Nr. 368
Retter der Xacoren In der Stadt der Großen Königin von Peter Terrid
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat ...
5 downloads
486 Views
276KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 368
Retter der Xacoren In der Stadt der Großen Königin von Peter Terrid
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Brangeln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrückten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »Schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Dort hat der Arkonide inmitten von Eis und Schnee und unter den Clanocs, den Ausgestoßenen von Pthor, bereits eine Reihe von gefährlichen Abenteuern bestanden. Gegenwärtig ist Atlan zusammen mit Dorstellarain, seinem neuen Gefährten, auf der Flucht. Dabei gelangt er in die Stadt der Großen Königin und wird zum RETTER DER XACOREN …
Retter der Xacoren
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide in der Stadt der Großen Königin. Dorstellarain - Atlans Begleiter und Kampfgefährte. Wezzley - Scout der Xacoren. Quazzlor - Ein Häretiker. Marsicar - Eine junge Königin.
1. Das Abendgebet war beendet. Die Königin zog sich aus der Versammlung zurück. Stille breitete sich aus über dem großen Platz, nur durchbrochen vom leisen Knistern, mit dem sich die Witterer bewegten. Wezzley verharrte noch einen Augenblick in andachtsvoller Haltung. Es konnte nichts schaden, wenn man ihn so traf, das Haupt gebeugt, die Witterer andächtig gefaltet und mit einem unverkennbaren Demutsgeruch. In Wirklichkeit … aber das ging niemanden etwas an. Der Xacore wußte, daß er aufpassen mußte. Die Geruchspolizei war nicht zu unterschätzen, und die Strafen für Defätismus waren hart und grausam. Die zerstückelten Leichname der Verurteilten hingen an den Straßenecken, dem Volk zur Mahnung, den Gedankenverbrechern zur Warnung, der Königin zur Ehre. Wezzley richtete sich auf. Der große Platz war nahezu leer. Es wurde Zeit, die Gemächer aufzusuchen. In wenigen Stunden würde es dunkel werden. Dann hatte kein Scout, kein Weibchen und keine Königinanwärterin mehr etwas auf den Straßen der Stadt zu suchen. Wezzley machte sich auf den Heimweg. Als Scout war er hervorragend, und so hatte er eine Unterkunft in der Nähe der Königin ergattern können. Das hatte den Vorzug, daß er auf dem Nachhauseweg Zeit sparte – Zeit, die seiner Schlafensperiode zugute kam, und das wiederum wirkte sich positiv auf seine Arbeit aus. Quazzlor hatte ihn in der Frühe angesprochen; Quazzlor war einer der ältesten Scouts, erfahren in allem, was ein Xacore
können und wissen mußte, ein Greis, von der Last der Jahre gebeugt, die Witterer fast verhornt und mit allen Zeichen der Erfahrung auf dem Panzer. Wezzley wußte nicht, was der Alte von ihm wollte. Wezzley war zwar ein erstklassiger Scout, aber mehr auch nicht. Wollte Quazzlor ihn auf seine Weibchengeschichten ansprechen? Das war wenig wahrscheinlich, solange Wezzley die strengen Mehrungsgebote beachtete und sich nichts zuschulden kommen ließ – und bislang hatte sich Wezzley nichts zuschulden kommen lassen. Wenn nicht dies, was war dann Anlaß für Quazzlors Wunsch, mit Wezzley zu sprechen. Sollte der Alte am Ende … Wezzley strengte die Witterer an, richtete sie auf sich selbst. Er war kein Geruchspolizist, dazu brauchte man besondere Fähigkeiten als Witterer, aber was er an eigenen Gerüchen wahrnahm, reichte keinesfalls aus, ihn festzunehmen. Gewiß, in seinen Ausdünstungen schwang etwas Unmut mit, das war deutlich zu riechen, aber der Duft war nicht so stark, daß er hätte Anstoß erregen können. Wezzley hatte am Morgen ein halbgefülltes Sammelgefäß fallen lassen, und das war für einen Xacoren Anlaß genug, ein wenig unwillig zu sein. Wahrhaftig, daran konnte es auch nicht liegen. Was also wollte Quazzlor …? Wezzley summte leise, als er die Straße erreichte, in der er wohnte. Wie immer waren die Straßen kurz nach dem Ende der Abendandacht gefegt worden. So gehörte es sich, dachte Wezzley. Wenn alles in der Stadt seinen geregelten Gang ging, dann konnten die Xacoren mit ihrem Geschick zufrieden sein. Es war ein wahres Glück für das kleine Volk der Xacoren, daß es die Kö-
4 nigin gab – daß es diese Königin gab. Eine Anwärterin trippelte an Wezzley vorbei, die Witterer vornehm gespreizt, am Sauger noch einen Tropfen Königssaft. Als ob das etwas helfen konnte! Wezzley trillerte kurz mit den Witterern, dann öffnete sich der Verschluß seiner Wohnung. »Willkommen«, sagte Quazzlor. Es war ziemlich dreist, ein fremdes Gemach zu betreten, ohne daß der Bewohner anwesend war oder das Eindringen vorher gebilligt hatte. Für Quazzlor schien das keine Rolle zu spielen. »Da bin ich«, sagte Wezzley. Er gab einen kurzen Höflichkeitstriller von sich, knapp genug, um seine Mißbilligung deutlich zu machen. Er bemerkte, daß er unwillig zu riechen begann. »Was kann ich für dich tun?« fragte Wezzley. Er tat, als wäre es völlig normal, seinen Sammelbehälter vor den Augen Fremder zu reinigen, aber der Alte schien dies nicht zu bemerken. »Ich muß mit dir sprechen«, sagte der Alte. »Ich höre.« »Nicht jetzt«, sagte der Alte. »Und vor allem nicht hier.« Wezzley machte eine Bewegung des Staunens. »Du brauchst gar nicht so mißtrauisch zu riechen«, sagte Quazzlor. »Was ist, kommst du mit?« Wezzley spähte durch die enge Luke nach draußen. In zwei Stunden würde es so dunkel sein, daß jeder Aufenthalt auf den Straßen der Stadt gefährlich wurde. Die Geruchspolizisten verstanden keinen Spaß. Sperrstunde war Sperrstunde. »Weit werden wir nicht kommen«, sagte Wezzley. »Wohin willst du überhaupt?« »Warte es ab«, sagte der Alte. Umständlich richtete er sich auf. »Kommst du mit?« Wezzley zögerte einen Augenblick, dann trillerte er zustimmend. Er verstaute das Sammelgefäß in einer Nische, dann trat er höflich zur Seite, um Quazzlor vorbeizulas-
Peter Terrid sen. Der Alte bewegte sich langsam an dem jungen Scout vorbei. Wezzley folgte ihm und verschloß hinter sich die Tür. »Wohin geht es?« wollte Wezzley wissen, als die beiden auf der Straße standen. Die Beleuchtung war schlechter geworden. Dämmerung senkte sich über die Stadt. In der Ferne waren die Nebelschleier des Umlands zu erkennen. Wezzley schauderte es, wenn er nur daran dachte. Jenseits der Grenzen der Stadt gab es für einen Xacoren praktisch keine Überlebensmöglichkeit. Die Tracheen wurden feucht, die Atmung schwerer. Die Glieder wurden steif und starr, bis ein Stadium erreicht war, an dem der Xacore sich überhaupt nicht mehr regen konnte. Wezzley wußte, daß es Mittel gab, dem zu begegnen. Die Geruchspolizisten trugen beispielsweise Uniformen, die sie vor Kälte leidlich schützten. Solcherart bekleidet, streiften sie in den Sperrzeiten durch die Stadt und sammelten die Xacoren ein, die sich ins Freie gewagt hatten. Wehren konnten sich die Betroffenen nicht. In den Schlafenszeiten der Königin wurde es kalt in der Stadt, das wußte jeder. Die Temperatur sackte binnen weniger Minuten um fast zwanzig Grade ab, und das bedeutete, daß alle Lebensfunktionen eines normalen Xacoren um das Zehnfache verringert wurden. Quazzlor gab keine Antwort auf die Frage seines jungen Begleiters. Mit Schritten, die weit weniger als sein Äußeres das Alter des Scouts erkennen ließen, marschierte er über die Straßen. Wezzley stapfte hinter Quazzlor her, leicht verärgert und ziemlich neugierig geworden. Beim Passieren der Querstraßen konnte er sehen, daß die Nebel des Umlands sich langsam auf die Stadt zu bewegten. Es konnte also noch bestenfalls eine Stunde dauern, bis die Sperrstunde erreicht war. Und dann blieben den beiden ziemlich genau vier Minuten, um eine Unterkunft zu finden, in der sie sich vor der Kälte und der Geruchspolizei verbergen konnten. »Hör zu, Alter, die Sache gefällt mir nicht.«
Retter der Xacoren »Dann kehre um«, gab Quazzlor zurück, ohne sich umzudrehen. »Die Sperrzeit wird bald beginnen«, erinnerte Wezzley ihn. »Wir werden nicht mehr genug Zeit haben, um in unsere eigenen Unterkünfte zurückkehren zu können.« Quazzlor marschierte ungerührt weiter, und mit steigendem Befremden sah Wezzley, daß der Alte stadtauswärts marschierte – genau auf die wallenden Nebel zu, die sich langsam näherschoben. Es war ein Anblick, den alle Xacoren fürchteten. Wezzleys Witterer zitterten ein wenig. Er begann nervös zu riechen. »Hier!« Quazzlor griff an sein linkes Vorderbein und holte einen durchsichtigen Behälter aus der Tasche. In dem Behälter schwappte eine Flüssigkeit, deren Farbe stark an Königssaft erinnerte. »Trink das«, sagte Quazzlor. Wezzley griff nach dem Behälter. Aus der Tasche des rechten Vorderbeins zog Quazzlor ein ähnliches Gefäß für sich selbst hervor. Wezzley schnupperte mißtrauisch an dem Behälter. Der Geruch erinnerte an Königssaft, aber da war noch ein anderer Geruch zu spüren, fremd, scharf und gefährlich. Wezzley zögerte. Daß Quazzlor von der Flüssigkeit trank, überzeugte ihn nicht. Wer wußte, was das für ein Getränk war? Ob es giftig war oder süchtig machte, ob Quazzlors Trank überhaupt der gleiche war, den er Wezzley angeboten hatte? »Trink!« sagte der Alte. »Die Wirkung setzt sonst zu spät ein.« »Wirkung?« »Trink!« Aus dem Alten war kein Wort herauszuholen. Vorsichtig sog Wezzley den Inhalt der Flasche ein. Bereits der erste Schluck traf ihn wie ein Faustschlag. Er schnappte nach Luft, vor seinen Augen flimmerte es. Ihm war, als würde sein Innerstes zuäußerst gekehrt. »Heiliger Nektar«, stöhnte Wezzley auf.
5 Er verbreitete einen deutlichen Angstgeruch. »Was ist das?« »Medizin«, sagte Quazzlor kalt. »Wir warten hier.« »Warten? Im Freien?« Wezzley glaubte, sich verhört zu haben. Es wurde immer dunkler auf den Straßen, und die Nebelschwaden hatten bereits den Stadtrand erreicht. Um diese Zeit gingen die Geruchspolizisten in den Randbezirken bereits Streife. Wenn Quazzlor und er nicht binnen einer Viertelstunde eine warme Unterkunft fanden, waren sie verloren. Das Flimmern vor Wezzleys Augen verstärkte sich. Flüssiges Feuer schien durch seinen Körper zu fließen, durch jeden Muskel, jedes Organ. »Hierher«, sagte Quazzlor. Er stellte sich in einen Hauseingang. Das Gebäude war erst in den letzten Tagen erbaut worden und noch nicht bezugsfertig. Selbstverständlich war es nicht geheizt; die Geruchspolizei würde es mit Sicherheit durchsuchen. Und der Nebel kam immer näher. Merkwürdigerweise spürte Wezzley nichts von der Kälte, die sich über die Stadt legte. Im Gegenteil, in seinem Innern war es heiß, ungeheuer heiß sogar. War das die Wirkung, von der der Alte gesprochen hatte? Ein tiefer, hallender Glockenton breitete sich aus, das offizielle Zeichen, daß den Bewohnern der Stadt noch zehn Minuten verblieben, um ihre Unterkünfte aufzusuchen. Wer danach noch auf den Straßen angetroffen wurde, bekam es mit der Geruchspolizei zu tun. »Quazzlor«, begann Wezzley. Seine Angstausdünstung wurde stärker; er konnte nichts dagegen tun. Er hatte Angst vor der Geruchspolizei, Angst vor dem Nebel, der sich wie das verkörperte Verhängnis heranschob, Angst vor der Kälte, Angst vor Quazzlor und seinen Machenschaften, Angst vor der Wirkung des unheimlichen Gebräus, das er getrunken hatte – alles in Wezzley schrie nach Flucht. Aber es gab keine Flucht mehr.
6 Wezzley hatte stadteinwärts gespäht, und als er sich umdrehte, war der Nebel da. Wezzley wich zwei Schritte zurück, dann spürte er eine Wand hinter sich, und in der Zeit, die man für zehn Flügelschläge brauchte, war Wezzley blind. Er sah nichts mehr. Verschwunden war die Mauer, verschwunden war Quazzlor, verschwunden das Bild der Stadt – nur die Angst war geblieben. Bangen Herzens wartete Wezzley auf das Unvermeidliche. Das Atmen mußte schwerer werden, alle Lebensvorgänge mußten sich unter dem Einfluß des Temperatursturzes verlangsamen – bald würde er nicht einmal mehr kriechen können. Danach war er eine leichte Beute für die Geruchspolizei. »Machen wir uns auf den Weg.« Quazzlors Stimme klang gedämpft durch den Nebel. Wezzley versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es gelang ohne Mühe. Wezzley spürte, daß Quazzlor ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Keine Angst«, hörte er den Alten sagen. »Das Medikament hilft gegen die Erstarrung. Du wirst dich ganz normal bewegen können. Folge mir, ich werde dir den Weg zeigen.« Hintereinander marschierten die beiden Xacoren durch eine Welt, die nur aus weißen Schleiern zu bestehen schien. »Du mußt dich ein wenig anstrengen«, hörte Wezzley den alten Scout sagen. »Die Geruchspolizisten machen meist viel Lärm, wenn sie durch die Straßen patrouillieren, aber ab und zu sind sie auch ziemlich leise. Wir dürfen ihnen nicht über den Weg laufen.« Wezzley begriff gar nichts mehr. Seine Gedanken vollführten einen wirren Tanz. Was wollte Quazzlor von ihm? Warum schleppte er ihn um diese Zeit in die Außenbezirke der Stadt? Warum mußte er riskieren, der Geruchspolizei in die Hände zu fallen und empfindlich bestraft zu werden? Warum hatte er diesen fürchterlichen Trank schlucken müssen?
Peter Terrid Er wagte nicht, dem Alten eine Frage zu stellen. Wahrscheinlich hätte er ohnehin keine Antwort bekommen. Quazzlor schien genau zu wissen, was er wollte. Er bewegte sich mit einer Gelassenheit und Sicherheit durch den Nebel, als tue er dies jeden Tag. War Quazzlor am Ende ein Defätist? Wezzley schnupperte vorsichtig, aber er nahm nichts wahr. Quazzlor verströmte den ganz normalen Alltagsgeruch, wie er bei jedem Xacoren zu finden war. Keine Spur von Angst oder Aufregung war herauszuriechen. War auch dies auf den geheimnisvollen Trank zurückzuführen. »Warte einen Augenblick«, sagte Quazzlor. »Ich komme sofort zurück!« Wezzley spürte, wie ihn erneut die Angst überfiel. Er wußte, daß er Angst hatte – aber er konnte sie nicht riechen. Offenbar wurde der gesamte Ausdünstungsapparat durch den Trank außer Funktion gesetzt. Wezzley spürte, daß Quazzlor ihn verließ. Einen Augenblick lang konnte er noch Schritte hören, die aber sofort vom Nebel verschluckt wurden. Sekunden vergingen, dann wurden wieder Schritte hörbar – und Waffengeklapper. Geruchspolizei? Wezzley erstarrte. Das Geräusch kam näher, näher und näher. Doch die Schritte wanderten an ihm vorbei, versickerten im Nebel, verstummten. Sie hatten ihn nicht entdeckt. Erleichterung machte sich in Wezzley breit. Dann spürte er plötzlich wieder Quazzlors Hand. »Komm!« Fast willenlos folgte Wezzley dem Alten. Der Weg führte einige Stufen hinab, und mit jeder Stufe wurde die Sicht besser. Wezzley sah, daß zwei Türen geöffnet wurden, er hörte, wie sie hinter ihm wieder ins Schloß fielen. Als er die Versammlung sah, wußte er sofort, wo er gelandet war. Nicht bei Defätisten … Er stand in einer Versammlung praktizierender Häretiker. Und das hieß Tod.
Retter der Xacoren
7
2. Es gab keine Alternative. Nicht zu praktizierter Häresie. Es gab kein Verbrechen, das größer war, keine Strafe, die härter hätte ausfallen können. Nichts und niemanden jagten die Geruchspolizisten so hartnäckig, so gnadenlos wie Häretiker. Ketzer, Hochverräter, Abtrünnige – Häretiker. »Heiliges Licht«, stammelte Wezzley. »Erschrick nicht«, sagte Quazzlor. Er richtete seine Witterer auf die Versammlung und gab einen kurzen Begrüßungstriller von sich. Wezzley war wie gelähmt vor Entsetzen. »Nimm Platz, Wezzley!« sagte der Alte. Wezzley sah, wie man ihn musterte. Einige der Anwesenden kannte er. Hexcor beispielsweise, und Ergan, und Kolfper … und er hatte nie auch nur das geringste geahnt. Wie brachten sie es fertig, den Geruch zu unterdrücken, sich nichts anmerken zu lassen? In dem Raum war jedenfalls nicht von Häresie zu riechen. »Häretiker«, stieß Wezzley hervor. Seine Witterer zitterten vor Erregung. »Fluch über euch!« Hexcor sah Quazzlor an; der Alte schien den Vorsitz dieser Versammlung zu haben. »Ich werde gehen«, sagte Wezzley heftig. »Auf der Stelle werde ich gehen. Die Geruchspolizei …« »Wird dich fragen, wieso du um diese Zeit noch auf den Straßen herumlaufen kannst!« entgegnete Quazzlor gelassen. »Und wenn du in einen geheizten Raum kommst, dann wird sich die Wirkung des Medikaments steigern. Dir wird nichts übrigbleiben, als uns erst einmal anzuhören.« Wezzley antwortete mit einem kurzen Zucken seiner Witterer, eine Geste, deren Eindeutigkeit nicht zu mißdeuten war. Sie werden dich töten, dachte der Scout. Entweder bringen sie dich um, oder die Geruchspolizei wird dich töten. So oder so, der
Tod steht neben dir. Und du hast noch kein Ei für das Gelege geliefert. Die Aussicht, ohne unmittelbare Nachkommen sterben zu müssen, erschreckte ihn. Er konnte nicht einmal ein wildes Ei vorweisen. »Du hast recht, Wezzley«, sagte Quazzlor. Er hatte sich niedergelegt und machte einen ruhigen, entspannten Eindruck. Er schien sich keine Sorgen zu machen, die Versammlung könnte von Wezzley verraten werden. Der Scout wußte warum – die Geruchspolizei hätte selbstverständlich nicht nur die Häretiker getötet, sondern hätte auch die Zeugen umgebracht. »Wir sind Häretiker, Wezzley. Wir sind nicht die ersten, und wir werden nicht die letzten sein. Wir brauchen dich und deine Hilfe, und aus diesem Grund haben wir dich hierher geladen.« »Hilfe? Von mir? Niemals!« Quazzlors Witterer trillerten vergnügt. Er schien Wezzleys Ablehnung nicht ernst zu nehmen. Er sollte sich wundern, nahm sich Wezzley vor. Ihn verdroß, daß man seine Hilfe offenbar für selbstverständlich hielt, noch bevor man ihn darum gebeten hatte. »Kennst du die Geschichte unseres Volkes?« fragte Quazzlor. Wezzley gab eine Ausdünstung der Verachtung von sich. Was sollte die Frage? Die Geschichte der Xacoren wurde an allen Schulen gelehrt, jeder kannte sie. Jeder kannte vor allen Dingen die segensreiche Einführung der Großen Königin. »Du glaubst sie zu kennen«, sagte Quazzlor. »Die Wahrheit kennst du nicht.« Wezzley trillerte wegwerfend. Er kannte – natürlich nur gerüchteweise – die Ansichten der Häretiker. Die Große Königin sei nichts weiter als ein kümmerliches Surrogat einer wirklichen Königin, und es würde Zeit, daß endlich wieder eine natürliche Königin gefunden würde, und daß die Fremden nicht die Retter des Volkes waren, sondern vielmehr seine Unterdrücker – und was dergleichen Lügenmärchen mehr waren. Davon stimmte natürlich kein Wort. Wenn
8
Peter Terrid
daran etwas wahr gewesen wäre, hätte die Geruchspolizei keine Jagd auf die Häretiker machen müssen. »Und ihr kennt die Wahrheit? Ausgerechnet ihr Verbrecher?« Quazzlors Ausdünstung verriet überlegene Ruhe. Lag das an dem Medikament …? Oder daran, daß er tatsächlich die Wahrheit sprach? »Wir kennen die Wahrheit. Wir wissen, was sich wirklich zugetragen hat. Damals, als alles begann … vor langer Zeit und auf einer gänzlich anderen Welt. Es war vieles anders … damals …«
* »Es kann keinen Zweifel geben«, sagte der Bewahrer. »Die Königin wird sehr bald sterben.« Im Rat der Xacoren war es still. Die fünfundzwanzig Xacoren verharrten auf ihren Plätzen, wie gelähmt. Nicht, daß es etwas Besonderes gewesen wäre, wenn eine Königin der Xacoren starb. Jede Königin starb eines Tages, das war Naturgesetz. Aber in diesem Fall … »Und es besteht keine Hoffnung, daß sie noch lange genug lebt, um vielleicht doch noch …« Der Sprecher verstummte. Über dem Rat lag eine Wolke von Verzweiflung. Keine neue Königin in Aussicht, ein Vorgang, den es bisher nie in der Geschichte der Xacoren gegeben hatte. »Die Tanks sind leer, seit Monaten schon«, sagte der Bewahrer. Seine Witterer hingen schlaff herab. »Ich verstehe es wirklich nicht. Nicht nur, daß in dieser grauenvollen Nacht die Königin so verletzt wurde, daß sie keinen Königssaft mehr produzieren konnte … daß dabei auch die Mehrzahl der Tanks leckgeschlagen wurde, ist einfach unbegreiflich.« Einer der Räte, der Älteste, stand langsam auf. »Vielleicht«, sagte er zögernd, »vielleicht
hat die Königin der Ewigkeit beschlossen, das Volk der Xacoren abzuberufen.« »Für Mystik haben wir jetzt keine Zeit«, begehrte der Bewahrer auf. »Hier geht es um konkrete Probleme, die eine handfeste Lösung erfordern. Die Königin liegt im Sterben, und keine der Anwärterinnen ist so weit entwickelt, daß sie Königin werden könnte. Es ist kein Königssaft mehr greifbar. Sie können sich also gar nicht zur Königin entwickeln.« »Das ist der Untergang unseres Volkes«, sagte der Ratsälteste mit brüchiger Stimme. »Die Xacoren werden den Tod der Königin nur um Stunden überleben.« Jeder wußte, daß diese Prognose stimmte. Das Leben der Xacoren war auf die jeweilige Königin ausgerichtet, sie war Mittelpunkt allen Tuns, aller Gedanken. Die Xacoren lebten für die Königin, sie dienten ihr, sie beteten zu ihr. Gemeinschaftsdienst war Dienst an der Königin, sie war der zentrale Begriff der xacorischen Staatsphilosophie. Dabei zählte die Person der jeweiligen Königin wenig – aber das Königtum war wichtig. Die Xacoren nannten diesen abstrakten Begriff des Königtums die »Seele der Königin«. Starb diese Seele, starb das Volk. Und weit und breit war keine Nachfolgerin in Sicht. Zu jäh war das Unglück gekommen. Die Xacoren waren unvorbereitet. Monate, wenn nicht Jahre mußten vergehen, bis es – vielleicht – gelang, eine neue Königin heranzubilden. Aber jeder im Rat wußte, daß das Gemeinwesen der Xacoren nicht einmal eine Woche funktionieren konnte, wenn die Seele der Königin fehlte. »Das Ende«, murmelten einige Stimmen. »Der Untergang der Xacoren.« Die Vorratszellen würden nicht gefüllt werden. Die Brut verhungerte oder wurde von Schimmelpilzen zerfressen. Die Puppen konnten sich nicht befreien, die Scouts konnten nicht mehr arbeiten. Die Temperatur in der Stadt mußte schlagartig absinken – und dann war der Tod des ganzen Volkes nur noch eine Frage von Stunden. Das Schicksal der Xacoren war besiegelt
Retter der Xacoren
9
…
* »Ich weiß das alles«, begehrte Wezzley auf. »Jedes Kind kennt die Geschichte.« »Diesen Teil der Geschichte«, antwortete Quazzlor. »Die anderen Teile aber sind nur Eingeweihten bekannt. So höre denn …«
* Dumpfes Schweigen lastete auf der Ratsversammlung. Was war zu tun? Nichts! Man konnte nichts mehr tun. Die Königin starb, das Volk starb. Nichts würde bleiben von den Xacoren. Die Häuser würden zerfallen, der Staub der Jahrhunderte würde sich über die Stadt legen. Vielleicht konnte in vielen tausend Jahren noch einmal Leben auf dieser Welt entstehen. Vielleicht gelang es einigen wenigen Xacoren, sich trotz des Todes der Königin zu retten. Es mußte sich um geistig wie körperlich Modifizierte handeln, die es vielleicht schafften, ohne Gemeinschaft zu leben. Und vielleicht konnten diese neuen Xacoren – sie würden sehr viel anders sein als das vom Untergang bedrohte Volk – eines fernen Tages eine neue Zivilisation auf dieser Welt aufrichten, auch diese anders als die xacorische, aber eine Zivilisation. Die Zeit dieser Xacoren schien jedoch abgelaufen. Der Bewahrer richtete seine Aufmerksamkeit auf das jüngste Mitglied des Rates. Dazzler-Phol rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. (Der Bi-Name besagte, daß der betreffende Xacore zwar Mitglied des Rates, aber noch nicht voll ausgewachsen war.) »Sprich«, forderte der Bewahrer den jungen Xacoren auf. »Ich schlage vor, der Rat setzt seine normale Arbeit fort.« »Jetzt? In dieser Stunde?« erklang es aus den Reihen der Ratsmitglieder. Der Bewahrer richtete sich auf. »Es würde diesem Rat schlecht anstehen,
würde er in der Stunde der Gefahr – und sei es die Stunde des Untergangs – seine Würde und Gelassenheit verlieren. Sprich DazzlerPhol, was hast du dem Rat vorzutragen.« Der junge Xacore stand auf. Seine Witterer verrieten durch unbeherrschtes Trillern, wie aufgeregt er war. »Ich war in den letzten Nächten einige Male im Freien«, sagte er verlegen. Der Bewahrer konnte ein amüsiertes Schlagen seiner Witterer nicht unterdrücken. Dazzler-Phol bemerkte dies, und seine Verlegenheitsausdünstung wurde noch stärker, als sie ohnehin schon war. »Dergleichen ist nicht verboten«, sagte der Bewahrer, um Dazzler-Phol nicht völlig aus dem Konzept zu bringen. Er ahnte, daß der junge Xacore nicht ausgeschwärmt war, um sich mit einem Weibchen zu treffen. Dazzler-Phol war, und deshalb saß er im Rat der Xacoren, einer der intelligentesten Xacoren, der je in einem Ei gesteckt hatte. »Ich habe dabei Bewegungen beobachten können«, sagte Dazzler-Phol. »Bewegungen am Nachthimmel, die mich alles andere als normal dünken.« »Abstürzende Meteoriten«, wurde vermutet. Dazzler-Phol verneinte entschlossen. »Abstürzende Himmelstrümmer beschreiben keine vielfach gewundenen Bahnen am nächtlichen Himmel. Ich glaube vielmehr, daß es sich bei diesem Phänomen um …« Dazzler-Phol zögerte. Er wußte, wie bedeutsam es war, was er vorzutragen beabsichtigte. Traf seine Vermutung zu, dann begann ein einschneidend neuer Abschnitt der Geschichte der Xacoren ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da sich die Geschichte der Xacoren dem Ende neigte. »Ich glaube«, sagte der junge Xacore langsam und bedeutungsvoll, »daß es sich bei diesen Spuren am Nachthimmel um die Spuren von Raumschiffen handelt. Unsere Welt hat Besucher aus den Weiten des Alls erhalten.« In der Runde wurde Gelächter laut. Schließlich wußte man, daß die Xacoren die
10
Peter Terrid
einzigen intelligenten Lebewesen des Universums waren. Dazzler-Phols Ausdünstung wechselte von Verlegenheit zu Empörung. »Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte er laut. »Und ich habe mich nicht geirrt. Ich glaube, daß wir sehr bald schon Kontakt zu jenen Fremden aufnehmen können.« Im Rat wurde es still. Plötzlich begriffen die Mitglieder der Versammlung, was ihr junger Kollege gesagt hatte. Der Bewahrer sprach den Gedanken laut aus: »Wenn sie es schaffen, zwischen den Sternen zu reisen … vielleicht können sie dann auch die Königin retten.« »Vielleicht«, nahm Dazzler-Phol den Faden auf, »vielleicht können sie unser Volk retten.«
* »Was sage ich«, behauptete Wezzley. »Das ist genau die Geschichte, wie sie gelehrt wird. Was wollt ihr Häretiker eigentlich?« »Schweig!« brüllte Quazzlor. »Schweig und hör zu. Denn die Geschichte ist noch nicht beendet.« Quazzlor beruhigte sich wieder. Er nahm den Faden der Erzählung wieder auf …
* Der Bewahrer faltete demütig die Witterer. Der Körper der Königin zuckte leise. Es gab keinen Zweifel, sie lag im Sterben. Dennoch war die Verständigung möglich. »Ich sehe dich, Bewahrer«, ließ sich die Königin vernehmen. »Was hat der Rat beschlossen?« »Nichts«, sagte der Bewahrer. Er verharrte in der vorgeschriebenen Demutshaltung. »Wir haben uns vertagt, ohne eine Lösung für unsere Probleme gefunden zu haben.« Die Königin gab einen Impuls der Belustigung von sich.
»Versuche nicht, mir etwas zu verschweigen«, sagte sie in der ihr eigenen Art. »Berichte also!« Der Bewahrer zögerte ein wenig. Die Königin zu belügen, war unmöglich, aber war es recht, ihre letzte Stunde mit unerfüllbaren Hoffnungen zu füllen? »Dazzler-Phol hat etwas gesehen«, berichtete der Bewahrer zögernd. »Er behauptet allen Ernstes, Raumfahrzeuge am Nachthimmel gesehen zu haben.« »Betreiben die Xacoren Weltraumfahrt?« fragte die Königin. »Wieso weiß ich nichts davon?« Der Bewahrer lachte. »Viel schlimmer«, sagte er. »Dazzler-Phol behauptet, es handele sich um Fremde. Er sei seiner Sache ganz sicher – sagt er.« Es war erschreckend, welche Wandlung sich mit der Königin vollzog. Sie richtete sich mit einem Ruck auf. Ihre Witterer zuckten in einem Maß, das furchterregend war. Sie schien völlig außer sich. »Was sagst du da?« »Fremde, so behauptet Dazzler-Phol. Es ist natürlich Unfug, Merkizza, einfach unsinnig.« Die Königin fiel auf ihr Lager zurück. Ihr Körper wirkte hinfällig. Es war wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis sie starb. Aber ihr Geist war noch intakt. Sie konnte noch denken, und sie konnte sich verständlich machen. »Ich weiß, daß ich sterben muß«, sagte die Königin. Der Bewahrer verzichtete darauf, eine konventionelle Lüge von sich zu geben. »Es sieht so aus«, sagte er offen. »Wir vermögen dich nicht zu retten, Königin. Aber …« – er zögerte angesichts der Ungeheuerlichkeit seines Gedankengangs – »vielleicht, wenn … ich meine, wenn Dazzler-Phol, es ist ja nicht absolut ausgeschlossen. Denkbar wäre immerhin …« »Stottere nicht herum«, unterbrach ihn die Königin. »Du willst sagen, daß die Fremden, die Dazzler-Phol gesehen haben will, mir
Retter der Xacoren
11
vielleicht helfen könnten?« Der Bewahrer stimmte mit einem kurzen Impuls zu. »Du weißt, was das bedeutet?« Der Bewahrer stimmte erneut zu. Er dünstete Verlegenheit aus. Nur er, niemand sonst, hatte Zutritt zur Königin. Der Bewahrer trug der amtierenden Königin die Vorschläge des Rates vor und gab die Befehle der Königin an den Rat weiter. Es war ein ungeheuerlicher Gedanke, dieses geheiligte Ritual zu durchbrechen – noch dazu durch Wesen, die keine Xacoren waren. »Ich kann dich beruhigen, Bewahrer«, sagte die Königin leidenschaftslos. »Wir werden die geheiligten Traditionen nicht durchbrechen müssen.« »Es gibt also keine Fremden«, murmelte der Bewahrer, teils erleichtert, teils bedrückt. »Du irrst.« Der Bewahrer schrak zusammen. Er glaubte nicht richtig zu hören. »Du weißt, daß es die Fremden wirklich gibt?« Die Königin bejahte. »Und warum sollten sie nicht fähig sein, dich zu retten, Königin?« »Sie sind dazu fähig.« Den Bewahrer schwindelte. Er begriff nicht, was man ihm sagte. »Aber warum helfen sie dann nicht?« Mit klarer, fester Stimme sagte Merkizza: »Weil es die Fremden sind, die meinen Tod verschuldet haben.«
3. Irgendwie erinnerte er mich an jene Gestalten, die im frühen Mittelalter Europa unsicher gemacht hatten. Anno Domini 793 waren sie erstmals in Erscheinung getreten – in der ihnen eigenen Art und Weise. An diesem Tag hatten sie die kleine Hebrideninsel Lindisfarne überfallen, und die Art dieses Überfalls hatte sich den Zeitgenossen unvergeßlich eingeprägt.
»Vor der Wut der Nordmänner rette uns, o Herr«, hatten die entsetzten Mitteleuropäer gebetet. Geholfen hatte es nicht viel. Jahrhundertelang bildeten sie die Geisel des Abendlands. Sie schlugen zu, wo sie wollten. Städte gingen in Flammen auf: Antwerpen 836, Rouen 841, vier Jahre später loderten Hamburg und Paris, im Jahre 882 sanken Städte wie Köln, Bonn, Trier in Schutt und Asche. Nordmänner hatte man sie genannt, Wikinger waren sie von anderen getauft worden. Die zeitgenössischen Chronisten hatten sie groß und breitschultrig beschrieben, schrecklich anzuschauen in ihrer Wut. An diese wüsten Gesellen dachte ich gelegentlich, wenn ich Dorstellarain durch den Nebel stapfen sah. Die alten Normannen waren aus einer vergleichbaren Landschaft gekommen. Ein Gedanke durchzuckte mich. Gab es mehr als diese Parallelen, die mir ins Auge gesprungen waren? Stammten die historischen Normannen vielleicht von Pthor? War Atlantis damals auf der Erde gewesen …? »Die Wahrscheinlichkeit ist überaus gering«, informierte mich der Extrasinn. »Das Wiedererscheinen von Atlantis wäre den Zeitgenossen bekannt gewesen, aber in den Chroniken steht nichts dergleichen. Konzentriere dich auf das Wesentliche!« Der Tadel des Logiksektors traf mich nicht sehr hart. Von konzentrieren konnte kaum die Rede sein. Wir marschierten über verharschtes Land, eingehüllt in feuchtkalten Nebel. Ab und zu konnte ich das Krächzen von Brastern hören, weit entfernt und vom Nebel stark gedämpft. »Sie haben uns verloren«, sagte ich zu Dorstellarain. »Möglich«, knurrte der Hüne. Er maß fast zweihundertzwanzig Zentimeter, war aber keineswegs hager. Die Erdbewohner des Mittelalters hätten ihn wahrscheinlich für einen Riesen gehalten. »Wo stecken wir eigentlich?« wollte ich wissen.
12 Mir war alles andere als wohl in dieser Landschaft. Als Arkonide war ich an andere Temperaturen gewohnt. Zwar hatte ich Jahrhunderte der Anpassung an das irdische Klima aufzuweisen, aber selbst für terranische Verhältnisse war es lausig kalt und feucht obendrein. Der Clanoc gab einen Grunzlaut von sich. »Keine Ahnung«, präzisierte er ein wenig später. »Weiß nicht.« Diese Antwort behagte mir überhaupt nicht. Wir bewegten uns in einem vereisten, schneebedeckten Hügelgelände, das kaum eindeutige Fixierungspunkte aufzuweisen hatte. Ein Hügel sah aus wie der Zwillingsbruder seines Nachbarn. In dieser Landschaft konnten sich Armeen verirren, geschweige denn zwei Männer. Zudem war unsere Ausrüstung reichlich dürftig. Ich trug zwar das Goldene Vlies, und mein Zellaktivator sorgte dafür, daß meine Körperkräfte rasch regeneriert wurden, aber darüber hinaus war ich nur mit einem Messer bewaffnet, und das war nicht viel. Dorstellarain konnte seine beachtlichen Muskelkräfte in die Waagschale werfen, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam, er trug ebenfalls ein Messer und seinen Braster-Lenker. An einen Kampf dachte ich zur Zeit nicht, wohl aber an die Schwierigkeiten, die aus der Landschaft erwuchsen. Nahrung war weit und breit nicht zu sehen. Ich wußte aber aus Erfahrung, welchen Appetit Riesen vom Schlage eines Dorstellarain entwickeln konnten. Ich dachte an den Ertruser Melbar Kasom, dessen Gefräßigkeit so oft Zielscheibe bissiger Bemerkungen gewesen war. Gern hätte ich den zuverlässigen USO-Spezialisten an meiner Seite gehabt. »Und wo liegt Gynsaal?« Unter der dicken Fellkleidung war Dorstellarains Schulterzucken kaum zu erkennen. »Weiß nicht«, brummte er. »Irgendwo. Da draußen.« Er deutete auf das Land, über das feuchtkalte Nebelschleier wogten.
Peter Terrid »Hunger«, ließ sich der Clanoc vernehmen. »Machen wir eine Pause.« »Hast du etwas Eßbares dabei?« fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. »Wozu dann pausieren? Wir müssen uns beeilen, daß wir möglichst bald Gynsaal erreichen.« Dorstellarain grunzte mißmutig. Wir setzten unseren Marsch fort, der zwar ein Ziel hatte – aber keine Richtung. »Bist du schon oft hier gegangen?« fragte ich den Clanoc. »Nein«, sagte Dorstellarain. »Ich kenne mich nicht aus.« Ich hakte nach und hatte dabei das zweischneidige Vergnügen, feststellen zu müssen, daß sich der gute Dorstellarain nur sehr wenig in diesem Land auskannte. Er hatte auch keine präzisen Vorstellungen, wie es in anderen Bereichen der Dimensionsschleppe aussah, wie groß dieses Gebilde eigentlich war, wer sonst noch darin lebte. Der Horizont des Hünen war buchstäblich recht begrenzt. »Weiß nicht«, war seine Standardantwort, wenn ich ihn nach geographischen Details fragte. Dabei hatte ich alle Mühe, mit dem Hünen Schritt zu halten. Dorstellarain bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, als habe er Kräfte im Übermaß. Lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten können, das stand für mich fest. Dann begann jener Leistungsbereich, in dem ich dank des Zellaktivators der Überlegene war. Und dem schloß sich ein Zustand an, in dem wir beide zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Auch der Zellaktivator des Fiktivwesens war nicht in der Lage, aus Nebelschwaden Nahrung zu ziehen. Absoluten Nahrungsentzug konnte er nicht ausgleichen, das gleiche galt für Wasserentzug. Zwar gab es um uns herum Wasser die Fülle – aber dieses Wasser mußte erst aus Schnee und Eis geschmolzen werden. »Dort drüben«, knurrte Dorstellarain. Ihm behagte das alles ebenfalls nicht, wie seine Wortkargheit deutlich bewies. Ich spähte in die Richtung, die er mir wies. Zu sehen war dort nichts, was sich
Retter der Xacoren vom Standard der uns umgebenden Landschaft unterschieden hätte. »Was gibt es?« Der Wind riß mir die Worte von den Lippen. »Die Hügel werden flacher«, verkündete Dorstellarain. »Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.« Jedenfalls, so sagte ich mir, war dies ein Zeichen dafür, daß wir uns von unseren Verfolgern entfernt hatten. Seit geraumer Zeit war kein Brastergeschrei mehr erklungen. »Versuchen wir es«, schlug ich vor. Hinter dem Hügelkamm tauchte eine zweite Kette von Erhebungen auf, eine dritte und noch eine, und dann noch eine … zwar wurden die Hügel immer flacher, aber deswegen blieb das Gelände doch uneben, und es blieb auch kalt und feucht. Dorstellarain verlor bei diesem Marsch langsam, aber sicher an Geschwindigkeit. Meine Kräfte wurden durch den Zellaktivator erneuert, daher war ich dem Clanoc nun für ein paar Wegstunden körperlich überlegen. Unglücklicherweise hatte Dorstellarain davon etwas bemerkt. Er wollte diese Niederlage nicht einstecken und quälte sich vorwärts, wo er hätte pausieren müssen. »Halt«, sagte Dorstellarain plötzlich. Er hob eine Hand. Ich blieb stehen. Was hatte der Clanoc gesehen? Er war – wieder einmal, und völlig überflüssigerweise – einige Meter vorausgeeilt. Ich ging langsam auf ihn zu. »Merkst du es?« Ich sah mich um, roch und lauschte. Nichts. »Es wird wärmer«, verriet der Clanoc. »Deutlich wärmer sogar. Ich kann es ganz genau spüren. Spürst du nichts?« Ich zuckte mit den Schultern. Für den Clanoc waren vermutlich auch kleine Temperaturunterschiede wichtig, und daher vermochte er sie auch zu registrieren. Ich nahm keinen Temperaturanstieg wahr. Es blieb kalt und naß. Dorstellarain deutete auf eine Stelle am Horizont.
13 »Wir müssen dorthin«, sagte er. »Die Wärme kommt aus dieser Richtung.« »Liegt dort Gynsaal?« fragte ich. »Möglich«, antwortete der Clanoc und setzte sich in Bewegung. Ich stapfte hinter ihm her.
* »Das ist nicht Gynsaal«, sagte Dorstellarain. »Wenn nicht Gynsaal, was dann?« Wir lagen auf dem Bauch und spähten in die Tiefe. Tiefe war allerdings ein reichlich hochgegriffener Ausdruck. Wir blickten in eine Senke, und diese Vertiefung war bewohnt. Wir sahen eine kleine Stadt, terrassenförmig angelegt. Die Planer hatten dafür gesorgt, daß alle Straßenzüge sternförmig auf den Mittelpunkt der Stadt zu liefen. Von den Bewohnern dieser Stadt war nichts zu sehen. Und doch mußte es in der Stadt Leben geben. Anders ließ sich der Ort nicht erklären. Wir sahen ein weitverzweigtes Röhrensystem, dessen Sinn und Zweck ich nicht begriff. Ich sah nur, daß es in den Röhren etwas gab, das sich bewegte, vielleicht eine warme Flüssigkeit. Die Röhren mündeten in die Hänge der Senken – oder entsprangen sie dort? Dort, wo das Röhrensystem in den Boden hinein oder aus ihm herausführte, war der Boden frei. Eis und Schnee waren weggetaut. Das allein war für mich Grund genug, an Bewohner der Stadt zu glauben. »Poro-Gheloos«, stieß Dorstellarain hervor. Seinem Tonfall konnte ich entnehmen, daß er keineswegs begeistert war. »Kennst du den Ort? Warst du schon einmal hier?« »Bei allen Geistern, nein«, stieß Dorstellarain heftig hervor. »Ich habe diesen Ort noch nie gesehen.« »Woher kennst du dann seinen Namen?« »Er ist bekannt bei den Clanocs«, murmelte Dorstellarain. Wie gebannt starrte er
14 auf die Ansiedlung hinab. »Es heißt«, sagte er leise, »daß es inmitten dieser Landschaft eine Stadt gäbe, die Poro-Gheloos heißt. Dort geht es nicht mit rechten Dingen zu, heißt es.« »Wer genau hat das gesagt?« »Es heißt so«, beharrte Dorstellarain. Ich stand auf. »Dann laß uns gehen.« Der Clanoc wälzte sich auf den Rücken und sah zu mir hoch. »Es heißt, daß es in Poro-Gheloos nicht mit rechten Dingen zugeht«, sagte er langsam. »Es heißt aber auch, daß ein Mann, der lange gewandert ist, müde wird und der Nahrung bedarf. Hast du etwas zu essen dabei?« »Nein.« »Dann wirst du mich tragen müssen«, verkündete Dorstellarain breit grinsend. »Ich mag diesen Ort nicht, aber meinen Hunger mag ich noch viel weniger.« Mir wäre es lieber gewesen, hätten wir unseren Marsch fortsetzen können. Wenn dieser Ort wirklich Poro-Gheloos war – ich zweifelte eigentlich nicht an der Vermutung des Clanocs –, dann brachte uns der Ort voraussichtlich keinen Schritt weiter. Wenn wir etwas erreichen wollten, dann konnte nur Gynsaal unser Ziel sein. Aber ich sah ein, daß mit Dorstellarain nicht mehr viel anzufangen sein würde. Und ewig konnte ich diesen Marsch ohne Nahrung auch nicht ertragen. »Steh auf und bewege dich«, sagte ich. »Einverstanden. Wir versuchen, in der Stadt etwas Eßbares zu finden.« »Und etwas zu trinken«, hoffte der Clanoc, während er aufstand. Wir machten uns auf den Weg. Aus der Senke wehten uns angenehm laue Lüfte entgegen. Der Boden war nur wenige Meter hügelabwärts mit Schnee bedeckt, danach traten wir auf kurzes Gras oder Moos. Offenbar war dies dem Röhrensystem zu verdanken, das sich rings um die Stadt zog. Wahrscheinlich stand es mit dem Zentrum der Stadt in Verbindung. Dieses Zentrum
Peter Terrid war mir sofort ins Auge gesprungen. Es handelte sich dabei um ein Gebäude aus stumpfgrauem Material, etwa zwanzig bis dreißig Meter hoch, mit einem Durchmesser, den ich von meinem Standort aus auf etwa einhundert Meter schätzte. In diesen Block konnte man allerhand hineinbauen. Das Stadtzentrum erinnerte mich ein wenig an einen Fragmentraumer. Auch bei diesem Gebilde war keine exakte Struktur, kein Bauplan zu erkennen gewesen – jedenfalls nicht für menschliche Beobachter. »Das Gebilde ist ein Kristall«, informierte mich der Logiksektor mit einem kurzen Impuls. Ich staunte. Daß ein Kristall in dieser Größenordnung einfach so aus dem Boden wuchs, erschien mir mehr als unwahrscheinlich, zumal in der Umgebung der Stadt kein entsprechendes Material zu finden gewesen war. »Unter Schnee und Eis?« erkundigte sich der Extrasinn mit leisem Spott. Ich war mit diesem Gedanken stark beschäftigt, daher reagierte ich erst, als Dorstellarain einen erschreckten Ruf ausstieß. Ich sah auf. Schlagartig war die Stadt lebendig geworden, und nach mehr als zehntausend Jahren Kampf wußte ich sofort, was ich zu tun hatte. »Hinlegen!« rief ich Dorstellarain zu. Der hünenhafte Clanoc ging blitzartig zu Boden. Seine Hand glitt zum Gürtel, wo das Messer saß. Ich hielt ihn zurück, bevor er sich, den klassischen Berserkern gleich, ins Getümmel stürzen konnte. Jetzt ließ sich nicht mehr bezweifeln, daß es sich bei dem Gebilde im Zentrum von Poro-Gheloos um einen Kristall handelte. Das riesenhafte Gebilde wurde heller, begann von innen heraus zu strahlen. »Unfaßbar!« stieß Dorstellarain hervor. Der Kristall meldete sich nicht nur optisch. Er gab einen dumpfen, weithin hörbaren Ton von sich. »Bleibe in Deckung«, rief ich dem Clanoc
Retter der Xacoren zu. Dorstellarain machte keinerlei Anstalten, Poro-Gheloos im Alleingang zu erobern. Die Sache begann ihm unheimlich zu werden. Ich konnte den Clanoc gut verstehen. Was wir sahen, war alles andere als einladend. Der dumpfe Ton hing in der Luft, der Kristall wurde von Minute zu Minute heller und tauchte die Stadt Poro-Gheloos in helles Licht. Dann begann der Kristall zu pulsieren. Tonhöhe und Leuchtkraft des Kristalls veränderten sich regelmäßig. Als sei dies ein Zeichen gewesen, wurde es auf den Straßen der Stadt lebendig. Gestalten tauchten auf den Straßen und Gassen auf. Die Bewohner der Stadt unterschieden sich stark von Dorstellarain und mir. Es handelte sich um Insektenabkömmlinge. Ziemlich bald stellte sich heraus, daß sich das Insektenvolk in drei verschiedene Bevölkerungsgruppen aufteilte. Zwei Bevölkerungsgruppen waren annähernd gleichstark vertreten. Bei der einen Art handelte es sich um eher plump aussehende Insektoiden, etwa anderthalb Meter groß. Sie trugen dicke Panzer und seltsam anmutende Hauben mit Spiralen. Wozu Spiralen und Panzer dienten, blieb einstweilen ungeklärt. Fast zwei Meter groß, sehr schlank und fast durchsichtig war die zweite Spezies. Und ab und zu sah ich in dem Gewimmel auf den Straßen auch Wesen, die sich von der schlanken Art durch ein gut erkennbares Flügelpaar unterschieden. Aus der Art, in der diese Gruppen miteinander umgingen, ließ sich sehr bald folgern, in welchem Verhältnis sie zueinander standen – die gedrungenen Insektoiden stellen die männliche Spezies dar, die schlanken Exemplare waren wahrscheinlich Weibchen. Und in den Geflügelten vermutete ich Königinnen. Es sollte sich zeigen, daß ich mich nur unwesentlich geirrt hatte – unwesentlich, aber beinahe verhängnisvoll.
15
4. »Woher willst du das wissen?« fragte Wezzley erregt. »Bist du dabei gewesen?« Er konnte sich kaum mehr beherrschen, und die Droge, die verhinderte, daß er in Kälteerstarrung verfiel, tat ein übriges. Wezzley war außer sich. Er wußte, daß er in einer Zwickmühle steckte, die teuflischer kaum sein konnte. Allein die Kenntnis der Behauptungen der Häretiker mußte ihn schon den Kopf kosten. Die Gedankenpolizei würde niemals einen Scout herumlaufen lassen, der solche Schauermärchen zu erzählen wußte. Und wenn er sich den Häretikern anschloß, war ihm der Tod ebenfalls gewiß – früher oder später. »Es wird so berichtet«, sagte der Alte bedächtig. Wezzleys Attacke schien ihn ungerührt zulassen. »Merke auf …«
* Der Bewahrer verließ leise die Sterberäume der Königin. Es gab keinen Zweifel mehr, daß es mit Merkizza zu Ende ging. Sie phantasierte bereits. Auf der anderen Seite … Königinnen besaßen ganz bestimmte Fähigkeiten, eine Seele. Jedenfalls wurde die Gesamtheit aller Eigenschaften und Fähigkeiten einer Königin so genannt. Und zu den Seeleneigenschaften einer Königin gehörte auch, daß sie Dinge wahrnehmen konnte, die niemand sonst zu erkennen vermochte. Was also hatte Merkizza gesehen? Hatte sie geträumt, war sie Fieberträumen aufgesessen … oder waren ihre Behauptungen wahr, Ergebnisse ihrer besonderen Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit? Dies war ein Problem, dessen Lösung die Kräfte des Bewahrers überstieg. Er beschloß, die Worte der Königin einstweilen für sich zu behalten. Dennoch suchte er seinen Wohnbereich auf und fixierte die Aussage der sterbenden
16 Königin. Danach suchte er die Ratsversammlung wieder auf. Der Rat war vollständig, nur Dazzler-Phol fehlte. Der Bewahrer nahm es kaum zur Kenntnis. Wahrscheinlich hatte DazzlerPhol wieder mit seinen Beobachtungen zu tun. Der Bewahrer eröffnete die Versammlung mit einem energischen Trillern. Neugierde verbreitete sich im Raum; dann, als die niedergeschlagene Ausdünstung des Bewahrers nicht mehr zu vernachlässigen war, finstere Verzweiflung. »Die Königin weiß, daß sie stirbt«, sagte der Bewahrer dumpf. »Sie weiß es, sie weiß, daß auch ihr Volk sterben muß – und sie sieht keine Lösung.« Ein Ratsmitglied trat langsam vor. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht … es gibt so vieles heute, das es nicht gab, als ich noch ein Ei war. Vieles von dem, was wir früher mühsam selbst machen mußten, erledigen nunmehr Maschinen für uns. Wir hören das Getöse bei Tag und Nacht. Früher brauchten wir Augenmaß, um die Vorratszellen richtig zu bauen, heute fertigen wir sie nach einer Schablone. So vieles haben wir erreicht, vielleicht …« »Eine Maschine an Stelle der Königin?« Empörung wehte durch den Saal, durchsetzt mit Ekel – und Angst. Seit Tagen war der Angstgeruch in der Halle des Rates deutlich zu spüren gewesen. »Haben wir eine andere Wahl?« Der Bewahrer faltete die Witterer, eine Geste, die demütiges Sich-Fügen in den Beschluß des Schicksals ausdrücken sollte. Sie mißlang kläglich. Er war viel zu erregt, um die Geste mit der erforderlichen Ruhe durchführen zu können. »Wir müssen eine Lösung für dieses Problem finden«, rief ein Ratsmitglied laut in den Saal. »Wir müssen einfach – jeder von uns weiß, daß es sonst rasch mit unserem Volk zu Ende gehen wird. Ich weiß sehr wohl, daß der Vorschlag, die Seele der Königin verpflanzen zu wollen, verzweifelt ist – aber haben wir überhaupt noch eine Alter-
Peter Terrid native?« »Nein«, riefen einige andere Mitglieder des Rates. »Recht hat er! Wir müssen das Äußerste wagen!« Im Hintergrund des Ratssaals wurde es unruhig. Der Bewahrer hatte seine demutsvolle Haltung bis zu diesem Augenblick bewahrt. Jetzt sah er auf, erkannte die Ursache für die Aufregung. Seine Witterer vibrierten erregt. Dazzler-Phol war erschienen, umgeben von einer penetranten Ausdünstung nach Aufregung. Seine Witterer trillerten, als sei er berauscht. Der Bewahrer sah auf den ersten Blick, daß sich der junge Dazzler in einem psychischen Ausnahmezustand befand. »Ich bitte ums Wort«, rief er noch vom Eingang, bevor er auf seinem Platz angelangt war. Der Bewahrer witterte kurz und empfand Zustimmung. In dieser Lage würde der Rat nach jedem Strohhalm greifen. Dazzler-Phol drängte sich nach vorne. Er war außer sich. Niemals hätte er es sonst gewagt, die Stufen zur Empore hinaufzusteigen, die seit undenklicher Zeit nur dem Bewahrer vorbehalten war, Zeichen seines Ranges und seiner Würde. »Hört mich an«, rief Dazzler-Phol. Seine Erregungsausdünstung war so stark, daß der Bewahrer zur Seite treten mußte. »Sie sind gelandet. Sie wollen Kontakt mit uns aufnehmen.« Der Bewahrer spürte, wie die Erregung auch ihn befiel. Er konzentrierte sich, um das unkontrollierte Zucken seiner Witterer zu dämpfen. Wenigstens er mußte in dieser Schicksalsstunde Haltung bewahren. »Wer ist gelandet?« fragte der Bewahrer. »Die Fremden«, verkündete Dazzler-Phol. »Sie sind auf unserer Welt gelandet.« »Woher weißt du das?« fragte der Bewahrer. Er spürte, daß ihn die Angst befiel. Er mußte an die Äußerung der sterbenden Königin denken. Kamen die Fremden als Freunde? Oder stimmte, was Merkizza behauptet hatte, daß sie Feinde der Xacoren waren?
Retter der Xacoren »Hast du die Fremden gesehen?« Dazzler-Phol erstarrte. Er wand sich förmlich vor Verlegenheit. Seine Zuversicht war schlagartig geschwunden. »Gesehen habe ich sie nicht«, sagte er nun wesentlich ruhiger. Der Bewahrer merkte, daß er die Situation wieder in den Griff bekam. Er machte eine energische Geste. DazzlerPhol zuckte schuldbewußt zusammen und verließ langsam die Empore. »Gesehen habe ich die Fremden nicht«, sagte er gedämpft. »Aber ich habe eine Botschaft gefunden.« Wieder zuckten die Witterer des Bewahrers energisch. »Ruhe im Saal!« befahl er. »Sonst lasse ich die Sitzung schließen.« Der Lärm ebbte ab. Der Bewahrer sah, daß die Posten an den Eingängen ihre vorgeschriebenen Standorte verlassen hatten. Mit einigen kurzen Trillern scheuchte er sie zurück. »Trage vor, was du zu sagen hast«, sagte der Bewahrer. Im Saal war es sehr still geworden. Dazzler-Phol brachte einen Duftbrief zum Vorschein. Sofort verbreitete sich im Saal ein erregter Geruch. Wenig später wurde eine andere Komponente riechbar. Der Bewahrer wurde ganz ruhig. Er kannte die Gerüche, die Xacoren produzieren konnten, er kannte jede Schattierung, jede Nuance. Er verstand wie kein zweiter Xacore die vielfältigen Kombinationen von Geruchsäußerungen und Wittererpositionen zu deuten. Dieser Geruch, der auf seine Witterer wirkte, stammte nicht von einem Xacoren. Auf keinen Fall war dieser Geruch Produkt dieser Welt. Einzelne Komponenten waren unsagbar fremd in ihrer verwirrenden Vieldeutigkeit. Sofort stieg in dem Bewahrer der Verdacht auf, daß die geheimnisvollen Fremden – von deren Existenz er immer noch nicht zur Gänze überzeugt war – andere Kommunikationsorgane besitzen mußten als die Xacoren. Der Geruch, den sie ihrer Botschaft – Dazzler-Phol
17 hielt sie in die Höhe, damit jeder sie wittern konnte – als Grundgeruch mitgegeben hatte, deutete zwar auf Friedfertigkeit und Freundschaft hin, aber der Bewahrer, auf diesem Gebiet erfahrener als jeder andere im Rat, spürte deutlich, daß dieser Tenor aufgesetzt war. Der Freundschaftsgeruch war so penetrant, daß er fast schon Übelkeit erregte. Klar war, daß die Fremden die Geruchssprache der Xacoren beherrschten. Aber den feinen Witterern der erfahrenen Ratsmitglieder entging nicht, daß die Duftsprache merkwürdig gestelzt wirkte. Die Fremden sprachen zwar in Düften, aber dies war nicht ihre eigene Sprache. »Lies vor!« bestimmte der Bewahrer. Die Triumphhaltung von Dazzler-Phols Witterern mißfiel ihm; er hielt sie für verfrüht. »Xacoren«, begann die Botschaft. »Wir kommen in Frieden und Freundschaft. Wir grüßen euch …«
* »Na also«, begehrte Wezzley auf. »Das ist der gleiche Text, wie er gelehrt wird. Ihr braucht ihn nicht herzubeten, ich kenne ihn auswendig.« »Es ist der Text«, sagte Quazzlor gelassen. Ihn schien nichts aus der Ruhe bringen zu können. »Es ist Wort für Wort der Text, den du aus dem Unterricht kennst. Du kennst allerdings nur den Wortlaut, nicht den Geruch.« Wezzley trillerte wegwerfend. »Was gibt es da noch groß zu wittern«, sagte er abschätzig. »Außerdem, sprechen nicht die Tatsachen für sich selbst? Tatsachen, die nicht einmal ihr hinwegleugnen werdet – beispielsweise die Große Königin.« Quazzlor sah ihn verweisend an. »Höre weiter«, sagte er. »Wir kommen auf die Große Königin zu sprechen.«
* Der Bewahrer rührte sich nicht. Der Text der Botschaft war ihm gleich-
18 gültig. Es gab gewisse Situationen, in denen stets und überall das gleiche gesagt wurde. Ob es sich um Ansprachen anläßlich der ersten Eiablage handelte, um Festvorträge am Häutungsfest, um Demutsaddressen an die Königin – die Variationsmöglichkeiten bei solchen Texten waren immer sehr gering. Was sollten die Fremden anderes erzählen, als daß sie in Frieden und Freundschaft … und keinerlei böse Absichten … vom Guten durchdrungen … für dauerhafte Zusammenarbeit … unverbrüchliche Treue … Hilfe, wo immer möglich und nötig – es war das Standardgeschwätz. Die Fremden machten da keine Ausnahme. Die Botschaft troff von Gemeinplätzen. Hätte man jede floskelhafte Wendung aus dem Text gestrichen, wäre außer der Botschaft: »Hier sind wir, es gibt uns«, nichts mehr übriggeblieben. Dazzler-Phol las die Botschaft langsam und feierlich vor. Eine Wolke von Pathos lag über der Ratsversammlung. Einzig der Bewahrer dünstete neutral aus. Ihn langweilte der Text. Die Mehrheit der Ratsversammlung war ergriffen. Ihre Witterer hatten eine feierliche Haltung, die meisten hatten sich sogar von ihren Plätzen erhoben. Dazzler-Phol hüllte sich erriechbar in eine Aura kosmischer Größe. Lüge, dachte der Bewahrer. Es sind alles Lügen. Die Königin lügt nicht. Eine Königin lügt nie – täte sie es, wäre sie nicht königlich. Und eine sterbende Königin war vollends über jeden Zweifel erhaben. Was wollten die Fremden? Wieso war keiner von ihnen erschienen, sich den Xacoren vorzustellen. Einen Brief hatte man geschickt, eine ziemlich durchsichtige Grußbotschaft, stark parfümiert und eben deshalb unglaubwürdig. Dazzler-Phol ließ das Dokument sinken. Seine Witterer falteten sich ergriffen. Er fand sich selbst wundervoll. »Eine große Stunde für das Volk der Xacoren«, sagte Dazzler-Phol nach einer kurzen Pause. »Ein anderes Volk will Freundschaft mit uns schließen.«
Peter Terrid »Vielleicht können sie uns wirklich helfen«, ließ sich eine erregte Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. Ein zweites Mal mußte der Bewahrer die Torwachen mit Gesten auf ihre Positionen zurückscheuchen. »Es ist doch gleichgültig, ob sich die Fremden uns zeigen oder nicht. Hauptsache, daß sie eine Lösung für unser Problem finden.« »Sie finden eine«, dachte der Bewahrer. »Ganz bestimmt werden sie eine Lösung für unsere Probleme finden. Es wird eine Lösung sein, die vor allem ein Problem der Fremden löst.« Er wußte, daß dies die Schicksalsstunde der Xacoren war. Mit diesem Tag und dieser Stunde begann eine neue Epoche in der Geschichte des Volkes der Xacoren. Fraglich war nur, wie diese neue Epoche aussehen würde. An einem Übermaß an Glück hatten die Xacoren nie zu leiden gehabt. Ihre Geschichte hatte sich in sanften Wellenbewegungen auf und ab bewegt. Die Höhen waren nie triumphierend, die Tiefen nie katastrophal gewesen. Noch viele Jahrzehntausende hätten auf diese Weise vergehen können, ohne besondere Höhepunkte, aber auch ohne tiefgreifende Einschnitte – bis zum allmählichen Aussterben der Xacoren. Was würde die Zukunft für das Volk bringen? Der Bewahrer zögerte. Er wußte, daß man nur ihn anstarrte. Es war seine Aufgabe, die Beratung über die Botschaft der Fremden einzuleiten. An ihm war es, als erster das Wort zu ergreifen. Was sollte der Bewahrer sagen? Er wußte es nicht. Nur halb bei klarem Verstand spürte er die Ausdünstung der Ratlosigkeit, die seinem Körper entströmte. Diese Entscheidung überforderte ihn, ging weit über das hinaus, was er selbst als äußerste Grenze seiner Leistungsfähigkeit angesehen hätte. Auf der anderen Seite – hatte er überhaupt eine Alternative? Wenn es stimmte, was die sterbende Merkizza geäußert hatte – und der Bewahrer hat-
Retter der Xacoren te keine Ursache, an der Wahrhaftigkeit dieser Aussage zu zweifeln –, dann waren die Fremden verantwortlich für das Schicksal, das dem Volk der Xacoren drohte. Und die Fremden waren es dann auch gewesen, die die Vorräte an Königinnensaft vernichtet hatten. Wenn die Fremden so mächtig waren – wie konnten sich die Xacoren dann gegen sie zur Wehr setzen? Gab es überhaupt noch eine andere Möglichkeit als die, sich in den Ratschluß der Götter zu fügen, die das Volk der Xacoren in die Hände der mächtigen Fremden gegeben hatten? »Hast du mit den Fremden sprechen können, Dazzler?« Daß der Bewahrer auf den zweiten Teil des Namens verzichtete, ließ den jungen Xacoren freudig zittern. Er beeilte sich, die Frage zu beantworten. »Sprechen konnte ich nicht mit ihnen«, sagte er hastig. »Ich fand nur Spuren in der Nähe der Stadt, Spuren, die niemals von einem Xacoren gemacht worden sein konnten. Und dort fand ich auch die Botschaft.« »Mehr nicht?« Ernüchterung breitete sich aus. Spuren konnte man zur Not fälschen. Wer war schon in der Lage, zweifelsfrei nachzuweisen, daß solche Spuren nicht von Fremden aus dem Raum stammten? Beweise dieser Art waren in aller Regel nicht zu erbringen. »Genügt das nicht?« fragte Dazzler und hielt das Dokument in die Höhe. Seine Witterer trillerten aufgeregt. »Ich habe das Material untersucht. Es stammt ganz eindeutig nicht von unserer Welt.« »Woher willst du das wissen?« fragte der Bewahrer scharf. »Es handelt sich um ein Material, das wir nicht herstellen können«, sagte Dazzler. »Es besteht aus ineinander verflochtenen Fasern, ähnlich dem Papier, das wir benutzen – allerdings sind die Bestandteile dieses Papiers nicht natürlichen Ursprungs. Wir Xacoren können dieses papierähnliche Material jedenfalls nicht erzeugen.«
19 Der Bewahrer zögerte wieder. Seine Gedanken überschlugen sich. So sehr er sich auch drehte und wand, er fand keinen Ausweg aus dem Dilemma. Es gab keine andere Möglichkeit – die Xacoren mußten mit den Fremden Kontakt aufnehmen. Und in dieser Zwangslage erschien es dem Bewahrer ratsam, seine Informationen zurückzuhalten. Vielleicht half es, wenn die Fremden nicht sofort merkten, daß einzelne Xacoren von ihren finsteren Plänen wußten. »Ich schlage vor«, sagte der Bewahrer, »daß wir eine Botschaft an die Fremden aufsetzen.« »Eine Grußbotschaft!« »Einen Hilferuf!« »Ausgeschlossen«, ließ sich eine dritte Stimme vernehmen. »Wir können doch den Fremden nicht gleich beim ersten Kontakt als Bittsteller entgegentreten. Wie sieht das aus?« »Mag sein«, sagte der Bewahrer zu diesem Einwurf, »daß der Ruf der Xacoren darunter leiden wird, daß wir schon beim ersten Kontakt Hilferufe an die Fremden richten müssen. Auf der anderen Seite werden wir, wenn uns nicht schnellstens Hilfe zuteil wird, keine weiteren Kontakte mehr erleben.« »Recht hat er!« »Also ich werde mich nicht krümmen vor den Fremden. Höflichkeit ja, aber Unterwürfigkeit – niemals!« Der Bewahrer trillerte kurz und energisch. Ruhe kehrte in der Ratsversammlung ein. »Ich schlage vor«, sagte er zögernd, »daß wir in unserer Botschaft erklären, was wir für Sorgen haben. Daß es uns leid tut, wenn die Begegnung zweier verschiedener Rassen in diesem Universum sehr rasch ein Ende haben muß, weil eine dieser Rassen unmittelbar vor dem Aussterben steht.« Dazzler gab seine Zustimmung zuerkennen. Der Bewahrer sah sich um. Auch der Rat der Xacoren stimmte mehrheitlich zu. Bei einigen Ratsmitgliedern war deutlicher Widerwille zuerkennen. Der Bewahrer hatte dafür viel Verständnis. Die Xacoren waren
20
Peter Terrid
von jeher ein stolzes Volk gewesen, und diese Art der Kontaktaufnahme war alles andere als stolz zu nennen. Die Ratsmitglieder schienen allerdings einsichtig genug zu sein, diesen Stolz hintanzustellen. Vordringlich galt es, jede noch so kleine Chance zu wahren, das Weiterbestehen des Volkes zu sichern. Der Bewahrer gab dem jungen Dazzler ein Zeichen und begann damit, eine Antwort auf die Botschaft der Fremden zu diktieren. Die Xacoren mußten als Volk überleben. Das war der Imperativ, nach dem der Bewahrer handelte. Er ahnte aber, daß das kleine Volk der Xacoren für diese Überlebenschance einen hohen Preis würde zahlen müssen.
5. »Die Sache gefällt mir nicht«, stellte Dorstellarain kategorisch fest. »Aber dein Hunger ist geblieben?« fragte ich zurück. Der Clanoc gab nur ein Knurren von sich. Mir gefiel die Stadt auch nicht. Aus Erfahrung wußte ich, daß insektoide Völker ab und zu über Gedankenstrukturen verfügten, die selbst ein geschulter Verstand so ohne weiteres nicht nachzuvollziehen in der Lage war. Bei Insektoiden mußte man auf alles gefaßt sein. Außerdem hatte die Anwesenheit der Insektenabkömmlinge in der Dimensionsschleppe einen bestimmten Grund. Die Wesen, die die Dimensionsschleppe installiert hatten, waren auch für die Verpflanzung der Insektoiden verantwortlich zu machen. Es lag auf der Hand, daß diese Wesen in der Dimensionsschleppe nicht entstanden waren. Es gab also – aus der Sicht der Machthaber – einen Grund, aus dem die Insekten hier lebten. Diesen Grund kannte ich nicht – aber ich konnte mir einige Möglichkeiten zusammenreimen, von denen keine sehr angenehm war. Möglich war, daß die Insektoiden hierher verbannt worden waren. Sehr friedlich und
umgänglich würden die Insektoiden dann vermutlich nicht sein – friedfertige Wesen brauchte man in aller Regel nicht zu verbannen. Denkbar war auch, daß es sich um eine Spezies handelte, die das Leben und Treiben in der Dimensionsschleppe überwachen sollte. In diesem Fall würde mit ihnen nicht zu spaßen sein. Vor allem aber irritierte mich der Riesenkristall in der Mitte der Siedlung. Das gigantische Gebilde strahlte eine unübersehbare Gefahr aus. Der Kristall war mir nicht geheuer, und ich wußte aus zehntausendjähriger Erfahrung, daß ich mich in aller Regel auf meinen Riecher verlassen durfte. Die Insektoiden schienen völlig anderer Meinung zu sein. Für sie war ebenso unübersehbar der Kristall Mittelpunkt ihres Lebens. Immer wieder tauchten sie in Gruppen vor bestimmten Stellen des Kristalls auf und verfielen in erstarrte Haltungen. Wären es Roboter gewesen, hätte ich auf eine Art Ladevorgang geschlossen, so aber schien mir die Angelegenheit mehr religiöser Natur zu sein. Es hatte den Anschein, als beteten die Insekten den pulsierenden Riesenkristall an. Sie verharrten in der Regel einige Zeit regungslos vor dem Kristall, dann wandten sie sich ab und gingen ihren Arbeiten nach. Die leeren Plätze in der Nähe des Kristalls wurden sehr bald von anderen Insektoiden eingenommen, die dann ihrerseits in eine Art Gebetshaltung verfielen. »Wie lange wird das noch dauern?« Ich konnte die Frage des Clanocs beim besten Willen nicht beantworten. Der Extrasinn sagte mir, daß wir nun seit fast zehn Stunden in Deckung lagen, und ich konnte mir ausrechnen, was für ein Hunger in den Eingeweiden des Clanocs wühlte. Aber solange die Insekten in der Stadt herumwimmelten, wollte ich es nicht wagen, mich näher heranzuschleichen. Ein wenig hatten sich die Bedingungen für uns allerdings gebessert. Wir lagen gut versteckt in dem Gewirr von Röhren und
Retter der Xacoren Leitungen, das von der Stadt ausging und in den Hügeln rings um Poro-Gheloos mündete. Eine goldfarbene Flüssigkeit strömte in den Röhren. Sie war angenehm warm und hielt uns die Kälte der Umgebung vom Leibe. Was das betraf, konnten wir das Warten recht bequem ertragen. Gegen den Hunger allerdings, der sich immer stärker bemerkbar machte, war kein Kraut gewachsen. Dorstellarain gehörte nicht zu denen, die Hunger klaglos ertragen. Er stieß immer wieder ein hohles Jammern aus. Es half natürlich nichts. Wir hatten nichts Eßbares bei uns, und in der Stadt war es auch dem hungrigen Clanoc zu unheimlich. Ich wartete nur auf den Zeitpunkt, da der Hunger über die Angst triumphieren würde. »Nur noch wenige Stunden«, gab der Logiksektor durch. Bis dahin mußte ich etwas gefunden haben, mit dem sich der Hunger des Hünen stillen ließ. Gelang mir das nicht … nun, ich konnte nicht einmal sicher sein, daß er in seiner Gier nach Nahrung nicht begehrlich auf die Bewohner der Stadt zu schielen begann. Verwunderlich wäre es nicht gewesen. Auch die Hemmnisse dieser Art waren nicht mehr als eine Folge der Erziehung. Auf der Erde hatte ich da meine Erfahrungen sammeln können. Es kam immer wieder vor, daß Angehörige zweier verschiedener irdischer Völker mit fassungslosem Entsetzen die Mahlzeiten der anderen betrachten. Einem Europäer beispielsweise wäre es nicht eingefallen, etwa gebratene Schlangen zu essen. Oder gar – wie im Amazonasdschungel durchaus üblich – gesottenen Affen, denn Affe gekocht und enthäutet sah einem gegarten Kleinkind sehr ähnlich. Asiaten beispielsweise verstanden nicht, was die Europäer an verdorbener Milch so appetitlich fanden – dort war Käse unbekannt. Und in Notzeiten fielen Hemmschranken auf gastronomischem Gebiet vollends weg. Eßbar war – auf den Überlebensschulen der Solaren Flotte und bei der USO wurde dieser Leitsatz gepredigt – nahezu alles.
21 Frösche und Würmer, Schlangen und Eidechsen, Insekten und ihre Larven (australische Eingeborene schätzten besonders Engerlinge), Ratten, Katzen und Hunde. So betrachtet, erschien es mir durchaus normal, wenn Dorstellarain die insektoiden Bewohner der Stadt Poro-Gheloos mehr und mehr unter gastronomischen Gesichtspunkten zu betrachten begann. »Also …«, begann der Clanoc. Mir schwante, daß er einen Grundsatz zu verkünden gedachte. Und ich schätzte ihn als einen Mann ein, der einmal verkündeten Prinzipien treu blieb. »… ich warte noch eine Stunde, höchstens zwei«, erklärte Dorstellarain; sein Magen produzierte zu diesen Worten ein bedrohlich klingendes Knurren. »Danach marschiere ich los, und wenn ich die ganze Stadt auf den Kopf stellen muß!« »Einverstanden«, stimmte ich hastig zu. Uhren besaßen wir nicht, und im Zweifelsfall vertraute ich auf mein Verhandlungsgeschick. Ich hatte Springerpatriarchen beim Feilschen geschlagen und – was mehr zählte – in New York geborene Armenier mosaischen Bekenntnisses. Mit dem Clanoc würde ich es auch noch aufnehmen können. »Das ist mein letztes Wort«, verkündete Dorstellarain, als habe er meine Gedanken lesen können. »Wir werden sehen«, versprach ich. Auch mein Magen begann zu knurren.
* Der Scout machte eine verächtliche Geste. »Hirngespinste«, wehrte er ab. Sein Protest klang aber bei weitem nicht mehr so energisch wie zu Beginn. Die beständige Ruhe, in der Quazzlor seinen Bericht vortrug, verfehlte ihre Wirkung auf den Scout nicht. Langsam begann Wezzley zu glauben, daß vielleicht doch etwas Wahres an der Geschichte war. Er hatte sich praktizierende Häretiker immer ganz anders vorgestellt – wild, fanatisch und deutlich erkennbar geisteskrank. Quazzlor und die anderen mach-
22
Peter Terrid
ten einen Eindruck, der diesem Bild nachdrücklich widersprach. Mit Ruhe und würdevollem Ernst trugen sie ihren Standpunkt vor, so, als wären sie von der Wahrhaftigkeit ihrer Erzählung fest überzeugt.
* »Wir haben keinen der Fremden zu Gesicht bekommen«, sagte der Bewahrer. »Sie wollen sich uns nicht zeigen.« Merkizza gab einen leisen Klagelaut von sich. »Ich dachte es mir«, sagte sie schwach. »Vielleicht haben sie Angst vor uns.« Der Bewahrer machte eine Geste höchsten Erstaunens. »Vor den Xacoren?« Der Gedanke war einfach absurd. Früher einmal hatte es – ab und zu, und auch das nur gemäßigt – Auseinandersetzungen zwischen Xacoren gegeben. Aber für gewaltsame Handlungen waren die Xacoren einfach nicht geschaffen. Sie waren – und das wußten sie sehr genau – Randexistenzen der Schöpfung. Die Natur hatte zu etlichen ziemlich verwegenen Kniffen und Tricks ihre Zuflucht nehmen müssen, um den Bauplan der Insektoiden bis auf diesen Bereich ausdehnen zu können. Die xacorischen Wissenschaftler hatten längst herausgefunden, daß die Xacoren weit jenseits der Schwelle des Normalen angesiedelt waren. Normale Lebewesen der gleichen Bauart, wie sie die Xacoren besaßen, waren wesentlich kleiner und belastbarer. Körperlich waren die Xacoren Extremfälle. Wären die elastischen Bänder nicht gewesen, die die Chitinpanzerung unterstützten, die Xacoren wären unter dem Gewicht ihrer eigenen Leiber zusammengebrochen. Einen so gigantischen Körper konnte man auch mit der für Xacoroide üblichen Tracheenatmung längst nicht mehr ausreichend mit Atemluft versorgen. Auch hier hatte die Natur zu einem Kniff greifen müssen, um dieses Problem lösen zu können. Angst vor Xacoren? Es war wirklich ein Witz.
Der Bewahrer wußte, daß Urzeitforscher im Boden des Planeten Reste gefunden hatten. Es handelte sich um versteinerte Knochen von Wesen, die vor Jahrmillionen einmal auf diesem Planeten gelebt haben mußten. Es hatte sich um Warmblüter gehandelt, um Lungenatmer. Die Paläoxacorologen hatten behauptet, daß dieses Bauprinzip eigentlich dem xacorischen überlegen gewesen sei – aber trotzdem war diese Spezies ausgestorben. Die Xacoren hatten sich in der eigentlich gar nicht passenden ökologischen Nische festgeklammert und allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz überlebt. »Warum nicht«, sagte die Königin leise. »Wir haben noch keinen der Fremden gesehen. Woher wollen wir wissen, wie sie aussehen, welche Schwächen sie haben und welche Stärken.« »Wir werden es schon herausbekommen«, versprach der Bewahrer. »Ich habe niemandem etwas von dem Verdacht gesagt.« »Das war gut so«, flüsterte die Königin. »Nun setze deinen Bericht fort.« »Wir haben eine Botschaft verfaßt und sie dort abgelegt, wo Dazzler die Nachricht der Fremden gefunden hatte. Ich habe ihn übrigens rangerhöht, den jungen Dazzler.« Mit einer Geste gab die Königin nachträglich ihre Zustimmung. »Wir haben den Platz beobachten lassen«, fuhr der Bewahrer fort. »Aber unsere Wachen sind eingeschlafen. Alle. Mir ist die Sache ein Rätsel.« Merkizza produzierte eine Geste wehmütiger Resignation. »Auch die Wachen an den Tanks haben geschlafen«, erinnerte sie den Bewahrer. »Und auch zu mir sind die Fremden vorgedrungen, ohne daß jemand sie zu Gesicht bekommen hätte. Ich höre, fahre fort!« »Jedenfalls ist die Botschaft verschwunden. Die Fremden haben unsere Nachricht also bekommen.« »Gibt es schon eine Antwort?« »Ja«, sagte der Bewahrer. »Es gibt eine Antwort der Fremden.« Die Königin wartete. Sie wurde umweht
Retter der Xacoren von einem Geruch, der ihren nahen Tod verkündete. Merkwürdig dabei war, daß der Bewahrer trotz seiner empfindlichen Witterer nicht die leiseste Ausdünstung wahrnehmen konnte, die Wut, Haß oder Rachegefühle ausgedrückt hätte. Die Duftaura der sterbenden Königin verriet Demut und Ruhe und eine tiefe Niedergeschlagenheit. »Sprich«, sagte Merkizza. »Die Fremden«, sagte der Bewahrer sehr langsam, »sehen eine Möglichkeit, unserem Volk zu helfen.« Er unterbrach sich. Wie trug man einen solchen Vorschlag vor? Wie machte man der sterbenden Königin verständlich, was die Fremden forderten – denn um eine Forderung handelte es sich, um nichts sonst. Die Formulierung war dabei nebensächlich. »Sie sagen«, begann der Bewahrer, »daß es auch für sie keine Möglichkeit gebe, das Leben für alle Zeiten zu verlängern. Auch sie seien sterblich, und gegen den Tod vermöchten sie nichts. Dein Leben, Königin, sei nicht zu retten, nicht zu verlängern.« »Ich hatte nichts anderes erwartet«, sagte Merkizza ruhig. »Sie sagen aber«, setzte der Bewahrer die Botschaft fort, »daß es vielleicht eine Möglichkeit gebe, zumindest das Volk der Xacoren zu retten. Sie behaupten, es sei vielleicht möglich, die Seele der Königin … nun … zu verpflanzen.« Merkizzas Witterer vollführten eine Geste des Zweifels. Gleichzeitig war darin die Aufforderung an den Bewahrer enthalten, seine Worte zu erläutern. »Sie behaupten, sie könnten vielleicht die Eigenschaften einer Königin auf ein geheimnisvolles Material übertragen, eine Art Kristall. Wenn der Versuch gelingt, so sagen die Fremden, dann wären die Xacoren gerettet. Denn dieser Kristall sei ja nicht von Leben erfüllt, und wo kein Leben, da kein Tod.« »Ich höre die Botschaft«, sagte die Königin. »Aber ich zweifle.« »Sie behaupten, man könne auf diesen Kristall alle Eigenschaften einer Königin
23 übertragen«, behauptete der Bewahrer. »Und zwar für alle Zeiten, weil der Kristall nicht sterben könne. Das Leben der Xacoren könne weitergehen wie bisher.« Die Haltung der Witterer verriet die Stimmung der Königin in diesem Augenblick – niedergeschlagene Belustigung. »Und wo ist der Haken bei der Angelegenheit?« fragte sie. »Oder glaubst du an die Uneigennützigkeit der Fremden?« »Ich weiß es nicht, Königin«, sagte der Bewahrer. Seine Witterer verrieten einiges von der Verzweiflung, die den Xacoren erfüllte. All dies ging weit über seine Kräfte. Niemals hatte er sich träumen lassen, daß ausgerechnet er an Entscheidungen beteiligt sein würde, die über die Zukunft des ganzen Xacoren-Volkes bestimmen würden – Entscheidungen, deren Tragweite sich einstweilen noch nicht einmal in den Ansätzen ermessen ließen. Er fühlte eine Verantwortung auf seinen Schultern lasten, die jedes vorstellbare Maß überstieg. »Ich weiß nicht, was die Fremden wollen«, sagte er betrübt. »Sie meinen allerdings, daß unsere Welt nicht länger geeignet sei, Heimat der Xacoren zu sein. Sie schlagen vor, daß wir auswandern.« »Aha«, sagte die Königin. »Sie haben recht«, stieß der Bewahrer hervor. »Dies ist wirklich nicht länger der Planet, auf dem wir leben sollten. Ich finde das Argument der Fremden stichhaltig – wenn die Natur des Planeten so offenkundig den Untergang des Volkes beschlossen hat, dann sollte man nicht versuchen, dagegen anzukämpfen. Die Fremden haben uns eine neue, schönere Heimat versprochen. Außerdem – wir müßten ohnehin umsiedeln, denn es ist so, daß wir zu dem Kristall reisen müßten. Er wird, so sagen die Fremden, von geheimnisvollen kosmischen Strömen durchflossen, die nur an der Stelle wirksam sind, an der der Kristall steht.« »Humbug«, sagte Merkizza schwach. »Eine Falle, mehr ist dies nicht. Wie stellen sich die Fremden diesen Umzug vor?« Mit einer Wittererhaltung, die deutlich
24 seine Zweifel verrieten, sagte der Bewahrer: »Sie wollen unsere ganze Stadt, mit allen Gebäuden und allen Einwohner darin, auf einmal verpflanzen. Sie sagen, sie hätten die technischen Mittel dazu, dies zu bewerkstelligen.« Die Königin schwieg. »Laß mich allein«, sagte sie dann. »Ich will nachdenken.« Der Bewahrer faltete demütig die Witterer und entfernte sich lautlos. Die Königin blieb zurück. Was sollte sie tun? Die Entscheidung lag bei ihr, das war Tradition. Die Xacoren kannten es nicht anders, würden es anders nicht wollen. Sie mußte entscheiden, was zu tun war. Das Angebot der Fremden war Betrug. Sie wußte es. Man konnte sie nicht täuschen. Den Rat gewiß, den Bewahrer vielleicht, die Königin nimmer. Die Fremden hatten im Schutz ihrer überlegenen Technik die Tanks zerstört und der Königin Gift gegeben, das ihren Leib langsam zerfraß. Übel waren die Absichten und Pläne der Fremden. Und die Xacoren waren schwach und wehrlos. Es gab in diesem Augenblick nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte den Xacoren die Wahrheit sagen, ihnen die Augen öffnen. In diesem Fall gab es wieder zwei Möglichkeiten: entweder ging das Volk der Xacoren unter, schwach und wirkungslos, aber tapfer kämpfend – oder es ging sehenden Auges in die Sklaverei. Schwieg sie aber, dann blieb das Volk der Xacoren erhalten. Aber dafür war ein Preis zu zahlen. Sklaverei. Auf nichts anderes konnte das Angebot der Fremden hinauslaufen. Sklaverei. Offen oder versteckt, beschönigt oder brutal durchgesetzt. In jedem Fall Sklaverei. Unterdrückung. Gewaltherrschaft. Unfreiheit – und das für ein Volk, das in all seiner Schwäche die Freiheit so sehr liebte. Die Xacoren beugten sich freiwillig unter die
Peter Terrid Herrschaft ihrer Königinnen, und es hatte immer zu den Wesensmerkmalen der Königinnen gehört, daß sie ihre Herrschaft auf sanftes Lenken beschränkten. Sklaverei oder Untergang. Es gab keine Alternative. Hatte sie, die sterbende Königin, das Recht, diese Frage für ihr Volk zu entscheiden – allein zu entscheiden? Hatte sie das Recht, die Entscheidung zu treffen, die sie in diesem Augenblick für richtig hielt – für richtig, weil sie in anderen Dimensionen dachte als die meisten Xacoren? Durfte sie dem Plan der Fremden zustimmen, durfte sie ihr Volk in die Sklaverei locken – nur gestützt auf die vage Hoffnung, daß es eines fernen Tages vielleicht möglich sein würde, die Fesseln wieder loszuwerden? Durfte sie zehn, hundert, ja vielleicht Tausende Generationen von Xacoren der Sklaverei zuführen – damit dereinst wieder Xacoren frei und unbeschwert leben konnten. Durfte sie diesen Generationen den Preis aufbürden, den Preis für die nur erhoffte Zukunft in ferner Zeit? Oder sollte sie den anderen Weg gehen, den eines schnellen Untergangs des Volkes? Durfte sie den Schmerz auf die Jahrhunderte der Unterdrückung verteilen – oder war das rasche, grauenvolle Ende dem vorzuziehen. Die Königin trillerte kurz. Der Bewahrer erschien im Eingang. »Ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte die Königin. Der Bewahrer machte eine Demutsgeste. »Ich nehme das Angebot der Fremden an«, sagte die Königin. Sie beherrschte sich. Kein Wehgeruch drang an die Witterer des Bewahrers. »Du kannst die Entscheidung im Rat verkünden. Und dann, Bewahrer, bitte ich die Fremden um eine Gunst. Ich möchte, bevor ich sterbe, eine Probe jenes Kristalls sehen.« Der Bewahrer verriet ein wenig Erstaunen, dann verbeugte er sich wieder und verließ das Zimmer.
Retter der Xacoren
25
Das Zimmer einer Königin, die bald sterben mußte. Ermordet. Und in der Ungewißheit, ob dieser Raum – im übertragenen Sinn – nicht auch das Sterbezimmer ihres Volkes war.
6. »Und?« fragte Wezzley erregt. »Was ist aus der Sache geworden?« »Tritt näher«, sagte Quazzlor. Wezzley zögerte. Dann machte er einige Schritte auf den Alten zu. Quazzlor saß auf einer Truhe aus Stein. Als Wezzley näherkam, stand er auf. Mit kräftigen Bewegungen schob er die schwere Platte der Truhe zur Seite. »Komm näher«, forderte er Wezzley noch einmal auf. Der Scout machte langsame, zögernde Schritte. Aber er trat näher. »Was ist in der Truhe?« fragte er. Er wagte nicht zu fragen, ob Quazzlor vielleicht vorhatte, ihn in dieser Truhe zu begraben. In seiner Verwirrung rechnete er mit dem Schlimmsten. Quazzlor stand aufrecht. Wezzley bemerkte, daß seine verhärteten Witterer eine Demutshaltung einzunehmen versuchten. Wezzley beugte sich über den Rand der Truhe. »Der Kristall!« stieß er hervor. Es war unglaublich. Dies war – ein Irrtum war völlig ausgeschlossen – ein Teil der Großen Königin. Oder zumindest ein Stück Materie von ähnlicher Beschaffenheit wie der der Großen Königin. »Woher habt ihr das?« fragte Wezzley. Waren die Versammelten vielleicht sogar so verrückt gewesen, ein Stück von der Großen Königin zu rauben? Wezzley verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Es war allgemein bekannt, daß eine Beschädigung der Großen Königin ihren sofortigen Exitus zur Folge gehabt hätte. »Dies ist jene Kristallprobe, die damals vom Bewahrer zur sterbenden Königin gebracht wurde. Zu Merkizza, der letzten ech-
ten Königin des Xacoren-Volkes.« Wezzley protestierte nicht gegen diese Formulierung. »Darf ich …«, brachte er hervor, »… es anfassen?« »Du sollst sogar«, erwiderte der Alte. Er nahm sehr vorsichtig das Stück Kristall aus der Truhe, hielt es in die Höhe, und Wezzley konnte sehen, wie die Versammelten Demutshaltung annahmen. Der ganze Kult der Häretiker schien sich auf dieses Stück toter Materie zu konzentrieren. Wezzley wußte, daß all dies Unfug war, aber vermochte sich der feierlichen Stimmung nicht zu entziehen. Quazzlor legte das Kristallstück in Wezzleys ausgestreckte Hände. Im gleichen Augenblick, da Wezzley den Kristall berührte, zuckte er zusammen, als habe er einen elektrischen Schlag erhalten. Blitzartig durchfuhr ihn die Erkenntnis, daß alles, was Quazzlor gesagt hatte, auf Wahrheit beruhte. Er hielt den Beweis in Händen. Die sterbende Königin hatte diesen Kristall berührt. Vermögens ihrer besonderen Fähigkeiten hatte sie es fertiggebracht, diesem Material eine Botschaft aufzuprägen. »Die Fremden haben mich getötet«, sagte diese Nachricht. Die eigentümliche Schwingung, die Wezzley wahrnehmen konnte, bewies, daß der Text tatsächlich von einer Xacoren-Königin stammte. Diese Ausstrahlung ließ sich nicht fälschen. »Die Fremden haben die Königin der Xacoren getötet«, sagte die Botschaft. »Sie haben das Volk der Xacoren versklavt. Ich, Merkizza, letzte Königin des Xacoren-Volkes, werde bald sterben. Die Fremden werden den Xacoren, so sagen sie, eine neue Königin geben und eine neue Heimat. Ich traue den Fremden nicht, und ich rate jedem Xacoren, es mir gleichzutun. Ich bestimme, daß diese Nachricht aufgehoben werden soll, für alle Zeiten. Es soll immer wenigstens einige Xacoren geben, die die Wahrheit wissen – die ganze, fürchterliche Wahrheit: daß das Volk der Xacoren versklavt ist, versklavt von denen, die sich seine Freunde
26 nennen. Ich wünsche den folgenden Generationen, daß sie eines Tages die Ketten abstreifen können, daß sie wieder frei und glücklich leben werden.« Wezzley zitterte am ganzen Körper. Der Eindruck dieser Botschaft war überwältigend. Man konnte sich dem Bann nicht entziehen, denn jeder, der den Kristall zu halten bekam, wußte alsbald, daß diese Botschaft echt war. »Wie alt ist dieser Kristall?« fragte Wezzley. Sehr vorsichtig legte er den Kristall zurück in die Truhe. Plötzlich war er sehr stolz auf sich selbst. Er konnte sich ausrechnen, wie wertvoll der Kristall für die Verschwörer war. Er stellte ihr gewichtigstes Argument dar. Ohne den Kristall hätte sich die heimliche Gruppe niemals so lange halten können. Der Tag, an dem der Kristall zerbrach oder beschädigt wurde, war auch der letzte Tag für die Häretiker. Unersetzlich kostbar war der Kristall – und Quazzlor hatte ihm, dem Scout, Wezzley, den Kristall anvertraut. Einen Augenblick lang hatte das Schicksal der Gruppe in Wezzleys bebenden Händen gelegen. Erst jetzt wurde ihm klar, daß man ihm damit auch eine ungeheure Verantwortung aufgebürdet hatte. Nachträglich wurde ihm ein wenig übel. Vielleicht lag es aber auch an dem Medikament. »Das wissen wir nicht«, sagte Quazzlor. Er richtete sich zu voller Größe auf. »Wir wissen nur eines: daß dieser Kristall von der letzten Königin der Xacoren stammt, und daß Merkizza ihn dem damaligen Bewahrer anvertraute. Von diesem Tag an ging der Kristall von einem Bewahrer auf den Nachfolger über. Er stellt das größte Geheimnis der Xacoren dar.« »Und du, Quazzlor …?« »Ich bin in dieser Generation Bewahrer, und du wirst es sein für die nächste.« Wezzley erschrak und trat einige Schritte zurück. »Ich? Aber …«
Peter Terrid »Es ist dies mein Wille und Entschluß, und in der Geschichte der Xacoren ist es noch nicht vorgekommen, daß sich ein Bewahrer bei der Ernennung seines Nachfolgers geirrt hätte. Ein jeder von ihnen hat einen würdigen Platz eingenommen in der langen Reihe derer, die das Geheimnis der Xacoren bewahrten und behüteten.« »Ich fühle mich geehrt«, sagte Wezzley und spürte im gleichen Augenblick, das dies der mit Abstand dümmste Satz war, den er überhaupt sagen konnte. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihn hoffnungslos überfordert. »Ja, aber …« Quazzlor schnitt ihm das Wort ab. »Du wirst lernen, was du zu wissen haben wirst. Und es wird dir vorbehalten bleiben, das Volk der Xacoren zu befreien.« Er ist übergeschnappt, dachte Wezzley. Er ist verrückt geworden. Man sollte niemandem trauen, der mehr als sechs Eier gelegt hatte. Quazzlor machte eine feierliche Geste. Wieder nahmen die Versammelten Demutshaltung an. »Ihr könnt nun gehen«, sagte der Bewahrer nach einer kurzen Gebetspause. »Ich werde Wezzley einweihen und auf seine Aufgabe vorbereiten. Ich danke euch, daß ihr gekommen seid, um den künftigen Bewahrer willkommen zu heißen.« Nacheinander marschierten die Xacoren an den beiden Bewahrern vorbei. Wezzley fiel auf, daß man ihm entschieden weniger Respekt entgegenbrachte als dem scheidenden Bewahrer. Ihn wunderte das nicht. Im Grunde seines Herzens war ihm dies alles noch immer unheimlich. Am liebsten hätte er die ganze Angelegenheit vergessen. Die Xacoren waren von Hause aus keine Helden, und unter den Xacoren war Wezzley zweifelsohne einer der Ängstlichsten. Wie Quazzlor auf die Idee verfallen war, ausgerechnet auf einen so furchtsamen Xacoren die Last dieses Amtes zu laden, war Wezzley ein Rätsel. Der Alte wartete, bis der letzte Xacore
Retter der Xacoren den Raum verlassen hatte. Dann wandte er sich wieder Wezzley zu. »Komm«, sagte er einfach. Wezzley machte eine Gebärde der Ratlosigkeit, die der Alte nicht zu sehen schien. Quazzlor setzte sich in Bewegung, und dem jungen Scout blieb nichts anderes übrig, als Quazzlor zu folgen, wollte er nicht in einem Raum zurückbleiben, dessen Lage er nicht kannte. Und irgendwo draußen trieb sich die Geruchspolizei herum. Es war noch immer Schlafenszeit, und noch immer lagerte dichter Nebel über der Stadt. Man sah kaum die eigenen Füße. Wezzley zögerte zunächst, aber dann folgte er dem Alten. Er kam sich einsam vor, alleingelassen. Der Nebel bedrückte ihn, und ihn erschreckte, daß er noch immer nichts von der Wirkung der Kälte spürte. »Wohin gehen wir nun?« fragte Wezzley. Von Quazzlor kam keine Antwort. Ab und zu stieß er Wezzley an, um zu zeigen, daß er noch in der Nähe war. In einem Eingang blieben die beiden für kurze Zeit stehen, um eine Patrouille der Geruchspolizei passieren zu lassen. Die vier Wachen kamen mit klappernden Waffen so nahe an Wezzley vorbei, daß ihm von dem erbarmungslosen Geruch fast übel wurde. Und obwohl einer der Geruchspolizisten nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Wezzley berühren zu können, marschierte der Trupp an den beiden Xacoren vorbei. Für Quazzlor mochte der Vorgang normal sein, für Wezzley war er es nicht. Die Sache zerrte an seinen Nerven. »Weiter!« raunte der Alte, sobald die Patrouille vorbeimarschiert war. Er wartete, bis auch das letzte Geräusch verklungen war. »Wohin?« wollte Wezzley noch einmal wissen. Wenn ihn sein Richtungssinn nicht trog, dann marschierte Quazzlor noch weiter aus der Stadt heraus. Er tat gerade so, als ginge ihn das Verbot nichts an, daß jedem Xacoren untersagte, den Bannkreis der Stadt zu verlassen. Dieses Verbot war so alt wie die Stadt selbst, genauer gesagt, so alt wie die
27 Große Königin. Im Grunde war es nicht einmal ein Verbot – es war nur der schlichte Hinweis, daß jenseits der Stadtgrenzen kein Leben möglich war. Mehr hatte die Große Königin nicht gesagt. Allein die Tatsache, daß sie es den Xacoren selbst überließ, herauszufinden, wie ernstgemeint die Warnung war, hatte dazu geführt, daß das Verbot beachtet worden war. Die wenigen Ausnahmen waren in jedem Fall zu Katastrophen geraten. Nicht einmal die Geruchspolizisten vermochten sich außerhalb der Bannmeile zu bewegen – und das besagte vieles. »Ich gehe keinen Schritt weiter«, sagte Wezzley plötzlich. Er hörte, daß Quazzlor einfach weiterging. Warte, Alter, dachte Wezzley. Diesen Trick kenne ich. Du kannst mich hier nicht einfach alleinlassen, bis die Geruchspolizei mich findet. Früher oder später wirst du zu mir zurückkehren müssen. Und dann werde ich es sein, der die Anweisungen gibt. Bewahrer hin, Bewahrer her – ich habe keine Lust, Selbstmord zu begehen. Eine Zeitlang blieb es still. Wezzley hörte nichts. Jedes denkbare Geräusch wurde von dem Nebel sofort stark gedämpft. Wezzley probierte es einmal kurz, indem er halblaut rief. Es hörte sich an, als fräße der Nebel die Töne. Er war dicht und kalt und ebenso furchterregend wie undurchdringlich. »He!« rief Wezzley. Er bekam keine Antwort. Angst überfiel ihn. Der Alte würde doch wohl das kleine Psychomanöver durchschauen? Gewiß, es war nicht sehr anständig von Wezzley, den Älteren mit einem Trick unter Druck setzen zu wollen – aber das war schließlich kein Grund, Wezzley dem sicheren Tod auszuliefern. »Quazzlor!« Immer noch kam keine Antwort. Von den Hügeln herab strich ein kalter Wind durch die Straßen. Er drückte den Nebel noch tiefer hinab und fegte mit leisem Heulen durch leere Wohnhöhlen. Wezzley fühlte,
28 daß er erschauerte. Er wußte, daß Angst die Ursache war, nicht die Kälte, und das verdroß ihn. Das dumpfe Heulen des Windes kam ihm vor wie ein höhnischer Grabgesang. »Quazzlor!« Diesmal rief Wezzley lauter, selbst auf die Gefahr hin, die Geruchspolizei auf sich aufmerksam zu machen. Aber er bekam keine Antwort, weder von Quazzlor noch von den Polizisten. Wezzley verknotete sich fast die Witterer vor Angst. Aber er machte einige Schritte. Es gab keine andere Möglichkeit, wenn er nicht einfach stehenbleiben wollte und darauf warten, wie ihm geschah. Ab und zu rief er leise nach Quazzlor, aber der Alte antwortete nicht. Mit jedem Schritt schwoll die Furcht in dem Xacoren an. Er bewegte sich auf Gelände, das er nicht kannte. Diesen Stadtbezirk hatte er noch nie aufgesucht. Und in dem alles erstickenden Nebel war ohnehin nicht viel zu erkennen. Es reichte gerade, um nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Was Wezzley am meisten bedrückte, war der Umstand, daß er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Er wußte nicht, wie lange er schon unter der Wirkung der geheimnisvollen Droge stand. Vielleicht hörte die Wirkung in ein paar Minuten auf. Wezzley erinnerte sich, wie rasch die Wirkung eingesetzt hatte, und das verstärkte noch seine Beklemmung. »Komm her«, sagte plötzlich eine Stimme zu ihm. Wezzley blieb stehen, und er stieß einen erstickten Schrei aus, als jemand von hinten auf ihn auflief. Blitzartig fuhr er herum, die Hände abwehrend ausgestreckt. »Stell dich nicht so an«, sagte Quazzlor mit erkennbarer Verärgerung. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Zeit wofür?« »Das erkläre ich dir später«, antwortete der Alte. Er ging um Wezzley herum und setzte den Marsch fort. »Später«, schimpfte Wezzley und beeilte
Peter Terrid sich, den Anschluß nicht zu verlieren. »Später, immerzu heißt es später. Ich denke, ich bin der künftige Bewahrer. Warum erfahre ich nicht, was vorgeht?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte der Alte. »Nach rechts, und paß auf – es ist eine Station der Geruchspolizei in der Nähe.« Wezzley wurde schlagartig still. Insgeheim verwünschte er den Alten, der ganz offensichtlich nicht gewillt war, auch nur ein bißchen auf Wezzleys Gemütslage Rücksicht zu nehmen. Der Hinweis auf die Geruchspolizei war von gnadenloser Kälte. Es hatte fast den Anschein, als sei Quazzlor nicht damit zufrieden, daß Wezzley der neue Bewahrer sein sollte. Ein Unding, fiel dem jungen Xacoren gerade noch ein, denn es war der amtierende Bewahrer, der seinen Nachfolger bestimmte. Jedenfalls hatte Wezzley so die Rede des Alten gedeutet. »Nach links.« Wezzley hatte den ersten Schock überwunden. Er war zu der Einsicht gekommen, daß es offenbar völlig nutzlos war, etwas gegen Quazzlor und seine Entschlüsse zu unternehmen. Der Alte tat, was er wollte, und es scherte ihn nicht, wenn Wezzley anderer Meinung war. Was also blieb dem Jüngeren übrig, als den Anordnungen des Bewahrers zu gehorchen? Wezzley nahm sich vor, daß er später, wenn er sein Amt erst einmal angetreten hatte, ein ganz anderer Bewahrer werden wollte – freundlich, umgänglich und vor allem nicht so schrecklich zugeknöpft wie Quazzlor. Er hätte ein halbes Hundert Fragen stellen können, aber er spürte, daß er nicht eine einzige Antwort zu erhoffen hatte. »Vorsicht! Stufen!« Er redet mit mir wie mit einer Made, dachte Wezzley wütend. Als wäre ich noch nicht verpuppt. Wie kann man nur so hochnäsig sein. »Bereite dich auf einen Schock vor«, sagte Quazzlor plötzlich. Wenn Wezzley die Umgebung richtig interpretierte, dann hatte Quazzlor ihn zu einem weiteren verlassenen Gebäude am Stadtrand geführt. Jedenfalls sah Wezzley
Retter der Xacoren
29
Wände, deren Zustand verriet, daß diese Behausung schon vor langer Zeit verlassen worden war. »Schock?« sagte Wezzley. »Was für ein Schock?« Quazzlor blieb stehen. Er drehte sich um und sah Wezzley an. Schon vor Stunden – oder waren es nur wenige Minuten? – beim Anblick des Kristalls war Wezzley das Ehrfürchtige an Quazzlor aufgefallen. Nun machte der Bewahrer einen Eindruck, der kaum mehr zu beschreiben war. »Bereite dich darauf vor«, sagte er salbungsvoll, »vor eine Königin zu treten.« »Pah«, machte Wezzley. »Königinnenanwärterinnen, was ist das schon. Ich habe sogar mit einer …« Er begann plötzlich verlegen zu dünsten, merkte dies und wurde noch verlegener. Quazzlor starrte ihn fast schon böse an. »Ich rede nicht von Anwärterinnen. Ich rede von einer Königin, einer Schlafenden Königin.« Wezzley glaubte sich verhört zu haben. Aus einer schlafenden Königin ging eine richtige, leibhaftige, erwachsene Königin hervor. Seit Urzeiten, seit die ganze Stadt verpflanzt worden war, war keine Anwärterin mehr eingeschlafen – jedenfalls nicht in dieser hehren, übertragenen Bedeutung. »Heilige Wabe!« stieß Wezzley hervor. »Eine Schlafende Königin?« Quazzlor zuckte bejahend mit den Witterern, dann ging er weiter. Wezzley folgte, langsam, ehrfurchtsvoll, demütig … als er plötzlich einen gellenden Entsetzensschrei hört. Für einen kurzen Augenblick hielten sich Angst und Neugierde die Waage, dann siegte die Neugierde. Wezzley stürzte nach vorn, um zu sehen, was den Alten so erschreckt hatte. Was er sah, ließ auch ihn vor Entsetzen, Ekel und Grauen laut schreien.
7. »Also«, verkündete Dorstellarain ener-
gisch. »Ich gehe jetzt los, und wenn du mich zu hindern versuchst, dann werde ich meinen Braster-Lenker nehmen und ihn dir um den Hals schlingen …« »Keine Sorge«, wehrte ich ab. »Ich verstehe dich schon, ohne daß du mir deine Mordpläne so genau zu erklären brauchst.« »Dann laß uns gehen. Mich hungert.« Er stand auf. »Bleib in Deckung«, fauchte ich ihn an. »Nur noch einige wenige Minuten. Ich bin sicher …« Ich war es nicht. Ich log, daß sich die Balken bogen – das nahm ich jedenfalls an. Die Stadt indes strafte meine Lügen Lügen. Es gab noch einmal einen tiefen, weithin hallenden Ton, und dann erlosch der Kristall von einem Augenblick zum anderen. Im gleichen Augenblick begannen die Insekten damit, sich in ihre Unterkünfte zurückzuziehen. Offenbar war die Nacht hereingebrochen – zumindest für die Insektoiden. Uns konnte das nur recht sein. Dorstellarain starrte auf die Stadt, dann sah er mich an. Minutenlang pendelte sein Blick zwischen der Stadt und mir hin und her. Ich sah, daß ein Ausdruck von furchtsamer Hochachtung in seine Augen trat. Offenbar hielt er das schnelle Reagieren der Stadt auf meine Ankündigung für Zauberwerk. Ich zog den Brauen hoch und zuckte nachlässig mit den Schultern. Es konnte nichts schaden, den Clanoc ein wenig zu beeindrucken. Und wenn er sich mir trotz seiner enormen Muskelpakete weit unterlegen fühlte, konnte mir das nur lieb sein. »Also«, sagte nun ich, und ich sagte es hoheitsvoll. »Gehen wir!« Mit einer höflichen Handbewegung … wann hatte ich diesen Kratzfuß letztmalig ausgeführt? Zu Versailles, am Hofe des vierzehnten Ludwig, den man den Sonnenkönig genannt hatte. Wie lange war das her, und wieviel war seither geschehen? … Ich drängte die Erinnerungen zur Seite. Mit einer höflichen Handbewegung, wie ich schon sagte, lud ich den Clanoc ein, vor-
30 anzugehen. Er stierte mich einigermaßen verblüfft an, dann stapfte er voran. Fast tat es mir leid, den Barbaren veralbert zu haben. Woher sollte der arme, grobschlächtige Kerl wissen, wieviel mühevolles Training es kostete, bis man solche Bewegungsabläufe zur vollen Zufriedenheit eines königlichen Zeremonienmeisters beherrschte. Es wurde merklich kühler. Wie eine graue Wand schob sich der Nebel auf die Stadt zu. Er folgte uns auf den Fersen, und der Zeitpunkt war absehbar, da er uns eingeholt haben würde. »Hunger«, grollte der Clanoc. »Teufel auch, wann bekomme ich endlich etwas zu essen. Eines sage ich dir, Weißkopf. Wenn es nichts anderes gibt, dann schlage ich mir den Bauch mit dem voll, was sich gerade so findet – Hauptsache, man kann es essen. Auf Geschmack gebe ich dann wenig.« Er sah mich dabei mit einem Blick an, der nichts Gutes verhieß. Wieder wanderten meine Gedanken zurück an den Hof des Sonnenkönigs. Der arme Mensch hatte ebenfalls Ernährungsprobleme allererster Güte gehabt. Wirklich gut gespeist hatte er vermutlich nicht ein einziges Mal. Die Mahlzeiten waren in der Küche von Versailles zubereitet worden, und die lag von den Speiseräumen ziemlich weit entfernt. Serviert wurde – wie es sich für Könige gebührte – auf Gold- oder Silberplatten, den besten Wärmeleitern, die es überhaupt gab. Und wenn die Speisen nach diesem langen Weg noch warm gewesen sein mochten, dann verloren sie die letzte Wärme auf dem Umweg über den Vorkoster, der seinen königlichen Herren vor Giftanschlägen zu bewahren hatte. Allerdings waren die Tischmanieren des Sonnenkönigs besser gewesen als die Umgangsformen des Clanocs. Ein lautes Knurren meines eigenen Magens gab mir zu verstehen, daß dies ein denkbar unglücklicher Augenblick für kultursoziologische Essays war. Wir hatten gerade den Rand der Stadt er-
Peter Terrid reicht, als der Nebel uns einholte. Erleichtert stellte ich fest, daß er nicht so dicht war, wie ich auf den ersten Blick befürchtet hatte. Ich konnte meine Umgebung einigermaßen gut erkennen. Das gleiche galt für den Clanoc, der einfach geradeaus stapfte, auf der Suche nach einer Mahlzeit. »Nicht so hastig, alter Freund«, warnte ich ihn. »Wir müssen aufpassen, ob es hier Wachen gibt.« Der Clanoc winkte ab. »Die zerdrücke ich zwischen zwei Fingern.« »Es gibt in dieser Stadt genug Insekten, um uns nötigenfalls zu Tode zu trampeln. Auf die Zerbrechlichkeit der Einzelwesen kommt es dabei nicht so sehr an.« Der Clanoc knurrte etwas und setzte seinen Weg fort. Die Gebäude, die wir sehen konnten, waren sechseckig, und das ausnahmslos. In dieser Beziehung ähnelten die Insektoiden den irdischen Bienen. »Ich schlage vor, wir sehen uns erst einmal den großen Kristall an«, sagte ich. Dorstellarain blieb stehen, sah mich an und schüttelte den Kopf. »Hunger!« »Es wäre Dummheit, einfach so herumzurennen und nach Eßbarem zu suchen«, hielt ich ihm entgegen. »Wir müssen zunächst feststellen, was es mit dem Kristall auf sich hat. Andernfalls, lieber Freund, wirst du bald via Bifröst gen Walhall reiten, zu der ewigen Methalle, bei nimmer versiegendem Met und nie endendem Schweinebraten.« Das hätte ich besser nicht gesagt. Von der Brücke Bifröst hatte Dorstellarain nie etwas gehört, und Walhall war ihm ebenfalls unbekannt. Was er sich aber unter einem unerschöpflichen Schweinebraten vorzustellen hatte, das wußte der Clanoc mehr als genau. Ich konnte sehen, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. »Du hättest besser geschwiegen«, sagte nun auch der Extrasinn. »Vorwärts!« munterte ich Dorstellarain auf. »Auf den Kristall zu!«
Retter der Xacoren Er zögerte noch einen Augenblick lang, dann nickte er grollend, drehte sich wieder um und setzte seinen Vormarsch fort. Wir gingen durch verlassene Straßen. Nichts rührte sich, jedenfalls konnten wir nichts sehen. »Es gibt aber Wachen«, verriet der Extrasinn. »Sieh dich also vor!« Das hätte ich auch ohne den Impuls des Logiksektors getan. Mir war nichts ganz geheuer in dieser merkwürdigen Stadt, und um dieses Gefühl hervorzurufen, hätte es der Unkenrufe des Extrasinns nicht bedurft. Es war erschreckend zu sehen, daß auf das Zeichen des Kristalls hin fast alle Bewohner von Poro-Gheloos die Straßen verlassen hatten. Ich wußte, daß es bei Insektenvölkern andere Lebensbedingungen gab als bei Humanoiden, aber dieser Gehorsam war mir unheimlich. Ich begann zu ahnen, daß etwas faul war im Städtchen PoroGheloos. »Still!« Dorstellarain erstarrte. Ich hatte etwas gehört. Waffengeklapper, Stimmen. »Wir müssen uns verstecken!« Ich drückte mich in einen Hauseingang, Dorstellarain verschwand im Nachbargebäude. Eine Minute später konnte ich die Quelle der Geräusche erkennen. Eine Patrouille der Insektoiden. Die Wesen waren bewaffnet. Ich erkannte hölzerne Schleudern, die – wenn ich richtig tippte – Wachskugeln verschossen. Wer von einem solchen Geschoß getroffen wurde, fiel, wenn das Ziel der Kopf war, augenblicklich um. Diese Waffe konnte auch Dorstellarain und mir gefährlich werden. Und wir hatten dem wenig entgegenzusetzen. In einem verfärbten Pthora, offenbar auch in der Dimensionsschleppe Umgangs- und Verkehrssprache, unterhielten sich die Wachen. Ich konnte, dank der Hilfe des Logiksektors, die Unterhaltung verstehen. »Fürchterlich«, schimpfte eine der Wachen. Die Stimmen waren hoch und schrill.
31 »Man kann praktisch gar nichts mehr sehen.« Das erklärte, warum der Wachmann nicht längst seine Waffe auf mich angelegt und betätigt hatte. Denn die drei Insektoiden hatten sich ausgerechnet den Hauseingang ausgesucht, in dem ich stand, um dort eine kleine Pause einzulegen und ein Schwätzchen zu halten. Dabei mußten sie mich eigentlich gesehen haben. »Ihre Facettenaugen arbeiten in einem anderen Wellenbereich, der offenbar vom Nebel sehr stark gedämpft wird.« Dieser Kommentar des Logiksektors erklärte, warum man noch nicht auf mich geschossen hatte. Die Wachen unterhielten sich eine Zeitlang über stadtinternen Klatsch, von dem ich nichts verstand. Aber eines war ziemlich bald deutlich – es handelte sich bei den Wachen um männliche Individuen. Anders ließ sich das Geschwätz nicht interpretieren. Die drei hechelten ihre Frauengeschichten der letzten Tage und Wochen durch, prahlten und schnitten auf, daß es eine Art hatte. Nach einer Viertelstunde endlich zogen sie wieder ab, nicht ohne über den unerträglichen Gestank gewettert zu haben, der vom Stadtrand her in die Straßen gedrungen war. Ich hatte drei Minuten gebraucht, bis ich begriffen hatte, daß damit meine Körperausdünstungen und die des Clanocs gemeint waren. Aber die Wachen hatten es glücklicherweise vorgezogen, diesem Gestank nicht weiter nachzugehen, andernfalls hätten sie uns entdecken müssen. Ich atmete erleichtert auf, als die Wachen um eine Ecke bogen und außer Sichtweite kamen. Aus seinem Versteck schob sich Dorstellarain hervor. Er war böse. Offenbar bezog er die Bemerkung über schlechten Geruch hauptsächlich auf sich – nicht ganz zu Unrecht. Daß sich der Clanoc unter diesen Umständen beherrscht hatte, war ihm hoch anzurechnen. »Am liebsten …«, grollte der Hüne und sah auf seine Fäuste, mit denen er andeutete, was er mit den Wachen am liebsten veran-
32 staltet hatte. Ich war sicher, daß es tatsächlich nur eines Griffs bedurft hätte, um die Wachen zu töten. »Weiter!« drängte ich. »Wir wissen nicht, wie lange diese Schlafperiode anhält.« Wir machten uns wieder auf den Weg. Unser Ziel war nicht zu übersehen. Hoch ragte der Kristall in den Nebel über der Stadt. Seine Spitze war wegen des Dunstes nicht mehr zu erkennen. Jetzt, da die eigentümlichen Aktivitäten des Kristalls erloschen waren, sah er alles andere als beeindruckend aus. Er bestand, ich konnte es im Näherkommen erkennen, aus einem quarzähnlichen Material. Die äußeren Schichten waren ein wenig durchsichtig, aber kein Lichtstrahl war in der Lage, den Kristall in seiner ganzen Ausdehnung zu durchqueren. Wie es im Inneren aussah, ließ sich von außen also nicht feststellen. »Ist das Ding eßbar?« Ich beantwortete Dorstellarains Frage nicht. Langsam ging ich um den Kristall herum. Es war ein ungeheuer großes Gebilde – für einen natürlich gewachsenen Kristall entschieden zu groß. Mein Verdacht wuchs, daß hier mit technischen Mitteln nachgeholfen worden war. Zudem pflegten Kristalle nicht von sich aus zu leuchten, schon gar nicht nach einem festen Fahrplan. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, den Gipfel des Kristalls zu erreichen, aber auch bei mir machte sich der Hunger bemerkbar. Es war wirklich an der Zeit, etwas zu essen. Der arme Dorstellarain mußte wahre Qualen erleiden. Ich winkte ihn heran. »Wir werden in den Häusern nach Eßbarem suchen«, schlug ich ihm vor. Sein Gesicht strahlte. »Aber vorsichtig, wir wissen nicht, was in dieser Stadt vorgeht.« Dorstellarain nickte. »Ich werde vorsichtig sein«, versprach er. »Wenn ich Hunger habe, bin ich immer sehr vorsichtig.« Häuser, die wir durchsuchen konnten, gab es genug. Ich ging einfach auf die nächstbe-
Peter Terrid ste Behausung zu. Eine sechseckige Tür versperrte mir den Weg. Ich drückte vorsichtig dagegen, und die Tür schwang um die Mittelachse auf. Die Lücke war selbst für einen Hünen vom Ausmaß eines Dorstellarain groß genug. Im Innern war es nicht ganz so kalt wie draußen, aber doch kühl. Ich wußte, daß Insekten in der Regel stark temperaturabhängig waren. Wahrscheinlich traf das auch für dieses Volk zu. Irgendwie – ich konnte mir die Zusammenhänge nur einigermaßen vorstellen – waren der Kristall, das Vordringen des Nebels und die Schlafperiode der Insekten miteinander verknüpft. Was ich nicht wußte, war die Kausalität dieser Beziehung – welches Ereignis welche Folgen nach sich zog, ob die Insekten sich zur Ruhe legten, weil der Nebel kam und der Kristall erlosch. Oder ob der Nebel kam, weil der Kristall erlosch, und sich die Insektoiden deswegen zurückzogen. Im Innern der Wabe war es ruhig. Nur ab und zu hörte ich ein leises Fiepen. »Hier sind welche!« stieß Dorstellarain hervor. »Ich kann sie hören!« Ich legte einen Finger vor den Mund, bedeutete ihm, ruhig zu sein. Der Clanoc verstummte und machte ein schuldbewußtes Gesicht. Wir mußten nur einige Schritte machen, dann konnten wir die Bewohner der Stadt aus der Nähe sehen. Sie steckten in länglichen Waben, in denen sie keine große Bewegungsfreiheit hatten. Ich sah insgesamt sechs dieser Waben, jede war gefüllt. War Sechs die heilige Zahl der Insekten? Ich wußte es nicht. Die Wesen – es handelte sich ausnahmslos um männliche Individuen – bewegten sich ab und zu unruhig. Sie zitterten, bewegten leicht die Fühler, zuckten und gaben leise, fiepende Laute von sich. Es sah fast so aus, als träumten die Bewohner von PoroGheloos. Hatte auch das etwas mit dem Kristall zu tun? Mir fiel auf, daß die Köpfe der Schlafen-
Retter der Xacoren den auf den Kristall wiesen, und wenn ich mir die Verhältnisse in der Stadt vorstellte, dann ergab dieses Bild, daß alle schlafenden Insekten mit den Köpfen dem Kristall zugewandt lagen. »Wie Mohammedaner beim Beten«, murmelte ich. Ursprünglich hatten sich die Muselmanen beim Gebet an der Lage Jerusalems orientiert, erst später war die Richtung Mekkas für alle verbindlich geworden. Aber auch das war lange her – gewesen, vergessen, vergangen. »He!« flüsterte Dorstellarain im schönsten Bühnenflüstern – also entsetzlich laut. »Ich habe etwas gefunden?« Mit der Instinktsicherheit eines ausgehungerten Raubtiers hatte er Eßbares aufgetrieben. Es handelte sich um eine grünliche Masse, die in kleinen Eimern enthalten war. Das Zeug sah schlichtweg widerlich aus und ungenießbar. Indes steckte der Clanoc immer wieder seine Hand in die Masse, und führte sich eine Portion des Schleims nach der anderen zu Gemüt. Und sein Gesicht verriet, daß es ihm schmeckte. Ich wußte nicht, was von den gastrosophischen Ansichten des Clanocs zu halten war. Mit Haute Cuisine hatte der Schleim vermutlich nichts zu tun. »Hier, probiere einmal!« murmelte Dorstellarain schmatzend. Aus seinem Mundwinkel sickerte etwas von der unappetitlichen Masse in seinen Bart, und dieser Anblick genügte, um auch härteren Naturen den Magen umzudrehen. »Sei nicht albern!« kommentierte der Logiksektor. Der Clanoc hielt mir einen der Eimer entgegen. Ich nahm ihn an und hob ihn hoch, um daran zu riechen. Der Geruch paßte nicht zum Aussehen. Es roch süßlich, was sich in dem Eimer befand und so grauenvoll aussah. Es roch sogar sehr süßlich, ich dachte sofort an Honig. Ästhetik hin, Ästhetik her – wenn ich nicht verhungern wollte, mußte ich etwas es-
33 sen, und etwas anderes als die scheußliche Gallerte schien es in der Stadt nicht zu geben. Es war Honig, oder jedenfalls etwas Ähnliches. Das Zeug schmeckte recht gut, vor allem aber süß. Die Lippen klebten aneinander fest, so zuckerhaltig war die Masse. Der Eimer enthielt mehr als ein Kilo der grünlichen Masse, also mehr als genug, um meinen Kalorienbedarf zu decken. Ich war heilfroh, daß ich in diesem Augenblick mit dem Clanoc allein war. Was hätten meine Freunde und Gefährten, die Mitarbeiter der USO gesagt, hätten sie mich so vorgefunden: Auf dem Boden hockend, zusammen mit einem bärtigen, zottigen Barbaren, einen Eimer voll abgestandener Hydraulikflüssigkeit zwischen den Beinen und dazu vergnügt von dieser Masse schleckend wie ein naschhafter Schuljunge. Der Clanoc grinste über das ganze schleimbedeckte Gesicht. »Gut?« Ich nickte und schleckte weiter.
8. Es blieb ruhig – vorläufig. Dank der Ermahnungen des Extrasinns aß ich nicht mehr, als ich im Augenblick brauchte. Der Clanoc hingegen führte sich auf, als habe er seit Jahrzehnten nichts mehr zu essen bekommen. Er ließ nicht eher von seinem Eimer ab, bis er die grünliche Masse bis auf den letzten zähen Faden hinabgeschlungen hatte. Ich war sicher, daß er sich dabei überfressen hatte. »Uff!« machte Dorstellarain, als er beim besten Willen nichts mehr aus dem Eimer zutage fördern konnte. »Das war sehr gut. Vielleicht bleibe ich hier.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schläfer. Sie schienen noch immer zu träumen. »Ich weiß nicht, ob diese da mit deinem Wunsch übereinstimmen«, sagte ich. »Man wird sehen«, gab der Clanoc zu-
34 rück. Er reckte und streckte sich. »Übrigens bin ich müde.« Ich zuckte mit den Schultern. Glaubte er, ich hätte keinen Schlaf nötig? Allerdings hielt mich mein Zellaktivator auf den Beinen, und dagegen kamen selbst die Kräfte und die Ausdauer des Clanocs nicht an. »Ich werde mich irgendwo hinlegen und ein wenig schlafen«, gab Dorstellarain bekannt. Der Tonfall verriet, daß er nicht gewillt war, von diesem Entschluß abzugehen. Ich versuchte es gar nicht erst. »Ich bitte dich nur um eines«, sagte ich. »Suche dir einen Unterschlupf am Rand der Stadt. Vielleicht müssen wir uns fluchtartig absetzen, wenn die Insekten erwachen.« Dorstellarain überlegte eine Zeitlang, dann nickte er. »Ich mache mich gleich auf den Weg«, verkündete er halblaut. »Ich werde aufpassen, daß mich die Wachen nicht finden.« Er zögerte noch einen Augenblick, dann ging er noch einmal in die Vorratskammer und kehrte mit zwei gefüllten Schleimeimern zurück. »Für alle Fälle«, verkündete er grinsend. »Mir schmeckt das Zeug.« »Guten Appetit«, wünschte ich, als der Clanoc das Haus verließ. Er brauchte nur einige Schritte zu machen, dann hatte ihn der Nebel verschluckt. Ich sah ihm ein paar Augenblicke lang nach. Hoffentlich stellte der Hüne nichts an. »Wie willst du dergleichen verhindern«, fragte der Logiksektor mit der ihm eigenen Gedankenschärfe. Hatten eigentlich alle Arkoniden mit der ARK SUMMIA einen derart sarkastisch veranlagter Extrasinn? »Andere Sorgen hast du nicht?« erkundigte sich der Extrasinn. Ich wandte mich wieder den Insekten zu. Die Schläfer wälzten sich ab und zu von einer Seite auf die andere. Sie hatten große Facettenaugen, von denen man nie wußte, ob sie einen fixierten oder nicht. Das optische Prinzip, das hinter einer solchen Konstruktion steckte, war eben ganz anders als das eines menschlichen Auges. Es gab auch
Peter Terrid keine Lider, die die Augen im Schlaf hätten bedecken können. So mußte ich in der Wabe umhergehen mit dem sehr unangenehmen Gefühl, ständig angestarrt zu werden. Es gab Bilder – Gemälde und Photographien –, bei denen die dargestellte Person den Betrachter in jedem Winkel des Raumes anzusehen schien. Vorzugsweise Diktatoren ließen sich so photographieren. Es war ein ekliges Gefühl, sich in einem Raum mit so einem Bild zu befinden – und in meinem Fall wurde dieser Effekt dadurch verstärkt, daß mich zum einen sechs Augenpaare zu verfolgen schienen, und daß zum anderen diese Gesichter nichts Menschliches an sich hatten. Ich suchte eine ganze Zeitlang, aber ich fand nichts. Es gab kaum Mobiliar in der Wabe, nur die Schlafzellen, die Schleimeimer und einige technische Geräte, deren Sinn ich nicht begriff. Hier kam ich nicht weiter. Ich verließ die Wohnung, nicht ohne die sechseckige Tür wieder geschlossen zu haben. Ich wollte die Insektoiden nicht schädigen, und daß sie unter der Kälte zu leiden hatten, verriet die einfache Tatsache, daß ihre Schlafenszeit mit jener Periode zusammenfiel, in der die Kälte der Umgebung die Stadt in den Griff bekam. Ich ging wieder zu dem Kristall. Das Gebilde zog mich wie magisch an. Woher stammte der Kristall? Auf welcher Welt war er entstanden, wer hatte ihn hierher, in die Dimensionsschleppe gebracht? War er künstlich oder – mit etwas technischer Nachhilfe – natürlichen Ursprungs? Fragen über Fragen. Ich dachte an einen anderen Kristall, der uns erheblich zu schaffen gemacht hatte – den Kristallagenten aus Magellan. Gab es da irgendeinen Zusammenhang? Die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß es Verknüpfungen gab, die menschliche Phantasie weit hinter sich ließen. Kausalfäden waren geknüpft zwischen Räumen und Zeiten, die sich meiner Vorstellungskraft entzogen. Warum sollte dieser Kristall nicht von
Retter der Xacoren
35
ähnlicher Beschaffenheit sein …? Auf der anderen Seite war es – und das in jeder nur denkbaren Beziehung – sehr weit von der Dimensionsschleppe bis zur Magellanschen Wolke. Wie sollte die Verbindung also aussehen. »Eine Verbindung gibt es zweifelsfrei«, stellte der Logiksektor kühl fest. »Dich selbst.« Richtig, daran hatte ich gar nicht gedacht. Auf der anderen Seite war es mehr als unwahrscheinlich, daß es mehr als diese eine, zufällige Verknüpfung gab. Inzwischen hatte ich den Kristall einmal umkreist. Viel mehr als vorher hatte ich nicht zu sehen bekommen. »Was nun?« fragte ich mich selbst. In der beklemmenden Stille tat es gut, den Klang der eigenen Stimme zu hören. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, ein Stück aus dem Kristall herauszuschlagen. Ich zog mein Messer, steckte es dann aber wieder zurück. Vielleicht war der Kristall extrem hart, und dann lief ich Gefahr, mir mein Messer schartig zu schlagen, vielleicht gar zu zerstören. Und das Messer war meine einzige brauchbare Waffe, die ich unter keinen Umständen opfern wollte. Da mußte meine Neugierde schon zurückstehen. Ich kam nicht mehr dazu, weitere Überlegungen anzustellen. Der Kristall rührte sich wieder. Die Schlafperiode war beendet. Poro-Gheloos erwachte zu neuem Leben. Zu gefährlichem Leben.
* »Mistwetter!« schimpfte der Clanoc. Nicht, daß er Nebel und Regen, Kälte und Eis nicht gewohnt gewesen wäre, aber die Atmosphäre in der Stadt behagte Dorstellarain nicht. Es lag etwas in der Luft. Etwas Unschönes, Häßliches. Etwas Lebensgefährliches. Der Clanoc war satt, er war vollgefressen. Das machte ihn schläfrig. Obendrein begann
er zu spüren, daß er schon deshalb bald schlafen mußte, weil ihm von dem vielen Süßzeug übel zu werden begann. Unverdrossen stapfte der Clanoc durch die Straßen von Poro-Gheloos. Am liebsten wäre er einfach weitermarschiert, aber dazu, das wußte er, würden seine Kräfte nicht reichen. Er brauchte jetzt vor allem eines, Ruhe und Erholung, Schlaf. Dorstellarain wechselte die Lasten von einer Hand in die andere. Da er in jeder Hand einen Eimer trug, brachte ihm dieses Manöver gar nichts ein. Aber es half, ihn ein wenig zu beschäftigen, während er durch den Nebel stapfte. Die Wachen der Insekten hatte der Clanoc längst vergessen. Sollten sie nur kommen. Er wußte, daß er mit einem Zugriff seiner Pranken einem ausgewachsenen Bewohner der Stadt den Kopf zerquetschen konnte. Im Gürtel führte er eine scharfe Klinge, obendrein hatte er noch den Braster-Lenker. Auf der anderen Seite aber gefiel ihm die Luft nicht. Irgend etwas stimmte nicht mit dieser Stadt. Dorstellarain erinnerte sich nur ungern an die vielen Geschichten, die über Poro-Gheloos bei seinen Leuten kursierten – und das waren keine Geschichten mit gutem Ausgang. Poro-Gheloos war irgendwie verhext. In jedem Fall war die Stadt gefährlich. Der Clanoc blieb stehen und gähnte ausgiebig. Es wurde wirklich Zeit, daß er sich zur Ruhe legte. Mochte dieser Atlan nur weiter in der Stadt herumstöbern, was ihn, Dorstellarain, betraf, war jetzt Schlafenszeit. Der Clanoc suchte nach dem erstbesten Eingang. Zu seinem Vergnügen fand er eine Tür, hinter der ein Stollen begann, eine Röhre, die in den Untergrund hinabführte. Und in dieser Röhre war es warm, jedenfalls für die Verhältnisse der Dimensionsschleppe. Der Clanoc ging weiter. Er kam in einem Raum heraus, der außer einem langgestreckten Behälter mit sechseckigem Querschnitt nichts enthielt. Das Ding sah nicht sehr anheimelnd aus. Die
36
Peter Terrid
Wände der Sechskantröhre – sie lag langgestreckt auf dem Boden – waren sehr dünn, und der Clanoc konnte sehen, daß sich hinter diesen Wänden etwas bewegte. Dorstellarain setzte die beiden Eimer ab und ging zu der Röhre. »Hm«, machte er. Der Clanoc streckte eine Hand aus und klopfte an die Wandung des Behälters. Es hörte sich an, als wäre das Material zwar dünn, aber dafür um so stabiler. Kein Grund zur Sorge also. »Hm?« machte der Clanoc noch einmal, dann winkte er ab. Was auch immer in der Röhre steckte, einem ausgewachsenen Clanoc konnte es nicht gefährlich werden. Dorstellarain streckte sich auf dem Boden aus, und ein paar Augenblicke später war er fest eingeschlafen.
* Mir war, als hätte ich einen furchtbaren Schlag auf den Schädel bekommen. Oder am Vorabend an einem schauerlichen Besäufnis teilgenommen und nur wenig geschlafen. Ich war völlig benommen. Von einer Sekunde zur anderen war der Kristall erwacht, und das erste, was das Gebilde getan hatte, war mir zum Verhängnis geworden. Es hatte einen dumpfen, weithin hörbaren Ton von sich gegeben. Es hatte sich angehört, als wäre eine riesige, etwas beschädigte Glocke angeschlagen worden – und das in meiner unmittelbaren Nähe. Ich stöhnte leise auf, griff mir mit beiden Händen an den Kopf. Der Extrasinn rührte sich nicht. Hatte etwa auch das Zusatzorgan Schaden genommen? Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Es dröhnte und vibrierte in meinem Schädel, und vom Nacken aus rasten Schmerzwellen durch den ganzen Körper. Ich krümmte mich zusammen. »Weg von hier!« Der Impuls des Extrasinns war von einer
Stärke, die Alarmstufe I signalisierte. Ich drehte mich auf dem Absatz herum und machte einige taumelnde Schritte. Der Kristall war stärker als ich. Ich kam nicht weit. In mir tauchte der Gedanke auf, bei dem Kristall Schutz und Hilfe zu suchen. Zurück zum Kristall, so hieß der lautlose Befehl, der von meinem Verstand Besitz ergriff. »Lauf!« drängte der Extrasinn. »Lauf!« Ich schaffte es nicht. Schritt um Schritt wankte ich auf den Kristall zu. Das Gebilde hatte wieder zu leuchten begonnen. Von innen heraus kam das Licht, eine gleißende, kalte Strahlung. Sie wirkte unheilverkündend. Ich sah im Schwanken meine Hände. Sie hatten sich im Licht des Kristalls bläulich verfärbt, sahen abgestorben, beinahe verwest aus. »Zurück!« schrie der Extrasinn. Ich wankte weiter. Meine Hände berührten den Kristall. Ich stieß einen Seufzer aus. Schlagartig wurde mir etwas wohler. Woher kam dieses befremdliche, kalte Licht? Wo entstand es, wie wurde es erzeugt? »Prüfe das nach!« befahl mir der Logiksektor. »Überprüfe den Kristall, studiere ihn!« Mir kam nicht zum Bewußtsein, daß dieser Befehl des Extrasinns in krassem Widerspruch zu den drängenden Impulsen der letzten Minuten stand. Willig leistete ich der Anordnung Folge. Jetzt erst, da der Kristall von innen heraus leuchtete, sah ich die Fenster. Unregelmäßig geformte Stellen in der Außenhaut des Kristalls, die nicht strahlten. Ich tastete mich an der Wand des Kristalls entlang auf eines der Fenster zu. Ich sah hinein. Seltsame Gebilde tauchten vor meinen Augen auf, wabernde Strukturen aus undenklichen Fernen, allgemeine Farben überschlugen sich im jagenden Chaos, Wesen schwebten, Licht zuckte, Musik tanzte umher, und über allem lag der Duft der Ewigkeit mit betörender Süße. Ich spürte, das der Wahnsinn nach mir
Retter der Xacoren griff. Es waren Bilder und Informationen, die ich nicht begriff, für die es keine Übersetzungsmöglichkeit gab. Der Kristall wirkte auf mich ein. Er gab mir Befehle. Aber ich verstand diese Befehle nicht, ich konnte sie nicht befolgen. Unablässig stürmten die Impulse auf mich ein. Raum raste, Zeit zuckte, Leben lachte laut, das All entuferte im Nichts, durchströmt vom Puls der Materie. Das Chaos lachte grell, und das Nichts explodierte in glitzernden Kaskaden. Sterne starben strahlend. Wahnsinn! Ich schlug die Hände vor das Gesicht, konnte die Bilder nicht länger ertragen, die von bestürzender Eindringlichkeit waren und doch nur eines enthielten, den nackten Wahnsinn. In meinem Schädel wütete der Schmerz. Ich hörte das irre Kreischen des Extrasinns, der unter diesem Ansturm ebenfalls zerstört zu werden drohte. Es war keine Logik in den Bildern gewesen. Alpträume eines Irren hatte ich gesehen, aber diese Impulse waren mit unvorstellbarer Härte und Gewalt in mein Hirn hineingeschossen worden. Ich hatte dem nichts entgegenzusetzen, nicht das geringste. Der Kristall lockte und rief, aber ich war zu schwach, ihn aufzusuchen. Ich brach in die Knie, stürzte vornüber. Hart prallte meine Stirn auf den Boden. Wieder jagte der Schmerz durch meinen gemarterten Schädel. Ich streckte den linken Arm aus, bekam etwas zu fassen und zog daran. Das Etwas war fest, ich zog mich von dem Kristall fort. Der Schmerz ließ ein wenig nach, kaum spürbar, aber er ließ nach. Ich robbte weiter, gemartert von Bildern, die meinen Verstand zerrütten wollten. Ich hatte offenbar eine Grenze erreicht. Jetzt wurden die Bilder klarer, verständlicher, aber das nahm ihnen nichts von dem Grauen, das sie mir einflößten.
37 Offenbar reichten die Impulse des Kristalls jetzt nicht mehr aus, in mir die Bilder hervorzurufen, mit denen ich nicht das geringste anfangen konnte. Jetzt stachelten diese Impulse das Abgründige in meinem Gehirn an, und ein zweites Mal wurde ich mit Bildern überschwemmt. Aber diesmal kamen die Bilder aus mir selbst. Angst kroch aus allen Ritzen, Panik ritt Attacken gegen meinen Verstand. Erinnerungen zuckten in mir hoch, Bilder des Grauens, gesammelt in zehn Jahrtausenden menschlicher Geschichte, Bilder, die es in keinem Geschichtsbuch gab, weil zwischen der Tatsache und ihrer Reproduktion ein Abgrund lag, der mit keinem Mittel überwunden werden konnte. Kein Medium war in der Lage, die Symphonie des Grauens exakt wiederzugeben, deren Sätze überschrieben waren: Elend, Not, Qual und Tod. Hunger war nicht mehr als ein Wort mit sechs Buchstaben – wer ihn nicht selbst bis an den Rand des Grabes erlitten hatte, wußte nicht einmal näherungsweise, was das überhaupt war. Wer vermochte die entsetzlichen Szenen exakt, wirklichkeitsgetreu wiederzugeben, die sich in den Folterkellern der Inquisition abgespielt hatten? Welches Medium hätte es vermocht, den Geruch verbrennenden Harzes zu erzeugen, den des gerade erst vergossenen Blutes, den wahnwitzigen Todesschrei eines Menschen, dem vor wenigen Augenblicken bei lebendigem Leibe das warme, zuckende Herz herausgeschnitten worden war. Nur ein Instrument gab es, das all dies rekonstruieren konnte, mit jedem scheußlichen Detail – mein fotografisches Gedächtnis, und die Impulse des Kristalls spielten auf diesem Instrument mit satanischer Exaktheit. Ich war nicht einmal in der Lage, meinen Schmerz hinauszuschreien. Zu mehr als einem qualvollen Stöhnen brachte ich es nicht. Wie ein Automat bewegte ich mich. Ich robbte immer weiter. Ich hoffte, daß diese Qual ein Ende fand, wenn ich nur weit genug von dem teuflischen Kristall entfernt
38
Peter Terrid
war. Aus glasigen Augen heraus sah ich, daß der Nebel gewichen war. Gestalten tauchten vor mir auf. Die Bewohner der Stadt Poro-Gheloos. Ein wenig ließ der Schmerz nach. Ich hielt an und versuchte, auf die Beine zu kommen. Es gelang. Auf allen vieren kroch ich weiter. Mit langsam klarer werdendem Verstand nahm ich wahr, daß auch die Insekten taumelten. Offenbar hatte ich einen Alarm ausgelöst, der auch für die Bewohner von PoroGheloos völlig überraschend gekommen war. Aber die Insektoiden gewöhnten sich schneller an den Alarmzustand als ich. Als ich endlich wieder so weit hergestellt war, daß ich stehen konnte, waren sie bereits voll erwacht. Zu Dutzenden fielen sie über mich her. Ich stieß einen gellenden Schrei aus, der sie für einen Augenblick zurücktaumeln ließ. Dann begann ich um mein Leben zu laufen.
9. »Was ist das?« Quazzlor zitterte am ganzen Leib. Wezzley stand neben ihm, eingehüllt in einen penetranten Angstgeruch, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. »Ist das … die Königin?« Das Wesen auf dem Boden war die scheußlicheste Kreatur, die Wezzley jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ein Gebirge von einem Lebewesen, und dazu von einer abstoßenden Häßlichkeit, die ihresgleichen suchte. Quazzlor machte eine verneinende Geste. Er war wie gelähmt vor Angst und Entsetzen. »Nein«, stammelte er. »Nein.« Wezzley mußte sich gegen die Wand lehnen, um nicht umzufallen.
Das Wesen war offenbar krank. Es schlief, das war deutlich zu sehen. Vermutlich ein Heilschlaf, dachte Wezzley. Der ganze Körper des Wesens war mit Moosen und Flechten bewachsen. Überall saßen die Parasiten, und wahrscheinlich würde es das Wesen nicht mehr lange machen. Es verströmte einen Gestank … der Verwesungsgeruch war fast greifbar, so dicht und massiv war die Dunstwolke, die das Wesen umgab. »Weg!« Quazzlor stieß nur dieses eine Wort aus, dann wandte er sich um und lief davon. Wezzley erstarrte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, daß ausgerechnet der derzeitige Bewahrer die Flucht ergreifen würde. Ein feiner Bewahrer, seine Nachfolger in Angst und Schrecken versetzen, das konnte er. Dabei war er selbst ein ausgemachter Feigling. »Oh weh!« entfuhr es Wezzley. Er bebte vor Furcht. Was sollte er tun? Am liebsten wäre er weggelaufen und hätte sich in Sicherheit gebracht. Auf der anderen Seite aber … Flechten waren sehr gefährlich. Sie bedrohten die Brut der Xacoren. So betrachtet, stellte das kranke Wesen in der Höhle der Königin eine Gefahr ungeheuren Ausmaßes für die Xacoren dar. Und so feige ein einzelner Xacore auch sein mochte – wenn das ganze Volk bedroht war, wuchsen die Xacoren über sich selbst hinaus. So hieß es jedenfalls. Wezzley hatte indes noch nie gehört, daß es ein Xacore für nötig erachtet hätte, über sich selbst hinauszuwachsen. Es sah aus, als sei ausgerechnet Wezzley vom Schicksal dazu ausersehen, den Beweis für diese Behauptung anzutreten. »Oh Königin!« jammerte Wezzley. »Hilf mir!« Er steckte in einer scheußlichen Zwangslage. Weglaufen konnte er nicht, dafür war das Risiko zu groß, daß der Kranke oder die Kranke oder das Kranke – Wezzley war sich da nicht sicher, vielleicht war es auch eine
Retter der Xacoren bewegliche Pflanze – die Brut ansteckte. Womöglich wußte nicht einmal die Große Königin ein Mittel gegen solche Infektionen. Die Zukunft des Volkes lag damit auf Wezzleys Schultern. Er konnte – theoretisch – losrennen und die Geruchspolizei rufen. In diesem Fall würde zwar das kranke Wesen mit Sicherheit sterben, aber mit der gleichen Sicherheit würden die Geruchspolizisten auch den Scout Wezzley in die Große Wabe berufen. Und zu dieser Reise verspürte Wezzley noch keine Lust. Wenn er sich aber allein mit dem Fremden beschäftigte – er war wirklich monströs groß –, lief er Gefahr, daß es zu einem Kampf kam. Wenn er den Fremden nicht gleich beim ersten Mal tödlich erwischte, dann würde Wezzley es mit einem wütenden Monstrum zu tun haben, dessen Kräfte sich überhaupt nicht abschätzen ließen. Wezzley ging vorsichtig an den Fremden heran und streckte eine Hand nach ihm aus. Dem Scout wurde fast übel, als er die Weiche und Nachgiebigkeit des Fremden spürte. Der Körper hatte offenbar gar keine richtige, feste Haut. Es fühlte sich ekelerregend an. Zu Wezzleys Erleichterung blieb das Wesen liegen, obwohl er es angefaßt hatte. Neben dem Monstrum standen zwei Sammelgefäße. Wahrscheinlich waren sie für die Schlafende Königin in ihrer Kammer bestimmt. Wezzley dachte nach. Die scheußliche Kreatur lag unmittelbar neben der Schlafenden Königin. Wenn der Fremde der Königin kein Leid zugefügt hatte, zeigte das, daß er vielleicht doch gar nicht so gefährlich war. Wezzley sah sich noch einmal um. Quazzlor war und blieb verschwunden. »Alter Feigling«, murmelte Wezzley. Er nahm allen Mut zusammen, den er besaß, und fällte eine Entscheidung. Im Interesse des ganzen Volkes mußte die fremde Kreatur sterben. Sie mußte möglichst bald sterben. Wezzley konnte sehen, wie ein
39 Stück bräunliche Flechte sich auf dem Wesen bewegte. Wo mochte die verwundbare Stelle des Fremden sein? Wezzley umkreiste den Körper. Ihm war klar, daß er einen Fleck finden mußte, der nicht von Flechten, Moosen oder Pilzen übersät war. Wenn er seine Kieferzangen dort ansetzte, würde er nur von dem infizierenden Material etwas zwischen die Zangen bekommen, und daran konnte ihm naturgemäß nicht gelegen sein. Der größte Teil des Körpers war mit langfädigen Moosen bedeckt. An einem Ende wuchsen diese Moose besonders lang und wirr. Dort war zwar ein Stück Oberfläche zu erkennen – die Farbe allein verursachte bei Wezzley Übelkeit – aber Wezzley kam zu der Einsicht, daß dies nicht der richtige Angriffspunkt war. Am anderen Ende der Kreatur stand er dafür vor der Wahl zwischen zwei länglichen Gebilden, auf denen nur sehr schütterer Bewuchs zu finden war. Welchen dieser beiden Hautlappen sollte der Scout durchtrennen – in der Hoffnung, dem Monstrum damit ein für alle Male den Garaus gemacht zu haben. Wezzley zögerte noch einen Augenblick. Er erschrak, womöglich noch heftiger als beim Anblick des scheußlichen Fremden. Die Große Königin war erwacht. Sofort wußte Wezzley, was geschehen war. Dieser alberne Bewahrer war in seiner Angst wahrscheinlich geradewegs den Geruchspolizisten in die Arme gelaufen. Und bei den Verhörmethoden der Geruchspolizei war nicht anzunehmen, daß das Geheimnis der Häretiker gewahrt blieb. Quazzlor hatte geredet, und nun war Alarm ausgelöst worden. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ersten Truppen in diesem Viertel der Stadt auftauchten. Wezzleys Witterer zuckten und zappelten. Was nun? Wie sich retten? Erst mußte das Scheusal dran glauben, danach – was für ein Verbrechen! – die Schlafende Königin. Wezzley sah keine andere Wahl als diese. Es mußte so aussehen, als
40
Peter Terrid
habe das Monstrum die Königin ermordet – und als sei Wezzley der strahlende Retter. Es gab keine andere Möglichkeit. Wezzley holte tief Luft, dann fixierte er einen der beiden Hautlappen. Mit aller Kraft biß er zu.
* Ich lief wie besessen. Die Insekten folgten mir, offenbar geleitet von den Impulsen des Kristalls. Was war das für ein Gebilde, daß es diesem Volk Befehle geben konnte? Lebte der Kristall? Ich fand in dieser Lage natürlich keine Antwort auf meine Frage. Wären die Stadtbewohner nicht verwirrt gewesen von dem Alarm, hätten sie mich längst eingefangen gehabt. So aber stolperten sie über die eigenen Füße, purzelten durcheinander und hinderten sich gegenseitig. Sie benahmen sich – so absurd sich das in diesem Zusammenhang anhören mochte – wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Ich hätte mein Vergnügen an den Insektoiden haben können, aber mein Verstand sagte mir, daß diese Hetzjagd alles andere als spaßig gemeint war. Ich lief um mein Leben, und wenn sich hinter mir Szenen abspielten, wie man sie üblicherweise aus schlechten Filmkomödien kannte, dann konnte mir das nur lieb sein. Am gefährlichsten waren naturgemäß die Wachen in ihren Panzern. Ich schlug einen Haken und bog in eine Seitenstraße ein. Die Straße war leer – noch. Es hatte keinen Sinn, jetzt den alten Trick zu versuchen: den Unbeteiligten markieren, Schaufenster betrachten und die Meute an einem vorbeigaloppieren zu lassen. Es gab hier keine Schaufenster, und in der Menge verstecken konnte ich mich ebenfalls nicht. Wohl aber … Ich warf mich gegen eine Haustür. Sie gab sofort nach. Ich schlüpfte ins Innere und schob die Tür hastig wieder in ihre alte Lage zurück. Im Innern war es ruhig. Ich hastete die Treppe hinauf. Oben gab
es weitere Räume, für die ich mich aber nicht interessierte. Ich wollte auf das Dach. Eine Dachluke gab es nicht. Ich mußte mein Messer zu Hilfe nehmen und mir durch die Decke einen Weg in die Höhe bahnen. Zu meiner Erleichterung leistete das Dach wenig Widerstand. Ich brauchte zwei bange Minuten, dann hatte ich eine Öffnung gehackt, die groß genug war, um mich durchschlüpfen zu lassen. Ich sprang hoch, bekam die Kante zu fassen und zog mich daran in die Höhe. Die Decke bog sich zwar unter meinem Gewicht, aber sie hielt. Mit einem kräftigen Schwung beförderte ich mich auf das Dach. Es war eben, und ich streckte mich sofort darauf aus. Einige Meter entfernt, auf der Straße, tobte die Meute. Offenbar hatte man nicht mitbekommen, wohin ich mich verzogen hatte. Ich grinste ein wenig mühsam, weil ich mehr als genug damit zu tun hatte, nach Luft zu schnappen. Vorsichtig robbte ich auf dem Dach weiter. Es war nicht gerade die stabilste aller denkbaren Konstruktionen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Die Dächer der Stadt waren offensichtlich nicht dazu gedacht, daß irgend jemand darauf spazierenging. Entsprechend leicht waren sie konstruiert. Die Belastbarkeit reichte gerade aus, daß ich mich darauf bewegen konnte. Wenn ich verharrte, bog sich die Decke etwas unter mir durch, aber sie hielt auch das aus. Ich robbte quer über das Flachdach bis zur Straße. Unter mir war es ruhig. Ich versuchte, die Entfernung bis zur anderen Straßenseite zu schätzen. Für meine Fähigkeiten war die Entfernung beträchtlich, aber überwindbar. Ich ging etwas zurück, nahm Anlauf und sprang über die Straße hinweg auf das andere Dach. Dort warf ich mich sofort auf den Boden, zum einen, um nicht gesehen zu werden, zum anderen, um nicht einzubrechen. Die Insektoiden hatten mich nicht gese-
Retter der Xacoren hen. Es blieb auf der Straße ruhig. Doch meine Freude dauerte nicht lange. Offenbar hatte mich der Kristall gesehen, gewittert, gerochen – auf irgendeine Art und Weise schien er herausgefunden zu haben, wo ich steckte. Denn noch während ich auf dem Dach des Hauses lag und nach Luft rang, wurde es langsam unter mir lebendig. Straßenlärm wurde hörbar, und er verstärkte sich von Minute zu Minute. Im gleichen Maße, in dem ich wieder zu Atem kam, wurde die Situation unter mir bedrohlicher. Ich machte einen Versuch, schob den Kopf vorsichtig über die Brüstung. Im gleichen Augenblick zuckte ich wieder zurück, gerade noch rechtzeitig, um den Geschossen der Wachen zu entgehen. Gleich ein halbes Dutzend Wachsklumpen fegten an mir vorbei steil in die Höhe und plumpsten fünfzig Meter von mir entfernt auf ein Dach. Das verriet mir mehr als deutlich, welche Wucht hinter den Geschossen steckte. Ein Treffer würde voraussichtlich genügen, mich kampfunfähig zu machen. Und was mir blühte, wenn ich den Insektoiden lebend in die Hände fiel, wagte ich mir nicht erst auszumalen. »Fort von hier!« munterte mich der Extrasinn auf. Ich kam auf die Füße und rannte los. Was folgte, war ein Wettlauf über die Dächer von Poro-Gheloos. Ich rannte, so schnell ich konnte, übersprang Straßen, zickzackte über Gassen. Dabei gewann ich nur wenig Spielraum, denn mittlerweile war praktisch die ganze Stadt damit beschäftigt, Jagd auf mich zu machen. Wohin ich auch kam, überall warteten die Insektoiden bereits auf mich. Merkwürdig war allerdings, daß sich keines der Insektenwesen auf das Dach wagte. Solange ich auf den Dächern von PoroGheloos herumlief und nicht herabstürzte, war ich offenbar einigermaßen sicher vor meinen Verfolgern. Einigermaßen, das hieß, daß die Wachen nach einer halben Stunde zu der Taktik
41 übergingen, nicht mehr gezielt nach mir zu schießen, sondern vielmehr eine Art Trommelfeuer zu eröffnen. Sie schossen ihre Wachsklumpen in ballistischen Bahnen ab und hofften darauf, daß mir eines der Geschosse auf den Kopf fiel und mir so den Garaus machte. Eine Zeitlang amüsierte ich mich beinahe über die unbeholfenen Versuche, aber dann – vermutlich unter der Anleitung des Kristalls, der die Bevölkerung mit pulsierenden Klängen wach hielt – schossen sich die Wachen ein. Ein Klumpen landete knapp neben mir auf einem Dach, schlug ein Loch in die Decke, und es fehlte nicht viel, und ich wäre mit einem Bein in dem Loch hängengeblieben. »Du mußt aufpassen«, erinnerte mich der Logiksektor überflüssigerweise. Die Warnung kam einen Herzschlag zu spät. Das nächste Geschoß traf mich mitten im Sprung. Ich spürte, wie es zwischen meinen Schulterblättern einschlug und mich zur Seite warf. Ich streckte beide Arme aus, und es gelang mir gerade noch rechtzeitig, die Dachkante zu fassen. Der Schmerz war nicht sehr stark, aber er reichte aus, mich zu verwirren. Knapp fünf Meter unter mir sah ich das Pflaster der Straße – sechseckige Platten aus grauem Material – das aber sehr bald unsichtbar wurde, weil sich die Straße mit Jägern füllte. Wachen eilten im Geschwindschritt heran, die Waffen schußfertig. Ich hatte bereits ein Bein auf der Kante des Daches, als mich das zweite Geschoß traf – präzise in der Kniekehle. Ich konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Das Bein rutschte ab, und ich hing wieder an der Kante. Zwei Wachsklumpen verfehlten mich nur knapp, dann traf ein weiteres Geschoß mich an einer Stelle, die nicht eben der edelste Körperteil eines USOLordadmirals und Kristallprinzen war. Der folgende Treffer gab mir den Rest. Er traf mich am linken Schulterblatt, und der Schmerz war so stark, daß ich den Griff
42
Peter Terrid
lockern mußte. Ich geriet ins Schwingen, und dann spürte ich entsetzt, daß ich mich nicht länger halten konnte. Mit einem Schrei stürzte ich ab. Ich landete hart, war aber geistesgegenwärtig genug, mich abzurollen. Ob ich mir mit diesem Reflex einen Gefallen getan hatte, wußte ich nicht. Ich verhinderte damit zwar, daß ich mir das Genick brach, aber dafür hatten die Insektoiden anschließend wenig Mühe, mich Halbbetäubten zu fesseln. Sie zerrten mich in die Höhe und stießen mich vorwärts. Ich begann zu ahnen, daß es mir an den Kragen ging.
10. »Aahhh!« Dorstellarain schreckte auf, weil ein rasender Schmerz sein linkes Fußgelenk durchzuckte. Und als er die Augen öffnete, sah er auch die Ursache dieses Schmerzes – ein Rieseninsekt, das sich verzweifelt bemühte, das Gelenk mit seinen kräftigen Kiefern durchzubeißen. »Loslassen!« brüllte der Clanoc. »Laß sofort mein Bein los!« Der Poro-Ghelooser machte eine fahrige Bewegung und knabberte weiter. Seine Kiefer waren viel zu schwach, um die Knochen durchbeißen zu können, aber im Fleisch verursachten sie doch erhebliche Schmerzen. »Du mißratener Riesenkäfer!« tobte der Clanoc. Es handelte sich um ein Männchen, stellte er auf den ersten Blick fest. Die Fühler des Insekts waren fast verknotet und zitterten heftig. Und obwohl der Clanoc erwacht war und das mühsame Kneifen immer noch keinen Erfolg gezeitigt hatte, ließ der PoroGhelooser nicht von seinem Tun ab. Endlich wurde es dem Clanoc zu bunt. Er riß sein schmerzendes Bein dem Insekt aus den Kiefern und richtete sich auf. Mit einem Griff hatte er sein Messer in der Hand. »Niederträchtige Schabe!« knirschte der Clanoc. »Was fällt dir ein, mich zu beißen!«
»Oh weh!« jammerte das Insekt. Es wich zurück und wäre dabei fast über die merkwürdige Tonne gestolpert, in der es zuckte und wogte. Dorstellarain merkte, daß sein Gegenüber zur Zeit mehr von Angst geplagt, denn von Kampfesmut erfüllt wurde. Das milderte den Zorn des Hünen etwas, nicht aber den Schmerz in seinem Knöchel. Es handelte sich allerdings nur um eine Fleischwunde, und über solcherlei Blessuren pflegte ein rechter Clanoc nicht zu jammern. »Komm her, du beißfreudige Schlupfwespe!« fauchte Dorstellarain. Er bemerkte wohl, daß das Insekt Angst hatte, wollte sich aber wenigstens mit dem Mund für den erlittenen Schmerz revanchieren. »Ich zerdrücke dir den Kopf!« »Ugh!« machte das Insekt und versuchte, sich weiter von dem wütenden Clanocs zu entfernen. »Mit diesen meinen Händen werde ich dir deinen Schädel zerdrücken«, versprach der Clanoc. »Langsam, natürlich, ganz langsam!« »Ich bin der Bewahrer«, jammerte das Insekt, als helfe dies gegen das Zerdrücktwerden. »Noch«, verhieß der Clanoc grimmig. Er grinste diabolisch, in der Hoffnung, sein Gegenüber wisse die Mimik zu deuten. Von dem Insekt ging ein eigentümlicher, angenehmer Duft aus, der Dorstellarain milde zu stimmen begann. Er steckte das Messer in den Gürtel zurück und griff nach dem Braster-Lenker. Wenigstens fesseln wollte der seinen Gegner, bevor der an der Halsschlagader eine weitere Beißübung veranstaltete. Der Poro-Gheloos erzitterte am ganzen Leibe, als der Clanoc nach ihm griff und auf die Beine stellte. »Nicht töten!« fiepte er. Das Pthora war gerade noch verständlich. Dorstellarain verzog das Gesicht. »Sei still, ich bringe dich nicht um!« Er begann den zitternden, bebenden und jammernden Gegner zu fesseln, als er draußen Lärm hörte. Es hörte sich an, als wälze
Retter der Xacoren
43
sich eine riesige Menge vorbei. »Du bleibst hier!« befahl er dem Insekt. »Wehe, wenn du dich rührst. Ich reiße dir jedes Bein einzeln aus!« Mit diesen Worten stürmte der Clanoc davon. Er erreichte die Außenwelt sehr bald, und er kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine riesige Insektenmenge einen Gefangenen vorbeizerrte und – stieß. »Atlan!« stieß der Clanoc entgeistert hervor. Im ersten Augenblick fühlte er sich versucht, einfach loszustürmen, um den Gefährten zu befreien, dreinzufahren wie ein Gewittersturm. Angesichts der Größe und Kraft des Clanocs hätte dieses Vorgehen sogar Aussicht auf Erfolg gehabt – allerdings nur auf kurze Sicht. Früher oder später hätte selbst der hünenhafte Clanoc der gewaltigen Übermacht erliegen müssen. Dorstellarain beschränkte sich darauf, festzustellen, wohin man Atlan verschleppen wollte, dann kehrte er in die Höhle zurück.
* Dort hatte sich unterdessen einiges getan. Mit erheblich besserem Erfolg als an Dorstellarains Bein hatte sich das Insekt damit beschäftigt, auf dem Braster-Lenker herumzukauen. In Stücken lag der Lenker auf dem Boden, und Dorstellarain hätte vor Wut am liebsten laut geheult. Nutzlos, wertlos, zerstört das gute Stück. Der Clanoc wollte nach dem Insekt greifen, aber er verharrte. Der Bewahrer – wie er sich selbst genannt hatte – stand vor dem sechseckigen Kasten, den Dorstellarain in der Höhle gefunden hatte. Und er nahm die gleiche Haltung ein, die der Clanoc vor Stunden bei der andächtig lauschenden Menge in der Nähe des Kristalls gesehen hatte. Es sah aus, als bete er den Körper an. »Erst ein Kristall und jetzt dieses Ding«, knurrte der Clanoc. Er scheute sich, das Insekt zu packen und
ein wenig zu schütteln – nicht sehr heftig, nur genug, um den Flatterer ein wenig plaudersam zu machen. Aber selbst ein rüpelhafter Clanoc bekam es ein wenig mit der Angst zu tun, wenn höhere Mächte im Spiele waren. Was der Bewahrer – was bei allen Geistern der Ebene wurde von dem Insekt bewahrt? – tat, sah nach einem Kontakt mit höheren Mächten aus, mit denen sich Dorstellarain nicht anlegen wollte. »He, du!« Das Insekt reagierte auf diesen Anruf nicht. Aus seinem Mund kamen Laute, die der Clanoc nicht zu deuten vermochte. Dann aber sah der Clanoc etwas, das ihm die struppigen Haare aufrichtete und Angstschauer über seinen Körper jagte. Die Verehrung des Insekts galt ganz offensichtlich dem komischen Behälter, in dem sich etwas bewegte. Jetzt erst kam der Clanoc auf den Gedanken, daß es sich bei einem Behältnis für Lebewesen häufig um einen Sarg handelte. Nahm der Flatterer etwa Kontakt auf zu Toten …? Oder … Dorstellarain wurde fahl. Richtig, in dem Kasten hatte sich ja etwas bewegt. War der Tote vielleicht gar nicht tot … … oder gar nicht mehr? »Heiliger Nebel!« stieß der Clanoc hervor. Der Sarg öffnete sich, und dann …
* Nein, noch hatte ich mit meinem Leben nicht abgeschlossen. Schon oft hatte ich auf Sensenmanns Schippe Hornpipe getanzt und war wieder heruntergehüpft. Ich mußte mir aber eingestehen, daß meine Aussicht alles andere als günstig waren. Ich konnte kein Glied mehr rühren, und wenn es nach dem Willen meiner Wächter ging, würde ich bald auch ohne Fesseln steif und starr sein. Ich sollte geopfert werden.
44 Ich war ausersehen, geopfert zu werden – jener Gottheit, die ich offenbar dadurch beleidigt hatte, daß ich sie berührt hatte. Ich sollte dem Kristall als Opfer dargebracht werden. Vor mir lag ein sechseckiger Kasten mit offenem Deckel auf dem Boden. In dem Kristall, an seinem Fuß, klaffte eine Öffnung. Man brauchte kein besonders gutes Augenmaß für die Beobachtung, daß der Kasten präzise in dieses Loch hineinpaßte. Ich war an Händen und Füßen gefesselt, stand aber noch aufrecht. Ein Teil der Bewohner der Stadt Poro-Gheloos schien es kaum abwarten zu können, bis ich starb. Andere betrachteten mich wie ein exotisches Tier, eine Rolle, die mir ebenfalls nicht gefiel. Unterdessen schleppten einige Dutzend Insektoiden Wachs heran, warmes Wachs. Ich begann zu ahnen, was man mit mir vorhatte. Sie würden mich in den Kasten zwängen, danach würden sie ihn mit heißem Wachs füllen. War ich erst einmal tot, oder so gut wie tot, wurde ich dann in dem Kasten dem Kristall einverleibt. Ich verstand von solchen Prozeduren genug, um zu wissen, daß ich in dem Wachs nicht sehr rasch ersticken würde. Viel eher würde ich lebend in den Kristall eingeführt, damit mich das Gebilde untersuchen und psychisch ausplündern konnte. Das Wachs sollte vielleicht nur dafür sorgen, daß ich mich nicht bewegen konnte. Meine Ahnung hatte mich nicht getrogen. Sie packten mich und hoben mich an. Zehn Insekten schleppten meinen Sarg heran. Ich konnte mich nicht rühren, hilflos mußte ich erdulden, daß sie mich in den Sarg legten. Genauer gesagt: Sie ließen mich langsam in den Behälter hineingleiten. Ich stellte fest, daß er zu kurz war, um mich zur Gänze aufnehmen zu können. Mein Kopf ragte über den Rand hinweg. Ich konnte die Menge sehen. Die Facettenaugen schienen ausdruckslos, aber ich glaubte, so etwas wie Erwartung erkennen zu können. Die Menge genoß das Schauspiel, das mit mir vollzogen
Peter Terrid wurde. Eine Leiter auf Rollen wurde an mich herangefahren. Einer der Stadtbewohner nahm einen Eimer mit heißem Wachs, kletterte an der Leiter in die Höhe und schüttete den Behälter aus. Das heiße Wachs lief an der Wand entlang und sammelte sich zu meinen Füßen. Die Opferung nahm ihren Anfang. Ein Insekt nach dem anderen erschien und lud seine Last in dem sechskantigen Behälter ab. Das Wachs erreichte meine Knöchel. Es war heiß, unangenehm heiß, aber nicht schmerzhaft. Ich würde es noch eine ganze Weile aushalten können. Das war wohl auch die Absicht bei dieser Prozedur. Sie sollte dauern, damit das Publikum etwas davon hatte. Ich konnte nichts, aber auch gar nichts tun. Ich war derart stramm gefesselt, daß ich gerade die Finger bewegen konnte, nicht mehr. Das einzige, was mir in dieser Lage verblieb, war das Bemühen, einigermaßen gefaßt zu erscheinen. Ich hatte vergleichbare Situationen auf der Erde erlebt, damals war es mir gelungen, Haltung zu bewahren – bis zu meiner Rettung. Der Unterschied war nur, daß es jetzt keine Rettung geben würde. Auf den Clanoc konnte ich nicht hoffen. Er hatte bei dieser Menge keinerlei Chancen. Wenn er tatsächlich versuchen sollte, mich zu retten, würde das nur dazu führen, daß er ein ähnliches Schicksal erlitt wie ich. Das hätte ich dem rauhbeinigen Clanoc gern erspart. Mir natürlich auch. Das Wachs plätscherte an meinem Knie, und die Stafette wurde noch schneller. »Halt!«
* Telepathie! gab der Logiksektor durch. Das war ein telepathischer Befehl! Die Insekten stellten ihre Tätigkeit ein. Dafür begann der Kristall wieder aufzuleuchten. Der Farbton hatte sich geändert. Jetzt leuchtete das Gebilde in einem gefährlichen Rot.
Retter der Xacoren »Haltet ein!« »Wer befiehlt hier!« »Ich, die Königin!« Die Insekten wichen ein wenig zurück. Ich sah die Bewegung und versuchte ihren Ursprung zu finden. Am Rand des Platzes waren drei Gestalten aufgetaucht. Zwei Insekten und ein Wesen, das in zottige Pelze gehüllt war. Dorstellarain! »Ich bin die Königin; die Große Königin!« Also konnte sich der Kristall doch verständlich machen. Ich versuchte, mich in meinem Gefängnis zu bewegen. Der Sarg begann ein wenig zu schwanken. Vielleicht gelang es mir, ihn umzukippen. Noch war das Wachs flüssig, noch konnte ich mich rollend auf dem Boden fortbewegen. »Du bist nicht die Königin! Nicht die echte Königin. Das bin ich, Marsicar!« Ich sah, wie sich die Insekten auf dem Platz verstreuten. Die Situation schien über ihre Kräfte zu gehen. Das Glühen des Kristalls verstärkte sich. »Belogen hast du uns, betrogen, ausgebeutet und hinters Licht geführt. Du bist nichts weiter als eine Maschine, dazu gedacht und gebaut, uns Xacoren zu versklaven.« »Lüge!« »Wahrheit! Hieß es nicht, es werde nie wieder eine richtige Königin der Xacoren geben können? Und erfülle ich nicht die wichtigste Bedingung für diese Aufgabe, spreche ich nicht die stumme Sprache!« Das also war der Schlüssel zum Volk der Xacoren. Die Königinnen waren telepathisch veranlagt. Das sicherte ihnen natürlich eine ungeheure Machtposition. »Nehmt die Usurpatorin gefangen!« »Zerstört die falsche Königin!« Damit war das Signal gegeben. Es galt zu handeln. Noch ein Ruck, und dann lag die Röhre auf dem Boden. Flüssiges Wachs schwappte auf den Boden. Ein Teil der heißen Flüssigkeit lief mir über das Gesicht, aber das ließ sich ertragen. Mit ei-
45 nem Schnalzen platzte die Röhre auf. Ein kräftiger Tritt mit den zusammengebundenen Füßen, und einen Augenblick später lag ich auf dem Boden, in einer Pfütze aus flüssigem Wachs, aber immerhin. Auf dem Platz tobte das Chaos. Die Xacoren wußten nicht mehr, woran sie waren. Eine Gruppe scharte sich augenblicklich um die organische Königin Marsicar. Eine andere Gruppe, hauptsächlich Wachen, schlug sich ebenso spontan auf die Seite der synthetischen Königin. Ein Kampf schien unvermeidlich. Ich versuchte, mich von dem Kristall wegzurollen. Die telepathischen Impulse des Riesenkristalls wurden stärker und stärker. Ich mußte aus der unmittelbaren Nähe, wenn ich nicht wieder davon überwältigt werden wollte. »Hierher, Dorstellarain!« schrie ich mit höchster Stimmkraft. »Hierher!« Ich hob den Kopf ein wenig an, als ich auf dem Bauch lag. Ich sah hauptsächlich Insektenfüße, kein sonderlich schöner Anblick. Dann erkannte ich Dorstellarain. Er wütete wie ein Berserker unter den Xacoren. Er töte zwar nicht, aber er stieß und warf sie wie Federbündel zur Seite. Es machte dem Hünen ganz offenkundig Spaß, seine Körperkräfte einmal austoben zu können. Auf dem Platz vergrößerte sich das Chaos mit jeder Minute. Inzwischen hatten sich fünf Gruppen gebildet: Marsicars Anhänger und die Gefolgsleute der synthetischen Königin, die sich erbitterte Kämpfe zu liefern begannen; dazu kamen Sympathisanten, die sich aber hüteten, in diese Kämpfe einzugreifen. Und dann gab es noch eine Gruppe, deren Verstand mit dieser Problematik nicht fertig wurde. Diese Xacoren taumelten wie betrunken über den Platz, stolperten über sich selbst oder andere und stifteten genug Verwirrung für zwei Tollhäuser. »Los, schneide mir die Fesseln durch!« Dorstellarain hatte irgendwo ein langes Stück Metall aufgetrieben. Diesen Prügel
46 temperamentvoll schwingend, bahnte er sich eine Gasse. Die Xacoren stoben angesichts des tobenden Clanocs schnell auseinander. Nach kurzer Zeit hatte er mich gefunden. »Alter Freund!« begrüßte er mich mit lautem Gebrüll. »Ich freue mich, daß du noch lebst.« »Schneide mich los!« Einen Augenblick später war ich wieder Herr meiner Muskulatur. Ich stand auf und sah mich um. Auf den ersten Blick war zu sehen, daß dieser Kampf nur dann ein Ende haben würde, wenn einer der beiden Parteien ein durchschlagender Erfolg gelang – sprich: wenn entweder Marsicar oder die synthetische Königin starb. In dieser Situation gab es für mich keine Entscheidungsschwierigkeiten. Ich nahm Dorstellarain die schwere Metallstange ab und rannte los. Der Kristall mußte zerstört werden, je eher desto besser. Denn mit jeder Minute, die der Kampf dauerte, wuchsen die Schwierigkeiten für die Überlebenden. Insektenstaaten waren auf ein perfektes Zusammenspiel aller angewiesen. Wenn dieses Volk einen zu hohen Blutzoll zu zahlen hatte, waren auch die Sieger womöglich nicht mehr in der Lage, jeden Posten des komplizierten Gemeinwesens zu besetzen. Ein totaler Zusammenbruch der Infrastruktur wäre die Folge gewesen. »Ich werde dir helfen, Fremder!« Das mußte Marsicar sein, die echte Königin. Die telepathischen Impulse waren klar und kraftvoll. Ich erreichte den Kristall. Ein tiefer Brummton lag in der Luft, und der Kristall strahlte in düsterem Rot. Er sah unheimlich aus, furchterregend. Aber es gab keine andere Wahl. Ich machte mich an den Aufstieg. Die schwere Stange hatte ich im Gürtel stecken. Hand über Hand kletterte ich an dem Kristall in die Höhe. Bergsteigerisch gesehen, war die Wand nicht sonderlich aufregend, etwa vierter Grad. Kein Vergleich
Peter Terrid zum Eiger oder der Dhaulaghiri-Südwand. Ich spürte, daß der Kristall unter mir zitterte und bebte. Der Kampf schien auch die Leistungsreserven dieses Kunstgebildes stark zu beanspruchen. Ein Blick hinunter zeigte mir, daß Marsicars Partei langsam an Boden verlor. Ich mußte mich beeilen. Höher, und immer höher. Der Kristall war brüchig und am Gipfel ziemlich verwittert. Das gab zwar genug Halt für Hände und Füße, hatte gleichzeitig aber auch eine gewisse Unsicherheit zur Folge, ob der Kristall mein Gewicht auch wirklich hielt. Auf Seilsicherung konnte ich mich in dem Fall nicht verlassen. Auf einem Plateau hielt ich an. Ich war nicht mehr weit vom Gipfel des Kristalls entfernt. Was ich vorhatte, konnte ich ebensogut an dieser Stelle beginnen. Hier hatte ich vor allem genügend Platz. Ich suchte mir einen sicheren Standort aus, dann begann ich den Kristall mit der Stange zu bearbeiten. Ich hatte mir ausgerechnet, daß dieser Kristall, wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte, ein hochkompliziertes Gebilde sein müsse. Die kleinste Störung mußte ihn außer Gefecht setzen können. Ich hatte mich nicht geirrt. Schon nach einigen wenigen Hieben zeigte sich ein Spalt im Kristall, der in keinem Verhältnis zu meinen Bemühungen stand. Der ganze Kristall stand unter hoher Spannung. »Ich helfe dir, Fremder!« hörte ich Marsicar sagen. Der Kristall wehrte sich. Er griff an. Eine Flut mentaler Impulse brach über mich herein. Es war mein Glück, daß der Kristall nicht allmächtig war. Er konnte nicht den Kampf verfolgen und leiten und sich voll und ganz mir widmen. Der Angriff des Kristalls kam grob und ungezielt, aber das machte ihn nicht weniger schmerzhaft. Fast hätte ich die Stange fallen lassen. In meinem Hirn tanzten nadelspitze Schmer-
Retter der Xacoren
47
zen, die kaum mehr zu ertragen waren. »Ich helfe!« sagte Marsicar. Ein zweiter Kampf entbrannte, dessen Schauplatz mein Schädel war. Im gleichen Maß, in dem der Kristall versuchte, mich telepathisch k.o. zu schlagen, unterstützte mich Marsicar, indem sie den Impulsen des Kristalls ihre psionische Energie entgegensetzte. Wie alle künstlichen Esper war auch der Kristall nicht sehr stark, aber es genügte, um mich vor Schmerz fast wahnsinnig zu machen. Ich sah nicht mehr, wohin ich mit der Stange traf. Ich schlug blindlings zu. Der Kristall mußte zerstört werden, und wenn ich aus meinen Schmerzen folgern durfte, daß ich erfolgreich war, dann stand ich kurz vor einem Sieg. Denn der Schmerz war, trotz aller Bemühungen Marsicars, kaum zu ertragen. Ich sah nichts mehr, weil meine Augen voller Tränen waren, die mir der Schmerz entlockt hatte. Aber ich hörte. Ich hörte das Ächzen und Kreischen des überlasteten Materials. Ich hörte das Klirren, mit dem die schwere Stange den Kristall traf, und ich spürte an den Amplituden des Schmerzes in meinem Schädel, wann und wie ich den Kristall getroffen hatte. »Weiter!« drängte Marsicar. »Weiter!« Und dann war der Kristall tot. Mit einem ohrenbetäubenden Knirschen brach das Gebilde in sich zusammen. Ich spürte, wie der grauenvolle Schmerz schlagartig verschwand, und dieses blitzartige Nachlassen des Drucks ließ mich schlagartig bewußtlos werden.
* »Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet, Atlan«, sagte die Königin. Ich machte einen Hofknicks. Gelernt war gelernt. Daß ich überhaupt noch in der Lage war, höfische Kratzfüße zu machen, hatte ich – vermutlich – dem Anzug der Vernichtung zu verdanken. Jedenfalls hatte ich den Sturz
von den Höhen des Kristalls lebend überstanden. Ein paar Prellungen, die dank der Wirkung des Zellaktivators rasch wieder heilen würden, waren die einzigen Spuren, die ich davongetragen hatte. Dorstellarain war leicht am Fuß verletzt, aber auch er war wohlauf. »Ich wüßte gern, wie die Fremden aussahen, die eure Stadt in die Dimensionsschleppe verpflanzt haben.« Die Königin machte eine Geste des Bedauerns. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Eine klare Verständigung war nur auf telepathischem Wege möglich. »Niemand hat die Fremden je gesehen.« »Nicht einmal der junge Dazzler-Phol?« »Nicht einmal er. Nicht die letzte Königin, nicht der letzte Bewahrer. Ich glaube, daß nicht einmal die synthetische Königin Informationen über die Fremden gespeichert hatte.« Im Innern des Riesenkristalls hatten wir größere Mengen technischer Apparaturen gefunden, allerdings in einem Zustand, aus dem sich nichts mehr ersehen ließ. Die Große Königin der Xacoren war unwiderruflich zerstört. »Wie können wir euch danken?« »Wir haben ein Ziel, Gynsaal. Wir wüßten gerne …« »Der Bewahrer wird euch zeigen, wohin der Weg geht. Wir wissen selbst nicht, wo Gynsaal genau liegt, aber wir kennen aus Sagen, Märchen und Legenden unseres Volkes die ungefähre Richtung. Der Bewahrer wird euch begleiten, so lange er die Kälte zu ertragen vermag.« Der neue Bewahrer der Xacoren hieß Wezzley. Dorstellarain hatte mir erzählt, der Bewahrer habe ihm die Wunde am Bein zugefügt. Ich glaubte kein Wort davon. Der Xacore machte eine Geste mit seinen Fühlern, die Demut und Wohlwollen ausdrücken sollte. Ich hatte – dank des Logiksektors – inzwischen gelernt, die vielfältigen Haltungen der Fühler – hier wurden sie Witterer genannt – zu deuten und zu interpretie-
48
Peter Terrid
ren. Was ich allerdings nicht vermochte, das war, jenes komplizierte Duftsprache zu verstehen, die den Xacoren einen ähnlichen Dienst tat wie uns Menschen die Mimik. Ich verabschiedete mich von der Königin. Ich wußte, die Xacoren konnten in Zukunft glücklicher leben, auch wenn sie nicht in ihrer Heimat waren. Warum man sie in die Dimensionsschleppe verpflanzt hatte, wußten sie nicht. Ich nahm an, daß die raum-zeitliche Stabilität der Dimensionsschleppe ein gewisses Maß hochentwickelten organischen Lebens in der Schleppe erforderlich machte. Zu mehr als zu dieser Interpretation reichte meine Einsicht nicht. Als wir den Hügelkamm erreicht hatten, der die Stadt umgab, konnten wir den Großen Platz erkennen. Hunderte von Xacoren waren damit beschäftigt, die Trümmer der synthetischen Königin davonzuschleppen. Marsicar hatte Befehl gegeben, aus den Trümmern eine hohe Mauer rings um die Stadt zu bauen. Sie sollte Feinde abhalten und den dichten Nebel, der den Xacoren das Leben so schwer machte.
»Ich werde euch noch ein Stück Weges begleiten«, versprach der Bewahrer Wezzley. Er war sichtlich stolz, diese Aufgabe übertragen bekommen zu haben. »Wehe, wenn du mich noch einmal beißt«, sagte Dorstellarain. Er grinste dazu. Hoffentlich konnte der Bewahrer begreifen, daß diese Bemerkung humorvoll gedacht war. Mit dem Humor bei zottigen Berserkern war es eine eigentümliche Sache. Wezzley zögerte einen Augenblick, dann fiepte er in seinem schwerverständlichen Pthora: »Das würde mir nicht einfallen. Dafür schmeckt es viel zu schlecht.« Ich mußte lachen. Das war ausgleichende Gerechtigkeit, auch der Clanoc mußte lachen. Wir waren guter Laune, als wir losmarschierten, in den Nebel hinein, einem Ziel entgegen, von dem wir nur wenig wußten.
ENDE
ENDE