtanz’.48 Dass man aber nicht so schnell diese intertextuellen Bezüge als selbstevident hinnehmen sollte, wird klar, wenn man sich einen Teil dieses Chors, Häcki, genauer ansieht: ‘den drahtigen Körper immer tänzelnd zuckend sich biegend in Bewegung [...], seine Gesichtszüge vom inneren Überschall verzerrt verzogen grimassierend’ (H 101); und dann, obwohl hinter dieser Maske des Rollenspiels ‘ein in tiefe Falten gelegtes trauriges Gesicht’ liegt (H 101), ‘schlugen Gesichtsausdruck & Gebärden um, fuhr er wieder hin-I ins Kostüm seiner Rolle, ins Tänzeln Grimassieren’ (H 102). Das Dionysische, das bei Nietzsche einen ekstatischen Zustand bedeutet, erscheint bei Jirgl als bewußtes Rollenspiel, und hinter dieser Maske, hinter den ‘von Grölen & Gelächter verzerrten Züge[n]’ steht ‘I merkwürdige Art von Resignation’ (H 100). Trotzdem kann man sagen, dass, während der dionysische Chor draußen tobt, im Innern der Ruine die apollonische Kunstwelt des Traumes herrscht. Wiederholt fragt sich der Erzählende, ob nicht alles ein Traum gewesen sei, wiederholt wird auch die Metapher der Maske bemüht, die auch das Apollonische in Geburt der Tragödie auszeichnet. Dieses Maskenhafte wird besonders deutlich am Ende des Romans. Das Ende inszeniert nochmals den Stillstand des Zuges, d.h. des technologischen Fortschritts, um den unbenannten (vielleicht innomable?) Erzählenden in eine Natur-Landschaft zu entlassen. Diese letzte Naturbeschreibung ist keiner Ästhetik des Ekels verpflichtet, wie sie ansonsten im Roman zu herrschen scheint. Die Beschreibung bleibt aber der Welt der apollonischen Vorstellungen verhaftet, während der Erzählende einen Weg entlanggeht, der ‘– warum nicht – jener
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Weg zur Spitze der Landzunge od Insel sein [könnte], über die der Vater [...] viel zu erzählen wußte’ (H 515). Die Natur selbst bleibt (konjunktivisch) offen konstruiert: ‘In ihren malerischen Posen über die Landschaft verteilt jene Menschen, als hätt ein Regisseur diese Szene zu einem Theaterstück in der Natur arrangiert’ (H 516). Die Menschen, anscheinend Urlauber, sind auch ästhetische Gebilde: Das Gesicht eines Mannes, dem meinen obwohl an Jahren jünger, nicht unähnlich, sehe ich entstellt zur Grimasse einer verdorbenen Jugendlichkeit [...] All jene Gebilde offenbar eilig dahergeschludert wie Masken zu einer grotesken Inszenierung [...] Als ich nahe genug heran bin, berühre ich einige der Masken, die nun wie aufgestellte Hirnschalen [...] erscheinen; [...] und was ich ahnte, finde ich: von der einstigen Gehirnmasse ist ihnen nichts geblieben – selbst Fliegeneier & Maden dort sind längst verdorben […]. (H 518)
Diese Grimasse der verdorbenen Jugendlichkeit – wie ‘das Grimassieren’ im vorigen Zitat – ist dem Tod in Venedig entlehnt, einer Novelle, die den ästhetisch-philosophischen Kategorien aus der Geburt der Tragödie verpflichtet ist.49 Man könnte schon anhand dieser Anspielungen die Hypothese einer von Nietzsche abgeleiteten Jirglschen literarischen Ästhetik aufstellen, die einem ‘tragischen’ Geschichtsbild – d.h. auch zeitlosen, negativen Menschenbild – entspricht, aber auch seiner dominanten Ästhetik des Ekels mit einer Ästhetik des Maskenspiels begegnet. Wie bei Nietzsche hebt die Illusion den Ekel nicht auf: das Apollonische kann das Tragische nie zum Verschwinden bringen. Wie die Protagonisten bei Jirgl keine eigenständigen Charaktere im traditionellen fiktionalen Sinne sind,50 so lesen wir in der Geburt der Tragödie: Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter des Helden ab – der im Grunde nichts mehr ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d.h. Erscheinung durch und durch – dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt [...] jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, [sind] nothwendige Erzeugungen eines Blickes in’s Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes.51
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Im Sinne einer solchen Ästhetik können die Erzählenden in Hundsnächte als Erscheinungen – auch dies ein oft wiederholtes Wort des Romans – oder Masken intepretiert werden, die selber ein ästhetisches Bild für den Leser entwerfen. Diese ästhetische Welt des Traumes ist ‘nur’ Traum, der sich als traumhafte Flucht aus der fortschreitenden Technologie der Posthistoire entlarvt. Wie bei der Installation des ‘Feisten’ gibt es keinen ‘Versuch, das Künstliche der Apparatur zu verbergen’, vielmehr bietet der Text seine ‘offen sichtbare Gemachtheit’ (H 400-401). Ich weiß, ich könnte jederzeit aus einer ewigen Sommerstunde [...] zurückgehen in den Nebel [...], irgendwo auf einen an den Schienen wie festgeschweißt noch immer wartenden Fernzug treffen, groß dunkel & kantig aus dem Nebel ragend, und dorthin zurückkehren, wo ich aufgebrochen bin am Tag meiner Reise ans Meer. (H 519)
Hier, im Konjunktiv, am Rand des offenen Meeres, im grenzenartigen Raum des Strandes, würde in das, ‘was ich früher einmal meinen Körper genannt habe, […] schon bald eine tiefe Ruhe und Heiterkeit einkehren’ (H 519). Diese Überwindung der Geist/Körper-Spaltung der Aufklärung ist mit dem wohltuenden hellfarbigen Vergessen verbunden – obwohl man anmerken muss, dass dieses Vergessen schon als Projektion des Erzählenden vor zwei Seiten erschienen ist. Im Sand löst sich das bürgerliche Subjekt auf: Dies ist aber möglicherweise schon wieder Zitat – sowohl von Aschenbachs Tod am Lido-Strand also auch von Foucaults Ordnung der Dinge (1966), wo der Mensch wieder verschwinden kann, ‘wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand’.52 Um einen Schlüsselsatz der Geburt der Tragödie umzuschreiben, könnte man behaupten, dass, angesichts einer Diagnose der Moderne, die einen entropischen, posthistorischen Zustand konstatiert, die Literatur sich nur als ästhetisches Gebilde rechtfertige. Die Literatur sei der Raum, in den man eintritt, wenn man aus dem Zug der Geschichte steigt und mit dem Träumen anfängt.
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Ästhetischer Radikalismus in der Posthistoire Jirgls literarische Ästhetik gehört der Posthistoire an, insofern als die posthistorische Lage das Ende von Einsicht bedeutet, das Ende der großen Erzählungen mit allwissenden Erzählern, und damit auch das Ende jeder Art von Avantgardismus in der Kunst. Gehlen argumentierte schon 1950, dass ‘eine friedliche Koexistenz aller möglichen Stile bevorzustehen [schien]’.53 Wenn ein Autor in der Posthistoire schreibt, dann sind alle Schreibformen und kultur-ästhetische Theorien verwertbar, die dieser Diagnose eines entropischen Zustandes entsprungen sind: Nicht nur die Geschichte, sondern auch die Literaturgeschichte ist zum Stillstand gekommen. Die sich eindeutig bietenden Vergleiche mit Arno Schmidt sind sicherlich nicht nur auf das Formale begrenzt, aber ich glaube, man kann Jirgls Schreiben gut in eine Art Literaturgeschichte einordnen, wenn man ihn mit einem anderen Autor vergleicht, dessen ästhetischer Radikalismus seinerzeit zu einer Abseitsstellung im Literaturbetrieb der Bundesrepublik führte. In ihrer Rezension zu Abschied von den Feinden hat Iris Radisch behauptet, dass es ‘solche rattenschwarzen Abbauromane [...] in den sogenannten Aufbaujahren der Bundesrepublik nicht gegeben [hatte]’.54 Diese Beobachtung zeigt aber allzu klar die noch anhaltende Abseitsstellung im Literaturbetrieb von Wolfgang Koeppen. 1953 veröffentlichte Wolfgang Koeppen Das Treibhaus, einen Roman, der einerseits eine bitterböse Abrechnung mit dem verfehlten Aufbau der jungen Bundesrepublik beinhaltete, andererseits aber eine angebliche melancholische Absage an das Romanschreiben und den modernen Individualisten darstellte. Am Ende des Romans erlebt der MdB, Intellektuelle und dilettantische Literat Keetenheuve alptraumhafte Halluzinationen in den Ruinen der neuen Hauptstadt, bevor er dann in den Rhein springt. Die Resonanzen zwischen Koeppens Antiroman und Reinhard Jirgls Hundsnächte sind vielfältig, aber es geht hier keineswegs um einen direkten Vergleich oder gar um eine Frage der Beinflussung.55 Vielmehr interessieren mich hier die Einsichten, die Koeppens Situation 1953 anbietet: In seiner Abrechnung mit der Moderne, sowohl der industriellen als auch der literarischen, verfährt er ähnlich wie Jirgl, der sich mit dem verfehlten Aufbau der jüngsten Bundesrepublik und mit der Entwicklung der Moderne in den 90ern auseinander setzt.
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Koeppen hat man aber lange Zeit neben Autoren wie Grass und Böll gestellt. Sein Roman hat man als bloßen politischen Schlüsselroman der Bonner Welt gelesen. Jenseits der Schilderung der politischen Geschehnisse in Bonn liefert der Text aber auch eine bittere Kritik des modernen Fortschritts, die der deutlichen Beinflussung von der Frankfurter Schule, vor allem Benjamin, aber auch Adorno und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) dankt, und die in ein pessimistisches Geschichtsbild mündet, das dann als mythologisierend kritisiert wurde.56 Erst in den 80ern, geschult an der französischen Literaturtheorie, begannen Kritiker wie Martin Hielscher und Hans-Ulrich Treichel damit, die formalen Komplexitäten des Textes zu würdigen. Das Treibhaus kann am besten als die traumhaften inneren Monologe einer einzelnen Figur, des Mdb Keetenheuve, gelesen werden. Der Text des Treibhaus selbst ist wie bei allen Nachkriegsromanen Koeppens eine Verflechtung unzähliger Zitate aus der Moderne (Kafka, Mann, Benn, Benjamin usw.), so dass man fast davon ausgehen muss, dass alles Zitat sei: Hielscher argumentiert sogar, dass ‘der Romanschluß […] nicht weniger als vier Zitate kolporiert’: ‘die Welt selbst ist in eine Flut des Imaginären getaucht’.57 Koeppen passte nicht in seine Zeit, da er älter als Böll, Grass und Walser war, nie richtig der Gruppe 47 angehörte, und vor allem, weil er die Erfahrungen der literarischen Moderne der 20er, vor allem Joyce und Proust, nicht vergessen wollte. Nach Hielscher zitiert Koeppen ‘die literarische Moderne als Inventar eines Bewußtseins herbei: [...] seine Helden sind [...] Figuren, die die gesellschaftliche Ausgrenzung ästhetischer Wahrnehmungspotentiale repräsentieren’.58 Jirgls Protagonisten sind sicher keine Helden, aber sie teilen diese gesellschaftliche Ausgrenzung. Koeppen scheint mir daher eine nützliche Figur, wenn man Jirgls Schreiben in die literarischen Konstellationen der 90er Jahre einordnen will. Beide schreiben eine Literatur der radikalen Form und der radikalen Absage, die ohne Wirkung bleiben muss, obwohl sie beim Erscheinen von der Literaturkritik begrüßt wird. Dieter Kafitz hat Koeppen einen ästhetischen Radikalismus bescheinigt, der auch auf das Schreiben Reinhard Jirgls zutrifft.59 Die Diagnose des technischen Zeitalters bleibt dieselbe, auch in der Supermoderne des technischen Zeitalters, ebenso die literarische Antwort auf die Diagnose. Eine solche Beschreibung führt zurück zu der Frage des Paradoxen an Jirgls Position. Man entnimmt seinem Schreiben, dass es nur scheinbar Individuen in der
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Gesellschaft gibt, dass er aber als individueller Autor fungiert, der gegen diese Gesellschaft schreibt. Jirgl hält wie Koeppen an der Bedeutung des literarischen Wortes im Medienzeitalter fest. Nach Kafitz ist das Außenseitertum Koeppens, das sich in seinen Protagonisten ausdrückt, als funktionale Position zu verstehen. In der Posthistoire, die auch Koeppens Geschichtsbild bestimmt, ist nach Gehlen der Dichter Statthalter der Kultur in einer institutionalisierten Gesellschaft.60 Jirgls Intervention findet auf dem gedruckten Blatt statt; er ist dann eher Statthalter eines reflektierten Umgangs mit Sprache als irgendeines veralteten Kulturbegriffs, obwohl die Diagnose der Massenkultur in seinen Texten den Verdacht eines solchen nahelegen könnte. Diese Kunst der radikalen Negation bleibt in der Negation gefangen: Ob solche Literatur auch ‘das epistemische System der Kultur’ verwandeln kann, ist nach Titzmann ‘funktional von dem Zustand des gegenwärtigen epistemischen Systems abhängig’.61 Das dominante Kultursystem ist wohl das des ehemaligen Westdeutschlands und der Blick auf die Ruine ist zum Beispiel dann eher ein heiterer, wenn man dem westdeutschen Medientheoretiker Norbert Bolz folgt, der das Ende der philosophischen Moderne (und damit der Geschichte) nach dem Ende des Kalten Kriegs freudig begrüßt: Die Idee der Postmoderne ist eine ästhetische Aufheiterung über der Landschaft der westlichen Welt nach dem Ende der Geschichte im emphatischen Sinn. Sie nimmt nämlich nicht nur Abschied vom Avantgardismuszwang der Moderne, sondern leistet zugleich eine ästhetische Umwertung der bedrückenden Diagnosen, die Soziologen und Anthropologen unter den Titel Posthistoire gestellt haben. Die entropische, also von Natur überformte Geschichte zeigt eine neue Schönheit: als Ruine.62
In diesem Sinne ist das Schreiben Reinhard Jirgls keine ästhetische Umwertung der Posthistoire, sondern die ästhetische Inszenierung ihrer bedrückenden Diagnose. Wenn er damit ein Außenseiter im Literaturbetrieb der (neuen) BRD bleiben würde, und damit das Schicksal Wolfgang Koeppens teilen würde, wäre das wohl als systematisch zu sehen.
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Anmerkungen 1
Erk Grimm, ‘Alptraum Berlin: Zu den Romanen Reinhard Jirgls,’ Monatshefte für Deutschen Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur, 86 (1994), 2, S. 186-200 (hier: S. 192).
2
Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 196.
3
Grimm bemerkt z.B., dass die literarische Darstellung die Diagnosen der Moderne bei Jünger usw. relativiert. Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 196. 4
Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 192.
5
Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 191.
6
Vgl. Norbert Miller, ‘Schattenlinie: Stichworte zu den Romanen von Reinhard Jirgl,’ Sprache im technischen Zeitalter, 36 (1998), 148, S. 446-450 (hier: 447).
7
Grimm bemerkt, dass ‘das private Medium Schrift [...] die brutalen, hetzenden Bildreize der [...] Metropole [verlangsamt und transformiert]’. Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 196.
8
Vgl. dazu Reinhard Jirgl, ‘Die wilde und gezähmte Schrift: Eine Arbeitsübersicht,’ Literatur im technischen Zeitalter, 42 (2004), 171, S. 296-320 (hier: S. 297): ‘allerdings ist dieser Mensch lediglich eine Durchgangsstation für die Wörter und Zeichen, deren Bestand [...] ein [...] allgemeineres, typisches Gut für die Sinnstiftung einer menschlichen Gesellschaft darstellt’.
9
Z.B. Christine Cosentino, ‘Ostdeutsche Autoren Mitte der Neunziger Jahre: Volker Braun, Brigitte Burmeister und Reinhard Jirgl,’ The Germanic Review, 71 (1996), 3, S. 177-194. 10
Vgl. Grimm, der auf die einzigartige Verbindung von Klassischer Moderne und Foucaults Analyse historischer Machtdispositive hinweist, aber auch erkennt, dass z.B. Spenglers Prognose ‘obsolet’ geworden sei, und dass Jirgl Zeichen aus dem Jüngerschen System durch das Medium Schrift relativiere. Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 196.
11
Richard Sheppard, ‘Introduction’, in: ders., Hg., New Ways in Germanistik, Berg: New York, 1990, S. 5. Siehe auch im selben Band Michael Titzmann, ‘Towards a Systematic Outline of an Integrative Theory of Literary History,’ S. 58-69.
172
Simon Ward
12
Hannes Böhringer, ‘Die Ruine in der Posthistoire,’ Merkur, 36 (1982), 4, S. 367-375 (hier: S. 368).
13
Böhringer, ‘Die Ruine,’ S. 369.
14
Vgl. Peter Krapp, ‘Posthistoire in Ruins: Heiner Müller’s Hydrapoetics,’ in: ders., Déjà vu: Aberrations of Cultural Memory, University of Minnesota Press: Minneapolis, 2004, S. 53-70. Zur Kritik des Posthistoire-Begriffs bei Müller (und seinen Kritikern) siehe David Barnett, ‘Heiner Müller as the End of Brechtian Dramaturgy: Müller on Brecht in Two Lesser-known Fragments,’ Theatre Research International, 27 (2002), 1, S. 49-57. 15
Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 19711989, Links: Berlin, 1998, S. 20.
16
Hartmut Böhme, ‘Die Ästhetik der Ruinen,’ in: Christoph Wulf und Dietmar Kamper, Hg., Logik und Leidenschaft: Erträge Historischer Anthropologie, Reimer: Berlin, 2002, S. 706-718.
17
Hermann Bühlbäcker, Konstruktive Zerstörungen: Ruinendarstellungen in der Literatur zwischen 1774 und 1832, Aisthesis: Bielefeld, 1999, S. 14-15.
18
‘Eine leerstehende Wohnung dunkel. So beginnt ein Haus zu sterben. Lampen auf der Toreinfahrt. Grelles Blau vor dunkler Stadt. KVP. Auferstanden aus Ruinen’ (MVR 299).
19
Vgl. David Clarke, ‘“Störstellen”: Architecture in the Work of Reinhard Jirgl,’ in: Frank Finlay et al., Hg., Interactions: Contemporary German-Language Literature’s Dialogue with the Arts, erscheint 2006. Clarke befasst sich nicht mit der Darstellung der Ruine selber, sondern eher mit der Bedeutung des Gitterlochmotivs im Roman und mit anderen Bruchstellen als Orten der Möglichkeit in Hundsnächte.
20
Die Kategorien ‘abstrakter Raum’ und ‘absoluter Raum’ sind Henri Lefebvres Analyse der Produktion des Raums entnommen. Dazu Henri Lefebvre, The Production of Space, übersetzt von Donald Nicholson-Smith, Blackwell: Oxford, 1991.
21
Somit folgt diese Beschreibung der Darstellung des Ruinenorts in Abschied von den Feinden: ‘Und am Wegrand alsbald gebeulte & zerschlagene Autowracks, Überreste wie seltsame Skelette, langsam versinkend unter hohem Schilfrohr & Gebüsch; eine Natur, die die toten Maschinen sich wieder einverleibt’ (AF 262). So der allgemeine Ton der vielen Ruinenbeschreibungen gegen Ende von Abschied von den Feinden (vgl. AF 222, 262, 272, 282, 296, 317). Eine detaillierte Diskussion aller Ruinenbeschreibungen in beiden Romanen ließe kaum Platz, um eine Argumentation aufzubauen. Der Zustand der Ruinen
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173
in Abschied von den Feinden entspricht gerade dem Zeitraum zwischen dem Ende der DDR und dem Eingreifen der neuen Ordnung. Ein Zwischenzeitraum der Möglichkeiten vielleicht, den man auch im Schicksal real existierender wenn auch im Ruinenzustand befindender Gebäude wie Tacheles im Osten Berlins entdeckt. Dazu Janet Stewart, ‘The Kunsthaus Tacheles: the Berlin Architecture Debate in Micro-historical Context,’ in: Stuart Taberner und Frank Finlay, Hg., Recasting German Identity: Culture, Politics, and Literature in the Berlin Republic, Camden House: Woodbridge, 2002, S. 51-66. 22
Werner Jung, ‘“Material muss gekühlt werden” [Gespräch mit Reinhard Jirgl],’ neue deutsche literatur, 46 (1998), 3, S. 56-70. Vgl. dazu die Beschreibungen der oben erwähnten Autowracks in Abschied von den Feinden, die ‘Zeugen von Wunschobjekten einer merkwürkigen Vergangenheit’ sind, ‘deren soziales Gewicht Menschengruppen zusammenpresste’ (AF 263).
23
Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 192.
24
Der Begriff ‘Supermodern’ ist hier Marc Augé entlehnt, der eine Anthropologie einer beschleunigten Modernität vorstellt, die in den beschleunigten Abbautätigkeiten der Fremdenlegion symbolisiert wird. Vgl. Marc Augé, Non-Places: Introduction to an Anthropology of Supermodernity, übersetzt von John Howe, Verso: London, 1995.
25
Zu dem ‘disruptive potential’ von Eules Arbeiten, und denen vom Düsseldorfer Künstler Till Hohn, auf die sie sich beziehen, siehe Clarke, ‘“Störstellen”’.
26
Vgl. Clarke, ‘die Wüste’ betreffend: ‘The novel [...] appears to define itself in terms of the project of discovering a refuge outside of society, rather than in terms of attempting to transform that society’.
27
Böhringer, ‘Die Ruine,’ S. 368.
28
Clarke argumentiert, dass ‘the example of the ruin in this former borderland equally demonstrates the fragility of such spaces, given that the novel ends with the destruction of the building by the demolition workers of the “Fremdenlegion” as agents of the “Masse”’. Sie sind aber meines Erachtens eher Vollstrecker der Supermoderne.
29
Vgl. Hierzu das Bewusstsein der Mutter der Brüder in Abschied von den Feinden: Und dann die Geburt der beiden Kinder : Da hat sie sicher geglaubt !Nun ist Alles gut !Nun wird alles seinen Gang gehen Seinen sozialistischen Gang der [...] in unser=aller Vorstellung so etwas wir [sic!] ein Uhrwerk ein Perpetuum mobile
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Simon Ward
gewesen ist Und wenn das I Mal aufgezogen war dann gab es kein Halten mehr keinen Stillstand auf dem Weg der vorgezeichnet lag [...]. (AF 239) 30
Jung, ‘“Material muss gekühlt werden,”’ S. 68-69.
31
Hans Magnus Enzensberger, ‘Eine Theorie des Tourismus,’ Merkur, 12 (1958), 8, S. 701-720.
32
Enzensberger, ‘Eine Theorie,’ S. 720.
33
Siehe z.B. Christoph Hennig, Reiselust: Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1999. 34
Simon Ward, ‘“Zugzwang” oder “Stillstand”? – Trains in the Post-1989 Fiction of Brigitte Struyzk, Reinhard Jirgl and Wolfgang Hilbig,’ in: Taberner und Finlay, Hg., Recasting German Identity, S. 173-189.
35
Zygmunt Baumann, Modernity and the Holocaust, Polity: Cambridge, 1999; Enzensberger, ‘Eine Theorie,’ S. 713. 36
Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 196.
37
Reinhard Jirgl, ‘Stadt ohne Eigenschaften. Berlin ist auf dem Weg, der erste Ort der Simulation zu sein,’ Frankfurter Rundschau, 18. März 2000, S. 3.
38
Z.B: ‘Indes für Hanna blieb nur Eines wichtig: Dienstbeginn Morgen 7 Uhr, Reichsbahn Hauptverwaltung, Lohnbüro’ (U 91).
39
Augé, Non-places, S. 99.
40
Böhringer, ‘Die Ruine,’ S. 371.
41
Böhringer, ‘Die Ruine,’ S. 373.
42
Bei Böhringer wird die Verwüstung eher metaphorisch als geographisch verwendet. Nietzsche spricht dieses Problem in Zur Genealogie der Moral an. ‘Die Wüste übrigens, von welcher ich eben sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten Geister zurückziehn und vereinsamen – o wie anders sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine Wüste träumen! – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, diese Gebildeten’. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. von
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Giorgio Colli und Massimo Montinari, Band VI.II, De Gruyter: Berlin, 1972, S. 257-430 (hier: S. 370-371). 43
In Hundsnächte wird Berlin leitmotivisch als ‘steinern’ beschrieben, bei dessen Auflösung das Ergebnis Sand wäre. Man könnte zu dieser Interpretation auch eine Lesart vom ‘Feisten’ als Nomaden hinzufügen. Der Nomade nach Böhringer ist Sammler und Jäger; Der ‘Feiste’ sieht sich als ‘Kopf-Jäger und Lumpen-Sammler’ (H 388). Für ihn zutreffend ist Böhringers Beschreibung des Nomaden als jemand, der sich selbst aufs Äußerste seiner Umwelt anpasst. Ironisch, dass die Anpassung des Nomaden hier den Immobilienbereich, d.h das Wohnen betrifft. Zur Gefahr des Weiterdichtens eines Motivs vgl. Grimms allerdings zutreffende Analyse von den Bewohnern Ostberlins, die ‘richtunglose Nomade[n]’ geworden sind, wobei diese Metapher Spengler, nicht Jirgl entnommen wird. Grimm, ‘Alptraum Berlin,’ S. 193.
44
‘[A]uch diese Wüste wächst’ kommt auch als Beschreibung des sich dehnenden Ruinengeländes in Abschied von den Feinden vor (AF 272), was zum Bild einer sich fortsetzenden Naturgeschichte passt. Zum Nietzsche-Zitat siehe Diskussion unten.
45
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Band VI.I, S. 381.
46
Der Begriff ‘Material’ wird oft von Heiner Müller eingesetzt, wird aber auch von Jirgl im Gespräch mit Jung verwendet: ‘Material [...] bedeutet, daß es von irgendwoher kommen, schon Fundmaterial sein muß, meinetwegen von außen’. Jung, ‘“Material muss gekühlt werden,”’ S. 67. In Hundsnächte wird Nietzsche einmal fast beim Namen genannt: ‘?Ob er wohl ?!daran gedacht hat, als er vom Übermenschen träumte, der Nie –’ (H 426). Bilder aus seinen Texten erscheinen häufig, wie z.B. Wüste, Übermensch.
47
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Band III.I, S. 52. 48
Thomas Mann, Der Tod in Venedig, in: ders., Gesammelte Werke in 13 Bänden, Band 8, S. 516. 49
Es sind die auf Dionysos anspielenden Figuren, die dieses Grimassieren teilen. Vgl. Mann, Der Tod in Venedig, S. 446 und 508. Es bleibt aber schwierig, dieses leitmotivische Grimassieren in Hundsnächte in einen verbindlichen Kontext zu bringen. Bei Mann fungiert das Grimassieren der Figuren als projizierte Botschaft von Aschenbachs kommendem Tod. Das Grimassieren in Hundsnächte könnte als ein Zeichen einer vom Tod durchtränkten Welt gelesen werden. Richard Sheppard hat gezeigt, dass man im Vergleich der dionysischen Motive in Tonio Kröger und Der Tod in Venedig auch eine
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Simon Ward
historische Entwicklung dieser anscheinend zeitlosen Kategorien aufzeigen kann, die dann auch in eine Geschichte der Moderne vor 1914 gut eingefügt werden kann. Sheppard, ‘Tonio Kröger and Der Tod in Venedig: from Bourgeois Realism to Visionary Modernism,’ Oxford German Studies, 18/19 (1989-90), S. 92-108. 50
Vgl. dazu Reinhard Jirgl, ‘Das Verlöschen des Helden: Nach Berlin Alexanderplatz,’ Akzente. Zeitschrift für Literatur, 42 (1995), 4, S. 332-341. 51
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Band III.I, S. 61. 52
Michel Foucault, The Order of Things: Archaeology of the Human Sciences, Tavistock Publications: London, 1974, S. 387.
53
Zitiert nach Böhringer, ‘Die Ruine,’ S. 370.
54
Iris Radisch, ‘Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sterben sie noch heute. Ein literarisches Ereignis. Reinhard Jirgls Roman Abschied von den Feinden, ein deutschdeutsches Dokument,’ Die Zeit, 7. April 1995.
55
Zur Ruine bei Koeppen, die sowohl Ort der Imagination als auch Zeichen einer zerstörten Kultur ist, siehe Simon Ward, Negotating Positions: Literature, Identity and Social Critique in the Works of Wolfgang Koeppen, Rodopi: Amsterdam, 2001, S. 121159. Zur Eisenbahn und Gesellschaft bei Koeppen (u.a.), siehe Simon Ward, ‘The Passenger as Flaneur?: Railway Networks in German-language Fiction since 1945,’ Modern Language Review, 100 (2005), 2, S. 412-428. Was Jirgl und Koeppen gemeinsam haben, ist, dass trotz – oder vielleicht gerade wegen – der komplexen formalen Strategien ihres Schreibens beiden einen Grundton bescheinigt wird, der dem Autor zugeschrieben wird. 56
Zur Kritik der Moderne vgl. Erhard Schütz, ‘Der Dilettant in der geschriebenen Geschichte: Was an Wolfgang Koeppens Roman Das Treibhaus modern ist,’ in: Eckart Oehlenschläger, Hg., Wolfgang Koeppen, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1987, S. 275-288. Zur Mythologisierung vgl. Klaus Haberkamm, ‘“Bienenstock des Teufels” – Zum naturhaft-mythischen Geschichts- und Gesellschaftsbild in den Nachkriegsromanen,’ in: Hans Wagener, Hg., Zeitkritische Romane des 20. Jahrhunderts: Die Gesellschaft in der Kritik der deutschen Literatur, Reclam: Stuttgart, 1975, S. 241-275 57
Martin Hielscher, Wolfgang Koeppen, Beck: München, 1988, S. 127-128.
58
Hielscher, Wolfgang Koeppen, S. 220.
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59
Dieter Kafitz, ‘Ästhetischer Radikalismus: Zur Kunstauffassung Wolfgang Koeppens,’ in: Eckart Oehlenschläger, Hg., Wolfgang Koeppen, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1987, S. 75-88.
60
Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter: Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Rowohlt: Hamburg, 1957, S. 114-118. Eine solche Selbststilisierung ist schon bei Koeppen zu lesen, insbesondere in seiner Büchner-PreisRede. Eine ähnliche Stilisierung sieht man auch bei den Erzählfiguren von W.G. Sebald, dessen Schreiben auch einer düsteren posthistorischen Diagnose verpflichtet ist. 61 62
Titzmann, ‘Towards a Systematic Outline,’ S. 66.
Norbert Bolz, ‘Die Moderne als Ruine,’ in: Norbert Bolz und Willem van Reijen, Hg., Ruinen des Denkens: Denken in Ruinen. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1996, S. 7-23 (hier: S. 23).
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Christine Cosentino (Nicht)eingelöste Utopien in der ‘Andernwelt’ USA? Erzählstrategien in Reinhard Jirgls Roman Die atlantische Mauer This chapter examines the utopian dimensions of Reinhard Jirgl’s novel Die atlantische Mauer, which describes the fates of Germans emigrating to the United States of America. Although the text has been perceived by some critics as darkly pessimistic, the author points out that, in the tradition of German authors writing about the USA, Jirgl presents an ambivalent image of America as both a land of possibilities and a land of disappointments. However, the chapter goes on to argue that a careful examination of the symbolism of the novel, particularly its use of colours, numbers and classical myth, points to an open-endedness that does not exclude the possibility of personal liberation and change for the central characters.
Als ‘Pointillismus der Nacht’ (AM 249) begreift ein wahnsinniger Serienmörder die Welt in Reinhard Jirgls Roman Die atlantische Mauer; und um ein für Jirgl typisches Kolossalgemälde des Horrors von tiefstem Dunkel scheint es sich zunächst auch zu handeln. Doch der schwarze Schein trügt, lässt aufgefächerte Perspektiven und Verschiedenheit erkennen. Die vertiefende Symbolik punktartig nebeneinader gesetzter Farben wird in den Bildfügungen der Romansphäre nicht allein von der düsteren Farbe Schwarz beherrscht, sie gestaltet sich vielmehr in einem lockeren In- und Nebeneinander verschiedener Farben, vorrangig der Farbe Rot. Keine einseitigmorbide Schwarzmalerei in diesem Amerika-Roman also, sondern Farben, die getrennt erscheinen, sich wiederholen, sich ineinander spiegeln, sich vermischen. Sie suggerieren unterschiedliche Bewertungsvarianten des Textgebildes, darunter mögliche Wandlung oder Verwandlung in einem deutsch-amerikanischen Tableau mit Potential für private Utopien. Jirgls etabliertes Schriftbild mit seinen mutierten Morphemen und seiner eigenwillig-verschrobenen Typographie untermauert diese Möglichkeit: Es verfremdet Befremdendes, aktiviert Abwehrreflexe und Distanz zu den quälenden Alptraumvisionen und hält den Leser davon ab, so Erk Grimm, ‘sich den Bildern besinnungslos aus[zuliefern]’.1 Ein utopisches Angebot gewinnt Kontur, dessen Einlösbarkeit jedoch offen bleibt. Auf der Folie der Gedanken ‘des Ausschließens und der Hege’, die im Begriff der ‘atlantischen Mauer’ verankert sind, führt Jirgl im ‘Gelobten
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Land’ USA ‘Glückssucher’ vor Augen, die er in einem Gespräch mit Uwe Pralle als ‘neue Emigranten’ bezeichnet, ‘also Leute, die ihr Leben in Deutschland radikal abbrechen und in anderen sozialen Räumen, die schon den Mythos des Erfolges haben, ihr Leben neu zu installieren versuchen’.2 Die Möglichkeit des Glücks scheint in der amerikanischen ‘Andernwelt’ (AM 16) also angelegt, die praktische Verwirklichung jedoch wird durch komplizierte Erzählstrategien und Mythologeme verunschärft, offen gelassen, auch verworfen, und doch immer wieder neu als ‘Wahn’ vor Augen geführt: ‘Hier, in New York, dem Ort an dem jede Fieberphantasie sich verwirklichen läßt’ (AM 431). Jirgl, der als Schriftsteller einen radikal autonomistischen Alleingang geht und eine Ästhetik des extrem Widerwärtigen pflegt, reiht sich somit in seiner Amerika-Rezeption durchaus in eine Tradition ein, die aus einem Gemisch ironisierter, scharf kritisierter, aber auch vom Faszinosum umgebener Allgemeinplätze schöpft. Letztere Traditionsverbundenheit um die Jahrtausendwende, die im Amerika-Erlebnis bei allen Vorbehalten ungeheuer Attraktives aufspürt, mag überraschen, denn im politischen Vorfeld oder Umfeld der Irak-Krise droht das Amerika-Image der Deutschen, das durch die Jahrhunderte hindurch ein widersprüchliches war, brüchiger als je zuvor zu werden. Ressentiment, Verunsicherung, Unverständnis und Ärger der politisch engagierten Intelligenz in der Periode des transatlantischen Konflikts – wo die Literatur diese Emotionen bereits spiegelt – lassen sich in einem Bonmot des jungen Schriftstellers Jakob Hein komprimieren: ‘Gutes Amerika, böse USA’.3 Das korrespondiert mit der ausgewogenen Meinung des zwischen den Kontinenten pendelnden Autors Peter Schneider, der in einer Auseinandersetzung mit dem Machtanspruch und der Arroganz der Bush-Regierung von ‘intelligentem Antiamerikanismus’ spricht.4 Jirgls Amerika-Perzeption, die er im Schreibprozess der neunziger Jahre artikuliert, ist im Roman Die atlantische Mauer der aktuellen Konfliktsituation enthoben; Amerika ist, im Gegenteil, eine zeitunabhängige Projektionsfläche, ein spekulativer Aktionsraum, der – jenseits politischer US-Diskurse – nur mit Jirgls eigener Ästhetik und den Lebensentwürfen der fiktiven Charaktere beschäftigt ist. Den Autor interessiert die ‘Wahnidee des Wunsches, das Glücksideal […] in dieser schillernden, sehr kompakten Form Amerika’.5 Aus welchem traditionellen Fundus der Allgemeinplätze schöpft Jirgl? Nur kursorisch sei darauf eingegangen.
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Das Amerikabild der Deutschen war und ist bis in die letzte Zeit ein ambivalentes, hängt weitgehend von der politischen Couleur eines Autors und von geschichtlichen Situationen ab. Franz Kafka, Bertolt Brecht, Thomas Mann, die Exilanten während der Nazizeit, Max Frisch, Uwe Johnson oder Hans Magnus Enzensberger haben sich – um nur einige repräsentative Namen zu nennen – an den krassen Widersprüchen der Neuen Welt gerieben, wundgerieben oder auch aufgerieben. In den neunziger Jahren vermeinte der Historiker Dan Diner in seinem polemischen rückblickenden Essay America in the Eyes of the Germans verallgemeinernd einen in der deutschen Romantik verwurzelten, weitverbreiteten Antiamerikanismus zu erkennen.6 Diese feindselige Haltung sieht er in der von deutscher Intelligenz zutiefst missverstandenen Technisierung und Modernisierung der Supermacht verwurzelt, die zu weitverbreiteten Vorurteilen der Deutschen über grassierenden Materialismus und damit verbundene Kulturlosigkeit in den USA führten. Dem ist nur bedingt zuzustimmen, denn parallel dazu zeichnet sich ein völlig anderer Trend ab, der sich seit den frühen Tagen der Einwanderer durch die Literatur zieht. Hier fungiert Amerika als Topos für die erhoffte Verwirklichung neuer Lebensentwürfe, für Selbstfindung, Rekonstruktion der eigenen Identität, für Befreiung. Die Weite des amerikanischen Kontinents bzw. der ‘Mythos Manhattan’ wirkte auf den Europäer durch die Jahrhunderte hindurch überwältigend, suggerierte einen utopischen Bereich unbegrenzter Möglichkeiten im ‘Promised Land’, in einem Paradies der Freiheit, von dem sich längst herausgestellt hatte, dass – so Jack Zipes – ‘die Freiheit Handschellen trägt im Land der Freiheit’.7 Ein breitangelegtes Spektrum von stereotypen Hoffnungen verband sich mit der Neuen Welt: Ausbruch, Flucht, Neuanfang, Abenteuer, das Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit, Dynamik, Begeisterung für den Pragmatismus der Amerikaner, die ethnische und kulturelle Vielfalt, das Polysoziale, das Wissen, dass man es auch ohne Privilegien, soziale Beziehungen oder Kungelei zu etwas bringen kann. Daneben kristallisierte sich jedoch deutlich Abstoßendes und Beängstigendes heraus: die extremen sozialen Gegensätze, Glamour und Abgrund, der Verlust sozialer Sicherheiten, die Isolation, kurz, Amerika als Hort des Imperialismus. Immer wieder jedoch dominierte die Vorstellung, dass Amerika der Boden für eine Neuprofilierung, für die Korrektur eines eigenen beschädigten Weltbildes sei. Angela Krauß’ Heldin aus der Erzählung Milliarden neuer
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Sterne (1999) fing dieses Wunschbild in der griffigen Formel ‘Change the game!’ ein.8 Aus diesem Zwiespalt von Faszinosum und Abwehr gestalteten um die Jahrtausendwende – völlig unabhängig vom politischen Klima – etwa folgende deutsche Autoren ihr Amerikaerlebnis: Ingo Schulze, Mister Neitherkorn und das Schicksal (2002) und Simple Storys (1998), Judith Hermann, Sommerhaus, später (1998) und Nichts als Gespenster (2003), Bernhard Schlink, Die Beschneidung (2002), Jakob Hein, Formen menschlichen Zusammenlebens (2003) oder Bernd Wagner, Wie ich nach Chihuahua kam. Eine amerikanische Reise (2003). Auch Reinhard Jirgl reiht sich in diese Tradition ein, spricht von der ‘ungeheuren Attraktivität’,9 die Amerika besitze und wartet in der Romanhandlung von Die atlantische Mauer mit seinem eigenen Spektrum von Zuneigung und Abneigung auf. Das wichtigste Momentum in seiner Amerikaperzeption ist jedoch die anvisierte und hinterfragte Glücksvorstellung einer seiner ‘neuen Emigranten’, primär einer Krankenschwester, deren ‘neu gewonnenes Ich aus der 1. Stunde in New York’ (AM 52) sich in dem Statement niederschlägt: ‘Hier & Jetzt bin ich !Wirklich’ (AM 141). Ein kurzer Blick sei auf den Inhalt der Atlantischen Mauer geworfen. Im Mittelpunkt des äußerst komplexen Romans stehen zwei Familien, deren Beziehungen auf der Folie der Einreise in die USA, also des Durchbrechens der ‘atlantischen Mauer’, mosaikartig ineinander verästelt sind. Die einzelnen Personen haben zunächst wenig miteinander zu tun, sie treffen sich, gehen auseinander, dann wieder ineinander über. Dominierend in der Handlung ist eine Dresdner Krankenschwester ‘mit roten Haaren’, die einen Schauspieler heiratet, der dem Wahnsinn verfällt und zum Serienmörder wird. Nach der Scheidung geht sie eine Liebesbeziehung zu einem erheblich älteren Oberarzt ein, zu dem sie sich bekennt. Der Versuch, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien und in den USA als Galeristin Fuß zu fassen, scheitert bereits bei der versuchten Einwanderung auf dem Kennedy Airport, denn die amerikanische Behörde entdeckt in ihrem Gepäck Bewerbungsformulare für illegale Arbeit. Sie wird nach Deutschland zurückbeordert und verbringt die nächsten Wochen bei ihrem Bruder, bei dem sie sich in einer Art Selbsttherapie die ungeheure Last einer gestörten ‘schwarzen’ Biographie von der Seele redet. Im kritischen Reflektieren ihres eigenen selbstzerstörerischen Verhaltens in Ehe und Beruf, im gedanklichen Durchdringen des beschädigten Lebens ihrer Familie, werden die für Jirgl typischen Exponenten der ‘Wiederkehr des
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immer Gleichen’ von Gewalt, Macht und Strafen sichtbar. Ein deutsches Psychogramm offenbart sich, das Helmut Böttiger auf die gültige Formel bringt: ‘Jirgls Hölle ist die bürgerliche Familie’.10 Der kathartische Redeschwall der Krankenschwester gibt Einblick in die kaputte Ehe der Eltern, in das Leben des vor sich hin vegetierenden Vaters und in die lesbische Beziehung ihrer Mutter zu einer westdeutschen Ärztin, die innerhalb dieses Familiengeflechtes wohl die grauenvollste Biographie unerträglichster psychischer und physischer Misshandlungen aufzuweisen hat. In der Selbstkonfrontation der Krankenschwester manifestiert sich ein ungemein starker Wille nach Befreiung aus ihrem Milieu und ein sich im Redefluss stärkendes Selbstvertrauen, dass ihr diese Befreiung gelingen wird; es findet eine Umpolung negativer Energien in positive statt, die sich in dem festen Entschluss zu einem neuen Anlauf in die USA erhärtet: All-!diese Muster für Scheitern […] die mir von den-Alten & und von deren Trieben Wünschen speichelsprühenden Schreiereien & Agonien geblieben waren, die ich in=mir habe & die mir bleiben […] !Das werde ich=für=mich: !Jetzt !ändern. (AM 170)
Der Boden für dieses Wunschbild ist Amerika: ‘diese[r] Ort der Erde - New York [wo] für diese Frau seit jeher eine Art Lebens-Form wie eine passgerechte Rüstung bereit[liegt]’(AM 407). Parallel zu diesem ‘Mauerdurchbruch’ der Frau läuft eine andere Emigrationsgeschichte: Ein sechzigjähriger Schriftsteller wandert ebenfalls in die USA aus. Er geht zu seinem in der Nähe von New York lebenden Sohn, der dort mit einer Amerikanerin, Helen, verheiratet ist. Im Flugzeug sitzt er neben der Krankenschwester, die ihm mit erneutem Redebedürfnis ihre Biographie erzählt und ihn in ihre künstlerischen Pläne in New York einweiht. Sie gibt ihm ihre Telefonnummer und verspricht, Kontakt zu halten. Auf dem Flugplatz, kurz vor der Einreise, verliert er sie aus den Augen. Später, bei seinem Sohn, berichtet er in schwarzer Sturmnacht während eines Gewitters über dieses Erlebnis. Dazu gesellt sich ein anderer Erzählstrang, die Entfremdung von Vater und Sohn und deren eigene Familienprobleme von Intrigen und Lügen. In eigenartiger Überschneidung mit dem Schicksal der Krankenschwester, die auf Selbstbefreiung und Neuprofilierung insistiert, gestaltet sich die Geschichte der gescheiterten Ehe des Sohnes. Auch Helen, seine Frau, die der Krankenschwester erstaunlich
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gleicht, gibt ihrem Leben eine Wende, emanzipiert sich von ihrem Mann und verlässt ihn, um neue Berufspläne und ein neues Selbst in der New Yorker Kunstszene zu verwirklichen. Später kommt sie bei einem Autounfall um, während der Schriftsteller an ihrem Todestag eine gedruckte Einladung zur Eröffnung einer Galerie von der Krankenschwester erhält. An dieser Stelle sei die Frage eines Rezensenten wiederholt, die in der Kritik fast ausschließlich negativ beantwortet wurde: ‘Hat vielleicht doch jemand den Teufelskreis ewigen Scheiterns durchbrochen?’11 Handelt es sich in diesem Roman, wie ein anderer Kritiker resümiert, tatsächlich um ‘die exemplarische Katastrophengeschichte einer deutschen Familie’,12 oder ergeben sich Zweifel? Die optimistischen Signale, wo sie aufblitzen, manifestieren sich im Erzählstrom der Krankenschwester, der zunächst völlig aus den Abgründen ihrer eigenen Psyche und der Familienspsyche zu schöpfen scheint. In diesem Sinne sind die Figuren dem mit Jirgls Gesamtwerk vertrauten Leser leicht erkennbar: In ihnen werden Spuren von Hass, Ekel und Sadismus sichtbar gemacht, die Jirgl als Folge deutscher Gewalt- und Diktaturgeschichte begreift. In einem Gespräch von 1998 erklärt der Autor sein genealogisches Konzept: ‘Es ist bis heute mein Prinzip geblieben, dass ich versuche, wie ein Bohrer durch die Schichten einer Persönlickeit hindurchzugehen und zu sehen, was sich da abgelagert hat’.13 Arne De Winde verweist in seiner Untersuchung der verborgenen Macht- und Gewaltstrukturen in den Jirglschen Figuren auf den analytischen Apparat, den der Autor in Foucaults ‘kleiner Werkzeugkiste’ vorfand und sich zunutze macht.14 Die Erzählstrategien im Roman jedoch, die literarischen, parabolischen und mythologischen Anspielungen sowie eine leitmotivisch durchgespielte Zahlen- und Farbsymbolik evozieren einen Spekulationsraum, in dem sich entscheidet, ob oder inwieweit es einer Figur gelingen kann, abgelagertes Destruktives ‘umwendend’ (AM 177) für eine positive IchRekonstruktion wirksam zu machen. Wie projiziert Jirgl den amerikanischen Spielraum, auf dem eine geglückte ‘Umwertung’ stattfinden könnte? Er tut es, indem er zunächst auf gängige Klischees zurückgreift. Zwar registriert der sich neuprofilierende Glückssuchende durchaus die sozialen Schattenseiten der Gesellschaft, den grassierenden Materialismus und Besitzanspruch – ‘PRIVATE PROPERTY […] unsichtbare Schranken oder Stacheldraht’ (AM 302) –, doch der Glaube an das Befreiende, das für die Zukunft neue Akzente setzen soll, dominiert.
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‘[S]ehen, staunen, vorübergehen’ (AM 49) ist der erste überwältigende Eindruck der Krankenschwester bei ihrem ersten USA-Besuch. Sehr ähnlich vermittelt sich dem Schriftsteller die amerikanische Landschaft als Topos der Flucht aus der Enge: ‘ein weithin flutendes Land […] Dies Empfinden einer Landschaft für tiefes weites Ausatmen’ (AM 49). Dazu gehört auch die Faszination der Metropole New York, deren Außergewöhnlichkeit Jirgl in der suggestiven, mythisch überhöhten Beschreibung des Grand Central Terminal einfängt. Gekoppelt ist dieses Aus- oder Aufatmen in der Weite des Raums mit dem auf Funktionales orientierten Pragmatismus, der den Amerikanern nachgesagt wird, einem Pragmatismus, der ‘wirklicher als jeder akademisch gesiebte Realismus in Europa ist’ (AM 52). Diese praktische Lebenshaltung der Amerikaner verbindet sich – so die Erfahrung der neuen Emigranten – mit einem Mangel an Ironie: ‘Amerikaner, & das ist ihre Stärke, sind alles !andere als ironisch, am allerwenigstens gegen sich=selbst & ihre Lebens-Art’ (AM 359). Pragmatismus mache das Land zu einem durchaus liberalen Land, allerdings ist ‘Liberalität […] nur durch Bürokratie zu haben’, so die getestete Meinung des Schriftstellersohnes, ‘& die ist, für unsere Begriffe zumindest, hierzulande oftmals recht grobfädig, dafür aber sehr !wirksam gestrickt’ (AM 306). In dem Gespräch mit Uwe Pralle äußert sich Jirgl selbst in ironischer Überspitzung zu diesem Thema: ‘Alle Ideen der letzten zweihundert Jahre, die in Europa geboren wurden und gescheitert sind, kommen in Amerika wieder hoch und funktionieren’.15 Behält man im Auge, dass Jirgl in seinen gewaltsam zugerichteten Biographien das ‘kommunale Ich der Filzlatschen’ (AF 105) aufs Korn nimmt – ‘plump + fragil, zivilisiert + barbarisch’ (AF 11) – so verwundert es kaum, dass die relative Insignifikanz des Spießermiefs in den USA den Autor und seine Figuren fasziniert: Natürlich wie in allen Städten Aufderwelt gibts auch in New York Spießertum […] Nur, dieses Spießertum=hier wird ununterbrochen von wildfreien Energien bis ins Fundament erschüttert -; ein Spießertum, dem von wirbelnden Kräften in dieserSTADT immerfort die Tüllgardine von den seelischen Fenstern weggerissen wird -. (AM 360)
Jirgl stellt den Gedanken geglückter Umwertung privater Erfahrungen in der Neuen Welt in einen offenen Assoziationsbereich, in dem der Interpret selbst entscheiden kann. Dem Leser fallen sofort für Jirgl typische Erzählstrategien
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auf, die man als poststrukturalistisch bezeichnen kann: die Relativierung von Erzählinstanzen, Diskursüberschneidung, die Polyphonie der Stimmen oder das Sprechen einer Person durch eine andere Person, der Verzicht auf narrative Abgeschlossenheit. Parallel dazu ist im Text ein zusätzliches Konstruktionsprinzip erkennbar: ein leitmotivartiges Umkreisen der Zahl Drei, ein gezieltes Einsetzen von Farben, von mythologischen Bezügen und parabelartig formulierten Beobachtungen. Diese Erzählstrategien verdienen Beachtung. Ein markantes, oft aber erst nach zweitem Lesen einer Textstelle erkennbares Stilmerkmal ist das häufige Anspielen auf die Zahl Drei. Nicht nur handelt es sich hier um eine mit einem breiten Spektrum religiöser, mythologischer und folkloristischer Bedeutungen befrachtete Glückszahl, auch der philosophische Hintergrund weist auf Wachstum, Dialektik, Schöpferkraft und vorwärts gerichtete Bewegung, die eine Dualität überwindet.16 Das wohl auffälligste Signal für eine mögliche Synthese liegt in der Dreiteilung des Romans, wobei der erste Teil vorrangig die Leidensgeschichte der Krankenschwester und ihren Aufbruch abhandelt; der aus zwei Abschnitten bestehende Mittelteil den manischen Monolog ihres Ex-Mannes und Irrenhausinsassen wiedergibt und der letzte Teil, in dem alle Erzählstränge wieder zusammenkommen, über die Emigrationsgeschichte des Schriftstellers berichtet. Zusätzlich lässt sich der Synthese-Gedanke einer geglückten Umwertung dem vielschichtigen Titel des dritten Teils entnehmen: ‘Grand Central Terminal. Endstation Selbst-Sucht’. Die literarische Folie des Stückes A Streetcar Named Desire von Tennessee Williams suggeriert hier keine Gemeinsamkeiten oder Parallelen. Handelt es sich in Williams’ Drama in der Geschichte der sensiblen, neurotischen, traditionsbesessenen Alkoholikerin Blanche DuBois um die Flucht in Lebenslügen, um fehlgeleitete Lebensentwürfe und um eine verzweifelte Suche nach Halt, so präsentiert sich Jirgls Figur der Krankenschwester als das genaue Gegenteil: Sie ist aktiv, illusionslos, selbstbewusst, allergisch gegen alles Traditionelle und ohne Bedürfnis nach Halt, und alle ihre Energien sind darauf gerichtet, ein beengendes Lebensumfeld hinter sich zu lassen. ‘Endstation Selbst-Sucht’ scheint auf den ersten Blick auf Egoismus zu weisen, und sicherlich ist ein gutes Maß davon in die Handlung eingegangen. Einleuchtender jedoch ist das von Jirgl geschickt Verpackte, nicht sofort Wahrnehmbare, das man der etymologischen Ursprungsbedeutung des Begriffes ‘Sucht’ entnehmen kann.
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‘Sucht’ wird vom Sprachgefühl gewöhnlich als zu dem Verb ‘suchen’ gehörig empfunden, ist aber hervorgegangen – so kann man im Grimmschen Wörterbuch nachlesen – aus dem Germanischen (ags.) ‘suht’, was ‘Krankheit’ bzw. ‘siechen’ bedeutet.17 Ein ‘sieches’ Ich befindet sich folglich auf amerikanischem Boden auf der Suche nach heilender Selbstfindung oder Neuprofilierung. Damit blenden in diesem dritten Teil des Bandes drei Gedanken ineinander: die von Tennessee Williams suggerierte Sehnsucht, dann Selbst-Sucht als Krankheit und letztlich Selbstfindung als ‘ungestillte[r] Hunger nach Sich=Selbst’ (AM 414). Doch auch andere Dreier-Kombinationen lassen sich entdecken. Es gibt drei männliche Sprecher – den Bruder der Krankenschwester, ihren ExEhemann, den Schriftsteller –, in deren Berichten sich die Einzelschicksale der individuellen Charaktere herauskristallisieren. Diese Handelnden sind vorrangig drei Grenzüberschreitende: die Krankenschwester und der Schriftsteller, die beide in die USA emigrieren, und die aus der Bundesrepublik in die DDR überwechselnde Ärztin und Lebensgefährtin von der Mutter der Krankenschwester. Die Krankenschwester selbst nimmt drei Anläufe bei der Ich-Suche in den USA: Zunächst macht sie mit ihrem Liebhaber begeistert eine Reise nach New York, die zu dem Auswanderungsplan inspiriert, der dann auf dem Kennedy Airport missglückt; letztlich kommt es nach einer dreiwöchigen Wartezeit bei ihrem Bruder in Berlin zu einem erneuten dritten Versuch, der ihr wohl gelingt, denn in einem ‘feuerroten’ Umschlag erhält der Schriftsteller eine Einladung zu einer New Yorker Galerieausstellung, die von drei Künstlern – darunter die Krankenschwester – organisiert wird. Was nun befreiendes Künstlertum und Initiative anbetrifft, so gleicht sie Helen, der Schwiegertochter des Schriftstellers, aufs Haar. Diese wiederum formt mit zwei anderen Künstlerinnen, deren drei vollgestopfte Umhängetaschen bei ihrem Treffen im Grand Central Terminal wiederholt erwähnt werden, ein Trio mit gemeinsamen Interessen. Auf diese Weise wird die Zahl Drei in einen Kontext vorwärtsgerichteter Bewegung eingebettet. Ähnliches kann man dem Material aus dem Farbarsenal ablesen. Es dominieren leitmotivartig die Farben Rot, Schwarz, Violett und Gelb, wobei man ein paralleles Koexistieren von realistisch-attributivem Merkmalswert, stimmungsauslösendem Evokationswert und abstraktem Symbolwert registrieren kann. Wenn auffallend häufig die ‘gefärbten roten Haare’ der Krankenschwester erwähnt werden, so kann es sich hier durchaus um ein
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empirisches Phänomen handeln; gleichzeitig jedoch signalisiert die Farbe in den kritischen Episoden, in denen die Krankenschwester agiert, Haltungen von Aktionsorientiertheit, Dynamik, Eroberungswillen und Energie. Rot – mit den drei Urerfahrungen der Menschheit ‘Blut, Feuer und Liebe’ verbunden – ist ‘die symbolische Farbe des Mutes, der Kraft und des Krieges’.18 Aber mehr noch: ‘Etwas rot zu färben, bedeutet die Erneuerung des Lebens’.19 Es nimmt daher kaum wunder, dass Helen, die sich ebenfalls emanzipierende und ‘erneuernde’ Frau des Schriftstellersohnes, die ein verblüffendes Double der Kranken-schwester ist, in einer entscheidenden Szene ‘vor gluthellem Hintergrund’ erscheint: ‘[D]er neu auffahrende Flammenschein legte sich wie I Schleier um ihre Gestalt, dort, am Rand des kieshellen Weges, u Röte beschien auch Wangen u Stirn’ (AM 442). Einen festen Stellenwert nicht nur im Gesamtwerk Jirgls, sondern auch im Urteil seiner Kritiker hat die Farbe Schwarz, die primär Symbolwert hat. Für die quälenden Alptraum-, Zerrüttungs- und Todesvisionen seines ersten erfolgsgekrönten Romans Abschied von den Feinden prägte die Kritik bereits die Bezeichnung ‘rattenschwarzer Abbau-Roman’.20 Man attestierte Jirgl generell ‘einen schwarzen Blick auf Gegenwart und jüngere Vergangenheit’.21 Für die Atlantische Mauer belegte Helmut Böttiger den ‘Schuttplatz aller Hoffnungen’ in der Handlung mit dem Etikett ‘schwarze Utopie’,22 und Hans Georg Soldat sah ‘das Denken und Fühlen der handelnden […] Personen […] von tiefstem Schwarz’.23 In diesem Sinne entwickelt sich dann auch im dritten Teil des Triptychons aus dem Dialog zwischen dem eingewanderten Schriftsteller und seinem Sohn in finsterer Nacht während eines Gewitters eine Konfrontation, die den seit Jahren angestauten Seelenmüll beider Figuren vehement an die Oberfläche bringt. Im Farbwert Schwarz mischen sich Empirisches, Stimmungselemente und der Symbolwert von etwas hoffnungslos Pessimistischem: ‘[I]ch spürte die zähe Dunkelheit im Hause liegen wie Blei, als hätten die schwarzen Fluten Sturm auch die Zimmer im Haus überschwemmt’ (AM 303). Im Sprechakt der beiden ist jedoch von der energiegeladenen Neuprofilierung der beiden Frauen, Helen und der Krankenschwester, die Rede, denn der Sohn berichtet von seiner zerrütteten Ehe und der Vater von seinem Erlebnis im Flugzeug. In der Handlung selbst kommt es in finsterer Nacht zu einem Brand, denn der Blitz schlägt ein. Unaufdringlich blendet somit die symbolische Komponente der aktionsorientierten Farbe Rot in den Kontext der äußeren Charakteri-
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sierung eines Naturvorgangs – und nicht nur in Bezug auf die beiden Frauen. In auffallender Wiederholung ist von Feuer, Flammen, Glut und Röte die Rede: ‘Der Himmel ist schwarz, ihn gibt es nicht. […] Ich schaute noch immer zu den Hügeln hinüber, dorthin, wo mittlerweile der Glutschimmer langsam ins Tal zurücksank’ (AM 421). Und in der Tat verzeichnen am Schluss der Handlung auch Vater und Sohn – beide vom Desaster der Nacht gebeutelt – bescheidene Erfolge. Der Sohn fasst – selbstständig! – den Entschluss, nach Berlin zurückzugehen, und dem Vater gelingt es nach langer Ruhepause, seinen Roman zu Ende zu schreiben. Weniger symbolisch vertieft sind die Farben Violett und Gelb, die in die Handlung hinein spielen. Im Mittelteil des Romans bezeichnet sich der wahnsinnige Schauspieler und Ex-Ehemann der Krankenschwester in einem Spielfilm, ‘Orfeus’, der auch an Bord des Flugzeugs gezeigt wird, wiederholt als ‘Kerl in Violett’. Hier hat die Farbe wohl weitgehend den attributiven Merkmalswert von Fäulnis und innerer und äußerer Verwüstung, denn die im Film neuinterpretierte Orfeusfigur verreckt in New York wie ein Tier: ‘Seine Gestalt als wäre sie aus dem Morast gezogen in dunklem Violett. Wir starrten in eine Maske aus Schlamm u getrocknetem Blut’ (AM 314). Prüft man den Symbolgehalt dieser Farbe, so wird auf Zwiespältiges oder Kaltes verwiesen, interessanterweise aber auch darauf, dass sich im Begriff Violett eine seltsame sprachliche Nähe zum Gedanken der Gewalt findet: ‘Viola’, lat. ‘Veilchen’ – ‘Violentia’, lat. ‘Gewalt’ – ‘Violence’, engl. ‘Gewalt’.24 In der Tat ist ‘der Kerl in Violett’ auf privater Ebene ein Serienmörder. Die Farbe Gelb erscheint gleich am Anfang des Romans als rein empirisches Moment in einer beobachteten Situation, die wichtige textstrategische Schlüsselelemente enthält. Jirgl selbst äußert sich dazu in seinem Gespräch mit Uwe Pralle: Zunächst war der Generator des ganzen Textgebildes die Szene mit der Spinne gewesen, eine reine Beobachtung, das Schattenspiel des Kampfes einer Fliege mit einer Spinne, was sich in der Tat – wie jetzt am Anfang des Romans – vor einem gelben, sonnenbestrahlten Vorhang abspielt. Ich habe nur gewußt, daß mit dieser Szene irgendetwas passieren muß.25 Auflodernd Sonnengelb, als hätten plötzlich stille Flammen den Vorhang ergriffen. Vor das hohe Fenster gezogen, hat der grobe schwere Stoff bislang dem Warteraum nur karges Licht gelassen, I Patientenlicht gewissermaβen, Rationen aus dem
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Vorraum für die Eingeschlossnen : Nun taucht der Raum wie aus trübem Gewässer auf, die Luft scheint aufzuleuchten und Izelheiten schreiben sich ins Flammengelb. Auf niedrigem Tischchen dargeboten die gefalteten Zeitungsausgaben im Stapel, I ironischer Lichtstreif berührt, als seis I plattgepreβter Barren, leuchtend in Limonadengelb die Schlagzeile der obersten Zeitung […]. (AM 7)
Per Assoziation kann der Leser jedoch eine suggestive Gedankenkette herstellen, die über Beobachtetes hinausgeht. Im Symbolkontext gilt die Farbe Gelb als zwiespältig. Sie evoziert den Gedanken von Licht und Auferstehung, aber auch von Neid und Missgunst. Man wird bemerken, dass im allerersten Satz des Romans die Farbe Rot bereits in das Textgebilde hineinspielt. Der Vorhang, der eine abgeschlossene Krankenhauswelt von der Außenwelt trennt, erinnert vorverweisend an eine Abgrenzung oder Mauer, die die glücksuchenden Emigranten dann später durchbrechen werden oder auch nicht. Jirgls offene, relativierende Erzählstrategien suggerieren die Möglichkeit des Angestrebten. Nicht zuzustimmen ist in diesem Sinne einer Stimme aus der generell zum Negativen neigenden Kritik: ‘Der Spalt an sich bleibt bestehen – die halbierte Welt, in der die eine Seite durch die andere nicht zu erkennen ist […] das erträumte Land bietet keinen Halt’.26 Auch parabelartig formulierte Beobachtungen und Mythologeme fungieren in Jirgls Textgebilden als Erzählstrategien. Vernetzt mit den Farben Gelb und Rot ist die Beobachtung des Kampfes einer Spinne mit einer gefangenen Fliege, ein parabelartiger Bericht in Fortsetzungen, der sich – signalartig an die Hartnäckigkeit der Krankenschwester erinnernd – wie ein roter Faden durch die Handlung zieht. Die Fliege, die sich scheinbar hoffnungslos in ein Spinnennetz verstrickt hat, scheint der Spinne zum Opfer zu fallen. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes: ‘Die Beharrlichkeit der gefangenen Fliege, ihr unermüdliches Zerren an den sie fesselnden Spinnenfäden […] hat an dieser Stelle das Netz zerreißen lassen’ (AM 137). Sie befreit sich, um dann allerdings erneut in einem zweiten Spinnennetz zu landen. Verdichtend verquickt Jirgl dann dieses Beobachtete, d.h. die veranschaulichende bildliche Gestaltung einer charakterlichen Haltung, mit Bestandteilen aus dem Kompendium der antiken Mythologie. Er greift auf die Metamorphosen des Ovid zurück, im Besonderen auf die Geschichten über das alte Ehepaar Philemon und Baukis und Orpheus und Euridike. Diese beleuchten das Kernthema des Romans: eine gelungene oder nichtgelungene Änderung bzw. einen Wandel. Beständig ist – so Ovids Botschaft in den einzelnen Episoden
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der Metamorphosen – ‘allzeit nur der Wandel: die Mutation der Götter zu menschengleich fühlenden Wesen […], umgekehrt die Lösung der Menschen von göttlicher Führung, ihr autonomes Streben, getrieben von Liebe, Sehnsucht und Machtgier, dialektisch gepaart mit Moral und Vernunft’.27 Auf Philemon und Baukis, deren Treue und Liebe für einander Ovid in den Metamorphosen (VIII, 611-724) schildert, wird verschiedentlich im Roman Die atlantische Mauer angespielt. Sie setzen, so könnte man vorsichtig sagen, den Ton innerhalb der Romanhandlung, denn ein an sie erinnerndes, gastftreundliches altes Ehepaar, das auf dem Kennedy Airport auf die Krankenschwester wartet, symbolisiert Wunschbild und Gelingen, Ineinanderübergehen, Ganzheit, kurz, die eingelöste Utopie. Die Figuren Philemon und Baukis der Mythologie, deren große Sehnsucht ein gleichzeitiger Tod war, repräsentieren zusätzlich aber auch den Gedanken von Ankunft, Obdach oder Refugium, denn trotz ihrer Armut gewährten sie Zeus und Hermes mit treuherziger Gastfreundschaft eine Bleibe. Mit einem geschickten Kunstgriff jedoch relativiert Jirgl in der Romanhandlung den Gedanken der zusammengefügten ‘Halbkugeln’ (AM 18). Der Gedanke des erfolgreichen Überschreitens von Grenzen erscheint der Wirklichkeit entrückt, denn das Ehepaar steht – sichtbar, aber nicht berührbar und von den Neuankommenden getrennt – hinter einer Glaswand; später hört der eingewanderte Schriftsteller, der telefonisch Kontakt mit der Krankenschwester aufnehmen will, zwar die Stimme eines älteren Mannes, allerdings auf einem unpersönlichen Anrufbeantworter. Einige Textauszüge seien zitiert: Ich winkte den beiden älteren Leuten zu, sie erschienen wie auf alten Photographien Menschen, die für den großstädtischen Sonntagsspaziergang sich angekleidet hatten, in jener Manier aufeinander abgestimmt u zueinander gehörend, daß bereits ihr Anblick lückenlos das aussprach, was sie=beide gewiß ihr-Ganzesleben=lang auch getan hatten: bedingungslos fürein=ander da zu sein. (Wobei eben beides: Sowohl dieses Ganzeleben, diese Jahrzehnte aus Anstrengungen Unglücken Abstürzen dann wieder Hinaufwühlen den sandigen rutschenden Abhang hinan, den Anderen mitschleifend od vom Anderen nachgezogen […]. (AM 16) Schließlich dem=Allen folgend die endgültige Annäherung, die Ähnlichkeit bis hin zur Vertauschbarkeit dieser altgewordenen Paare […]. (AM 17)
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letztlich nur jenes Stadium des Ineinanderübergehens […] das Eigene, das Männliche der Frau wie das Frauliche des Mannes, in den Schriftzügen aus fremder Hand den Gesichtern eingeschrieben -. (AM 17)
Jirgl wendet einen ähnlichen Kunstgriff mythologischer Referenz an, wenn er mit Hilfe der Gestalten von Orpheus und Euridike aus Ovids Metamorphosen (X, 1-85; XI, 1-66) den Gedanken des Wandels und des Neubeginns zwar an Kontur gewinnen lässt, ihn dann aber auch wieder obskuriert. Laut Quelle steigt der begnadete Sänger Orpheus, dessen Braut Euridike an einem Schlangenbiss gestorben ist, in die Unterwelt und fleht die Götter an, seine Frau zurückholen zu dürfen. Die Bitte wird ihm unter der Bedingung gewährt, dass er sich beim Aufstieg in die Oberwelt nicht nach ihr umsehen dürfe. Als er sich dann doch nach der ihm folgenden Braut umsieht, verliert er sie für immer. Die Krankenschwester und Helen – Jirgls moderne Euridike-Figuren – weigern sich, ihrem Orpheus, d.h. dem Schauspieler, dem Schriftsteller, dem Sohn, zu folgen. Laut Interview geht es Jirgl darum, einer traditionell stummen und reaktiven Euridike ‘eine Stimme und einen wirklichen Text zu geben’.28 Und in der Tat präsentieren sich die beiden modernen Euridike-Frauen als handelnde, aktive und sprechende Charaktere, allerdings ausschließlich im Sprechakt von drei Männern, wobei die Erzählung des Schriftstellers zusätzlich noch den Bericht des Sohnes über seine Frau enthält. Die unauthentische Ich-Aussage der Frauen, d.h. das Sprechen einer fiktiven Figur durch eine andere, enthebt somit die Gültigkeit vollends geglückter Grenzüberschreitung in den Bereich der Mutmaßung. Wie manifestiert sich die Orpheus-Folie im Textgebilde? Der Schauspieler, der im mittleren Teil des Romans über einen Orfeus-Film spricht, blendet seine eigene Problematik in den neuinterpretierten Euridike-Mythos: Die mir einst Vermählte. Fand sie den zweimal gesuchten den-Weg=hinaus. Fort von mir. Den ich ich nenne. Kerl in Violett. Fort von dem Schauspieler & dem Sänger Glücklos […] Entschlossen weigert sie sich. Mit mir zu gehen aus dem Dunkel. (AM 280-281)
Die Krankenschwester sieht den Film im Flugzeug, erkennt in Orpheus ihren Mann, von dem sie sich befreien will. Der Schriftsteller wiederum, der sich in sie zu verlieben beginnt, hat vor vielen Jahren selbst einmal einen erfolgreichen Orfeus-Roman geschrieben, in dem er der stummen,
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‘hausfraulich=megärenhaften Euridike […] zum I. Mal einen glaubhaften Text’ (AM 391) gab. Er beobachtet die Frau im Flugzeug, nimmt an ihrer Last teil, wird ihr damit selbst zur Last. Erst später wird ihm klar, warum sie seinen Kontaktversuchen nicht folgen wird: Befreit von !mir. […] -Denn woran & an wen sie der Anblick dieses SchauspielerGesichts auf der Leinwand auch erinnert haben mag […], so war doch während allder-Stunden im Flugzeug !ich derjenige, dem sie ihre Geschichte erzählt hatte, somit war ich bereits zu I Teil ihrer Geschichte geworden, […] die sie durchs Erzählen ja grade lossein wollte. Ich wußte zuviel. (AM 409)
Gelingt ihr dieses Sich-lösen, die Wandlung, der Mauerdurchbruch? ‘Sie wirds !schwer gehabt haben beim Aller1fachsten’, meldet sich der mit der amerikanischen Bürokratie zutiefst vertraute Schriftstellersohn, ‘denn sie ist I=für=Allemal bei Denen im-!Computer. Da hilft auch keine Fürsprache eines Senators. Es bleibt ihr zu wünschen, daß sie nicht so !früh hat aufwachen….. müssen’ (AM 330-331). Der Schriftsteller verliert sie tatsächlich kurz vor der Grenze, d.h. der Emigrationsbehörde, aus den Augen. Er sieht die beiden alten Menschen – Symbol von Zuflucht und Obdach – allerdings wieder hinter Glas. Die spätere Einladung zu einer Vernissage, auf deren Briefkopf der Name der Krankenschwester enthalten ist, verrät nichts Persönliches, weist bestenfalls auf ein Unternehmen hin. Und Helen und der Sohn des Schriftstellers? Er folgt seiner Frau in den mit mythologischen Skulpturen und Malereien ausgestatteten Grand Central Terminal, begibt sich in wahrhaft orpheischem Abstieg in die unteren Regionen der Gleise und Bahnsteige, und muss erkennen, dass Helen/Euridike ihre eignen Wege geht. Sie verlässt ihn. Rückblickend wird man sich fragen, ob Jirgl in diesem auf unpolitisiertem amerikanischem Boden angesiedelten Roman widerstreitender Deutungsmöglichkeiten eigene stilistische oder weltanschauliche Grenzen überschreitet, die seine traditionell distanzlosen Objekte innerhalb einer Handlung in handlungsfähige Subjekte verwandelt? Gibt es in seiner ‘negativen Ethik’ Spreng-Sätze?29 An der offenen, durchlässig-porösen Form des Romans, den Textstrategien lässt sich nichts Schlüssiges ablesen, aber sie widerlegen auch nichts endgültig. Der Kritiker Peter Walther bringt es, will man den Roman als Dunkelmalerei lesen, auf einen ‘schwarzen’ Punkt: ‘Ein höhnisch-kalter Wind durchweht den Roman’.30 Eigenartigerweise endet Jirgl seinen Roman
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mit einem Naturphänomen: einem Sturm. Der Schriftsteller hat das letzte Wort. Er fragt sich: Wäre mir heute irgendein Mensch geblieben hier, der mich hätte fragen mögen: ?Was ist gewesen in diesen zehn Jahren. Ich hätte diesem Menschen geantwortet: Sturm - nur Sturm ist gewesen - Niemand ist hier geblieben. (AM 450)
Sturm ist durch starke Luftdruckgegensätze hervorgerufene Bewegung, die zerstören und Schichtungen abtragen kann, die andererseits aber auch die Luft reinigt und klare Fronten schafft. Das deutet auf Wandel und Wechsel. Zu schließen ist mit einem Bonmot Reinhard Jirgls, das für die Lektüre dieses Romans als Schlüssel dienen kann. Auf die Frage, ob im Kontext ‘entgrenzten Seins’ die Utopie privaten Glücks heute noch intakt sei, entgegnete er lakonisch: ‘Ja, wie alle Utopien: solange sie nicht eingelöst ist’.31 Anmerkungen 1
Erk Grimm, ‘Alptraum Berlin: Zu den Romanen Reinhard Jirgls,’ Monatshefte für Deutschen Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur, 86 (1994), 2, S. 186-200 (hier: S. 186).
2
Uwe Pralle, ‘Die Fliege und die Spinne. Reinhard Jirgl im Gespräch mit Uwe Pralle,’ Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, (2000), 54, S. 109-113 (hier: S. 109).
3
Jörg Magenau, ‘Interview: Gutes Amerika, böse USA,’ Das Magazin 2 (2003), S. 57.
4
Peter Schneider, ‘Peter Schneider über die Studentenbewegung, die USA und Deutschland, Literatur und Politik: Gespräch mit Siegfried Mews,’ German Quarterly 75 (2002) 1, S. 9-19 (hier: S. 13).
5
Pralle, ‘Die Fliege und die Spinne,’ S. 113.
6
Dan Diner, America in the Eyes of the Germans: An Essay on Anti-Americanism, Wiener: Princeton, 1993; Zweite Ausgabe 1996.
7
Jack Zipes, ‘Die Freiheit trägt Handschellen im Land der Freiheit: Das Bild der Vereinigten Staaten von Amerika in der Literatur der DDR,’ in: Sigrid Bauschinger, Horst
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195
Denkler und Wilfried Malsch, Hg., Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt. Nordamerika. USA, Reclam: Stuttgart, 1975, S. 329-352. 8
Angela Krauß, Milliarden neuer Sterne, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1999, S. 12.
9
Pralle, ‘Die Fliege und die Spinne,’ 109.
10
Helmut Böttiger, ‘Der 13. Beleuchter. Reinhard Jirgl. Ein Porträt,’ Schreibheft 54 (2000), S. 101-108 (hier: S. 107). Vgl. auch Helmut Böttigers Laudatio auf Reinhard Jirgl in diesem Band.
11
Hans-Georg Soldat, ‘Atemlose Melancholie. Mit seinem neuen Buch Die atlantische Mauer hat der Schriftsteller Reinhard Jirgl einen so abgründig finsteren wie grandiosen und dichten Roman vorgelegt,’ Berliner Morgenpost, 12. März 2000. 12
Nicolai Kobus, ‘Leben ist Scheitern und Kampf. Reinhard Jirgls Roman Die atlantische Mauer,’ Rezensionsforum. Literaturkritik.de 2 (2000), 6. Unter: www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=1146&ausgabe=200006. 13
Werner Jung, ‘Material muss gekühlt werden [Gespräch mit Reinhard Jirgl],’ Neue deutsche Literatur 46 (1998), 519, S. 56-70 (hier: S. 60).
14
Arne De Winde, ‘Die Foucault-Rezeption des Schriftstellers Reinhard Jirgl,’ in: Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher, Hg., Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989: Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Synchron: Heidelberg, 2004, S. 153-171 (hier: S. 154).
15
Pralle, ‘Die Fliege und die Spinne,’ 109.
16
J.C. Cooper, Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, Seeman: Leipzig, 1986, Stichwort ‘Zahlen,’ S. 219-220. 17
Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 20, Sp. 859. Stichwort ‘Sucht’. Unter: http://germazope.unitrier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemid=GS53502. 18 19 20
www.metacolor.de/farbsymbolik. Cooper, Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, Stichwort ‘Farben’, S. 51.
Iris Radisch, ‘Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sterben sie noch heute. Ein literarisches Ereignis. Reinhard Jirgls Roman Abschied von den Feinden, ein deutschdeutsches Dokument,’ Die Zeit, 7. April 1995.
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21
Kobus, ‘Leben ist Scheitern und Kampf’.
22
Böttiger, ‘Der 13. Beleuchter,’ S. 107.
23
Soldat, ‘Atemlose Melancholie’.
24
‘Farben, Farbsymbolik – Wirkung, Geschichte http://www.galerie-elender.de/Farbsymbolik.htm.
25
und
Symbolgehalt.’
Unter:
Pralle, ‘Die Fliege und die Spinne,’ S. 110.
26
Ron Winkler, ‘Keine Vorstellung von der Topografie des Paradieses: Reinhard Jirgl, Die Atlantische Mauer,’ Berliner LeseZeichen, 8–9 (2000). Unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=1047&ausgabe=200005
27
Wolfgang Hirsch, ‘Ovid-Illustrationen: Bestand hat nur der Wandel.’ Unter: http://idwonline.de/pages/de/news10587.
28
Pralle, ‘Die Fliege und die Spinne,’ S. 11.
29
Jung, ‘Material muß gekühlt,’ S. 61.
30
Peter Walther, ‘Reinhard Jirgl: Die atlantische Mauer,’ Die Tageszeitung, 23. März 2000.
31
Pralle, ‘Die Fliege und die Spinne,’ S. 113.
Erk Grimm Die Lebensläufe Reinhard Jirgls Techniken der melotraumatischen Inszenierung This chapter tracks the recurrent thematic patterns of displacement and social estrangement throughout Jirgl’s oeuvre and shows how the author presents the failing careers of average (post)socialist professionals by dramatising the most fundamental ruptures in the lives of his protagonists. By exploring references to the author’s own upbringing, the story and genealogy of his family, and the texts’ representation of the early postwar period, the discussion approaches the central problem of Jirgl’s novels: How does the narrating male subject demarcate his porous ego boundaries? The chapter shows that many of the protagonists’ attempts to form stable identities rest on constructions of a threatening ‘other’ and a retelling of German history. Jirgl forcefully links the problem of identity to an idiosyncratic rereading of history, mostly from the viewpoint of a prototypical male loner who sets himself apart from the masses. Finally, the chapter addresses the issue of how the author’s advocacy of an intellectual position beyond partisan politics is compromised by publishing his essayistic reflections on post-socialist mentality in an elitist right-wing milieu in the early 1990s.
I Überblickt man die Forschungsbeiträge zur literarischen Produktion ostdeutscher Autoren, gelangt man rasch zur Einsicht, dass die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem recht umfangreichen Oeuvre des Ostberliner Schriftstellers Reinhard Jirgl noch in den Anfängen steckt, sowohl im Hinblick auf eine sachlich richtige Bestandsaufnahme der Werkentwicklung und deren literaturgeschichtliche Einschätzung wie auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsbereich der umfangreichen Romane. So konnte sich die Literaturkritik bei ihrer Suche nach Deutungshilfen bisher nur auf Interviews, Reden und Kommentare des Autors berufen, wobei dessen eigene Angaben zur Biographie und werkgeschichtliche Angaben z.T. ungenau oder verzerrt wiedergegeben wurden.1 Auch steht eine philologische Untersuchung zur Genese des in der DDR entstandenen Frühwerks noch aus, wobei Zeugnisse von Zeitgenossen heranzuziehen wären. Auffällig ist bei der Rezeption des Jirglschen Werks, dass sich die häufig enthusiastischen Besprechungen im deutschen Feuilleton
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von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen dadurch unterscheiden, dass letztere eher eine gewisse Skepsis gegenüber den Implikationen der in den gargantuesken Romanen so opulent entfalteten Szenen des Leidens und Begehrens anmelden, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil diese sich häufig direkt oder assoziativ auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zurückbeziehen, ohne dass der Aussagegehalt unmittelbar einsichtig würde.2 Daraus ergibt sich, dass jenseits der rein formästhetischen Betrachtung von Jirgls Romanen eine gründliche Untersuchung der Erzählstoffe zu wünschen wäre, zumal der kulturelle Resonanzboden bestimmten Texten eine außerordentliche Wirkungskraft verschafft hat.3 Beachtung fand das Werk Jirgls im deutschsprachigen Feuilleton erst seit Mitte der neunziger Jahre. Für Hubert Winkels zum Beispiel zeichnet sich sein erzählerisches Verfahren durch eine eigentümliche Dualität aus, nämlich die einer ‘reibungsvollen Durchdringung expressiven Aufbegehrens mit einer geradezu formalistisch autonomen Artistik’.4 Besondere Wertschätzung erfuhren die Werke Abschied von den Feinden und Die Unvollendeten, was indessen nicht allein ihrer ästhetischen Eigenart zuzuschreiben ist, wie die literaturwissenschaftliche Reaktion auf die Geschichtsthemen der beiden Werke zeigt. Gewiss spielte die Verleihung des Alfred-Döblin-Preises eine maßgebliche Rolle, wie sich anhand der zunehmend positiven Einschätzung der Folgeromane im Feuilleton belegen lässt und vom Autor selbst hervorgehoben wurde (vgl. GT 819). Die öffentliche Beachtung durch Rezensenten verdankt sich aber auch dem gewandelten kulturellen Kontext nach den großen Literaturdebatten um die DDR-Literatur nach 1989.5 Wohl wegen der gesuchten Nähe zu den Größen der deutschen Literaturgeschichte – Gottfried Benn und Arno Schmidt werden häufig als Bezugsautoren genannt –, aber auch wegen der in Kommentaren des Autors herausgestellten inneren Distanz zur inoffiziellen Literaturszene der DDR (GT 816; U 192) konnte Abschied von den Feinden dem im deutschen Feuilleton annoncierten Suchbild der zeitgeschichtlichen Verarbeitung in Form des ‘Wenderomans’ entsprechen,6 während Die Unvollendeten im kapillaren gedanklichen Austausch mit den um 1999/2000 einsetzenden Debatten um eine deutsche Gedenk- und Erinnerungskultur stand, die auch die in einem kurzen Zeitraum erschienenen Romane zumeist jüngerer Autoren über Flucht und Vertreibung gegen Kriegsende und unmittelbar danach prägten.7
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Mit dem Erscheinen einer stattlichen Anzahl von äußerst umfangreichen Prosatexten im Verlaufe der letzten fünfzehn Jahre sind stärker als zu Beginn der schriftstellerischen Laufbahn Jirgls zunehmend auch die Wiederholungen, Querverweise und Selbstzitate zwischen den Romanen erkennbar geworden, die es erlauben, konstante Motivkomplexe und wiederkehrende Perspektiven im Längsschnitt zu erkennen. Man steht dabei dem Werk gegenüber wie den Arbeiten des Fotografen Francis Galton, der, um die Typik in der Genealogie 1 Familie aufzufinden, Portraitfotos von Mitgliedern dieser Familie aus verschiedenen Generationen übereinander fotografierte; die gemeinsamen Merkmale erfuhren auf der Fotografie Hervorkehr bei gleichzeitigem Verlöschen episodischer Abweichungen. (IoM 126)
Anders gesagt: wo liegt das ‘Formungsprinzip’, das unterhalb des ‘Erscheinungsbilds’ existiert? Die Werkfolge erlaubt es, einige Grundfiguren herauszuarbeiten, die die Einzeltexte wie unterirdische Stollen miteinander verbinden und auf diese Weise die Konstruktion von Lebensläufen als Spiel mit den biographischen Möglichkeiten eines unrealisierten Lebensweges wie des Scheiterns überhaupt anzeigen.8 Was bei Jirgls kaleidoskophaft wechselnden Konfigurationen von Lebensläufen, inklusive der Verfremdungen der eigenen Vita ins Auge springt, ist die emotionale Intensität und spröde Durchreflektierheit, mit der die ständig umspielte Selbstbehauptung und Gefährdung eines einsamen Ich gestaltet werden, sei es in der Konfrontation mit einem bedrohlichen Anderen oder in den zahlreichen Begegnungen der Protagonisten mit einer missgünstigen dörflichen Gemeinschaft, mit obskuren Fremden und unheimlichen Doppelgängern oder mit einer enervierenden Menschenmenge im Zentrum Berlins, schlechthin dem ‘klassenlosen Massenmenschen’.9 Bei freischwebender Aufmerksamkeit für die Verbindungslinien zwischen den Romanen fällt dem Leser rasch auf, dass die fiktionale Verarbeitung der eigenen Lebens- und Sozialisationsgeschichte – d.i. ‘die Organisation von lebensgeschichtlicher Erfahrung’ in Erzählversionen – bei diesem Autor häufig auf einer Anzahl bestimmter Bausteine beruht, die immer wieder umgesetzt und neu nebeneinander gefügt werden.10 Es gibt also keinen unmittelbar zugänglichen Rohstoff des Lebens; stattdessen wird die Vita im Schreibprozess in Form einer ‘Autofiktion’ (Gérard Genette) allererst
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erzeugt. Als verfügbares Erzählmaterial dargeboten, geht ein Lebenslauf in einer Art Flimmerprosa auf. Die Vita erscheint im abgeschlossenen Text aufgebrochen, zerfasert und auf andere Biographien gespiegelt, schließlich verteilt auf Folgetexte. Deswegen soll im Folgenden ein anderer Zugang als die Interpretation von Einzeltexten gesucht werden. Getreu der Jirglschen Ansicht, dass er im Roman etwas, ‘was gerade nicht Erinnerung ausmachen will, das Verdrängte, individuelles wie gesellschaftliches’ zu erfassen suche,11 konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf ein auffälliges Spannungsverhältnis von Ich und Anderem in der Fiktionalisierung von Lebensläufen.12 Diese grundsätzliche Spannung zwischen einsamem Ich und bedrohlicher Umgebung, sei es bestimmt durch Ekel, Empörung oder körperliche Gewalt – in des Autors Worten den ‘Wunsch zum Töten’ (GT 832) – lässt sich an Dutzenden von ähnlich arrangierten Szenen festmachen. Wie sich herausstellen wird, bleibt ein gnostisches Verhältnis zur Welt als solcher, unbeschadet der politischen und sozialen Verschiebungen seit 1989 bestimmend. Ernst Bloch bestimmte es als ‘Sarg des gottverlassenen Seins’.13 Um ihn versammeln sich die unheimlichen Zeugen der Einsamkeit des Ich, nämlich die Mutter-, Vater- und Bruderfiguren sowie die Vielzahl von ‘Fremden’. II Eine der hervorstechendsten Motivketten, die Einzeltexte wie MutterVaterRoman, Im offenen Meer, Abschied von den Feinden, Hundsnächte, Die Unvollendeten im Sinne einer ‘autofiktionalen’ Bestimmung des Schreib-Ichs verbindet,14 ist die Verbindung des Lebensorts Berlins mit dem Herkunftsort Salzwedel, der die ersten zehn Lebensjahre des Autors auf eine Weise prägte, dass sich einzelne Erzählstränge mit unterschiedlicher Bewertung und Intensität immer wieder den Kindheitsszenen – zu verstehen als ‘streng regulierte Lebenslaufmanipulationen’15 – zuwenden müssen. Die oft dramatische oder alptraumhaft gesteigerte Re-Inszenierung von Kindheitserlebnissen deutet auf einen lebensgeschichtlichen Bruch, der mit der Rückkehr nach Berlin einzusetzen scheint (IoM 62; U 206), ohne dass die enorme Dimensionierung des Herkunftsorts auf einleuchtende Weise tatsächlich an einer bestimmten, psychisch prägnanten Urszene festzumachen wäre, zumal das beteiligte Erzählpersonal in der Schilderung von Abschieds-
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momenten variiert wird. Konkret: Während sich in Im offenen Meer noch die direkte Benennung Salzwedel (IoM 40) findet, verwendet Abschied von den Feinden lediglich das Kryptonym ‘S.’ (AF 62, 88, 287). Ferner deutet sich in Das obszöne Gebet durch den Verweis auf ‘Alzheim’ (oG 25) oder in Genealogie auf ‘Kaff’ (GT 622) die abstrakte Auflösung des Motivkomplexes Kleinstadt und Großeltern an: ‘Heimat ist 1 juristischer Begriff’ (GT 624). In Die Unvollendeten verweist die ausgiebige Ortsbegehung in ‘Birkheim’ (U 11, 47, 83-154) wiederum zurück auf den Erstling MutterVaterRoman, wo die unschwer als Salzwedel erkennbare altmärkische Stadt vor allem durch den Einsatz von Chronikzitaten breiten Raum einnimmt (MVR 49, 60-62). Der immer wieder aufgesuchte Grenzort erlangt demnach als Erinnerungsstätte eine maßgebliche Bedeutung für Jirgls Erzählkosmos, da die Zugfahrten zwischen Altmark und Berlin symbolisch die Trennung von Kindheit und Jugend als prägendsten Lebensphasen wachrufen. ‘DAVONGEGANGEN. FÜR=IMMER’ (U 206) und ‘Jedesmal der Abschied FÜR=IMMER von einst’ (U 216), wie ein Erzählabschnitt in Die Unvollendeten durch Formeln eingeklammert wird. An diese Schwellen- und Übergangszeit im westlichen Grenzland der DDR wird in einem Großteil der erwähnten Romane mit diversen Umstellungen des Erzählpersonals vor allem das ungeklärte Verschwinden des leiblichen Vaters geknüpft, dessen Lebensgeschichte mit dem Dritten Reich und der Täter-Opfer-Identität verflochten ist;16 hinzu treten die diffuse Präsenz der sudetendeutschen Großeltern, die ‘Alten’ genannt, und ihrer Herkunftsgeschichte, die reale oder emotionale Abwesenheit der Mutter und schließlich die von ihr in Gang gesetzte, vom Sohn wie ein Trauma erlebte Heimholung nach Berlin, die all die Deportationen, Vertreibungen und Zugfahrten im Erzählkosmos zu präfigurieren scheint und ein ausuferndes tema con variazione darstellt. Jedoch: Der aus dieser Erfahrung heraustretende und so wundersam üppig ausgestaltete Motivkomplex des Leidens an der Welt in all seinen schillernden Varianten und prunkhaft entfalteten Ekel- und Verwesungsszenarien wird nirgendwo auf eine konkrete, benennbare Ursache zurückgeführt; er erscheint aber mitunter im plötzlichen Affektausbruch auf einen Punkt zugespitzt, der vor allem in Gestalt eines unerklärlichen Schreis (MVR 48, 208; IoM 49) das Rätsel der unartikulierten Stimme melodramatisch wie ein Trauma reinszeniert, somit materiell den Beginn des Schreibens und die Spaltung der Mutterdyade anzeigend. Den Beginn des MutterVaterRomans markiert dem-
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entsprechend gleich zu Beginn ‘das einsame Spiel herannahender Männlichkeit’ (MVR 9) und das symbolisch überhöhte Anheben der Stimme – ‘Ich öffne den Mund’ (MVR 11) –, bis nach dem Durchlauf durch alle möglichen Varianten des Spiels mit Opfer- und Täter-Identitäten wieder die Mutterdyade ‘Ich & Ich’ (MVR 377) erreicht ist. Zwischen den Koordinaten ‘Da-Heim’ und ‘Daheim’ (MVR 88, 288) umkreist die Erzähl- und Sprechbewegung eine Vielzahl agonaler Szenen, die sowohl den Schlachtfeldern und Luftschutzkellern des Zweiten Weltkriegs wie dem mehrfach angesprochenen Un-Ort Auschwitz zugeordnet werden (MVR 116, 204, 228). Wie bei Ernst Jünger erspäht das soldatische Bewusstsein ‘hinter der Mathematik der Schlachten den prächtigen Traum […] in den sich das Leben stürzte, als ihm das Licht zu langweilig wurde’.17 Hinter den Statistiken der Kriegsverluste steht die Bewährung von Kadetten, die noch als Deserteure und scheiternde Einzelgänger den ‘Kampf als inneres Erlebnis’ (Jünger) vorstellbar machen. Der Sprung in eine vom Autor (geb. 1953) nur rekonstruierbare Kriegserfahrung fungiert durch seine methodische Ent-Idealisierung wie eine ästhetische Widerstandsform gegen den Verlust an sozialer Dynamik, eine Art dekadenten Sozialismus, in den achtziger Jahren.18 Mit Sloterdijk wäre bezüglich dieser nachgeholten Empathie mit den Kriegsteilnehmern von selbst veranstalteten ‘Männlichkeitsdressuren’ zu sprechen, die auf die asketische ‘Arbeit an der Grundhärte’ zielen: ‘[S]ie gründet in dem Versuch, mit freiwilligen Anstrengungen die unfreiwilligen Belastungen zu überholen, um einen Willens- und Hochgefühlsspielraum offenzuhalten’.19 In der viergliedrigen Personalbeziehung von Mutter und Vater sowie Walter und Margarete gewinnt das autofiktionale ‘Scherbenspiel’ (MVR 11) seine einprägsamen Konturen gegenüber den spinnwebhaft vorbeiflirrenden Außeneindrücken von Stimmen, Gesichtern, Landschaften. Diese gehören zu einer pluralen Welt, die das Ich zum Opfer der Verhältnisse macht, wie eine Sentenz anzudeuten versucht: ‘Was bleibt, ist die Vielzahl, und die ist einander feind’ (MVR 160). In den Folgeromanen kehrt diese weltbildhafte Auffassung im Gegensatz von ‘1samkeit’ und städtischer Menge wieder, die sich im Sinne von Peter Gross auch als Antagonismus von einem eremitischen ‘Möglichkeits-Ich’ und dem urban-massenhaftem ‘Wirklichkeits-Ich’ auffassen lässt.20
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III Das Zweikammern-System der sich durchdringenden Erzähl-Ichs, wie es seit 1995 in Abschied von den Feinden, Hundsnächte und ABTRÜNNIG das Erzählverfahren Reinhard Jirgls auf bestimmende Weise prägte, bildet sich nicht allein in einer dialogischen Beziehung mit einem brüderlich-ähnlichen Gegenüber heran. Die namenlosen Ich-Erzählerstimmen konturieren sich auch vor der Kontrastfolie der Anderen. Formelhaft werden diese in dem Roman Hundsnächte als ‘EINEMASSE’ (H 252) oder ‘die-Anderen’ (H 488) adressiert. Das prototypische einsame Ich dieses Romans registriert in seinem Aufschreibesystem die porösen Ich-Grenzen durch sorgfältiges Verzeichnen aller mit Ekel besetzten Lärm- und Geruchssignale: Schon der Küchendunst signalisiert dem Subjekt, dass ‘FREMDES zu Jederzeit ins Heim hereindringen darf, denn es gibt keine Zuflucht, es gibt kein Da=Heim’ (H 245), wie einer der gestanzten Sätze aus der eisernen Armatur von Maximen lautet. Die Grundannahme einer prinzipiell unaufhebbaren Heimlosigkeit und Fremdheit unter Menschen, die als weltanschauliche petitio principii den Jirglschen Erzählkosmos so markant durchwaltet, lässt das Erzählpersonal stetig und unweigerlich auf das Scheitern zusteuern. Sie ist es, die den Romanen den Bonus rücksichtsloser Desillusionierung und geschärfter Unglückswahrnehmung verleiht, die manchem Leser als Marke der Authentizität und nachidealistischer Realitätswahrnehmung erscheinen mag, und doch allererst eine Reaktion auf erworbene Idealismusbindung in der DDR ist. Was Jirgl zu Beginn der neunziger Jahre erstmals begrifflich zu fassen versuchte, das ‘Anderssein gegenüber der begrifflichen Norm’ (Z 19), begegnet uns in den späteren Romanen wieder in den aus ihrem Berufsmilieu oder ‘Da=Heim’ gerissenen Hauptpersonen. Es sind die ‘Anderen’, die ‘Fremden’, die ‘Feinde’, welche die männlichen Protagonisten, zumeist existenzgefährdete Ingenieure, Anwälte, Journalisten etc., umstellen. Erst im Abschreiten dieser diversen Ausgestaltungen des ‘Anderen’ rückt dem Leser allerdings ins Bewusstsein, woraus sich das für Jirgl grundsätzlich unversöhnliche und agonale Verhältnis zur Welt speist. Unheimlich bleibt jede ‘Begegnung mit dem Dämonischen’ (IoM 224) vor allem dann, wenn der befremdlich ‘Andere’ dem eigenen Bewusstsein entspringt. Dämonisch sind die dem nichtsahnenden Ich begegnenden Figuren immer dann, wenn sie sich durch ekelerregende körperliche Gestalt auszeichnen und sich den Protagonisten in
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ihrem unkontrollierten Begehren bedrohlich nähern. Durch groteske Überzeichnung, beispielweise häufig in der Darstellung von älteren oder dicklichen Frauen (GT 646; At 230, 410) oder, besonders prägnant, in der Präsentation eines korpulenten Immobilienmaklers und Ex-Stasi-Mitarbeiters, der in Hundsnächte als der ‘Feiste’ eingeführt wird, sind sie fast karikaturhaft als moralisch verdächtige Persönlichkeiten markiert. Jirgl steht hier deutlich in der literarischen Tradition von Kafka und Dostojewski, womit die psychologischen Momente nahtlos literarisiert werden. Aufschlussreicher für unsere Betrachtung der Ich-Werdung in Lebensläufen als Identitätsproblem ist die Begegnung mit dem oder den Fremden, da sich aus dem ständig wiederkehrenden und variierten Motiv die unterschwellige Kernproblematik der Identitätsbestimmung ablesen lässt, die, wie es in Genealogie des Tötens heißt, den Haltepunkten für eine ‘Figur namens “Ich”’ (G 822) gilt. Gegen Ende des Romans ABTRÜNNIG werden wir Zeuge eines mysteriösen Treffens: ‘Am anderen, 1 regnerisch-nassen Morgen kurz vor dem 1. Advent – die Stadt liegt gefangen wie in kaltem Eisen –, sehen wir durchs Schaufenster den Fremden..... […] Der Fremde – er ist wieder !da’ (At 402). Dieser kehrt alsbald wieder: ‘Der Unsichtbare: ein ?Fremder’ (At 500). Während die Identität dieses handgreiflich werdenden Fremden unklar bleibt, begegnen dem Leser andere Figuren, die deutlicher auf die Wiedererkennung des eigenen Selbst anspielen, z.B. in einer Szene, in der die eine der beiden Hauptfiguren, ein ostdeutscher Grenzbeamte, einen Jungen auf einer Parkbank bemerkt: ‘Da hob das Kind den Kopf –, mir starrte das Zwergengesicht 1 uralten Mannes entgegen [...]. !Das-bin-!ich: der Falsche.....’ (At 37). In einer Rede eines Anwalts vor Gericht schließlich wird das Motiv der Doppelung noch einmal aufgegriffen, nun aber ironisch auf dessen Mandanten, den Schriftsteller bezogen, dem sein ‘Erscheinen-alsPersönlichkeit’ (At 501) zum Problem geworden sei, wie dieser selbst bemerkt zu haben glaubt, denn es heißt in einem Manuskript, er glaube, von seinem ‘Fleisch getrennt [zu sein], als lebten zwei Menschen in mir, von denen der eine leidet und der andere dem Leiden zusieht’ (At 502).21 Es sind derartige Spaltungen, die auch die Zweisträngigkeit von theoretisierender Reflexion und oft romantisch-expressiver Übersteigerung in Beschreibungen kennzeichnet. Aus der Auffassung einer ‘naturgegebenen’ heterosexuellen Differenz zwischen den Geschlechtern heraus werden alle anderen Bestimmungs-
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versuche vorgenommen, und zwar gegenüber dem mit Erleichterung wahrgenommenen sichtbar Fremden und der Bedrohung durch das unsichtbar Fremde, was z.B. in Die Unvollendeten – ursprünglich mit dem Untertitel ‘Lebenslauf Erzählung’ (GT 822) versehen – zu einer seltsam antiquierten Typologie von Untugenden auf allgemein menschliche Eigenschaften wie ‘Anstand’ vs. ‘Habgier’ führt. In Die Unvollendeten stehen zu Beginn die weiblichen Mitglieder einer sudetendeutschen Familie im Vordergrund, die am Ende ihrer geglückten Flucht aus der Tschechischen Republik am Rande der damaligen SBZ/DDR Unterschlupf finden. Der Enkel, der sich erst im letzten Teil des Buches als erwachsener Erzähler bemerkbar macht, betrachtet sich als ‘Einzelgänger’ (U 169) und im Umfeld der DDR als ‘der Ewigfremde’ (U 198). In Traumbildern findet er sich selbst als zu früh gealterter Mann wieder (U 162) und erkennt, dass die eigene Mutter seine Wahrnehmung anderer Menschen, z.B. einer ‘Fremdenfrau’ im Harz, auf ungute Weise beeinflusste (U 184). Nicht ethnisch-religiöse Merkmale, Sprachunterschiede oder Aussehen markieren sie in der neuen Umgebung als Fremde. Vielmehr soll es das agonale Verhältnis zwischen Ansässigen und Zugezogenen sein, das in der anthropologisierenden Deutung des Romans die Fremdheit unter den neuen Bürgern der Republik bestimmt: ‘das seltsame Verhalten der Fremden’ (U 56). Harald Welzer gebührt das Verdienst, den Text Die Unvollendeten in den breiteren Zusammenhang der Debatte um die Gedenk- und Erinnerungskultur gestellt zu haben. Ausgehend von Beobachtungen zum ‘Topos einer schuldlosen Schuld’, der sich in der Begegnung mit nationalsozialistischen Verbrechen an dem Umstand festmache, dass es bezüglich der schuldhaft verstrickten Kriegsgeneration jetzt um ‘die Schuld der Kinder [gehe], ihr gegenüber die gebührende Empathie verweigert zu haben’, kommt Welzer in seiner Lektüre zu dem Schluss, dass der Autor ‘retroaktiv Verlusterfahrungen [stilisiert], die zweifelsohne politisch funktionalisierbar sind, für die Nachfolgegenerationen an sich aber kaum eine Rolle spielen’.22 Wie es Welzer anhand mehrerer Gegenwartstexte zu zeigen gelingt, stellen diese grundsätzlich eine rein individuelle Schuld in den Vordergrund, die den ‘soziohistorischen Verlauf abblendet’, um sich ‘in einem Akt nachholender Überidentifikation die Sicht ihrer Eltern und Großeltern zu eigen zu machen’.23 Zwei Punkte sind dabei zu unterstreichen: Jirgls literarische Herausarbeitung einer Sonderperspektive, die eine politisch unbelastete Nischenexistenz und immer schon desintegrierte DDR-Gesell-
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schaft imaginiert, obwohl nach Welzer ‘die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen doch unbestritten eine der zentralen Leistungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft’ darstellt.24 Zweitens die ausgesprochen ‘unempathische Darstellung’, die man unter Berücksichtigung von Ernst Jüngers désinvolture weiter betrachten müsste, doch hier der Kürze wegen an Welzers plausible Einschätzung einer Szenenfolge rückbinden kann, worin der Erzähler eine Häftlingserschießung schildert.25 An der Einzelszene, die einen Todesmarsch bezeugt, bemerkt Welzer, wie die Romanfigur des Soldaten, ähnlich wie z.B bei Ulla Hahn, vom Wissen um die eigene Tat durch seine plötzliche Bewusstlosigkeit erlöst werde, womit es dem Autor gelinge, ‘das Verbrechen in einem moralisch indifferenten Off verschwinden zu lassen. Die Tat steht unscharf im historischen Raum’, womit sie den ‘Luxus einer Reflexion’ über Kriegsverbrechen anzeige oder, wie man genauer sagen müsste, eine lustvolle Entlastung von historischen Sensibilitäten, die über lange Zeiträume hinweg nicht mit einer Ästhetik kompatibel war, die so vehement auf die Trennung von emotionalisierender Zeugenschaft und kalter, theoretisierender Betrachtung setzt.26 Diese erzählerischen Techniken der Re-Inszenierung von historischen Traumata können in den 1990er Jahren wohl auch deshalb eingeübt werden, weil kein vitaler dialogischer Austausch mit einer Erlebnisgeneration stattfindet, die sich in den im Text beschriebenen Figuren als Zeuge, Täter, Opfer direkt wiederzuerkennen vermöchte. Die Elemente einer ästhetisierenden Distanzierung (durch Schreibweise, Erzählerreflexion) können stattdessen das Erinnerungsfeld besetzen und es literarisieren. Bei dem Rekurs auf die humanistische Weltwahrnehmung in diesem Roman werden, trotz aller ironischen Dekuvrierung der großelterlichen ÜberIch-Position im feindlich-materialistischen Umland der DDR, die eigentlichen Merkmale der Fremdwahrnehmung nicht recht deutlich. Der Index ihrer Fremdheit ist lediglich eine Anredeformel – ‘Grüßgott’ (U 11) –, der ‘deutsche[...] Akzent’ (U 36), sodann z.B. bei Hanna die Kleidung, welche ‘das-Anständige’ (U 24) zum Ausdruck bringe. Die Konfliktlage speist sich letztlich allein aus dem ‘seltsame[n] Verhalten der Fremden’ (U 56), da die sudetendeutschen Frauen ‘die Felder des geflohnen Großbauern [...] bestellten’ (U 55), womit sie die Einsicht der aus werfelschem Holz geschnitzten Johanna mit der erdmütterlichen Aura (U 170) verkörpern, dass Unrecht geschehe (U 54).27 Angesichts der Devise, dass hier ‘Schlachten aus einem
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diluvialen Hassen’ (U 117) geschlagen werden, ja dass ‘Jede Wirklichkeit tötet; das sieht zu verschiedenen Zeiten nur verschieden aus’ (U 161) verblassen alle historischen Umstände – repräsentierten die Vertriebenen doch ein Viertel der SBZ/DDR-Bevölkerung, die als Nicht-Einheimische in Anbetracht der universellen menschlichen Ungerechtigkeiten in hohem Maße Fremdheit erlebt haben müssen – sowie die konkreten Anlässe der gegen Gruppen und mit diesen identifizierten Individuen gerichteten Gewalt. Die in Essays wie ‘Das Poetische Vermögen des alphanumerischen Codes in der Prosa’ proklamierte Absicht, ‘das in den sozialen und mentalen Wirklichkeiten bestehende Unrecht zu benennen, zuzuspitzen, um es zu verneinen’ (Gl 66) klammert auf eigentümliche Weise die Akteure aus, die Unrecht begehen oder erfahren. Anders gesagt: Die Anklage ist die Klage über ein jenseits aller partikularen Identitäten beschworenes Unrecht. Wenn dieses aber, wie es im Essay heißt, nur in der ‘größtmöglichen Subjektivität des Textes’ (Gl 66) zur Sprache kommen kann, so verbleibt das Unrecht in der Sphäre der subjektiven Empfindung, die zum Maßstab der allgemeinen Weltbetrachtung wird.28 In dieser universellen Abstraktheit, mit der hier Opfer als die ‘vom alltäglichen Terror Terrorisierten’ der ‘(gesellschaftlichen) Gewalt’ gegenüberstehen, stellt Unrecht einen Weltzustand oder den ‘schönen Traum einer schlechten Welt’ (Norbert Bolz) dar, der nur ganz allgemein ‘Unmenschlichkeiten’ jenseits adressierbarer Opfer kennt. Deren partikulare Identität aber, nicht das Aufklärungsphantom des ‘Menschen’ selbst, gibt Tätern Anlässe zu misogynen, homophoben und rassistischen Übergriffen, die doch unter Berufung auf ‘das Wirkliche des Menschen’, so der Essay, und Foucaults Humanismuskritik theoretisch subsummiert werden sollten.29 Die mit dem Roman Abschied von den Feinden einsetzende Parallelführung von Lebensläufen hat zur Folge, dass die Biographien der Protagonisten sich vergleichend auf typische Erfahrungsmuster in Ost- und Westdeutschland abbilden lassen. Daraus entsteht das trotz der sperrigen Form hohe Identifikationspotential dieses Romans, der erstmals das Erzählverfahren der Verdoppelung im deutsch-deutschen Zusammenhang erprobt, welches fortan in Hundsnächte und ABTRÜNNIG weitergeführt wird, jedoch durch thematische Aufschwemmung und mikronarrative Exkurse zunehmend an Kompaktheit und Prägnanz verliert. Die Konturen eines erzählten Ich scheinen sich in der Begegnung mit den Fremden allererst durch heftigste
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emotionale Abstoßungskräfte abzuzeichnen. Vorangetrieben durch bisweilen recht kuriose Liebes- und Sexabenteuer bewegen sich die männlichen Protagonisten in einem Umfeld, das sie mysteriösen Rivalen und Nebenbuhlern aussetzt. Der Wendlander Journalist, der in ABTRÜNNIG in einem leeren Literatursalon mit seiner Therapeutin Sophia über das Reisen räsonniert, befindet, dass es überhaupt nur ‘Kolonisatoren u: Überfallene’ gebe: ‘Und wenn auch Der Feind verschwunden ist, so bleibt über Allezeitenhinweg Die Feindschaft.....’ (At 106). Hier wird wiederholt, was schon im MutterVaterRoman vertreten wurde: Die Zeit der wahren Feinde im Sinne des Carl-Schmittschen Dezisionismus sei vorbei, denn ‘Freund & Feind [sind] Vokabeln, erfunden, das Nichts zu verschleiern’ (MVR 159). Die in ABTRÜNNIG häufig angeführte Vokabel ‘Krieg’ bezieht sich daher allgemein auf ‘Grausamkeiten’ (At 333) unter Nachbarn in der Stadt, da unter dem Vorzeichen der Globalisierung die Freiräume des ‘Anderen, Fremden’ eliminiert würden und die Grenze zwischen Nachbarn als Fremden verschwände (At 330); ‘der-Feind mutiert zum Geschäftspartner’ (At 481), ist nicht mehr Schmitts Gegner, so wie auch der ‘Krieg Mann:Frau’ (At 331) und ‘Krieg Jung:Alt’ (At 331) von asymmetrischer Machtverteilung beherrscht werden, da doch dem Mann der ‘Mut, als Ich bestehen zu können’ (At 459) fehlt – ‘Als Hund geduldet, als Mann unmöglich’ (At 208). Auch in Hundsnächte prägt nach Ansicht des Ingenieurs die mangelnde Würdigung des Feindes durch die ‘Horde’ eine erinnerte Demütigungsszene in der Schule (H 234). In Anbetracht der Gleichmachung im Sozialismus (H 446447) oder überhaupt der schulischen Erniedrigung (H 423) wird für den Gesprächspartner des Ingenieurs, einen Vorarbeiter, die Anerkennung des Anderen als Anderen erwogen – vergleichbar Ernst Jüngers Ansichten zum Zionismus (H 470); er nämlich vertritt die Ansicht, dass die zeitgenössische ‘Arbeits-Welt.....’ (H 484) und ihr Verwaltungsapparat noch immer die gleichen Bedingungen darstelle wie die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie (H 484). Die wiederkehrende Rede vom Fremden (H 16, 20, 55) illustriert die entwürdigende Wahrnehmung des vornehmen Anderen, der in Zeiten bloßer Feindseligkeiten keine Anerkennung als Gegner zu finden vermag.30 Unter Kollegen herrschten ‘kleinlich=gehässige Machtspiele’ (H 93). In geradezu idealtypischer Einlösung der Carl-Schmittschen Bestimmung, ‘Der Feind ist unsre eigene Frage als Gestalt,’31 knüpfen die Begegnungen
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der Jirglschen Protagonisten mit einem Fremden an die nachhaltig wirkende Doppelgängertradition an, wie sie in Im offenen Meer sogar eigens Erwähnung findet (IoM 95). Doch ließe sich mit Foucault gegen die Jirglsche Subversion des Erinnerungswissens einwenden, dass gerade der Anspruch auf zeitgeschichtliche Repräsentanz die von Foucault produktiv eingesetzte Genealogie in ein Ursprungsdenken zurückversetzt, das um der Allegorisierbarkeit von Ost-West-Erfahrungen willen nur die klassischen zwei Brüder als einander Fremde und Uneinige zulässt. Anstatt also die Spuren der Herkunft aufzudecken, die sich ‘in einem Individuum kreuzen können und ein schwer entwirrbares Netz bilden’, besteht für den Roman, der über die Konstellation einer Familie auch noch deutsch-deutsche Verhältnisse schematisch illustrieren soll, doch wieder die Aufgabe, eine ‘erste Identität’ in der Suche nach dem Ursprung aufzuspüren.32 Was in den Doppellebenslaufgeschichten von Abschied von den Feinden, Hundsnächte und ABTRÜNNIG zum Vorschein kommt, überformt durch Allegorese der deutschen Zustände ‘die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen’, kurz: die Entscheidungen, die den Lebenslauf an der Zukunft ausrichten.33 Der Versuch, aus der Zeitgeschichte die Zwangsläufigkeit des Scheiterns aller Lebensläufe zu destillieren, installiert im Medium des Zeitromans wieder den Dualismus der ‘zwei Seelen’.34 Indem die Brüder und Doppelgänger sich, noch als Verfeindete, mit einer gemeinsamen Geschichte und biologischen Herkunft anerkennen, besitzen sie ein distinktes Merkmal, eine noble, nietzscheanische ‘Ähnlichkeitsbeziehung’,35 die sie kategorial von all den ausländischen Fremden unterscheidet, die als exotisch Andere in die surrealen Traumbilder von Ostberlin eingehen (IoM 183-201), im wiedervereinten Berlin die ‘Neu-Teilung’ anzeigen – ‘Der Westteil Der Islamische Sektor / Der Ostteil das Restdeutschland’ (oG 78; vgl. oG 80, 106) – oder aufgrund ihres ‘Sprechgewirre’ die ‘Nachtseite kulturellen Erinnerns’ (At 336) darstellten. Sie scheinen Schmitts juristisch-politischer Bestimmung zu entsprechen: ‘Es ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existential etwas anderes und Fremdes ist’.36 Doch nur innerhalb der geschlossenen Gemeinschaft ist – so wollen es die Spielregeln des Jirglschen Erzählkosmos –, sozusagen der primäre, d.i. der als Bruder und Doppelgänger nobilitierte Fremde auch als wahrer Gegner zu finden, weil sie beide die deutsche Geschichte teilen. Dahingegen ist an den neuen Fremden, die im Erzählkosmos außerhalb der
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deutschen Geschichte angesiedelt werden, nur die ‘natürliche’ Differenz zu studieren. IV Es existiert noch eine weitere Form der Parallelisierung, die über die persönliche Domäne hinaus – in Sonderheit die familiengeschichtlich bedeutsame Tatsache der vaterlosen Kindheit – den geschichtlichen Horizont des Kriegsendes betrifft. Reinhard Jirgls Interesse richtet sich gegen Ende der neunziger Jahre zunehmend auf den historischen Motivkomplex Flucht, Vertreibung und Massaker. Der Sprung in die Schwellenzeit des Kriegsendes erlaubt es, im Rekurs auf die fünfziger Jahre den möglichen Ursprung der eigenen Entwurzelung bzw. Heimatlosigkeit aufzusuchen. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine thematische Zuwendung zu diesem Gegenstand der deutschen Geschichte. Vielmehr geht es zugleich um ein Aufspüren von Ausdrucksformen, die spontane Assoziationen mit der Darstellung des Holocaust hervorrufen und somit als Manifestation wieder in latente Bedeutungen zurückübersetzt werden, geradezu in Einlösung einer Maxime Heiner Müllers: ‘Die Angst vor der Metapher ist die Angst vor der Eigenbewegung des Materials’.37 Welche Probleme dieser literarische Ansatz mit sich bringt, wird rasch deutlich, wenn man Texte mit dem Augenmerk auf gezielte Umwertungen und metaphorische Verschleifungen betrachtet. Die Kernthese zur Interpretation dieser bemerkenswerten Passagen lautet, dass der modernistische Rekurs auf Sprache als visualisiertes und visualisierendes Material eine sehr viel nachhaltigere Umwertung erlaubt, weil sie dieses durch Akzentuierung der Schrift zur Disposition stellt, anstatt durch psychologische Perspektivierung Wertmuster zu artikulieren. In die verwickelten Lebensläufe der Ich-Erzähler sind Begegnungen mit Kriegsgeschehnissen eingelassen, die sie immer wieder auf die Kindheitsjahre und Jugendzeit zurückwerfen. Die zentrale Frage richtet sich auf das Verschwinden und die Identität des Vaters. Besonders der Roman Hundsnächte nimmt sich dieses existentiellen Dilemmas an und verknüpft es mit der lockend-unheimlichen Leitmotiv-Metapher vom ‘Großen Dunklen Zug’. Zugfahrten sind in ihrer quasi-cinematischen Funktion die Basismetapher für das traumverlorene, ‘gleitende Ich’ (GT 824), das durch Fahrtunterbrechung die ‘Narbe’ von Ankunft und Abschied wieder aufbrechen lässt. In Hunds-
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nächte und ABTRÜNNIG wird diese Metapher aus dem Kontext der BerlinSalzwedel-Verbindung herausgebrochen und in den erinnerungspolitisch brisanten Zusammenhang von Flucht und Deportation gestellt. Eine der beiden Parallelfiguren von Hundsnächte, ein Ingenieur, versucht, sich von der Vorstellung zu lösen, möglicherweise selbst zur Gruppe derer gehören zu müssen, die ‘wie Flüchtlinge in einem Krieg’ (H 81) aus ihrer Lebensordnung gerissen wurden. Der schreibende Anwalt, ein ‘Sterbender ohne Namen’ (H 13-14), ist indessen durch seine Familiengeschichte an die Fluchterfahrung gebunden. Er erinnert sich der Adoptiveltern (H 28), die in einer der ‘langen grauen Exoduswellen von Vertriebenentrecks am Ende des letzten Krieges […] Hier, in dieser Kleinstadt im Norden, hinausgeworfen ausgespien & liegengelassen worden warn’ (H 285). Als Einzelner, der sich einem ‘zur Gleichheit gepreßten Menschentum’ (H 32) ausgesetzt sieht, beginnt seine Individuierung mit dem Anspruch auf ‘Lebendigkeit’ (H 28) gegenüber den ihn umgebenden ‘lebendig Toten’ (H 29), vor allem seinen Klienten, kondensiert in Ekel und Hass, die als Beweis vom ‘authentischen Empfinden’ (H 31) in eine Lust an deren Untergang bzw. deren heimlich vorbereitete Selbstaufklärung über den eigenen ‘vergrabenen Dreck.....’ (H 32) münden. Das Umkreisen vom ‘Dämon-in-dir’ (H 457), dessen vielfältige Figurationen sich grundsätzlich gegen ‘Betroffenheitskommissare’ (H 364) richten, wie der Feiste hämisch anmerkt, führt zu verschiedenen Sprechversuchsanordnungen, die das Schicksal der sudetendeutschen Familie aufgreifen. Anders als in Die Unvollendeten wird die Parallelisierung von sudetendeutschen und jüdischen Schicksalen in Hundsnächte nicht nur im Mikrobereich des Sprachmaterials vorangetrieben.38 Längere Reden thematisieren nun die Vergleichbarkeit der Lebensläufe, und zwar unter dem Blickwinkel des Anwalts, dessen eigene Biographie im Schatten der quasielterlichen Erfahrung in Vertriebenentrecks steht. Ein bemerkenswertes Beispiel für die Art der unterschwellig bewertenden und vergleichenden Interpretation von Emigrationsschicksalen ist der von ihm erzählte Lebenslauf eines ehemaligen Klienten, eines Flüchtlings, der, fast noch I Kind, mit seinen Verwandten, einer sehr wohlhabenden Familie, von Deutschland weg, in die Vereinigten-Staaten emigriert. Das heißt, seine Familie & er gerieten niemals ins Emigranten=Schicksal, weder Auffanglager Hunger Läuse Obdachlosigkeit u Dreck, noch von Fremdenpolizei & Geheimdienstlern belauert war ihnen damals beschieden [...]. (H 34)39
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Der Abriss eines Lebens wird für den Leser perspektivisch gebrochen, da sich der Sprechende in alkoholisiertem Zustand, vom Barkeeper stimuliert, auf die Rede über ‘raffinierte Grausamkeit’ (H 33) einlässt und am Emigranten, ein ‘Fabrikant & Bankier’ (H 34), eben die Abwehr von ‘moralischen Schleifchen um die Dinge’ (H 39) rühmt, die ihm anscheinend selbst angelegen ist. Als Aussageform selbst ist die bekenntnishafte und lückenhafte Rede – dass es sich um eine jüdische Familie handeln dürfte, wird nirgendwo explizit ausgesprochen – jedoch zugleich in den romaninternen Vergleichskontext gestellt, der die Lebensläufe metaphorisch vernetzt, aufeinander bezieht und zur Disposition stellt, womit die ‘Vertriebenentrecks’ der Armen und die ‘Emigration’ der Wohlhabenden aufeinander beziehbar werden, als handle es sich um eine kapitalismus-kritische Aufrechnung von Fluchtmöglichkeiten. Was diese Ästhetik der ambivalenten Spiegelreflexbilder von der deutsch-deutschen Geschichte eigentlich beinhaltet, ist die Doppelaussage, dass das Empfinden von Gerechtigkeit auf Kindheit gebunden bleibt (H 28), doch unter Erwachsenen über das kindliche Rechtsempfinden hinaus nur der Relativismus von Geschichtsinterpretationen herrschen kann, da diese den Faktenbestand je nach Perspektivierung durch Siegermächte und besiegte Mächte auslegen. Von dieser Warte aus werden vermeintlich konsolidierte Erinnerungen und Geschichtsdarstellungen fiktional revidierbar, solange die Identität der Akteure im Sprachspiel des Textes nicht vereindeutigt wird, was deren Gefangensein im falschen Leben zerbräche. Für den mumienhaft in einer Ruine hausenden Anwalt ist daher notwendigerweise keine Erlösung vom ‘Dreck’ (H 497) möglich, weder durch irgendwelche ‘Bekenntnisse’ (H 238), noch durch die Ankunft in der mecklenburgischen Kleinstadt, wo die Adoptiveltern lebten (H 282) oder durch die Begegnung mit dem Großen Dunklen Zug (H 277). Insofern die Identitätsbestimmung einem kulturnationalen Verständnis nach offenbar über die historische Herkunft, nicht aber die staatsbürgerliche Zukunft erfolgt, werden Fragen nach dem Stammbaum relevant (H 264), wie sie der Roman Die Unvollendeten akzentuiert. Hier beinhaltet die Vergewisserung des Enkels Reiner über die eigene Herkunft den legitimierenden Akt der ausführlichen Beschreibung: Während die Einführung genealogischer Betrachtungen (U 20, 69, 170) die hybride Identität des Erzählenden bestätigen soll, gilt dessen emotionale Aufmerksamkeit der
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Schilderung der Bekanntschaft Annas mit dem SS-Angehörigen Erich. Dieser wird zunächst als ‘kleiner Großerjunge’ (U 68) oder ‘Großeskind das Indjaner spielt’ (U 77) methodisch entdämonisiert, bevor er einen Namen erhält (U 78). Umgekehrt verwandelt sich der Soldat bei der Wiederbegegnung mit Anna in der Altmark von Erich sogleich wieder zurück in den ‘Jungen’ (U 124-126), bevor der Erzähler die Titulierung oszillieren lässt. Das Motiv der Tätowierung des SS-Soldaten (U 72) illustriert, wie der Mann sich diversen Kontrollinstanzen entziehen muss (U 124, 150), weswegen die Beziehung zwischen ihm und auch Anna letztlich scheitert. Die Schwierigkeiten, eine ausgeglichene Darstellungsweise zu finden, zeigen sich in den klischeehaften Anspielungen auf eine ‘reiche jüdische Kaufmannstochter’ (U 23) in Prag, einen ‘jüdischen Kaufmann aus Holland’ (U 170), deren Erwähnung für die Handlung selbst keine Rolle spielt, wohl aber für die symbolische Markierung der Figurenidentitäten. Auch umgibt Hannas Herkunft ein Hauch des Ominösen, trägt sie doch den Namen Rosenbach (U 171), verdankt ihre Existenz indessen einem Seitensprung Johannas mit dem besagten Kaufmann, wonach sie den Nachnamen der Mutter tragen dürfte. Seinen vorläufigen Endpunkt erfährt die Positionierung eines fiktionalisierten einsamen ‘Ich’ gegenüber dem Einfluss des Fremden und der Masse durch die Auseinandersetzung mit der Flucht- und Flüchtlingsthematik in ABTRÜNNIG, nun aber abgelöst vom autobiographischen Komplex der sudetendeutschen Vertreibung und neu eingebunden in eine deutsch-polnische Grenzlandgeschichte. Jirgls Vorliebe für historische und geografische Schwellenbereiche nimmt in ABTRÜNNIG die Form einer Schul-Rede an, die auf ganz unterschiedliche Erfahrungen Bezug nimmt, nämlich einerseits das Erleben von sudetendeutschen ‘Umsiedlern’ und andererseits von jüdischen Häftlingen während der berüchtigten Todesmärsche gegen Kriegsende. Dieses Motiv, das auf archivischen Nachforschungen des Autors während eines Stipendiums zu beruhen scheint, wird in dem voluminösen Werk ABTRÜNNIG in eine panoramahaft ausgeweitete Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen Globalisierung und ‘Amerikanisierung’ eingepasst. In diesem Text wird die Einschätzung der Flüchtlinge stärker als bisher, der Einsicht vom Eintritt in ein ‘Quatschocento’ (At 99) getreu, durchaus plauderhaft-dialogisch entfaltet und somit auf Wertemuster der öffentlichen Debatte bezogen (At 22). In der Figurenanlage zeichnet sich der von den Brüchen seines ostdeutschen Lebenslaufs geprägte Frankfurter durch seine
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Fluchthilfe aus, die einer Ukrainerin weniger aus humanitären denn aus erotisch-eigennützigen Gründen helfen möchte, wobei diese slawische Frau sich positiv von den im Roman mehrfach erwähnten westlichen Karrierefrauen abhebt. Hinter den wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung steht in diesem Roman wiederum sexuelle Rivalität, allerdings wird sie dieses Mal nicht an einem Bruderpaar demonstriert. Vielmehr umschwärmt der umfangreiche Text das Motiv des sexuellen Ungenügens und überträgt es auf die gleichsam ökonomische Potenz von Konkurrenzliebhabern. So sieht sich der ostdeutsche Taxifahrer und ehemalige Grenzbeamte von seinem reichen amerikanischen Rivalen bedroht (At 265, 465), der ihm die geliebte Ukrainerin, der er zum illegalen Grenzübertritt verhalf, streitig zu machen sucht. Während sich hier durch perspektivische Brechung die Verweise auf nationaltypische Eigenschaften wie die ‘slawische[...]=Gottergebenheit’ (At 460) und das Bild von der ‘urtümlich[en] Frau’ (At 464) wiederum nur einer idiosynkratischen Figurenrede zuschreiben lassen, so wird in der Gesamtbetrachtung der Figurenaussagen doch das der Jirgl-Leserschaft vertraute Motiv der Demütigung eines jungen Mannes mit einer durchaus weltbildhaften Darstellungsweise verwoben, die zwei Denkmotive verquickt: zum einen das Motiv der sexuellen Kränkung, d.i. womöglich überhaupt ‘Keinmann’ (At 205) zu sein, und zum anderen eher generell die Identitätsbehauptung, d.h. ‘der Mut, als Ich bestehen zu können’ (At 459). Aus der in ABTRÜNNIG besonders ausgiebig betriebenen Deutung der ständig erlittenen Demütigung des Ich aufgrund verletzter Potenzansprüche rühren die Reflexionen über hegemoniale Bestrebungen, zu denen in einem breiten Sortiment von Aspekten die westdeutsche Währungsmacht (At 75), vor allem aber im Bereich der Literatur oder des ‘Geistes’ das Auftreten von jüdischen Intellektuellen und Amerikanisten (At 104, 442) und der Vormarsch amerikanischer Schreibweisen (At 447-448), im Bereich der Liebe oder des ‘Fleisches’ die Berührung mit amerikanischen Managern (At 123) und Anwälten (At 272) oder betuchten Kavalieren (At 465) gerechnet werden. Besonders breiten Raum nimmt die Demonstration der moralisch-rechtlichen Hoheit des amerikanischen Militärs (At 350) ein, da sich auf komplizierte Weise die Frage nach Verantwortung zum einen unter den Personen, aber auch im Erzählduktus selbst vom Bericht zur Rede und zurück zum Kommentar verschiebt. In ABTRÜNNIG wird ‘Amerikanisierung’ im Bereich der Wirtschaft und des intellektuellen Austauschs mit den Mitteln der Satire
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thematisiert. Dabei gelingt es Jirgl, durchaus amüsante und einprägsame Gestalten wie z.B. einen Hochschuldozenten zu gestalten. Mit den gängigen Mitteln der Karikatur und gezielten Übertreibung schildert der Erzähler, wie das ‘Mortadella-Gesicht’ (At 97) bei Veranstaltungen eines Berliner Literatursalons in Erscheinung tritt. In den Bilderbogen von Figuren finden auch jüdische Amerikaner Aufnahme, deren satirisches Portrait (At 272) eigens der romanimmanenten Reflexion über die ‘Hexenjäger’ (At 285) bedarf.40 Im Kern geht es bei diesen Betrachtungen zur Berliner Republik um die ‘Übersetzung’ der Kulturraumwahrnehmung in das Ungenügen an der eigenen Person, wenn das jeweilige ‘Ich’ an sich zweifelt und sich auf ‘1 Faden names Ich’ reduziert fühlt (At 207, 481), was zur Grundlage für die Setzung eines Ich als ‘Weltmacht’ (At 265) wird und zur Rivalität mit einer in den USA verorteten finanziellen Potenz führt (At 465). Agonale Zustände, die aus dem Alltagsgeschehen archetypische Konflikte herausstellen, wie z.B. den Krieg der Wirtschaft (At 461), die Auseinandersetzungen zwischen Jung und Alt (At 18), den Kampf der Geschlechter (At 451), wovon sich der Einzelne nur durch die Gesamtverwerfung der schlechten Welt lösen kann, transformieren zwangsläufig jeden Lebenslauf zu einem Rechenschaftsbericht, der auf den Fluchtpunkt ‘ich-gehöre-nicht-mehr-dazu’ (At 60) zusteuern muss. Der Lohn für die Arbeit der Vereinsamung: ‘Freude u nicht ermüdenden Genuß an der Einsamkeit beim Bücherlesen’ (At 355; vgl. U 163, 169). V Wie beim methodischen Durchgang durch die Romane zu erkennen war, bedarf es von seiten der Romanfiguren, deren jeweiliger Lebenslauf im Schreib- und Erinnerungsprozess anhand der Brüche erzählerisch rekonstruiert wird, der negativen Anerkennung des Anderen (Feind) oder zumindest der Distanzierung von Anderen (Fremde), um die Ich-Grenzen zu definieren und für die Reversibilität von asymmetrischen Machtbeziehungen offen zu halten. Dieses Entlanggleiten an der eigenen Biographie des Autors (vgl. GT 824) gelingt in dem Maße, wie es Selbstähnlichkeiten von Grunderlebnissen erzeugt, deren ‘Authentizität’ sich dem Lesenden notwendigerweise entzieht. Die Verteidigung der Autonomie des ästhetisch beherrschten Materials stößt jedoch an ihre Grenzen, wenn der kulturelle
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Kontext Verbindungen zu einer Leserschaft schafft, die die Textsignale vereindeutigt und, möglicherweise, ‘politisch funktionalisierbar’ (Harald Welzer) macht.41 So frappiert an dem Essayband Zeichenwende, dessen Aufsätze von Jirgl und dem polnischen Publizisten Andrzej Madeła verfasst wurden,42 der riskante Einsatz einer politisch kompromitierten Terminologie – ‘Züchtung’, ‘abendländisch’, ‘völkisch’. Durch missverständliche und doppeldeutige Leitvokabeln sowie Titelgebung, Zitate und Berufung auf politisch kontroverse Bezugsfiguren wie Drieu la Rochelle schaffen diese Aufsätze Anschlusspunkte für eine Lektüre, die zunächst ein Gitter von Reizvokabeln aufbaut. Aber, wie bei sachlicher Abwägung aus den Belegen zu erkennen ist, werden auch einzelne Thesen in zweideutige, missverständliche Aussageketten und eine bisweilen militante Rhetorik verwickelt. Wenngleich einige Textstellen z.B. ausländerfeindliche Übergriffe direkt benennen, verunklären wiederum zahlreiche Passagen in ihrem Affront gegen so genannte humanistische Gleichheitsbestrebungen die ethische Position des Sprechers in einem Maße, dass der eigene intellektuelle Anspruch auf Distanzierung zur breiten Masse auch andere Differenzierungsbemühungen mit sich trägt, insbesondere die ethnisch-religiöse Abgrenzung zwischen einer monolithisch vorgestellten islamischen Welt und dem ‘christlichen Abendland’. Außerdem werfen auch die politische Position und die Geschichte des Verlagshauses selbst Fragen auf,43 die durch gewissenhafte Überprüfung der vorliegenden Interviewaussagen und Berücksichtigung des Kurzlebenslaufs in Genealogie des Tötens (GT 815-833) keine befriedigende Antwort über die näheren Umstände bei der Verlagswahl des Autors finden. Mit Ausnahme der wenigen Angaben von Christine Magerski ergeben sich auch aus der Forschung keine weiteren Hinweise. Der Essayband Zeichenwende stellt sich aber erstens durch den Verlagskontext und die geistige Nähe zur Jungen Freiheit, zweitens durch schillernde Begrifflichkeit und mangelnde Abgrenzung von historisch belasteten politischen Vokabeln und Grundideen, drittens durch mehrdeutige Bezüge auf einen neuen ‘Konservativismus’ und viertens durch seine polemische Stoßrichtung gegen demokratisches GleichheitsDenken deutlich in ein national-revolutionäres Umfeld, so dass Leser wenig Anlass haben dürften, eine liberalistische oder autonom-ästhetische Disposition als solche zur Kenntnis zu nehmen, ist das politische Umfeld der Jungen Freiheit doch gerade bis ca. 1996 stark vom Ideengut der Konser-
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vativen Revolution beherrscht.44 So bleibt der gut gemeinten Absicht, ‘das in den sozialen und mentalen Wirklichkeiten bestehende Unrecht zu benennen, zuzuspitzen, um es zu verneinen’ (Gl 66), die Frage nachzutragen, wer in wessen Namen Unrecht begeht und wem dieses Unrecht Schaden zufügt – denn ‘dem vom alltäglichen Terror Terrorisierten ein Recht – wenn man so will, dann ein Positives – zu geben’ (Gl 66) bedarf allererst derjenigen, die diesseits der Generalnegation des Gesellschaftlichen die real Betroffenen zu nennen vermögen. Da es sich aber um keine fiktionalen Texte handelt, wäre in der zukünftigen Forschung sehr viel sorgfältiger und kritischer als bisher sorgfältig abzuwägen, ob und in welchem Maße die Essays eine Disposition zu erkennen geben, die von der figural gebrochenen Erzählwelt zu den im Essayband mehrfach angesprochenen politischen Positionen des ‘Konservativismus’ und einer nicht-linken Intellektualität hinüberführt.45 VI Abschließend sei angemerkt, dass das bezeichnendste Element der Techniken der melotraumatischen Inszenierung wohl die unendliche Vermehrung traumatischer Momente ist.46 So bleibt trotz der Rückkehr zu den Wunden der Kindheit und Jugend unklar, wann der gravierende Einbruch im Lebenslauf der Romanhelden stattfand. Das mehrfach auftretende Bild des sexuell unbeholfenen Jünglings (IoM 90) oder der sich empörenden David-Figur, die angesichts der leidenden Kreatur zum Stein greift, um aus der Ferne zu intervenieren (H 152; U 204), markiert das desakralisierte Opfer der Verhältnisse oder vielmehr der eigenen Schaulust, die ebensosehr zu fesseln wie zu peinigen vermag. Seine Fortführung in erwachsenen Protagonisten findet diese prototypische Gestalt in ABTRÜNNIG im ostdeutschen Grenzbeamten (At 31) und dem Festredner (At 368), deren Antipode ein messianischer Mörder ist, der anstrebt, ‘anderen Menschen den Einen Moment ihrer Wahrhaftigkeit’ (At 516) zu geben. Es steht allerdings zu vermuten, dass aufgrund der Hinweise auf ein metaphysisches Existenzdilemma die Suche nach biographischen Bruchstellen, die das Unbehagen an der Gegenwart zu erklären in der Lage wären, ohnehin zum Scheitern verurteilt ist. Wenn all die Existenztests, denen die Protagonisten so unbarmherzig ausgesetzt sind, zu bilanzieren wären, erreichte man die gnostische Einsicht, es gebe kein richtiges Leben im falschen.47 Doch man muss noch über diese Erkenntnis
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hinausdringen und die unaufhörliche Suche nach der Bruchstelle im Leben in die Bilanz aufnehmen. Die Nachforschungen über das fatale Unbehagen am Leben führen zurück auf eine ganz und gar grundsätzliche ‘Wut darüber geboren zu sein’ (At 45; vgl. IoM 28, 88). Und aus diesem Existenzdilemma heraus, dem für das unglückliche Bewusstsein so unauflösbaren Trauma der Geburt, lassen sich nach Peter Sloterdijk all die ‘Verzweiflungsaffirmationen’ ableiten, die in der ‘hysterischen Eröffnung “Ich zelebriere die Katastrophe, die ich bin”’ zusammenschießen.48 Für Autoren aber kann der katastrophale Ich- und Weltzustand, entgegen aller Befürchtungen, zur glückenden Produktionsbedingung werden, erlaubt doch gerade das gnostischeschatologische Denken den Prunk einer negativen Ästhetik, die sich in den leuchtendsten Farben den Untergang ausmalt.49 Deshalb laufen sämtliche Fluchtlinien der fiktionalisierten Biographien wie die Spur von Sisyphos’ Stein unaufhaltsam auf den Punkt des Scheiterns, ‘!ratsch ein Lebenslauf, ent-2’ (At 519). Anmerkungen 1
Im ‘Nachwort’ von Axel Kahrs zu der Erzählung Gewitterlicht ist z.B irreführend davon die Rede, dass der ‘Autor Jirgl […] zu DDR-Zeiten wegen “politischer Vorbehalte” nicht eine Zeile veröffentlichen [konnte]’ (Gl 81), obwohl eine erste Zeitschriftenveröffentlichung in Sinn und Form schon 1987 vorlag. Ferner heißt es missverständlich bei Andreas Meier, es existiere ein ‘unter Mitarbeit von Heiner Müller’ veröffentlichter Text mit dem Titel Uberich. Richtig ist, dass der Dramatiker dazu ein Vorwort schrieb. Ferner ist bei den Verweisen auf die ‘nichtmarxistische Geschichtsauffassung’ zu berücksichtigen, dass sich in Dankesreden des Autors wie auch in fiktionalen Texten zahlreiche Zitate und Anspielungen auf die negative Ästhetik Adornos sowie Exempel einer dialektischen Denkweise finden lassen. Mit dem Untertitel Nachrichten aus dem zerstörten=Leben stellt der Text Kaffer (GT 513-775) einen Doppeldialog zu Adornos Minima Moralia und Arno Schmidt her. 2
Siehe z.B. Christine Magerski, ‘Trostlose Landschaft mit Literat. Kritische Bemerkungen zum Versuch der Inszenierung einer literarischen Nullstunde nach 1989 am Beispiel Reinhard Jirgls,’ Glossen, 5 (2001), 13. Unter: http://www.dickinson.edu/glossen/ heft13/trostloselandschaft.html; Timm Menke, ‘Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten – Tabubruch oder späte Erinnerung?’ Glossen, 8 (2004), 20. Unter: http://www.dickinson. edu/glossen/heft20/menke.html; Christine Cosentino, ‘“Dieses Deutsche in den Deutschen”: Auflösung und Kontinuität in Reinhard Jirgls Alptraumroman Abschied von den Feinden,’ Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprachund Literaturwissenschaft, 30 (1997), 4, S. 307-314.
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In der Rezeptionsgeschichte der Romane wurden bisher vor allem die prononciert angebrachten Rückverweise auf Arno Schmidt, Gottfried Benn und Michel Foucault wahrgenommen, die sozusagen eine Wunschleserschaft heranbilden. Weniger Beachtung fand die ebenso wirksame Verständigung mit den literarischen Vaterfiguren wie Heiner Müller und Ernst Jünger, von denen aus ein historischer Parcours zu Oswald Spengler, Carl Schmitt, Carl Gustav Jung, Hans Henny Jahnn, Strindberg, Bloy, Drieu de La Rochelle und nicht zuletzt zu Brecht und Adorno angelegt wurde. 4
Hubert Winkels, Gute Zeichen: Deutsche Literatur 1995-2005, Kiepenheuer und Witsch: Köln, 2005, S. 193. In den wichtigen Anthologien und Bestandsaufnahmen der achtziger bzw. frühen neunziger Jahre spielte der Name Jirgl noch keine bedeutende Rolle. Seine Prosa fehlte z.B. in Christian Döring und Hajo Steinert, Hg., Schöne Aussichten: Neue Prosa aus der DDR, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1990, oder Ulrich Janetzki und Wolfgang Rath, Hg., Tendenz Freisprache: Texte zu einer Poetik der achtziger Jahre, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1992. Nur in Die andere Sprache: Neue Literatur der 80er Jahre war Jirgl mit einem Auszug von Im offenen Meer vertreten, versehen mit dem Verweis auf ‘fünf Romane’ und die Erstveröffentlichung in Sinn und Form (1987). Jirgl, ‘Im offenen Meer. Schichtungs-Roman in sechs Kapiteln. Auszüge’, in: Heinz Ludwig Arnold, Hg., Die andere Sprache: Neue DDR-Literatur der 80er Jahre (text + kritik Sonderband), Edition text + kritik: München, 1990, S. 192-198. 5
Siehe z.B. Karl Deiritz und Hannes Krauss, Hg., Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur, Aufbau: Berlin, 1993. 6
Helmut Böttiger hebt hervor, wie sich ‘aus dem vielfach verschlungenen Abschied von den Feinden [...] eine Geschichte [herauslösen lasse], die auch Zeitgeschichte ist’. Siehe Helmut Böttiger, Nach den Utopien: Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Zsolnay: Wien, 2004, S. 100. Ausführlicher hierzu Christine Cosentinos kritische Beiträge: Cosentino, ‘“Dieses Deutsche in den Deutschen”’; Cosentino, ‘Ostdeutsche Autoren Mitte der neunziger Jahre: Volker Braun, Brigitte Burmeister und Reinhard Jirgl,’ The Germanic Review, 71 (1996), 3, S. 177-194.
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Siehe Ulrike Vedder, ‘Luftkrieg und Vertreibung: Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur,’ in: Corina Caduff und Ulrike Vedder, Hg., Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur, Fink: München, 2005, S. 5980 (hier: S. 76-78). 8
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Zur Deutung des Scheiterns als Erfahrungskonstante siehe Z 44.
Alexander Mitscherlich, Das Ich und die Vielen: Parteinnahmen eines Psychoanalytikers, Piper: München, 1978, S. 92.
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Peter Sloterdijk, Literatur und Lebenserfahrung: Autobiographien der Zwanziger Jahre, Hanser: München, 1978, S. 8. Auf eine ausführliche Diskussion des theoretisch fruchtbaren Ansatzes, der die frühe semiologische Forschung von A. J. Greimas, J. Lotman, J. Kristeva einarbeitet, jedoch noch nicht die grundlegenden Arbeiten von Ph. Lejeune, G. Genette und P. de Man berücksichtigt, muss hier verzichtet werden. Analytische Gesichtspunkte zur Diskussion der Agenturen der Sozialisation und einer ‘Vitalistischen Mythologie. Leben als Leiden,’ siehe S. 77-81; S. 293-295.
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Werner Jung, ‘Material muss gekühlt werden. [Gespräch mit Reinhard Jirgl],’ neue deutsche literatur, 46 (1998), 3, S. 56-70. Vgl. Arne De Winde, ‘Die Foucault-Rezeption des Schriftstellers Reinhard Jirgl,’ in: Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher, Hg., Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989: Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Synchron Verlag: Heidelberg, 2004, S. 153-171 (hier: S. 155). Siehe auch Jirgls Hinweise auf ‘das Diskontinuierliche, den Einbruch der Störungen’, oder auf ‘Bruchstellen der Lebenswirklichkeit’, die in den Zusammenhang mit einem ‘Zwang zum Erinnern’ gebracht werden, der im Schreibprozess eine produktive Kraft zu entfalten scheint, zit. in Andreas Meier, ‘Die Rückkehr des Narrativen – Reinhard Jirgls “Deutsche Chronik”,’ in: Volker Wehdeking und Anne-Marie Corbin, Hg., Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext, Wissenschaftlicher Verlag: Trier, 2003, S. 199220 (hier: S. 207, Fn 46). 12
Vgl. Heiner Müller: ‘Europas Wille zur Technik beruht doch letztlich auf der Verdrängung von Todesangst als einer Lebensrealität’. Zit. in Richard Herzinger, Masken der Lebensrevolution: Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers, Fink: München, 1992, S. 72. Herzingers ideengeschichtliche Untersuchung nimmt ihren Ausgang von ‘Müllers Versuch, sozialistische Utopie im Rekurs auf Topoi konservativen Denkens neu zu begründen’ (S. 17), worunter beispielsweise ‘dezisionistische Konzepte’ (S. 69) fallen. Müllers vitalistische Zivilisationskritik, wie sie Herzinger an Stücken der frühen siebziger Jahre umreißt (S. 19-31), dürfte das Frühwerk Jirgls in beträchtlichem Maße beeinflusst haben, wie sich z.B. an der Bedeutung der Denkmotive wie der Maske und Versteinerung (S. 19), des ‘Zombie’ (S. 27), des Nichts als ‘möglichen Anfang[s]’ (S. 29) oder der Krebskrankheit (S. 73) belegen lässt. 13
Zit. in Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt: Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, Fink: München, 1989, S. 42.
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Kurzabrisse der Handlungsverläufe sind enthalten in Erk Grimm, ‘Reinhard Jirgl [Stand: 2006],’ in: Heinz Ludwig Arnold, Hg., Kritisches Lexikon zur deutsch-sprachigen Gegenwartsliteratur, Edition text + kritik: München, 1978ff.; Vgl. Meier, ‘Die Rückkehr des Narrativen’. 15
Sloterdijk, Literatur und Lebenserfahrung, S. 78.
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Ausgenommen sind die Romane Die atlantische Mauer und ABTRÜNNIG, die anders gelagerte Familienkonstellationen aufbauen. Das Rätsel der Identität des Vaters, das die Neugierde des Sohnes über die eigene Herkunft maßgeblich vorantreibt, bestimmt eine Vielzahl der Texte. In Uberich könnte die Vaterfigur Paulke entweder Opfer der ‘Vernichtung in 1 faschistischen Vernichtungslager’ gewesen sein oder er soll ‘den letzten Krieg & die Wirren danach lediglich zum Verschwinden benutzt’ (UP 63) haben. Das letztere Motiv wird wieder aufgenommen in dem Fortsetzungsband Das obszöne Gebet (oG 161). Schon im MutterVaterRoman war der Vater indessen bei der SS (MVR 105), eine Möglichkeit, die in Die Unvollendeten die Gestalt des jungen Liebhabers von Anna, der Mutter des Erzählers prägt (U 63, 72). Ebenso findet der Vater als SS-Angehöriger in Abschied von den Feinden Erwähnung, als die Brüder sich in wechselseitig durchdringenden Rekonstruktionsversuchen des Verschwindens ihres Vaters zu entsinnen versuchen (AF 56). Sodann taucht eben dieses rätselhafte Entziehen des Vaters vom Alltag der Familie im delirierenden Bewusstsein des Ingenieurs in Hundsnächte auf (H 246), vorweggenommen durch lange Erinnerungspassagen zu Beginn des Romans (H 2226, 116-117, 145-153 etc.). Schließlich gelangt eine Passage in ABTRÜNNIG zur Bewertung dieser Abwesenheit des Vaters, denn dieser sei vor der Vergangenheit wie vor der Zukunft geflüchtet (At 218). 17
Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, S. 99. Bolz hebt die Initiationsfunktion hervor: ‘So stürzen sich Seelen, denen das Erlöschen droht, in den Traum des Krieges, weil nur noch der Untergang eines Lebens, das nicht lebt, den Übergang in eine andere Ordnung zu verheißen scheint’.
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Siehe beispielsweise Franz Fühmanns aufschlussreiche Ausführungen zum Erfahrungsmangel der jüngeren Generation von DDR-Autoren, die nicht wie die Gründergeneration ‘große Stoffe erlebt, viel Welt gesehen’ hätten, und zwar in seiner ‘Nachbemerkung’ zu Uwe Kolbe, Hineingeboren. Gedichte 1975-1979, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1982, S. 133. 19
Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1993, S. 59.
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Peter Gross, Ich-Jagd. Ein Essay, Suhrkamp: Frankfurt/M., 1999, S. 146. In diesem Zusammenhang sind vor allem Gross’ Überlegungen zur ‘Schwere des Seins’ und der ‘Relevanz der Entscheidung’ besonders ertragreich (S. 191-210). 21
Die Maxime dürfte als ironische Replik auf Freuds Überlegung zur Durchdringung von ‘Intellekt’ und ‘Gefühlsregungen’ in Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) betrachtet werden, worin er gegen die Auffassung einer Trennbarkeit beider argumentiert, also dass ‘[u]nser Intellekt […] nur verläßlich arbeiten [könne], wenn er den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt sei’. Zit. in Alexander Mitscherlich, Das Ich und die Vielen, S. 28.
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Harald Welzer, ‘Schön unscharf: Über die Konjunktur der Familien- und Generationsromane,’ Mittelweg, 36 (2004), 1, S. 53-64 (hier: S. 57-58).
23
Welzer, ‘Schön unscharf,’ S. 57, 56.
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Welzer, ‘Schön unscharf,’ S. 58. Welzers Position findet ihre Unterstützung in der glänzend recherchierten Studie von Robert G. Moeller, War Stories: The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, University of California Press: Berkeley, 2001, S. 56.
25
Welzer, ‘Schön unscharf,’ S. 58.
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Welzer, ‘Schön unscharf,’ S. 59. Es geht bei der Thematisierung von historischen Vertreibungen um die Verschiebung eines tradierten, subdominanten Erzählstoffes in dezidiert anspruchsvolle Belletristik und damit in die dominante Position derzeitiger Kulturdebatten, da längst bekannte Fakten, die schon 1953-1961 in der Dokumentation der Vertreibung des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte zugänglich waren, erneut literarisiert werden. Siehe Moeller, War Stories, S. 55-63 und die ausführlichen Anmerkungen zum Archivmaterial (S. 228-233). 27
Franz Werfel gestaltete in der böhmischen Kinderfrau des Arztes Ferdinand R. in Barbara oder die Frömmigkeit (1929) eine ähnlich erdhafte Adoptivmutterfigur.
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Auch Susanne Ledanff kommt in ihrer Betrachtung zu Abschied von den Feinden zu der Auffassung, dass dieses ‘Ursprungsepos deutscher Misere’ die ‘Problematik des quasimythischen, subjektiven Sprechens’ zeige, da zwar eine ‘traumatische Verletzung’ zu erraten sei, aber das Phänomen der Feindschaft ‘universell, archaisch begriffen’ werde und im Rahmen eines neuen ‘Ästhetizismus’ zu Spekulationen über das ‘Dämonische der deutschen Seele’ im Gewand einer ‘nihilistisch intendierten Zeitchronik’ zu ‘Verallgemeinerungen’ führe. ‘Erst diese Verallgemeinerungen tragen zum Eindruck eines mythisch überhöhten Deutschlandportraits bei’. Siehe Ledanff, ‘Die Suche nach dem “Wenderoman” – zu einigen Aspekten der literarischen Reaktionen auf Mauerfall und deutsche Einheit in den Jahren 1995 und 1996,’ Glossen, 1 (1997), 2. Unter: http://www. dickinson.edu/glossen/heft2/wende.html. 29
Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Diskussion Herzingers von Heiner Müllers Rechtsbegriff, da er Parallelen zu Jirgls Exkurs über die ‘Ungerechtigkeit gegen das Unrechte’ aufweist. Siehe Herzinger, Masken der Lebensrevolution, S. 199-200. 30
Siehe Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, S. 64-65; Herzinger, Masken der Lebensrevolution, S. 132. Zum Topos des Bruderpaares, siehe Herzinger, Masken der Lebensrevolution, S. 131, 159. Schon Hans Mayer hat das Bruderpaarmotiv als topische
Die Lebensläufe Reinhard Jirgls
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‘Kontrapunktik der Biographien’ im Prozess einer Verbürgerlichung mit aristokratischen Einschlüssen wie z.B dem ‘Gegensatz des guten und des bösen Bruders’ bestimmt. Hans Mayer, Außenseiter, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1981, S. 381-382. 31
Vgl. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, S. 64-65; Herzinger, Masken der Lebensrevolution, S. 132.
32
Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, übersetzt von Walter Seitter, Fischer: Frankfurt a.M., 1987, S. 71. 33
Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 74.
34
Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 73.
35
Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 73.
36
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, zit. in Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, S. 65. 37
38
Zit. in Herzinger, Masken der Lebensrevolution, S. 54.
Interpreten wie Andreas Meier und Ulrike Vedder waren darum bemüht, die registrierten Analogien zur Darstellung von Opfern des Holocaust nicht mit einem ‘fahrlässigen historischen Relativismus’ (Meier) oder ‘vorschnellen Analogisieren und Deuten’ (Vedder) in Verbindung zu bringen. Sie weisen auf Jirgls Schreibweise hin, die eine ‘Fixierung auf wiederkehrende sprachliche Wendungen’ der Heimatlosen und ihre ‘auf der Flucht misshandelte[n] Körper’ (Vedder) erkennbar mache. Der Beobachtung von einer Zurücknahme der Bildsprache in den reflektierten Schrifteinsatz ist zuzustimmen. Gleichwohl erklärt das Argument nicht, warum es der drastischen Darstellungsweise und aufdringlichen Assoziation mit der Shoah bedarf (Meier) und auf welche Weise die ‘Zeitresistenz des Traumas’ (Vedder) auch für den Enkel gelten soll. Vgl. Meier, ‘Die Rückkehr des Narrativen,’ S. 215; Vedder, ‘Luftkrieg und Vertreibung,’ S. 77. Im Kontext des bisher vorliegenden Werks ist jedenfalls der Einsatz des Vokabulars und einer ‘authentischen’ Bildsprache für Vernichtungsszenarien die Grundlage für die metaphorische Herstellung einer Identität der Schreckensregimes von einst und jetzt, so dass auch alltägliche Begegnungen mit Bürokratie etc. in den Kontext des alltäglichen oder allgegenwärtigen ‘Faschismus’ gerückt werden. In nicht-fiktionalen Kommentaren zu den ‘Katastrophen’ der Vergangenheit belässt es Jirgl bei Anspielungen auf das ‘populäre Rechtsempfinden’ und seine eigene Auffassung von der ‘Freiheit der Ziffer’ (Gl 70). Kryptisch verweist diese außerfiktionale Überlegung zur Rolle von Ziffern und Buchstaben auf die Entkoppelung der schuldhaften Vorstellung von der großen Zahl der Opfer und der magischen Bedeutung der Zahl ‘Eins’ in ‘Das poetische Vermögen’ (Gl 70). Die
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Erk Grimm
Prosatextur MutterVaterRoman betont die historische Distanz zum Vergangenen, woraus sich Betrachtungen zur Vergegenwärtigung der Shoah ableiten lassen: Die historische Realität verblasse zum Film (MVR 83), doch es existiere die Herrschaft der Zahlen (MVR 84), wie folgende Szene illustriert: ‘[D]as Nürnberger Sieb hatte Löcher’, sagt die Frau, worauf der Mann erwidert: ‘Diese Toten bleiben stumm Millionen haben keine Sprache. Der Einzelne schreit lauter’ (MVR 319). 39
Schon in Genealogie des Tötens findet sich eine reichlich kryptische Anspielung auf das ‘MER’, das Mitteleuropäische Reisebüro aus der Zeit des Nationalsozialismus, das die Fluchtmöglichkeit für die ‘Urlauber’ verspricht, die gleichzeitig Häftlinge in einem Lager sind: ‘Ankunft & Flucht – 1 Frage des Geldes’ (GT 321). 40
Auch außerhalb des fiktionalen Zusammenhangs versucht Jirgl, die völlige Autonomie der fiktionalen Sageweisen zu bekräftigen, und zwar durch die psychologisch argumentierende These, daß a) die Texte von einem befremdlichen ‘Es’ bestimmt seien, das ohne ‘Katharsis’ zur Sprache komme (G 824; vgl De Winde, ‘Die FoucaultRezeption,’ S. 155 zum ‘Infamen’) und b) dessen Bildwelt sich dem soufflierenden ‘Staat’ (GT 827) verdanke. Aus dieser Fremdbestimmtheit des Unterbewussten leitet der Autor die Forderung nach dem ‘Zulassen bestimmter Dinge, die von außen kommen’ (Jung, ‘Material muss gekühlt werden,’ S. 61) ab, einem ‘Zulassen und Hereinnehmen alles Fremden’ (GT 828), womit Jirgl ein ästhetisches Programm umreißt, das auf die freie Aussprache der im fremdbestimmten Unterbewusstsein bereitliegenden Bilder zielt: Heteronomie als ästhetische Produktionskraft.
41
Welzer, ‘Schön unscharf,’ S. 58: ‘Jirgls Text [Die Unvollendeten] jedenfalls stilisiert Verlusterfahrungen, die zweifelsohne politisch funktionalisierbar sind, für die Nachfolgegenerationen an sich kaum eine Rolle spielen’. Ergänzend muss man sich den Umstand vor Augen führen, dass gerade die Verschiebung von einer wie immer auch definierten ideologischen Position zu einer ästhetisierten Disposition den affektiven Anschluss an kanonisierbare Belletristik herstellt und damit Affinitäten zu einer ‘gefühlten Geschichte’ (Norbert Frei) und der aktuellen Diskussion über ‘Deutsche als Opfer’ gewährleistet.
42
Der polnische Publizist Andrzej Madeła schrieb mehrere literaturkritische Essays (u.a. zu Karl May, Handke, Armin Müller, Doderer) für die Zeitschrift Junge Freiheit. Zur politischen Ausrichtung des Journals siehe die Arbeiten des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung und der Universität Duisburg-Essen: Helmut Kellershohn, Hg., Das Plagiat: Der Völkische Nationalismus der “Jungen Freiheit”, Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Duisburg, 1994; Martin Dietzsch, Siegfried Jäger, Helmut Kellershohn und Alfred Schobert, Hg., Nation statt Demokratie – Sein und Design der “Jungen Freiheit”, Unrast-Verlag: Münster, 2004; Jean Cremet, Felix Krebs und Andreas Speit, Jenseits des Nationalismus: Ideologische Grenzgänger der “Neuen
Die Lebensläufe Reinhard Jirgls
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Rechten” – Ein Arbeitsbericht, Unrast-Verlag: Münster, 1999. Weiterhin: Jahresbericht 2004 der Abteilung Verfassungsschutz des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen (Pressefassung). Unter: http://www.im.nrw.de/sch/doks/vs/Verfassungsschutzbericht_ 2004.pdf. Vgl. die Gegendarstellung von Seiten der Jungen Freiheit: Dieter Stein, Phantom “Neue Rechte” – Die Geschichte eines politischen Begriffs und sein Mißbrauch durch den Verfassungsschutz, Edition Junge Freiheit: Berlin, 2005. 43
Der Essayband Zeichenwende erschien 1993 im Verlag von Siegfried Bublies (geb. 1953); Bublies, auch unter den Pseudonymen Sabine Narjes, Beate Neuberger bekannt, ist Inhaber dieses Koblenzer Verlags, den er zeitweilig mit Karl Höffke, einem Beiträger zur Zeitschrift Nation und Europa führte. Bis 1979 fungierte er als Funktionär der ‘Jungen Nationaldemokraten’ (JN). 1978 war er Mitbegründer der ‘Grünen Zelle Koblenz’. Im Dezember 1979 wurde er Herausgeber und leitender Redakteur der nationalrevolutionär ausgerichteten Zeitschrift wir selbst, die ab Dezember 1983 mit dem Untertitel Zeitschrift für nationale Identität und internationale Solidarität erschien. Gegen Ende der 70er Jahre wurde die Publikation von einem Kreis von Nationalrevolutionären gegründet, die der NPD-Jugendorganisation ‘Junge Nationaldemokraten’ nahestehen. Die Zeitschrift vertritt den Standpunkt eines ‘Ethnopluralismus’, der auf einer Trennung der Ethnien beruhen soll. Ende der 80er Jahre war Bublies Kreisvorsitzender der Republikaner. Er war 1997/98 am Aufbau des ‘Preußischen Mediendienstes’ des Ostpreußenblattes beteiligt, den er fortan in seinem Verlag betreute. Zur Selbstdarstellung des Verlegers siehe Siegfried Bublies, ‘Der Fragebogen,’ Junge Freiheit, 20. November 1998. Vgl. die Angaben zur Person bei Margret Feit, Die Neue Rechte in der Bundesrepublik: Organisation – Ideologie – Strategie, Campus: Frankfurt a.M., 1987, S. 180; Jens Mecklenburg, Hg., Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Elefanten Press: Berlin, 1996, S. 448. Siehe auch die Anfragen zum Aufbau des ‘Preußischen Mediendienstes’: Deutscher Bundestag, Drucksache 13/9474 und Drucksache 13/9670 vom 15.01.1998. Unter: http://dip. bundestag.de/btd/13/096/1309670.asc.
44
Ich folge den Kennzeichnungen von Armin Pfahl-Traughber in Konservative Revolution und Neue Rechte: Rechtsextremistische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungsstaat, Leske + Budrich: Opladen, 1998, sowie Michael Puttkamer‚ ‘Strategie und Leitlinien der “Jungen Freiheit” (JF),’ in: Wolfgang Gessenharter und Thomas Pfeiffer, Hg., Die Neue Rechte – eine Gefahr für die Demokratie?, VS: Wiesbaden, 2006. Ferner werden in Heiko Schombergs Dissertationsprojekt Rechtsextremistische Internetauftritte in der Bundesrepublik Deutschland und Republik Österreich. Unterschiede. Gemeinsamkeiten. Netzwerkbildung. (2001) neben dem politischen Grundverständnis und dem Intellektualisierungsanspruch der JF auch der leichte Richtungswandel des Organs in den Kapiteln 2.2.4, 2.2.5. umrissen. Siehe http://www. heiko-schomberg.de/promotionsweb/doktorarbeit_stand_12042001.html
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Erk Grimm
45
Eine noch genauere Bestimmung müsste die politische Ausrichtung des publizistischen Organs miteinbeziehen, wie sie z.B. prägnant umrissen wird in: Michael Minkenberg, ‘The Renewal of the Radical Right: Between Modernity and Antimodernity,’ Government and Opposition, 35 (2000), 2, S. 170-188 (hier: S. 179); Markus Frey, ‘Die Neue Rechte und ihre Publizistik: die “Junge Freiheit” und andere Zeitschriften in der BRD und Österreich als Transporteure “neurechter” Ideologie,’ Medien und Zeit, 14 (1999), 1, S. 32-43. Vgl. die sachlich fundierten Beiträge zu Wolfgang Gessenharter und Helmut Fröchling, Hg., Rechtsextremismus und Neue Rechte in Deutschland. Neuvermessung eines politisch-ideologischen Raumes?, Leske + Budrich: Opladen, 1998. Zum Begriff der ‘Disposition’ siehe auch Kurt Lenk, ‘Ideengeschichtliche Dispositionen rechtsextremen Denkens,’ Aus Politik und Zeitgeschichte, 48 (1998), 9/10, S. 13-19. 46
Ähnlich auch Susanne Ledanffs Beobachtung über eine mögliche ‘traumatische Verletzung’: ‘Von den geheimen Quellen der Wut auf eine unendlich negative Geistesverfassung in deutschen Landen erfährt man nichts Genaues’. Ledanff, ‘Die Suche nach dem “Wenderoman”’.
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Adornos popularisierte Auffassung von missglückender Lebensführung angesichts der industriellen Vernichtung von Menschenleben stammt aus seinen Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951). Jirgls Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten=Leben (GT 513-775) liest sich wie eine Doppelreplik auf Adornos Schrift und Arno Schmidts Kaff auch Mare Crisium (1960) – Rückblick auf die überstandene Katastrophe bei Adorno, lunare Vision der bevorstehenden Katastrophe bei Schmidt. Vgl. Jochen Hörischs räsonnierenden Essay bezüglich der gnostischen Traditionsanschlüsse und exemplarischer DDR-Biographien in Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2003, S. 11-13, 29-31.
48
Sloterdijk, Weltfremdheit, S. 282-283. Siehe auch den Hinweis auf Ciorans Nachteil geboren zu sein (S. 289).
49
Siehe Norbert Bolz’ Ausführungen im Kapitel ‘Der schöne Traum von einer schlechten Welt’ in Die Konformisten des Andersseins: Ende der Kritik, Fink: München, 1999, S. 127-142.
Clemens Kammler Unschärferelationen Anmerkungen zu zwei problematischen Lesarten von Reinhard Jirgls Familienroman Die Unvollendeten Beginning with a brief discussion of central aspects of Reinhard Jirgl’s novel Die Unvollendeten, this chapter discusses two contrary readings of the text. While Timm Menke puts forward the thesis that Die Unvollendeten is characterized throughout by references to the Shoah, the social psychologist Harald Welzer criticizes it on account of its alleged narrative strategy of downplaying German culpability in the Second World War. Both readings are critically examined in relation to the primary text. While the Shoah references highlighted by Menke’s reading are not compelling, Welzer’s interpretation is based on what he claims is a central passage, the wider context of which is disregarded.
Reinhard Jirgls 2003 erschienener Roman Die Unvollendeten greift ein Thema auf, das zu den verdrängten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört und schlägt – über die Geschichte der DDR – die Brücke zur unmittelbaren Gegenwart. Der Roman handelt vom Versuch einer sudetendeutschen Familie nach der Vertreibung aus ihrer Heimatstadt Komotau im Nachkriegssommer 1945 in der SBZ und späteren DDR wieder Fuß zu fassen. Zu Beginn des ersten Teils – ‘Vor Hunden und Menschen’ – folgen die Schwestern Hanna und Maria und ihre siebzigjährige Mutter Johanna der Aufforderung, sich binnen 30 Minuten mit höchstens 8 Kilo Gepäck pro Person am Bahnhof einzufinden, während Hannas 18-jährige Tochter Anna, die sich gerade auf dem langen Fußweg vom Arbeitslager nach Hause befindet, zunächst allein zurückbleibt. Zwar kann auch sie später fliehen und die Familie kommt wieder zusammen, doch was folgt, ist deren Niedergang und Zerfall. Im zweiten Teil – ‘Unter Glas’ – geht es um Hannas Versuch, sich und ihrer Familie in Birkheim (DDR) eine Existenz aufzubauen, der aber letztlich an ihrer Weigerung scheitert, sich in das Schicksal der Vertreibung zu fügen. Ihre Tochter Anna, die der Mutter nicht verzeihen kann, dass sie sie im Moment der Vertreibung allein zurückgelassen hat, lernt auf der Flucht den ehemaligen SS-Mann Erich kennen, der sie in der Folgezeit in unregelmäßigen Abständen besucht und von dem sie schließlich schwanger wird. Im dritten Teil – ‘Jagen Jagen’
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– resümiert der krebskranke Ich-Erzähler, Annas und Erichs 1953 geborener Sohn Reiner, sein gescheitertes Leben in Aufzeichnungen an seine Frau. Auffällig ist die unterschiedliche formale Gestaltung der drei Teile: Teil 1 ist in acht Kapitel untergliedert, Teil 2 wird durch fett gedruckte Straßennamen strukturiert, die das räumliche Tableau der Erzählung markieren, Teil 3 durch minutengenaue Angaben der Uhrzeit, an der der todkranke Erzähler den jeweiligen Text in der Berliner Charité verfasst: seiner sich dem Ende zuneigenden Lebenszeit. Strukturiert wird die Erzählung auch durch Leitmotive wie Hannas Lebensmotto ‘Wer seiner Familie den Rücken kehrt, [...] der taugt nichts’ (U 8-9), dem sie in einem entscheidenden Moment aus Sicht ihrer Tochter nicht gerecht wird, oder den häufig wiederkehrenden Satz ‘1 Mal Flüchtling immer Flüchtling’ (zuletzt U 223), durch Schlüsselszenen wie den Bericht Erichs über seine Beteiligung an einem Gefangenentransport mit tödlichem Ausgang (U 73-76) und die Tötung eines Tierquälers durch einen Steinwurf des neunjährigen Ich-Erzählers (U 202-204). Grund für die Etikettierung Jirgls als ‘schwieriger Autor’ ist nicht zuletzt seine eigenwillige, immer wieder bewusst gegen die Duden-Norm verstoßende, Ortho- und Typographie. Wörter wie ‘benuttsten’ (U 43) oder ‘Viehnanz-Lobby’ (U 161) durchziehen den Text, Versalien markieren die Sprache der politischen Machthaber, Ausrufungszeichen und Fragezeichen markieren Betonungen, Zweifel vor einzelnen Wörtern oder Wortsilben. Diese und andere linguistische Abweichungen von der ‘normalen Sprache’ verfolgen das Ziel, zusätzliche Bedeutungspotentiale freizusetzen, um ‘das in den sozialen und mentalen Wirklichkeiten bestehende Unrecht zu benennen, zuzuspitzen, um es zu verneinen!’ (Gl 66). Die folgende Tabelle listet einige häufig vorkommende Elemente des Jirglschen Zeichensystems auf:
Unschärferelationen
229
Vom Duden abweichende Schreibweise
Beispiele
Mögliche Bedeutungsfunktion
Versalien Kursiv Gedrucktes
TRANSPORT ‘Wer seiner Familie den Rücken kehrt, der taugt Nichts’ (U 101)
Eingerückte Textblöcke
Erichs Bericht von der Erschießung Gefangener (U 7376) ‘Die Frau muß dem Manne dienen’ (U 69)
Sprache der Macht Äußerungen einzelner oder von Gruppen der Bevölkerung Markierung der Perspektive einer einzelnen Figur Ideologische Floskeln, Anordnungen usw. (oft mit NS-Bezug) Verfremdung, Annäherung an gesprochene Sprache Betonung, Hinterfragung von Aussageinhalten
Fraktur
Kontraktionen, Großschreibung im Wort Setzung von Ausrufungs- und Fragezeichen im Satz Wortschöpfungen
Wortspiele
Ziffer statt Zahlwort
‘GOttderherr’ (U 63)
‘?Du hastnoch ne ?!RICHTIGEFAMILIE’ (U 69)
‘benuttsten’ (U 43), ‘ViehnanzLobby’ (U 161)
Schaffung zusätzlicher Bedeutungen (Konnotationen) ‘vom Kommunistischen Manifest Ironisierung zum Globalistischen MoneyFest’ (U 197) ‘1 der Häftlinge’ (U 76) Depersonalisierung
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Clemens Kammler
Ausführlich Stellung genommen zu seiner vom Duden abweichenden Orthographie und Zeichensprache hat der Autor selbst in dem Essay ‘Das poetische Vermögen des alphanumerischen Codes in der Prosa’ (Gl 50-77). Jirgl erklärt hier ausdrücklich, dass es für den Leser darum gehe, eigene ‘Übersetzungsmöglichkeiten zu entdecken’ und dass für die Interpretation seiner Zeichen und Ziffern ‘immer und überall der unmittelbare Kontextbezug’ (Gl 70) entscheidend sei. Er warnt davor, die von ihm selbst vorgestellten Übersetzungsbeispiele als ‘Dogma’ zu behandeln (vgl. Gl 70). Bemerkenswert an der Rezeption des Romans sind zwei konträre Lesarten. Timm Menke sieht die entscheidende literarische Leistung Jirgls gerade darin, dass sein Roman die Shoah nicht nur nicht ausblendet, sondern im Subtext immer wieder thematisiert.1 Darin sieht Menke gar die ‘inhaltlich bedeutendste Leistung Jirgls bei der Darstellung von Vertreibungen aus der Heimat’: Überall im Text stoßen wir auf solche Entsprechungen: Die Deportationen zum Beispiel; die gewaltsame Evakuierung der einheimischen Deutschen aus ihren dann enteigneten Häusern, ihr Marsch durch die Stadt zum Bahnhof, um dort in Waggons verladen und abtransportiert zu werden. Das war ein aus den jüdischen Ghettos nur zu bekanntes Bild. Auch wird die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei gezwungen, als Nationalitätsausweis weiße Armbinden zu tragen (man denkt unwillkürlich an Judensterne im Dritten Reich); dann die in Flammen aufgehende Frau und die Erstickungsangst der im Keller eingeschlossenen Menschen; der brutale Raub der Ohrringe und der gewaltsame Schmuckdiebstahl. Das geschah Millionen in den Konzentrationslagern. Außerdem der Geruch bei der Leichenverbrennung im Fußballstadion nach dem Mord an SS-Männern und auch die Urangst der in einer Scheune zusammengetriebenen Menschen, das Gebäude könnte in Brand gesetzt werden. Alle diese Bilder haben Shoah-Assoziationen. So stehen die Verbrechen an den europäischen Juden und der Zweite Weltkrieg stets unausgesprochen mit im Erzählraum dieser deutschen Tragödie [...].2
Auch die Szene, in der der Protagonist als Zehnjähriger bei einer Viehentladung auf dem Bahnhof einem Tierquäler einen Stein an den Kopf schleudert, deutet Menke als ‘Auschwitz-Anspielung’, und er hält Jirgl zugute, dass er auf diese Weise, ohne eine ‘Aufrechnung der Grausamkeiten’ zu betreiben, indirekt die ‘Ursachen für die Verbrechen, die seit 1933 vom
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faschistischen Deutschland ausgingen und zu dessen sekundären Opfern eben auch die deutschen Heimatvertriebenen zu zählen sind’, thematisiere.3 Die Problematik dieser Argumentation liegt auf der Hand: Überzeugt sie schon im Detail nicht – warum denkt ‘man’ bei den weißen Armbinden, die im übrigen keine Erfindung des Autors sind, sondern die die Angehörigen der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei damals tatsächlich tragen mussten, ‘unwillkürlich an Judensterne’? –, so wäre ihre Konsequenz eine Universalisierung der Opferrolle, die den Genozid an den Juden zumindest tendenziell mit der Vertreibung der Sudetendeutschen auf eine Stufe stellt. Verbrechen wie die von Jirgl geschilderten geschahen aber keineswegs nur in den Konzentrationslagern der Nazis, und sie repräsentieren noch weniger das spezifische Grauen jener besonderen ‘Ordnung des Terrors’.4 Dieses zu erfassen und zu beschreiben versucht ein komplexer Diskurs, zu dessen wesentlichen Erkenntnissen die Einsicht in die Aporie der Darstellung besteht:5 Ebenso wenig wie Auschwitz als Symbol für irgendetwas gedeutet werden kann, überzeugt es, wenn irgendetwas als Symbol für Auschwitz gedeutet wird. Zwar ist die ‘Ungesichertheit’ ein entscheidendes Merkmal literarischer Symbole, doch gilt nach wie vor, dass ihre Deutung nicht beliebig ist, sondern im Rahmen einer kohärenten Deutung des Textzusammenhangs begründet sein muss.6 Dies erscheint im vorliegenden Fall fraglich. Nicht weniger angreifbar erscheint eine zweite Lesart der Unvollendeten. Der Sozialpsychologe Welzer hat in dem Buch Opa war kein Nazi gezeigt, dass im kollektiven Gedächtnis deutscher Familien die Tendenz besteht, ‘aus einem Tätervolk ein Opfervolk zu machen’.7 Diese Tendenz glaubt er auch in einer ganzen Reihe neuerer Generations- und Familienromane, unter anderem in Die Unvollendeten, zu erkennen.8 Problematisch ist daran zunächst, dass Welzer Jirgls ortho- und typographische Kunstsprache, die in der Tradition Arno Schmidts anzusiedeln ist, lediglich als Lesebarriere wahrnimmt.9 Besonders intensiv setzt er sich mit einer Passage auseinander, in der Erich, der leibliche Vater des Ich-Erzählers, als junger SS-Mann Zeuge eines Todesmarsches wird. Ein Häftling wird von einem der Wachhunde angegriffen und erschlägt diesen, was den Scharführer und seine Leute dazu veranlasst, das Feuer auf alle Gefangenen zu eröffnen. Erich, der die Szene als traumatisch erlebt, desertiert daraufhin – so Welzers Kommentar – ‘in eine Art Bewusstlosigkeit aus Überwältigung. Wieder zu sich gekommen,
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reflektiert er: “Ich weiß bis-heute nicht, ob ich 1 der Häftlinge erschossen hab. Od die eigenen Leute. Od die Hunde. Ob ich überhaupt jemanden getroffen hab. Keine Ahnung, was aus den Häftlingen u: aus den SS-Leiten geworden ist.”’ Der Autor Jirgl, so Welzer, bemühe hier eine ‘“gnädige Ohnmacht” [...], um das Verbrechen in einem moralisch indifferenten Raum verschwinden zu lassen’. Es stehe somit ‘unscharf im historischen Raum’.10 Diese Unschärfe, gepaart mit einem ‘geschmeidigen’ Verhältnis zur Tätergeneration, wirft Welzer Jirgl vor. Ist der erste Teil dieser Kritik schon deshalb problematisch, weil er sich gegen ein spezifisches Merkmal literarischer Sprache als solches – nämlich ‘Unschärfe’ bzw. Polyvalenz – richtet, so lässt sich der zweite nur dann aufrecht erhalten, wenn man den Kontext der kritisierten Szene und darüber hinaus den Kunstcharakter des Romans außer Acht lässt. Indem er die Aussagen einer einzelnen Figur im ‘historischen Raum’ situiert, blendet Welzer den literarischen Raum aus, in dem sie tatsächlich angesiedelt ist. In diesem ist der junge Erich einer, der in der genannten Passage zwar seine Geschichte erzählt, aber auch einer, über den im weiteren Verlauf des Romans erzählt wird – und zwar aus der Perspektive seines Sohnes, des eigentlichen Erzählers in Jirgls Roman. Dieser beschreibt ihn keineswegs als sympathische oder glaubwürdige Figur, sondern als einen, der ständig unter- und wiederauftaucht und endgültig aus dem Leben der Mutter verschwindet, als diese schwanger wird. Das Leitmotiv des Romans, der Satz ‘Wer seiner Familie den Rücken kehrt [...], der taugt nichts’ (U 8), den Hanna, die ‘unbeugsame’ und geliebte Großmutter des Erzählers, ständig wiederholt, ist auf keine Figur des Romans so sehr gemünzt wie auf diesen abwesenden Vater des Erzählers. Entsprechend kommentiert letzterer seine eigene Geburt: ‘So war 1 Anfang: ?meiner..... Niemand’s Sohn’ (U 152). An diesem einen Satz lässt sich die Problematik von Welzers Deutung zeigen. Die Einmaligkeit der eigenen Existenz, die Möglichkeit von Identität, wird durch die Ziffer (‘1 Anfang’) und das Fragezeichen (‘?meiner’) in Frage gestellt – und es ist das Nichtvorhandensein des Vaters im Leben des Sohnes, das sie fragwürdig macht. Gerade durch seine Abwesenheit gewinnt der Vater destruktive Macht im Leben des Sohnes – vgl. das gegen die orthographische Konvention groß geschriebene Wort ‘Niemand’. Eine so dargestellte Vaterfigur als symbolische Repräsentation des im kollektiven Gedächtnis deutscher Familien entnazifizierten Opas zu interpretieren, erscheint zumindest fragwürdig.
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Umberto Eco hat in einer Auseinandersetzung mit der dekonstruktivistischen Literaturtheorie darauf hingewiesen, dass es zwar ‘keine Regeln [gibt, die] verbürgen, welche Interpretationen die “besten” sind’ aber doch solche, anhand deren man entscheiden kann ‘was “schlecht” ist’.11 Eine solche Regel lautet: ‘Eine partielle Textinterpretation gilt als haltbar, wenn andere Textpartien sie bestätigen, und sie ist fallen zu lassen, wenn der übrige Text ihr widerspricht’12 – eine alte hermeneutische Einsicht, die im übrigen auf Augustinus zurückgeht.13 Damit sind auch einem Relativismus der Lesarten Grenzen gesetzt – Grenzen freilich, die insofern fließend sind, als sie die Mechanismen individueller Rezeption nicht außer Kraft setzen können. So vermute ich, dass Harald Welzer auch dann an seiner Lesart festhalten würde, wenn er die oben genannten Argumente zur Kenntnis genommen hätte, die der Autor übrigens teilt.14 Welzers besonderes Erkenntnisinteresse hat schlichtweg eine andere Wahrnehmung des Textes zu Folge als das des Verfassers oder das von Reinhard Jirgl. Gerade diesem Autor, der sich intensiv mit Nietzsche und Foucault auseinandergesetzt hat, dürfte eine Form von Interpretation vertraut sein, die Welzers, aber auch Menkes Lesart exakt entspricht. Ihre Berechtigung in Frage zu stellen, ist kein moralischer Akt: Wenn Deuten hieße, eine im Ursprung verborgene Bedeutung langsam ans Licht zu holen, dann könnte nur die Metaphysik das Werden der Menschheit deuten. Wenn aber Deuten heißt, sich mit Gewalt und List eines Regelsystems zu bemächtigen, das in sich keine Wesensbedeutung trägt, und es in den Dienst eines neuen Willens zu stellen, in ein anderes Spiel einzubringen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Abfolge von Deutungen. Und die Genealogie muss deren Historie sein […].15
Anmerkungen 1
Timm Menke, ‘Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten – Tabubruch oder späte Erinnerung?’, Glossen, 8 (1994), 20. Unter: www.dickinson.edu/glossen/heft20/menke.html. 2
Menke, ‘Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten’.
3
Menke, ‘Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten’.
234
Clemens Kammler
4
Vgl. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Fischer: Frankfurt a.M., 1993.
5
Zum Problem des ‘Unsagbaren’ im Zusammenhang mit der Shoah vgl. Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge, Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2003.
6
Vgl. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 2004, 5., durchgesehene Auflage, S. 85-89.
7
Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall, Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Fischer Taschenbuch: Frankfurt a.M., 2002, S. 58.
8
Vgl. Harald Welzer, ‘Schön unscharf: Über die Konjunktur der Familien- und Generationsromane,’ Mittelweg, 36 (2004), 1, S. 53-64.
9
Welzer, ‘Schön unscharf,’ S. 58.
10
Welzer, ‘Schön unscharf,’ S. 58-59.
11
Umberto Eco, Zwischen Autor und Text: Interpretation und Überinterpretation, dtv: München, 1996, S. 59. 12
Eco, Zwischen Autor und Text, S. 73.
13
Vgl. Eco, Zwischen Autor und Text, S. 73.
14
Vgl. dazu das Interview in diesem Band.
15
Michel Foucault, ‘Nietzsche, die Genealogie, die Historie,’ in: ders., Dits et Ecrits: Schriften, Band 2, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2002, S. 166-190 (hier: S. 178).
Dieter Stolz ‘Das Aufbrechen der verpanzerten Wahrnehmung’ Reinhard Jirgls Roman ABTRÜNNIG – ein (un)vermeidbarer Amoklauf ABTRÜNNIG is a double love story, a Berlin epic, a polyphonic text about lifewriting, a book full of rage that critiques language clichés, media, society and ideology. This multi-voiced novel can justifiably be read as the continuation of an endless literary experiment that reflects on our ‘nervous’ millennial culture. Jirgl exploits the specific forms of expression of this epoch, for example in his use of ‘links’ in the novel, without losing sight of their potential pitfalls. The text’s crossreferences and Jirgl’s use of montage are the expression of a radical aesthetic opposition that calls into question rigid and prescriptive world-views.
I Ansatzpunkt, Methode, Zielperspektiven ‘Der Leser verlangt nach Zumutungen.’ (Günter Grass)1 ‘Es geht, glaube ich, nur noch mit Überschwemmungen.’ (Heiner Müller)2 ‘Eine Unregelmäßigkeit, eine kleine Störung genügt. […] Und mit einem Mal verdichtet sich das zur großen Unerträglichkeit, zu einem Augenblick, an dem die Last vergangener Kränkungen mit der künftigen Monotonie in einem Anfall von Schwäche zusammentrifft und alles verändert. […] [W]er also plötzlich und fast ohne Anlass aus dem gleichmäßigen Takt herausgefallen ist und nun blind und unbeirrt zugleich eine andere Bahn zieht, der hat sich in ein Projektil verwandelt, gegossen aus den Elementen der Normalität. […] Zuletzt ist der Amokläufer weder Abenteurer noch Bösewicht, weder Ungeheuer noch bloß kriminell, er besetzt vielmehr jenen empfindlichen Ort, an dem eine unspürbare, unsinnliche Gefahr eine plötzliche Gestalt annimmt und uns mit einem Mal verdeutlicht, dass im allgemeinen Friedenszustand die Panik und ein noch unspezifischer Ernstfall eingeschlossen bleiben.’ (Joseph Vogl)3 PS: ‘Wonach also willst du ?suchen.
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– Nach Auswegen. Irgendwo müssen Die gewesen sein: in der-Geschichte die Not-Ausgänge. Denn Nichts hat genau=so kommen !müssen, wie Es gekommen ist.’ (At 384) II Annäherungsversuche Reinhard Jirgl bleibt sich und seiner eigensinnigen Spracharbeit auch in ABTRÜNNIG treu. Er schöpft auch in diesem vielstimmigen Gegenwartserkundungsprojekt – allen Mutmachern und wegweisenden Vorbildern sei Dank! – aus dem Vollen. Er greift erneut mitten hinein ins nicht zuletzt in Bibliotheken und Archiven dokumentierte Menschenleben und wuchert wie selbstverständlich mit gewichtigen Pfunden. Natürlich sind begrenzte Figurenperspektiven und wechselnde Sprachrollen im Rahmen einer intellektuell redlichen Interpretation stets zu beachten. Aber unabhängig davon ist alles in dieser Textordnung gleichzeitig präsent: vom dreidimensional-poetischen, bildliche, semantische und rhythmisch-musikalische Elemente verschmelzenden, zugleich politische Dimensionen eröffnenden Umgang mit Zahlen und Zeichen – ‘!Hosiannah ist vom !Kreuzigt ihn nur 1 Silbe entfernt’ (At 217) – über die drastische Darstellung vertierter Zeitgenossen mit entlarvendem ‘Tonphall’ (At 100) und die subtile, Gänsehaut provozierende Gestaltung flüchtiger Wahrhaftigkeit in einzigartigen Augenblicken – ‘Keine Blicke; statt dessen recken sich auf unseren entblößten Unterarmen […] winzige Härchen von Haut-zu-Haut ein=ander entgegen’ (At 113) – bis hin zum virtuosen Spiel mit literarischen Traditionen, aktuellen Wissenschaftsdiskursen, philosophischen und psychoanalytischen Modellen oder sozio-ökonomischen Systemanalysen. Es handelt sich um ein nach ästhetischen Regeln entworfenes Roman-Spiel, das nie losgelöst von den narrativen Regeln des wild wuchernden Sprach-Rhizoms im Spannungsfeld von Wirklichkeits-Erfahrung und ihrer künstlerischen Verarbeitung auf verschiedenen Reflexionsstufen betrachtet werden kann. Um keine größeren Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei also gleich betont: Im Zentrum der Diskussion steht selbstverständlich die literarische Um-Schreibung von Realitäten im doppelten Wortsinn, nicht die Realität selbst. Eine Binsenweisheit. Ausdrücklich hingewiesen sei in diesem Zusammenhang dennoch schon einleitend auf die romaninterne Sonderstellung des nach ganz eigenen Gesetzen funktionierenden, nicht zuletzt
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durch satirische Züge ausgezeichneten Handbuches ‘Erziehung Berlin. Sexus=Kapitalismus=Maschine’ (At 175-292). Denn insbesondere dieses Buchfragment im Buch ist, trotz verschwimmender Grenzlinien zwischen den Figuren, nicht ungestraft mit anderen Romanstimmen oder derjenigen, die sie von berufswegen erfunden hat, zu verwechseln: Welcome to the TextZerarbeitungs-Maschine. So komplex, so gut. Da hilft methodisch nur die Flucht nach vorn und darum sei – Angriff ist bisweilen die beste Verteidigung – behauptet: Der Zweck heiligt die aus dem vertrackten Aufbau des Kunstwerks abgeleiteten Mittel des vorliegenden Essays und zwar in der Hoffnung, dass dieses approximative, an Springprozessionen gemahnende Verfahren trotz aller Unschärfen und Redundanzen dazu beitragen kann, dem vielseitigen RomanObjekt der Begierde in mehreren Anläufen wenigstens ansatzweise gerecht zu werden. Aber ich greife vor und gehe – auch auf die Gefahr hin, damit in einer beliebten Kritiker-Sackgasse zu landen – zunächst noch mal einen Orientierungsschritt zurück und zwar zum Autor, der im Rahmen dieser Textinszenierung, wie sich zeigen wird, im Grunde nur ganz am Rande ins Spiel kommt. Dennoch spricht das gesammelte Hintergrundmaterial im hermeneutischen Interpretationsprozess Bände – zumindest gegen die Etikettierungswut verunsicherter Schubladendenker. Denn Reinhard Jirgl, es folgt eine aus verstreuten Fundsachen kollagierte Überblicksskizze, ist – um wenigstens den enormen deutschsprachigen Raum mit einigen Stellvertreternamen zu würdigen – nicht nur ein Erbe Nietzsches, des jungen Brecht, Alfred Döblins und Franz Kafkas. Er steht gleichzeitig in der Tradition der Spießer- und Untertanenkritik von der Romantik bis Heinrich Mann. Er ist ein zeitgenössischer Baal, der sich auf den Spuren Arno Schmidts an Theorien der Macht, des Leviathan und der ‘Masse Mensch’ berauscht, ein später Wiedergänger des sozialen Radikalismus der Zwanziger Jahre. Natürlich wird auch Siegfried Kracauer, von wem auch immer, herbei zitiert. Festzuhalten bleibt, kleiner ist es von diesem ebenso traditionsbewussten wie innovativen Großmeister der Schreibkunst glücklicherweise nicht zu haben. Doch mit dieser Liste ist zum einen nicht viel gewonnen, zum anderen ist es mit diesem Rundumschlag noch längst nicht getan. Darüber hinaus trifft man an mehr oder weniger deutlich markierten, stets durch den Kontext
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motivierten Stellen – auch hier müssen ausgewählte Beispiele genügen – auf den produktiven Umgang mit anderen Textgattungen, etwa auf die von aufgeweckten Romangeistern sexualisierte Lehre vom Fetisch-Charakter der Ware, auf Paraphrasen von Foucaults Mikrophysik der Macht oder Batailles Hymnen auf Verausgabung und Verschwendung, auf Baudrillards Analysen zum Fetischismus des Geldes oder Entropieexkurse, auf mathematische Formeln für die Wut oder monströse Gewöhnlicheiten der AmokDramaturgie, auf Internet-Abhandlungen über künstliche Intelligenz oder eine kurze, von Schriften des Medientheoretikers Boris Groys inspirierte Geschichte der modernen Künste. Und wozu der ganze Aufwand? Recycling? Bildungshuberei? Selbstzweck? Nein, im Gegenteil. ABTRÜNNIG, das soll im Folgenden vor diesem bombastischen Tableau genauer herausgearbeitet werden, kann als Fortsetzung eines unabschließbaren Schreibexperiments auf dem Reflexionsniveau unserer aufgeregten Jahrtausendwendezeit gelesen werden, einer Zeit, deren spezifische Ausdrucksformen kreativ genutzt werden, ohne die mit dieser Anverwandlung verbundenen Gefahren zu ignorieren: ‘Worte sind Kleider, & wer Kultur hat, wechselt sie häufig. Sie fangen sonst an zu stinken’ (At 207). Mit gewendeten Worten, Reinhard Jirgl, respektive seine schreibenden Protagonisten, denn das sind die eigentlichen Wortführer in ABTRÜNNIG, buhlen auch mit diesem an frühere, bisweilen apokalyptisch anmutende Gegenweltentwürfe anknüpfenden Prosawerk nicht um ‘die schwammigen Wünsche & Er-Wartungen irgendeines Pub-lick-ums, u: schon !garnicht um den geluckten Schwatz der-Medjen-1-Tags=Affen’ (At 110). Sie geben sich kompromisslos und erzählen uns die ‘Ganzegeschichte’ (At 322) vom durch keinen Utopieentwurf aus der Welt zu schaffenden Konflikt zwischen dem vereinzelten Ich und den spezifischen Lebensverhältnissen – natürlich unter den für Lautmaler und Formulierungskünstler symptomatischen Vorzeichen, selbstverständlich erneut ein bisschen anders, aber mal wieder alles andere als ‘politisch korrekt’ im Sinne der Hofgeschichtsschreibung. In diesem Fallbeispiel (das Ganze spielt in den Jahren zwischen 2000 und 2004) wird allen geneigten Leseratten (man muss sich ja nicht mit jeder der sprachmächtig aufbereiteten, aus unterschiedlichen Perspektiven gebotenen Hasstiraden identifizieren) eine nachdenklich stimmende Neuauflage des vielleicht gar nicht so Goldenen Zeitalters der Neurasthenie vor Augen
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geführt, von der Kurt Tucholsky schon nach dem Ersten Weltkrieg in Bezug auf die Weimarer Republik sprach. Denn all das, was bürgerliche Schrumpfkultur ausmacht, ‘Verdrängung, Sublimierung, Ideen’ (At 175), gepaart mit überschneller Erregbarkeit und geringer seelischer Belastbarkeit, erleben selbst privilegierte Europäer nunmehr verschärft und zwar unter den Bedingungen neoliberaler Globalisierungskämpfe. Von allein selig machenden oder wenigstens Ruhe und Sicherheit garantierenden Ordnungssystemen, von ewigen Werten oder humanistischen Normen, die das ‘Jahrhundert-derLager’ (At 19), Vertreibungen und Zivilisationsbrüche unbeschadet überstanden hätten, von einem allgemeinverbindlichen Konsens über realistische Formen friedlicher Koexistenz im Kleinen wie im Großen findet sich in den hier ausgeleuchteten Zeitläuften kaum ein Schimmer: ‘Und von Freiheit bleibt, was Menschen an Freiheit schon=immer verlockend fanden: daß jeder jeden umbringen kann’ (At 21). Der in dieser radikal entzauberten Textwelt beschworene Epochengeist – irreversible Verluste und Restbestände säkularisierter Theologeme sind sowohl mentalitäts- als auch begriffsgeschichtlich nach wie vor relevant – wird von ganz anderen, zweifellos grausamen Tendenzen bestimmt: vom mittlerweile weltumspannenden Manchesterkapitalismus, vom alle Lebensbereiche durchdringenden Staatsterror, vom fatalen Ersatzglauben an medial vermittelte Wissensanhäufung, von mangelnder gedanklicher Durchdringung der Pseudofaktenflut, vom permanenten Alarmzustand durch eine gezielt verunsichernde Angstproduktion und also von politischen Komazuständen, religiösem Fanatismus und apolitischen Amokläufen nicht nur auf den Spielwiesen der phantastisch realistischen Fiktion – ‘[J]ede Zeit mordet nach ihrem Geist’ (At 375). Doch was wird von wem erzählt? III Zugänge Aller guten Dinge sind mindestens drei Namen für ein Schreibprojekt: 1. ABTRÜNNIG ist eine doppelte, an vergleichbaren Paarkonstellationen mit unterschiedlichen Wunschverhältnissen exemplifizierte ‘Liebes Geschichte’ (At 457) der Jetzt-Zeit. Zentral stehen zwei im tagtäglichen Existenzkampf unter die Räder gekommene Protagonisten, zwei abtrünnige Männer, die aus dem Rahmen fallen, keine Engel.
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Der eine, ein nach langer Leidenszeit alkoholsüchtig, aber nie erwachsen gewordener Bauernsohn aus dem Wendland, der vom Kindesalter direkt ins Greisenalter gesprungen ist, bricht alle Brücken zu seinem bisherigen Existenzdrama ab. Der so genannte ‘freie’ Journalist verlässt die Ehefrau, geht nach Hamburg und folgt der geliebten Therapeutin Sophia nach Berlin. Am offenen Ende seiner von Schreibanstrengungen und einem Amoklauf gekrönten Lebensreise scheint er nach einer Tumoroperation von genau diesen beiden Frauen quasi an Kindes statt angenommen zu werden – und die ganze, vielleicht von A bis Z erfundene Geschichte – teils zeitnah, teils im Nachhinein – zu erzählen. Der andere, ein BGS-Beamter, ehemaliger DDR-Grenzsoldat, der seine geliebte Ehefrau durch Krebs verloren hat, verhilft einer Ukrainerin namens Valentina zur illegalen Flucht nach Deutschland. Später versucht er, sich seine neue Verliebtheit endlich eingestehend, diese mittlerweile als ‘Zimmermädchen’ ausgebeutete Frau in der mauerlosen Hauptstadt der BRD zu finden. Er arbeitet als Taxifahrer, irrt umher, und kommt schließlich, nachdem er Valentina auf Umwegen wenigstens finanziell helfen konnte, durch die Hand ihres Bruders ums Leben. Zwei verstörte Außenseiter, beide nach langer Lethargie plötzlich bereit zum letzten Gefecht und zwar aus ‘wahrer Liebe’, die je anders verläuft, aber in beiden Fällen banal endet. Zwei Seiten einer Lebensmedaille, zwei namenlose Erzählerstimmen, die sich im Roman so überlagern und ergänzen, dass sie durchaus als Sehnsuchtsvarianten einer zum Scheitern verurteilten Existenz verstanden werden können: ‘Weder Heimkehr noch Ausbruch geglückt. Im wahrsten Sinn ist ihnen nicht mehr zu helfen’ (At 484). 2. ABTRÜNNIG kann als zugleich düsterer und sinnenfroher Berlinroman gelesen werden, der sich gar nicht erst auf unergiebige, durch die Figurenkonstellation nahe gelegte Ost-West-Polarisierungen einlässt, sondern gleich die entscheidenden Fragen nach Affirmation oder Verweigerung, nach individuellen Lebensentscheidungen unter wechselnden Rahmenbedingungen im Mikrokosmos Großstadt stellt. Und dieser Moloch brodelt. Die Möchtegern-Metropole – ‘Un-Massen toten Steins’ (At 73), eine allen (un)erwünschten Interpretationen offen stehende ‘Chiffrenwelt’ (At 395) – ist bevölkert von Menschen, die durch lärmende Straßen geistern, ‘Straßen enger flackernder Begierden Dreck & Suff & Schlägerein’ (At 37), ‘[a]ls
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hätten sämtliche Irrenhäuser der Welt zu-dieser-1-Stunde Freigang’ (At 507). Es grenzt an ein Wunder, ‘daß Totschlag & Mord eher selten sind in Dieserstadt…..’ (At 507). 3. ABTRÜNNIG spiegelt ein ebenso trostloses wie wirklichkeitsgesättiges Gesellschaftspanaroma mit sprach-, medien-, kultur- und ideologie-kritischen Implikationen: Kaum von der Nabelschnur abgeschnitten, hängen wir uns mit Feuereifer an alles=mögliche Zeug – Sex Geld Karriere Familie-Gründen Lifestyle Fußball Sozialismus Kapitalismus Kino Zocken Saufen Homöopathie Zen Feminismus Joggen Popmusik Kunst Koksen Feten-feiern Ökoessen Kirche-gehn Umweltschützen Kinderhilfswerk Töpfern Alleine-Mutter-werden Kegeln Selbstmord – :Es gibt Nurmode, sonst gibt es Garnichts. (At 135-136)
Durchwirkt erscheint das heterogene Text-Konglomerat von geschichtsphilosophischer Skepsis und einem wenig euphorisch stimmenden Bild vom schmutzigen ‘Menschen-Vieh’ (At 268), das seit Jahrtausenden immer wieder deutlich macht, aus welch unedlem Holz es geschnitzt ist: homo homini lupus, die Krönung der Schöpfung ist und bleibt, so lautet das variantenreich, aber stets unsentimental vorgetragene Lamento, selbst als aalglatter homo oeconomicus im digitalen Marketing-Zeitalter ein narzisstischer ‘HOMO BARBARUS’ (At 73), eine überlebenswillige und erlösungssüchtige Egoratte (At 230) oder eben ein krummes Stück Holz (At 452), das auch nach Immanuel Kant oder Sigmund Freud nicht gerade gebogen werden kann, ohne dass es zerbricht: ‘?Müssen wir=die mit Gegenwarts-Bewusstsein begabten Menschen daraus schließen, daß […] unsere Gattung dumm….. war, dumm….. ist, dumm-bleiben….. wird.– Dem scheint so’ (At 176), stellt eine Erzählerstimme im Maschinen-Raum des herausfallenden Mittelteils des Romans fest, der allerdings auch dem (Ex-)Journalisten zuzuschreiben ist – jedenfalls spricht das einzig datierte Kapitel ‘Bittere Neige’ (At 199-216) dafür. Eine erste Zwischenbilanz: ABTRÜNNIG, der in Geburts-, Arbeits- und Todestage eingeteilte, von einer im Herbst 2004 spielenden Rahmenerzählung zusammengehaltene Roman kann als ein konsequent fiktionalisiertes Sprachkunstwerk über das Leben schlechthin gelesen werden, als eine dunkle verzweigte Erzählung, in der erhellende Kreuz- und Querverbindungen
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hergestellt werden, um Geschichtsklitterung und Lebenslügen, starre Wahrnehmungsmuster und frigide Weltlese-Vorschriften ad absurdum zu führen. IV Eingang Zurück: Am Anfang der Romaninszenierung steht ein Intro. Da sagt jemand ‘Ich’. Dieser selbsternannte Nicht-Sträfling könnte also derjenige sein, dessen Lebensgeschichte hier erzählt und damit zwangsläufig fiktionalisiert wird. Wahrscheinlich ist zudem, dass dieser wahrhaftige Lügengeschichtenerzähler mit größerem zeitlichen Abstand und schon dadurch gefilterter Emotionalität ans Werk geht. Der (Ex-)Journalist? Es könnte aber auch ganz anders sein. Vielleicht ergreift hier jemand das Wort, der sich alles, was in diesem Lebens-Buch steht, ausgedacht hat. Oder ein naher Verwandter, der vorhandenes Material für seine Versuchsanordnung nutzt. Wer weiß. Die Motivfelder werden demgegenüber auf den ersten Blick sehr eindeutig bestellt: Hier geht es um Leben und Tod, Verbrechen und Strafe, Schuld und Sühne, Stadt und Land, Liebe und Schmerz, Kunst und Leben, so schließt sich der erste Kreis. Eine theatralische Szene, ein Assoziationsstrudel zum Thema Erzählbewußtsein und Identitätsverlust. Jeder sieht, was er sehen kann oder sehen will (ein zeitloses Arrangement: Hamlet und Stiller sitzen im Gefangenenlager von E.E. Cummings’ The Enormous Room auf einer riesigen Blechtrommel und lesen sich wechselseitig die ersten Sätze aus Robert Menasses Roman Sinnliche Gewißheit vor: ‘Hier ist nicht Einfried, das Sanatorium. Mein Vater war kein Kaufmann’, Kafka lacht sich tot, Schnitt). Tatsächlich auf die Bühne der ersten Buchseiten gebracht wird in ABTRÜNNIG die nacherzählte Geschichte der schweren Geburt eines in jeder Beziehung entwurzelten Schriftstellers aus dem Ungeist der ‘nervösen Zeit’. Zuvor gab es für diesen namenlosen Eigenbrötler – ‘1=jener Feiglinge, die zum !Verbrecher werden müssen’ (At 108), eine menschliche Zeitbombe, ‘deren Werk, 1mal=in-Gang-gesetzt, Nichts mehr zu stoppen vermag’ (At 11) – nur die kinderlose Ehequal, Alkoholexzesse und das dienstliche Wörtermachen in der Zeitungs-Redaktion: Ausbeutung, Schikane, Mobbing, ‘Abschiede Täuschungen Ent-Täuschungen’ (At 541), ‘Tag-auf-Tag ein Amoklauf=nach-Innen, gegen=sich=selbst’ (At 349), gefangen ‘im Spiralnebel All-täglicher Kränkungen’ (At 11): ‘Zuflucht nirgends’ (At 10).
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Eine bestürzende Bestandsaufnahme, die ‘Quadratur des Schreckens’ (At 417). Unterm Strich summieren sich einförmige Arbeitstage, die als ‘lebens= lange Demütigung’ (At 237) erlebt werden: von den Diktatoren der asozialen=Arbeizwelt verkrüppelt, die, mal sozialistisch mal kapitalistisch maskiert, nur immer weiter Verkrüppelte hervorbringen, u hinter allen Verkleidungen immer nur das 1: Trübnis & Trostlosigkeit aus aller Maloche, so altbekannt, so vertraut, daß sie schon nicht mehr wahrgenommen werden kann […]. (At 237)
Jirgl präsentiert ein zum Himmel schreiendes Höllenszenario von dieser Welt. Abgrundtiefer (Selbst-)Ekel macht sich breit, denn Leben heißt unter diesen Prämissen nur noch ‘Schlüsselloch-Gelinse: Die Ehe & der Scheißberuf ließen mich zum Leben’s Spanner werden […]: keine Glut, nur Asche noch u Nichts, das ich noch !wagen mochte’ (At 108). Wir kennen den Rhythmus. Wir kennen die Melodie. Das Dasein als Krankheit zum Tode. Vor den Augen des Lesers entsteht ein sich selbst schreibend analysierender Neurotiker, ‘Handschellen um den Willen, Ketten um den Hals der Lust’ (At 108). Dieser Einzelne erlebt sich – Schlag auf Schlag, hier wie dort – als verraten und verkauft, durch omnipräsente Zwangsmechanismen, Entwürdigungsrituale und unausweichliche Zufälle im Räderwerk der Maschine zermürbt. Angestautes, durch einen winzigen Funken zu entzündendes Gewaltpotential ist zu erahnen. Alpträume und ihre affektgeladene Schmuggelware, Depressionen und jähe Hassanfälle stehen auf der Tagesordnung. Kurzum: ‘Das gesamte Alfabet zur Versäuerung des Lebens’ (At 163) wird auf verschiedenen Text- und Erlebnisebenen durch-buchstabiert, das Ende scheint vorprogrammiert zu sein. Es ist jedenfalls kaum zu erkennen, wie der Ausgang aus dieser Zelle der offenbar nur teilweise selbstverschuldeten Unmündigkeit gelingen könnte. Kurzum, wie man es drehen und wenden mag, wir werden in ABTRÜNNIG mit einer akuten Krisensituation konfrontiert, die, selbst wenn sie unter fiktiv verdichteten und also natürlich ein wenig verdrehten oder sogar gänzlich verkehrten Vorzeichen dramatisch zugespitzt wird, nach der berüchtigt-berühmten Grundsatzentscheidung schreit.
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V Ausgänge Unverhofft kommt oft. Die schreibende Romanfigur beweist in dieser katastrophalen Lage Eigensinn. Der gescheiterten Suche nach positiv besetzter Einsamkeit folgt nach der längst überfälligen Scheidung der Entschluss, alle Brücken ins Wendland abzubrechen, und die überlebensnotwendige Entziehungskur zu machen. Damit ist der Weg frei für eine von Urtrieben bestimmte, zumindest kurzfristig aus dem LebenmüssenSterbenwollen-Dilemma herausführende Episode. Man könnte auch sagen, es folgt eine klassische Neu-Geburt ‘spät im August des Jahres 2000’ (At 80). Das Suchtpotential sucht sich neue Kanäle, in diesem Fall die unter kuriosen Bedingungen entflammte Liebe zur Therapeutin, carpe diem, einer im Grunde allerdings ebenfalls ich-schwachen, aus der existentiellen Not eine Tugend machenden, dem Lust-Prinzip frönenden Figur. Memento mori. Dennoch erweist sich dieser Berge versetzende Emotionsausbruch als Initialzündung mit enormer Sprengkraft für die weitere Entwicklung. Diese Liebe avanciert zum vermeintlichen Gegengift zur ‘langsam & unerbittlich tötende[n] Leben’s Langeweile’ (At 116). Plötzlich glaubt der schon am Rande der Verzweiflung taumelnde Einzelgänger ganz genau zu wissen, was zu tun ist. Er will sein Buch vollenden. Angekommen im Dickicht der Stadt Berlin, mutwillig, denn Mut ist ‘eine Waffe’, ‘die man benutzen muß’ (At 240), sucht der von innerer und äußerer Arbeitslosigkeit Bedrohte den Weg zurück zur verdrängten Natur. Ich schreibe, also bin ich, so lautet das damit verbundene, allerdings schon im pathetischen Genie-aus-dem-Wald-Ansatz (At 217) nicht ganz unproblematische, im Roman selbst parodierte Programm. Das Ziel hatte er nicht vergessen: Schriftsteller-sein, zwischen den Bäumen des Waldes, allein=für=sich schreiben was er lesen wollte. Bäume sind Vorfahren der Bücher & der Särge. Meinem Buch künftig des Lebens Ganzes=Ich, dem Sarg was Rattenfutter ist an mir. (At 261)
Der hier zitierte Hilfswaldarbeiter, eine an Brechts Kulturhoffnung der Antibürgerlichkeit angelehnte Identifikationsfigur des Ex-Journalisten, ein edler Wilder, ein Papiertiger im bereits angesprochenen Buchfragment in der Mitte des Romans, deutet die Grenzen des Befreiungsschlags an: ‘Schreiben frißt Leben’ (At 266). Nichtsdestotrotz zählt ab jetzt für den besessen
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Liebenden nur noch der legendäre Ritt über den Bodensee, und das heißt, der von Rauschzuständen und Traumlogik, von ambivalenten Gedanken und Gefühlen begleitete Ausbruch in die Gefilde anderen Schreibens, anderen Lebens, anderen Sterbens: Weitundbreit die Menschen & ihre Geschichten, die nach=mir greifen u mich schrecken. Ich werde sie einsperren in Meinembuch. Denn der Schrecken ist das Gefängnis der Wörter. Ich gehe auf sie zu, und gehe in Fremder Landschaft hinein. (At 11)
Momente tierischer Glückseligkeit, Träume vom befreienden Attentat, von verbaler Brandstiftung, vom ‘Großen Abtrünnigen Leben’ (At 112), retardierende Momente durch eigenes Anpassertum und Kleinkinderangst vorm schwarzen Wald (At 62), Bewusstseinsschübe durch wegweisende Ratschläge seiner Geliebten – ‘Der Trotz der in Jedermanns Schreiben liegt wird Sie retten’ (At 61) – bestimmen das Auf und Ab der Entwicklung. Doch ein Sprung aus dem Teufelskreis in einen erlösenden Glauben will dem (Ohn-)Mächtigen nicht gelingen: ‘Alles kehrt wieder u: Nichts ist zu retten’ (At 514). Auch der Heilsgedanke durch Therapie erweist sich als Illusion. Wir müssen’s wohl leiden; ein permanenter Kampf, ein absurdes Drama ohne Ende. Die Suche nach Fluchtwegen geht dessen ungeachtet weiter: !Ja: !Schreiben..... Ich werd wieder !Schreiben.: ?Angst - : das Eingeständnis, Schreiben zu !müssen, bedeutet zugleich das Bekenntnis, man verstehe nur !schlecht zu leben –: Also ?!wovor sollte jemand, der schlecht zu leben versteht, noch ?Angsthaben müssen. (At 61)
Zum Beispiel vor der Erkenntnis, dass das Verlassen des Lebenskäfigs den schreibenden Gefangenen nicht befreit, sondern in die Wirklichkeit des ‘Lebens-ver-!LIES-Es’ setzt, und dass man auch als potentieller Zerstörer von Fassadenwelten, Sprachschablonen und Worthülsen in Sackgassen gerät und nicht von Hoffnungen verschont bleibt, ‘die sofort aufplatzen wie Brandwunden, u drunter hautlos das rohe Fleisch..... das verdorbne, genährt aus vergiftetem Blut’ (At 514). Und so kommt schließlich alles, wie es unter den geschilderten Umständen wohl oder übel kommen muss. Die hier als bürgerliches Welttheater inszenierte Ideologie des Amok folgt ihrer ganz
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eigenen Gewalt-Dramaturgie und kulminiert im gleichzeitigen Ausbruch von wilder Raserei und gezielter Wut. Der Gedemütigte schlägt zurück: Ich schritt kräftig aus. Weitundbreit sollte kein Mensch bleiben, der mich erschrecken könnte. Das waren letzte Wortfetzen von Dieserstimme, die Früher die meine gewesen sein mußte & der ich nun zugehört hatte wie der Schauspielerstimme in 1 Farce auf dem Theater. Worte, die eigentlich kleine hervorgeschluckte Schreie 1 Ertrinkenden gewesen sind, eiligst & voller Not noch 1 Mal hervorgestoßen, – bevor der Ertrinkende für=immer verstummend in die Wassertiefen sinken muß. Vorbei.– Wer verraten ist, der hat nichts mehr zu verlieren u niemand, dessentwegen Wut noch lohnt.– (At 517)
VI Notausgänge Am Ende – ‘Exit Existenz’ (At 539) – steht ein relativ unspektakulärer Abgang der im Grunde austauschbaren Textmaschine – ‘Ich=der-Mörder’ (At 516) – von der selbst gezimmerten Bühne: ‘Dann !Der-Moment: die Eine Leuchtziffer im-Innern rot gellend der Aus=Ruf !GENUG. ES !REICHT’ (At 541). Ein Klageruf mehr auf allzu geduldigem Papier. Damit wäre nichts gewonnen, darum geht die geöffnete Kreis-Architektur des Romans – sicher auch ein Abbild des zyklischen Verlaufs der Erinnerung an ein gelebtes und dann in mehreren Etappen niedergeschriebenes Leben – noch einen Schritt weiter. Denn alles dreht sich um ‘die beiden einzig=gewissen Zustände des Menschseins’ (At 80). Nur der ganz reale Todesschrei – so glaubt der Abtrünnige am Ende seines Irrlaufs –, ‘scharf u schrill, wie 1 Stichflamme dem Rachen entfahrend – hoch hinaus – in Schmerz u Unschuld so stark und weiß wie das Licht’ (At 538), erzählt die echten Geschichten, die sterbensernsten. Alle Schreie des Schmerzes über erniedrigende Arbeitsverhältnisse wirken demgegenüber unbedeutend. Nur der den Geburtsschrei zurücknehmende Todesschrei verbürgt einen Hauch von Wahrhaftigkeit, fernab von lächerlichen Ironieattitüden oder zynischem Defaitismus, NEMA, so viel Anti-Pathos muss sein. Bereit für den Sturz in die Unwiderruflichkeit, ins freud- und leidlose Nichts, kommt der Namenlose als Paradebeispiel einer zerhackten, von Um- und Abbrüchen geprägten Biografie aus dem Ungeist
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des allgegenwärtigen Überlebenskrieges schließlich doch noch ans ihm offenbar gemäße Ziel. Sein größter Wunsch geht nach mehreren vergeblichen Versuchen – verhinderter Selbstmörder, eingebildeter Brandstifter, tatsächlicher Mörder auf den Spuren Raskolnikows – in Erfüllung: Ich habe ihn ein Mal gehört DEN SCHREI 1 Menschen, kurz bevor das Leben ihn verließ durch meine Hand […]. !Wie schön, jemanden zu töten, dem der Verlust des-Lebens EINEN SCHREI wert ist. […] Und so sage ich es noch einmal, leise für=mich, aus tiefster Überzeugung: –Ich bin glücklich. (At 538)
Paradox genug, ein später Triumph, denn im Licht dieses Schreis erscheint die Gewalttat nicht etwa als Kapitulation, sondern als Signal des Willens zum selbstbestimmten Sein gegen das fremdverfügte Nicht-Sein (At 31). In diesem Sinne springt hier jemand – nolens volens – aus der Ökonomie des fremdbestimmten Lebens heraus. Er feiert ein Fest, eine Tat aus Freiheit und Lust, ein etwas anderes Happy End. Der Amoklauf, jenseits von Gut und Böse, wahrhaftiger Ausdruck der Verzweiflung am Unwert der Existenz, wird in diesem Kontext ‘zur !vitalen, zur Lebensbe!jahenden Tat’ (At 30). Einer Tat, die, so lautet der nicht nur zwischen den Zeilen heraus zu hörende Grundtenor des Romans, keineswegs von der Sozialordnung abzukoppeln ist, die Amokläufer hervorbringt. Denn die Gesellschaft, dieser hässliche ‘Balken im Fleisch’ (At 385), birgt, so kann gefolgert werden, den Keim aller potentiellen Verbrechen, die als Wahrscheinlichkeit und Eventualität jederzeit gegenwärtig sind. Im durch eine Winzigkeit ausgelösten, letztlich unerklärbaren Gewaltakt,4 dem schlimmstmöglichen Unfall für alle zufällig Beteiligten, manifestiert sich demnach das latente Risiko, dem jeder ausgesetzt und das gewissermaßen jeder selbst ist. Unter diesem Gesichtspunkt machen gerade diese Abtrünnigen unsere entgeisterte Phantomwirklichkeit, ihre Funktionsweise und innere Spannung evident. Als entindividualisierte Wölfe im Schafspelz markieren sie die Sollbruchstellen, an denen der Konsens reißt oder gerade noch trägt. Kein Wunder, die Identität von Täter und Opfer, Gefangenem und Wärter löst sich auf, gesetzt den Fall, man akzeptiert diese Voraussetzungen. Spätestens dann spricht alles für den Weg ins Aus: ‘Mein Körper hat mir die Richtung vorgegeben: ich werde zusehends dürrer: !Verschwinden sollst du’ (At 518).
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Was bleibt, sind die Wirklichkeiten des Textes, ein über all die menschlichen, allzu menschlichen Projektionen Zeugnis ablegendes Buch, eine ‘Freak Wave’-Komposition (At 317), die sich, als sei Sprachmaterial in Wut geraten, nicht nach den Gesetzen der Geradlinigkeit ausbreitet, sondern plötzlich irreguläres Verhalten zeigt. Es liegt vor uns ein Roman, dessen Entstehungsprozess mitgeliefert wird. Am Ende steht demnach die eigentliche Tat des Schriftstellers, ein multiperspektivisches, mehrfach gebrochenes und dennoch mitreißend von der Gier nach ungelebtem Leben und regressiver Todessehnsucht, von Liebeshunger und unstillbarem Durst, von Leidenschaft und Langeweile erzählendes Wortkunstwerk: Im Postamt das Paket mit dem fertigen Manuskript abgegeben. Vermutlich am Nächstentag wird es den Verlag erreichen. (Mare Vanitatum, 1 spezielle Region hinter dem Mond, und Jedesbuch 1 Buch=mehr im Meer aller Vergeblichkeiten.) Die Wut im Kopf habe ich in Worte gefaßt – jedes Wort verwundet, das letzte tötet. Und ich habe meine Wörter, die Toten, begraben zwischen Papier in einem Buch. Sie kommen nicht wieder. […] Weitundbreit werden keine Menschen bleiben und keine Geschichten, die nach mir greifen und mich schrecken können. […] Und schreite Danach..... kräftig aus und gehe befreit in meine Landschaft hinein. (At 541)
Ich bin kein allwissender Bedeuter, werde mich also hüten, die Frage zu klären, wer die direkt an das Intro anknüpfenden, gewissermaßen über Leichen gehenden Schlussworte des Romans spricht, wer sich dort selbst erfunden haben mag. Eine Art ‘Über-Ich’, eine noch immer namenlose, nicht genau zu fixierende Stimme zwischen reflektierendem Autor und schreibendem Amokläufer oder demjenigen, der beide erfand. Dieser Jemand ging im Prolog seiner Lebens-Beichte in eine ihm ‘fremde’ Landschaft und geht am Ende des wieder von emotionaler Distanz zeugenden Epilogs in ‘seine’ Landschaft hinein. Was er dort findet, bleibt offen: Glück? Freiheit? Tod? Neuen Wunsch-, Alptraum- oder Romanstoff in Hülle und Fülle? ‘Ich weiß: Ein w-Anderer. Für den gibts immer Unbekanntes’ (At 454). Es ist ein Buchstabe, der – wie so oft – den Übergang markiert: ‘Schrei – ben. Wiederholte ich u sprach das Wort langsam, staunend als seis ein nie zuvor gehörtes Wort’ (At 418). Ein ambivalent stimmendes Ende. Aber der unermüdliche Wörterwälzer scheint zumindest vorläufig mit der fragmentarisch vollendeten Tragödie ganz zufrieden zu sein. Das kann er auch,
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denn was den blind handelnden Protagonisten vorenthalten bleibt, ist ihrem trotzig schreibenden Erfinder mit diesem vielstimmigen Angst-BegierdeWut-Gesang aus den Wäldern unserer Zivilisation gelungen. Wer schreibt, muss nicht töten. Jetzt sind die Leser gefragt. VII Missing Link Etwas fehlt immer, und so kommt er nun doch noch mal ins Spiel, der Autor Reinhard Jirgl. Kein Zweifel, gerade seine Werke sind Paradebeispiele dafür, dass sich erzählerische und stilistische Mittel, die aus Lebenswirklichkeiten, dem absurden Verlauf der Geschichte und ihrem Unterfutter abgeleitet werden, in der Romanstruktur spiegeln und durch diese Formgebung aufschlussreiche Inhalte vermittelt werden. Augenfälligstes Beispiel für diese Tendenz sind in ABTRÜNNIG die in Anlehnung an Vernetzungspotentiale im World Wide Web so genannten ‘Links’, die auf den ersten Blick allerdings nur sehr entfernt an den Informationsfluss in modernen Kommunikationsmedien denken lassen. Wie auch immer, es sind 71 an der Zahl und sie erscheinen, im Vergleich zu Fußnoten, als relativ flexibel zu variierende Verweise auf – wenn man so will – mit einem Mouse-Klick geöffnete Textfenster oder vom Oberspielleiter empfohlene Lektüreeinsätze, an die sich natürlich kein Rezipient sklavisch halten muss. Tatsache ist, wer diesem Zusatz-Angebot – mehr oder weniger konsequent – folgt, macht in Analogie zu ganz alltäglichen Wirklichkeitserkundungen sehr unterschiedliche, zum Teil überraschende Leseerfahrungen. Und wer die Übersicht im Netzwerk verliert, ‘dem bleibt der Mut zur Entscheidung’ (At 488). Was heißt das im konkreten Einzelfall? Mal wird die für den anhaltend produktiven Autor schon bislang charakteristische Zerstörung des epischen Kontinuums durch die vorgeschlagene Dekomposition von Episoden noch potenziert, der Hang zur Chronologie verspottet, die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem ans Herz gelegt. Mal verführen veränderte Reihenfolgen, unvorhersehbare Kontexte oder neugierig machende Perspektiven zu Erkenntnissen, die zur anregenden Verunsicherung beitragen, zur Zerstörung von Hierarchien, Kausalzusammenhängen oder vorgefassten Erwartungshaltungen. Mal reizen assoziativ motivierte Schnitte, scheinbar völlig unangemessene Vergleiche oder Strukturhomologien die abgestumpften Sinne; mal
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provozieren ins Schlaglicht gerückte Polemiken längere Gedankenspiele, mal produzieren all diese Links vielleicht sogar neuen Sinn oder zerstreuen alten. Manchmal landet man aber auch in Zyklen: Die Kapitel ‘Stille Jäger’ und ‘Klassentreffen, Heute’ – beide thematisieren unter anderem Kriegsverbrechen und ihre Folgen – verweisen immer wieder auf sich; der irritierte Rezipient dreht sich dementsprechend im Kreis und muss selbst entscheiden, ob oder wann er diesen Erinnerungszirkel verlässt, aus dem Lesekarussell aussteigt. Ich fasse zusammen: Es geht auch beim literarischen Link um die endlose Suche nach einem Zipfel der ‘Wahrheit’ (At 101), die spätestens seit Nietzsche nur noch im Plural zu haben ist. Es geht um einen sich nie zum System rundenden Kosmos an Möglichkeiten im Zeichen realitätsnaher Poesie. Jirgls narrative Verkettungsstrategien erweisen sich somit als konsequenter Ausdruck des hier in Szene gesetzten Aufklärungsprojekts: ‘Abtrünnigkeit beschreibt den Prozeß der Selbst-Bildung aus-sich=heraus zur Überwindung von Unmündigkeit (Kant): Selbst-Produktion zur Schulung eigener Freiheitsfähigkeit’ (At 484). Reinhard Jirgl, der Schriftkörperakrobat, ist so frei. Seine hochartifizielle und dennoch unter die Haut gehende Textinszenierung gipfelt in einer besonders gut versteckten Einzelheit: Denn wer den vom Autorbewusstsein gelegten Linkspuren nach eigenem Gutdünken folgt, wer sich also nicht linear oder autoritätsgläubig durch das dicht geknüpfte Textnetz bewegt, wer vielleicht sogar dazu bereit ist, diese Vorstellungswelten willentlich mehrfach zu durchirren, wer somit das bescheidene Wagnis eingeht, auf Abwegen ganz eigene Lektüre-erfahrungen zu sammeln, der landet am Ende garantiert nicht beim blindwütigen Amoklauf des oben vorgestellten Protagonisten. Die Pointe: Es führt einfach kein Link-‘Befehl’ (sic!) in dieses Kapitel. Kurz und gut: ‘Sapere aude’. Wer Eigensinn beweist, wer bewusst die Denkrichtung hin und wieder ändert, wer sich als mündiger Leser selbst vom allmächtigen Wort-Schöpfer J. R. nicht alles vorschreiben lässt – Links hin, rechtschaffene Selbstauskünfte her –, entkommt der ansonsten vorgeschriebenen Untat. Man könnte sich demnach als neugierig gebliebener und dadurch mit diesen Erkenntnisfrüchten belohnter Rezipient einbilden, weniger disponiert für die unkritische Übernahme viereckiger Bildschirm-Horizonte der Informationsgesellschaft zu sein. Man könnte meinen, dem von Benjamin und Jirgl intendierten ‘Aufbrechen der verpanzerten Wahrnehmung’ in Zeiten
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manipulativ vereinheitlichter Nachrichtencodes ein Ideechen näher gekommen zu sein. Man könnte schließlich vielleicht sogar zu der festen Überzeugung kommen, es gäbe ein richtiges Leben im falschen. Ein schöner Traum, was sonst. Ein Weckruf, vielleicht. Eine letzte Zwischenbilanz: Der Glaube an ‘Individualität & Intimsfäre’ feiert ‘im Zeitalter der Röntgenstrahlung.....’ (At 204) nicht gerade Hochkonjunktur, von freien Willens- oder Gewissensentscheidungen ganz zu schweigen. Dennoch verhält es sich mit Lebens-, Schreib- und Leseerfahrungen – frei nach Janoschs Buch PAPA LÖWE und seine glücklichen Kinder – wie mit gedecktem Apfelkuchen: selbst gemacht ist am besten. Mit abschließenden Worten, ein anhaltend eigensinniger Autor entwirft – trotz globaler Verblendungszusammenhänge, ‘fremder Köpfe Theoriengestanze’ (At 105) und ganz privater Schreckensgefängnisse – eigensinnige Figuren, arbeitet an eigensinnigen Möglichkeitsformen und setzt auf eigensinnige Rezipienten. Seine Suche nach dem adäquaten sprachlichen Ausdruck für aktuell spezifische und zeitunabhängige Konflikte sowie lebenswerte Alternativen dies- und jenseits von Weltwirtschaftsgemeinschaft, Massenkultur oder Ich-AG geht weiter – natürlich ohne Gewähr, aber stets im Zeichen radikaler, politisch-ästhetischer Opposition. Kunst bejaht – selbst wenn sie vehement verneint. So entsteht, jedenfalls dann, wenn Reinhard Jirgl Regie führt, Literatur, die diesen Namen tatsächlich verdient, weil sie geschrieben werden muss. Literatur auf der Höhe unserer Zeit, weil dieser Schriftsteller keinerlei Berührungsängste zeigt. Literatur, der man sehr viele genaue Leser und (un)konventionelle Lektüreanläufe wünscht, immer wieder: ‘So ist Ende immer ein Anfang.....’ (At 431). Anmerkungen 1
Günter Grass, ‘“Der Leser verlangt nach Zumutungen!”: Gespräch mit Joachim Köhler und Peter Sandmeyer,’ in: Oskar Negt, Hg., Der Fall Fonty: Die Dokumentation einer beispiellosen Literaturdebatte, Göttingen: Steidl, 1996, S. 411-421.
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Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer: Interviews und Gespräche. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1986, S. 20.
3
Joseph Vogl, ‘Gesetze des Amok,’ Neue Rundschau, 3 (2000), 4, S. 77-90 (hier: S. 77 und S. 88).
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‘SCHREIEN jetzt – alles All=tägliche schießt auf zum Riesenhaften; alles Riesenhafte verschwimmt’ (At 505).
Arne De Winde Reinhard Jirgl Bibliographie Inhalt 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 3. 3.1 3.2 3.3
Auszeichnungen Primärliteratur Buchpublikationen Texte in Zeitschriften und Zeitungen Interviews Übersetzungen Sekundärliteratur Rezensionen Gesamtdarstellungen (und Darstellungen zu mehreren Werken) Darstellungen einzelner Werke
1. Auszeichnungen 1991 Anna-Seghers-Stipendium 1993 Alfred-Döblin-Preis 1994 Literaturpreis der Stadt Marburg 1994 Stipendium im Künstlerdorf Schöppingen 1995 Stipendium des Berliner Kultursenats 1996 Alfred-Döblin-Stipendium 1997 Stipendium im Künstlerhaus Schreyahn 1998 Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung 1998 Johannes-Bobrowski-Medaille 1998 Heinrich-Heine-Stipendium 1999 Josef-Breitbach-Preis 2002 Stipendium des Deutschen Literaturfonds 2003 Kranichsteiner Literaturpreis 2003 Rheingau-Literaturpreis 2004 Dedalus-Preis für Neue Literatur
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2004 Eugen Viehof-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung von 1859 2006 Literaturpreis der Stadt Bremen 2. Primärliteratur 2.1 Buchpublikationen MutterVaterRoman, Aufbau: Berlin und Weimar, 1990 Uberich. Protokollkomödie in den Tod, Jassmann: Frankfurt a.M., 1990 Im offenen Meer. Schichtungsroman, Luchterhand: Hamburg und Zürich, 1991 Das obszöne Gebet. Totenbuch, Jassmann Verlag: Frankfurt a.M., 1992 mit Andrzej Madeła, Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität, Bublies: Koblenz, 1993 Abschied von den Feinden, Hanser: München, 1995; dtv: München, 1998 Hundsnächte, Hanser: München, 1997; dtv: München, 2001 Die atlantische Mauer, Hanser: München, 2000; dtv: München, 2002 Genealogie des Tötens, Hanser: München, 2002; dtv: München, 2002 Gewitterlicht. Erzählung & Das poetische Vermögen des alpha-numerischen Codes in der Prosa. Essay, Revonnah: Hannover, 2002 Gewitterlicht. Erzählung. HörBuch, CD, Revonnah: Hannover, 2005 Die Unvollendeten, Hanser: München, 2003 ABTRÜNNIG. Roman aus der nervösen Zeit, Hanser: München, 2005 2.2 Texte in Zeitschriften und Zeitungen ‘Margarete,’ Sinn und Form, 39 (1987), 4, S. 845-854 ‘Im offenen Meer. Schichtungs-Roman in sechs Kapiteln. Auszüge’, in: Heinz Ludwig Arnold, Hg., Die andere Sprache: Neue DDR-Literatur der 80er Jahre (text + kritik Sonderband), Edition text + kritik: München, 1990, S. 192-198 ‘Dinge und Schimären. Roman-Auszug,’ Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, (1993), 41, S. 136-147 ‘Briefe & Fotografien. Einige Leichen,’ neue deutsche literatur, 41 (1993), 9, S. 74-91
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Knipphals, Dirk‚ ‘Nichts bekämpfen, alles zulassen. Er gilt als kunstvoller Apokalyptiker. Vor allem aber schreibt er furiose Gegenwartsromane – eine Begegnung mit dem Schriftsteller Reinhard Jirgl,’ Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 23. Januar 1998 Leipprand, Eva, ‘Ich schreibe, also bin ich,’ Stuttgarter Zeitung, 27. August 1998 —, ‘Ich schreibe, also bin ich. Der obsessive Erzähler Reinhard Jirgl,’ literaturkritik.de, 1 (1999), 6 Unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=248& ausgabe=199906 Mahlendorf, Ursula, ‘Review. Hundsnächte,’ World Literature Today, 72 (1998), 3, S. 603-604 Moritz, Rainer, ‘Ein Ruinenbaumeister. Hundsnächte. Rabenschwarzer deutscher Manierismus,’ Rheinischer Merkur, 21. November 1997 Müller, Lothar, ‘Zurückgekrochen in Ruinen. Es ist nicht jeder frei, der seiner Ketten spottet. Reinhard Jirgls Roman Hundsnächte,’ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. November 1997, S. L5 Opitz, Michael, ‘Es wird, aber anders als gedacht. Ein Sündenbabel entwirft Bernhard [sic] Jirgl in seinem auf düstere Weise großartigen Epochenaufriß Hundsnächte,’ Der Tagesspiegel, 28. September 1997 Pralle, Uwe, ‘Hundsnächte,’ DeutschlandRadio-Online, Deutschlandfunk. Büchermarkt, 14. Juli 2002. Unter: http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neulit-buch/585.html Schütz, Erhard, ‘Hirnhundsnächte. Ein einziges wildes Wüten. Reinhard Jirgls neuer Roman Hundsnächte,’ Freitag, 10. Oktober 1997 Stiller-Reimpell, Anja, ‘Worte zur Weltverachtung. Reinhard Jirgls Abrechnung mit der Gegenwart,’ Salzburger Nachrichten, 3. Januar 1998 Strehlau, Elisabeth, ‘Reinhard Jirgl befeuert die Hundsnächte,’ Die Welt, 4. Dezember 1997 Walther, Peter, ‘Eine gottlose Komödie ohne Beatrice. Ein schreibender Untoter auf dem Todesstreifen, apokalyptische Visionen und eine Sturzfahrt durch alle neun Kreise der Hölle. Reinhard Jirgl läßt in seinem Roman Hundsnächte nichts Schreckliches aus und läutet die Totenglocken für die Spaßgesellschaft,’ Die Tageszeitung, 29. Oktober 1997, S. 17 Würtz, Hannes, ‘Radikal und Wild,’ Neues Deutschland, 7. August 1998
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Register Adorno, Theodor W. 34-35, 38, 58, 71, 86, 169, 218, 219, 226 Agamben, Giorgio 234 Arcimboldo, Guiseppe 122 Artaud, Antonin 138, 142-143 Augé, Marc 173, 174 Augustinus 233 Barnett, David 172 Barthes, Roland 25, 30, 57, 114115, 122, 125, 126, 130, 133, 136, 142, 144, 146, 147, 148, 149 Bartl, Maike 57 Bataille, Georges 109, 238 Baudrillard, Jean 238 Baumann, Zygmunt 160, 174 Benjamin, Walter 117-118, 120121, 135, 137, 144, 145, 148, 169, 250 Benn, Gottfried 48, 52, 59, 153, 169, 198, 219 Berbig, Roland 84 Bisset, J.-P. 131 Bloch, Ernst 65, 85, 200 Bloy, Léon 219 Boch, Gudrun 84 Böhme, Hartmut 146, 172 Böhringer, Hannes 158, 163, 172, 173, 174, 175, 176 Böll, Heinrich 169 Bolz, Norbert 52, 59, 170, 177, 207, 220, 221, 222, 223, 226 Böthig, Peter 11, 86, 87
Böttiger, Helmut 9, 147, 183, 188, 195, 196, 219 Bourdieu, Pierre 66, 85 Bouveresse, Jacques 34, 58 Braun, Volker 90 Brecht, Bertolt 32, 56-57, 58, 59, 113, 128-129, 146, 181, 219, 237, 244 Brussig, Thomas 91, 94 Bublies, Siegfried 225 Büchner, Georg 56, 87 Bühlbäcker, Hermann 154, 172 Campanile, Anna 86 Canetti, Elias 78, 86, 88 Caruso, Paolo 50, 59 Cioran, Emil 226 Clarke, David 9, 10, 11, 108, 149, 172, 173 Cooper, J.C. 195 Cosentino, Christine 10, 109, 171, 218, 219 Cremet, Jean 224 Cummings, E.E. 242 Dannemann, Karen 9-10 Deiritz, Karl 219 Deleuze, Gilles 84, 89, 91-94, 97, 101, 102, 104-105, 106, 107, 108, 109, 110 Delius, Friedrich Christian 24-25, 57 De Man, Paul 220 Derrida, Jacques 133, 134-135, 137, 140, 147, 148 De Winde, Arne 9, 10, 11, 57, 84, 184, 195, 220, 224 Dietzsch, Martin 224
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Diner, Dan 181, 194 Döblin, Alfred 27, 237 Doderer, Heimito von 224 Döring, Christian 219 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 204 Drawert, Kurt 90 Drieu la Rochelle, Pierre 216, 219 Dürrenmatt, Friedrich 57 Eco, Umberto 233, 234 Engels, Friedrich 132, 147 Enzensberger, Hans Magnus 159160, 174, 181 Erté 122 Euripides 30 Faulkner, William 37, 58 Feit, Margret 225 Flusser, Vilém 119, 121, 123-124, 145, 146 Foucault, Michel 26, 31, 50, 59, 62, 84, 85, 90, 108, 117-118, 131, 140-141, 145, 147, 149, 152, 153, 167, 176, 184, 207, 209, 219, 220, 223, 233, 234, 238 Frank, Hubert Konrad 111-112, 130, 143 Frei, Norbert 224 Freud, Sigmund 75, 76, 78, 85, 87, 88, 90, 92, 95, 114, 221, 241 Frey, Markus 226 Frisch, Max 181 Fröchling, Helmut 226 Fühmann, Franz 221 Fulda, Daniel 73, 86 Galton, Francis 199
Register
Gaus, Günter 89, 93, 107, 108 Gehlen, Arnold 153, 168, 170, 177 Genette, Gérard 199, 220 Gessenharter, Wolfgang 226 Goebbels, Joseph 36 Goethe, Johann Wolfgang 56 Grass, Günter 18, 169, 235, 251 Greimas, Algirdas Julien 220 Grimm, Erk 10, 11, 59, 151-152, 153, 154, 171, 173, 174, 175, 179, 194, 220 Grimm, Jacob und Wilhelm 187, 195 Grimmelshausen, Johann Jakob Christoph von 111 Gross, Peter 202, 221 Groys, Boris 238 Grunenberg, Antonia 85 Guattari, Félix 84, 89, 91-94, 97, 101, 102, 104-105, 106, 107, 108, 109, 110 Haberkamm, Klaus 176 Hage, Volker 113, 115, 143 Hahn, Ulla 206 Hamann, Johann Georg 118 Hamsun, Knut 48 Handke, Peter 224 Harel, Simon 141, 149 Haverkamp, Anselm 114, 139, 144, 149 Hein, Jakob 180, 182 Hennig, Christoph 174 Henrich, Rolf 85 Hermann, Judith 182 Herzinger, Richard 220, 222, 223 Hielscher, Martin 169, 176
Register
Hilbig, Wolfgang 14, 90-91 Hirsch, Wolfgang 196 Hitler, Adolf 36, 44, 56-57 Höffke, Karl 225 Hohn, Till 158, 173 Horaz 48 Hörisch, Jochen 226 Horkheimer, Max 169 Horn, Eva 87 Jäger, Siegfried 224 Jahnn, Hans Henny 219 Janetzki, Ulrich 219 Janosch 251 Jaspers, Karl 79, 88 Jirgl, Reinhard, Abschied von den Feinden 7, 8, 13, 16-17, 30, 62-63, 64, 67, 69-71, 82-83, 94, 97-103, 107, 116, 160, 168, 173-174, 175, 188, 198, 200, 201, 203, 207, 209, 218, 219, 221, 222 ABTRÜNNIG. Roman aus der nervösen Zeit 9, 62, 65, 85, 203, 204, 207-208, 209, 211, 213214, 216, 217, 221, 235-252 Das obzöne Gebet. Totenbuch 66, 76, 111, 116, 126, 132-143, 201, 221 Die atlantische Mauer 10, 17, 128, 179-194, 221 Die Unvollendeten 7, 9, 10, 17-19, 38, 41-43, 62, 65, 66, 67-68, 107, 123, 161, 174, 198, 200201, 205, 211, 212, 221, 224, 227-234
275
Genealogie des Tötens 8, 15, 2930, 74-75, 87, 93-94, 103-107, 122, 130, 145, 200, 204, 216, 218, 224, 226 Gewitterlicht. Erzählung/Das poetische Vermögen des alphanumerischen Codes in der Prosa 116, 207, 223, 230 Hundsnächte 7, 10, 16-17, 26, 37, 62-63, 65, 68-69, 83, 103, 111, 127-132, 151-170, 175, 200, 203, 204, 207, 209, 210-212, 221 Im offenen Meer. Schichtungsroman 63-64, 71-72, 74, 87, 152, 201, 209, 219 MutterVaterRoman 8, 9, 14, 17-18, 29, 38, 43, 72-73, 77-82, 86-87, 107, 124-125, 151-152, 154, 201-202, 208, 221, 224 Uberich. Protokollkomödie in den Tod 94-97, 101, 104, 217, 220 Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität 49-52, 216-217, 225 Johnson, Uwe 181 Joyce, James 112, 169 Jung, Carl Gustav 219 Jung, Werner 84, 156, 159, 173, 174, 175, 195, 196, 220, 224 Jünger, Ernst 37, 58, 138-139, 148, 153, 171, 202, 206, 208, 219 Kafitz, Dieter 169, 170, 177 Kafka, Franz 161, 169, 181, 204, 237, 242 Kahrs, Axel 218
276
Kammler, Clemens 10, 59, 113, 144 Kant, Immanuel 33, 48, 58, 59, 241, 250 Kellershohn, Helmut 224 Kerckhove, Derrick de 145 Kobus, Nicolai 195, 196 Koeppen, Wolfgang 151, 168-170, 176 Kolbe, Uwe 221 Kracauer, Siegfried 237 Krapp, Peter 172 Krauss, Hannes 218 Krauß, Angela 181-182, 195 Krebs, Felix 224 Kristeva, Julia 96-97, 98, 99, 101, 108, 109, 149, 220 Kurz, Gerhard 234 Lacan, Jacques 92 Laing, R.D. 108 Lammers, Sabine 117, 144 Lapacherie, Jean-Gérard 126, 145, 146 Ledanff, Susanne 222, 226 Ledig, Gert 39, 59 Lefebvre, Henri 172 Lejeune, Philippe 220 Lenk, Kurt 226 Leonhardt, Wolfgang 87 Lethen, Helmut 40, 59 Lévi-Strauss, Claude 75 Linné, Carl von 23 Lotman, Jurij M. 220 Luhmann, Niklas 45 Lukian 112 Luther, Martin 116, 134, 137, 139
Register
Madeła, Andrzej 49-52, 92, 216, 224-225 Magenau, Jörg 194 Magerski, Christine 216, 218 Mann, Heinrich 237 Mann, Thomas 165-167, 169, 175176, 181 Marcuse, Herbert 38, 58 Maron, Monika 90, 91-92, 108 Marx, Karl 30 Massumi, Brian 92, 102, 108, 109 May, Karl 224 Mayer, Hans 222-223 McLuhan, Marshall 53 Mecklenburg, Jens 225 Meier, Andreas 218, 220, 223 Menasse, Robert 242 Menke, Bettine 135, 137, 148, 149 Menke, Christoph 58 Menke, Timm 113, 144, 218, 227, 230-231, 233 Michelangelo 98 Miller, Norbert 171 Minkenberg, Michael 226 Mitscherlich, Alexander 219, 221 Moeller, Robert G. 222 Montaigne, Michel de 31 Morgner, Irmtraud 161 Moser, Christian 86, 87 Müller, Armin 224 Müller, Heiner 8, 15, 29, 37, 48, 58, 59, 65, 72, 75, 84, 85, 86, 153, 154, 164, 172, 175, 210, 218, 219, 220, 222, 235, 251
Register
Müller-Schöll, Nikolaus 117-118, 119, 120, 137, 144, 145, 146, 148 Nicolaisen, Peter 58 Nietzsche, Friedrich 30, 117, 119, 151, 153, 164-67, 174-175, 176, 209, 233, 237, 250 Nolte, Ernst 44 Novalis 139 Olkowski, Dorothea 109 Orwell, George 31, 77, 88, 93 Ovid 190-193 Pfahl-Traughber, Armin 225 Philostratus 112 Pietzcker, Carl 144 Pralle, Uwe 180, 185, 189, 194, 195, 196 Primavesi, Patrick 149 Proust, Marcel 169 Puttkamer, Michael 225 Radisch, Iris 12, 21, 57, 146, 168, 176, 195 Rath, Wolfgang 219 Reimann, Brigitte 160-161 Samson, Horst 113-115, 143 Schabert, Ina 145 Schlink, Bernhard 182 Schmidt, Arno 15, 23-24, 27-28, 112, 113, 168, 198, 218, 219, 226, 231, 237 Schmitt, Carl 208-209, 219, 223 Schneider, Peter 180, 194 Schobert, Alfred 224 Schomberg, Heiko 225 Schulze, Ingo 182 Schütz, Erhard 176
277
Sebald, W.G. 18, 38-39, 58, 177 Sheppard, Richard 171, 175-176 Sloterdijk, Peter 202, 218, 220, 221, 226 Sofsky, Wolfgang 234 Soldat, Hans Georg 188, 195, 196 Speit, Andreas 225 Spengler, Oswald 34-36, 44, 58, 152, 153, 163, 171, 175, 219 Stein, Dieter 225 Steinert, Hajo 219 Stewart, Janet 173 Stolz, Dieter 9 Strindberg, August 219 Theweleit, Klaus 97, 109 Titzmann, Michael 170, 171, 177 Treichel, Hans-Ulrich 169 Tucholsky, Kurt 239 Ulbricht, Walter 108 Urlanis, Boris Zesarewitsch 124125 Van Hoorn, Tanja 146 Vedder, Ulrike 219, 223 Vogl, Joseph 235, 251 Wagner, Bernd 182 Walser, Martin 169 Walther, Peter 193, 196 Ward, Simon 10, 102, 109, 174, 176 Weigel, Sigrid 124, 146 Weininger, Otto 159 Welzer, Harald 41-43, 59, 205-206, 216, 222, 224, 227, 231-233, 234 Werfel, Franz 206, 222 Werner, Hendrik 87
278
Wilde, Oscar 56 Williams, Tennessee 186-187 Winkels, Hubert 198, 219 Winkler, Ron 196 Wolf, Christa 161 Wolf, Gerhard 8 Wolle, Stefan 153, 172 Zahl, Peter-Paul 22 Zipes, Jack 181, 194-195
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