Nr. 368
Retter der Xacoren In der Stadt der Großen Königin von Peter Terrid
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat ...
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Nr. 368
Retter der Xacoren In der Stadt der Großen Königin von Peter Terrid
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Bran geln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrück ten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »Schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Dort hat der Arkonide inmitten von Eis und Schnee und unter den Clanocs, den Ausgestoßenen von Pthor, bereits eine Reihe von gefährlichen Abenteuern bestan den. Gegenwärtig ist Atlan zusammen mit Dorstellarain, seinem neuen Gefährten, auf der Flucht. Dabei gelangt er in die Stadt der Großen Königin und wird zum RET TER DER XACOREN …
Retter der Xacoren
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide in der Stadt der Großen Königin.
Dorstellarain - Atlans Begleiter und Kampfgefährte.
Wezzley - Scout der Xacoren.
Quazzlor - Ein Häretiker.
Marsicar - Eine junge Königin.
1. Das Abendgebet war beendet. Die Köni gin zog sich aus der Versammlung zurück. Stille breitete sich aus über dem großen Platz, nur durchbrochen vom leisen Kni stern, mit dem sich die Witterer bewegten. Wezzley verharrte noch einen Augenblick in andachtsvoller Haltung. Es konnte nichts schaden, wenn man ihn so traf, das Haupt gebeugt, die Witterer andächtig gefaltet und mit einem unverkennbaren Demutsgeruch. In Wirklichkeit … aber das ging niemanden etwas an. Der Xacore wußte, daß er aufpassen muß te. Die Geruchspolizei war nicht zu unter schätzen, und die Strafen für Defätismus waren hart und grausam. Die zerstückelten Leichname der Verurteilten hingen an den Straßenecken, dem Volk zur Mahnung, den Gedankenverbrechern zur Warnung, der Kö nigin zur Ehre. Wezzley richtete sich auf. Der große Platz war nahezu leer. Es wur de Zeit, die Gemächer aufzusuchen. In weni gen Stunden würde es dunkel werden. Dann hatte kein Scout, kein Weibchen und keine Königinanwärterin mehr etwas auf den Stra ßen der Stadt zu suchen. Wezzley machte sich auf den Heimweg. Als Scout war er hervorragend, und so hatte er eine Unterkunft in der Nähe der Königin ergattern können. Das hatte den Vorzug, daß er auf dem Nachhauseweg Zeit sparte – Zeit, die seiner Schlafensperiode zugute kam, und das wiederum wirkte sich positiv auf seine Arbeit aus. Quazzlor hatte ihn in der Frühe angespro chen; Quazzlor war einer der ältesten Scouts, erfahren in allem, was ein Xacore
können und wissen mußte, ein Greis, von der Last der Jahre gebeugt, die Witterer fast verhornt und mit allen Zeichen der Erfah rung auf dem Panzer. Wezzley wußte nicht, was der Alte von ihm wollte. Wezzley war zwar ein erstklas siger Scout, aber mehr auch nicht. Wollte Quazzlor ihn auf seine Weibchengeschich ten ansprechen? Das war wenig wahrschein lich, solange Wezzley die strengen Meh rungsgebote beachtete und sich nichts zu schulden kommen ließ – und bislang hatte sich Wezzley nichts zuschulden kommen lassen. Wenn nicht dies, was war dann Anlaß für Quazzlors Wunsch, mit Wezzley zu spre chen. Sollte der Alte am Ende … Wezzley strengte die Witterer an, richtete sie auf sich selbst. Er war kein Geruchspoli zist, dazu brauchte man besondere Fähigkei ten als Witterer, aber was er an eigenen Ge rüchen wahrnahm, reichte keinesfalls aus, ihn festzunehmen. Gewiß, in seinen Ausdünstungen schwang etwas Unmut mit, das war deutlich zu rie chen, aber der Duft war nicht so stark, daß er hätte Anstoß erregen können. Wezzley hatte am Morgen ein halbgefülltes Sammel gefäß fallen lassen, und das war für einen Xacoren Anlaß genug, ein wenig unwillig zu sein. Wahrhaftig, daran konnte es auch nicht liegen. Was also wollte Quazzlor …? Wezzley summte leise, als er die Straße erreichte, in der er wohnte. Wie immer wa ren die Straßen kurz nach dem Ende der Abendandacht gefegt worden. So gehörte es sich, dachte Wezzley. Wenn alles in der Stadt seinen geregelten Gang ging, dann konnten die Xacoren mit ihrem Geschick zu frieden sein. Es war ein wahres Glück für das kleine Volk der Xacoren, daß es die Kö
4 nigin gab – daß es diese Königin gab. Eine Anwärterin trippelte an Wezzley vorbei, die Witterer vornehm gespreizt, am Sauger noch einen Tropfen Königssaft. Als ob das etwas helfen konnte! Wezzley trillerte kurz mit den Witterern, dann öffnete sich der Verschluß seiner Woh nung. »Willkommen«, sagte Quazzlor. Es war ziemlich dreist, ein fremdes Gemach zu be treten, ohne daß der Bewohner anwesend war oder das Eindringen vorher gebilligt hatte. Für Quazzlor schien das keine Rolle zu spielen. »Da bin ich«, sagte Wezzley. Er gab einen kurzen Höflichkeitstriller von sich, knapp genug, um seine Mißbilligung deut lich zu machen. Er bemerkte, daß er unwil lig zu riechen begann. »Was kann ich für dich tun?« fragte Wezzley. Er tat, als wäre es völlig normal, seinen Sammelbehälter vor den Augen Fremder zu reinigen, aber der Alte schien dies nicht zu bemerken. »Ich muß mit dir sprechen«, sagte der Al te. »Ich höre.« »Nicht jetzt«, sagte der Alte. »Und vor al lem nicht hier.« Wezzley machte eine Bewegung des Staunens. »Du brauchst gar nicht so mißtrauisch zu riechen«, sagte Quazzlor. »Was ist, kommst du mit?« Wezzley spähte durch die enge Luke nach draußen. In zwei Stunden würde es so dun kel sein, daß jeder Aufenthalt auf den Stra ßen der Stadt gefährlich wurde. Die Ge ruchspolizisten verstanden keinen Spaß. Sperrstunde war Sperrstunde. »Weit werden wir nicht kommen«, sagte Wezzley. »Wohin willst du überhaupt?« »Warte es ab«, sagte der Alte. Umständ lich richtete er sich auf. »Kommst du mit?« Wezzley zögerte einen Augenblick, dann trillerte er zustimmend. Er verstaute das Sammelgefäß in einer Nische, dann trat er höflich zur Seite, um Quazzlor vorbeizulas-
Peter Terrid sen. Der Alte bewegte sich langsam an dem jungen Scout vorbei. Wezzley folgte ihm und verschloß hinter sich die Tür. »Wohin geht es?« wollte Wezzley wissen, als die beiden auf der Straße standen. Die Beleuchtung war schlechter gewor den. Dämmerung senkte sich über die Stadt. In der Ferne waren die Nebelschleier des Umlands zu erkennen. Wezzley schauderte es, wenn er nur daran dachte. Jenseits der Grenzen der Stadt gab es für einen Xacoren praktisch keine Überlebensmöglichkeit. Die Tracheen wurden feucht, die Atmung schwerer. Die Glieder wurden steif und starr, bis ein Stadium erreicht war, an dem der Xacore sich überhaupt nicht mehr regen konnte. Wezzley wußte, daß es Mittel gab, dem zu begegnen. Die Geruchspolizisten trugen beispielsweise Uniformen, die sie vor Kälte leidlich schützten. Solcherart bekleidet, streiften sie in den Sperrzeiten durch die Stadt und sammelten die Xacoren ein, die sich ins Freie gewagt hatten. Wehren konn ten sich die Betroffenen nicht. In den Schla fenszeiten der Königin wurde es kalt in der Stadt, das wußte jeder. Die Temperatur sackte binnen weniger Minuten um fast zwanzig Grade ab, und das bedeutete, daß alle Lebensfunktionen eines normalen Xaco ren um das Zehnfache verringert wurden. Quazzlor gab keine Antwort auf die Frage seines jungen Begleiters. Mit Schritten, die weit weniger als sein Äußeres das Alter des Scouts erkennen ließen, marschierte er über die Straßen. Wezzley stapfte hinter Quazzlor her, leicht verärgert und ziemlich neugierig geworden. Beim Passieren der Querstraßen konnte er sehen, daß die Nebel des Umlands sich langsam auf die Stadt zu bewegten. Es konnte also noch bestenfalls eine Stunde dauern, bis die Sperrstunde erreicht war. Und dann blieben den beiden ziemlich ge nau vier Minuten, um eine Unterkunft zu finden, in der sie sich vor der Kälte und der Geruchspolizei verbergen konnten. »Hör zu, Alter, die Sache gefällt mir nicht.«
Retter der Xacoren »Dann kehre um«, gab Quazzlor zurück, ohne sich umzudrehen. »Die Sperrzeit wird bald beginnen«, erin nerte Wezzley ihn. »Wir werden nicht mehr genug Zeit haben, um in unsere eigenen Un terkünfte zurückkehren zu können.« Quazzlor marschierte ungerührt weiter, und mit steigendem Befremden sah Wezz ley, daß der Alte stadtauswärts marschierte – genau auf die wallenden Nebel zu, die sich langsam näherschoben. Es war ein Anblick, den alle Xacoren fürchteten. Wezzleys Wit terer zitterten ein wenig. Er begann nervös zu riechen. »Hier!« Quazzlor griff an sein linkes Vorderbein und holte einen durchsichtigen Behälter aus der Tasche. In dem Behälter schwappte eine Flüssigkeit, deren Farbe stark an Königssaft erinnerte. »Trink das«, sagte Quazzlor. Wezzley griff nach dem Behälter. Aus der Tasche des rechten Vorderbeins zog Quazz lor ein ähnliches Gefäß für sich selbst her vor. Wezzley schnupperte mißtrauisch an dem Behälter. Der Geruch erinnerte an Königssaft, aber da war noch ein anderer Geruch zu spüren, fremd, scharf und gefährlich. Wezzley zö gerte. Daß Quazzlor von der Flüssigkeit trank, überzeugte ihn nicht. Wer wußte, was das für ein Getränk war? Ob es giftig war oder süchtig machte, ob Quazzlors Trank überhaupt der gleiche war, den er Wezzley angeboten hatte? »Trink!« sagte der Alte. »Die Wirkung setzt sonst zu spät ein.« »Wirkung?« »Trink!« Aus dem Alten war kein Wort herauszu holen. Vorsichtig sog Wezzley den Inhalt der Flasche ein. Bereits der erste Schluck traf ihn wie ein Faustschlag. Er schnappte nach Luft, vor seinen Augen flimmerte es. Ihm war, als würde sein Innerstes zuäußerst gekehrt. »Heiliger Nektar«, stöhnte Wezzley auf.
5 Er verbreitete einen deutlichen Angstgeruch. »Was ist das?« »Medizin«, sagte Quazzlor kalt. »Wir warten hier.« »Warten? Im Freien?« Wezzley glaubte, sich verhört zu haben. Es wurde immer dunkler auf den Straßen, und die Nebelschwaden hatten bereits den Stadtrand erreicht. Um diese Zeit gingen die Geruchspolizisten in den Randbezirken be reits Streife. Wenn Quazzlor und er nicht binnen einer Viertelstunde eine warme Un terkunft fanden, waren sie verloren. Das Flimmern vor Wezzleys Augen ver stärkte sich. Flüssiges Feuer schien durch seinen Körper zu fließen, durch jeden Mus kel, jedes Organ. »Hierher«, sagte Quazzlor. Er stellte sich in einen Hauseingang. Das Gebäude war erst in den letzten Tagen erbaut worden und noch nicht bezugsfertig. Selbstverständlich war es nicht geheizt; die Geruchspolizei würde es mit Sicherheit durchsuchen. Und der Nebel kam immer näher. Merkwürdigerweise spürte Wezzley nichts von der Kälte, die sich über die Stadt legte. Im Gegenteil, in seinem Innern war es heiß, ungeheuer heiß sogar. War das die Wirkung, von der der Alte gesprochen hat te? Ein tiefer, hallender Glockenton breitete sich aus, das offizielle Zeichen, daß den Be wohnern der Stadt noch zehn Minuten ver blieben, um ihre Unterkünfte aufzusuchen. Wer danach noch auf den Straßen angetrof fen wurde, bekam es mit der Geruchspolizei zu tun. »Quazzlor«, begann Wezzley. Seine Angstausdünstung wurde stärker; er konnte nichts dagegen tun. Er hatte Angst vor der Geruchspolizei, Angst vor dem Nebel, der sich wie das verkörperte Verhängnis heran schob, Angst vor der Kälte, Angst vor Quazzlor und seinen Machenschaften, Angst vor der Wirkung des unheimlichen Gebräus, das er getrunken hatte – alles in Wezzley schrie nach Flucht. Aber es gab keine Flucht mehr.
6 Wezzley hatte stadteinwärts gespäht, und als er sich umdrehte, war der Nebel da. Wezzley wich zwei Schritte zurück, dann spürte er eine Wand hinter sich, und in der Zeit, die man für zehn Flügelschläge brauch te, war Wezzley blind. Er sah nichts mehr. Verschwunden war die Mauer, ver schwunden war Quazzlor, verschwunden das Bild der Stadt – nur die Angst war ge blieben. Bangen Herzens wartete Wezzley auf das Unvermeidliche. Das Atmen mußte schwe rer werden, alle Lebensvorgänge mußten sich unter dem Einfluß des Temperaturstur zes verlangsamen – bald würde er nicht ein mal mehr kriechen können. Danach war er eine leichte Beute für die Geruchspolizei. »Machen wir uns auf den Weg.« Quazzlors Stimme klang gedämpft durch den Nebel. Wezzley versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es gelang ohne Mühe. Wezzley spürte, daß Quazzlor ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Keine Angst«, hörte er den Alten sagen. »Das Medikament hilft gegen die Erstar rung. Du wirst dich ganz normal bewegen können. Folge mir, ich werde dir den Weg zeigen.« Hintereinander marschierten die beiden Xacoren durch eine Welt, die nur aus wei ßen Schleiern zu bestehen schien. »Du mußt dich ein wenig anstrengen«, hörte Wezzley den alten Scout sagen. »Die Geruchspolizisten machen meist viel Lärm, wenn sie durch die Straßen patrouillieren, aber ab und zu sind sie auch ziemlich leise. Wir dürfen ihnen nicht über den Weg lau fen.« Wezzley begriff gar nichts mehr. Seine Gedanken vollführten einen wirren Tanz. Was wollte Quazzlor von ihm? Warum schleppte er ihn um diese Zeit in die Außen bezirke der Stadt? Warum mußte er riskie ren, der Geruchspolizei in die Hände zu fal len und empfindlich bestraft zu werden? Warum hatte er diesen fürchterlichen Trank schlucken müssen?
Peter Terrid Er wagte nicht, dem Alten eine Frage zu stellen. Wahrscheinlich hätte er ohnehin kei ne Antwort bekommen. Quazzlor schien ge nau zu wissen, was er wollte. Er bewegte sich mit einer Gelassenheit und Sicherheit durch den Nebel, als tue er dies jeden Tag. War Quazzlor am Ende ein Defätist? Wezzley schnupperte vorsichtig, aber er nahm nichts wahr. Quazzlor verströmte den ganz normalen Alltagsgeruch, wie er bei jedem Xacoren zu finden war. Keine Spur von Angst oder Aufregung war herauszuriechen. War auch dies auf den geheimnisvollen Trank zurückzuführen. »Warte einen Augenblick«, sagte Quazz lor. »Ich komme sofort zurück!« Wezzley spürte, wie ihn erneut die Angst überfiel. Er wußte, daß er Angst hatte – aber er konnte sie nicht riechen. Offenbar wurde der gesamte Ausdünstungsapparat durch den Trank außer Funktion gesetzt. Wezzley spürte, daß Quazzlor ihn verließ. Einen Au genblick lang konnte er noch Schritte hören, die aber sofort vom Nebel verschluckt wur den. Sekunden vergingen, dann wurden wieder Schritte hörbar – und Waffengeklapper. Geruchspolizei? Wezzley erstarrte. Das Geräusch kam näher, näher und nä her. Doch die Schritte wanderten an ihm vorbei, versickerten im Nebel, verstummten. Sie hatten ihn nicht entdeckt. Erleichte rung machte sich in Wezzley breit. Dann spürte er plötzlich wieder Quazzlors Hand. »Komm!« Fast willenlos folgte Wezzley dem Alten. Der Weg führte einige Stufen hinab, und mit jeder Stufe wurde die Sicht besser. Wezzley sah, daß zwei Türen geöffnet wurden, er hörte, wie sie hinter ihm wieder ins Schloß fielen. Als er die Versammlung sah, wußte er so fort, wo er gelandet war. Nicht bei Defäti sten … Er stand in einer Versammlung praktizie render Häretiker. Und das hieß Tod.
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2. Es gab keine Alternative. Nicht zu prakti zierter Häresie. Es gab kein Verbrechen, das größer war, keine Strafe, die härter hätte ausfallen können. Nichts und niemanden jagten die Ge ruchspolizisten so hartnäckig, so gnadenlos wie Häretiker. Ketzer, Hochverräter, Abtrünnige – Häre tiker. »Heiliges Licht«, stammelte Wezzley. »Erschrick nicht«, sagte Quazzlor. Er richtete seine Witterer auf die Versammlung und gab einen kurzen Begrüßungstriller von sich. Wezzley war wie gelähmt vor Entset zen. »Nimm Platz, Wezzley!« sagte der Alte. Wezzley sah, wie man ihn musterte. Eini ge der Anwesenden kannte er. Hexcor bei spielsweise, und Ergan, und Kolfper … und er hatte nie auch nur das geringste geahnt. Wie brachten sie es fertig, den Geruch zu unterdrücken, sich nichts anmerken zu las sen? In dem Raum war jedenfalls nicht von Häresie zu riechen. »Häretiker«, stieß Wezzley hervor. Seine Witterer zitterten vor Erregung. »Fluch über euch!« Hexcor sah Quazzlor an; der Alte schien den Vorsitz dieser Versammlung zu haben. »Ich werde gehen«, sagte Wezzley heftig. »Auf der Stelle werde ich gehen. Die Ge ruchspolizei …« »Wird dich fragen, wieso du um diese Zeit noch auf den Straßen herumlaufen kannst!« entgegnete Quazzlor gelassen. »Und wenn du in einen geheizten Raum kommst, dann wird sich die Wirkung des Medikaments steigern. Dir wird nichts üb rigbleiben, als uns erst einmal anzuhören.« Wezzley antwortete mit einem kurzen Zucken seiner Witterer, eine Geste, deren Eindeutigkeit nicht zu mißdeuten war. Sie werden dich töten, dachte der Scout. Entweder bringen sie dich um, oder die Ge ruchspolizei wird dich töten. So oder so, der
Tod steht neben dir. Und du hast noch kein Ei für das Gelege geliefert. Die Aussicht, ohne unmittelbare Nach kommen sterben zu müssen, erschreckte ihn. Er konnte nicht einmal ein wildes Ei vorwei sen. »Du hast recht, Wezzley«, sagte Quazz lor. Er hatte sich niedergelegt und machte einen ruhigen, entspannten Eindruck. Er schien sich keine Sorgen zu machen, die Versammlung könnte von Wezzley verraten werden. Der Scout wußte warum – die Ge ruchspolizei hätte selbstverständlich nicht nur die Häretiker getötet, sondern hätte auch die Zeugen umgebracht. »Wir sind Häretiker, Wezzley. Wir sind nicht die ersten, und wir werden nicht die letzten sein. Wir brauchen dich und deine Hilfe, und aus diesem Grund haben wir dich hierher geladen.« »Hilfe? Von mir? Niemals!« Quazzlors Witterer trillerten vergnügt. Er schien Wezzleys Ablehnung nicht ernst zu nehmen. Er sollte sich wundern, nahm sich Wezzley vor. Ihn verdroß, daß man seine Hilfe offenbar für selbstverständlich hielt, noch bevor man ihn darum gebeten hatte. »Kennst du die Geschichte unseres Vol kes?« fragte Quazzlor. Wezzley gab eine Ausdünstung der Verachtung von sich. Was sollte die Frage? Die Geschichte der Xacoren wurde an allen Schulen gelehrt, je der kannte sie. Jeder kannte vor allen Din gen die segensreiche Einführung der Großen Königin. »Du glaubst sie zu kennen«, sagte Quazz lor. »Die Wahrheit kennst du nicht.« Wezzley trillerte wegwerfend. Er kannte – natürlich nur gerüchteweise – die Ansichten der Häretiker. Die Große Kö nigin sei nichts weiter als ein kümmerliches Surrogat einer wirklichen Königin, und es würde Zeit, daß endlich wieder eine natürli che Königin gefunden würde, und daß die Fremden nicht die Retter des Volkes waren, sondern vielmehr seine Unterdrücker – und was dergleichen Lügenmärchen mehr waren. Davon stimmte natürlich kein Wort. Wenn
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daran etwas wahr gewesen wäre, hätte die Geruchspolizei keine Jagd auf die Häretiker machen müssen. »Und ihr kennt die Wahrheit? Ausgerech net ihr Verbrecher?« Quazzlors Ausdünstung verriet überlegene Ruhe. Lag das an dem Medikament …? Oder daran, daß er tatsächlich die Wahrheit sprach? »Wir kennen die Wahrheit. Wir wissen, was sich wirklich zugetragen hat. Damals, als alles begann … vor langer Zeit und auf einer gänzlich anderen Welt. Es war vieles anders … damals …«
* »Es kann keinen Zweifel geben«, sagte der Bewahrer. »Die Königin wird sehr bald sterben.« Im Rat der Xacoren war es still. Die fünf undzwanzig Xacoren verharrten auf ihren Plätzen, wie gelähmt. Nicht, daß es etwas Besonderes gewesen wäre, wenn eine Königin der Xacoren starb. Jede Königin starb eines Tages, das war Na turgesetz. Aber in diesem Fall … »Und es besteht keine Hoffnung, daß sie noch lange genug lebt, um vielleicht doch noch …« Der Sprecher verstummte. Über dem Rat lag eine Wolke von Verzweiflung. Keine neue Königin in Aussicht, ein Vorgang, den es bisher nie in der Geschichte der Xacoren gegeben hatte. »Die Tanks sind leer, seit Monaten schon«, sagte der Bewahrer. Seine Witterer hingen schlaff herab. »Ich verstehe es wirk lich nicht. Nicht nur, daß in dieser grauen vollen Nacht die Königin so verletzt wurde, daß sie keinen Königssaft mehr produzieren konnte … daß dabei auch die Mehrzahl der Tanks leckgeschlagen wurde, ist einfach un begreiflich.« Einer der Räte, der Älteste, stand langsam auf. »Vielleicht«, sagte er zögernd, »vielleicht
hat die Königin der Ewigkeit beschlossen, das Volk der Xacoren abzuberufen.« »Für Mystik haben wir jetzt keine Zeit«, begehrte der Bewahrer auf. »Hier geht es um konkrete Probleme, die eine handfeste Lö sung erfordern. Die Königin liegt im Ster ben, und keine der Anwärterinnen ist so weit entwickelt, daß sie Königin werden könnte. Es ist kein Königssaft mehr greifbar. Sie können sich also gar nicht zur Königin ent wickeln.« »Das ist der Untergang unseres Volkes«, sagte der Ratsälteste mit brüchiger Stimme. »Die Xacoren werden den Tod der Königin nur um Stunden überleben.« Jeder wußte, daß diese Prognose stimmte. Das Leben der Xacoren war auf die jeweili ge Königin ausgerichtet, sie war Mittelpunkt allen Tuns, aller Gedanken. Die Xacoren lebten für die Königin, sie dienten ihr, sie beteten zu ihr. Gemeinschaftsdienst war Dienst an der Königin, sie war der zentrale Begriff der xacorischen Staatsphilosophie. Dabei zählte die Person der jeweiligen Köni gin wenig – aber das Königtum war wichtig. Die Xacoren nannten diesen abstrakten Be griff des Königtums die »Seele der Köni gin«. Starb diese Seele, starb das Volk. Und weit und breit war keine Nachfolge rin in Sicht. Zu jäh war das Unglück gekom men. Die Xacoren waren unvorbereitet. Mo nate, wenn nicht Jahre mußten vergehen, bis es – vielleicht – gelang, eine neue Königin heranzubilden. Aber jeder im Rat wußte, daß das Gemeinwesen der Xacoren nicht einmal eine Woche funktionieren konnte, wenn die Seele der Königin fehlte. »Das Ende«, murmelten einige Stimmen. »Der Untergang der Xacoren.« Die Vorratszellen würden nicht gefüllt werden. Die Brut verhungerte oder wurde von Schimmelpilzen zerfressen. Die Puppen konnten sich nicht befreien, die Scouts konnten nicht mehr arbeiten. Die Tempera tur in der Stadt mußte schlagartig absinken – und dann war der Tod des ganzen Volkes nur noch eine Frage von Stunden. Das Schicksal der Xacoren war besiegelt
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…
* »Ich weiß das alles«, begehrte Wezzley auf. »Jedes Kind kennt die Geschichte.« »Diesen Teil der Geschichte«, antwortete Quazzlor. »Die anderen Teile aber sind nur Eingeweihten bekannt. So höre denn …«
* Dumpfes Schweigen lastete auf der Rats versammlung. Was war zu tun? Nichts! Man konnte nichts mehr tun. Die Königin starb, das Volk starb. Nichts würde bleiben von den Xacoren. Die Häuser würden zerfallen, der Staub der Jahrhunderte würde sich über die Stadt legen. Vielleicht konnte in vielen tausend Jahren noch einmal Leben auf dieser Welt entstehen. Vielleicht gelang es einigen wenigen Xacoren, sich trotz des Todes der Königin zu retten. Es mußte sich um geistig wie körperlich Modi fizierte handeln, die es vielleicht schafften, ohne Gemeinschaft zu leben. Und vielleicht konnten diese neuen Xacoren – sie würden sehr viel anders sein als das vom Untergang bedrohte Volk – eines fernen Tages eine neue Zivilisation auf dieser Welt aufrichten, auch diese anders als die xacorische, aber ei ne Zivilisation. Die Zeit dieser Xacoren schien jedoch abgelaufen. Der Bewahrer richtete seine Aufmerksam keit auf das jüngste Mitglied des Rates. Dazzler-Phol rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. (Der Bi-Name besagte, daß der betreffende Xacore zwar Mitglied des Rates, aber noch nicht voll ausgewachsen war.) »Sprich«, forderte der Bewahrer den jun gen Xacoren auf. »Ich schlage vor, der Rat setzt seine normale Arbeit fort.« »Jetzt? In dieser Stunde?« erklang es aus den Reihen der Ratsmitglieder. Der Bewahrer richtete sich auf. »Es würde diesem Rat schlecht anstehen,
würde er in der Stunde der Gefahr – und sei es die Stunde des Untergangs – seine Würde und Gelassenheit verlieren. Sprich DazzlerPhol, was hast du dem Rat vorzutragen.« Der junge Xacore stand auf. Seine Witte rer verrieten durch unbeherrschtes Trillern, wie aufgeregt er war. »Ich war in den letzten Nächten einige Male im Freien«, sagte er verlegen. Der Bewahrer konnte ein amüsiertes Schlagen seiner Witterer nicht unterdrücken. Dazzler-Phol bemerkte dies, und seine Ver legenheitsausdünstung wurde noch stärker, als sie ohnehin schon war. »Dergleichen ist nicht verboten«, sagte der Bewahrer, um Dazzler-Phol nicht völlig aus dem Konzept zu bringen. Er ahnte, daß der junge Xacore nicht ausgeschwärmt war, um sich mit einem Weibchen zu treffen. Dazzler-Phol war, und deshalb saß er im Rat der Xacoren, einer der intelligentesten Xaco ren, der je in einem Ei gesteckt hatte. »Ich habe dabei Bewegungen beobachten können«, sagte Dazzler-Phol. »Bewegungen am Nachthimmel, die mich alles andere als normal dünken.« »Abstürzende Meteoriten«, wurde vermu tet. Dazzler-Phol verneinte entschlossen. »Abstürzende Himmelstrümmer beschrei ben keine vielfach gewundenen Bahnen am nächtlichen Himmel. Ich glaube vielmehr, daß es sich bei diesem Phänomen um …« Dazzler-Phol zögerte. Er wußte, wie be deutsam es war, was er vorzutragen beab sichtigte. Traf seine Vermutung zu, dann be gann ein einschneidend neuer Abschnitt der Geschichte der Xacoren ausgerechnet zu ei nem Zeitpunkt, da sich die Geschichte der Xacoren dem Ende neigte. »Ich glaube«, sagte der junge Xacore langsam und bedeutungsvoll, »daß es sich bei diesen Spuren am Nachthimmel um die Spuren von Raumschiffen handelt. Unsere Welt hat Besucher aus den Weiten des Alls erhalten.« In der Runde wurde Gelächter laut. Schließlich wußte man, daß die Xacoren die
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einzigen intelligenten Lebewesen des Uni versums waren. Dazzler-Phols Ausdünstung wechselte von Verlegenheit zu Empörung. »Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte er laut. »Und ich habe mich nicht geirrt. Ich glaube, daß wir sehr bald schon Kontakt zu jenen Fremden aufnehmen können.« Im Rat wurde es still. Plötzlich begriffen die Mitglieder der Versammlung, was ihr junger Kollege ge sagt hatte. Der Bewahrer sprach den Gedanken laut aus: »Wenn sie es schaffen, zwischen den Sternen zu reisen … vielleicht können sie dann auch die Königin retten.« »Vielleicht«, nahm Dazzler-Phol den Fa den auf, »vielleicht können sie unser Volk retten.«
* »Was sage ich«, behauptete Wezzley. »Das ist genau die Geschichte, wie sie ge lehrt wird. Was wollt ihr Häretiker eigent lich?« »Schweig!« brüllte Quazzlor. »Schweig und hör zu. Denn die Geschichte ist noch nicht beendet.« Quazzlor beruhigte sich wieder. Er nahm den Faden der Erzählung wieder auf …
* Der Bewahrer faltete demütig die Witte rer. Der Körper der Königin zuckte leise. Es gab keinen Zweifel, sie lag im Sterben. Dennoch war die Verständigung möglich. »Ich sehe dich, Bewahrer«, ließ sich die Königin vernehmen. »Was hat der Rat be schlossen?« »Nichts«, sagte der Bewahrer. Er verharr te in der vorgeschriebenen Demutshaltung. »Wir haben uns vertagt, ohne eine Lösung für unsere Probleme gefunden zu haben.« Die Königin gab einen Impuls der Belu stigung von sich.
»Versuche nicht, mir etwas zu verschwei gen«, sagte sie in der ihr eigenen Art. »Berichte also!« Der Bewahrer zögerte ein wenig. Die Kö nigin zu belügen, war unmöglich, aber war es recht, ihre letzte Stunde mit unerfüllbaren Hoffnungen zu füllen? »Dazzler-Phol hat etwas gesehen«, be richtete der Bewahrer zögernd. »Er behaup tet allen Ernstes, Raumfahrzeuge am Nacht himmel gesehen zu haben.« »Betreiben die Xacoren Weltraumfahrt?« fragte die Königin. »Wieso weiß ich nichts davon?« Der Bewahrer lachte. »Viel schlimmer«, sagte er. »Dazzler-Phol behauptet, es handele sich um Fremde. Er sei seiner Sache ganz sicher – sagt er.« Es war erschreckend, welche Wandlung sich mit der Königin vollzog. Sie richtete sich mit einem Ruck auf. Ihre Witterer zuck ten in einem Maß, das furchterregend war. Sie schien völlig außer sich. »Was sagst du da?« »Fremde, so behauptet Dazzler-Phol. Es ist natürlich Unfug, Merkizza, einfach un sinnig.« Die Königin fiel auf ihr Lager zurück. Ihr Körper wirkte hinfällig. Es war wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis sie starb. Aber ihr Geist war noch intakt. Sie konnte noch denken, und sie konnte sich verständlich machen. »Ich weiß, daß ich sterben muß«, sagte die Königin. Der Bewahrer verzichtete darauf, eine konventionelle Lüge von sich zu geben. »Es sieht so aus«, sagte er offen. »Wir vermögen dich nicht zu retten, Königin. Aber …« – er zögerte angesichts der Unge heuerlichkeit seines Gedankengangs – »vielleicht, wenn … ich meine, wenn Dazz ler-Phol, es ist ja nicht absolut ausgeschlos sen. Denkbar wäre immerhin …« »Stottere nicht herum«, unterbrach ihn die Königin. »Du willst sagen, daß die Fremden, die Dazzler-Phol gesehen haben will, mir
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vielleicht helfen könnten?« Der Bewahrer stimmte mit einem kurzen Impuls zu. »Du weißt, was das bedeutet?« Der Bewahrer stimmte erneut zu. Er dün stete Verlegenheit aus. Nur er, niemand sonst, hatte Zutritt zur Königin. Der Bewahrer trug der amtierenden Königin die Vorschläge des Rates vor und gab die Befehle der Königin an den Rat wei ter. Es war ein ungeheuerlicher Gedanke, die ses geheiligte Ritual zu durchbrechen – noch dazu durch Wesen, die keine Xacoren wa ren. »Ich kann dich beruhigen, Bewahrer«, sagte die Königin leidenschaftslos. »Wir werden die geheiligten Traditionen nicht durchbrechen müssen.« »Es gibt also keine Fremden«, murmelte der Bewahrer, teils erleichtert, teils be drückt. »Du irrst.« Der Bewahrer schrak zusammen. Er glaubte nicht richtig zu hören. »Du weißt, daß es die Fremden wirklich gibt?« Die Königin bejahte. »Und warum sollten sie nicht fähig sein, dich zu retten, Königin?« »Sie sind dazu fähig.« Den Bewahrer schwindelte. Er begriff nicht, was man ihm sagte. »Aber warum helfen sie dann nicht?« Mit klarer, fester Stimme sagte Merkizza: »Weil es die Fremden sind, die meinen Tod verschuldet haben.«
3. Irgendwie erinnerte er mich an jene Ge stalten, die im frühen Mittelalter Europa un sicher gemacht hatten. Anno Domini 793 waren sie erstmals in Erscheinung getreten – in der ihnen eigenen Art und Weise. An die sem Tag hatten sie die kleine Hebrideninsel Lindisfarne überfallen, und die Art dieses Überfalls hatte sich den Zeitgenossen unver geßlich eingeprägt.
»Vor der Wut der Nordmänner rette uns, o Herr«, hatten die entsetzten Mitteleuropäer gebetet. Geholfen hatte es nicht viel. Jahrhunderte lang bildeten sie die Geisel des Abendlands. Sie schlugen zu, wo sie wollten. Städte gin gen in Flammen auf: Antwerpen 836, Rouen 841, vier Jahre später loderten Hamburg und Paris, im Jahre 882 sanken Städte wie Köln, Bonn, Trier in Schutt und Asche. Nordmänner hatte man sie genannt, Wi kinger waren sie von anderen getauft wor den. Die zeitgenössischen Chronisten hatten sie groß und breitschultrig beschrieben, schrecklich anzuschauen in ihrer Wut. An diese wüsten Gesellen dachte ich gele gentlich, wenn ich Dorstellarain durch den Nebel stapfen sah. Die alten Normannen wa ren aus einer vergleichbaren Landschaft ge kommen. Ein Gedanke durchzuckte mich. Gab es mehr als diese Parallelen, die mir ins Auge gesprungen waren? Stammten die historischen Normannen vielleicht von Pthor? War Atlantis damals auf der Erde ge wesen …? »Die Wahrscheinlichkeit ist überaus ge ring«, informierte mich der Extrasinn. »Das Wiedererscheinen von Atlantis wäre den Zeitgenossen bekannt gewesen, aber in den Chroniken steht nichts dergleichen. Konzen triere dich auf das Wesentliche!« Der Tadel des Logiksektors traf mich nicht sehr hart. Von konzentrieren konnte kaum die Rede sein. Wir marschierten über verharschtes Land, eingehüllt in feuchtkal ten Nebel. Ab und zu konnte ich das Kräch zen von Brastern hören, weit entfernt und vom Nebel stark gedämpft. »Sie haben uns verloren«, sagte ich zu Dorstellarain. »Möglich«, knurrte der Hüne. Er maß fast zweihundertzwanzig Zentimeter, war aber keineswegs hager. Die Erdbewohner des Mittelalters hätten ihn wahrscheinlich für einen Riesen gehalten. »Wo stecken wir eigentlich?« wollte ich wissen.
12 Mir war alles andere als wohl in dieser Landschaft. Als Arkonide war ich an andere Temperaturen gewohnt. Zwar hatte ich Jahr hunderte der Anpassung an das irdische Kli ma aufzuweisen, aber selbst für terranische Verhältnisse war es lausig kalt und feucht obendrein. Der Clanoc gab einen Grunzlaut von sich. »Keine Ahnung«, präzisierte er ein wenig später. »Weiß nicht.« Diese Antwort behagte mir überhaupt nicht. Wir bewegten uns in einem vereisten, schneebedeckten Hügelgelände, das kaum eindeutige Fixierungspunkte aufzuweisen hatte. Ein Hügel sah aus wie der Zwillings bruder seines Nachbarn. In dieser Land schaft konnten sich Armeen verirren, ge schweige denn zwei Männer. Zudem war unsere Ausrüstung reichlich dürftig. Ich trug zwar das Goldene Vlies, und mein Zellaktivator sorgte dafür, daß meine Körperkräfte rasch regeneriert wur den, aber darüber hinaus war ich nur mit ei nem Messer bewaffnet, und das war nicht viel. Dorstellarain konnte seine beachtlichen Muskelkräfte in die Waagschale werfen, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam, er trug ebenfalls ein Messer und seinen Bra ster-Lenker. An einen Kampf dachte ich zur Zeit nicht, wohl aber an die Schwierigkeiten, die aus der Landschaft erwuchsen. Nahrung war weit und breit nicht zu se hen. Ich wußte aber aus Erfahrung, welchen Appetit Riesen vom Schlage eines Dorstella rain entwickeln konnten. Ich dachte an den Ertruser Melbar Kasom, dessen Gefräßigkeit so oft Zielscheibe bissiger Bemerkungen ge wesen war. Gern hätte ich den zuverlässigen USO-Spezialisten an meiner Seite gehabt. »Und wo liegt Gynsaal?« Unter der dicken Fellkleidung war Dor stellarains Schulterzucken kaum zu erken nen. »Weiß nicht«, brummte er. »Irgendwo. Da draußen.« Er deutete auf das Land, über das feucht kalte Nebelschleier wogten.
Peter Terrid »Hunger«, ließ sich der Clanoc verneh men. »Machen wir eine Pause.« »Hast du etwas Eßbares dabei?« fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. »Wozu dann pausieren? Wir müssen uns beeilen, daß wir möglichst bald Gynsaal erreichen.« Dorstellarain grunzte mißmutig. Wir setz ten unseren Marsch fort, der zwar ein Ziel hatte – aber keine Richtung. »Bist du schon oft hier gegangen?« fragte ich den Clanoc. »Nein«, sagte Dorstellarain. »Ich kenne mich nicht aus.« Ich hakte nach und hatte dabei das zwei schneidige Vergnügen, feststellen zu müs sen, daß sich der gute Dorstellarain nur sehr wenig in diesem Land auskannte. Er hatte auch keine präzisen Vorstellungen, wie es in anderen Bereichen der Dimensionsschleppe aussah, wie groß dieses Gebilde eigentlich war, wer sonst noch darin lebte. Der Hori zont des Hünen war buchstäblich recht be grenzt. »Weiß nicht«, war seine Standardantwort, wenn ich ihn nach geographischen Details fragte. Dabei hatte ich alle Mühe, mit dem Hünen Schritt zu halten. Dorstellarain be wegte sich mit einer Geschwindigkeit, als habe er Kräfte im Übermaß. Lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten kön nen, das stand für mich fest. Dann begann jener Leistungsbereich, in dem ich dank des Zellaktivators der Überlegene war. Und dem schloß sich ein Zustand an, in dem wir beide zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Auch der Zellaktivator des Fiktivwesens war nicht in der Lage, aus Nebelschwaden Nahrung zu ziehen. Absoluten Nahrungsentzug konnte er nicht ausgleichen, das gleiche galt für Wasserentzug. Zwar gab es um uns herum Wasser die Fülle – aber dieses Wasser muß te erst aus Schnee und Eis geschmolzen wer den. »Dort drüben«, knurrte Dorstellarain. Ihm behagte das alles ebenfalls nicht, wie seine Wortkargheit deutlich bewies. Ich spähte in die Richtung, die er mir wies. Zu sehen war dort nichts, was sich
Retter der Xacoren vom Standard der uns umgebenden Land schaft unterschieden hätte. »Was gibt es?« Der Wind riß mir die Worte von den Lip pen. »Die Hügel werden flacher«, verkündete Dorstellarain. »Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.« Jedenfalls, so sagte ich mir, war dies ein Zeichen dafür, daß wir uns von unseren Ver folgern entfernt hatten. Seit geraumer Zeit war kein Brastergeschrei mehr erklungen. »Versuchen wir es«, schlug ich vor. Hinter dem Hügelkamm tauchte eine zweite Kette von Erhebungen auf, eine dritte und noch eine, und dann noch eine … zwar wurden die Hügel immer flacher, aber des wegen blieb das Gelände doch uneben, und es blieb auch kalt und feucht. Dorstellarain verlor bei diesem Marsch langsam, aber sicher an Geschwindigkeit. Meine Kräfte wurden durch den Zellaktiva tor erneuert, daher war ich dem Clanoc nun für ein paar Wegstunden körperlich überle gen. Unglücklicherweise hatte Dorstellarain davon etwas bemerkt. Er wollte diese Nie derlage nicht einstecken und quälte sich vor wärts, wo er hätte pausieren müssen. »Halt«, sagte Dorstellarain plötzlich. Er hob eine Hand. Ich blieb stehen. Was hatte der Clanoc ge sehen? Er war – wieder einmal, und völlig überflüssigerweise – einige Meter vorausge eilt. Ich ging langsam auf ihn zu. »Merkst du es?« Ich sah mich um, roch und lauschte. Nichts. »Es wird wärmer«, verriet der Clanoc. »Deutlich wärmer sogar. Ich kann es ganz genau spüren. Spürst du nichts?« Ich zuckte mit den Schultern. Für den Clanoc waren vermutlich auch kleine Tem peraturunterschiede wichtig, und daher ver mochte er sie auch zu registrieren. Ich nahm keinen Temperaturanstieg wahr. Es blieb kalt und naß. Dorstellarain deutete auf eine Stelle am Horizont.
13 »Wir müssen dorthin«, sagte er. »Die Wärme kommt aus dieser Richtung.« »Liegt dort Gynsaal?« fragte ich. »Möglich«, antwortete der Clanoc und setzte sich in Bewegung. Ich stapfte hinter ihm her.
* »Das ist nicht Gynsaal«, sagte Dorstella rain. »Wenn nicht Gynsaal, was dann?« Wir la gen auf dem Bauch und spähten in die Tiefe. Tiefe war allerdings ein reichlich hochge griffener Ausdruck. Wir blickten in eine Senke, und diese Vertiefung war bewohnt. Wir sahen eine kleine Stadt, terrassenför mig angelegt. Die Planer hatten dafür ge sorgt, daß alle Straßenzüge sternförmig auf den Mittelpunkt der Stadt zu liefen. Von den Bewohnern dieser Stadt war nichts zu sehen. Und doch mußte es in der Stadt Leben ge ben. Anders ließ sich der Ort nicht erklären. Wir sahen ein weitverzweigtes Röhrensy stem, dessen Sinn und Zweck ich nicht be griff. Ich sah nur, daß es in den Röhren et was gab, das sich bewegte, vielleicht eine warme Flüssigkeit. Die Röhren mündeten in die Hänge der Senken – oder entsprangen sie dort? Dort, wo das Röhrensystem in den Boden hinein oder aus ihm herausführte, war der Boden frei. Eis und Schnee waren weggetaut. Das allein war für mich Grund genug, an Bewoh ner der Stadt zu glauben. »Poro-Gheloos«, stieß Dorstellarain her vor. Seinem Tonfall konnte ich entnehmen, daß er keineswegs begeistert war. »Kennst du den Ort? Warst du schon ein mal hier?« »Bei allen Geistern, nein«, stieß Dorstel larain heftig hervor. »Ich habe diesen Ort noch nie gesehen.« »Woher kennst du dann seinen Namen?« »Er ist bekannt bei den Clanocs«, mur melte Dorstellarain. Wie gebannt starrte er
14 auf die Ansiedlung hinab. »Es heißt«, sagte er leise, »daß es inmit ten dieser Landschaft eine Stadt gäbe, die Poro-Gheloos heißt. Dort geht es nicht mit rechten Dingen zu, heißt es.« »Wer genau hat das gesagt?« »Es heißt so«, beharrte Dorstellarain. Ich stand auf. »Dann laß uns gehen.« Der Clanoc wälzte sich auf den Rücken und sah zu mir hoch. »Es heißt, daß es in Poro-Gheloos nicht mit rechten Dingen zugeht«, sagte er lang sam. »Es heißt aber auch, daß ein Mann, der lange gewandert ist, müde wird und der Nahrung bedarf. Hast du etwas zu essen da bei?« »Nein.« »Dann wirst du mich tragen müssen«, verkündete Dorstellarain breit grinsend. »Ich mag diesen Ort nicht, aber meinen Hunger mag ich noch viel weniger.« Mir wäre es lieber gewesen, hätten wir unseren Marsch fortsetzen können. Wenn dieser Ort wirklich Poro-Gheloos war – ich zweifelte eigentlich nicht an der Vermutung des Clanocs –, dann brachte uns der Ort vor aussichtlich keinen Schritt weiter. Wenn wir etwas erreichen wollten, dann konnte nur Gynsaal unser Ziel sein. Aber ich sah ein, daß mit Dorstellarain nicht mehr viel anzufangen sein würde. Und ewig konnte ich diesen Marsch ohne Nah rung auch nicht ertragen. »Steh auf und bewege dich«, sagte ich. »Einverstanden. Wir versuchen, in der Stadt etwas Eßbares zu finden.« »Und etwas zu trinken«, hoffte der Cla noc, während er aufstand. Wir machten uns auf den Weg. Aus der Senke wehten uns angenehm laue Lüfte entgegen. Der Boden war nur wenige Meter hügelabwärts mit Schnee bedeckt, da nach traten wir auf kurzes Gras oder Moos. Offenbar war dies dem Röhrensystem zu verdanken, das sich rings um die Stadt zog. Wahrscheinlich stand es mit dem Zentrum der Stadt in Verbindung. Dieses Zentrum
Peter Terrid war mir sofort ins Auge gesprungen. Es handelte sich dabei um ein Gebäude aus stumpfgrauem Material, etwa zwanzig bis dreißig Meter hoch, mit einem Durch messer, den ich von meinem Standort aus auf etwa einhundert Meter schätzte. In die sen Block konnte man allerhand hineinbau en. Das Stadtzentrum erinnerte mich ein we nig an einen Fragmentraumer. Auch bei die sem Gebilde war keine exakte Struktur, kein Bauplan zu erkennen gewesen – jedenfalls nicht für menschliche Beobachter. »Das Gebilde ist ein Kristall«, informierte mich der Logiksektor mit einem kurzen Im puls. Ich staunte. Daß ein Kristall in dieser Größenordnung einfach so aus dem Boden wuchs, erschien mir mehr als unwahrscheinlich, zumal in der Umgebung der Stadt kein entsprechendes Material zu finden gewesen war. »Unter Schnee und Eis?« erkundigte sich der Extrasinn mit leisem Spott. Ich war mit diesem Gedanken stark be schäftigt, daher reagierte ich erst, als Dor stellarain einen erschreckten Ruf ausstieß. Ich sah auf. Schlagartig war die Stadt lebendig gewor den, und nach mehr als zehntausend Jahren Kampf wußte ich sofort, was ich zu tun hat te. »Hinlegen!« rief ich Dorstellarain zu. Der hünenhafte Clanoc ging blitzartig zu Boden. Seine Hand glitt zum Gürtel, wo das Messer saß. Ich hielt ihn zurück, bevor er sich, den klassischen Berserkern gleich, ins Getüm mel stürzen konnte. Jetzt ließ sich nicht mehr bezweifeln, daß es sich bei dem Gebilde im Zentrum von Po ro-Gheloos um einen Kristall handelte. Das riesenhafte Gebilde wurde heller, begann von innen heraus zu strahlen. »Unfaßbar!« stieß Dorstellarain hervor. Der Kristall meldete sich nicht nur op tisch. Er gab einen dumpfen, weithin hörba ren Ton von sich. »Bleibe in Deckung«, rief ich dem Clanoc
Retter der Xacoren zu. Dorstellarain machte keinerlei Anstalten, Poro-Gheloos im Alleingang zu erobern. Die Sache begann ihm unheimlich zu werden. Ich konnte den Clanoc gut verstehen. Was wir sahen, war alles andere als einladend. Der dumpfe Ton hing in der Luft, der Kri stall wurde von Minute zu Minute heller und tauchte die Stadt Poro-Gheloos in helles Licht. Dann begann der Kristall zu pulsieren. Tonhöhe und Leuchtkraft des Kristalls ver änderten sich regelmäßig. Als sei dies ein Zeichen gewesen, wurde es auf den Straßen der Stadt lebendig. Gestalten tauchten auf den Straßen und Gassen auf. Die Bewohner der Stadt unter schieden sich stark von Dorstellarain und mir. Es handelte sich um Insektenabkömmlin ge. Ziemlich bald stellte sich heraus, daß sich das Insektenvolk in drei verschiedene Be völkerungsgruppen aufteilte. Zwei Bevölkerungsgruppen waren annä hernd gleichstark vertreten. Bei der einen Art handelte es sich um eher plump ausse hende Insektoiden, etwa anderthalb Meter groß. Sie trugen dicke Panzer und seltsam anmutende Hauben mit Spiralen. Wozu Spi ralen und Panzer dienten, blieb einstweilen ungeklärt. Fast zwei Meter groß, sehr schlank und fast durchsichtig war die zweite Spezies. Und ab und zu sah ich in dem Gewimmel auf den Straßen auch Wesen, die sich von der schlanken Art durch ein gut erkennbares Flügelpaar unterschieden. Aus der Art, in der diese Gruppen mitein ander umgingen, ließ sich sehr bald folgern, in welchem Verhältnis sie zueinander stan den – die gedrungenen Insektoiden stellen die männliche Spezies dar, die schlanken Exemplare waren wahrscheinlich Weibchen. Und in den Geflügelten vermutete ich Köni ginnen. Es sollte sich zeigen, daß ich mich nur un wesentlich geirrt hatte – unwesentlich, aber beinahe verhängnisvoll.
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4. »Woher willst du das wissen?« fragte Wezzley erregt. »Bist du dabei gewesen?« Er konnte sich kaum mehr beherrschen, und die Droge, die verhinderte, daß er in Kälteerstarrung verfiel, tat ein übriges. Wezzley war außer sich. Er wußte, daß er in einer Zwickmühle steckte, die teuflischer kaum sein konnte. Allein die Kenntnis der Behauptungen der Häretiker mußte ihn schon den Kopf kosten. Die Gedankenpoli zei würde niemals einen Scout herumlaufen lassen, der solche Schauermärchen zu erzäh len wußte. Und wenn er sich den Häretikern an schloß, war ihm der Tod ebenfalls gewiß – früher oder später. »Es wird so berichtet«, sagte der Alte be dächtig. Wezzleys Attacke schien ihn unge rührt zulassen. »Merke auf …«
* Der Bewahrer verließ leise die Sterberäu me der Königin. Es gab keinen Zweifel mehr, daß es mit Merkizza zu Ende ging. Sie phantasierte bereits. Auf der anderen Seite … Königinnen be saßen ganz bestimmte Fähigkeiten, eine See le. Jedenfalls wurde die Gesamtheit aller Ei genschaften und Fähigkeiten einer Königin so genannt. Und zu den Seeleneigenschaften einer Königin gehörte auch, daß sie Dinge wahrnehmen konnte, die niemand sonst zu erkennen vermochte. Was also hatte Merkizza gesehen? Hatte sie geträumt, war sie Fieberträumen aufge sessen … oder waren ihre Behauptungen wahr, Ergebnisse ihrer besonderen Beobach tungs- und Wahrnehmungsfähigkeit? Dies war ein Problem, dessen Lösung die Kräfte des Bewahrers überstieg. Er be schloß, die Worte der Königin einstweilen für sich zu behalten. Dennoch suchte er seinen Wohnbereich auf und fixierte die Aussage der sterbenden
16 Königin. Danach suchte er die Ratsver sammlung wieder auf. Der Rat war vollständig, nur Dazzler-Phol fehlte. Der Bewahrer nahm es kaum zur Kenntnis. Wahrscheinlich hatte DazzlerPhol wieder mit seinen Beobachtungen zu tun. Der Bewahrer eröffnete die Versammlung mit einem energischen Trillern. Neugierde verbreitete sich im Raum; dann, als die niedergeschlagene Ausdün stung des Bewahrers nicht mehr zu vernach lässigen war, finstere Verzweiflung. »Die Königin weiß, daß sie stirbt«, sagte der Bewahrer dumpf. »Sie weiß es, sie weiß, daß auch ihr Volk sterben muß – und sie sieht keine Lösung.« Ein Ratsmitglied trat langsam vor. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht … es gibt so vieles heute, das es nicht gab, als ich noch ein Ei war. Vieles von dem, was wir früher mühsam selbst machen mußten, erle digen nunmehr Maschinen für uns. Wir hö ren das Getöse bei Tag und Nacht. Früher brauchten wir Augenmaß, um die Vorrats zellen richtig zu bauen, heute fertigen wir sie nach einer Schablone. So vieles haben wir erreicht, vielleicht …« »Eine Maschine an Stelle der Königin?« Empörung wehte durch den Saal, durch setzt mit Ekel – und Angst. Seit Tagen war der Angstgeruch in der Halle des Rates deut lich zu spüren gewesen. »Haben wir eine andere Wahl?« Der Bewahrer faltete die Witterer, eine Geste, die demütiges Sich-Fügen in den Be schluß des Schicksals ausdrücken sollte. Sie mißlang kläglich. Er war viel zu erregt, um die Geste mit der erforderlichen Ruhe durch führen zu können. »Wir müssen eine Lösung für dieses Pro blem finden«, rief ein Ratsmitglied laut in den Saal. »Wir müssen einfach – jeder von uns weiß, daß es sonst rasch mit unserem Volk zu Ende gehen wird. Ich weiß sehr wohl, daß der Vorschlag, die Seele der Kö nigin verpflanzen zu wollen, verzweifelt ist – aber haben wir überhaupt noch eine Alter-
Peter Terrid native?« »Nein«, riefen einige andere Mitglieder des Rates. »Recht hat er! Wir müssen das Äußerste wagen!« Im Hintergrund des Ratssaals wurde es unruhig. Der Bewahrer hatte seine demuts volle Haltung bis zu diesem Augenblick be wahrt. Jetzt sah er auf, erkannte die Ursache für die Aufregung. Seine Witterer vibrierten erregt. Dazzler-Phol war erschienen, umgeben von einer penetranten Ausdünstung nach Aufregung. Seine Witterer trillerten, als sei er berauscht. Der Bewahrer sah auf den er sten Blick, daß sich der junge Dazzler in ei nem psychischen Ausnahmezustand befand. »Ich bitte ums Wort«, rief er noch vom Eingang, bevor er auf seinem Platz ange langt war. Der Bewahrer witterte kurz und empfand Zustimmung. In dieser Lage würde der Rat nach jedem Strohhalm greifen. Dazzler-Phol drängte sich nach vorne. Er war außer sich. Niemals hätte er es sonst ge wagt, die Stufen zur Empore hinaufzustei gen, die seit undenklicher Zeit nur dem Be wahrer vorbehalten war, Zeichen seines Ranges und seiner Würde. »Hört mich an«, rief Dazzler-Phol. Seine Erregungsausdünstung war so stark, daß der Bewahrer zur Seite treten mußte. »Sie sind gelandet. Sie wollen Kontakt mit uns auf nehmen.« Der Bewahrer spürte, wie die Erregung auch ihn befiel. Er konzentrierte sich, um das unkontrollierte Zucken seiner Witterer zu dämpfen. Wenigstens er mußte in dieser Schicksalsstunde Haltung bewahren. »Wer ist gelandet?« fragte der Bewahrer. »Die Fremden«, verkündete Dazzler-Phol. »Sie sind auf unserer Welt gelandet.« »Woher weißt du das?« fragte der Bewah rer. Er spürte, daß ihn die Angst befiel. Er mußte an die Äußerung der sterbenden Kö nigin denken. Kamen die Fremden als Freunde? Oder stimmte, was Merkizza be hauptet hatte, daß sie Feinde der Xacoren waren?
Retter der Xacoren »Hast du die Fremden gesehen?« Dazzler-Phol erstarrte. Er wand sich förmlich vor Verlegenheit. Seine Zuversicht war schlagartig geschwunden. »Gesehen habe ich sie nicht«, sagte er nun wesentlich ruhiger. Der Bewahrer merkte, daß er die Situation wieder in den Griff be kam. Er machte eine energische Geste. DazzlerPhol zuckte schuldbewußt zusammen und verließ langsam die Empore. »Gesehen habe ich die Fremden nicht«, sagte er gedämpft. »Aber ich habe eine Bot schaft gefunden.« Wieder zuckten die Witterer des Bewah rers energisch. »Ruhe im Saal!« befahl er. »Sonst lasse ich die Sitzung schließen.« Der Lärm ebbte ab. Der Bewahrer sah, daß die Posten an den Eingängen ihre vorge schriebenen Standorte verlassen hatten. Mit einigen kurzen Trillern scheuchte er sie zu rück. »Trage vor, was du zu sagen hast«, sagte der Bewahrer. Im Saal war es sehr still ge worden. Dazzler-Phol brachte einen Duftbrief zum Vorschein. Sofort verbreitete sich im Saal ein erregter Geruch. Wenig später wurde ei ne andere Komponente riechbar. Der Bewahrer wurde ganz ruhig. Er kannte die Gerüche, die Xacoren pro duzieren konnten, er kannte jede Schattie rung, jede Nuance. Er verstand wie kein zweiter Xacore die vielfältigen Kombinatio nen von Geruchsäußerungen und Witterer positionen zu deuten. Dieser Geruch, der auf seine Witterer wirkte, stammte nicht von ei nem Xacoren. Auf keinen Fall war dieser Geruch Produkt dieser Welt. Einzelne Kom ponenten waren unsagbar fremd in ihrer ver wirrenden Vieldeutigkeit. Sofort stieg in dem Bewahrer der Verdacht auf, daß die ge heimnisvollen Fremden – von deren Exi stenz er immer noch nicht zur Gänze über zeugt war – andere Kommunikationsorgane besitzen mußten als die Xacoren. Der Ge ruch, den sie ihrer Botschaft – Dazzler-Phol
17 hielt sie in die Höhe, damit jeder sie wittern konnte – als Grundgeruch mitgegeben hatte, deutete zwar auf Friedfertigkeit und Freund schaft hin, aber der Bewahrer, auf diesem Gebiet erfahrener als jeder andere im Rat, spürte deutlich, daß dieser Tenor aufgesetzt war. Der Freundschaftsgeruch war so pene trant, daß er fast schon Übelkeit erregte. Klar war, daß die Fremden die Geruchs sprache der Xacoren beherrschten. Aber den feinen Witterern der erfahrenen Ratsmitglie der entging nicht, daß die Duftsprache merk würdig gestelzt wirkte. Die Fremden spra chen zwar in Düften, aber dies war nicht ih re eigene Sprache. »Lies vor!« bestimmte der Bewahrer. Die Triumphhaltung von Dazzler-Phols Witte rern mißfiel ihm; er hielt sie für verfrüht. »Xacoren«, begann die Botschaft. »Wir kommen in Frieden und Freundschaft. Wir grüßen euch …«
* »Na also«, begehrte Wezzley auf. »Das ist der gleiche Text, wie er gelehrt wird. Ihr braucht ihn nicht herzubeten, ich kenne ihn auswendig.« »Es ist der Text«, sagte Quazzlor gelas sen. Ihn schien nichts aus der Ruhe bringen zu können. »Es ist Wort für Wort der Text, den du aus dem Unterricht kennst. Du kennst allerdings nur den Wortlaut, nicht den Geruch.« Wezzley trillerte wegwerfend. »Was gibt es da noch groß zu wittern«, sagte er abschätzig. »Außerdem, sprechen nicht die Tatsachen für sich selbst? Tatsa chen, die nicht einmal ihr hinwegleugnen werdet – beispielsweise die Große Königin.« Quazzlor sah ihn verweisend an. »Höre weiter«, sagte er. »Wir kommen auf die Große Königin zu sprechen.«
* Der Bewahrer rührte sich nicht.
Der Text der Botschaft war ihm gleich
18 gültig. Es gab gewisse Situationen, in denen stets und überall das gleiche gesagt wurde. Ob es sich um Ansprachen anläßlich der er sten Eiablage handelte, um Festvorträge am Häutungsfest, um Demutsaddressen an die Königin – die Variationsmöglichkeiten bei solchen Texten waren immer sehr gering. Was sollten die Fremden anderes erzählen, als daß sie in Frieden und Freundschaft … und keinerlei böse Absichten … vom Guten durchdrungen … für dauerhafte Zusammen arbeit … unverbrüchliche Treue … Hilfe, wo immer möglich und nötig – es war das Standardgeschwätz. Die Fremden machten da keine Ausnahme. Die Botschaft troff von Gemeinplätzen. Hätte man jede floskelhafte Wendung aus dem Text gestrichen, wäre au ßer der Botschaft: »Hier sind wir, es gibt uns«, nichts mehr übriggeblieben. Dazzler-Phol las die Botschaft langsam und feierlich vor. Eine Wolke von Pathos lag über der Ratsversammlung. Einzig der Bewahrer dünstete neutral aus. Ihn langweilte der Text. Die Mehrheit der Ratsversammlung war ergriffen. Ihre Witterer hatten eine feierliche Haltung, die meisten hatten sich sogar von ihren Plätzen erhoben. Dazzler-Phol hüllte sich erriechbar in eine Aura kosmischer Größe. Lüge, dachte der Bewahrer. Es sind alles Lügen. Die Königin lügt nicht. Eine Königin lügt nie – täte sie es, wäre sie nicht könig lich. Und eine sterbende Königin war vollends über jeden Zweifel erhaben. Was wollten die Fremden? Wieso war keiner von ihnen erschienen, sich den Xacoren vorzustellen. Einen Brief hatte man geschickt, eine ziemlich durch sichtige Grußbotschaft, stark parfümiert und eben deshalb unglaubwürdig. Dazzler-Phol ließ das Dokument sinken. Seine Witterer falteten sich ergriffen. Er fand sich selbst wundervoll. »Eine große Stunde für das Volk der Xa coren«, sagte Dazzler-Phol nach einer kurz en Pause. »Ein anderes Volk will Freund schaft mit uns schließen.«
Peter Terrid »Vielleicht können sie uns wirklich hel fen«, ließ sich eine erregte Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. Ein zweites Mal mußte der Bewahrer die Torwachen mit Ge sten auf ihre Positionen zurückscheuchen. »Es ist doch gleichgültig, ob sich die Frem den uns zeigen oder nicht. Hauptsache, daß sie eine Lösung für unser Problem finden.« »Sie finden eine«, dachte der Bewahrer. »Ganz bestimmt werden sie eine Lösung für unsere Probleme finden. Es wird eine Lö sung sein, die vor allem ein Problem der Fremden löst.« Er wußte, daß dies die Schicksalsstunde der Xacoren war. Mit diesem Tag und dieser Stunde begann eine neue Epoche in der Ge schichte des Volkes der Xacoren. Fraglich war nur, wie diese neue Epoche aussehen würde. An einem Übermaß an Glück hatten die Xacoren nie zu leiden gehabt. Ihre Ge schichte hatte sich in sanften Wellenbewe gungen auf und ab bewegt. Die Höhen wa ren nie triumphierend, die Tiefen nie kata strophal gewesen. Noch viele Jahrzehntau sende hätten auf diese Weise vergehen kön nen, ohne besondere Höhepunkte, aber auch ohne tiefgreifende Einschnitte – bis zum all mählichen Aussterben der Xacoren. Was würde die Zukunft für das Volk brin gen? Der Bewahrer zögerte. Er wußte, daß man nur ihn anstarrte. Es war seine Aufgabe, die Beratung über die Botschaft der Fremden einzuleiten. An ihm war es, als erster das Wort zu ergreifen. Was sollte der Bewahrer sagen? Er wußte es nicht. Nur halb bei klarem Verstand spürte er die Ausdünstung der Ratlosigkeit, die sei nem Körper entströmte. Diese Entscheidung überforderte ihn, ging weit über das hinaus, was er selbst als äußerste Grenze seiner Lei stungsfähigkeit angesehen hätte. Auf der anderen Seite – hatte er überhaupt eine Alternative? Wenn es stimmte, was die sterbende Mer kizza geäußert hatte – und der Bewahrer hat
Retter der Xacoren te keine Ursache, an der Wahrhaftigkeit die ser Aussage zu zweifeln –, dann waren die Fremden verantwortlich für das Schicksal, das dem Volk der Xacoren drohte. Und die Fremden waren es dann auch gewesen, die die Vorräte an Königinnensaft vernichtet hatten. Wenn die Fremden so mächtig waren – wie konnten sich die Xacoren dann gegen sie zur Wehr setzen? Gab es überhaupt noch eine andere Möglichkeit als die, sich in den Ratschluß der Götter zu fügen, die das Volk der Xacoren in die Hände der mächtigen Fremden gegeben hatten? »Hast du mit den Fremden sprechen kön nen, Dazzler?« Daß der Bewahrer auf den zweiten Teil des Namens verzichtete, ließ den jungen Xa coren freudig zittern. Er beeilte sich, die Frage zu beantworten. »Sprechen konnte ich nicht mit ihnen«, sagte er hastig. »Ich fand nur Spuren in der Nähe der Stadt, Spuren, die niemals von ei nem Xacoren gemacht worden sein konnten. Und dort fand ich auch die Botschaft.« »Mehr nicht?« Ernüchterung breitete sich aus. Spuren konnte man zur Not fälschen. Wer war schon in der Lage, zweifelsfrei nachzu weisen, daß solche Spuren nicht von Frem den aus dem Raum stammten? Beweise die ser Art waren in aller Regel nicht zu erbrin gen. »Genügt das nicht?« fragte Dazzler und hielt das Dokument in die Höhe. Seine Wit terer trillerten aufgeregt. »Ich habe das Ma terial untersucht. Es stammt ganz eindeutig nicht von unserer Welt.« »Woher willst du das wissen?« fragte der Bewahrer scharf. »Es handelt sich um ein Material, das wir nicht herstellen können«, sagte Dazzler. »Es besteht aus ineinander verflochtenen Fasern, ähnlich dem Papier, das wir benutzen – al lerdings sind die Bestandteile dieses Papiers nicht natürlichen Ursprungs. Wir Xacoren können dieses papierähnliche Material je denfalls nicht erzeugen.«
19 Der Bewahrer zögerte wieder. Seine Gedanken überschlugen sich. So sehr er sich auch drehte und wand, er fand keinen Ausweg aus dem Dilemma. Es gab keine andere Möglichkeit – die Xacoren mußten mit den Fremden Kontakt aufneh men. Und in dieser Zwangslage erschien es dem Bewahrer ratsam, seine Informationen zurückzuhalten. Vielleicht half es, wenn die Fremden nicht sofort merkten, daß einzelne Xacoren von ihren finsteren Plänen wußten. »Ich schlage vor«, sagte der Bewahrer, »daß wir eine Botschaft an die Fremden auf setzen.« »Eine Grußbotschaft!« »Einen Hilferuf!« »Ausgeschlossen«, ließ sich eine dritte Stimme vernehmen. »Wir können doch den Fremden nicht gleich beim ersten Kontakt als Bittsteller entgegentreten. Wie sieht das aus?« »Mag sein«, sagte der Bewahrer zu die sem Einwurf, »daß der Ruf der Xacoren dar unter leiden wird, daß wir schon beim ersten Kontakt Hilferufe an die Fremden richten müssen. Auf der anderen Seite werden wir, wenn uns nicht schnellstens Hilfe zuteil wird, keine weiteren Kontakte mehr erle ben.« »Recht hat er!« »Also ich werde mich nicht krümmen vor den Fremden. Höflichkeit ja, aber Unterwür figkeit – niemals!« Der Bewahrer trillerte kurz und energisch. Ruhe kehrte in der Ratsversammlung ein. »Ich schlage vor«, sagte er zögernd, »daß wir in unserer Botschaft erklären, was wir für Sorgen haben. Daß es uns leid tut, wenn die Begegnung zweier verschiedener Rassen in diesem Universum sehr rasch ein Ende haben muß, weil eine dieser Rassen unmit telbar vor dem Aussterben steht.« Dazzler gab seine Zustimmung zuerken nen. Der Bewahrer sah sich um. Auch der Rat der Xacoren stimmte mehrheitlich zu. Bei einigen Ratsmitgliedern war deutlicher Widerwille zuerkennen. Der Bewahrer hatte dafür viel Verständnis. Die Xacoren waren
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Peter Terrid
von jeher ein stolzes Volk gewesen, und die se Art der Kontaktaufnahme war alles ande re als stolz zu nennen. Die Ratsmitglieder schienen allerdings einsichtig genug zu sein, diesen Stolz hintanzustellen. Vordringlich galt es, jede noch so kleine Chance zu wahren, das Weiterbestehen des Volkes zu sichern. Der Bewahrer gab dem jungen Dazzler ein Zeichen und begann damit, eine Antwort auf die Botschaft der Fremden zu diktieren. Die Xacoren mußten als Volk überleben. Das war der Imperativ, nach dem der Be wahrer handelte. Er ahnte aber, daß das kleine Volk der Xacoren für diese Überlebenschance einen hohen Preis würde zahlen müssen.
5. »Die Sache gefällt mir nicht«, stellte Dor stellarain kategorisch fest. »Aber dein Hunger ist geblieben?« fragte ich zurück. Der Clanoc gab nur ein Knurren von sich. Mir gefiel die Stadt auch nicht. Aus Er fahrung wußte ich, daß insektoide Völker ab und zu über Gedankenstrukturen verfügten, die selbst ein geschulter Verstand so ohne weiteres nicht nachzuvollziehen in der Lage war. Bei Insektoiden mußte man auf alles gefaßt sein. Außerdem hatte die Anwesenheit der In sektenabkömmlinge in der Dimensions schleppe einen bestimmten Grund. Die We sen, die die Dimensionsschleppe installiert hatten, waren auch für die Verpflanzung der Insektoiden verantwortlich zu machen. Es lag auf der Hand, daß diese Wesen in der Dimensionsschleppe nicht entstanden waren. Es gab also – aus der Sicht der Machtha ber – einen Grund, aus dem die Insekten hier lebten. Diesen Grund kannte ich nicht – aber ich konnte mir einige Möglichkeiten zusam menreimen, von denen keine sehr angenehm war. Möglich war, daß die Insektoiden hierher verbannt worden waren. Sehr friedlich und
umgänglich würden die Insektoiden dann vermutlich nicht sein – friedfertige Wesen brauchte man in aller Regel nicht zu verban nen. Denkbar war auch, daß es sich um eine Spezies handelte, die das Leben und Treiben in der Dimensionsschleppe überwachen soll te. In diesem Fall würde mit ihnen nicht zu spaßen sein. Vor allem aber irritierte mich der Riesen kristall in der Mitte der Siedlung. Das gigan tische Gebilde strahlte eine unübersehbare Gefahr aus. Der Kristall war mir nicht ge heuer, und ich wußte aus zehntausendjähri ger Erfahrung, daß ich mich in aller Regel auf meinen Riecher verlassen durfte. Die Insektoiden schienen völlig anderer Meinung zu sein. Für sie war ebenso unübersehbar der Kri stall Mittelpunkt ihres Lebens. Immer wie der tauchten sie in Gruppen vor bestimmten Stellen des Kristalls auf und verfielen in er starrte Haltungen. Wären es Roboter gewe sen, hätte ich auf eine Art Ladevorgang ge schlossen, so aber schien mir die Angele genheit mehr religiöser Natur zu sein. Es hatte den Anschein, als beteten die Insekten den pulsierenden Riesenkristall an. Sie verharrten in der Regel einige Zeit re gungslos vor dem Kristall, dann wandten sie sich ab und gingen ihren Arbeiten nach. Die leeren Plätze in der Nähe des Kristalls wur den sehr bald von anderen Insektoiden ein genommen, die dann ihrerseits in eine Art Gebetshaltung verfielen. »Wie lange wird das noch dauern?« Ich konnte die Frage des Clanocs beim besten Willen nicht beantworten. Der Extrasinn sagte mir, daß wir nun seit fast zehn Stunden in Deckung lagen, und ich konnte mir ausrechnen, was für ein Hunger in den Eingeweiden des Clanocs wühlte. Aber solange die Insekten in der Stadt her umwimmelten, wollte ich es nicht wagen, mich näher heranzuschleichen. Ein wenig hatten sich die Bedingungen für uns allerdings gebessert. Wir lagen gut versteckt in dem Gewirr von Röhren und
Retter der Xacoren Leitungen, das von der Stadt ausging und in den Hügeln rings um Poro-Gheloos münde te. Eine goldfarbene Flüssigkeit strömte in den Röhren. Sie war angenehm warm und hielt uns die Kälte der Umgebung vom Lei be. Was das betraf, konnten wir das Warten recht bequem ertragen. Gegen den Hunger allerdings, der sich immer stärker bemerkbar machte, war kein Kraut gewachsen. Dorstellarain gehörte nicht zu denen, die Hunger klaglos ertragen. Er stieß immer wieder ein hohles Jammern aus. Es half natürlich nichts. Wir hatten nichts Eßbares bei uns, und in der Stadt war es auch dem hungrigen Clanoc zu unheim lich. Ich wartete nur auf den Zeitpunkt, da der Hunger über die Angst triumphieren würde. »Nur noch wenige Stunden«, gab der Lo giksektor durch. Bis dahin mußte ich etwas gefunden ha ben, mit dem sich der Hunger des Hünen stillen ließ. Gelang mir das nicht … nun, ich konnte nicht einmal sicher sein, daß er in seiner Gier nach Nahrung nicht begehrlich auf die Bewohner der Stadt zu schielen be gann. Verwunderlich wäre es nicht gewesen. Auch die Hemmnisse dieser Art waren nicht mehr als eine Folge der Erziehung. Auf der Erde hatte ich da meine Erfahrungen sam meln können. Es kam immer wieder vor, daß Angehörige zweier verschiedener irdi scher Völker mit fassungslosem Entsetzen die Mahlzeiten der anderen betrachten. Ei nem Europäer beispielsweise wäre es nicht eingefallen, etwa gebratene Schlangen zu es sen. Oder gar – wie im Amazonasdschungel durchaus üblich – gesottenen Affen, denn Affe gekocht und enthäutet sah einem gegar ten Kleinkind sehr ähnlich. Asiaten bei spielsweise verstanden nicht, was die Euro päer an verdorbener Milch so appetitlich fanden – dort war Käse unbekannt. Und in Notzeiten fielen Hemmschranken auf gastronomischem Gebiet vollends weg. Eßbar war – auf den Überlebensschulen der Solaren Flotte und bei der USO wurde die ser Leitsatz gepredigt – nahezu alles.
21 Frösche und Würmer, Schlangen und Ei dechsen, Insekten und ihre Larven (australische Eingeborene schätzten beson ders Engerlinge), Ratten, Katzen und Hunde. So betrachtet, erschien es mir durchaus nor mal, wenn Dorstellarain die insektoiden Be wohner der Stadt Poro-Gheloos mehr und mehr unter gastronomischen Gesichtspunk ten zu betrachten begann. »Also …«, begann der Clanoc. Mir schwante, daß er einen Grundsatz zu verkünden gedachte. Und ich schätzte ihn als einen Mann ein, der einmal verkündeten Prinzipien treu blieb. »… ich warte noch eine Stunde, höch stens zwei«, erklärte Dorstellarain; sein Ma gen produzierte zu diesen Worten ein be drohlich klingendes Knurren. »Danach mar schiere ich los, und wenn ich die ganze Stadt auf den Kopf stellen muß!« »Einverstanden«, stimmte ich hastig zu. Uhren besaßen wir nicht, und im Zweifels fall vertraute ich auf mein Verhandlungsge schick. Ich hatte Springerpatriarchen beim Feilschen geschlagen und – was mehr zählte – in New York geborene Armenier mosai schen Bekenntnisses. Mit dem Clanoc würde ich es auch noch aufnehmen können. »Das ist mein letztes Wort«, verkündete Dorstellarain, als habe er meine Gedanken lesen können. »Wir werden sehen«, versprach ich. Auch mein Magen begann zu knurren.
* Der Scout machte eine verächtliche Geste. »Hirngespinste«, wehrte er ab. Sein Pro test klang aber bei weitem nicht mehr so energisch wie zu Beginn. Die beständige Ruhe, in der Quazzlor seinen Bericht vor trug, verfehlte ihre Wirkung auf den Scout nicht. Langsam begann Wezzley zu glauben, daß vielleicht doch etwas Wahres an der Ge schichte war. Er hatte sich praktizierende Häretiker immer ganz anders vorgestellt – wild, fanatisch und deutlich erkennbar gei steskrank. Quazzlor und die anderen mach
22
Peter Terrid
ten einen Eindruck, der diesem Bild nach drücklich widersprach. Mit Ruhe und wür devollem Ernst trugen sie ihren Standpunkt vor, so, als wären sie von der Wahrhaftigkeit ihrer Erzählung fest überzeugt.
* »Wir haben keinen der Fremden zu Ge sicht bekommen«, sagte der Bewahrer. »Sie wollen sich uns nicht zeigen.« Merkizza gab einen leisen Klagelaut von sich. »Ich dachte es mir«, sagte sie schwach. »Vielleicht haben sie Angst vor uns.« Der Bewahrer machte eine Geste höch sten Erstaunens. »Vor den Xacoren?« Der Gedanke war einfach absurd. Früher einmal hatte es – ab und zu, und auch das nur gemäßigt – Auseinandersetzungen zwi schen Xacoren gegeben. Aber für gewaltsa me Handlungen waren die Xacoren einfach nicht geschaffen. Sie waren – und das wuß ten sie sehr genau – Randexistenzen der Schöpfung. Die Natur hatte zu etlichen ziemlich verwegenen Kniffen und Tricks ih re Zuflucht nehmen müssen, um den Bau plan der Insektoiden bis auf diesen Bereich ausdehnen zu können. Die xacorischen Wissenschaftler hatten längst herausgefunden, daß die Xacoren weit jenseits der Schwelle des Normalen angesie delt waren. Normale Lebewesen der glei chen Bauart, wie sie die Xacoren besaßen, waren wesentlich kleiner und belastbarer. Körperlich waren die Xacoren Extremfälle. Wären die elastischen Bänder nicht gewe sen, die die Chitinpanzerung unterstützten, die Xacoren wären unter dem Gewicht ihrer eigenen Leiber zusammengebrochen. Einen so gigantischen Körper konnte man auch mit der für Xacoroide üblichen Tracheenatmung längst nicht mehr ausreichend mit Atemluft versorgen. Auch hier hatte die Natur zu ei nem Kniff greifen müssen, um dieses Pro blem lösen zu können. Angst vor Xacoren? Es war wirklich ein Witz.
Der Bewahrer wußte, daß Urzeitforscher im Boden des Planeten Reste gefunden hat ten. Es handelte sich um versteinerte Kno chen von Wesen, die vor Jahrmillionen ein mal auf diesem Planeten gelebt haben muß ten. Es hatte sich um Warmblüter gehandelt, um Lungenatmer. Die Paläoxacorologen hatten behauptet, daß dieses Bauprinzip ei gentlich dem xacorischen überlegen gewe sen sei – aber trotzdem war diese Spezies ausgestorben. Die Xacoren hatten sich in der eigentlich gar nicht passenden ökologischen Nische festgeklammert und allen Wahr scheinlichkeiten zum Trotz überlebt. »Warum nicht«, sagte die Königin leise. »Wir haben noch keinen der Fremden gese hen. Woher wollen wir wissen, wie sie aus sehen, welche Schwächen sie haben und welche Stärken.« »Wir werden es schon herausbekommen«, versprach der Bewahrer. »Ich habe nieman dem etwas von dem Verdacht gesagt.« »Das war gut so«, flüsterte die Königin. »Nun setze deinen Bericht fort.« »Wir haben eine Botschaft verfaßt und sie dort abgelegt, wo Dazzler die Nachricht der Fremden gefunden hatte. Ich habe ihn übri gens rangerhöht, den jungen Dazzler.« Mit einer Geste gab die Königin nachträg lich ihre Zustimmung. »Wir haben den Platz beobachten lassen«, fuhr der Bewahrer fort. »Aber unsere Wa chen sind eingeschlafen. Alle. Mir ist die Sache ein Rätsel.« Merkizza produzierte eine Geste wehmü tiger Resignation. »Auch die Wachen an den Tanks haben geschlafen«, erinnerte sie den Bewahrer. »Und auch zu mir sind die Fremden vorge drungen, ohne daß jemand sie zu Gesicht be kommen hätte. Ich höre, fahre fort!« »Jedenfalls ist die Botschaft verschwun den. Die Fremden haben unsere Nachricht also bekommen.« »Gibt es schon eine Antwort?« »Ja«, sagte der Bewahrer. »Es gibt eine Antwort der Fremden.« Die Königin wartete. Sie wurde umweht
Retter der Xacoren von einem Geruch, der ihren nahen Tod ver kündete. Merkwürdig dabei war, daß der Be wahrer trotz seiner empfindlichen Witterer nicht die leiseste Ausdünstung wahrnehmen konnte, die Wut, Haß oder Rachegefühle ausgedrückt hätte. Die Duftaura der sterbenden Königin verriet Demut und Ruhe und ei ne tiefe Niedergeschlagenheit. »Sprich«, sagte Merkizza. »Die Fremden«, sagte der Bewahrer sehr langsam, »sehen eine Möglichkeit, unserem Volk zu helfen.« Er unterbrach sich. Wie trug man einen solchen Vorschlag vor? Wie machte man der sterbenden Köni gin verständlich, was die Fremden forderten – denn um eine Forderung handelte es sich, um nichts sonst. Die Formulierung war da bei nebensächlich. »Sie sagen«, begann der Bewahrer, »daß es auch für sie keine Möglichkeit gebe, das Leben für alle Zeiten zu verlängern. Auch sie seien sterblich, und gegen den Tod ver möchten sie nichts. Dein Leben, Königin, sei nicht zu retten, nicht zu verlängern.« »Ich hatte nichts anderes erwartet«, sagte Merkizza ruhig. »Sie sagen aber«, setzte der Bewahrer die Botschaft fort, »daß es vielleicht eine Mög lichkeit gebe, zumindest das Volk der Xaco ren zu retten. Sie behaupten, es sei vielleicht möglich, die Seele der Königin … nun … zu verpflanzen.« Merkizzas Witterer vollführten eine Geste des Zweifels. Gleichzeitig war darin die Aufforderung an den Bewahrer enthalten, seine Worte zu erläutern. »Sie behaupten, sie könnten vielleicht die Eigenschaften einer Königin auf ein geheim nisvolles Material übertragen, eine Art Kri stall. Wenn der Versuch gelingt, so sagen die Fremden, dann wären die Xacoren geret tet. Denn dieser Kristall sei ja nicht von Le ben erfüllt, und wo kein Leben, da kein Tod.« »Ich höre die Botschaft«, sagte die Köni gin. »Aber ich zweifle.« »Sie behaupten, man könne auf diesen Kristall alle Eigenschaften einer Königin
23 übertragen«, behauptete der Bewahrer. »Und zwar für alle Zeiten, weil der Kristall nicht sterben könne. Das Leben der Xacoren kön ne weitergehen wie bisher.« Die Haltung der Witterer verriet die Stim mung der Königin in diesem Augenblick – niedergeschlagene Belustigung. »Und wo ist der Haken bei der Angele genheit?« fragte sie. »Oder glaubst du an die Uneigennützigkeit der Fremden?« »Ich weiß es nicht, Königin«, sagte der Bewahrer. Seine Witterer verrieten einiges von der Verzweiflung, die den Xacoren er füllte. All dies ging weit über seine Kräfte. Niemals hatte er sich träumen lassen, daß ausgerechnet er an Entscheidungen beteiligt sein würde, die über die Zukunft des ganzen Xacoren-Volkes bestimmen würden – Ent scheidungen, deren Tragweite sich einstwei len noch nicht einmal in den Ansätzen er messen ließen. Er fühlte eine Verantwortung auf seinen Schultern lasten, die jedes vor stellbare Maß überstieg. »Ich weiß nicht, was die Fremden wol len«, sagte er betrübt. »Sie meinen aller dings, daß unsere Welt nicht länger geeignet sei, Heimat der Xacoren zu sein. Sie schla gen vor, daß wir auswandern.« »Aha«, sagte die Königin. »Sie haben recht«, stieß der Bewahrer hervor. »Dies ist wirklich nicht länger der Planet, auf dem wir leben sollten. Ich finde das Argument der Fremden stichhaltig – wenn die Natur des Planeten so offenkundig den Untergang des Volkes beschlossen hat, dann sollte man nicht versuchen, dagegen anzukämpfen. Die Fremden haben uns eine neue, schönere Heimat versprochen. Außer dem – wir müßten ohnehin umsiedeln, denn es ist so, daß wir zu dem Kristall reisen müßten. Er wird, so sagen die Fremden, von geheimnisvollen kosmischen Strömen durchflossen, die nur an der Stelle wirksam sind, an der der Kristall steht.« »Humbug«, sagte Merkizza schwach. »Eine Falle, mehr ist dies nicht. Wie stellen sich die Fremden diesen Umzug vor?« Mit einer Wittererhaltung, die deutlich
24 seine Zweifel verrieten, sagte der Bewahrer: »Sie wollen unsere ganze Stadt, mit allen Gebäuden und allen Einwohner darin, auf einmal verpflanzen. Sie sagen, sie hätten die technischen Mittel dazu, dies zu bewerkstel ligen.« Die Königin schwieg. »Laß mich allein«, sagte sie dann. »Ich will nachdenken.« Der Bewahrer faltete demütig die Witterer und entfernte sich lautlos. Die Königin blieb zurück. Was sollte sie tun? Die Entscheidung lag bei ihr, das war Tradition. Die Xacoren kannten es nicht anders, würden es anders nicht wollen. Sie mußte entscheiden, was zu tun war. Das Angebot der Fremden war Betrug. Sie wußte es. Man konnte sie nicht täuschen. Den Rat gewiß, den Bewahrer vielleicht, die Königin nimmer. Die Fremden hatten im Schutz ihrer überlegenen Technik die Tanks zerstört und der Königin Gift gegeben, das ihren Leib langsam zerfraß. Übel waren die Absichten und Pläne der Fremden. Und die Xacoren waren schwach und wehrlos. Es gab in diesem Augenblick nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte den Xacoren die Wahrheit sa gen, ihnen die Augen öffnen. In diesem Fall gab es wieder zwei Möglichkeiten: entweder ging das Volk der Xacoren unter, schwach und wirkungslos, aber tapfer kämpfend – oder es ging sehenden Auges in die Sklave rei. Schwieg sie aber, dann blieb das Volk der Xacoren erhalten. Aber dafür war ein Preis zu zahlen. Sklaverei. Auf nichts anderes konnte das Angebot der Fremden hinauslaufen. Sklaverei. Offen oder versteckt, beschönigt oder brutal durch gesetzt. In jedem Fall Sklaverei. Unter drückung. Gewaltherrschaft. Unfreiheit – und das für ein Volk, das in all seiner Schwäche die Freiheit so sehr liebte. Die Xacoren beugten sich freiwillig unter die
Peter Terrid Herrschaft ihrer Königinnen, und es hatte immer zu den Wesensmerkmalen der Köni ginnen gehört, daß sie ihre Herrschaft auf sanftes Lenken beschränkten. Sklaverei oder Untergang. Es gab keine Alternative. Hatte sie, die sterbende Königin, das Recht, diese Frage für ihr Volk zu entschei den – allein zu entscheiden? Hatte sie das Recht, die Entscheidung zu treffen, die sie in diesem Augenblick für richtig hielt – für richtig, weil sie in anderen Dimensionen dachte als die meisten Xaco ren? Durfte sie dem Plan der Fremden zustim men, durfte sie ihr Volk in die Sklaverei locken – nur gestützt auf die vage Hoffnung, daß es eines fernen Tages vielleicht möglich sein würde, die Fesseln wieder loszuwer den? Durfte sie zehn, hundert, ja vielleicht Tausende Generationen von Xacoren der Sklaverei zuführen – damit dereinst wieder Xacoren frei und unbeschwert leben konn ten. Durfte sie diesen Generationen den Preis aufbürden, den Preis für die nur erhoffte Zu kunft in ferner Zeit? Oder sollte sie den an deren Weg gehen, den eines schnellen Un tergangs des Volkes? Durfte sie den Schmerz auf die Jahrhunderte der Unter drückung verteilen – oder war das rasche, grauenvolle Ende dem vorzuziehen. Die Königin trillerte kurz. Der Bewahrer erschien im Eingang. »Ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte die Königin. Der Bewahrer machte eine Demutsgeste. »Ich nehme das Angebot der Fremden an«, sagte die Königin. Sie beherrschte sich. Kein Wehgeruch drang an die Witterer des Bewahrers. »Du kannst die Entscheidung im Rat verkünden. Und dann, Bewahrer, bitte ich die Fremden um eine Gunst. Ich möchte, bevor ich sterbe, eine Probe jenes Kristalls sehen.« Der Bewahrer verriet ein wenig Erstau nen, dann verbeugte er sich wieder und ver ließ das Zimmer.
Retter der Xacoren
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Das Zimmer einer Königin, die bald ster ben mußte. Ermordet. Und in der Ungewiß heit, ob dieser Raum – im übertragenen Sinn – nicht auch das Sterbezimmer ihres Volkes war.
6. »Und?« fragte Wezzley erregt. »Was ist aus der Sache geworden?« »Tritt näher«, sagte Quazzlor. Wezzley zögerte. Dann machte er einige Schritte auf den Alten zu. Quazzlor saß auf einer Truhe aus Stein. Als Wezzley näherkam, stand er auf. Mit kräftigen Bewegungen schob er die schwere Platte der Truhe zur Seite. »Komm näher«, forderte er Wezzley noch einmal auf. Der Scout machte langsame, zö gernde Schritte. Aber er trat näher. »Was ist in der Truhe?« fragte er. Er wag te nicht zu fragen, ob Quazzlor vielleicht vorhatte, ihn in dieser Truhe zu begraben. In seiner Verwirrung rechnete er mit dem Schlimmsten. Quazzlor stand aufrecht. Wezzley be merkte, daß seine verhärteten Witterer eine Demutshaltung einzunehmen versuchten. Wezzley beugte sich über den Rand der Truhe. »Der Kristall!« stieß er hervor. Es war un glaublich. Dies war – ein Irrtum war völlig ausge schlossen – ein Teil der Großen Königin. Oder zumindest ein Stück Materie von ähn licher Beschaffenheit wie der der Großen Königin. »Woher habt ihr das?« fragte Wezzley. Waren die Versammelten vielleicht sogar so verrückt gewesen, ein Stück von der Großen Königin zu rauben? Wezzley ver warf diesen Gedanken sofort wieder. Es war allgemein bekannt, daß eine Beschädigung der Großen Königin ihren sofortigen Exitus zur Folge gehabt hätte. »Dies ist jene Kristallprobe, die damals vom Bewahrer zur sterbenden Königin ge bracht wurde. Zu Merkizza, der letzten ech
ten Königin des Xacoren-Volkes.« Wezzley protestierte nicht gegen diese Formulierung. »Darf ich …«, brachte er hervor, »… es anfassen?« »Du sollst sogar«, erwiderte der Alte. Er nahm sehr vorsichtig das Stück Kristall aus der Truhe, hielt es in die Höhe, und Wezzley konnte sehen, wie die Versammelten De mutshaltung annahmen. Der ganze Kult der Häretiker schien sich auf dieses Stück toter Materie zu konzentrieren. Wezzley wußte, daß all dies Unfug war, aber vermochte sich der feierlichen Stimmung nicht zu entziehen. Quazzlor legte das Kristallstück in Wezz leys ausgestreckte Hände. Im gleichen Augenblick, da Wezzley den Kristall berührte, zuckte er zusammen, als habe er einen elektrischen Schlag erhalten. Blitzartig durchfuhr ihn die Erkenntnis, daß alles, was Quazzlor gesagt hatte, auf Wahrheit beruhte. Er hielt den Beweis in Händen. Die ster bende Königin hatte diesen Kristall berührt. Vermögens ihrer besonderen Fähigkeiten hatte sie es fertiggebracht, diesem Material eine Botschaft aufzuprägen. »Die Fremden haben mich getötet«, sagte diese Nachricht. Die eigentümliche Schwin gung, die Wezzley wahrnehmen konnte, be wies, daß der Text tatsächlich von einer Xa coren-Königin stammte. Diese Ausstrahlung ließ sich nicht fälschen. »Die Fremden haben die Königin der Xa coren getötet«, sagte die Botschaft. »Sie ha ben das Volk der Xacoren versklavt. Ich, Merkizza, letzte Königin des Xacoren-Vol kes, werde bald sterben. Die Fremden wer den den Xacoren, so sagen sie, eine neue Königin geben und eine neue Heimat. Ich traue den Fremden nicht, und ich rate jedem Xacoren, es mir gleichzutun. Ich bestimme, daß diese Nachricht aufgehoben werden soll, für alle Zeiten. Es soll immer wenigstens ei nige Xacoren geben, die die Wahrheit wis sen – die ganze, fürchterliche Wahrheit: daß das Volk der Xacoren versklavt ist, ver sklavt von denen, die sich seine Freunde
26 nennen. Ich wünsche den folgenden Generationen, daß sie eines Tages die Ketten abstreifen können, daß sie wieder frei und glücklich le ben werden.« Wezzley zitterte am ganzen Körper. Der Eindruck dieser Botschaft war über wältigend. Man konnte sich dem Bann nicht entziehen, denn jeder, der den Kristall zu halten bekam, wußte alsbald, daß diese Bot schaft echt war. »Wie alt ist dieser Kristall?« fragte Wezz ley. Sehr vorsichtig legte er den Kristall zu rück in die Truhe. Plötzlich war er sehr stolz auf sich selbst. Er konnte sich ausrechnen, wie wertvoll der Kristall für die Verschwö rer war. Er stellte ihr gewichtigstes Argu ment dar. Ohne den Kristall hätte sich die heimliche Gruppe niemals so lange halten können. Der Tag, an dem der Kristall zer brach oder beschädigt wurde, war auch der letzte Tag für die Häretiker. Unersetzlich kostbar war der Kristall – und Quazzlor hat te ihm, dem Scout, Wezzley, den Kristall an vertraut. Einen Augenblick lang hatte das Schicksal der Gruppe in Wezzleys bebenden Händen gelegen. Erst jetzt wurde ihm klar, daß man ihm damit auch eine ungeheure Verantwortung aufgebürdet hatte. Nachträglich wurde ihm ein wenig übel. Vielleicht lag es aber auch an dem Medikament. »Das wissen wir nicht«, sagte Quazzlor. Er richtete sich zu voller Größe auf. »Wir wissen nur eines: daß dieser Kristall von der letzten Königin der Xacoren stammt, und daß Merkizza ihn dem damaligen Bewahrer anvertraute. Von diesem Tag an ging der Kristall von einem Bewahrer auf den Nach folger über. Er stellt das größte Geheimnis der Xacoren dar.« »Und du, Quazzlor …?« »Ich bin in dieser Generation Bewahrer, und du wirst es sein für die nächste.« Wezzley erschrak und trat einige Schritte zurück. »Ich? Aber …«
Peter Terrid »Es ist dies mein Wille und Entschluß, und in der Geschichte der Xacoren ist es noch nicht vorgekommen, daß sich ein Be wahrer bei der Ernennung seines Nachfol gers geirrt hätte. Ein jeder von ihnen hat einen würdigen Platz eingenommen in der langen Reihe derer, die das Geheimnis der Xacoren bewahrten und behüteten.« »Ich fühle mich geehrt«, sagte Wezzley und spürte im gleichen Augenblick, das dies der mit Abstand dümmste Satz war, den er überhaupt sagen konnte. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihn hoffnungslos überfordert. »Ja, aber …« Quazzlor schnitt ihm das Wort ab. »Du wirst lernen, was du zu wissen haben wirst. Und es wird dir vorbehalten bleiben, das Volk der Xacoren zu befreien.« Er ist übergeschnappt, dachte Wezzley. Er ist verrückt geworden. Man sollte nie mandem trauen, der mehr als sechs Eier ge legt hatte. Quazzlor machte eine feierliche Geste. Wieder nahmen die Versammelten Demuts haltung an. »Ihr könnt nun gehen«, sagte der Bewah rer nach einer kurzen Gebetspause. »Ich werde Wezzley einweihen und auf seine Aufgabe vorbereiten. Ich danke euch, daß ihr gekommen seid, um den künftigen Be wahrer willkommen zu heißen.« Nacheinander marschierten die Xacoren an den beiden Bewahrern vorbei. Wezzley fiel auf, daß man ihm entschieden weniger Respekt entgegenbrachte als dem scheiden den Bewahrer. Ihn wunderte das nicht. Im Grunde seines Herzens war ihm dies alles noch immer unheimlich. Am liebsten hätte er die ganze Angelegenheit vergessen. Die Xacoren waren von Hause aus keine Helden, und unter den Xacoren war Wezzley zwei felsohne einer der Ängstlichsten. Wie Quazzlor auf die Idee verfallen war, ausge rechnet auf einen so furchtsamen Xacoren die Last dieses Amtes zu laden, war Wezz ley ein Rätsel. Der Alte wartete, bis der letzte Xacore
Retter der Xacoren den Raum verlassen hatte. Dann wandte er sich wieder Wezzley zu. »Komm«, sagte er einfach. Wezzley machte eine Gebärde der Ratlo sigkeit, die der Alte nicht zu sehen schien. Quazzlor setzte sich in Bewegung, und dem jungen Scout blieb nichts anderes übrig, als Quazzlor zu folgen, wollte er nicht in einem Raum zurückbleiben, dessen Lage er nicht kannte. Und irgendwo draußen trieb sich die Geruchspolizei herum. Es war noch immer Schlafenszeit, und noch immer lagerte dichter Nebel über der Stadt. Man sah kaum die eigenen Füße. Wezzley zögerte zunächst, aber dann folgte er dem Alten. Er kam sich einsam vor, alleingelassen. Der Nebel bedrückte ihn, und ihn erschreckte, daß er noch immer nichts von der Wirkung der Kälte spürte. »Wohin gehen wir nun?« fragte Wezzley. Von Quazzlor kam keine Antwort. Ab und zu stieß er Wezzley an, um zu zeigen, daß er noch in der Nähe war. In einem Eingang blieben die beiden für kurze Zeit stehen, um eine Patrouille der Ge ruchspolizei passieren zu lassen. Die vier Wachen kamen mit klappernden Waffen so nahe an Wezzley vorbei, daß ihm von dem erbarmungslosen Geruch fast übel wurde. Und obwohl einer der Geruchspolizisten nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Wezzley berühren zu können, marschierte der Trupp an den beiden Xacoren vorbei. Für Quazzlor mochte der Vorgang normal sein, für Wezzley war er es nicht. Die Sache zerrte an seinen Nerven. »Weiter!« raunte der Alte, sobald die Pa trouille vorbeimarschiert war. Er wartete, bis auch das letzte Geräusch verklungen war. »Wohin?« wollte Wezzley noch einmal wissen. Wenn ihn sein Richtungssinn nicht trog, dann marschierte Quazzlor noch weiter aus der Stadt heraus. Er tat gerade so, als ginge ihn das Verbot nichts an, daß jedem Xacoren untersagte, den Bannkreis der Stadt zu ver lassen. Dieses Verbot war so alt wie die Stadt selbst, genauer gesagt, so alt wie die
27 Große Königin. Im Grunde war es nicht ein mal ein Verbot – es war nur der schlichte Hinweis, daß jenseits der Stadtgrenzen kein Leben möglich war. Mehr hatte die Große Königin nicht gesagt. Allein die Tatsache, daß sie es den Xacoren selbst überließ, her auszufinden, wie ernstgemeint die Warnung war, hatte dazu geführt, daß das Verbot be achtet worden war. Die wenigen Ausnahmen waren in jedem Fall zu Katastrophen gera ten. Nicht einmal die Geruchspolizisten ver mochten sich außerhalb der Bannmeile zu bewegen – und das besagte vieles. »Ich gehe keinen Schritt weiter«, sagte Wezzley plötzlich. Er hörte, daß Quazzlor einfach weiter ging. Warte, Alter, dachte Wezzley. Diesen Trick kenne ich. Du kannst mich hier nicht einfach alleinlassen, bis die Geruchspolizei mich findet. Früher oder später wirst du zu mir zurückkehren müssen. Und dann werde ich es sein, der die Anweisungen gibt. Be wahrer hin, Bewahrer her – ich habe keine Lust, Selbstmord zu begehen. Eine Zeitlang blieb es still. Wezzley hörte nichts. Jedes denkbare Ge räusch wurde von dem Nebel sofort stark gedämpft. Wezzley probierte es einmal kurz, indem er halblaut rief. Es hörte sich an, als fräße der Nebel die Töne. Er war dicht und kalt und ebenso furchterregend wie undurch dringlich. »He!« rief Wezzley. Er bekam keine Antwort. Angst überfiel ihn. Der Alte würde doch wohl das kleine Psychomanöver durchschauen? Gewiß, es war nicht sehr anständig von Wezzley, den Älteren mit einem Trick unter Druck setzen zu wollen – aber das war schließlich kein Grund, Wezzley dem sicheren Tod auszulie fern. »Quazzlor!« Immer noch kam keine Antwort. Von den Hügeln herab strich ein kalter Wind durch die Straßen. Er drückte den Nebel noch tiefer hinab und fegte mit leisem Heulen durch leere Wohnhöhlen. Wezzley fühlte,
28 daß er erschauerte. Er wußte, daß Angst die Ursache war, nicht die Kälte, und das ver droß ihn. Das dumpfe Heulen des Windes kam ihm vor wie ein höhnischer Grabge sang. »Quazzlor!« Diesmal rief Wezzley lauter, selbst auf die Gefahr hin, die Geruchspolizei auf sich aufmerksam zu machen. Aber er bekam kei ne Antwort, weder von Quazzlor noch von den Polizisten. Wezzley verknotete sich fast die Witterer vor Angst. Aber er machte einige Schritte. Es gab keine andere Möglichkeit, wenn er nicht einfach stehenbleiben wollte und dar auf warten, wie ihm geschah. Ab und zu rief er leise nach Quazzlor, aber der Alte antwortete nicht. Mit jedem Schritt schwoll die Furcht in dem Xacoren an. Er bewegte sich auf Gelände, das er nicht kannte. Diesen Stadtbezirk hatte er noch nie aufgesucht. Und in dem alles er stickenden Nebel war ohnehin nicht viel zu erkennen. Es reichte gerade, um nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Was Wezzley am meisten bedrückte, war der Umstand, daß er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Er wußte nicht, wie lange er schon unter der Wirkung der geheimnisvol len Droge stand. Vielleicht hörte die Wirkung in ein paar Minuten auf. Wezzley erinnerte sich, wie rasch die Wirkung eingesetzt hatte, und das verstärkte noch seine Beklemmung. »Komm her«, sagte plötzlich eine Stimme zu ihm. Wezzley blieb stehen, und er stieß einen erstickten Schrei aus, als jemand von hinten auf ihn auflief. Blitzartig fuhr er herum, die Hände abwehrend ausgestreckt. »Stell dich nicht so an«, sagte Quazzlor mit erkennbarer Verärgerung. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Zeit wofür?« »Das erkläre ich dir später«, antwortete der Alte. Er ging um Wezzley herum und setzte den Marsch fort. »Später«, schimpfte Wezzley und beeilte
Peter Terrid sich, den Anschluß nicht zu verlieren. »Später, immerzu heißt es später. Ich denke, ich bin der künftige Bewahrer. Warum er fahre ich nicht, was vorgeht?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte der Alte. »Nach rechts, und paß auf – es ist eine Stati on der Geruchspolizei in der Nähe.« Wezzley wurde schlagartig still. Insge heim verwünschte er den Alten, der ganz of fensichtlich nicht gewillt war, auch nur ein bißchen auf Wezzleys Gemütslage Rück sicht zu nehmen. Der Hinweis auf die Ge ruchspolizei war von gnadenloser Kälte. Es hatte fast den Anschein, als sei Quazzlor nicht damit zufrieden, daß Wezzley der neue Bewahrer sein sollte. Ein Unding, fiel dem jungen Xacoren gerade noch ein, denn es war der amtierende Bewahrer, der seinen Nachfolger bestimmte. Jedenfalls hatte Wezzley so die Rede des Alten gedeutet. »Nach links.« Wezzley hatte den ersten Schock über wunden. Er war zu der Einsicht gekommen, daß es offenbar völlig nutzlos war, etwas ge gen Quazzlor und seine Entschlüsse zu un ternehmen. Der Alte tat, was er wollte, und es scherte ihn nicht, wenn Wezzley anderer Meinung war. Was also blieb dem Jüngeren übrig, als den Anordnungen des Bewahrers zu gehorchen? Wezzley nahm sich vor, daß er später, wenn er sein Amt erst einmal an getreten hatte, ein ganz anderer Bewahrer werden wollte – freundlich, umgänglich und vor allem nicht so schrecklich zugeknöpft wie Quazzlor. Er hätte ein halbes Hundert Fragen stellen können, aber er spürte, daß er nicht eine einzige Antwort zu erhoffen hatte. »Vorsicht! Stufen!« Er redet mit mir wie mit einer Made, dachte Wezzley wütend. Als wäre ich noch nicht verpuppt. Wie kann man nur so hoch näsig sein. »Bereite dich auf einen Schock vor«, sag te Quazzlor plötzlich. Wenn Wezzley die Umgebung richtig in terpretierte, dann hatte Quazzlor ihn zu ei nem weiteren verlassenen Gebäude am Stadtrand geführt. Jedenfalls sah Wezzley
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Wände, deren Zustand verriet, daß diese Be hausung schon vor langer Zeit verlassen worden war. »Schock?« sagte Wezzley. »Was für ein Schock?« Quazzlor blieb stehen. Er drehte sich um und sah Wezzley an. Schon vor Stunden – oder waren es nur wenige Minuten? – beim Anblick des Kristalls war Wezzley das Ehr fürchtige an Quazzlor aufgefallen. Nun machte der Bewahrer einen Eindruck, der kaum mehr zu beschreiben war. »Bereite dich darauf vor«, sagte er sal bungsvoll, »vor eine Königin zu treten.« »Pah«, machte Wezzley. »Königinnenanwärterinnen, was ist das schon. Ich habe sogar mit einer …« Er begann plötzlich verlegen zu dünsten, merkte dies und wurde noch verlegener. Quazzlor starrte ihn fast schon böse an. »Ich rede nicht von Anwärterinnen. Ich rede von einer Königin, einer Schlafenden Königin.« Wezzley glaubte sich verhört zu haben. Aus einer schlafenden Königin ging eine richtige, leibhaftige, erwachsene Königin hervor. Seit Urzeiten, seit die ganze Stadt verpflanzt worden war, war keine Anwärte rin mehr eingeschlafen – jedenfalls nicht in dieser hehren, übertragenen Bedeutung. »Heilige Wabe!« stieß Wezzley hervor. »Eine Schlafende Königin?« Quazzlor zuckte bejahend mit den Witte rern, dann ging er weiter. Wezzley folgte, langsam, ehrfurchtsvoll, demütig … als er plötzlich einen gellenden Entsetzensschrei hört. Für einen kurzen Augenblick hielten sich Angst und Neugierde die Waage, dann sieg te die Neugierde. Wezzley stürzte nach vorn, um zu sehen, was den Alten so erschreckt hatte. Was er sah, ließ auch ihn vor Entsetzen, Ekel und Grauen laut schreien.
7. »Also«, verkündete Dorstellarain ener
gisch. »Ich gehe jetzt los, und wenn du mich zu hindern versuchst, dann werde ich mei nen Braster-Lenker nehmen und ihn dir um den Hals schlingen …« »Keine Sorge«, wehrte ich ab. »Ich ver stehe dich schon, ohne daß du mir deine Mordpläne so genau zu erklären brauchst.« »Dann laß uns gehen. Mich hungert.« Er stand auf. »Bleib in Deckung«, fauchte ich ihn an. »Nur noch einige wenige Minuten. Ich bin sicher …« Ich war es nicht. Ich log, daß sich die Bal ken bogen – das nahm ich jedenfalls an. Die Stadt indes strafte meine Lügen Lügen. Es gab noch einmal einen tiefen, weithin hallenden Ton, und dann erlosch der Kristall von einem Augenblick zum anderen. Im gleichen Augenblick begannen die Insekten damit, sich in ihre Unterkünfte zurückzuzie hen. Offenbar war die Nacht hereingebro chen – zumindest für die Insektoiden. Uns konnte das nur recht sein. Dorstellarain starrte auf die Stadt, dann sah er mich an. Minutenlang pendelte sein Blick zwischen der Stadt und mir hin und her. Ich sah, daß ein Ausdruck von furchtsa mer Hochachtung in seine Augen trat. Of fenbar hielt er das schnelle Reagieren der Stadt auf meine Ankündigung für Zauber werk. Ich zog den Brauen hoch und zuckte nachlässig mit den Schultern. Es konnte nichts schaden, den Clanoc ein wenig zu be eindrucken. Und wenn er sich mir trotz sei ner enormen Muskelpakete weit unterlegen fühlte, konnte mir das nur lieb sein. »Also«, sagte nun ich, und ich sagte es hoheitsvoll. »Gehen wir!« Mit einer höflichen Handbewegung … wann hatte ich diesen Kratzfuß letztmalig ausgeführt? Zu Versailles, am Hofe des vier zehnten Ludwig, den man den Sonnenkönig genannt hatte. Wie lange war das her, und wieviel war seither geschehen? … Ich drängte die Erinnerungen zur Seite. Mit einer höflichen Handbewegung, wie ich schon sagte, lud ich den Clanoc ein, vor
30 anzugehen. Er stierte mich einigermaßen verblüfft an, dann stapfte er voran. Fast tat es mir leid, den Barbaren veralbert zu haben. Woher sollte der arme, grobschlächtige Kerl wissen, wieviel mühevolles Training es ko stete, bis man solche Bewegungsabläufe zur vollen Zufriedenheit eines königlichen Zere monienmeisters beherrschte. Es wurde merklich kühler. Wie eine graue Wand schob sich der Ne bel auf die Stadt zu. Er folgte uns auf den Fersen, und der Zeitpunkt war absehbar, da er uns eingeholt haben würde. »Hunger«, grollte der Clanoc. »Teufel auch, wann bekomme ich endlich etwas zu essen. Eines sage ich dir, Weißkopf. Wenn es nichts anderes gibt, dann schlage ich mir den Bauch mit dem voll, was sich gerade so findet – Hauptsache, man kann es essen. Auf Geschmack gebe ich dann wenig.« Er sah mich dabei mit einem Blick an, der nichts Gutes verhieß. Wieder wanderten meine Gedanken zu rück an den Hof des Sonnenkönigs. Der ar me Mensch hatte ebenfalls Ernährungspro bleme allererster Güte gehabt. Wirklich gut gespeist hatte er vermutlich nicht ein einzi ges Mal. Die Mahlzeiten waren in der Küche von Versailles zubereitet worden, und die lag von den Speiseräumen ziemlich weit ent fernt. Serviert wurde – wie es sich für Köni ge gebührte – auf Gold- oder Silberplatten, den besten Wärmeleitern, die es überhaupt gab. Und wenn die Speisen nach diesem lan gen Weg noch warm gewesen sein mochten, dann verloren sie die letzte Wärme auf dem Umweg über den Vorkoster, der seinen kö niglichen Herren vor Giftanschlägen zu be wahren hatte. Allerdings waren die Tischmanieren des Sonnenkönigs besser gewesen als die Um gangsformen des Clanocs. Ein lautes Knur ren meines eigenen Magens gab mir zu ver stehen, daß dies ein denkbar unglücklicher Augenblick für kultursoziologische Essays war. Wir hatten gerade den Rand der Stadt er-
Peter Terrid reicht, als der Nebel uns einholte. Erleichtert stellte ich fest, daß er nicht so dicht war, wie ich auf den ersten Blick befürchtet hatte. Ich konnte meine Umgebung einigermaßen gut erkennen. Das gleiche galt für den Clanoc, der einfach geradeaus stapfte, auf der Suche nach einer Mahlzeit. »Nicht so hastig, alter Freund«, warnte ich ihn. »Wir müssen aufpassen, ob es hier Wachen gibt.« Der Clanoc winkte ab. »Die zerdrücke ich zwischen zwei Fin gern.« »Es gibt in dieser Stadt genug Insekten, um uns nötigenfalls zu Tode zu trampeln. Auf die Zerbrechlichkeit der Einzelwesen kommt es dabei nicht so sehr an.« Der Clanoc knurrte etwas und setzte sei nen Weg fort. Die Gebäude, die wir sehen konnten, wa ren sechseckig, und das ausnahmslos. In die ser Beziehung ähnelten die Insektoiden den irdischen Bienen. »Ich schlage vor, wir sehen uns erst ein mal den großen Kristall an«, sagte ich. Dor stellarain blieb stehen, sah mich an und schüttelte den Kopf. »Hunger!« »Es wäre Dummheit, einfach so herumzu rennen und nach Eßbarem zu suchen«, hielt ich ihm entgegen. »Wir müssen zunächst feststellen, was es mit dem Kristall auf sich hat. Andernfalls, lieber Freund, wirst du bald via Bifröst gen Walhall reiten, zu der ewigen Methalle, bei nimmer versiegendem Met und nie endendem Schweinebraten.« Das hätte ich besser nicht gesagt. Von der Brücke Bifröst hatte Dorstellarain nie etwas gehört, und Walhall war ihm ebenfalls unbe kannt. Was er sich aber unter einem uner schöpflichen Schweinebraten vorzustellen hatte, das wußte der Clanoc mehr als genau. Ich konnte sehen, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. »Du hättest besser geschwiegen«, sagte nun auch der Extrasinn. »Vorwärts!« munterte ich Dorstellarain auf. »Auf den Kristall zu!«
Retter der Xacoren Er zögerte noch einen Augenblick lang, dann nickte er grollend, drehte sich wieder um und setzte seinen Vormarsch fort. Wir gingen durch verlassene Straßen. Nichts rührte sich, jedenfalls konnten wir nichts sehen. »Es gibt aber Wachen«, verriet der Extra sinn. »Sieh dich also vor!« Das hätte ich auch ohne den Impuls des Logiksektors getan. Mir war nichts ganz ge heuer in dieser merkwürdigen Stadt, und um dieses Gefühl hervorzurufen, hätte es der Unkenrufe des Extrasinns nicht bedurft. Es war erschreckend zu sehen, daß auf das Zeichen des Kristalls hin fast alle Be wohner von Poro-Gheloos die Straßen ver lassen hatten. Ich wußte, daß es bei Insek tenvölkern andere Lebensbedingungen gab als bei Humanoiden, aber dieser Gehorsam war mir unheimlich. Ich begann zu ahnen, daß etwas faul war im Städtchen PoroGheloos. »Still!« Dorstellarain erstarrte. Ich hatte etwas gehört. Waffengeklapper, Stimmen. »Wir müssen uns verstecken!« Ich drückte mich in einen Hauseingang, Dorstellarain verschwand im Nachbargebäu de. Eine Minute später konnte ich die Quelle der Geräusche erkennen. Eine Patrouille der Insektoiden. Die Wesen waren bewaffnet. Ich erkannte hölzerne Schleudern, die – wenn ich richtig tippte – Wachskugeln ver schossen. Wer von einem solchen Geschoß getroffen wurde, fiel, wenn das Ziel der Kopf war, augenblicklich um. Diese Waffe konnte auch Dorstellarain und mir gefähr lich werden. Und wir hatten dem wenig ent gegenzusetzen. In einem verfärbten Pthora, offenbar auch in der Dimensionsschleppe Umgangs- und Verkehrssprache, unterhielten sich die Wa chen. Ich konnte, dank der Hilfe des Logik sektors, die Unterhaltung verstehen. »Fürchterlich«, schimpfte eine der Wa chen. Die Stimmen waren hoch und schrill.
31 »Man kann praktisch gar nichts mehr se hen.« Das erklärte, warum der Wachmann nicht längst seine Waffe auf mich angelegt und betätigt hatte. Denn die drei Insektoiden hat ten sich ausgerechnet den Hauseingang aus gesucht, in dem ich stand, um dort eine klei ne Pause einzulegen und ein Schwätzchen zu halten. Dabei mußten sie mich eigentlich gesehen haben. »Ihre Facettenaugen arbeiten in einem anderen Wellenbereich, der offenbar vom Nebel sehr stark gedämpft wird.« Dieser Kommentar des Logiksektors er klärte, warum man noch nicht auf mich ge schossen hatte. Die Wachen unterhielten sich eine Zeit lang über stadtinternen Klatsch, von dem ich nichts verstand. Aber eines war ziemlich bald deutlich – es handelte sich bei den Wa chen um männliche Individuen. Anders ließ sich das Geschwätz nicht interpretieren. Die drei hechelten ihre Frauengeschichten der letzten Tage und Wochen durch, prahlten und schnitten auf, daß es eine Art hatte. Nach einer Viertelstunde endlich zogen sie wieder ab, nicht ohne über den unerträg lichen Gestank gewettert zu haben, der vom Stadtrand her in die Straßen gedrungen war. Ich hatte drei Minuten gebraucht, bis ich be griffen hatte, daß damit meine Körperaus dünstungen und die des Clanocs gemeint waren. Aber die Wachen hatten es glückli cherweise vorgezogen, diesem Gestank nicht weiter nachzugehen, andernfalls hätten sie uns entdecken müssen. Ich atmete erleichtert auf, als die Wachen um eine Ecke bogen und außer Sichtweite kamen. Aus seinem Versteck schob sich Dorstellarain hervor. Er war böse. Offenbar bezog er die Bemerkung über schlechten Geruch hauptsächlich auf sich – nicht ganz zu Unrecht. Daß sich der Clanoc unter die sen Umständen beherrscht hatte, war ihm hoch anzurechnen. »Am liebsten …«, grollte der Hüne und sah auf seine Fäuste, mit denen er andeutete, was er mit den Wachen am liebsten veran
32 staltet hatte. Ich war sicher, daß es tatsäch lich nur eines Griffs bedurft hätte, um die Wachen zu töten. »Weiter!« drängte ich. »Wir wissen nicht, wie lange diese Schlafperiode anhält.« Wir machten uns wieder auf den Weg. Unser Ziel war nicht zu übersehen. Hoch ragte der Kristall in den Nebel über der Stadt. Seine Spitze war wegen des Dun stes nicht mehr zu erkennen. Jetzt, da die eigentümlichen Aktivitäten des Kristalls erloschen waren, sah er alles andere als beeindruckend aus. Er bestand, ich konnte es im Näherkommen erkennen, aus einem quarzähnlichen Material. Die äu ßeren Schichten waren ein wenig durchsich tig, aber kein Lichtstrahl war in der Lage, den Kristall in seiner ganzen Ausdehnung zu durchqueren. Wie es im Inneren aussah, ließ sich von außen also nicht feststellen. »Ist das Ding eßbar?« Ich beantwortete Dorstellarains Frage nicht. Langsam ging ich um den Kristall herum. Es war ein ungeheuer großes Gebilde – für einen natürlich gewachsenen Kristall ent schieden zu groß. Mein Verdacht wuchs, daß hier mit technischen Mitteln nachgehol fen worden war. Zudem pflegten Kristalle nicht von sich aus zu leuchten, schon gar nicht nach einem festen Fahrplan. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, den Gipfel des Kristalls zu erreichen, aber auch bei mir machte sich der Hunger bemerkbar. Es war wirklich an der Zeit, etwas zu essen. Der arme Dorstellarain mußte wahre Qualen erleiden. Ich winkte ihn heran. »Wir werden in den Häusern nach Eßba rem suchen«, schlug ich ihm vor. Sein Ge sicht strahlte. »Aber vorsichtig, wir wissen nicht, was in dieser Stadt vorgeht.« Dorstellarain nickte. »Ich werde vorsichtig sein«, versprach er. »Wenn ich Hunger habe, bin ich immer sehr vorsichtig.« Häuser, die wir durchsuchen konnten, gab es genug. Ich ging einfach auf die nächstbe-
Peter Terrid ste Behausung zu. Eine sechseckige Tür versperrte mir den Weg. Ich drückte vorsichtig dagegen, und die Tür schwang um die Mittelachse auf. Die Lücke war selbst für einen Hünen vom Ausmaß eines Dorstellarain groß genug. Im Innern war es nicht ganz so kalt wie draußen, aber doch kühl. Ich wußte, daß In sekten in der Regel stark temperaturabhän gig waren. Wahrscheinlich traf das auch für dieses Volk zu. Irgendwie – ich konnte mir die Zusammenhänge nur einigermaßen vor stellen – waren der Kristall, das Vordringen des Nebels und die Schlafperiode der Insek ten miteinander verknüpft. Was ich nicht wußte, war die Kausalität dieser Beziehung – welches Ereignis welche Folgen nach sich zog, ob die Insekten sich zur Ruhe legten, weil der Nebel kam und der Kristall erlosch. Oder ob der Nebel kam, weil der Kristall er losch, und sich die Insektoiden deswegen zurückzogen. Im Innern der Wabe war es ruhig. Nur ab und zu hörte ich ein leises Fiepen. »Hier sind welche!« stieß Dorstellarain hervor. »Ich kann sie hören!« Ich legte einen Finger vor den Mund, be deutete ihm, ruhig zu sein. Der Clanoc ver stummte und machte ein schuldbewußtes Gesicht. Wir mußten nur einige Schritte machen, dann konnten wir die Bewohner der Stadt aus der Nähe sehen. Sie steckten in länglichen Waben, in de nen sie keine große Bewegungsfreiheit hat ten. Ich sah insgesamt sechs dieser Waben, jede war gefüllt. War Sechs die heilige Zahl der Insekten? Ich wußte es nicht. Die Wesen – es handelte sich ausnahms los um männliche Individuen – bewegten sich ab und zu unruhig. Sie zitterten, beweg ten leicht die Fühler, zuckten und gaben lei se, fiepende Laute von sich. Es sah fast so aus, als träumten die Bewohner von PoroGheloos. Hatte auch das etwas mit dem Kristall zu tun? Mir fiel auf, daß die Köpfe der Schlafen
Retter der Xacoren den auf den Kristall wiesen, und wenn ich mir die Verhältnisse in der Stadt vorstellte, dann ergab dieses Bild, daß alle schlafenden Insekten mit den Köpfen dem Kristall zuge wandt lagen. »Wie Mohammedaner beim Beten«, mur melte ich. Ursprünglich hatten sich die Muselmanen beim Gebet an der Lage Jerusalems orien tiert, erst später war die Richtung Mekkas für alle verbindlich geworden. Aber auch das war lange her – gewesen, vergessen, vergangen. »He!« flüsterte Dorstellarain im schönsten Bühnenflüstern – also entsetzlich laut. »Ich habe etwas gefunden?« Mit der Instinktsicherheit eines ausgehun gerten Raubtiers hatte er Eßbares aufgetrie ben. Es handelte sich um eine grünliche Mas se, die in kleinen Eimern enthalten war. Das Zeug sah schlichtweg widerlich aus und un genießbar. Indes steckte der Clanoc immer wieder seine Hand in die Masse, und führte sich eine Portion des Schleims nach der an deren zu Gemüt. Und sein Gesicht verriet, daß es ihm schmeckte. Ich wußte nicht, was von den gastrosophi schen Ansichten des Clanocs zu halten war. Mit Haute Cuisine hatte der Schleim ver mutlich nichts zu tun. »Hier, probiere einmal!« murmelte Dor stellarain schmatzend. Aus seinem Mund winkel sickerte etwas von der unappetitli chen Masse in seinen Bart, und dieser An blick genügte, um auch härteren Naturen den Magen umzudrehen. »Sei nicht albern!« kommentierte der Lo giksektor. Der Clanoc hielt mir einen der Eimer ent gegen. Ich nahm ihn an und hob ihn hoch, um daran zu riechen. Der Geruch paßte nicht zum Aussehen. Es roch süßlich, was sich in dem Eimer befand und so grauenvoll aussah. Es roch sogar sehr süßlich, ich dachte sofort an Honig. Ästhetik hin, Ästhetik her – wenn ich nicht verhungern wollte, mußte ich etwas es
33 sen, und etwas anderes als die scheußliche Gallerte schien es in der Stadt nicht zu ge ben. Es war Honig, oder jedenfalls etwas Ähn liches. Das Zeug schmeckte recht gut, vor allem aber süß. Die Lippen klebten aneinan der fest, so zuckerhaltig war die Masse. Der Eimer enthielt mehr als ein Kilo der grünli chen Masse, also mehr als genug, um mei nen Kalorienbedarf zu decken. Ich war heilfroh, daß ich in diesem Au genblick mit dem Clanoc allein war. Was hätten meine Freunde und Gefährten, die Mitarbeiter der USO gesagt, hätten sie mich so vorgefunden: Auf dem Boden hockend, zusammen mit einem bärtigen, zottigen Barbaren, einen Ei mer voll abgestandener Hydraulikflüssigkeit zwischen den Beinen und dazu vergnügt von dieser Masse schleckend wie ein naschhafter Schuljunge. Der Clanoc grinste über das ganze schleimbedeckte Gesicht. »Gut?« Ich nickte und schleckte weiter.
8. Es blieb ruhig – vorläufig. Dank der Ermahnungen des Extrasinns aß ich nicht mehr, als ich im Augenblick brauchte. Der Clanoc hingegen führte sich auf, als habe er seit Jahrzehnten nichts mehr zu essen bekommen. Er ließ nicht eher von seinem Eimer ab, bis er die grünliche Masse bis auf den letzten zähen Faden hinabge schlungen hatte. Ich war sicher, daß er sich dabei überfressen hatte. »Uff!« machte Dorstellarain, als er beim besten Willen nichts mehr aus dem Eimer zutage fördern konnte. »Das war sehr gut. Vielleicht bleibe ich hier.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schläfer. Sie schienen noch immer zu träumen. »Ich weiß nicht, ob diese da mit deinem Wunsch übereinstimmen«, sagte ich. »Man wird sehen«, gab der Clanoc zu
34 rück. Er reckte und streckte sich. »Übrigens bin ich müde.« Ich zuckte mit den Schultern. Glaubte er, ich hätte keinen Schlaf nötig? Allerdings hielt mich mein Zellaktivator auf den Bei nen, und dagegen kamen selbst die Kräfte und die Ausdauer des Clanocs nicht an. »Ich werde mich irgendwo hinlegen und ein wenig schlafen«, gab Dorstellarain be kannt. Der Tonfall verriet, daß er nicht ge willt war, von diesem Entschluß abzugehen. Ich versuchte es gar nicht erst. »Ich bitte dich nur um eines«, sagte ich. »Suche dir einen Unterschlupf am Rand der Stadt. Vielleicht müssen wir uns fluchtartig absetzen, wenn die Insekten erwachen.« Dorstellarain überlegte eine Zeitlang, dann nickte er. »Ich mache mich gleich auf den Weg«, verkündete er halblaut. »Ich werde aufpas sen, daß mich die Wachen nicht finden.« Er zögerte noch einen Augenblick, dann ging er noch einmal in die Vorratskammer und kehrte mit zwei gefüllten Schleimei mern zurück. »Für alle Fälle«, verkündete er grinsend. »Mir schmeckt das Zeug.« »Guten Appetit«, wünschte ich, als der Clanoc das Haus verließ. Er brauchte nur einige Schritte zu ma chen, dann hatte ihn der Nebel verschluckt. Ich sah ihm ein paar Augenblicke lang nach. Hoffentlich stellte der Hüne nichts an. »Wie willst du dergleichen verhindern«, fragte der Logiksektor mit der ihm eigenen Gedankenschärfe. Hatten eigentlich alle Ar koniden mit der ARK SUMMIA einen der art sarkastisch veranlagter Extrasinn? »Andere Sorgen hast du nicht?« erkundigte sich der Extrasinn. Ich wandte mich wieder den Insekten zu. Die Schläfer wälzten sich ab und zu von einer Seite auf die andere. Sie hatten große Facettenaugen, von denen man nie wußte, ob sie einen fixierten oder nicht. Das opti sche Prinzip, das hinter einer solchen Kon struktion steckte, war eben ganz anders als das eines menschlichen Auges. Es gab auch
Peter Terrid keine Lider, die die Augen im Schlaf hätten bedecken können. So mußte ich in der Wabe umhergehen mit dem sehr unangenehmen Gefühl, ständig angestarrt zu werden. Es gab Bilder – Gemälde und Photogra phien –, bei denen die dargestellte Person den Betrachter in jedem Winkel des Raumes anzusehen schien. Vorzugsweise Diktatoren ließen sich so photographieren. Es war ein ekliges Gefühl, sich in einem Raum mit so einem Bild zu befinden – und in meinem Fall wurde dieser Effekt dadurch verstärkt, daß mich zum einen sechs Augenpaare zu verfolgen schienen, und daß zum anderen diese Gesichter nichts Menschliches an sich hatten. Ich suchte eine ganze Zeitlang, aber ich fand nichts. Es gab kaum Mobiliar in der Wabe, nur die Schlafzellen, die Schleimeimer und eini ge technische Geräte, deren Sinn ich nicht begriff. Hier kam ich nicht weiter. Ich verließ die Wohnung, nicht ohne die sechseckige Tür wieder geschlossen zu ha ben. Ich wollte die Insektoiden nicht schädi gen, und daß sie unter der Kälte zu leiden hatten, verriet die einfache Tatsache, daß ih re Schlafenszeit mit jener Periode zusam menfiel, in der die Kälte der Umgebung die Stadt in den Griff bekam. Ich ging wieder zu dem Kristall. Das Ge bilde zog mich wie magisch an. Woher stammte der Kristall? Auf welcher Welt war er entstanden, wer hatte ihn hier her, in die Dimensionsschleppe gebracht? War er künstlich oder – mit etwas techni scher Nachhilfe – natürlichen Ursprungs? Fragen über Fragen. Ich dachte an einen anderen Kristall, der uns erheblich zu schaffen gemacht hatte – den Kristallagenten aus Magellan. Gab es da irgendeinen Zusammenhang? Die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß es Verknüpfungen gab, die menschliche Phan tasie weit hinter sich ließen. Kausalfäden waren geknüpft zwischen Räumen und Zei ten, die sich meiner Vorstellungskraft entzo gen. Warum sollte dieser Kristall nicht von
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ähnlicher Beschaffenheit sein …? Auf der anderen Seite war es – und das in jeder nur denkbaren Beziehung – sehr weit von der Dimensionsschleppe bis zur Magellanschen Wolke. Wie sollte die Verbindung also aus sehen. »Eine Verbindung gibt es zweifelsfrei«, stellte der Logiksektor kühl fest. »Dich selbst.« Richtig, daran hatte ich gar nicht gedacht. Auf der anderen Seite war es mehr als un wahrscheinlich, daß es mehr als diese eine, zufällige Verknüpfung gab. Inzwischen hatte ich den Kristall einmal umkreist. Viel mehr als vorher hatte ich nicht zu sehen bekommen. »Was nun?« fragte ich mich selbst. In der beklemmenden Stille tat es gut, den Klang der eigenen Stimme zu hören. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, ein Stück aus dem Kristall herauszuschlagen. Ich zog mein Messer, steckte es dann aber wieder zurück. Vielleicht war der Kristall extrem hart, und dann lief ich Gefahr, mir mein Messer schartig zu schlagen, vielleicht gar zu zerstören. Und das Messer war meine einzige brauchbare Waffe, die ich unter kei nen Umständen opfern wollte. Da mußte meine Neugierde schon zurückstehen. Ich kam nicht mehr dazu, weitere Überle gungen anzustellen. Der Kristall rührte sich wieder. Die Schlafperiode war beendet. Poro-Gheloos erwachte zu neuem Leben. Zu gefährlichem Leben.
* »Mistwetter!« schimpfte der Clanoc. Nicht, daß er Nebel und Regen, Kälte und Eis nicht gewohnt gewesen wäre, aber die Atmosphäre in der Stadt behagte Dorstella rain nicht. Es lag etwas in der Luft. Etwas Unschönes, Häßliches. Etwas Le bensgefährliches. Der Clanoc war satt, er war vollgefressen. Das machte ihn schläfrig. Obendrein begann
er zu spüren, daß er schon deshalb bald schlafen mußte, weil ihm von dem vielen Süßzeug übel zu werden begann. Unverdrossen stapfte der Clanoc durch die Straßen von Poro-Gheloos. Am liebsten wäre er einfach weitermarschiert, aber dazu, das wußte er, würden seine Kräfte nicht rei chen. Er brauchte jetzt vor allem eines, Ruhe und Erholung, Schlaf. Dorstellarain wechselte die Lasten von ei ner Hand in die andere. Da er in jeder Hand einen Eimer trug, brachte ihm dieses Manö ver gar nichts ein. Aber es half, ihn ein we nig zu beschäftigen, während er durch den Nebel stapfte. Die Wachen der Insekten hatte der Clanoc längst vergessen. Sollten sie nur kommen. Er wußte, daß er mit einem Zugriff seiner Pranken einem ausgewachsenen Bewohner der Stadt den Kopf zerquetschen konnte. Im Gürtel führte er eine scharfe Klinge, oben drein hatte er noch den Braster-Lenker. Auf der anderen Seite aber gefiel ihm die Luft nicht. Irgend etwas stimmte nicht mit dieser Stadt. Dorstellarain erinnerte sich nur ungern an die vielen Geschichten, die über Poro-Gheloos bei seinen Leuten kursierten – und das waren keine Geschichten mit gutem Ausgang. Poro-Gheloos war irgendwie verhext. In jedem Fall war die Stadt gefährlich. Der Clanoc blieb stehen und gähnte aus giebig. Es wurde wirklich Zeit, daß er sich zur Ruhe legte. Mochte dieser Atlan nur weiter in der Stadt herumstöbern, was ihn, Dorstellarain, betraf, war jetzt Schlafenszeit. Der Clanoc suchte nach dem erstbesten Eingang. Zu seinem Vergnügen fand er eine Tür, hinter der ein Stollen begann, eine Röhre, die in den Untergrund hinabführte. Und in dieser Röhre war es warm, jedenfalls für die Verhältnisse der Dimensionsschleppe. Der Clanoc ging weiter. Er kam in einem Raum heraus, der außer einem langgestreckten Behälter mit sechs eckigem Querschnitt nichts enthielt. Das Ding sah nicht sehr anheimelnd aus. Die
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Wände der Sechskantröhre – sie lag langge streckt auf dem Boden – waren sehr dünn, und der Clanoc konnte sehen, daß sich hinter diesen Wänden etwas bewegte. Dorstellarain setzte die beiden Eimer ab und ging zu der Röhre. »Hm«, machte er. Der Clanoc streckte eine Hand aus und klopfte an die Wandung des Behälters. Es hörte sich an, als wäre das Material zwar dünn, aber dafür um so stabiler. Kein Grund zur Sorge also. »Hm?« machte der Clanoc noch einmal, dann winkte er ab. Was auch immer in der Röhre steckte, ei nem ausgewachsenen Clanoc konnte es nicht gefährlich werden. Dorstellarain streckte sich auf dem Boden aus, und ein paar Augenblicke später war er fest eingeschlafen.
* Mir war, als hätte ich einen furchtbaren Schlag auf den Schädel bekommen. Oder am Vorabend an einem schauerlichen Be säufnis teilgenommen und nur wenig ge schlafen. Ich war völlig benommen. Von einer Sekunde zur anderen war der Kristall erwacht, und das erste, was das Ge bilde getan hatte, war mir zum Verhängnis geworden. Es hatte einen dumpfen, weithin hörbaren Ton von sich gegeben. Es hatte sich angehört, als wäre eine riesige, etwas beschädigte Glocke angeschlagen worden – und das in meiner unmittelbaren Nähe. Ich stöhnte leise auf, griff mir mit beiden Händen an den Kopf. Der Extrasinn rührte sich nicht. Hatte et wa auch das Zusatzorgan Schaden genom men? Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Es dröhnte und vibrierte in meinem Schädel, und vom Nacken aus rasten Schmerzwellen durch den ganzen Körper. Ich krümmte mich zusammen. »Weg von hier!« Der Impuls des Extrasinns war von einer
Stärke, die Alarmstufe I signalisierte. Ich drehte mich auf dem Absatz herum und machte einige taumelnde Schritte. Der Kristall war stärker als ich. Ich kam nicht weit. In mir tauchte der Ge danke auf, bei dem Kristall Schutz und Hilfe zu suchen. Zurück zum Kristall, so hieß der lautlose Befehl, der von meinem Verstand Besitz ergriff. »Lauf!« drängte der Extrasinn. »Lauf!« Ich schaffte es nicht. Schritt um Schritt wankte ich auf den Kri stall zu. Das Gebilde hatte wieder zu leuch ten begonnen. Von innen heraus kam das Licht, eine gleißende, kalte Strahlung. Sie wirkte unheilverkündend. Ich sah im Schwanken meine Hände. Sie hatten sich im Licht des Kristalls bläulich verfärbt, sahen abgestorben, beinahe verwest aus. »Zurück!« schrie der Extrasinn. Ich wankte weiter. Meine Hände berühr ten den Kristall. Ich stieß einen Seufzer aus. Schlagartig wurde mir etwas wohler. Woher kam dieses befremdliche, kalte Licht? Wo entstand es, wie wurde es er zeugt? »Prüfe das nach!« befahl mir der Logik sektor. »Überprüfe den Kristall, studiere ihn!« Mir kam nicht zum Bewußtsein, daß die ser Befehl des Extrasinns in krassem Wider spruch zu den drängenden Impulsen der letz ten Minuten stand. Willig leistete ich der Anordnung Folge. Jetzt erst, da der Kristall von innen heraus leuchtete, sah ich die Fenster. Unregelmäßig geformte Stellen in der Außenhaut des Kri stalls, die nicht strahlten. Ich tastete mich an der Wand des Kristalls entlang auf eines der Fenster zu. Ich sah hinein. Seltsame Gebilde tauchten vor meinen Augen auf, wabernde Strukturen aus un denklichen Fernen, allgemeine Farben über schlugen sich im jagenden Chaos, Wesen schwebten, Licht zuckte, Musik tanzte um her, und über allem lag der Duft der Ewig keit mit betörender Süße. Ich spürte, das der Wahnsinn nach mir
Retter der Xacoren griff. Es waren Bilder und Informationen, die ich nicht begriff, für die es keine Überset zungsmöglichkeit gab. Der Kristall wirkte auf mich ein. Er gab mir Befehle. Aber ich verstand diese Befeh le nicht, ich konnte sie nicht befolgen. Unablässig stürmten die Impulse auf mich ein. Raum raste, Zeit zuckte, Leben lachte laut, das All entuferte im Nichts, durch strömt vom Puls der Materie. Das Chaos lachte grell, und das Nichts explodierte in glitzernden Kaskaden. Sterne starben strah lend. Wahnsinn! Ich schlug die Hände vor das Gesicht, konnte die Bilder nicht länger ertragen, die von bestürzender Eindringlichkeit waren und doch nur eines enthielten, den nackten Wahnsinn. In meinem Schädel wütete der Schmerz. Ich hörte das irre Kreischen des Extra sinns, der unter diesem Ansturm ebenfalls zerstört zu werden drohte. Es war keine Lo gik in den Bildern gewesen. Alpträume ei nes Irren hatte ich gesehen, aber diese Im pulse waren mit unvorstellbarer Härte und Gewalt in mein Hirn hineingeschossen wor den. Ich hatte dem nichts entgegenzusetzen, nicht das geringste. Der Kristall lockte und rief, aber ich war zu schwach, ihn aufzusuchen. Ich brach in die Knie, stürzte vornüber. Hart prallte meine Stirn auf den Boden. Wieder jagte der Schmerz durch meinen ge marterten Schädel. Ich streckte den linken Arm aus, bekam etwas zu fassen und zog daran. Das Etwas war fest, ich zog mich von dem Kristall fort. Der Schmerz ließ ein wenig nach, kaum spürbar, aber er ließ nach. Ich robbte weiter, gemartert von Bildern, die meinen Verstand zerrütten wollten. Ich hatte offenbar eine Grenze erreicht. Jetzt wurden die Bilder kla rer, verständlicher, aber das nahm ihnen nichts von dem Grauen, das sie mir einflö ßten.
37 Offenbar reichten die Impulse des Kri stalls jetzt nicht mehr aus, in mir die Bilder hervorzurufen, mit denen ich nicht das ge ringste anfangen konnte. Jetzt stachelten die se Impulse das Abgründige in meinem Ge hirn an, und ein zweites Mal wurde ich mit Bildern überschwemmt. Aber diesmal ka men die Bilder aus mir selbst. Angst kroch aus allen Ritzen, Panik ritt Attacken gegen meinen Verstand. Erinnerungen zuckten in mir hoch, Bilder des Grauens, gesammelt in zehn Jahrtausenden menschlicher Geschich te, Bilder, die es in keinem Geschichtsbuch gab, weil zwischen der Tatsache und ihrer Reproduktion ein Abgrund lag, der mit kei nem Mittel überwunden werden konnte. Kein Medium war in der Lage, die Sym phonie des Grauens exakt wiederzugeben, deren Sätze überschrieben waren: Elend, Not, Qual und Tod. Hunger war nicht mehr als ein Wort mit sechs Buchstaben – wer ihn nicht selbst bis an den Rand des Grabes er litten hatte, wußte nicht einmal näherungs weise, was das überhaupt war. Wer ver mochte die entsetzlichen Szenen exakt, wirklichkeitsgetreu wiederzugeben, die sich in den Folterkellern der Inquisition abge spielt hatten? Welches Medium hätte es ver mocht, den Geruch verbrennenden Harzes zu erzeugen, den des gerade erst vergosse nen Blutes, den wahnwitzigen Todesschrei eines Menschen, dem vor wenigen Augen blicken bei lebendigem Leibe das warme, zuckende Herz herausgeschnitten worden war. Nur ein Instrument gab es, das all dies re konstruieren konnte, mit jedem scheußlichen Detail – mein fotografisches Gedächtnis, und die Impulse des Kristalls spielten auf diesem Instrument mit satanischer Exakt heit. Ich war nicht einmal in der Lage, meinen Schmerz hinauszuschreien. Zu mehr als ei nem qualvollen Stöhnen brachte ich es nicht. Wie ein Automat bewegte ich mich. Ich robbte immer weiter. Ich hoffte, daß diese Qual ein Ende fand, wenn ich nur weit ge nug von dem teuflischen Kristall entfernt
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war. Aus glasigen Augen heraus sah ich, daß der Nebel gewichen war. Gestalten tauchten vor mir auf. Die Be wohner der Stadt Poro-Gheloos. Ein wenig ließ der Schmerz nach. Ich hielt an und versuchte, auf die Beine zu kommen. Es gelang. Auf allen vieren kroch ich weiter. Mit langsam klarer werdendem Verstand nahm ich wahr, daß auch die Insekten tau melten. Offenbar hatte ich einen Alarm aus gelöst, der auch für die Bewohner von PoroGheloos völlig überraschend gekommen war. Aber die Insektoiden gewöhnten sich schneller an den Alarmzustand als ich. Als ich endlich wieder so weit hergestellt war, daß ich stehen konnte, waren sie bereits voll erwacht. Zu Dutzenden fielen sie über mich her. Ich stieß einen gellenden Schrei aus, der sie für einen Augenblick zurücktaumeln ließ. Dann begann ich um mein Leben zu lau fen.
9. »Was ist das?« Quazzlor zitterte am ganzen Leib. Wezzley stand neben ihm, eingehüllt in einen penetranten Angstgeruch, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. »Ist das … die Königin?« Das Wesen auf dem Boden war die scheußlicheste Kreatur, die Wezzley jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ein Gebirge von einem Lebewesen, und dazu von einer abstoßenden Häßlichkeit, die ihresgleichen suchte. Quazzlor machte eine verneinende Geste. Er war wie gelähmt vor Angst und Entset zen. »Nein«, stammelte er. »Nein.« Wezzley mußte sich gegen die Wand leh nen, um nicht umzufallen.
Das Wesen war offenbar krank. Es sch lief, das war deutlich zu sehen. Vermutlich ein Heilschlaf, dachte Wezzley. Der ganze Körper des Wesens war mit Moosen und Flechten bewachsen. Überall saßen die Para siten, und wahrscheinlich würde es das We sen nicht mehr lange machen. Es verströmte einen Gestank … der Verwesungsgeruch war fast greifbar, so dicht und massiv war die Dunstwolke, die das Wesen umgab. »Weg!« Quazzlor stieß nur dieses eine Wort aus, dann wandte er sich um und lief davon. Wezzley erstarrte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, daß ausgerechnet der derzeitige Be wahrer die Flucht ergreifen würde. Ein fei ner Bewahrer, seine Nachfolger in Angst und Schrecken versetzen, das konnte er. Da bei war er selbst ein ausgemachter Feigling. »Oh weh!« entfuhr es Wezzley. Er bebte vor Furcht. Was sollte er tun? Am liebsten wäre er weggelaufen und hät te sich in Sicherheit gebracht. Auf der ande ren Seite aber … Flechten waren sehr gefährlich. Sie be drohten die Brut der Xacoren. So betrachtet, stellte das kranke Wesen in der Höhle der Königin eine Gefahr ungeheuren Ausmaßes für die Xacoren dar. Und so feige ein einzel ner Xacore auch sein mochte – wenn das ganze Volk bedroht war, wuchsen die Xaco ren über sich selbst hinaus. So hieß es jeden falls. Wezzley hatte indes noch nie gehört, daß es ein Xacore für nötig erachtet hätte, über sich selbst hinauszuwachsen. Es sah aus, als sei ausgerechnet Wezzley vom Schicksal dazu ausersehen, den Beweis für diese Behauptung anzutreten. »Oh Königin!« jammerte Wezzley. »Hilf mir!« Er steckte in einer scheußlichen Zwangs lage. Weglaufen konnte er nicht, dafür war das Risiko zu groß, daß der Kranke oder die Kranke oder das Kranke – Wezzley war sich da nicht sicher, vielleicht war es auch eine
Retter der Xacoren bewegliche Pflanze – die Brut ansteckte. Womöglich wußte nicht einmal die Große Königin ein Mittel gegen solche Infektionen. Die Zukunft des Volkes lag damit auf Wezz leys Schultern. Er konnte – theoretisch – losrennen und die Geruchspolizei rufen. In diesem Fall würde zwar das kranke Wesen mit Sicher heit sterben, aber mit der gleichen Sicherheit würden die Geruchspolizisten auch den Scout Wezzley in die Große Wabe berufen. Und zu dieser Reise verspürte Wezzley noch keine Lust. Wenn er sich aber allein mit dem Frem den beschäftigte – er war wirklich monströs groß –, lief er Gefahr, daß es zu einem Kampf kam. Wenn er den Fremden nicht gleich beim ersten Mal tödlich erwischte, dann würde Wezzley es mit einem wütenden Monstrum zu tun haben, dessen Kräfte sich überhaupt nicht abschätzen ließen. Wezzley ging vorsichtig an den Fremden heran und streckte eine Hand nach ihm aus. Dem Scout wurde fast übel, als er die Weiche und Nachgiebigkeit des Fremden spürte. Der Körper hatte offenbar gar keine richtige, feste Haut. Es fühlte sich ekelerre gend an. Zu Wezzleys Erleichterung blieb das We sen liegen, obwohl er es angefaßt hatte. Ne ben dem Monstrum standen zwei Sammel gefäße. Wahrscheinlich waren sie für die Schlafende Königin in ihrer Kammer be stimmt. Wezzley dachte nach. Die scheußliche Kreatur lag unmittelbar neben der Schlafenden Königin. Wenn der Fremde der Königin kein Leid zugefügt hat te, zeigte das, daß er vielleicht doch gar nicht so gefährlich war. Wezzley sah sich noch einmal um. Quazzlor war und blieb verschwunden. »Alter Feigling«, murmelte Wezzley. Er nahm allen Mut zusammen, den er be saß, und fällte eine Entscheidung. Im Interesse des ganzen Volkes mußte die fremde Kreatur sterben. Sie mußte möglichst bald sterben. Wezzley konnte sehen, wie ein
39 Stück bräunliche Flechte sich auf dem We sen bewegte. Wo mochte die verwundbare Stelle des Fremden sein? Wezzley umkreiste den Körper. Ihm war klar, daß er einen Fleck finden mußte, der nicht von Flechten, Moosen oder Pilzen übersät war. Wenn er seine Kiefer zangen dort ansetzte, würde er nur von dem infizierenden Material etwas zwischen die Zangen bekommen, und daran konnte ihm naturgemäß nicht gelegen sein. Der größte Teil des Körpers war mit lang fädigen Moosen bedeckt. An einem Ende wuchsen diese Moose besonders lang und wirr. Dort war zwar ein Stück Oberfläche zu erkennen – die Farbe allein verursachte bei Wezzley Übelkeit – aber Wezzley kam zu der Einsicht, daß dies nicht der richtige An griffspunkt war. Am anderen Ende der Kreatur stand er da für vor der Wahl zwischen zwei länglichen Gebilden, auf denen nur sehr schütterer Be wuchs zu finden war. Welchen dieser beiden Hautlappen sollte der Scout durchtrennen – in der Hoffnung, dem Monstrum damit ein für alle Male den Garaus gemacht zu haben. Wezzley zögerte noch einen Augenblick. Er erschrak, womöglich noch heftiger als beim Anblick des scheußlichen Fremden. Die Große Königin war erwacht. Sofort wußte Wezzley, was geschehen war. Dieser alberne Bewahrer war in seiner Angst wahrscheinlich geradewegs den Ge ruchspolizisten in die Arme gelaufen. Und bei den Verhörmethoden der Geruchspolizei war nicht anzunehmen, daß das Geheimnis der Häretiker gewahrt blieb. Quazzlor hatte geredet, und nun war Alarm ausgelöst wor den. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ersten Truppen in diesem Viertel der Stadt auftauchten. Wezzleys Witterer zuckten und zappelten. Was nun? Wie sich retten? Erst mußte das Scheusal dran glauben, da nach – was für ein Verbrechen! – die Schla fende Königin. Wezzley sah keine andere Wahl als diese. Es mußte so aussehen, als
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habe das Monstrum die Königin ermordet – und als sei Wezzley der strahlende Retter. Es gab keine andere Möglichkeit. Wezz ley holte tief Luft, dann fixierte er einen der beiden Hautlappen. Mit aller Kraft biß er zu.
* Ich lief wie besessen. Die Insekten folgten mir, offenbar geleitet von den Impulsen des Kristalls. Was war das für ein Gebilde, daß es die sem Volk Befehle geben konnte? Lebte der Kristall? Ich fand in dieser Lage natürlich keine Antwort auf meine Frage. Wären die Stadtbewohner nicht verwirrt gewesen von dem Alarm, hätten sie mich längst eingefangen gehabt. So aber stolper ten sie über die eigenen Füße, purzelten durcheinander und hinderten sich gegensei tig. Sie benahmen sich – so absurd sich das in diesem Zusammenhang anhören mochte – wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Ich hätte mein Vergnügen an den Insek toiden haben können, aber mein Verstand sagte mir, daß diese Hetzjagd alles andere als spaßig gemeint war. Ich lief um mein Le ben, und wenn sich hinter mir Szenen ab spielten, wie man sie üblicherweise aus schlechten Filmkomödien kannte, dann konnte mir das nur lieb sein. Am gefährlichsten waren naturgemäß die Wachen in ihren Panzern. Ich schlug einen Haken und bog in eine Seitenstraße ein. Die Straße war leer – noch. Es hatte keinen Sinn, jetzt den alten Trick zu versuchen: den Unbeteiligten markieren, Schaufenster betrachten und die Meute an einem vorbeigaloppieren zu lassen. Es gab hier keine Schaufenster, und in der Menge verstecken konnte ich mich ebenfalls nicht. Wohl aber … Ich warf mich gegen eine Haustür. Sie gab sofort nach. Ich schlüpfte ins Innere und schob die Tür hastig wieder in ihre alte Lage zurück. Im Innern war es ruhig. Ich hastete die Treppe hinauf. Oben gab
es weitere Räume, für die ich mich aber nicht interessierte. Ich wollte auf das Dach. Eine Dachluke gab es nicht. Ich mußte mein Messer zu Hilfe nehmen und mir durch die Decke einen Weg in die Höhe bahnen. Zu meiner Erleichterung leistete das Dach wenig Widerstand. Ich brauchte zwei bange Minuten, dann hatte ich eine Öffnung ge hackt, die groß genug war, um mich durch schlüpfen zu lassen. Ich sprang hoch, bekam die Kante zu fas sen und zog mich daran in die Höhe. Die Decke bog sich zwar unter meinem Ge wicht, aber sie hielt. Mit einem kräftigen Schwung beförderte ich mich auf das Dach. Es war eben, und ich streckte mich sofort darauf aus. Einige Meter entfernt, auf der Straße, tob te die Meute. Offenbar hatte man nicht mit bekommen, wohin ich mich verzogen hatte. Ich grinste ein wenig mühsam, weil ich mehr als genug damit zu tun hatte, nach Luft zu schnappen. Vorsichtig robbte ich auf dem Dach wei ter. Es war nicht gerade die stabilste aller denkbaren Konstruktionen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Die Dächer der Stadt waren offensichtlich nicht dazu ge dacht, daß irgend jemand darauf spazieren ging. Entsprechend leicht waren sie konstru iert. Die Belastbarkeit reichte gerade aus, daß ich mich darauf bewegen konnte. Wenn ich verharrte, bog sich die Decke etwas un ter mir durch, aber sie hielt auch das aus. Ich robbte quer über das Flachdach bis zur Straße. Unter mir war es ruhig. Ich ver suchte, die Entfernung bis zur anderen Stra ßenseite zu schätzen. Für meine Fähigkeiten war die Entfernung beträchtlich, aber über windbar. Ich ging etwas zurück, nahm Anlauf und sprang über die Straße hinweg auf das ande re Dach. Dort warf ich mich sofort auf den Boden, zum einen, um nicht gesehen zu werden, zum anderen, um nicht einzubre chen. Die Insektoiden hatten mich nicht gese
Retter der Xacoren hen. Es blieb auf der Straße ruhig. Doch meine Freude dauerte nicht lange. Offenbar hatte mich der Kristall gesehen, gewittert, gerochen – auf irgendeine Art und Weise schien er herausgefunden zu haben, wo ich steckte. Denn noch während ich auf dem Dach des Hauses lag und nach Luft rang, wurde es langsam unter mir lebendig. Straßenlärm wurde hörbar, und er verstärkte sich von Mi nute zu Minute. Im gleichen Maße, in dem ich wieder zu Atem kam, wurde die Situati on unter mir bedrohlicher. Ich machte einen Versuch, schob den Kopf vorsichtig über die Brüstung. Im gleichen Augenblick zuckte ich wieder zurück, gerade noch rechtzeitig, um den Ge schossen der Wachen zu entgehen. Gleich ein halbes Dutzend Wachsklumpen fegten an mir vorbei steil in die Höhe und plump sten fünfzig Meter von mir entfernt auf ein Dach. Das verriet mir mehr als deutlich, welche Wucht hinter den Geschossen steck te. Ein Treffer würde voraussichtlich genü gen, mich kampfunfähig zu machen. Und was mir blühte, wenn ich den Insektoiden le bend in die Hände fiel, wagte ich mir nicht erst auszumalen. »Fort von hier!« munterte mich der Extra sinn auf. Ich kam auf die Füße und rannte los. Was folgte, war ein Wettlauf über die Dä cher von Poro-Gheloos. Ich rannte, so schnell ich konnte, übersprang Straßen, zickzackte über Gassen. Dabei gewann ich nur wenig Spielraum, denn mittlerweile war praktisch die ganze Stadt damit beschäftigt, Jagd auf mich zu machen. Wohin ich auch kam, überall warteten die Insektoiden bereits auf mich. Merkwürdig war allerdings, daß sich kei nes der Insektenwesen auf das Dach wagte. Solange ich auf den Dächern von PoroGheloos herumlief und nicht herabstürzte, war ich offenbar einigermaßen sicher vor meinen Verfolgern. Einigermaßen, das hieß, daß die Wachen nach einer halben Stunde zu der Taktik
41 übergingen, nicht mehr gezielt nach mir zu schießen, sondern vielmehr eine Art Trom melfeuer zu eröffnen. Sie schossen ihre Wachsklumpen in ballistischen Bahnen ab und hofften darauf, daß mir eines der Ge schosse auf den Kopf fiel und mir so den Garaus machte. Eine Zeitlang amüsierte ich mich beinahe über die unbeholfenen Versu che, aber dann – vermutlich unter der Anlei tung des Kristalls, der die Bevölkerung mit pulsierenden Klängen wach hielt – schossen sich die Wachen ein. Ein Klumpen landete knapp neben mir auf einem Dach, schlug ein Loch in die Decke, und es fehlte nicht viel, und ich wäre mit ei nem Bein in dem Loch hängengeblieben. »Du mußt aufpassen«, erinnerte mich der Logiksektor überflüssigerweise. Die Warnung kam einen Herzschlag zu spät. Das nächste Geschoß traf mich mitten im Sprung. Ich spürte, wie es zwischen meinen Schulterblättern einschlug und mich zur Sei te warf. Ich streckte beide Arme aus, und es gelang mir gerade noch rechtzeitig, die Dachkante zu fassen. Der Schmerz war nicht sehr stark, aber er reichte aus, mich zu verwirren. Knapp fünf Meter unter mir sah ich das Pflaster der Stra ße – sechseckige Platten aus grauem Materi al – das aber sehr bald unsichtbar wurde, weil sich die Straße mit Jägern füllte. Wa chen eilten im Geschwindschritt heran, die Waffen schußfertig. Ich hatte bereits ein Bein auf der Kante des Daches, als mich das zweite Geschoß traf – präzise in der Kniekehle. Ich konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Das Bein rutschte ab, und ich hing wieder an der Kante. Zwei Wachsklumpen verfehlten mich nur knapp, dann traf ein weiteres Ge schoß mich an einer Stelle, die nicht eben der edelste Körperteil eines USOLordadmirals und Kristallprinzen war. Der folgende Treffer gab mir den Rest. Er traf mich am linken Schulterblatt, und der Schmerz war so stark, daß ich den Griff
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lockern mußte. Ich geriet ins Schwingen, und dann spürte ich entsetzt, daß ich mich nicht länger halten konnte. Mit einem Schrei stürzte ich ab. Ich landete hart, war aber geistesgegen wärtig genug, mich abzurollen. Ob ich mir mit diesem Reflex einen Gefallen getan hat te, wußte ich nicht. Ich verhinderte damit zwar, daß ich mir das Genick brach, aber da für hatten die Insektoiden anschließend we nig Mühe, mich Halbbetäubten zu fesseln. Sie zerrten mich in die Höhe und stießen mich vorwärts. Ich begann zu ahnen, daß es mir an den Kragen ging.
10. »Aahhh!« Dorstellarain schreckte auf, weil ein ra sender Schmerz sein linkes Fußgelenk durchzuckte. Und als er die Augen öffnete, sah er auch die Ursache dieses Schmerzes – ein Rieseninsekt, das sich verzweifelt be mühte, das Gelenk mit seinen kräftigen Kie fern durchzubeißen. »Loslassen!« brüllte der Clanoc. »Laß so fort mein Bein los!« Der Poro-Ghelooser machte eine fahrige Bewegung und knabberte weiter. Seine Kie fer waren viel zu schwach, um die Knochen durchbeißen zu können, aber im Fleisch ver ursachten sie doch erhebliche Schmerzen. »Du mißratener Riesenkäfer!« tobte der Clanoc. Es handelte sich um ein Männchen, stellte er auf den ersten Blick fest. Die Fühler des Insekts waren fast verknotet und zitterten heftig. Und obwohl der Clanoc erwacht war und das mühsame Kneifen immer noch kei nen Erfolg gezeitigt hatte, ließ der PoroGhelooser nicht von seinem Tun ab. Endlich wurde es dem Clanoc zu bunt. Er riß sein schmerzendes Bein dem Insekt aus den Kiefern und richtete sich auf. Mit einem Griff hatte er sein Messer in der Hand. »Niederträchtige Schabe!« knirschte der Clanoc. »Was fällt dir ein, mich zu beißen!«
»Oh weh!« jammerte das Insekt. Es wich zurück und wäre dabei fast über die merk würdige Tonne gestolpert, in der es zuckte und wogte. Dorstellarain merkte, daß sein Gegenüber zur Zeit mehr von Angst geplagt, denn von Kampfesmut erfüllt wurde. Das milderte den Zorn des Hünen etwas, nicht aber den Schmerz in seinem Knöchel. Es handelte sich allerdings nur um eine Fleisch wunde, und über solcherlei Blessuren pfleg te ein rechter Clanoc nicht zu jammern. »Komm her, du beißfreudige Schlupfwes pe!« fauchte Dorstellarain. Er bemerkte wohl, daß das Insekt Angst hatte, wollte sich aber wenigstens mit dem Mund für den erlit tenen Schmerz revanchieren. »Ich zerdrücke dir den Kopf!« »Ugh!« machte das Insekt und versuchte, sich weiter von dem wütenden Clanocs zu entfernen. »Mit diesen meinen Händen werde ich dir deinen Schädel zerdrücken«, versprach der Clanoc. »Langsam, natürlich, ganz lang sam!« »Ich bin der Bewahrer«, jammerte das In sekt, als helfe dies gegen das Zerdrücktwer den. »Noch«, verhieß der Clanoc grimmig. Er grinste diabolisch, in der Hoffnung, sein Ge genüber wisse die Mimik zu deuten. Von dem Insekt ging ein eigentümlicher, ange nehmer Duft aus, der Dorstellarain milde zu stimmen begann. Er steckte das Messer in den Gürtel zu rück und griff nach dem Braster-Lenker. Wenigstens fesseln wollte der seinen Gegner, bevor der an der Halsschlagader ei ne weitere Beißübung veranstaltete. Der Poro-Gheloos erzitterte am ganzen Leibe, als der Clanoc nach ihm griff und auf die Beine stellte. »Nicht töten!« fiepte er. Das Pthora war gerade noch verständlich. Dorstellarain verzog das Gesicht. »Sei still, ich bringe dich nicht um!« Er begann den zitternden, bebenden und jammernden Gegner zu fesseln, als er drau ßen Lärm hörte. Es hörte sich an, als wälze
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sich eine riesige Menge vorbei. »Du bleibst hier!« befahl er dem Insekt. »Wehe, wenn du dich rührst. Ich reiße dir je des Bein einzeln aus!« Mit diesen Worten stürmte der Clanoc da von. Er erreichte die Außenwelt sehr bald, und er kam gerade noch rechtzeitig, um zu se hen, wie eine riesige Insektenmenge einen Gefangenen vorbeizerrte und – stieß. »Atlan!« stieß der Clanoc entgeistert her vor. Im ersten Augenblick fühlte er sich ver sucht, einfach loszustürmen, um den Gefähr ten zu befreien, dreinzufahren wie ein Ge wittersturm. Angesichts der Größe und Kraft des Clanocs hätte dieses Vorgehen sogar Aussicht auf Erfolg gehabt – allerdings nur auf kurze Sicht. Früher oder später hätte selbst der hünenhafte Clanoc der gewaltigen Übermacht erliegen müssen. Dorstellarain beschränkte sich darauf, festzustellen, wohin man Atlan verschleppen wollte, dann kehrte er in die Höhle zurück.
* Dort hatte sich unterdessen einiges getan. Mit erheblich besserem Erfolg als an Dor stellarains Bein hatte sich das Insekt damit beschäftigt, auf dem Braster-Lenker herum zukauen. In Stücken lag der Lenker auf dem Boden, und Dorstellarain hätte vor Wut am liebsten laut geheult. Nutzlos, wertlos, zer stört das gute Stück. Der Clanoc wollte nach dem Insekt grei fen, aber er verharrte. Der Bewahrer – wie er sich selbst genannt hatte – stand vor dem sechseckigen Kasten, den Dorstellarain in der Höhle gefunden hat te. Und er nahm die gleiche Haltung ein, die der Clanoc vor Stunden bei der andächtig lauschenden Menge in der Nähe des Kri stalls gesehen hatte. Es sah aus, als bete er den Körper an. »Erst ein Kristall und jetzt dieses Ding«, knurrte der Clanoc. Er scheute sich, das Insekt zu packen und
ein wenig zu schütteln – nicht sehr heftig, nur genug, um den Flatterer ein wenig plau dersam zu machen. Aber selbst ein rüpelhaf ter Clanoc bekam es ein wenig mit der Angst zu tun, wenn höhere Mächte im Spie le waren. Was der Bewahrer – was bei allen Geistern der Ebene wurde von dem Insekt bewahrt? – tat, sah nach einem Kontakt mit höheren Mächten aus, mit denen sich Dor stellarain nicht anlegen wollte. »He, du!« Das Insekt reagierte auf diesen Anruf nicht. Aus seinem Mund kamen Laute, die der Clanoc nicht zu deuten vermochte. Dann aber sah der Clanoc etwas, das ihm die struppigen Haare aufrichtete und Angst schauer über seinen Körper jagte. Die Verehrung des Insekts galt ganz of fensichtlich dem komischen Behälter, in dem sich etwas bewegte. Jetzt erst kam der Clanoc auf den Gedanken, daß es sich bei einem Behältnis für Lebewesen häufig um einen Sarg handelte. Nahm der Flatterer etwa Kontakt auf zu Toten …? Oder … Dorstellarain wurde fahl. Richtig, in dem Kasten hatte sich ja etwas bewegt. War der Tote vielleicht gar nicht tot … … oder gar nicht mehr? »Heiliger Nebel!« stieß der Clanoc her vor. Der Sarg öffnete sich, und dann …
* Nein, noch hatte ich mit meinem Leben nicht abgeschlossen. Schon oft hatte ich auf Sensenmanns Schippe Hornpipe getanzt und war wieder heruntergehüpft. Ich mußte mir aber eingestehen, daß mei ne Aussicht alles andere als günstig waren. Ich konnte kein Glied mehr rühren, und wenn es nach dem Willen meiner Wächter ging, würde ich bald auch ohne Fesseln steif und starr sein. Ich sollte geopfert werden.
44 Ich war ausersehen, geopfert zu werden – jener Gottheit, die ich offenbar dadurch be leidigt hatte, daß ich sie berührt hatte. Ich sollte dem Kristall als Opfer darge bracht werden. Vor mir lag ein sechseckiger Kasten mit offenem Deckel auf dem Boden. In dem Kri stall, an seinem Fuß, klaffte eine Öffnung. Man brauchte kein besonders gutes Augen maß für die Beobachtung, daß der Kasten präzise in dieses Loch hineinpaßte. Ich war an Händen und Füßen gefesselt, stand aber noch aufrecht. Ein Teil der Be wohner der Stadt Poro-Gheloos schien es kaum abwarten zu können, bis ich starb. An dere betrachteten mich wie ein exotisches Tier, eine Rolle, die mir ebenfalls nicht ge fiel. Unterdessen schleppten einige Dutzend Insektoiden Wachs heran, warmes Wachs. Ich begann zu ahnen, was man mit mir vorhatte. Sie würden mich in den Kasten zwängen, danach würden sie ihn mit heißem Wachs füllen. War ich erst einmal tot, oder so gut wie tot, wurde ich dann in dem Kasten dem Kristall einverleibt. Ich verstand von solchen Prozeduren genug, um zu wissen, daß ich in dem Wachs nicht sehr rasch ersticken wür de. Viel eher würde ich lebend in den Kri stall eingeführt, damit mich das Gebilde un tersuchen und psychisch ausplündern konn te. Das Wachs sollte vielleicht nur dafür sor gen, daß ich mich nicht bewegen konnte. Meine Ahnung hatte mich nicht getrogen. Sie packten mich und hoben mich an. Zehn Insekten schleppten meinen Sarg her an. Ich konnte mich nicht rühren, hilflos mußte ich erdulden, daß sie mich in den Sarg legten. Genauer gesagt: Sie ließen mich langsam in den Behälter hineingleiten. Ich stellte fest, daß er zu kurz war, um mich zur Gänze aufnehmen zu können. Mein Kopf ragte über den Rand hinweg. Ich konnte die Menge sehen. Die Facettenaugen schienen ausdruckslos, aber ich glaubte, so etwas wie Erwartung erkennen zu können. Die Menge genoß das Schauspiel, das mit mir vollzogen
Peter Terrid wurde. Eine Leiter auf Rollen wurde an mich her angefahren. Einer der Stadtbewohner nahm einen Eimer mit heißem Wachs, kletterte an der Leiter in die Höhe und schüttete den Be hälter aus. Das heiße Wachs lief an der Wand entlang und sammelte sich zu meinen Füßen. Die Opferung nahm ihren Anfang. Ein Insekt nach dem anderen erschien und lud seine Last in dem sechskantigen Behäl ter ab. Das Wachs erreichte meine Knöchel. Es war heiß, unangenehm heiß, aber nicht schmerzhaft. Ich würde es noch eine ganze Weile aushalten können. Das war wohl auch die Absicht bei dieser Prozedur. Sie sollte dauern, damit das Publikum etwas davon hatte. Ich konnte nichts, aber auch gar nichts tun. Ich war derart stramm gefesselt, daß ich gerade die Finger bewegen konnte, nicht mehr. Das einzige, was mir in dieser Lage verblieb, war das Bemühen, einigermaßen gefaßt zu erscheinen. Ich hatte vergleichbare Situationen auf der Erde erlebt, damals war es mir gelungen, Haltung zu bewahren – bis zu meiner Rettung. Der Unterschied war nur, daß es jetzt keine Rettung geben würde. Auf den Clanoc konnte ich nicht hoffen. Er hatte bei dieser Menge keinerlei Chan cen. Wenn er tatsächlich versuchen sollte, mich zu retten, würde das nur dazu führen, daß er ein ähnliches Schicksal erlitt wie ich. Das hätte ich dem rauhbeinigen Clanoc gern erspart. Mir natürlich auch. Das Wachs plätscherte an meinem Knie, und die Stafette wurde noch schneller. »Halt!«
* Telepathie! gab der Logiksektor durch. Das war ein telepathischer Befehl! Die Insekten stellten ihre Tätigkeit ein. Dafür begann der Kristall wieder aufzu leuchten. Der Farbton hatte sich geändert. Jetzt leuchtete das Gebilde in einem gefähr lichen Rot.
Retter der Xacoren »Haltet ein!« »Wer befiehlt hier!« »Ich, die Königin!« Die Insekten wichen ein wenig zurück. Ich sah die Bewegung und versuchte ihren Ursprung zu finden. Am Rand des Platzes waren drei Gestal ten aufgetaucht. Zwei Insekten und ein Wesen, das in zot tige Pelze gehüllt war. Dorstellarain! »Ich bin die Königin; die Große Köni gin!« Also konnte sich der Kristall doch ver ständlich machen. Ich versuchte, mich in meinem Gefängnis zu bewegen. Der Sarg begann ein wenig zu schwanken. Vielleicht gelang es mir, ihn umzukippen. Noch war das Wachs flüssig, noch konnte ich mich rollend auf dem Boden fortbewegen. »Du bist nicht die Königin! Nicht die ech te Königin. Das bin ich, Marsicar!« Ich sah, wie sich die Insekten auf dem Platz verstreuten. Die Situation schien über ihre Kräfte zu gehen. Das Glühen des Kri stalls verstärkte sich. »Belogen hast du uns, betrogen, ausge beutet und hinters Licht geführt. Du bist nichts weiter als eine Maschine, dazu ge dacht und gebaut, uns Xacoren zu verskla ven.« »Lüge!« »Wahrheit! Hieß es nicht, es werde nie wieder eine richtige Königin der Xacoren geben können? Und erfülle ich nicht die wichtigste Bedingung für diese Aufgabe, spreche ich nicht die stumme Sprache!« Das also war der Schlüssel zum Volk der Xacoren. Die Königinnen waren telepa thisch veranlagt. Das sicherte ihnen natür lich eine ungeheure Machtposition. »Nehmt die Usurpatorin gefangen!« »Zerstört die falsche Königin!« Damit war das Signal gegeben. Es galt zu handeln. Noch ein Ruck, und dann lag die Röhre auf dem Boden. Flüssi ges Wachs schwappte auf den Boden. Ein Teil der heißen Flüssigkeit lief mir über das Gesicht, aber das ließ sich ertragen. Mit ei
45 nem Schnalzen platzte die Röhre auf. Ein kräftiger Tritt mit den zusammengebunde nen Füßen, und einen Augenblick später lag ich auf dem Boden, in einer Pfütze aus flüs sigem Wachs, aber immerhin. Auf dem Platz tobte das Chaos. Die Xacoren wußten nicht mehr, woran sie waren. Eine Gruppe scharte sich augen blicklich um die organische Königin Marsi car. Eine andere Gruppe, hauptsächlich Wa chen, schlug sich ebenso spontan auf die Seite der synthetischen Königin. Ein Kampf schien unvermeidlich. Ich versuchte, mich von dem Kristall wegzurollen. Die telepathischen Impulse des Riesenkristalls wurden stärker und stärker. Ich mußte aus der unmittelbaren Nähe, wenn ich nicht wieder davon überwältigt werden wollte. »Hierher, Dorstellarain!« schrie ich mit höchster Stimmkraft. »Hierher!« Ich hob den Kopf ein wenig an, als ich auf dem Bauch lag. Ich sah hauptsächlich Insek tenfüße, kein sonderlich schöner Anblick. Dann erkannte ich Dorstellarain. Er wütete wie ein Berserker unter den Xa coren. Er töte zwar nicht, aber er stieß und warf sie wie Federbündel zur Seite. Es machte dem Hünen ganz offenkundig Spaß, seine Körperkräfte einmal austoben zu kön nen. Auf dem Platz vergrößerte sich das Chaos mit jeder Minute. Inzwischen hatten sich fünf Gruppen ge bildet: Marsicars Anhänger und die Gefolgs leute der synthetischen Königin, die sich er bitterte Kämpfe zu liefern begannen; dazu kamen Sympathisanten, die sich aber hüte ten, in diese Kämpfe einzugreifen. Und dann gab es noch eine Gruppe, deren Verstand mit dieser Problematik nicht fertig wurde. Diese Xacoren taumelten wie betrunken über den Platz, stolperten über sich selbst oder andere und stifteten genug Verwirrung für zwei Tollhäuser. »Los, schneide mir die Fesseln durch!« Dorstellarain hatte irgendwo ein langes Stück Metall aufgetrieben. Diesen Prügel
46 temperamentvoll schwingend, bahnte er sich eine Gasse. Die Xacoren stoben angesichts des tobenden Clanocs schnell auseinander. Nach kurzer Zeit hatte er mich gefunden. »Alter Freund!« begrüßte er mich mit lau tem Gebrüll. »Ich freue mich, daß du noch lebst.« »Schneide mich los!« Einen Augenblick später war ich wieder Herr meiner Muskulatur. Ich stand auf und sah mich um. Auf den ersten Blick war zu sehen, daß dieser Kampf nur dann ein Ende haben wür de, wenn einer der beiden Parteien ein durchschlagender Erfolg gelang – sprich: wenn entweder Marsicar oder die syntheti sche Königin starb. In dieser Situation gab es für mich keine Entscheidungsschwierigkeiten. Ich nahm Dorstellarain die schwere Me tallstange ab und rannte los. Der Kristall mußte zerstört werden, je eher desto besser. Denn mit jeder Minute, die der Kampf dauerte, wuchsen die Schwie rigkeiten für die Überlebenden. Insektenstaaten waren auf ein perfektes Zusammenspiel aller angewiesen. Wenn die ses Volk einen zu hohen Blutzoll zu zahlen hatte, waren auch die Sieger womöglich nicht mehr in der Lage, jeden Posten des komplizierten Gemeinwesens zu besetzen. Ein totaler Zusammenbruch der Infrastruktur wäre die Folge gewesen. »Ich werde dir helfen, Fremder!« Das mußte Marsicar sein, die echte Köni gin. Die telepathischen Impulse waren klar und kraftvoll. Ich erreichte den Kristall. Ein tiefer Brummton lag in der Luft, und der Kristall strahlte in düsterem Rot. Er sah unheimlich aus, furchterregend. Aber es gab keine ande re Wahl. Ich machte mich an den Aufstieg. Die schwere Stange hatte ich im Gürtel stecken. Hand über Hand kletterte ich an dem Kristall in die Höhe. Bergsteigerisch gesehen, war die Wand nicht sonderlich auf regend, etwa vierter Grad. Kein Vergleich
Peter Terrid zum Eiger oder der Dhaulaghiri-Südwand. Ich spürte, daß der Kristall unter mir zit terte und bebte. Der Kampf schien auch die Leistungsreserven dieses Kunstgebildes stark zu beanspruchen. Ein Blick hinunter zeigte mir, daß Marsi cars Partei langsam an Boden verlor. Ich mußte mich beeilen. Höher, und immer höher. Der Kristall war brüchig und am Gipfel ziemlich verwittert. Das gab zwar genug Halt für Hände und Fü ße, hatte gleichzeitig aber auch eine gewisse Unsicherheit zur Folge, ob der Kristall mein Gewicht auch wirklich hielt. Auf Seilsiche rung konnte ich mich in dem Fall nicht ver lassen. Auf einem Plateau hielt ich an. Ich war nicht mehr weit vom Gipfel des Kristalls entfernt. Was ich vorhatte, konnte ich ebensogut an dieser Stelle beginnen. Hier hatte ich vor allem genügend Platz. Ich suchte mir einen sicheren Standort aus, dann begann ich den Kristall mit der Stange zu bearbeiten. Ich hatte mir ausgerechnet, daß dieser Kristall, wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte, ein hochkompliziertes Gebilde sein müsse. Die kleinste Störung mußte ihn außer Gefecht setzen können. Ich hatte mich nicht geirrt. Schon nach einigen wenigen Hieben zeig te sich ein Spalt im Kristall, der in keinem Verhältnis zu meinen Bemühungen stand. Der ganze Kristall stand unter hoher Span nung. »Ich helfe dir, Fremder!« hörte ich Marsi car sagen. Der Kristall wehrte sich. Er griff an. Eine Flut mentaler Impulse brach über mich her ein. Es war mein Glück, daß der Kristall nicht allmächtig war. Er konnte nicht den Kampf verfolgen und leiten und sich voll und ganz mir widmen. Der Angriff des Kristalls kam grob und ungezielt, aber das machte ihn nicht weniger schmerzhaft. Fast hätte ich die Stange fallen lassen. In meinem Hirn tanzten nadelspitze Schmer
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zen, die kaum mehr zu ertragen waren. »Ich helfe!« sagte Marsicar. Ein zweiter Kampf entbrannte, dessen Schauplatz mein Schädel war. Im gleichen Maß, in dem der Kristall versuchte, mich te lepathisch k.o. zu schlagen, unterstützte mich Marsicar, indem sie den Impulsen des Kristalls ihre psionische Energie entgegen setzte. Wie alle künstlichen Esper war auch der Kristall nicht sehr stark, aber es genügte, um mich vor Schmerz fast wahnsinnig zu machen. Ich sah nicht mehr, wohin ich mit der Stange traf. Ich schlug blindlings zu. Der Kristall mußte zerstört werden, und wenn ich aus meinen Schmerzen folgern durfte, daß ich erfolgreich war, dann stand ich kurz vor einem Sieg. Denn der Schmerz war, trotz aller Bemühungen Marsicars, kaum zu ertragen. Ich sah nichts mehr, weil meine Augen voller Tränen waren, die mir der Schmerz entlockt hatte. Aber ich hörte. Ich hörte das Ächzen und Kreischen des überlasteten Materials. Ich hörte das Klirren, mit dem die schwere Stange den Kristall traf, und ich spürte an den Amplituden des Schmerzes in meinem Schädel, wann und wie ich den Kristall getroffen hatte. »Weiter!« drängte Marsicar. »Weiter!« Und dann war der Kristall tot. Mit einem ohrenbetäubenden Knirschen brach das Gebilde in sich zusammen. Ich spürte, wie der grauenvolle Schmerz schlag artig verschwand, und dieses blitzartige Nachlassen des Drucks ließ mich schlagartig bewußtlos werden.
* »Wir sind dir zu großem Dank verpflich tet, Atlan«, sagte die Königin. Ich machte einen Hofknicks. Gelernt war gelernt. Daß ich überhaupt noch in der Lage war, höfische Kratzfüße zu machen, hatte ich – vermutlich – dem Anzug der Vernichtung zu verdanken. Jedenfalls hatte ich den Sturz
von den Höhen des Kristalls lebend über standen. Ein paar Prellungen, die dank der Wirkung des Zellaktivators rasch wieder heilen würden, waren die einzigen Spuren, die ich davongetragen hatte. Dorstellarain war leicht am Fuß verletzt, aber auch er war wohlauf. »Ich wüßte gern, wie die Fremden aussa hen, die eure Stadt in die Dimensionsschlep pe verpflanzt haben.« Die Königin machte eine Geste des Be dauerns. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Eine klare Verständigung war nur auf telepathischem Wege möglich. »Niemand hat die Fremden je gesehen.« »Nicht einmal der junge Dazzler-Phol?« »Nicht einmal er. Nicht die letzte Köni gin, nicht der letzte Bewahrer. Ich glaube, daß nicht einmal die synthetische Königin Informationen über die Fremden gespeichert hatte.« Im Innern des Riesenkristalls hatten wir größere Mengen technischer Apparaturen gefunden, allerdings in einem Zustand, aus dem sich nichts mehr ersehen ließ. Die Große Königin der Xacoren war unwiderruf lich zerstört. »Wie können wir euch danken?« »Wir haben ein Ziel, Gynsaal. Wir wüß ten gerne …« »Der Bewahrer wird euch zeigen, wohin der Weg geht. Wir wissen selbst nicht, wo Gynsaal genau liegt, aber wir kennen aus Sagen, Märchen und Legenden unseres Vol kes die ungefähre Richtung. Der Bewahrer wird euch begleiten, so lange er die Kälte zu ertragen vermag.« Der neue Bewahrer der Xacoren hieß Wezzley. Dorstellarain hatte mir erzählt, der Bewahrer habe ihm die Wunde am Bein zu gefügt. Ich glaubte kein Wort davon. Der Xacore machte eine Geste mit seinen Fühlern, die Demut und Wohlwollen aus drücken sollte. Ich hatte – dank des Logik sektors – inzwischen gelernt, die vielfältigen Haltungen der Fühler – hier wurden sie Wit terer genannt – zu deuten und zu interpretie
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Peter Terrid
ren. Was ich allerdings nicht vermochte, das war, jenes komplizierte Duftsprache zu ver stehen, die den Xacoren einen ähnlichen Dienst tat wie uns Menschen die Mimik. Ich verabschiedete mich von der Königin. Ich wußte, die Xacoren konnten in Zu kunft glücklicher leben, auch wenn sie nicht in ihrer Heimat waren. Warum man sie in die Dimensionsschleppe verpflanzt hatte, wußten sie nicht. Ich nahm an, daß die raum-zeitliche Stabilität der Dimensions schleppe ein gewisses Maß hochentwickel ten organischen Lebens in der Schleppe er forderlich machte. Zu mehr als zu dieser In terpretation reichte meine Einsicht nicht. Als wir den Hügelkamm erreicht hatten, der die Stadt umgab, konnten wir den Großen Platz erkennen. Hunderte von Xacoren waren damit be schäftigt, die Trümmer der synthetischen Königin davonzuschleppen. Marsicar hatte Befehl gegeben, aus den Trümmern eine ho he Mauer rings um die Stadt zu bauen. Sie sollte Feinde abhalten und den dichten Ne bel, der den Xacoren das Leben so schwer machte.
»Ich werde euch noch ein Stück Weges begleiten«, versprach der Bewahrer Wezz ley. Er war sichtlich stolz, diese Aufgabe übertragen bekommen zu haben. »Wehe, wenn du mich noch einmal beißt«, sagte Dorstellarain. Er grinste dazu. Hoffentlich konnte der Bewahrer begreifen, daß diese Bemerkung humorvoll gedacht war. Mit dem Humor bei zottigen Berser kern war es eine eigentümliche Sache. Wezzley zögerte einen Augenblick, dann fiepte er in seinem schwerverständlichen Pthora: »Das würde mir nicht einfallen. Dafür schmeckt es viel zu schlecht.« Ich mußte lachen. Das war ausgleichende Gerechtigkeit, auch der Clanoc mußte la chen. Wir waren guter Laune, als wir losmar schierten, in den Nebel hinein, einem Ziel entgegen, von dem wir nur wenig wußten.
E N D E
ENDE