Herstellung: Druck- und Verlagshaus Albert Limbach, Braunschweig
ALEXANDER DUMAS
ROMAN MEINES LEBENS
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Herstellung: Druck- und Verlagshaus Albert Limbach, Braunschweig
ALEXANDER DUMAS
ROMAN MEINES LEBENS
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VORWORT Dieser letzte Band unserer Ausgabe ist Dumas selbst gewidmet. Der Schöpfer so vieler eigenartiger und einprägsamer Gestalten, deren abenteuerlichen Schicksalen der Leser herzklopfend und mit Spannung gefolgt ist, der Gestalter der großartigen Geschichtspanoramen, die in buntem Szenenwechsel seinen Romanen als Schauplatz und farbenfroher Hintergrund dienen, ein Dichter von so unermüdlicher Lust am Fabulieren muss selbst ein Mensch gewesen sein, der ein wechselvolles Leben voll Sturm und Sonnenschein geführt und durchlebt hat. Und dies trifft in der Tat auf Dumas in hohem Maße zu. Als Fünfzigjähriger, auf der Höhe seines Schaffens und seines Ruhmes, hat Dumas Rückschau auf seine eigene Vergangenheit gehalten und mit liebevoller Beschaulichkeit seine eigene Jugend erzählt. Es ist der Werdegang eines Menschen, der aus der bescheidenen Umwelt einer verträumten Kleinstadt bis zu den ersten Erfolgen eines gefeierten Dichters ins blendende Rampenlicht der großen Öffentlichkeit aufsteigt; ein schwindelnder Weg aus dem Dunkel und der Geborgenheit der französischen Provinz in den Lebens- und Existenzkampf der damaligen Weltmetropole Paris. Mit der Niederschrift seiner Memoiren hat Dumas während seines freiwilligen Exils in Brüssel (1852/53) begonnen und sie dann 1854 nach seiner Rückkehr nach Paris zum Abschluss gebracht. Sie erschienen wie seine Romane zunächst in verschiedenen Tageszeitungen und dann als Buchausgabe in zehn Bänden bei Michel Levi. Zehn Bände erscheint etwas zu umfangreich, wenn man bedenkt, dass sie eigentlich nur die Vorgeschichte des unbekannten Dumas enthalten und in dem Augenblick abbrechen, wo er eine gewisse Höhe erreicht hat. Mit diesem Einwand hat Dumas schon gerechnet und die Antwort darauf selbst vorweggenommen: „Habt Ihr etwa geglaubt, ich wäre, als ich dieses Buch begann, von der egozentrischen Absicht ausgegangen, immer nur und allein von mir und ausschließlich über mich zu sprechen? Keineswegs! Ich betrachte dieses Buch nur als einen ungeheuren Rahmen, in dem sie alle Platz finden sollen, die Brüder und Schwestern in der Kunst, die Schöpfer und Kinder des Jahrhunderts, große Geister, edle Herzen, denen ich mich mit der Hand, mit den Lippen oder nur im Geist genähert habe; alle, die ich liebte und die mich geliebt haben, alle, selbst die, die ich gehasst habe ... Meine Memoiren --- das wäre gar zu lächerlich! Was bin ich denn allein? Ein vereinzeltes Individuum, ein im Weltall verlorenes Atom, ein Staubkorn, das der Wind davonträgt ... ein Nichts! Wenn ich mich aber fest an Euch anschmiege, wenn ich hier die Hand eines Künstlers, dort die eines Fürsten drücke, dann werde auch ich ein Glied in jener goldenen Kette, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verknüpft. Nein, ich schreibe nicht meine Memoiren, ich schreibe vielmehr die Memoiren all dessen, was in Frankreich groß und berühmt geworden ist, ich schreibe die Memoiren Frankreichs!" Dumas wollte also ein Selbstbildnis im Spiegel des Zeitgeschehens zeichnen und seine Persönlichkeit in das figurenreiche Panorama seiner
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ganzen Umwelt hineinprojizieren, um hierdurch gleichzeitig als Kritiker und Richter über Menschen und Begebenheiten aufzutreten, die außerhalb seiner Einflusssphäre standen. Die Welt wurde ihm bei dieser Schau zum Jahrmarkt der Eitelkeit. Diese Anlage des Werkes war nicht von ungefähr. Im Jahre 1849, also wenige Jahre bevor Dumas die Niederschrift seiner Memoiren begann, waren die Lebenserinnerungen seines berühmten Zeitgenossen Chateaubriand erschienen und hatten berechtigtes Aufsehen erregt. Chateaubriand, obwohl selbst Dichter wie Dumas und der eigentliche Begründer der französischen Romantik, hatte aber außerdem als politischer Publizist, Diplomat, als royalistischer Parteigänger und Mitglied der Pairskammer aktiven Anteil am politischen Geschehen der Zeit genommen und dadurch den berechtigten Anspruch, das Zeitgeschehen in die Schilderung seines Lebens mit einzubeziehen. Wenn sich Dumas nun dessen Memoiren als Vorbild und Muster für die Konzeption der eigenen Lebensbeschreibung nahm, so deshalb, weil er selbst allzu gerne eine Rolle auf der politischen Bühne seiner Zeit gespielt hätte. Da ihm dieses aber versagt blieb, wollte er wenigstens durch ihre Schilderung diese gleichsam als Rahmenhandlung mit in den Ablauf der eigenen Jugendentwicklung einbeziehen. Die Zeitgeschichte und die Jugendgeschichte Dumas' laufen zwar in seinen Memoiren parallel nebeneinander her, ohne sich indes wirklich zu schneiden. Da den Leser seiner Romane im Zusammenhang mit ihnen aber nur der Lebensweg des Menschen und nicht eine Reportage über die letzten Jahrzehnte der Restauration interessiert, beschränkte sich der Herausgeber nur auf die Wiedergabe der Memoiren unter Weglassung des historisch - reportagehaften Beiwerkes. Dumas' Erzählung seiner Jugend und seines Aufstieges reicht nur bis 1832. Um den Leser aber über den ganzen Ablauf der nicht weniger dramatisch verlaufenen Jahrzehnte von 1832 bis zu Dumas' Tode zu unterrichten, fügte der Herausgeber den Memoiren von Dumas' I Hand noch ein abschließendes biographisches Kapitel an. Dumas ist ein Kind zweier Zeitalter. Aufgewachsen in der Epoche Napoleons, gehört er, literarisch gesehen, zur Generation der französischen Romantik, als Typus des Schriftstellers aber schon in die Zeit des emporwachsenden Maschinenzeitalters und des Journalismus. Es waren Erscheinungen, an denen er selbst, der auch in seiner Lebensführung ganz der Romantik verhaftet war, letztlich, wenn auch nicht zerbrechen, so doch scheitern sollte. Aus der sicherlich inneren Erkenntnis dieser Tatsachen hat er uns auch sein Leben nur bis zum künstlerischen Durchbruch und nicht mehr die Kampfjahre des reifen Mannes und des resignierenden Künstlers geschildert. F. Wencker-Wildberg Literatur:
Henri Clouard: Dumas, Editions Albin Michel Paris 1953. Dieses grundlegende Werk ergänzt,
berichtigt und ersetzt nicht nur die gesamte ältere Dumasliteratur, sondern erschließt auch neue
Quellen, die den früheren Biographen entgangen sind.
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Marquis de la Pailleterie und General Alexander Dumas (1762 - 1806)
Mein Geburtsort ist Villers-Cotterets, eine kleine Stadt im Aisnedepartement, an der Straße von Paris nach Laon. Dort wurde ich am 24. Juli 1802 in der Rue de Lormet geboren, in demselben Haus, das gegenwärtig meinem Freund Cartier gehört, der so freundlich sein will, es mir eines Tages wieder zu verkaufen, damit ich in demselben Zimmer sterben kann, in dem ich geboren wurde, um an demselben Ort in die Nacht der Zukunft zurückzukehren, an dem ich aus der Nacht der Vergangenheit hervorgetreten bin. Ich gehöre zu jenen Männern unserer Zeit, denen man beinahe alles streitig machen wollte. Bei mir ging man so weit, dass man selbst meinem Namen Davy de la Pailleterie nicht unangefochten ließ, auf den ich übrigens nie große Stücke hielt, weil ich mich seiner niemals bediente, und man findet ihn neben meinem Namen Dumas nur in amtlichen Urkunden. Wäre ich ein Bastard gewesen, so hätte ich ganz einfach zum Wanderstab gegriffen, wie dies weit berühmtere Bastarde getan haben, und ich hätte dann, so gut wie diese,' mit Faust und Hirn so lange gearbeitet, bis es mir gelungen wäre, meinem Namen einen persönlichen Wert zu verleihen. Meine Mutter, Marie Luise Elisabeth Labouret, war die Tochter von Claude Labouret, der im Jahre 1792, als seine Tochter heiratete, Kommandant der Nationalgarde und Besitzer des „Hotels zum Schild" und vormals erster Küchenchef Louis-Philippes von Orleans war, des Vaters von Philippe-Joseph - mit dem Beinamen Philippe Egalite. Mein Vater war der General Thomas Alexander Dumas Davy de la Pailleterie. Er selbst war ein Sohn des Obersten und Generalkommissars der Artillerie Marquis Antoine Alexander Davy de la Pailleterie, dem durch Erbschaft die Herrschaft von la Pailleterie zugefallen war, das Ludwig XIV. im Jahre 1707 zum Marquisat erhoben hatte. Ich weiß nicht, weiche Umstände oder kühne Pläne meinen Großvater bestimmten, um das Jahr 1760 seinen Besitz zu verkaufen und sich auf San Domingo anzusiedeln. An der Südspitze der Insel, bei Kap Rose, das auch Guinodee oder Trou de Jeremie genannt wird, erwarb er ausgedehnte Ländereien. Dort gab das Ehepaar Luise Cesette Dumas und Marquis de la Pailleterie meinem Vater am 25. März 1762 das Leben. Mein Großvater, der an das aristokratische Leben in Versailles gewohnt war, konnte dem Leben in den Kolonien wenig Geschmack abgewinnen. Dazu war seine Frau, die er sehr liebte, im Jahr 1772 gestorben, und da sie den ganzen Haushalt besorgt hatte, geriet seine Wirtschaft täglich mehr in Verfall. Der Marquis verpachtete
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daher seinen Besitz und kehrte nach Frankreich zurück. Das geschah um 1780, mein Vater war damals also achtzehn Jahre alt. Inmitten der eleganten Jugend jener Zeit, den Lafayette, Lamet, Dillon und Lauzun, die seine Kameraden waren, lebte mein Vater als Sohn von gutem Hause. Schön von Angesicht, obwohl seine Züge durch die Mulattenfarbe einen fremdartigen Eindruck machten, elegant wie ein Kreole, gut gebaut - und dies zu einer Zeit, in der schöner Körperbau für ein Verdienst galt -, mit Füßen und Händen einer Frau, ungemein gewandt in allen Leibesübungen, einer der besten Schüler Laboissiers, des ersten Fechtmeisters seiner Zeit, der ebenso kräftig als gewandt mit Saint-Georges kämpfte, der, damals achtundvierzig, noch wie ein junger Mann auftrat. Mit all diesen Vorzügen begabt, musste mein Vater eine Menge Abenteuer bestellen. Um diese Zeit heiratete mein Großvater in zweiter Ehe seine Haushälterin Marie Franziska Retou. Er war damals vierundsiebzig. Infolge dieser Heirat erkaltete das Verhältnis zwischen Vater und Sohn immer mehr. Das hatte zur Folge, dass der Vater mehr denn je die Schnüre seiner Börse zuzog und dass der Sohn eines Morgens die Entdeckung machte, ohne Geld könne man in Paris nicht leben. Er erklärte dem Marquis, er werde sich als Soldat beim nächstbesten Regiment an werben lassen. - „Meinetwegen", erwiderte mein Großvater „Da ich aber Oberst und Generalkommissar und obendrein noch Marquis de la Pailleterie bin, kann ich nicht zugeben, dass mein Name in den untersten Dienstgraden der Armee herumgezerrt wird. Wenn du Soldat werden willst, musst du dir schon einen anderen Namen suchen." - „Gut", versetzte mein Vater, „dann trete ich unter dem Namen Dumas ein." - „Einverstanden." Damit kehrte der Marquis, der nie ein be sonders zärtlicher Vater gewesen war, seinem Sohn den Rücken und ließ ihn machen, was er wollte. Am 2. Juni 1786 trat mein Vater unter dein Namen Alexander Dumas beim Dragonerregiment der Königin in Laon ein und erhielt die Stammrollennummer 429. Vierzehn Tage später - am 15. Juni 1786 - starb der Marquis, wie es einem alten Edelmann geziemte, der die Erstürmung der Bastille nicht mehr erleben wollte. Sein Tod zerschnitt das letzte Band, das meinen Vater bis dahin an den Adel fesselte. Das ungebundene Leben in den Kolonien hatte die Gewandtheit und Kraft seines Körpers gestählt. Er war ein amerikanischer Reiter ein wahrer Gaucho. Mit Büchse und Pistole vollbrachte er Wundertaten, um die ihn Saint-Georges und Junot beneideten Im Heer war seine Kraft geradezu sprichwörtlich geworden. Mehr als einmal machte er sich in der Regimentsreitschule den Spaß, wenn er unter einem Reck durchritt, sich mit beiden Armen an der Stange festzuhalten und sich mitsamt dem Pferd, das er zwischen die Beine klemmte daran hochzuziehen. Oft sah ich ihn - und ich erinnere mich dessen heute noch mit demselben kindlichen Staunen wie einst - wie er zwei Männer auf dein waagerecht vorgestreckten Oberschenkel stehen ließ und dann mit ihnen auf einem Fuß durch das Zimmer hüpfte. Oder wie er
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ein ziemlich dickes Bambusrohr in beide Hände nahm und es mitten durchbrach, indem er die eine Hand nach rechts, die andere nach links drehte. Ich erinnere mich, dass er eines Tages, als wir aus dem Schloss des Fosses kamen, wo wir wohnten, den Schlüssel eines Gittertores vergessen hatte. Er sprang aus dem Wagen, fasset die Querstange, und beim zweiten oder dritten Stoß barst der Stein, in den sie eingemauert war. Doktor Ferus, der unter meinem Vater diente, erzählte mir öfter, dass er einmal beim Biwakfeuer einem Soldaten zusah, der den Finger in den Lauf eines Infanteriegewehres steckte und es nicht mit dem Arm, sondern mit ausgestrecktem Finger in die Höhe hob. Ein Mann, in einen Mantel gehüllt, sah dem Schauspiel zu, dann lächelte er, warf seinen Mantel ab und sagte: „Das ist recht schön, aber jetzt bringt mal vier Gewehre." Die Soldaten gehorchten sogleich. weil sie in dem Mann im Mantel den General erkannt hatten. Er steckte dann seine vier Finger in die vier Läufe und hob die vier Gewehre mit derselben Leichtigkeit empor, wie der Soldat das eine hochgehoben hatte. „Seht", sagte er, indem er die vier Gewehre ganz langsam wieder senkte, „wenn man schon Kraftproben geben will, so muss man auch welche zeigen." Moulin, der Kastellan des Palastes in Avignon, erzählte mir, dass mein Vater, unter dem er in Italien diente, einen Tagesbefehl erließ, der den Soldaten das Ausgehen ohne Säbel bei zwei Tagen Arrest verbot, weil häufig Überfälle auf einzelne Soldaten gemacht wurden. Mein Vater begegnete einmal Moulin, der damals ein großer, schmucker Bursche von fünfundzwanzig Jahren war. Leider hatte er aber den Säbel nicht an seiner Seite. Als er meinen Vater erblickte, begann er aus Leibeskräften zu laufen, um durch eine Seitengasse zu entwischen. Aber mein Vater hatte den Flüchtling und auch die Ursache seiner Flucht erkannt. Er setzte ihm nach und holte ihn ein. Dann packte er den Mann beim Rockkragen, hob ihn in die Höhe, und trug ihn mit kräftiger Faust mit sich fort, bis er zur Hauptwache kam, wo er ihn mit den Worten hinschleuderte: „Achtundvierzig Stunden Arrest für den Schlingel da." Moulin hatte die achtundvierzig Stunden Arrest bald überstanden und vergessen, aber was er nicht vergessen konnte und was ihn länger dünkte als die achtundvierzig Stunden, das waren die zehn Minuten, die er, von der Faust meines Vaters gehalten, in der Luft baumeln musste Die ersten Ereignisse der Revolution waren vorübergegangen, ohne dass sich mein Vater irgendwie daran beteiligt hätte. Um das Jahr 1790 lag er in Villers-Cotterets in Garnison, wo er meine Mutter kennen lernte und sie heiratete. Als im Jahre 1792 der Krieg ausbrach, wurde das Dragonerregiment der Königin, bei dem mein Vater diente, unter den Befehl des Generals Beuronville gestellt. Im Lager vor Maulde fand mein Vater die erste Gelegenheit sich auszuzeichnen. Es gelang ihm nämlich, mit nur vier Dragonern zwölf Tiroler Jäger samt einem Korporal Gefangenzunehmen. Der General Beuronville ernannte ihn zum Oberwachtmeister, lud ihn zum Essen ein und nannte seinen
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Namen im Tagesbefehl. Das war das erste Ruhmesblatt, das sich an den vom Sohn des Marquis de la Pailleterie angenommenen Namen Alexander Dumas knüpfte. Von diesem Augenblick an schenkte General Beuronville meinem Vater besonderes Wohlwollen, das er ihm auch immer bewahrt hat, und wenn mein Vater im Hauptquartier Dienst hatte, pflegte der General oft zu sagen: „Heute nacht werde ich gut schlafen, denn Dumas wacht über uns." Als später Saint-Georges die südamerikanische Reiterlegion gründete und bald darauf Boyer das Husarenregiment „Freiheit und Gleichheit" errichtete, wollten beide meinen Vater, den sie kannten, für ihre Truppen gewinnen. Zuerst nahm ihn Saint-Georges am 1. September 1792 als Unterleutnant auf. Tags darauf ernannte Boyer ihn in seinem Korps zum Oberleutnant. Schließlich machte ihn Saint-Georges, der ihn um jeden Preis bei sich halten wollte, am 10. Januar 1793 zum Oberstleutnant. Als nun mein Vater an die Spitze des Regiments trat, eröffnete sich seinem Geist und seinem Mut ein weites Feld. Die patriotische Gesinnung und die gute Haltung seiner Schwadronen galten allgemein als vorbildlich. Einmal stand das Regiment auf Vorposten, als er plötzlich auf ein holländisches Regiment stieß, das im mannshohen Getreide versteckt war. Ein feindlicher Unteroffizier, der etwa fünfzig Schritt von meinem Vater entfernt stand, wollte gerade sein Gewehr anlegen. Das sah mein Vater. Er wusste wohl, dass der Unteroffizier in so geringer Entfernung unmöglich fehlen konnte. Er zog nun rasch seine Pistole und schoss so glücklich, dass die Kugel gerade in den Lauf des Gewehres drang, ehe der Unteroffizier es senken konnte. Dieser Schuss war das Signal zu einem großartigen Angriff, bei dem das holländische Regiment völlig aufgerieben wurde. Mein Vater nahm als Trophäe vom Schlachtfeld nur das Gewehr mit, dessen Lauf durch die Pistolenkugel dermaßen zerrissen worden war, dass er nur noch durch eine kleine Spange am Schaft Festgehalten wurde. Ich habe das Gewehr lange aufbewahrt, bis es mir schließlich bei einem Umzug gestohlen wurde. Am 30. Juli 1793 erhielt mein Vater sein Patent als Brigadegeneral, am 3. September das als Divisionsgeneral der Nordarmee. Acht Tage darauf wurde er Obergeneral in den Westpyrenäen. Er brauchte also nur zwanzig Monate, um sich vom einfachen Soldaten bis zu einer der höchsten Stellen in der Armee emporzuschwingen. Als Brigadegeneral war mein Vater bei der Belagerung von Maastricht dem General Kleber zugeteilt, der später in Ägypten sein vertrauter Freund wurde. Als Divisionsgeneral in Bayonne fand mein Vater wegen seiner gemäßigten Ansichten keinesfalls den Beifall der Sansculotten, so dass der dortige Exekutionsrat den neuen General nicht mehr „Citoyen Dumas", sondern „Mann der Menschlichkeit" nannte, ein Name, der zu jener Zeit und besonders in den Augen der Leute, die ihn erfunden hatten, ebenso entehrend wie für den Träger gefährlich war. Aber mein Vater war eben ein Glückskind, und so antwortete der
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Pariser Wohlfahrtsausschuss auf die Anklagen der Bayonner Patrioten damit, dass er meinen Vater zum Oberbefehlshaber der Alpenarmee ernannte, an Stelle Kellermanns, der zur Belohnung für seine Siege sich vor dem Konvent verantworten musste. Die erste Sorge meines Vaters ging dahin, sich von der Stellung des Feindes genaue Kenntnis zu verschaffen, und die unterbrochene Verbindung zwischen der Alpenarmee und der Armee von Italien wiederherzustellen. Eines Morgens verließ er die Armee, versah sich mit Lebensmitteln für einige Tage und entfernte sich mit drei seiner vertrauten Offiziere. Er war fünf Tage abwesend und während dieser Zeit studierte er alle Zugänge zum Mont Cenis, der als unbezwingbar galt. Bei seiner Rückkehr ins Lager sagte mein Vater: „In einem Monat ist der Mont Cenis unser." Der Mont Cenis, Valaisan und kleine Sankt Bernhard waren mit Kanonen gespickt. Mein Vater wollte das Gebirge umgehen, den unnahbaren Felsen erklimmen und durch den Angriff von dieser Seite gleichzeitig auch den übrigen Korps das Zeichen zum allgemeinen Angriff geben. Als die Soldaten die Palisaden erklettern wollten, fand mein Vater dank seiner herkulischen Kraft ein viel einfacheres Mittel: er packte jeden einzelnen Mann beim Kragen und Hosenbund und schleuderte ihn über den Zaun. Das Geräusch des Falles erstickte der hohe Schnee. Mitten im Schlaf überfallen, schienen die Piemontesen an Widerstand kaum zu denken. Die Prophezeiung meines Vaters war also genau auf den Tag eingetroffen; binnen eines Monats war der Mont Cenis in unseren Händen. So weit war mein Vater vorgedrungen, als die Obergenerale der Alpenarmee abberufen und guillotiniert wurden. Auch mein Vater wurde abberufen, aber nicht hingerichtet. Am 15. Thermidor desselben Jahres ernannte ihn der Wohlfahrtsausschuss zum Kommandanten der Kriegsschule im Lager von Sablons. Doch schon drei Tage später, am 18. Thermidor, wurde er zur Sambre- und Maasarmee und von dort bald wieder an die Küste nach Brest versetzt. Da ihm aber dieser beständige Wechsel nicht behagte, reichte er seinen Abschied ein und zog sich zu meiner Mutter, die ihm kurz zuvor meine ältere Schwester geschenkt hatte, nach Villers-Cotterets zurück. Er lebte dort glücklich und ruhig und glaubte auch schon vergessen zu sein, als er plötzlich am Morgen des 14. Vendemiaire Befehl erhielt, sich augenblicklich nach Paris zu verfügen, um dort die Befehle der Regierung entgegenzunehmen. Bonaparte hatte tags zuvor die Sektionen vor der Sankt Rochuskirche mit Kartätschen begrüßen lassen. Der Konvent hatte sich meinen Vater zum Verteidiger ausersehen gehabt. Aber mein Vater war nicht in Paris, Barras schlug nun Bonaparte vor und Bonaparte wurde angenommen. Die Stunde, die, wie man sagt, jedem Menschen nur einmal im Leben schlägt und ihm die Zukunft öffnet, war für ihn gekommen. Mein Vater nahm sogleich die Post, konnte aber doch nicht vor dem 14. eintreffen. Er fand die Sektionen besiegt und Bonaparte als General der inneren Armee.
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Im Jahre IV kam mein Vater, der nun wieder im aktiven Dienst war, wieder zur Sambre-etMeuse-, dann zur Rheinarmee, wurde am 21. Nivose Platzkommandant von Landau, brachte den Monat Ventose auf Urlaub in Villers-Cotterets zu und kehrte endlich am 7. Messidor als Divisionsgeneral zu derselben Alpenarmee zurück, deren Oberbefehlshaber er gewesen und die nun die Grenzen bewachen und Piemont beobachten sollte, mit dem man damals auf ziemlich fried lichem Fuß stand. Als mein Vater eines Abends von einem Pirschgang aus der an Gemsen überreichen Gegend von La Chambre am Fuß des Mont Cenis heimkam, fand er ein Schreiben, das ihn aufforderte, sich nach Italien zu begeben, um sich dort dem General Bonaparte zur Verfügung zu stellen. Dieser Brief war vom 22. Vendemiaire (14. Oktober 1796) datiert. Mein Vater traf am 19. Oktober 1796 in Mailand ein. Er wurde von Bonaparte aufs beste empfangen, noch herzlicher aber von Josephine, die als Kreolin alles leidenschaftlich liebte, was sie an ihre geliebten Kolonien erinnerte. Bonaparte schickte ihn dann nach Mantua, wo er den Befehl über die erste Division übernahm. Nach ungefähr drei Wochen trat bei Belagerung dieser Festung ein Ereignis ein, das notwendigerweise auch auf den Ausgang des ganzen Feldzuges von bedeutendem Einfluss sein musste. In der Nacht vom 23. zum 24. Dezember wurde mein Vater durch Soldaten aus drin Schlaf geweckt. Sie brachten einen Mann, der von unseren äußersten Vorposten in dem Augenblick festgenommen worden war, als er über die vordersten Palisaden von Mantua setzen wollte. Der Oberst. der unsere Vorposten bei San Antonio befehligte, schickte diesen Mann zu meinem Vater nach Marmirolo und bezeichnete ihn als einen venezianischen Spion, der wahrscheinlich mit einer wichtigen Botschaft betraut sein dürfte. Er wurde also mit der größten Sorgfalt durchsucht -, es war aber nichts zu finden. Eine Lieblingslektüre meines Vaters war Polybius und Cäsar. Ein Band der Kommentarien des Gallischen Krieges lag aufgeschlagen auf dem Nachttisch, das am Bett meines Vaters stand. Vor dem Einschlafen hatte er gerade jene Stelle gelesen, wo Cäsar erzählte, dass er, um an seinen Unterfeldherrn Labienus sichere Nachrichten gelangen zu lassen, sein Schreiben in eine kleine Elfenbeinkapsel einzuschließen pflegte. Diese Kapsel musste der Bote, wenn er an feindlichen Posten oder sonst einem Ort, wo er überfallen werden konnte vorbeiging, in den Mund nehmen und verschlucken, wenn es ihm an den Kragen ging. Zufällig fiel der Blick meines Vaters in diesem Augenblick auf jene Stelle im Cäsar. Ein Blitzstrahl durchzuckte seinen Geist. sagte er plötzlich, „da der Mann leugnet, soll er sofort erschossen werden." - „Wie, General?" rief der Venezianer erschrocken, „erschießen? ... Warum mich erschießen?" - „Um dir dann den Bauch aufzuschneiden und die Depeschen herauszunehmen, die du verschluckt hast", erwiderte mein Vater so bestimmt, als wenn ihm irgendein guter Geist die ganze Sache entdeckt hätte. Die Soldaten schickten sich an, den Befehl zu vollziehen und den Spion abzuführen. „Noch einen Augenblick",
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flehte der Mann, als er sah, dass die Sache eine bedenkliche Wendung nahm. - „Gestehst du also?" - „Ja, in Gottes Namen, ich gestehe", erwiderte der Spion nach kurzem Zögern. - „Du gestehst also, dass du die Depeschen verschluckt hast?" - „Ja, General, vor etwa anderthalb Stunden." - „Dermoncourt", rief mein Vater seinem Adjutanten zu, der im anstoßenden Zimmer geschlafen hatte, „gehe sofort zum Dorfapotheker und frage ihn, was schneller wirkt, ein Brech oder ein Abführmittel." Nach fünf Minuten kam Dermoncourt zurück, salutierte und sagte mit bewundernswerter Ruhe: „Ein Abführmittel, General." Der Spion musste es schlucken, dann wurde er in das Zimmer Dermoncourts geführt und dort von zwei Soldaten bewacht, die ihn keine Sekunde aus dem Auge ließen, während Dermoncourt eine recht unruhige Nacht verbrachte, da die Soldaten ihn jedes Mal weckten, sobald der Gefangene mit der Hand nach den Knöpfen seiner Hose fuhr. Endlich kam gegen drei Uhr morgens ein Wachskügelchen von der Größe einer Haselnuss zum Vorschein. Es wurde sofort abgewaschen, dann vollzog Dermoncourt mit einem Federmesser den Kaiserschnitt und zog einen Brief heraus, der mit so winzigen Buchstaben und auf so feines Papier geschrieben war, dass er, zwischen den Fingern zusammengerollt, kaum den Umfang einer Erbse hatte. Jetzt war nur noch zu befürchten, dass der Brief in deutscher Sprache geschrieben sein konnte, denn im Hauptquartier war niemand dieser Sprache mächtig. Wie groß aber war die Freude, als der Brief französisch geschrieben war! Die Depesche war von höchster Wichtigkeit. Dermoncourt bestieg augenblicklich sein Pferd und sprengte nach Mailand fort. Er kam dort um sieben Uhr morgens an und übergab Bonaparte die Depesche. Dermoncourt frühstückte mit Bonaparte, aß mit ihm zu Mittag, blieb den Tag über im Palast und brachte auch dort die Nacht zu. Am andern Morgen übergab ihm Bonaparte einen Brief an meinen Vater, trug ihm überdies noch Grüße auf und stellte ihm einen Wagen zur Verfügung. Als Dermoncourt abfuhr, standen Bonaparte, Josephine und Berthier am Fenster des Palastes und wünschten ihm glückliche Reise. Mein Vater zeichnete sich bald darauf bei der Belagerung von Mantua aus und nahm einer dreifach überlegenen Feindesmacht sechs Fahnen ab. Aber er hatte kein Glück, das heißt, er sollte nicht die wohlverdiente Anerkennung und Belohnung für seine Taten finden. Mein Vater war darüber so aufgebracht, dass er einen ziemlich groben Brief an Bonaparte schrieb, der seinerseits kühl antwortete. Doch Massena und Joubert nahmen sich meines Vaters an. Joubert, der über 20 000 Mann in Tirol gebot, teilte sich mit meinem Vater das Kommando. Die beiden Generäle wohnten beisammen, und als später die Feindseligkeiten begannen, besuchten sie gemeinsam die Vorposten und beschlossen, auch gemeinsam den Angriff auf die Österreicher zu unternehmen. Dieser Angriff des fünften Dragonerregiments auf die Brücke von Neumarkt - am 21. März 1797 - muss eine hervorragende Tat gewesen sein, denn Joubert sagte in seinem Bericht an Bonaparte, mein Vater sei der Schrecken der österreichischen Reiterei
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geworden. Dermoncourt, dem wir hier das Wort geben, schildert diesen Kampf, der meinem Vater, den die Österreicher den Schwarzen Teufel nannten, den Beinamen des Horatius Cocles von Tirol einbrachte und mit dem ihn später Bonaparte selbst auszeichnete, folgendermaßen: „Ich sah den General Dumas am Clausener Brückenkopf, wo er sich allein gegen eine ganze Eskadron wehrte. Die Brücke war sehr schmal, und so konnten immer nur zwei Reiter zugleich auf ihn eindringen, aber er hieb stets alle nieder, die sich ihm entgegenstellten. Ich stand verblüfft da, die Geschichte von Horatius Cocles hatte ich früher immer für eine Fabel gehalten, jetzt sah ich ein ähnliches Schauspiel in voller Wirklichkeit vor mir." Es gelang Dermoncourt, meinen Vater aus dieser verzweifelten Lage zu befreien. Es war auch höchste Zeit, denn er hatte drei Wunden erhalten, sieben Kugeln hatten seinen Mantel durchlöchert und das Pferd war ihm unter dem Leib erschossen worden. Den Mantel schenkte mein Vater Joubert als Talisman, aber seine Zauberkraft reichte nicht aus, ihn bei Novi vor dem Tod zu schützen. Ein gut Teil des Erfolges in Tirol hatte Joubert meinem Vater zu verdanken. Treuherzig wie er war, tat er alles, war er als Kamerad unter ähnlichen Umständen für ihn getan hätte. In jedem Bericht an Bonaparte trat ihm der Name meines Vaters, mit den größten Lobsprüchen überschüttet, entgegen. Wenn man Joubert hörte, so verdankte er den ganzen Erfolg des Feldzuges überhaupt nur der Tatkraft und dem Mut meines Vaters. Er war nach Jouberts Aussage der ,.Schrecken der österreichischen Reiterei", ein „neuer Bayard", und er pflegte zu sagen: „Hätte es damals durch ein Wunder, wie sie Revolutionen meist zur Folge haben, in Italien zwei Cäsar gegeben, so wäre General Dumas gewiss einer der beiden gewesen." Nach und nach gewann auch Bonaparte eine bessere Meinung von meinem Vater, und als Joubert, der den Obergeneral in Graz besuchte, Abschied von ihm nahm, sagte ihm Bonaparte: „Schicken Sie mir Dumas." Aber mein Vater war ein Trotzkopf, und es bedurfte der freundschaftlichsten Vorstellungen Jouberts, um ihn zu bewegen, der Einladung Folge zu leisten. Er reiste endlich nach Graz, war aber fest entschlossen, unverzüglich seine Entlassung zu fordern, falls Bonaparte ihn nicht so empfangen sollte, wie er es verdiente. Mein Vater war als Kreole zugleich furchtlos, ungestüm und unbeständig. Was er sehnsüchtig wünschte, stieß ihn ab, sobald er es erreicht hatte. Dann war die ganze Tatkraft und Energie, die er vorher zur Erlangung seines Zieles aufgeboten hatte, mit einem Mal verflogen, er langweilte sich. Und sobald ihm auch nur das Geringste missglückte, begann er von der Annehmlichkeit des Landlebens zu schwärmen, gleich dem antiken Dichter, dessen Vaterland er erobern half, und schon im nächsten Augenblick war er mit dem Entlassungsgesuch ans Direktorium bei der Hand. Nach acht Tagen war der Überdruss, der meinen Vater erfüllte, vergangen. Eine glänzende Stellung, ein paar von Erfolg gekrönte Waffentaten hatten seinen nach dem Unmöglichen strebenden Geist mit neuer Tatkraft und frischem Mut erfüllt.
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Mein Vater nahm sich nun fest vor, nach dem ersten Verdruss, der ihm von seiten Bonapartes widerfahren sollte, sein Entlassungsgesuch eigenhändig zur Post zu bringen. Aber kaum hatte Bonaparte ihn erblickt, als er ihm mit offenen Armen und mit den Worten entgegeneilte „Sei mir gegrüßt, Horatius Cocles von Tirol". Dieser Empfang war zu schmeichelhaft, als dass mein Vater noch länger schmollen konnte. Auch er fiel dem Obergeneral um den Hals und erwiderte die Umarmung mit derselben Herzlichkeit. „Ha, wenn ich daran denke, dass ich ihn einst in meinen Armen hielt und dass ich ihn so leicht hätte tot drücken können . . ." sagte mein Vater acht Jahre später, als sich Bonaparte zum Kaiser ausrufen ließ. Am 12. April 179s wurde Bonaparte zum Obergeneral der Orientarmee ernannt. Sieben Regimenter von der Division meines Vaters wurden nach Toulon beordert. Da mein Vater vor Bonaparte und Kleber eintraf, übernahm er einstweilen das Oberkommando über die Armee, das er nach Klebers Ankunft diesem sofort übertrug. Am Morgen des 9. Mai begab sich mein Vater in Dermoncourts Begleitung zum Obergeneral. Mein Vater stieg die Treppe hinauf, schritt durch einen Gang, öffnete eine kleine Tür, schob eine spanische Wand beiseite und stand mit Dermoncourt vor Bonaparte und Josephine, die beide im Bett lagen. Da es sehr heiß war, waren sie nur mit einer leichten Decke bedeckt, unter der sich die Umrisse ihrer Körper scharf abzeichneten. Josephine weinte, Bonaparte trocknete ihr mit der einen Hand die Tränen, mit der anderen trommelte er einen Marsch auf dem Teil ihres Körpers, den sie der Wand zukehrte. „Ah, da ist ja Dumas", rief er, als er meinen Vater erblickte, „Sie kommen gerade recht. Helfen Sie mir doch meine kleine Närrin zur Vernunft bringen. Sie will mit uns nach Ägypten! Nehmen Sie denn Ihre Frau mit, Dumas?" - „O bewahre, sie wäre mir dort nur im Weg", antwortete mein Vater. „Na siehst du. Du wirst doch nicht behaupten, dass Dumas ein schlechter Ehemann ist, der Weib und Kind nicht liebt ... Sei also vernünftig . . . Entweder bin ich in sechs Monaten zurück oder wir werden ein paar Jahre dort unten bleiben ... Dann müssen wir noch 20 000 Mann mit der Flotte holen. Du gehst dann nach Paris, verständigst dich mit Madame Dumas, und ihr kommt beide mit. Nicht wahr, Dumas?" - „Selbstverständlich", antwortete mein Vater, - „Und da Dumas immer nur Töchter bekommt, ich aber weder Sohn noch Tochter, so werden wir da unten unser möglichstes tun, damit jeder einen Jungen zuwege bringt. Bekomme ich, einen, so muss Dumas mit seiner Frau Pate stehen, bekommt er ihn, sind wir seine Taufpaten. Und nun weine nicht mehr und lass uns von unseren Dienstgeschäften sprechen." Josephine tröstete sich, ja, wenn wir Bourienne Glauben schenken dürfen, so tröstete sie sich nur zu gut. Aus den Briefen meines Vaters an Kleber kann man sehen, dass die verschiedenen Ansichten über die Expedition in einem Punkt so ziemlich alle übereinstimmten. Jeder litt, jeder beklagte sich, jeder sehnte
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sich nach Frankreich zurück. Diese Erinnerungen folgten Bonaparte bis nach Sankt Helena, wo er sich eines Tages also äußerte: „Ich war gerade übler Laune, als ich auf ein paar unzufriedene Generale zuging und mich an den wandte, der den größten Wuchs hatte. Sie haben aufrührerische Reden geführt`, sagte ich zu ihm, nehmen Sie sich in acht, dass ich nicht meine Pflicht tue. Ihre fünf Fuß und sechs Zoll würden Sie keineswegs davor schützen, binnen zwei Stunden erschossen zu werden." Der General, an den Bonaparte diese Worte gerichtet hatte, war mein Vater. Die Sache trug sich in Wirklichkeit folgendermaßen zu: Nach der Schlacht bei den Pyramiden ging Bonaparte den Generälen, die sich in Damanhur versammelt und über das Schicksal der Armee und Frankreichs beraten hatten, geflissentlich aus dem Weg. Mein Vater, der bei den Pyramiden als einfacher Soldat mit seinem Jagdgewehr mitgekämpft hatte, da keine Kavallerie vorhanden war, verlangte von Bonaparte eine Aufklärung darüber. Als der Obergeneral ihn erblickte, zog er die Augenbrauen zusammen, drückte seinen Hut tiefer in die Stirn, führte meinen Vater in ein entlegenes Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „General", begann er, „Sie suchen die Armee zu entmutigen. Ich weiß alles, was in Damanhur geredet wurde." Mein Vater trat einen Schritt vor und legte seine Hand auf den Arm Bonapartes, der im Griff seines Säbels ruhte. „Ehe ich Ihnen antworte, General", erwiderte mein Vater, „muss ich Sie fragen, weshalb Sie die Tür verriegelten und zu welchem Zweck Sie mich zu dieser Unterredung unter vier Augen einzuladen die Güte hatten." „Nur um Ihnen zu sagen, dass mir, wenn es sich um die Disziplin handelt, der Erste und der Letzte in der Armee ganz gleich gilt, und dass ich den General ebenso gut erschießen lasse wie den Tambour, wenn ich dazu Grund habe." „Mag sein, General. Aber ich glaube doch, dass es Leute gibt, die Sie sich zweimal ansehen werden, ehe Sie sie erschießen lassen." „Nein, wenn sie meine Pläne durchkreuzen, gewiss nicht." ,.Sehen Sie, General, gerade noch sprachen Sie von der Disziplin, jetzt sprechen Sie nur von sich selbst. Doch ich will Ihnen eine Erklärung geben. Ja, es ist wahr, dass in Damanhur eine Zusammenkunft stattgefunden hat, es ist wahr, dass die seit dem ersten Marsch entmutigten Generäle sich nach dem Zweck der ganzen Expedition fragten, und es ist auch wahr, dass sie darin nicht ein Unternehmen von allgemeinem Interesse sehen, sondern nur die Befriedigung des persönlichen Ehrgeizes. Wahr ist auch, dass ich äußerte, ich würde für den Ruhm des Vaterlandes um die Welt marschieren, aber auch nicht einen Schritt weiter gehen, wenn es sich nur um eine Laune von Ihnen handeln sollte. Was ich an jenem Abend sagte, das wiederhole ich jetzt frei und offen vor Ihnen, und wenn der Elende, der Ihnen diese Worte hinterbrachte, etwas anderes berichtete, als ich Ihnen eben sagte, so ist er nicht bloß ein Spion, sondern noch weit schlimmer, nämlich ein Verleumder."
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Bonaparte sah meinen Vater einen Augenblick an, dann sagte er bewegt „Sie sehen also im Geist zwei Dinge: Frankreich und mich. Glauben Sie, Dumas, meine Interessen ließen sich von denen Frankreichs trennen?" General, ich meine, dass die Interessen Frankreichs uns höher stehen müssen als die eines einzelnen, so groß er auch sein mag. Ich glaube, dass das Schicksal einer Nation dem eines einzelnen nicht hintangesetzt werden darf." - „So würden Sie sich also von mir lossagen?“ „Ja, sobald ich sehe, dass Sie sich von Frankreich lossagen.“ „Sie tun unrecht, Dumas", antwortete Bonaparte kalt. „Kann sein, aber ich liebe keine Diktatur, weder die eines Sulla noch eines Cäsar. Ich wünsche bei der nächsten Gelegenheit nach Frankreich zurückzukehren." - „Gut, ich verspreche Ihnen, Ihrer Abreise kein H i n d e r n i s in den Weg zu legen." - „Ich danke Ihnen, General. Das i s t d i e einzige Gunst, die ich von Ihnen erbitte." Mein Vater verneigte sich, schob den Riegel zurück und ging. Eine Viertelstunde später erzählte er Dermoncourt, was zwischen ihm und Bonaparte vorgefallen war. Dermoncourt hat mir wohl zwanzigmal, und stets ohne nur ein Wort zu ändern, diese Unterredung wiedererzählt, die für meines Vaters Zukunft wie für die meine von so großer Bedeutung geworden ist. Als sich später Mangel an Bargeld bemerkbar machte, forderte Bonaparte von den Kaufleuten die Gold- und Silberbarren zurück, die er ihnen als Pfand für vorgestreckte Summen gegeben hatte, und überlos ihnen dafür Getreide, das infolge des Überflusses fast gar keinen Wert besaß. Damals ließ mein Vater einige Umbauten an dem Haus vornehmen, das er bewohnte und das einem Mameluckenbey gehörte, der vor den Franzosen geflohen war. Bei dieser Gelegenheit fand sich ein Schatz, den der Bey in der Eile vergessen hatte. Es waren nahezu zwei Millionen. Sofort sandte mein Vater das Geld mit folgendem Begleitschreiben an Bonaparte: „Bürger General! Der Leopard wechselt nie sein Fell und der redliche Mann nie seine Gesinnung. Ich sende Ihnen hier einen Schatz, d e n ich soeben gefunden habe und der auf zwei Millionen geschätzt w i r d . Sollte ich in der Schlacht oder hier vor Herzeleid sterben, so denken Sie daran, dass ich arm bin und Weib und Kind in Frankreich zurücklasse. Heil und Brudergruß
Alexander Dumas. "
Dieser Brief, der in der amtlichen Korrespondenz der ägyptischen Armee veröffentlicht wurde, musste angesichts gewisser Beschuldigungen, die gegen gewisse Generale erhoben wurden, berechtigtes Aufsehen erregen. Mit ein paar Worten muss ich noch der Anteilnahme meines Vaters an der Niederwerfung des Aufstandes in Ägypten gedenken, der am 21. Oktober 1798 von Syene bis Alexandria emporloderte. Mein Vater lag krank im Bett, als sein Adjutant Dermoncourt atemlos ins Zimmer stürzte und ihm die Hiobspost mitteilte. Mein Vater wusste unter solchen Umständen den Wert der Zeit zu schätzen. Fast halb
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nackt schwang er sich auf ein ungesatteltes Pferd, zog seinen Degen und stürzte sich mit einigen Offizieren in die Straßen Kairos. Hier fand er Dermoncourts Mitteilung bestätigt. Der Stadtkommandant, General Dupuis, war tödlich verwundet. Ein Türke, der sich in einem Keller versteckt hatte, stieß ihm seine Lanze unter der Achsel in den Leib und durchschnitt ihm die Pulsader. Bonaparte war, wie es hieß, auf der Insel Rudha und konnte nicht in die Stadt zurück, das Haus des Generals Caffarelli wurde gestürmt und alles niedergemacht, endlich zogen die Aufständischen nach der Wohnung des Generalzahlmeisters Esteve. Dorthin begab sich auch mein Vater, nachdem er unterwegs seine Leute gesammelt hatte. Er stand an der Spitze von etwa 60 Mann. Man kennt die Bewunderung, die die herkulische Gestalt und männliche Schönheit meines Vaters, seine stattliche Erscheinung auf hohem Dragonerross und der Anstand, mit dem er es lenkte, den Arabern eingeflößt hatte. Als er nun, Haupt und Arme den Hieben der Feinde preisgegeben, mit der Sorglosigkeit vor dem Tod, die ihm von jeher war und die gerade jetzt noch durch seine Gemütsstimmung erhöht wurde, sich auf den erbitterten Menschenhaufen stürzte, glaubten die Araber den Würgeengel mit flammendem Schwert vor sich zu sehen. Im Nu waren die Zugänge zur Schatzkammer frei, Türken und Araber niedergemacht oder in die Flucht geschlagen und Esteve gerettet. Armer Esteve! ... Ich erinnere mich noch, wie er mich als Kind so oft mit Küssen überschüttete und zu mir sagte: „Mein Kind, merke dir es wohl, wäre dein Vater nicht gewesen, so würden die Lippen, die dich jetzt küssen, längst in den Gräbern Kairos vermodert sein." Die Nacht unterbrach den Kampf. Die Türken betrachteten es als ein Gebot ihrer Religion, den begonnenen Kampf bei Einbruch der Nacht einzustellen. Bonaparte, der am Abend nach Kairo zurückgekehrt war, wusste diese Frist geschickt zu benützen um Anordnungen für den nächsten Tag zu treffen. Mit Sonnenaufgang loderte der Aufstand aufs neue empor, aber die Meuterer waren verloren. Sie hatten sich mit ihren Führern in die El-Meazao-Moschee geflüchtet. Mein Vater sollte sie dort angreifen und so den letzten Keim der Revolte im Blut ersticken. In wenigen Augenblicken hatten die Kanonenkugeln die Pforten der Moschee zertrümmert, und mein Vater drang als erster hoch zu Ross in das Gotteshaus der Moslems ein. Zufällig befand sich gegenüber dem Eingang, also mitten auf dem Weg, den das Pferd meines Vaters nehmen musste, ein etwa drei Fuß hohes Grabmal. Als das Pferd auf dieses Hindernis stieß, blieb es plötzlich stehen, dann bäumte es sich empor und ließ die beiden Vorderfüße auf das Grab niedersinken. So stand es unbeweglich mit blutunterlaufenen Augen und dampfenden Nüstern da. „Der Engel, der Engel", schrieen die Araber, und ihr Widerstand war jetzt kein Kampf mehr, es war das Ringen der Verzweiflung bei den einen, die Resignation des Fanatismus bei den anderen. „Ahan!" (Gnade), flehten die Führer und ergaben sich. Mein Vater begab sich sogleich zu Bonaparte, um ihm über die Einnahme der Moschee Bericht zu erstatten. Bonaparte kannte bereits den
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Verlauf des Gefechts. Er nahm meinen Vater besonders wohlwollend auf, denn durch die Zusendung des Schatzes war die Versöhnung zwischen ihnen ohnehin schon angebahnt worden. „Willkommen, Herkules", rief er und reichte meinem Vater die Hand, „du hast die Hydra bezwungen. Meine Herren", fuhr er, zu den Umstehenden gewandt, fort, „ich werde ein Gemälde von der Erstürmung der Moschee anfertigen lassen. Sie, Dumas, werden darauf die Hauptfigur sein.“ Das Gemälde wurde bei Girodet bestellt, aber man erinnert sich, dass die Hauptfigur ein großer blonder Husar ist, dessen Name und Rang nicht genannt sind. Dieser blonde Husar musste die Stelle meines Vaters einnehmen, der sich acht Tage nach Beschwichtigung des Aufstandes neuerdings mit Bonaparte überwarf, indem er nämlich hartnäckiger denn je auf seinem Verlangen bestand, nach Frankreich zurückzukehren. Bei der Zusammenkunft versuchte Bonaparte noch das letzte Mittel, um meinen Vater in Ägypten zurückzuhalten. Er stellte ihm vor, er selbst werde über kurz oder lang nach Frankreich zurückkehren und er wolle dann meinen Vater mitnehmen. Aber das Heimweh war bei meinem Vater zu einer förmlichen Krankheit geworden, gegen die es kein Heilmittel gab. Zu allem Unglück war Dermoncourt, (der einzige Mensch, der auf meinen Vater Einfluss hatte, zu seinem Regiment nach Bel-Bey zurückgekehrt. Als er erfuhr, dass die Abreise seines General abgemachte Sache sei, eilte er nach Kairo, aber er fand die Wohnung leer und meinen Vater mit dem Verkauf seines überflüssigen Besitzes beschäftigt. Mein Vater kaufte viertausend Pfund Mokka und elf arabische Pferde ein und mietete sich ein kleines Schiff, „Die schöne Malteserin". Am Abend des 17. Ventose des Jahres VII stach „Die schöne Malteserin" mit meinem Vater, dem General Manirourt, dem Gelehrten Dolomieu und mehreren anderen französischen Bürgern an Bord bei günstigem Wind in See und entkam glücklich den Nachstellungen der im Mittelmeer kreuzenden englischen Flotte. Nach zehntägiger Fahrt, also am 27. Ventose des Jahres oder am 17. März 1791, lief „Die schöne Malteserin" wohlbehalten in Brindisi ein, von wo aus das Schiff nach gründlicher Überholung nach Frankreich in Segel gehen sollte. Aber es kam anders. Erst zwei Jahre später, am 5. April 1801, sollte mein Vater die Heimat wiedersehen, nachdem er eine Gefangenschaft überstanden hatte, die ein Hohn auf jedes göttliche und menschliche Recht war, eine Gefangenschaft, die aus dem von Gesundheit und Kraft strotzenden Mann einen an Leib und Seele gebrochenen Greis gemacht hatte, der kaum vierzig Jahre zählte und der nun langsam, aber sicher, dem Grab entgegensiechte. Hoche starb an Gift, Joubert fiel bei Novi, Kleber wurde in Kairo ermordet, und mein Vater fühlte bereits die ersten Anzeichen von Magenkrebs, eine natürliche Folge des Arseniks, das man ihm in Neapel beigebracht hatte. Die Rache kam, aber zu spät für meinen armen Vater. Am 24. Februar zogen die Franzosen in Neapel ein und vertrieben die Bourbonen. Zwei Tage später, am 26. Februar, starb mein Vater. Mein Vater, der gegen den vom Kaiser von Österreich nach Neapel abkommandierten General Mack ausgewechselt wurde, der 1805 bei
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der Kapitulation von Ulm zum drittenmal in Gefangenschaft geriet, hatte noch den rückständigen Sold für zwei Jahre sowie seinen Anteil an der Entschädigung von 500 000 Franken zu erhalten, die die neapolitanische Regierung für die überlebenden Gefangenen zu zahlen hatte. Er wandte sich deshalb an seinen Freund Murat, an Bonaparte und an den Kriegsminister, aber überall erhielt er abschlägige Antworten. Das Buch, in das mein Vater seine Korrespondenz einzutragen pflegte, liegt offen vor mir ... Hier endet es. Es folgen nur noch leere Seiten. Die Briefe an den Kriegsminister und an den ersten Konsul sind die letzten, die er geschrieben hat. Sie sind wohl unbeantwortet geblieben. Mein Vater bekam weder sein Teil der Entschädigung noch sein rückständiges Gehalt ausbezahlt, er wurde einfach pensioniert und bezog vom 1. Vendemiaire des Jahres X an jährlich 7500 Franken Ruhegehalt. Nun verlor mein armer Vater allen Mut. Er brach zusammen und begrub sich in die Nacht der Untätigkeit, die der schauerlichen Totenkammer glich, in der die Verurteilten die letzte Rast hielten, ehe sie das Schafott bestiegen. In stumpfsinnige Betäubung versunken, die nur bisweilen durch Ausbrüche der Verzweiflung und des Zornes über das an ihm begangene Unrecht unterbrochen wurde, erwartete er die letzte Stunde, die die meisten seiner Waffengefährten, die glücklicher waren als er, auf dem Schlachtfeld begrüßt hatten.
Meine ersten Jahre - Mein Vater stirbt
Ich wurde, wie ich bereits erzählte, am 5. Thermidor des Jahres X der Republik oder am 24. Juli 1802 um halb fünf Uhr morgens geboren. Wenn man dem Brief, den mein Vater am Tage nach meiner Geburt an seinen Freund, den General Brune, schrieb, Glauben schenken darf, so sah ich gleich beim Eintritt ins Leben gesund und kräftig aus. Meine Taufpaten waren der General Brune, der sich durch meinen Vater vertreten ließ, und meine Schwester Amata Alexandra Dumas, die damals neun Jahre alt war. Vor der Abreise nach Ägypten hatte, wie man sich wohl erinnert, mein Vater die Übereinkunft getroffen, dass Bonaparte und Josephine Taufpaten sein sollten, falls meine Mutter einem Knaben das Leben schenkte. Aber seitdem hatte sich so vieles geändert, dass mein Vater den ersten Konsul erst gar nicht an das Versprechen erinnerte, das er ihm als Obergeneral gegeben hatte. Der erste Lichtstrahl, der das früheste Dunkel meines Lebens erhellte und eine Erinnerung aus jener Zeit meinem Geist einprägte, schreibt sich vom Jahre 1805 her. Ich habe ein klares Bild von dem Aussehen des Schlosses Les Fosses, das wir bewohnten. Dieses Bild beschränkt sich zunächst auf Küche und Speisezimmer, zwei Orte, die ich ohne Zweifel am liebsten besuchte.
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Ich habe das Schloss seit 1805 nicht wiedergesehen, und doch weiß ich, dass man über eine Stufe in die Küche hinabstieg, dass neben der Tür ein großer Holzblock stand, dass unmittelbar danach der Küchentisch kam, und dass sich diesem gegenüber auf der linken Seite der Kamin befand. An diesem Kamin stand fast immer das Lieblingsgewehr meines Vaters, mit Silberbeschlag und Maroquinpolster am Kolben, das Gewehr, das zu berühren mir bei strengster Strafe verboten war, und das ich doch immer wieder anfasste, ohne dass meine gute Mutter je eine ihrer Drohungen in die Tat umsetzte, trotz des Schreckens, den sie mir dadurch einzujagen suchte. Die übrige Tischgenossenschaft unseres Hauses zähle ich hier der Reihe nach auf, und zwar nach der Wichtigkeit, die ich jeder einzelnen Person beizulegen pflegte. Es waren dies: Ein großer schwarzer Hund namens Treff, der das Privileg besaß, mir jederzeit willkommen zu sein, da ich auf ihm gewöhnlich meinen Ritt machte. Ein Gärtner, der Pierre hieß und der für mich im Garten eine Sammlung von Fröschen und kleinen Schlangen anlegte, zwei Tiergattungen, für die ich eine besondere Vorliebe besaß. Hippolyt, der Kammerdiener meines Vaters, ein schwarzer Trottel, dessen kindisches Geschwätz in unserem Hause zu Sprichwörtern wurde, und den mein Vater scheinbar nur behielt, um sich eine vollständige Anekdotensammlung zu verschaffen. Dann der Pförtner Mocqet, den ich stets bewunderte, weil er von seiner Geschicklichkeit die großartigsten Geschichten erzählte, die er aber jedes Mal unterbrach, wenn mein Vater hinzukam, weil der von dieser Geschicklichkeit scheinbar durchaus nicht soviel hielt wie der Erzähler. Schließlich noch unsere Köchin Marie. Ihr Bild zerfließt fast gänzlich in dem Halbdunkel meiner ersten Lebensjahre. Treff starb Ende 1805 an Altersschwäche und wurde von Mocqet und Pierre in einer Ecke des Gartens begraben. Es war das erste Begräbnis, dem ich beiwohnte, und ich vergoss aufrichtige Tränen über das Dahinscheiden des alten Freundes meiner frühesten Kindheit. Meine übrigen Erinnerungen schimmern mir wie einzelne zerstreute Lichtpunkte ohne Ordnung und Reihenfolge aus dem Halbdunkel meiner Jugend entgegen. Als ich eines Tages im Garten spielte, rief mich Pierre zu sich. Ich eilte hin, denn ich wusste, wenn Pierre mich ruft, muss er ohne Zweifel einen meiner Beachtung würdigen Fund gemacht haben. Wirklich hatte er eine Natter entdeckt, die am Bauch einen förmlichen Höcker hatte. Er hieb sie mit dem Grabscheit auseinander, und siehe da, aus dem Bauch der Natter kroch ein Frosch hervor, der vom Beginn des Verdauungsprozesses, der mit ihm vorgenommen werden sollte, zwar noch etwas betäubt war, sich aber bald wieder erholte, erst den einen, dann den andern Fuß ausstreckte, das Maul aufriss und forthüpfte, erst langsam, dann etwas schneller, und endlich so flink als ob ihm gar nichts geschehen wäre. Dieser Vorgang, der mir seither noch nicht wieder begegnete, machte auf meinen Geist ,einen so lebhaften Eindruck, dass ich noch jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe nur die Augen zu schließen brauche, um die beiden noch
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zuckenden Hälften der Schlange, den erstarrten Frosch und Pierre, auf seinen Grabscheit gestützt und über meine Verwunderung lachend, leibhaftig vor mir zu sehen. Nur Pierres Gesichtszüge sind, wie die Umrisse einer schlechten Fotografie, durch die Zeit in meinem Gedächtnis etwas verblasst und verschwommen. Ich erinnere mich auch noch, dass mein Vater, der krank und leidend war, im Jahre 1805 unser Schloss Les Fosses mit einem Haus oder Schloss in Antilly vertauschte. Von diesem Ort ist mir auch nicht eine einzige Erinnerung geblieben. Ich weiß nur, dass beim Umzug Pierres Rücken meiner Person als Transportmittel dienen musste. Es hatte die beiden vorhergehenden Tage stark geregnet, und ich war ganz erstaunt, als ich Pierre unverdrossen durch die Pfützen waten sah, die den Weg durchschnitten. „Ja, kannst du denn schwimmen, Pierre?" fragte ich ihn. Der Mut, mit dem sich Pierre durch die Kotlachen arbeitete, muss mir damals mächtig imponiert haben, denn die eben angeführten Worte sind meine ersten, auf die ich mich besinnen kann, und wie die Töne im Münchhausener Posthorn, die im Winter einfroren und im Frühjahr auftauten, so tönen jene Worte auch jetzt noch mit dem fernen, fast verklungenen Schall meiner Kinderstimme an mein Ohr. Was mich mit besonderem Staunen erfüllte, das waren die bewunderungswürdigen Körperformen meines Vaters, zu deren Erzeugung die Statuen des Herkules und des Antinous zusammengegossen schienen, und die ich nur mit der hageren, armseligen Gestalt Hippolyts vergleichen konnte. Unterdessen hatte sich der Gesundheitszustand meines Vaters fortwährend verschlimmert. Man empfahl ihm Dr. Duval in Senlis, der ziemlichen Ruf besaß. Dr. Duval scheint meinem Vater geraten zu haben, sich nach Paris zu begeben und dort Corvisart zu konsultieren, den Leibarzt Napoleons. Mein Vater plante schon seit längerer Zeit diese Reise. Er wollte Brune und Murat wiedersehen, und er hoffte, durch ihre Vermittlung auch die Entschädigung für seine Gefangen schaft in Brindisi und seinen rückständigen Sold zu bekommen. An diese Reise hat sich mein Gedächtnis fester geklammert, und ich erinnere mich ihrer noch vollkommen. Es war ungefähr im August oder September 1805. Wir stiegen in der Ruc Thiroux bei einem Herrn Dolle, einem Freund meines Vaters, ab. Dolle war ein kleines, altes Männchen, das einen grauen Überrock, samtne Beinkleider, buntgewebte Baumwollstrümpfe und Schnallenschuhe trug. Seine Frisur bildete zu beiden Seiten des Kopfes ein Paar Taubenflügel, hinten hing ein mit einem roten Band umflochtenes Zöpfchen, das in einem weißen Büschel auslief. Der hohe Kragen seines Rockes zwang dieses Zöpfchen zu einer gen Himmel ragenden, ungemein herausfordernden Stellung. Seine Frau mag einst recht hübsch gewesen sein, und ich glaube fast, dass mein Vater früher eher ein Freund der Frau als des Mannes gewesen war. Ich führe all diese Einzelheiten an, um zu zeigen, wie scharf mein Gedächtnis ist und wie fest ich mich darauf verlassen kann. Unser Weg führte zu meiner Schwester. Sie befand sich in einer vornehmen Erziehungsanstalt
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unter Leitung einer Frau von Marilloc und eines Fräuleins von Ryan, einer Engländerin - zwei Damen, die allmählich das kleine Vermögen verschlangen, das wir einst erben sollten. Wir kamen gerade während der Erholungsstunde in das Pensionat. Die Mädchen hatten mich kaum mit meinen langen, blonden Haaren erblickt, die damals noch gelockt statt gekräuselt waren; kaum hatten sie erfahren, dass ich der Bruder ihrer Freundin war, als auch schon das ganze Pensionat wie ein Taubenschwarm mich umschwirrte. Leider hatte ich durch die Gesellschaft Pierres und Mocqets wenig feine Umgangsformen gelernt und in Fosses wie in Antilly nur wenig Menschen zu Gesicht bekommen. Der freundschaftliche, aber geräuschvolle Empfang erhöhte noch meine angeborene und angewöhnte Wildheit, und für all die Liebkosungen, mit denen mich die reizenden Mädchen überschütteten, begann ich Fußtritte und Faustschläge auszuteilen, von denen jede, die so unklug war, sich mir zu nähern, ihren gebührenden Anteil erhielt. Zu jener Zeit waren Ohrringe bei Männern sehr in Mode, und da wir gerade auf dem Boulevard waren, wollte mein Vater die Gelegenheit benutzen und meine beiden Ohrläppchen mit kleinen Goldringen schmücken lassen. Als der entscheidende Augenblick gekommen war, sträubte ich mich fürchterlich, aber eine riesige Aprikose, die mein Vater mir kaufte, überwand alle Hindernisse, und um einen Schmuck reicher trat ich den Rückweg in die Rue Thiroux an. Wir mochten ungefähr den dritten Teil der Rue du Mont Blanc durchschritten haben, als mein Vater sich von meiner Mutter trennte. Er nahm mich mit und führte mich in ein großes Haus, wo lauter Diener in roter Livree aufwarteten. Wir mussten einige Augenblicke warten, dann führte man uns durch viele prächtige Zimmer bis zu einem Schlafgemach, wo auf einem Sofa eine Dame lag, die meinem Vater beim Eintritt mit würdevoller Geste die Hand reichte. Mein Vater küsste ehrfurchtsvoll die dargebotene Rechte und setzte sich dann neben die Dame. Wie kam es, dass ich, der ich noch soeben für all die hübschen Mädchen, die mich küssen wollten, nur Rippenstöße und Scheltworte übrig hatte, wie kam es, dass ich nun, als mich die alte Dame zu sich rief, bereitwillig meine beiden Wangen hinhielt? ... Weil in dem Wesen der alten Frau etwas ungemein Anziehendes und doch Gebieterisches lag. Mein Vater blieb ungefähr eine halbe Stunde bei der Dame, und ich lehnte die ganze Zeit hindurch regungslos an ihrem Knie. Dann verließen wir sie, und sie mag mich vielleicht für das wohlerzogenste Kind von der Welt gehalten haben. Vor dem Tor blieb mein Vater stehen, er nahm mich auf den Arm und hob mich so hoch, dass mein Auge gerade in das seine blickte. Das tat er immer, wenn er mit mir etwas Ernstes zu reden hatte. „Mein Kind", begann er, „als ich in Florenz war, las ich die Geschichte eines Bildhauers, der, als er wohl in deinem Alter war, seinem Vater einen Salamander zeigte, der im Feuer spielte. Sein Vater gab ihm eine tüchtige Ohrfeige und sagte zu ihm: Mein Sohn, diese Ohrfeige gebe ich dir nicht zur Strafe, sondern damit du dich immer daran erinnerst, dass du etwas sahst, was kaum ein Mensch, unserer Generation gesehen hat und was auch wohl
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nur wenig Menschen der kommenden Geschlechter sehen werden, nämlich einen Salamander. Nun sieh, ich will es ebenso machen wie der Vater jenes Bildhauers, nur dass ich dir keine Ohrfeige gebe, sondern dieses Goldstück, damit du dich jederzeit daran erinnerst, dass dich heute eine der edelsten und größten Frauen geküsst hat, die Frau Marquise von Montesson, die Witwe des vor zwanzig Jahren verstorbenen Herzogs Louis Philippe von Orleans." *) Ich weiß nicht, welchen Eindruck eine Ohrfeige von der Hand meines Vaters auf mein Gedächtnis gemacht hätte, aber so viel weiß ich, dass dieser zarte Wink, von einem großen Goldstück begleitet, jene ganze Szene so tief in mein Gedächtnis eingrub, dass ich noch jetzt die liebenswürdige alte Dame vor mir sehe, wie sie, mit ihren zarten Fingern spielend, durch meine Locken fuhr, während sie mit meinem Vater sprach. Am andern Tage frühstückten Brune und Murat mit uns. Vom Fenster des Zimmers sah man nach dem Montmartre hinüber, und ich erinnere mich, dass ich gerade einem Drachen nachschaute, der hoch über den Windmühlen in den Lüften schwebte, als mein Vater mich rief. Er hieß mich, Brunes Säbel zwischen die Beine nehmen und Murats Hut aufsetzen und in diesem Aufzug im Galopp um den Tisch reiten. „Mein Kind", sagte er dann, „vergiss nie, dass du auf Brunes Säbel und mit Murats Hut diesen Ritt um den Tisch gemacht hast, so wie du nie vergessen darfst, dass du gestern Frau von Montesson, die Witwe des Herzogs Louis Philipp von Orleans geküsst hast." Du siehst, lieber Vater, ich habe keine jener Erinnerungen vergessen, die du mir zu behalten geboten hast. Ich habe sie treulich in mir getragen, weil die Erinnerung an dich, seit ich zu denken vermag, der heiligen Lampe gleich in meinem Herzen lodert, und ihr helles Licht auf alle Personen und alle Gegenstände fällt, die du mir einst gezeigt hast, obwohl der Tod jene Menschen längst meinem Auge entrückt, die Zeit jene Gegenstände längst zerstört hat. Mein Vater hatte Corvisart konsultiert, und obwohl dieser ihn zu beruhigen suchte, fühlte er dennoch den Tod herannahen. Mein Vater hatte versucht, eine Audienz beim Kaiser zu erhalten, aber der Kaiser Napoleon wollte meinen Vater nicht sprechen. Da wandte er sich nun an seine Freunde Brune und Murat, die soeben Marschäille des Kaiserreichs geworden waren. Brune blieb immer derselbe, aber Murat war steif und kalt geworden. Jenes Frühstück hatte den Zweck, mich und meine Mutter dem Schutz der beiden Marschälle zu empfehlen, meine Mutter, die eine Witwe, und mich, der ich eine Waise werden sollte, denn in dem Augenblick, da mein Vater starb, ging auch seine Pension mit ihm zu Grabe, und wir blieben in Armut zurück. Beide versprachen
*) Charlotte Jeanne Berand de La Haie de Rion, Marquise de Muntesson, seit 1769 Witwe, heiratete 1773 den Herzog von Orleans, je gros Philippe", den Vater des 1793 guillotinierten Philippe Egalite. Napoleon, der sie als Vertreterin der Kultur und des feinen Geschmacks des ancien regime schätzte, überhäufte die douairiere d'Orleans" mit Gunstbezeigungen. Obwohl sie nur die morganatische Gemahlin des Herzogs gewesen war, räumte er ihr den Rang einer königlichen Prinzessin ein, stellte ihr ein Palais zur Verfügung und bewilligte ihr eine Witwenpension von 160 000 Franken.
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ihr möglichstes zu tun, wenn jener bedauerliche Fall eintreten sollte. Mein Vater umarmte Brune, drückte Murat die Hand und verließ am folgenden Tage Paris, im Leib und in der Seele den Tod tragend. Wohin wir zurückkehrten? Ich weiß es nicht, ich glaube jedoch nach Villers-Cotterets. Ich erinnere mich, dass uns gegen Ende Oktober ein Wagen abholte, der am großen Portal des Schlosses hielt. Ich war immer hoch erfreut, wenn mein Vater mich auf seinen Ausflügen mitnahm. Wir fuhren diesmal durch den Park und die Blätter der Bäume flatterten bereits gleich Scharen von Zugvögeln durch die Lüfte. Nach etwa einer halben Stunde gelangten wir zum Schloss Montgobert. Hier war die Livree der Dienerschaft grün und nicht rot, wie bei Frau von Montesson. Wir wurden in ein mit Kaschmir tapeziertes Boudoir geführt. Dort lag eine Dame auf einem Sofa ausgestreckt. Aber diese Frau war schön und jung, ja sogar sehr schön und sehr jung, so schön, dass ich, obwohl noch ein Kind, von ihrer Schönheit überrascht wurde. Diese Frau war Pauline Bonaparte, die Schwester des Kaisers Napoleon. *) Sie war eine ungemein liebliche Erscheinung, ganz Anmut und Züchtigkeit. Sie trug gestickte Pantoffel, die waren so zierlich und fein, als hätte die Fee aus dem Märchen sie ihr geschenkt. Sie stand nicht auf, als mein Vater eintrat, sie streckte ihm nur die Hand entgegen und hob den Kopf, weiter nichts. Mein Vater wollte sich neben ihr auf einen Stuhl niederlassen, aber sie hieß ihn sich zu ihren Füßen setzen, die sie auf seine Knie legte, dann begann sie mit den Spitzen ihrer kleinen Pantoffeln an den Knöpfen seines Rockes herumzuspielen. Dieser Fuß, diese Hand, diese allerliebste kleine Frau, so weiß und so zart, neben diesem kriegerischen Herkules -, es war das schönste Bild, das man sich denken kann. Ich sah sie an und lachte; die Prinzessin rief mich zu sich und reichte mir eine wunderschöne, dicht mit Gold verzierte Schildpattbüchse, die mit Pralinen gefüllt war. Aber ganz verblüfft stand ich da, als sie den Inhalt herausnahm und mir die leere Büchse reichte. Auch mein Vater war darüber sehr verwundert, sie aber neigte sich zu seinem Ohr und flüsterte ihm ganz leise einige Worte zu, worauf beide in lautes Gelächter ausbrachen. Mit diesem Augenblick hatte die weiße, rosig angehauchte Wange der Prinzessin das dunkelbraune Antlitz meines Vaters berührt und jenes Weiß musste dadurch noch blendender, dieses Dunkel noch tiefer erscheinen -, beide waren in ihrer Art wunderbar schön. Das war auch meinem Kinderauge nicht entgangen, und wäre ich ein Maler, ich könnte noch heute ein treues Gemälde dieser beiden schönen Menschen entwerfen. Ich habe die Prinzessin seitdem nicht wiedergesehen, aber ihr Bild prägte sich damals so tief meiner Seele ein, dass ich sie noch in diesem Augenblick vor mir sehe. Ob wir in Montgobert übernachteten oder noch am selben Tage nach Villers-Cotterets zurückkehrten, ich weiß es nicht mehr.
*)Bonaparte (1780-1825) hatte 1803, nachdem ihr erster Gatte, der Divisionsgeneral Leclerc, auf Haiti gestorben war, den Fürsten Camillo Borghese geheiratet
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Ich weiß nur, dass mein Vater immer schwächer wurde, dass er weniger ausging, seltener ausritt, dass er längere Zeit das Zimmer hütete und mich mit ernsterer Miene als sonst auf seine Knie nahm. Alle diese Erinnerungen tauchten in meinem Gedächtnis erst später in hellerem Licht auf wie beim Aufflammen der Blitze die Gegenstände, die man in dunkler Nacht gesehen hat. Wenige Tage vor seinem Tode wurde meinem Vater ein Jagdrecht verliehen. Er erhielt es von Marschall Berthier, dem Oberstjägermeister der Krone. Alexander Berthier war ein alter Feind meines Vaters, ich glaube auch, dass er ihn bei der Belagerung von Mantua als „auf Beobachtung stehend" bezeichnete. Er hatte ihn auch auf dieses Jagdrecht, gültig vom 23. September bis 6. März, ziemlich lange warten lassen. Meinem Vater wurde es am 24. Februar 1806 zugestellt, und am 26. Februar starb er. Am Tage vor seinem Tod wollte mein Vater wieder ausreiten, um zu zeigen, dass er seinen Schmerz bewältigen könne, aber diesmal wurde der Bewältiger der Bewältigte. Er musste nach einer halben Stunde wieder umkehren. Er legte sich zu Bett und stand nicht wieder auf. Meine Mutter holte den Arzt. In diesem Augenblick schien sich ein Anfall von Irrsinn und Verzweiflung meines Vaters zu bemächtigen. „Allmächtiger Gott", rief er, „muss ein General, der mit 35 Jahren drei Armeen befehligte, mit 40 Jahren wie eine Memme in seinem Bett sterben? Mein Gott, mein Gott, was habe ich gegen dich gesündigt, dass du mich so jung von meinem Weib und meinen Kindern reißest!" In der Nacht, da mein Vater starb, wurde ich zu meiner Kusine Marianne gebracht, die bei ihrem Vater in der Rue de Soissons wohnte. Das wurde schon gegen fünf Uhr nachmittags beschlossen, entweder weil man meinen jugendlichen Augen den Anblick eines Leichentuches ersparen wollte oder weil man fürchtete, ich könnte in einem so schweren Augenblick daheim den übrigen zur Last fallen. Um Mitternacht hauchte mein Vater in den Armen meiner Mutter seinen Geist aus. Ich hatte meinen Vater angebetet. Vielleicht war diese grenzenlose Verehrung in jenem Alter des Gefühlslebens - das Alter der Liebe möchte ich es heute nennen - nichts weiter als naives Erstaunen über diesen herkulischen Wuchs und über diese gigantische Kraft, die ich ihn so oft entfalten sah, vielleicht war es auch nur eine kindisch stolze Bewunderung für seinen gestickten Rock, seinen dreifarbigen Federbusch und seinen großen Säbel, den ich kaum aufheben konnte. Aber soviel ist gewiss, dass mir das Bild meines Vaters bis auf die kleinste Bewegung seines Körpers, bis auf den feinsten Zug seines Gesichts noch immer so gegenwärtig ist, als wenn ich ihn erst gestern verloren hätte. Soviel ist gewiss, dass ich ihn auch jetzt noch liebe, dass ich mich seiner mit derselben zärtlichen, tief empfundenen und wahren Liebe erinnere, als wenn er über die Tage meiner Jugend gewacht hätte, als wenn es mir vergönnt gewesen wäre, gestützt auf seinen mächtigen Arm vom Knaben- ins Jünglingsalter hinüberzuschreiten.
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Mein Vater aber hing auch an mir mit der nämlichen an Vergötterung grenzenden Liebe. Ich habe schon früher gesagt und will es immer und immer wiederholen, zumal wenn es wahr ist, dass die Seele des Verstorbenen zurückbleibt und alles vernimmt, was über sie gesagt wird. I n den letzten Jahren seines Lebens war das Wesen meines Vaters durch die unsäglichen Leiden etwas rauer und gereizter geworden. Er konnte in seinem Zimmer kein Geräusch, kaum eine Bewegung vertragen, aber bei mir machte er stets eine Ausnahme. Dass mein Vater so rasch sterben würde, daran dachte ich nicht im entferntesten, da ich ihn ja noch am Tag vorher ausreiten sah. Von Augenblick an drängt sich ein dichter Schleier zwischen meine und diesen letzten Tag seines Lebens, und ich erinnere mich nur eines nächtlichen Ereignisses, das sich mit allen Einzelheiten meinem Gedächtnis aufs tiefste eingeprägt hat. Ich war also zum Vater meiner beiden Kusinen gebracht worden. Der wackere Mann hieß Fortier und war Schlosser, er hatte einen Bruder, der Dorfpfarrer war. Ich blieb bei meiner Kusine Marianne und ich blieb nicht ungern. Am liebsten besuchte ich die Schlosserwerkstatt wo ein Lehrjunge namens Picard sich viel mit mir beschäftigte. Ich machte aus Eisenspänen Feuerwerk, und die Gesellen , erzählten mir eine Menge Geschichten, die ich sehr interessant fand. ich blieb in der Werkstatt bis zum späten Abend, wo der geisterhafte Wiederschein des Feuers und das wechselnde Spiel von Licht und Schatten mich mit aller Macht festhielt. Gegen acht Uhr holte mich meine Kusine Marianne, legte mich in das kleine Bett, das dem großen gegenüberstand, und ich sank in jenen süßen Schlaf, den der Himmel den Kindern, wie den Tau dem Frühling zur Erquickung gibt. Gegen Mitternacht wurde ich oder vielmehr wurden wir - meine Base und ich durch einen heftigen Schlag an die Tür aus dem Schlaf geweckt. Auf dem Tisch brannte eine Nachtlampe. Beim Schein dieser Lampe sah ich, wie sich meine Kusine bleich und zitternd, aber ohne einen Laut von sich zu geben, im Bett aufrichtete. An die innere Tür konnte unmöglich jemand geklopft haben, da die beiden äußeren verschlossen waren. Aber ich, der ich mich noch heute beim Schreiben dieser Zeilen eines leisen Schauderns nicht erwehren kann, ich fühlte keine Furcht, ich stieg aus meinem Bett und ging auf die Tür zu. „Wohin, Alexander? Wohin willst du?" fragte die Kusine. „Siehst du denn nicht?" erwiderte ich ganz gelassen. „Ich will dem Papa die Tür öffnen, der von uns Abschied nehmen will." Das arme Mädchen sprang wie verzweifelt aus dem Bett und erreichte mich noch, als ich eben die Hand aufs Schloss legte, und brachte mich mit Gewalt wieder in mein Bett zurück. Ich sträubte mich in ihren Armen und rief so laut ich konnte: „Leb wohl, Väterchen, leb wohl, Väterchen." Da war es mir, als streife ein milder, lauer Hauch über mein Angesicht, und ich ward ruhiger. Mit Tränen in den Augen schlief ich ein. Am folgenden Morgen wurden wir mit Tagesanbruch geweckt. Mein Vater war genau in derselben Stunde gestorben, als wir den heftigen Schlag an der Tür gehört hatten. Dann vernahm
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ich, ohne zu wissen, was sie bedeuten sollten, die Worte: „Mein armes Kind, dein Väterchen, das dich so sehr geliebt hat, ist tot." ,Mein Väterchen ist tot? Was heißt das?" - „Dass du ihn nie wieder sehen wirst." - „Und warum soll ich mein liebes Väterchen nicht mehr sehen?" - „Weil Gott ihn zu sich genommen hat." - „Für immer?" - „Ja, für immer, für ewig." - „Und - wo wohnt denn der liebe Gott?" - „Im Himmel." Ich blieb einen Augenblick nachdenkend. Obwohl noch ein Kind und sehwach an Einsicht, fühlte ich dennoch, dass ein verhängnisvolles Ereignis in meinem Leben eingetreten war. Im nächsten Augenblick, wo ich mich unbemerkt sah, ging ich meinem Onkel auf und davon und lief geradeswegs zu meiner Mutter. Die Türen standen offen, ich lief hinein, ohne von jemand gesehen oder bemerkt zu werden. Ich erreichte die kleine Kammer, in der die Waffen aufbewahrt wurden. Dort bemächtigte ich mich eines Gewehres, das meinem Vater gehörte und das man mir oft versprochen hatte, wenn ich einmal groß sein würde. Mit diesem Gewehr schleppte ich mich die Treppe hinauf. Im ersten Stock begegnete ich meiner Mutter. Sie kam eben aus dem Zimmer, wo der Tote lag. „Wo willst du denn hin?" fragte sie, ganz erstaunt, mich hier zu sehen, während sie mich bei meinem Onkel wähnte. „Ich gehe in den Himmel", erwiderte ich. - „Wie? Du gehst in den Himmel?" - „Ja, lass mich, Mutter." - „Aber was willst du denn im Himmel, mein armes Kind?" „Ich will den lieben Gott totschie>3en, weil er unser Väterchen getötet hat." Meine Mutter riss mich in ihre Arme und presste mich an sich, dass ich fast erstickte. „Oh, sprich nicht so, mein Kind", sagte sie, „Gott hat uns ohnehin schon genug gestraft." In der Tat hatte mein Vater kein anderes Vermögen besessen, als seine Pension von 7000 Franken, davon kostete die Erziehung meiner Schwester 120o Franken. Es blieben uns also noch 5800 Franken für die Kosten der Krankheit, für die Reisen eines Sterbenden und endlich für unsere eigenen Lebensbedürfnisse. Das war sehr wenig. Meine Mutter bestürmte nun die alten Freunde meines Vaters, Brune, Murat, Augereau, Lannes, Jourdan, um vom Kaiser eine Pension zu erlangen. Alles vergebens. Die eindringlichsten Bitten scheiterten an dem fast rätselhaften Hass des Kaisers, und als es ihm endlich lästig wurde, fortwährend einen Namen zu hören, der eigentlich nur mehr eine Erinnerung bedeutete, ließ er sich soweit hinreißen, zu Brune, unserem eifrigsten Fürsprecher, zu sagen: Ich verbiete Ihnen, in meiner Gegenwart noch einmal ein Wort von diesem Mann zu reden." Der Marschall Jourdan empfahl meiner Mutter, nach Paris zu reisen, um sich persönlich Seiner Majestät dem Kaiser vorzustellen und seine Gnade in Anspruch zu nehmen. Aber Seine Majestät der Kaiser verweigerte ihr die Audienz, um die sie nachgesucht hatte, und so kehrte sie nach VillersCotterets zurück, nicht einmal um eine Hoffnung reicher, wohl aber um das Geld ärmer, das die Reise gekostet hatte. Wir zogen nun zu unseren Großeltern mütterlicherseits, die noch am Leben waren. Mein Großvater hatte sich eine Wohnung im Hotel
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zum Schwert und Schild vorbehalten, wo mein Vater gestorben war. Wir wählten dieses Sterbezimmer zum Aufenthaltsort und lebten nun umgeben von dem, was ihm einst gehört hatte. Inmitten des Dunkels, in dem die ersten meiner Kindheit gleich halb zerflossenen Träumen schwimmen, hat sich doch die Erinnerung an die drei vorzüglichen Häuser erhalten, in denen ich die Jahre meiner Kindheit erlebte. Es war das Haus der Frau d'Arcourt, des Herrn Deviolaine und des Herrn Collard. Frau d'Arcourt war unsere Nachbarin, sie war die Witwe eines angesehenen Militärarztes und wohnte im Erdgeschoss des anstoßenden Hauses. Was mich, abgesehen von der Freundlichkeit, mit man mich behandelte, an dieses Haus fesselte, war eine prächtige Ausgabe von Buffons Naturgeschichte mit kolorierten Kupfern. Jeden Abend, während meine Mutter vom Friedhof zurückkehrte - ein frommer Gang, den sie auch nicht einen einzigen Tag versäumte ---, sich mit ihrem Schmerz in einem Winkel des Kamins vergrub, während Frau d'Arcourt und ihre Tochter sich mit Handarbeiten beschäftigten, gab man mir einen Band Buffon in die Hand und man war mich für den ganzen Abend los. So geschah es denn, dass ich lesen lernte, ohne zu wissen wie, wohl aber warum. Nämlich um die Geschichte, die Gewohnheiten und Triebe jener Tiere kennen zu lernen, deren Abbildungen ich vor mir sah. Dieser Teilnahme für das Frosch- und ganz besonders für das Schlangengeschlecht habe ich es zu ver danken, dass ich in einem Alter, wo andere Kinder gewöhnlich erst buchstabieren lernen, schon fast alle bekannteren Jugendschriften gelesen hatte. Bei Frau d'Arcourt erfuhr ich auch zum erstenmal was Furcht ist; ein Gefühl, das mir in den ersten Jahren meiner Jugend gänzlich fremd war. Meine Lesewut erstreckte sich auf alles, selbst auf die Zeitungen, die ich seitdem so selten las. Eines Tages fiel ich über das „Journal de l'Empire" her und stieß dort auf die Mitteilung, dass ein Sträfling im Gefängnis zu Amiens am Biss einer Schlange gestorben sei. An diesem Abend tat ich, als wollte ich den Robinson Crusoe verschlingen und bat um Erlaubnis, so spät als möglich zu Bett gehen zu dürfen, das heißt, erst dann, wenn meine Mutter sich legte. Diese Vergünstigung wurde mir ohne Widerrede gewährt. Aber diese Bitte wiederholte sich am zweiten, dritten und an jedem folgenden Abend, so dass ich mich endlich genötigt sah, den Grund zu gestehen. Ich erzählte die Geschichte von dem Gefangenen von Amiens und gestand, dass ich Furcht hatte, von einer Schlange gebissen zu werden, wenn ich früher als die anderen zu Bett ginge. Meine Mutter war über Geständnis erstaunt, denn ich galt bis dahin als ein mutiger Knabe. Sie bot nun alle denkbaren Vernunftgründe auf, um diese Furcht beseitigen, aber das Gefühl war stärker als die Vernunft, und es blieb der Zeit vorbehalten, den Eindruck dieser schrecklichen Erinnerungen, ich will nicht sagen zu verwischen, aber doch abzuschwächen. Nächst dem Haus der Frau d'Arcourt hatten uns Deviolaine und Collard in unserem Unglück die meiste Teilnahme erwiesen. Unser Onkel Deviolaine war Forstinspektor von Villers-Cotterets, er war
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somit einer der angesehensten Männer unseres kleinen Ortes, was auch ganz natürlich ist, da der Ort nur 2400 Seelen, der Wald aber 50 000 Morgen hatte. Im Vergleich zu der kleinen Wohnung, auf die wir seit dem Tod meines Vaters beschränkt waren, musste das Haus des Herrn Deviolaine als ein prächtiger Palast erscheinen; besonders mir armen Knaben, der ich mich fortwährend auf den Straßen und Grasplätzen herumtrieb und bloß von Luft und Sonne zu leben schien. Deviolaines Anwesen bestand aus einem stattlichen Wohnhaus, Stallung, Schuppen, Hühnerhof und einem reizenden Garten, zur Hälfte in englischem, zur Hälfte in französischem Geschmack angelegt; der englische Teil mit lustigen Springbrunnen, Bassins und träumerischen Trauerweiden, der Obstgarten voll Birnen, Pfirsichen, Reineclauden, Artischocken und Melonen -, daneben ein prächtiger Park, dem Auge durch ein Eisengitter, dem Lustwandelnden durch eine kleine Pforte zugänglich. Dieser Park war von Franz I. angelegt und von Louis Philipp wieder abgeholzt worden. Außer diesem Haus hatte Herr Deviolaine inmitten einer lachenden blumigen Ebene eine andere Besitzung, die Saint-Remy hieß. Saint-Remy war ein ehemaliges Frauenkloster. Ich erinnere mich noch an das Bildnis der Äbtissin, das in einem Rahmen über dem Kamin des großen Saales hing: es war eine schöne Frau, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem blauen Gürtel, an dem ein Kreuz hing; dabei war sie rund und voll und hatte einen adligen Namen, der den Leuten noch bekannt war, den ich aber wieder vergessen habe. Das Kloster war bis zum Jahre 1791 oder 1792 bewohnt gewesen; dann wurden die Ordensgelübde aufgehoben, die Tauben des Herrn flatterten eine nach der anderen davon und Herr Deviolaine kaufte das Kloster als Kirchengut. Von diesem Kloster war noch ein langer Kreuzgang vorhanden, das ganze übrige Kloster gehörte den Ratten und Katzen, die einen Waffenstillstand geschlossen hatten und miteinander im besten Einvernehmen lebten. Zwölf Acker Wiesengrund, kleine, von Mauern eingeschlossene Gehölze und Gärten umgaben das Kloster, das rings von Bäumen beschattet wurde, die wahrscheinlich ebenso alt waren wie das Gebäude selbst. Jetzt ist das Kloster samt den Bäumen verschwunden. Aber damals stand noch alles aufrecht, wie die himmelragenden Hoffnungen unserer Jugendzeit. Das Kloster und die Bäume hatten mit den Spekulanten noch keine Bekanntschaft gemacht; es wurde alles in Bausch und Bogen verkauft, Stein und Holz, die Trümmer des unermesslichen Gebäudes und die riesigen Baumstämme. Ach, das große Kloster! Wie war es all sonntäglich so voll von tollen Sprüngen und lustigem Geschrei, wie war doch diese ganze Welt von Kindern, die, durch die Wechselfälle des Lebens der Geburtsstadt entrückt, vom Mutterherzen und vom Mutterland gerissen waren, wie war doch diese Kinderwelt so glücklich, so dankerfüllt für den unbekannten Erbauer dieses unermesslichen Nestes, das, sonst so düster, heute von Schwärmen lustiger Singvögel bevölkert war! Wie mussten sich bei diesem fremdartigen Getöse die schwarzen Schatten in ihren Gräbern regen, diese Körper, die einst eine Seele gehabt, diese Leich
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name, denen einst ein Herz innewohnte und die hier hergekommen, um in das Dunkel des Klosters, in die Nacht der Buße, in die Mysterien der Askese die Flamme ihres Herzens, die Hoffnungen ihrer Seele, die Schönheit ihres Angesichtes für immer zu begraben! Wir lachten, wo einst vielleicht so viele Tränen geflossen waren, wir hüpften leichten Fußes dem Leben entgegen, wo einst vielleicht so viele mit gemessenem düsterem, verzweifeltem Schritt sich dem Tod entgegenschleppten. Aber was kümmerte das uns, Kinder des gestrigen Tages! Gab es denn für uns eine Zukunft? Erinnerte man sich doch kaum des jüngsten Herbstes mit seinen vergilbten, des jüngsten Frühlings mit seinen grünenden Blättern! Alle unsere Erinnerungen reichten nur bis zum gestrigen, all unsere Hoffnungen bis zum morgigen Tag. Vierundzwanzig Stunden waren für uns die Zukunft, ein Monat die Ewigkeit. Wie viele Erinnerungen der Kindheit mag ich in und um diesen Bau vergessen haben, die mir, wenn ich heute dahin zurückkehrte, bei jedem Schritt wieder begegnen müssten, wie jene Diamant-, Rubin- und Saphirblumen aus Tausendundeiner Nacht, die in ewig frischem Glanz strahlen und nie verwelken. Eines Tages hatte ich in diesem Garten eine fürchterliche Angst auszustehen. In einem Winkel befand sich ein verfallenes Türmchen ohne Dach. In den heißen Augusttagen war dieser Ort den versengenden Strahlen der Sonne ausgesetzt, und es herrschte darin eine Hitze wie in einem Glühofen. An solchen Tagen machte es mir Vergnügen, zuzusehen wie die Fliegen scharenweise das Gemäuer umschwärmten, die Schmetterlinge sich behaglich in der warmen Luft wiegten und die schönen grün und grau gefärbten Eidechsen durch die Mauerrisse huschten. Eines Tages, als ich eben wieder in der Nähe dieses Türmchens spielte, vernahm ich ein schneidendes Zischen. Ich trat näher und gewahrte durch die Öffnung, die einst eine Tür war, zwei große Schlangen, die sich auf den Schwänzen aufgerichtet hatten und mir spiralgewundenem Körper ihre schwarzen Zungen mit einem lauten Gezisch der Liebe und des Zornes einander entgegenreckten. So mögen die beiden Schlangen ausgesehen haben, denen Merkur einst seinen Stab hinwarf und die sich dann ewig und unzertrennlich um ihn schlangen. Aber ich war kein Merkur, ich hatte keinen Zauberstab, der den giftigsten Hass zu beschwichtigen vermochte, und so suchte ich mein Heil in der Flucht. Ich begegnete Herrn Deviolaine; als er mich so verstört sah, fragte er, was mir widerfahren sei. Ich erzählte es ihm, aber zu meiner größten Verwunderung teilte er meine Furcht durchaus nicht, sondern riss einen Pfahl, der einem jungen Baum als Stütze diente, aus der Erde und schritt auf den Turm zu, von wo er nach einem etwa fünf Minuten langen Kampf als Sieger über die beiden Schlangen zurückkehrte. Seit diesem Augenblick erschien mir Deviolaine als Herkules, als ein Bezwinger von Ungeheuern. Ich werde noch oft auf Herrn Deviolaine zurückkommen müssen, denn er übte großen Einfluss auf mein Schicksal aus: er war derjenige, den ich am meisten fürchtet und den ich dennoch nächst meinem Vater am meisten liebte. Gehen wir jedoch vorläufig auf Herrn Collard über.
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Herrn Collards Gemütsart war ebenso sanft, seine Miene ebenso freundlich, als das Gemüt seines Freundes Deviolaine heftig und dessen Miene mürrisch war. Herr Collard, der das anmutige, drei Meilen von Villers-Cotterets entfernte kleine Schloss von Villers-Hellon bewohnte, stammte aus einer aristokratischen Familie, aber er hatte dem Prädikat „von Montjou" entsagt und bloß den schlichten Namen Collard beibehalten, der für demokratische Ohren jedenfalls minder verletzend klang als jener. Ich sprach von dem Garten, den Deviolaine in der Stadt und von jenem, den er auf dem Lande besaß, aber was waren diese Gärten im Vergleich zu dem Park von Villers-Hellon, mit seinen hohen Bäumen, mit seinen schattigen Gehölzen und dem Bach, der sich zwischen seinen grünen Ufern wie ein Silberband zwischen zwei Smaragdreihen hinschlängelte! Egoistisch, wie die Kinder in der Regel sind, zog auch ich von den drei uns befreundeten Häusern das des Herrn Collard allen anderen vor. Das Haus d'Arcourt besaß einen sehr schönen Buffon, aber es hatte keinen Garten. Das Haus Deviolaine hatte einen schönen, ja sogar zwei schöne Gärten, aber Herr Deviolaine machte ein furchtbar finsteres Gesicht. Herr Collard hatte einen schönen Garten, ein freundliches Gesicht und überdies noch eine überaus prächtige Bibel. Aus dieser Bibel lernte ich meine heilige Geschichte und sie prägte sich so tief in mein Gedächtnis, dass ich sie bis zur Stunde nicht mehr zu lesen brauchte. Ich erzählte bereits zwei Vorfälle, die mir eine ungeheure Angst verursachten. Der dritte ereignete sich in Villers-Hellon. Eines Abends, als ich mich eben wieder damit beschäftigte, in der Bibel zu blättern und Kupferstiche zu betrachten - ich war damals vier oder fünf Jahre alt -, hörten wir einen Wagen vor dem Hause halten und bald darauf ein grässliches Geschrei im Speisesaal. Alles stürzte nach der Tür, diese ging auf und es erschien eine leibhaftige Merilhes, wie sie nur die Phantasie Walter Scotts zu denken vermochte. Die Hexe - denn das Wesen, dessen wir ansichtig wurden, konnte auf den ersten Blick mit vollem Recht diesen Namen beanspruchen -, die Hexe war schwarz gekleidet, und da sie unterwegs die Haube verloren hatte, so benützte die Perücke die ihr gebotene Freiheit, Reißaus zu nehmen und ihre eigenen, stark ins Graue spielenden Haare hingen ihr nun wirr an jeder Seite des Gesichtes bis an die Schultern hinunter. Mit dieser Erscheinung war es freilich etwas ganz anderes, als mit der Schlange von Amiens und den beiden Nattern von Saint-Remy; die Schlange von Amiens hatte ich nie anders als im Geist gesehen, und was die beiden Nattern von Saint-Remy betrifft, so hatte ich dort Raum, davonzulaufen, aber die Hexe, die sah ich mit meinen leiblichen Augen und sie befand sich mit mir in einem und demselben Zimmer. Ich warf meine Bibel weg, benützte die Verwirrung, die durch diese unerwartete Erscheinung entstanden war, rannte in mein Zimmer, kroch angekleidet in mein Bett und zog mir alle vorhandenen Decken über die Ohren. Am folgenden Tag erfuhr ich, dass der Gegenstand, der mich mit solchem Schrecken erfüllte, niemand anderes war, als die berühmte
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Frau von Genlis *), die ihre Tochter, Madame Collard, besuchen wollte, aber von ihrem Kutscher im Forst von Villers-Cotterets irregeführt und bei ihrer unbeschreiblichen Furcht vor Gespenstern von einem so panischen Schrecken befallen wurde, dass sie ihn gar nicht los werden konnte, obwohl sie bereits einen tüchtigen Teil davon auf mich übertragen hatte. In diesen drei Häusern verflossen die ersten Jahre meiner Kindheit, rings von lachenden Erinnerungen begrenzt, sanft und heiter wie das Morgenrot des aufdämmernden Tages. Und in der Tat – die sauertöpfische Miene des Herrn Deviolaine und die gespenstische Erscheinung der Frau von Genlis abgerechnet - war in diesen beiden Häusern alles sanft und freundlich und lachend. Die Gärten strotzten von saftig grünen Bäumen und farbig schimmernden Blumen, die Alleen wimmelten von jungen blonden und brünetten Mädchen, lauter schöne, rosige, lächelnde Gesichter, und selbst, wenn sie nicht schön waren, doch wenigstens rosig und jugendlich. Schon in der frühesten Jugend hatte ich, wie gesagt, durch den Buffon der Frau von d'Arcourt und die Bibel des Herrn Collard, besonders aber durch unermüdliche Sorgfalt meiner Mutter lesen gelernt. Später hatte meine Schwester, die ihre sechswöchigen Ferien bei uns verbrachte, meine erste Erziehung dadurch vervollständigt, dass sie mich schreiben lehrte. Ich sehe mich - ich war damals etwa von der Größe eines mäßigen Stulpenstiefels -, wie ich mich in meinem Kattun jäckchen in die Gespräche der Erwachsenen mischte und altklug all die Schätze profanen und heiligen Wissens auskramte, die ich aus der Mythologie und der Bibel geschöpft, all die naturhistorischen Kenntnisse die ich mir aus Buffon und Daudin angeeignet, all die geographische Gelehrtheit, die ich von Robinson Crusoe geborgt, all die sozialen und politischen Ideen, die ich dem weisen Idumenäus, dem Gründer von Salent, abgelauscht hatte. Es gab keinen Gott, keine Göttin, keinen Halbgott, ja nicht einmal einen Faun, eine Dryade oder einen Heros, dessen Stammbaum ich nicht im Kopf gehabt hätte. Herkules und seine zwölf Arbeiten, Jupiter und seine zwanzig Verwandlungen, Vulkan und seine sechsunddreißig Unfälle, das alles hatte ich im kleinen Finger und, was eigentlich noch mehr zu verwundern ist ---, ich weiß es noch bis zur Stunde. Ich hatte unter anderen drei oder vier alte Verehrerinnen - die eine nannte sich Fräulein Pivert und war 65 bis 66 Jahre alt -, die mein Wissen zu schätzen wußten und ihm den gebührenden Beifall nicht versagten. Es gab auch nicht eine einzige heilige oder profane *) Caroline-Stephanie-Felicite du Crest (1746-1830), Nichte der Marquise de Montession, heiratete 1763 Charles-Henri Brulart, Comte de Genlis. Sie war Erzieherin der Kinder des Herzogs Louis-Philippe von Chartres (des nachmaligen Philippe Egalite und dessen Mätresse, dem sie zwei Töchter gebar: Pamela (1772) und Hermine (1774). Beide wuchsen in England auf, wo Pamela 1792 Lord Edward Fitzgerald heiratete. Hermine wurde 1798 die Frau des Gutsbesitzers Jacques Collard. Die Familie wohnte in der Umgebung von Villers-Cotterets und gehörte zum Bekanntenkreis des junqen Dumas. Mme. de Genlis schrieb fast hundert heute längst vergessene empfindsame Romane. Wert besitzen nur ihre 1825 erschienenen „Memoires“(zehn Bände), Napoleon bewilligte ihr eine Jahresrente von 6000 Franken und überließ ihr eine Wohnung im Arsenal. Jean Hamand, Madame de Genlis, 1912. Jules Bertraut, Madame des Genlis, 1941.
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Geschichte, die sie sich nicht von mir erzählen ließen, ja Fräulein Pivert begnügte sich am Ende nicht einmal mehr mit meinen Erzählungen, sondern verstieg sich sogar bis zu meiner Bibliothek, um an der Quelle schöpfen zu können. Ich besaß einen einzelnen Band von Tausendundeiner Nacht, den ich ihr gab. Er enthielt nur die Wunderlampe. Binnen acht Tagen hatte sie ihn verschlungen, brachte mir ihn zurück und verlangte den zweiten Teil, ich versprach ihr ihn für den folgenden Tag. Ich gab ihr denselben Teil, den sie schon einmal gelesen hatte, und in der Meinung, einen neuen erhalten zu haben, las sie ihn auch mit erneutem Vergnügen. So trieb sie es beinahe ein Jahr hindurch und hatte am Schluss einen und denselben Band zweiundfünfzigmal gelesen. „Nun, Fräulein Pivert", fragte ich sie an Neujahr, „macht Ihnen Tausendundeine Nacht` noch immer Vergnügen?" - „O sehr", antwortete sie, „aber, mein kleiner Freund, der so gelehrt ist, du kannst mir wohl sagen: Warum heißen die Helden denn alle Aladin?" Da ich, so gelehrt ich auch war, darauf doch nichts anderes zu sagen gewusst hätte als die Wahrheit, so bekannte ich lieber meine Unwissenheit, und Fräulein Pivert konnte nicht genug bedauern, dass der unbekannte Dichter von Tausendundeine Nacht den einzigen, unverzeihlichen Fehler beging, alle seine Helden Aladin zu nennen. Aber diese ungeheure Wucht von Gelehrsamkeit, die meinen Stolz und die Bewunderung des Fräulein Pivert in so hohem Maße erregt hatte, schien meiner armen Mutter noch lange nicht hinreichend. Meine Schwester war sehr musikalisch und sang auch sehr hübsch. Meine Mutter machte es sich, trotz unserer äußerst beschränkten Lage, dennoch zum Vorwurf, für das eine Kind getan zu haben, was sie für das andere nicht tun konnte; sie nahm sich also vor, mich gleichfalls in Musik unterrichten zu lassen. Da sie jedoch bereits zu der Erkenntnis gelangt war, dass mich meine andere Mutter, die man Natur nennt, in großmütiger Freigebigkeit mit der falschesten Stimme von der Welt begabt hatte, während ich andererseits eine sehr gelenkige Hand und biegsame Finger besitze, so wollte man aus mir einen ganz schlichten „Instrumentalisten" machen. Man wählte dazu die Violine, ein Instrument, das sich am ehesten spielen ließ, ohne dass dazu auch gesungen werden musste, was, wie gesagt, eine meiner schwächsten Seiten war. Die Wahl unter den Professoren von Villers-Cotterets konnte meiner Mutter nicht schwer fallen, denn in dem ganzen Städtchen gab es nur einen. Er hieß Heraux. Vater Heraux war ein echt Hoffmannscher Musikant mit seiner langen hageren Gestalt, mit dem kastanienbraunen Überrock und der Perücke, die beim Grüßen den alten Hut zu begleiten gewohnt war. An Wochentagen wurde die Perücke durch ein schwarzes Seidenkäppchen ersetzt, das Heraux wutentbrannt über die Ohren zog, wenn er seine Schüler falsch spielen hörte. Diese Seidenmütze war ein unentbehrlicher Bestandteil seiner Person geworden. Ich konnte es mir oft nicht versagen, diese Mütze zu betasten etwa, wie es die Liliputaner mit den Kleidern Gullivers machten -, um mich zu überzeugen, dass diese Zierde seines Hauptes kein Teil seiner Haut war; eine Untersuchung, die Heraux mit gewohnter Gutmütigkeit
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über sich ergehen ließ. Nach dieser Mütze kam das magere tiefdurchfurchte Gesicht, eines der geistreichsten und zugleich fratzenhaftesten, die mir je begegnet sind. Da schien jede einzelne Muskel zu zittern und zu schwingen, um einen Gedanken abzuspiegeln, wie die Saiten seiner Violine oder seines Klaviers zitterten, wenn er sie mit seinen langen, gelenkigen und mageren Fingern berührte. Heraux hatte eine abenteuerliche Jugend durchlebt, er war Chorknabe und Orgeltreter in einem Kloster der Prämonstratensermönche, dann Laufbursche bei einem Krämer, Dorfmusikant, später Musiklehrer und endlich Organist. Nachdem ich bei Heraux drei Jahre lang Unterricht genommen hatte, konnte ich auf meiner Violine noch nicht einen einzigen, reinen Akkord spielen. Bei dieser so deutlich ausgesprochenen Abneigung u n d Talentlosigkeit eröffnete endlich Heraux meiner armen Mutter, die darüber ganz untröstlich war, dass er ihr das Geld aus der Tasche stehlen würde, wenn er es noch länger versuchen sollte, aus mir einen Musiker zu machen. So musste ich denn der Violine Lebewohl sagen. Armer Heraux! Nach einem so reich bewegten Leben schläft er jetzt ,den sanften Schlaf des Todes in dem stillen, reizenden Kirchhof von Villers-Cotterets und um sein Grab stehen grünende Bäume, halberschlossene Blumen und träumerische Trauerweiden mit gesenkten Häuptern... Und so oft ich an diesen trefflichen Mann denke, der so heiter, so geistreich und doch mitunter so fanatisch war, fallen mir unwillkürlich die Worte Shakespeares ein, und ich sage mit Hamlet: Ach armer Yorick! ... Ich kannte ihn, Horatio! . . ." Übrigens entsagte ich diesem Unterricht, den ich schon längst aufgegeben hätte, wäre meine Zuneigung für Heraux nicht stärker gewesen als meine Abscheu vor den Solfeggien, mit um so leichterem Herzen, als ich seit kurzem einen anderen für mich viel anziehenderen U n t e r r i c h t genoss: ich lernte fechten. In dem Armenhaus, das einst ein Lusthaus des Herzogs von Orleans w ar und unter der Republik als Kaserne gedient hatte, entdeckte ich zufällig einen trefflichen Fechtmeister. Dieser Mann hieß Monnier, und er war es, der mir im Alter von etwa zehn Jahren den ersten Unterricht im Fechten erteilte.Es wurde allmählich höchste Zeit, sich einmal ernstlich mit meiner moralischen Erziehung zu beschäftigen. M a n hatte für mich bereits bei allen Kollegien, die für die Söhne höherer Offiziere bestanden, um unentgeltliche Aufnahme nachgesucht, aber trotz der dringendsten Bitten konnte man mir weder d i e A uf n a h me ins Prytaneum noch einen Freiplatz in einem kaiserlichen Lyzeum auswirken. Während nun alle Fürbitten fruchtlos blieben, starb einer meiner Vettern, der Abbe Conseil. Er war Erzieher der königlichen Pagen gewesen und bekleidete unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. eine sehr einträgliche Stelle; Abbe Conseil war also reich. Er hinterließ gegen zehntausend Livres Renten, die ein gewisses Fräulein von Ryan erbte, von dem ich bereits früher gesprochen habe. Meine Mutter erhielt ins
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gesamt fünfzehnhundert Franken. Dazu hinterließ er noch für einen seiner Verwandten einen Freiplatz im Seminar zu Soissons. Der künftige Seminarist war - das unterliegt wohl keinem Zweifel - kein anderer als ich. Nun war noch eines zu tun: man musste mich bewegen, ins Seminar zu gehen, was keineswegs leicht war. Wenn vom geistlichen Stand die Rede war, wollte ich keine Vernunft annehmen. Eines Morgens, als meine Mutter alle Verführungskünste der Rede aufgeboten hatte, um mich umzustimmen, als sie mir auf ihr Ehrenwort versicherte, dass es mir jederzeit freistünde, nach Hause zurückzukehren, falls mir das Leben im Seminar nicht behagen sollte, warf ich das verhängnisvolle Ja hin und versprach, mich ihrem Willen zu fügen. Man gönnte mir acht Tage Zeit, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Es war eine große Trennung, die uns nun bevorstand, und sie fiel meiner Mutter wohl ebenso schwer wie mir. Aber sie verbarg ihre Tränen und hatte soviel Gewalt über sich selbst, dass ich, ungerecht wie ich war, auf den Gedanken verfiel, meine Mutter freue sich, mich loszuwerden. Am Tage, bevor ich den Wagen besteigen sollte, der wöchentlich zweimal von Villers-Cotterets nach Soissons fuhr, bemerkte ich, als ich meine kleinen Gerätschaften ordnete, dass mir ein Tintenfass fehlte. Ich teilte dies meiner Mutter mit, und sie fragte mich, was für ein Tintenfass ich gern haben möchte. Ich hatte in bezug auf dieses Tintenfass überaus hochfahrende Gelüste, ich wollte ein Tintenfass aus Horn mit Federbehälter. Aber da meine Mutter diese Beschreibung nicht recht begriff, gab sie mir zwölf Sous und sagte, ich sollte mir das Tintenfass selber kaufen. Ich führte nun meinen ersten Jugendstreich aus. Ich kaufte mir für meine zwölf Sous Brot und Fleischwurst für ungefähr zwei oder drei Tage und ging zu Boudoux. Boudoux war ein Muster in seiner Art. Hätte die Krankheit, die man Boudymie (Fresssucht) nennt, diesen Namen noch nicht gehabt, sie hätte nach ihm benannt werden müssen. Ich habe nie in meinem Leben einen größeren Vielfrass gesehen, als dieser Boudoux es war. Eines Tages kam er zu uns; man hatte eben ein Kalb geschlachtet, das er mit so gierigen Blicken betrachtete, als ob er es mit den Augen verschlingen wollte. „Wenn du es ganz verzehrst", sagte mein Vater, „so kannst du es haben." - „Nun, da bin ich schon dabei, Herr General." Das Kalb wurde nun ganz gekocht, dann aß Boudoux es mit Stumpf und Stiel auf. Als er eben den letzten Knochen abnagte, gratulierte ihm mein Vater und fügte dann hinzu: „Jetzt hast du wohl keinen Hunger mehr, Boudoux?" - „Lassen Sie die Mutter des jungen Dinges, das ich eben verspeiste, an den Spieß stecken, Herr General, und Sie sollen die Antwort haben." Mein Vater ging auf diesen Handel nicht ein; denn seine Kuh war ihm zu lieb, und er wusste wohl, dass Boudoux der Mann dazu war, von ihr höchstens die Hörner übrig zu lassen. Eines Tages, als bei Herrn Danre von Vouty nach der Jagd ein großes Essen stattfinden sollte, wurden vierundzwanzig Hühnchen an den Spieß gesteckt. Boudoux betrachtete sie mit demselben Blick, wie unser Kalb. Danre beging die Unvorsichtigkeit, dem guten Bou
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doux einen ähnlichen Vorschlag zu machen, wie früher mein Vater. Boudoux verzehrte die vierundzwanzig Hühnchen in vierundzwanzig Bissen. Als während der Restauration der Prinz von Conde einmal z u r J a g d nach Villers-Cotterets kam, brachte er eine Meute von hundertzwanzig Hunden mit. Boudoux war mit dem Amt eines Hundejungen betraut und hatte demnach die Verteilung der Kost an die prinzlichen Rüden zu besorgen. Obwohl nun fortwährend dieselbe Menge Brot und Fleisch gekauft wurde, fiel doch auf, dass die armen Tiere matt und mager wurden. Die Sache schien nicht mit rechten Dingen zuzugehen, und man spürte unserem guten Boudoux nach. Da entdeckte man, dass er allein die Portion von vierzig Hunden verzehrte, mithin ein Drittel der gesamten für die Hunde bestimmten Kost. Der Prinz verordnete nun, dass für Boudoux täglich die gleiche
Portion wie für vierzig Hunde zubereitet werden sollte. Boudoux war ein wahrer
Missgriff der Schöpfung. Sein Gesicht war nicht nur mit Blatternarben übersät, sondern förmlich durchfurcht und wie ein Sieb durchbohrt; das Auge, durch eine Verschiebung des Augenlides aus seiner Höhle gedrängt, hing stets voll Tränen und Blut - bis zur Mitte der Wange herab; statt nach auswärts gebogen zu sein, war die Nase gegen den Knorpel hin eingedrückt und über die Oberlippe ganz abgeplattet. Diese Oberlippe unter der beständig schwärzlicher Speichel hervorsickerte, wölbte sich über einen Mund, der dem der Schlangen ähnlich, von einem Ohr bis zum anderen klaffte, um nötigenfalls eine ganze Schöpsenkeule auf einmal aufnehmen zu können; dazu gesellte sich sein Haar, um das ihn Polyphem beneidet hätte, ein struppiger, roter Bart, der sich über die wenigen ebenen Stellen des Gesichtes verbreitete, die von Blatternarben verschont geblieben waren. Mit diesem hohen Grad von Hässlichkeit verband Boudoux eine fast übermenschliche Kraft. Bei Umzügen war er ein unschätzbarer Helfer; er nahm Truhen, Schränke, Betten und Tische auf den Kopf, und trotz seines Hinkebeines hatte er im Handumdrehen eine ganze Wohnungseinrichtung nach einem anderen Haus getragen. Bei all dem besaß Boudoux die Sanftmut eines Lammes. Doch das gehört schon zur moralischen Seite. So hässlich, abstoßend und ekelhaft er auch anzusehen war, so hatten ihn doch alle von Herzen lieb. Er wohnte bei seiner Tante, der Postmeisterin Capuis, aber er speiste bei jedermann. Dreimal täglich machte Boudoux die R un d e durch die Stadt, und wie die Bettelmönche für ihr Kloster, so sammelte er für sich, was sich an Essbarem vorfand. Da er keine Mönche zu verköstigen hatte, sorgte er um so mehr für den eigenen Magen. Das sättigte ihn noch lange nicht, aber es nährte ihn doch immerhin. Dann trieb Boudoux auch ein Gewerbe; er ging auf den Vogelfang. Er beherrschte keine einzige tote Sprache, von den lebenden aber nur seine Muttersprache, und auch die noch ziemlich mangelhaft. Was die Sprache der Vögel anlangt, so war er der erste Philologe nicht nur im Forst von Villers-Cotterets, sondern, wie ich kühn behaupten kann, in allen Wäldern der Welt.
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Ich suchte also Boudoux auf, gestand ihm alles und bat ihn, mich zwei oder drei Tage in einer seiner Waldhütten zu verbergen. Dann kehrte ich nach Hause zurück. Ich wagte aber nicht, gerades Weges dahin zu gehen, sondern begab mich zuerst zu meiner guten Freundin Frau d'Arcourt, und bat sie, meiner Mutter die Rückkehr des verlorenen Sohnes zu melden, ihm aber zugleich einen möglichst schonenden Empfang vorzubereiten. Meine Mutter fiel mir um den Hals und nannte mich dabei einen bösen Jungen. Sie versprach mir, vom Seminar solle keine Rede mehr sein, so froh war sie, mich wiederzuhaben. Ihr ganzer Zorn fiel auf Boudoux, und doch gab sie ihm, so arm sie auch war, fünf Franken. Nun sollte ich statt des Seminars das College des Abbe Gregoire besuchen. Die Schule des Abbe Gregoire wurde College genannt, wie man in England Bastarde großer Herren „Lords" nennt. Abbe Gregoire war nicht nur ein rechtlicher Mann, er war mehr, er war auch ein gerechter Mann. Zweihundert Schüler hatte er im Verlauf der wenigen Jahre seiner Lehrtätigkeit unter den Händen. Ich kenne keinen einzigen unter ihnen, aus dem nicht ein tüchtiger Mensch geworden wäre. Armer, lieber Abbe, den wir so oft in Wut und Verzweiflung brachten, und der uns doch so sehr liebte, wenn er uns auch oft tüchtig auszankte! Ehe noch davon die Rede war, dass ich sein College besuchen sollte, hatte ich ihn bereits so liebgewonnen, dass ich mich ohne den geringsten Widerwillen entschloss, diese neue Bahn meines Lebens zu betreten. Und dann, wie angenehm erschien sie mir im Vergleich zum Seminar! Ich muss bemerken, dass die anderen Kinder der Stadt mich nicht sonderlich mochten, denn ich war eitel, unverschämt, derb, voll Einbildung und Stolz, und dennoch für alle guten Eindrücke empfänglich, die Herz und Gemüt berührten. Physisch war ich ein recht hübscher Junge, hatte lange, blonde Locken, die auf die Schultern herabwallten und sich erst, als ich fünfzehn Jahre war, zu kräuseln begannen, große blaue Augen, rote Lippen und weiße, aber etwas ungleichmäßige Zähne und eine gerade, kleine Nase. Im übrigen war ich schlank und dürr wie eine Stange. Ein furchtbarer Unglücksfall, der das Seminar in Soissons traf, war Ursache, dass meine Mutter, die sich über meine Widerspenstigkeit längst getröstet hatte, dem Himmel aufs neue dafür dankte, dass ich nicht dort hingegangen war. Der Pulverturm der Stadt, ungefähr 5o Meter vom Seminar entfernt, war in die Luft geflogen; das Gebäude stürzte zusammen und acht oder zehn Seminaristen wurden dabei teils getötet, teils verwundet. Mittlerweile starb einer unserer Verwandten; es war derselbe, der mich während der Nacht, in der mein Vater starb, bei sich aufgenommen hatte. Seine Tochter Marianne, unsere Kusine, verließ nun Villers-Cotterets und zog zu ihrem Onkel, dem Abbe Fortier, der Pfarrer des kleinen Dorfes Bethisy war, fünf Meilen von uns entfernt. Er galt für sehr reich. Man war daher allgemein der Ansicht, Marianne habe Glück gehabt, dass sie seine Haushälterin wurde, obwohl der Onkel ein sehr unruhiger Geist war. Ich weiß nicht, durch welche Ver
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hältnisse Abbe Fortier zur Kirche geführt wurde; Abbe Fortier war eigentlich der geborene Dragoneroffizier, während er so nicht etwa ein schlechter Priester, aber jedenfalls ein sonderbarer Priester wurde. Er maß fünf Fuß acht Zoll, war stark wie ein Herkules und kräftig gebaut, trug den Kopf hoch und machte jeden Augenblick, als wäre er auf dem Fechtboden, mit dem rechten Fuß einen Ausfall. Dabei war er einer der besten Billardspieler, einer der ausgezeichnetsten Jäger und einer der größten - Esser, die ich je gesehen habe. Eines Tages wettete Abbe Fortier mit einem Pfarrer aus der Nachbarschaft, er werde zu Mittag hundert Eier verspeisen. Die hundert Eier kamen auf den Tisch, nachdem man sie mit Hilfe der Köchin auf zwanzig verschiedene Arten zubereitet hatte. Die hundert Eier wurden verzehrt. „Gut", sagte er nun, „wenn man richtig spielen will, gibt man bei hundert noch vier dazu; bringt mir also noch vier harte Eier." Und er aß sie mit derselben ruhigen Gelassenheit wie vordem die hundert. Marianne begab sich also zu ihrem Onkel, dem Abbe Fortier, der damals zweiundsechzig war, und, wohl mit Unrecht, nicht mehr für einen tüchtigen Jäger und tüchtigen Esser galt. Er nahm sie sehr gut bei sich auf, und da meine Kusine Marianne mich besonders lieb hatte, gestattete er ihr, mich bei ihrer nächsten Reise nach Villers-Cotterets mitzubringen. Diese Reise fiel mit den Ferien des Jahres 1 8 1 2 z u s a m m e n . Ich erinnere mich, dass wir zur linken Hand eine Strecke lang Gebirge hatten, auf dessen höchster Spitze ein verfallenes Gemäuer sichtbar war. Damals hielt ich dieses Gebirge für einen Zweig der Alpen oder Kordilleren; seitdem habe ich es oft wiedergesehen und zu meinem Erstaunen gefunden, dass es nicht höher als der Montmartre ist. Zur rechten Hand erinnere ich mich einen Turm gesehen zu haben, der mir so hoch schien, dass ich fragte, ob das der Turm von Babel sei. Das Gebirge war der Hügel von Montigny. Der Turm war der von Vez. Nach einer Reise, die mir endlos vorkam und die höchstens sieben oder acht Stunden gedauert hatte, gelangten wir an Ort und Stelle an. Unser Ritt glich der Flucht Josephs und der heiligen Jungfrau Maria nach Ägypten. Es war die günstigste Zeit zu einem Besuch bei Onkel Fortier; es war Anfang September. Onkel Fortier hatte eine schöne Weinlaube, wo die großen vollen Trauben bis zur Erde herabhingen, einen kleinen Hof, wo es Zwetschgen in Hülle und Fülle gab, und einen großen Garten, der von Pfirsichen, Aprikosen und Birnen wimmelte. Überdies stand auch die Jagdzeit nahe bevor. Abbe Fortier nahm mich freundlich auf, obwohl er stellenweise ein dumpfes Knurren vernehmen ließ, das anzudeuten schien, dass ihm nicht alles an meiner Person gefiel. Er war sehr gelehrt. Lateinisch und Griechisch beherrschte er meisterhaft, und er begrüßte mich in der Sprache des Cicero. Ich wollte ihm ebenso antworten und machte in fünf Worten drei grammatikalische Schnitzer. Er wusste nun, wie weit es mit meinem Wissen her war. Ich wollte mich mit Naturgeschichte und Mythologie heraushauen, aber Abbe Fortier war mir auch hierin weit überlegen, und seufzend ließ ich den Kopf hängen. Ich war besiegt. In dem Augenblick, wo ich wie Porus meine Niederlage ein
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gestand, wurde auch der Sieger mild und nachsichtig wie Alexander. Der Abbe begann mich zunächst durch ein ausgezeichnetes Mittagsmahl für sich einzunehmen. Er aß gut und trank noch weit besser. Von Bewunderung erfüllt, staunte ich diesen Mann an. So hatte ich mir die Pfarrer nicht vorgestellt; Abbe Fortier war auf dem besten Weg, mich mit dem Seminar wieder auszusöhnen. Am folgenden Tag nach der Messe ging er auf die Jagd. Die Messe war erst um halb neun zu Ende, aber niemand wagte es, auch nur ein Rebhuhn zu schießen, ehe Abbe Fortier mit geschürzter Soutane, die Jagdtasche auf dem Rücken, die Büchse über der Schulter, voran Finaud, hinterher Diana, erschienen waren. Diesmal hatte er noch einen dritten Genossen, und der war ich. Ich folgte Diana auf dem Fuße. Sooft ein Wild fiel, stürzte ich mit den Hunden um die Wette darauf los, um es aufzulesen. Eine Jagd geht selten ohne ein paar Flüche gegen die Hunde ab. Abbe Fortier fluchte sehr viel, und diese Eigenschaften samt den anderen, die ich schon früher an ihm wahrgenommen hatte, ließen mir diesen Mann als einen ganz eigentümlichen Abbe erscheinen, der mit dem Abbe Gregoire durchaus nichts gemein hatte. Ach, es war ein herrlicher Tag, dieser erste Jagdtag! Wie tief hat er sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Wie viel trug er dazu bei, aus mir einen unermüdlichen Jäger zu machen, der seither die Plage aller Feldhüter geworden ist. Der Abbe war mit meinen Beinen sehr zufrieden und meinte, dass sie jedenfalls mehr wert seien als mein Gehirn. Er machte mir darüber einige boshafte Komplimente, deren Bedeutung ich recht wohl verstand; aber er hatte mir ein so großes Vergnügen bereitet, dass ich ihm durchaus nicht gram sein konnte. Ich blieb vierzehn Tage bei ihm, ich wäre gern mein ganzes Leben lang dort geblieben. Aber meine Mutter rief mich zurück; ich war zum erstenmal längere Zeit von Hause abwesend. Die gute arme Frau! Erst wollte sie mich ins Seminar schicken, und nun schrieb sie mir, sie müsse vor Langeweile sterben, wenn ich nicht sofort zurückkäme. Ich musste wieder den Esel besteigen und ritt nach Crepy, von wo aus man wöchentlich zweimal mit Hilfe der alten Mutter Sabot und ihres Esels nach Villers-Cotterets gelangen konnte. Bei meiner Ankunft fand ich im Hause eine mir fremde Person meinen künftigen Schwager. Es war ein junger Mann von 26 Jahren, der, ohne schön zu sein, so feine und geistreiche Züge besaß, dass sie den Mangel an Schönheit vollkommen ausglichen. überdies war er gewandt in allen Leibesübungen, focht sehr gut, schoss auf 25 Schritte mit einer Pistole den Stöpsel von einer Flasche herunter, war ein tüchtiger Reiter und wenn auch kein ausgezeichneter, doch immerhin ein recht guter Jäger. Vor meiner Abreise kam er zweimal ins Haus, und ich stand bereits mit seinem Hund auf gutem Fuß; der Hund hieß Figaro und hätte unter seiner Rasse für ebenso geistreich gelten können wie sein Herr unter den Menschen. Ich wurde von allen Hausbewohnern, besonders aber von diesem jungen Mann, der Victor Letetfier hieß, freundlich empfangen. Er liebte meine Schwester innig und herzlich und wollte mit allen ihren Angehörigen, sogar mit mir, gut Freund sein. „Mein lieber Alexander", sagte er zu mir, „schon
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seit vierzehn Tagen liegt etwas auf meinem Kamin, das für dich bestimmt ist. Ich brauche dir nicht zu sagen, was es ist; geh und hole dir´s. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Victor wohnte bei Herrn Picot „Zum Schwert", in demselben Hause, in dem mein Vater gestorben war. Auf dem Kamin fand ich unter einigen Silbermünzen, Sporen, Stiefelstrippen und anderen Gegenständen, die bunt umherlagen, eine kleine Taschenpistole, auf die ich mich ohne weiteres stürzte; ich zweifelte keinen Augenblick, dass der für mich bestimmte Gegenstand kein anderer als die Pistole sein könne. Dieses Geschenk, eines der schönsten, die ich erhielt, machte mir ungemein viel Freude. Aber damit, dass ich eine Pistole hatte, war noch nicht alles abgetan; ich brauchte noch etwas anderes, um sie auch benützen zu können. Ich blickte umher; was ich suchte, war in dem Zimmer eines Jägers nicht schwer zu finden. Ich fand auch alsbald eine Pulverbirne und schüttete die Hälfte des Inhaltes in ein Horn. Dann rannte ich ins Parterre hinab; so nannte man bei uns einen Teil des Parkes, der noch nicht zum Forst gehörte. Dort begann ich nun aus meiner Pistole zu feuern und hörte nicht eher auf, als bis ich das letzte Pulverkörnlein verpufft hatte. Im Nu hatten sich sämtliche Gassenjungen des Städtchens um mich versammelt, und binnen kaum einer halben Stunde erfuhr auch schon meine Mutter, dass ich im Park wie besessen im Feuer exerziere. Die gute Frau liebte mich zu sehr, um nicht zugleich einen Unfall zu befürchten. Einer unserer Freunde, Herr Danre de Vouty, war eines Tages bleich und blutend zu uns gekommen. Er hatte in der Umgebung von Villers-Cotterets gejagt; es war zur Winterszeit. Als er über einen Graben setzte, drang etwas Schnee in den Lauf seiner Büchse; diese zersprang und riss ihm ein Stück von der linken Hand weg. Doktor Lecosse nahm ihm sogleich den Daumen ab. Danre wurde nach einem hitzigen Fieber wieder gesund, aber die linke Hand war und blieb verstümmelt. Sooft nun von einer Schusswaffe die Rede war, sah mich meine Mutter schon im Geist bleich und blutend heimkommen wie einst Danre, und dieser Gedanke ängstigte sie so sehr, dass ich mir vornahm, nie in meinem Leben ein Hippolyt oder Nimrod zu werden. Man kann sich nun die Angst meiner Mutter vorstellen, als sie erfuhr, dass ich im Besitz einer Pistole war, überdies auch noch Munition hatte und wacker drauflos knallte. Es war sehr schwer, mir nachzulaufen; wie I,ederstrumpf kannte ich alle Schleichwege und Schlupfwinkel unserer Wälder. In der Mairie wohnte eine Art Pförtner und Polizeidiener. Sein Amt war, wie dies in Provinzstädtchen noch heute üblich ist, wichtige Nachrichten durch Trommelschlag zu verkünden, im Sommer streunende Hunde zu töten, und im Winter Eis aufhacken und Schnee vor den Häusern wegräumen zu lassen. Der Mann hieß Tournemolle. Er wurde also ins Einverständnis gezogen. Kaum war ich wieder daheim, da erschien auch er. Er komme - so meldete er - im Namen der ganzen, durch das Schießen in Unruhe versetzten Stadt, um die Entwaffnung des Schuldigen zu verlangen, ja im Notfall auch zu fordern. Nun setzte es zwar einen Kampf, aber die Obrigkeit siegte, und der Frevler wurde entwaffnet. Meine Freude war also nur von kurzer
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Dauer, sie blühte nicht einmal so lang wie die Rosen. Diese Entwaffnung war eine große Schmach für mich, die ich selbst über die wichtigen Nachrichten, die am folgenden Tag eintrafen, nicht zu vergessen vermochte. Das war am 23. September geschehen, und an diesem Tag brach in Paris Malets Verschwörung aus, während Napoleon in Moskau das Dekret über die Organisation des Theatre-Francais, über die Eisenbergwerke von la Voute unterzeichnete.
Krieg und Invasion
Seit der Schlacht bei Leipzig hatte sich aller Köpfe der Gedanke bemächtigt, dass wir nun etwas Ähnliches erleben würden, wie 1792, nämlich, eine Invasion in Frankreich. Wer jene Zeiten nicht miterlebt hat, der kann sich keinen Begriff machen, wie damals der Name Napoleon von jedem Mutterherzen verflucht wurde. In den Jahren 1813 und 1814 war die alte Begeisterung längst verraucht, weil die Mütter nicht mehr Frankreich, nicht mehr der Freiheit, der von allen angebeteten Göttin, ihre Söhne opferten. Durch die fortwährenden Truppenaushebungen von 1811 bis 1814, durch den Tod von Millionen kräftiger junger Leute, die in den Bergen und Tälern Spaniens, in den Schnee- und Eisgefilden Russlands, auf den Feldern Sachsens und in den Sandsteppen Polens ihre Heldenseelen aushauchten, waren die Altersklassen zwischen 20 und 22 Jahren fast ausgestorben. Die Reichsten hatten vergebens einen, zwei, drei Ersatzmänner gestellt, die sie mit 10 000, 12 '000, 15 000 Franken bezahlten. Napoleon hatte die „Ehrengarde" geschaffen, für die kein Ersatzmann gestellt werden durfte, und so mussten denn die Reichsten und daher die am meisten Bevorzugten ebenso daran wie alle übrigen. Mit sechzehn Jahren wurde man in die Stammrolle aufgenommen und blieb bis zu vierzig dienstpflichtig. Mit Schrecken zählten die Mütter die Jahre ihrer Kinder; es schien, als wollten sie der Zeit die Tage abringen, die für sie mit unheimlicher Geschwindigkeit dahinrollten. Oft drückte mich meine Mutter mit einem erstickten Seufzer und Tränen in den Augen an ihre Brust. „Was ist dir, Mütterchen?" fragte ich. - „Ach, wenn ich daran denke, dass du in vier Jahren Soldat werden musst, dass dieser Mann, der mir immer nur genommen und nie etwas gegeben hat, auch dich mir nehmen und dich fortschicken wird, weit, weit von mir, damit du auf irgendeinem Schlachtfeld an der Moskwa oder bei Leipzig den Tod findest . . . Ach, mein Kind, mein armes Kind." Die Gesinnung, die meine Mutter in diesen Worten aussprach, war zu jener Zeit aller Mütter Gemeingut geworden. Nur äußerte sie sich bei jeder dieser Frauen, je nach Temperament und Charakter in verschiedener Weise; bei meiner Mutter durch Seufzer und Tränen, bei anderen durch Flüche und Verwünschungen, oder auch durch wüste Schmähungen. Dieser Haß, der seit den Unfällen in Russland tiefe Wurzeln gefasst hatte, steigerte sich in dem Maße, wie der Feind von Stadt zu Stadt vordrang und Frankreich immer enger einschloss. Gegen Anfang des Jahres 1814 verbreitete sich die Nachricht, dass der Feind den vater
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ländischen Boden betreten habe. Damit war alles Vertrauen auf das Genie Bonapartes verschwunden. Mit jedem Sieg ging ein Häuflein Krieger und zehn Meilen Land verloren. Wo der Kaiser war, wurde de r Feind geschlagen, aber der Kaiser konnte nicht überall sein. Der Kanonendonner, den wir erst gar nicht, dann nur in der Ferne grollend vernommen hatten, rückte ständig näher. Bei Chateau Thierry und Nogent war gekämpft, Laon war genommen worden. Nun vergrub jeder seine Wertgegenstände. Wir hatten einen Keller, in den man durch eine Falltür gelangte. Meine Mutter trug Wäsche, Möbel, Matratzen hinunter, schloss dann die Falltür zu und ließ die ganze Wohnung neu dielen, so dass der Zugang zum Keller nicht sichtbar war. Dann legte sie etwa dreißig alte Louisdor in ein Ledersäckchen und vergrub es im Garten. Nur ein Pfahl bezeichnete die Stelle. Eines Morgens sahen wir eine Abteilung Gendarmen mit verhängten Zügeln vorübersprengen. Soissons war soeben genommen worden. Sie waren mit ihren Pferden Hals über Kopf über die Wälle gesetzt, sechs oder acht wurden getötet oder verletzt, drei oder vier von ihnen kamen mit heiler Haut davon. Die Angst meiner Mutter steigerte sich noch mehr. Sie äußerte sich dadurch, dass sie ein riesiges Kalbsragout zubereitete. Man hatte sich von den Kosaken eine entsetzliche Vorstellung gemacht. Dazu trug auch noch der Umstand bei, dass auf dem Land mit besondere Sorgfalt Bilder verbreitet wurden, auf denen jene Truppen noch abschreckender dargestellt wurden, als sie in Wirklichkeit waren. sie ritten auf elenden Schindmähren, hatten ungeheure Mützen von Tierfellen auf und waren mit Lanzen, Bogen und Pfeilen bewaffnet. Aber trotzdem gab es noch Optimisten, die sagten, dass die Kosaken gar nicht so böse seien, wie sie aussähen, und wenn man ihnen nur gut und viel zu essen und zu trinken gäbe, so täten sie keinem Menschen etwas zu Leide. Daher das riesige Kalbsragout, das meine Mutter bereit hielt. Damit sollte den Kosaken der Mund gestopft werden. Dazu sollten sie Soissoner Wein trinken, soviel sie wollten. Sollten sie aber trotz des Kalbsragout und Weins doch feindselige Absichten hegen, dann blieb uns immer noch der Steinbruch als Zufluchtsort. Fünfhundert oder sechshundert Schritte hinter dem Pachthof von Noue, inmitten einer, mit Wacholdersträuchern spärlich bewachsenen Ebene, tut sich plötzlich eine weite Höhle auf, wie man sie auf Schritt und Tritt in der römischen Campagna findet. Der Ort mahnt lebhaft an die Höhle von Cumae oder an die Seufzergrotte von Averno. In diesem Steinbruch hatte sich halb VillersCotterets, vom Schrecken erfasst geflüchtet. Dort war unter dem Granitgewölbe, etwa eine Viertelmeile vom Eingang, und in einer Tiefe von l00 bis 150 Fuß, ein Feldlager errichtet worden, eine Art Dorf, das etwa 6 0 0 Menschen beherbergte. Meine Mutter war die erste, die sich dort einen Platz sicherte, sie hatte Matratzen, Decken, einen Tisch und Bücher dahin bringen lassen. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Nachdem Kalbsragout und Wein drei Tage lang auf die Kosaken gewartet hatten wurden Ragout und Wein von den Franzosen vertilgt. Sie gehörten zum Korps des Marschalls Mortier, das mit dem Rest der
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Garde und zwölf Kanonen den Forst verteidigen sollte. Man kann sich denken, wie froh wir waren, statt der abscheulichen Kosaken diese mut- und hoffnungsvollen Leute zu sehen. Die Jugend steht Gott noch näher; darum verzweifelt sie nicht. Ganz anders war jedoch die Stimmung der alten Generale, besonders die des Herzogs von Treviso. Alle diese Männer, deren Glücksstern stets dem des Kaisers gefolgt war, zeigten nun eine auffallende Lauheit und Verdrossenheit. Kein Wunder, denn ihre Existenz war gesichert, nachdem sie Marschälle geworden waren, hatten sie so ziemlich die höchste Stufe des Glückes erreicht, während für Napoleon noch immer etwas zu erringen blieb, für diesen Mann, der stets nach dem Unmöglichen trachtete. Noch sehe ich den Marschall vor mir, diesen Veteran unserer ersten Schlachten, der an allen Kämpfen teilgenommen und dennoch den Kugeln der Preußen, Engländer, Russen und Österreichern entgangen war, um auf dem Boulevard du-Temple durch Fieschis Höllenmaschine seine Heldenseele auszuhauchen. Er, der Riese, saß nun zusammengesunken auf dem Pferd; man hätte glauben können, ein Kind wäre stark genug, um diesen Unbezwingbaren zu besiegen. Solange der gekrönte Herkules die Welt allein trug, ging alles gut, aber als er auch nur den kleinsten Teil auf fremde Schultern wälzen wollte, brachen die armen Atlasse unter der Wucht zusammen. Abends war große Tafel bei Herrn Deviolaine; auch ich war dabei. Der Marschall nahm mich auf die Knie und liebkoste mich. Er hatte meinen Vater gekannt. Ich fragte ihn, wie es meinem Paten Brune gehe; was wusste ich, dass dieser seither in Ungnade gefallen war? Die Stimmung war sehr gedrückt. Der Marschall zog sich bald in seine Gemächer zurück. Um Mitternacht wurden wir durch ein lebhaftes Gewehrfeuer geweckt. Man schlug sich im „Parterre", dem vorderen Teil des Parkes. Der Marschall war überrascht worden und konnte, halb angekleidet, gerade noch durch eine Hintertür entkommen. Am Morgen war der Feind verschwunden, aber zugleich auch unsere zwölf Kanonen, die er mitgenommen hatte. Noch am selben Tag zog sich der Marschall, wenn ich nicht irre, nach Compiegne zurück, unser Städtchen wurde aufgegeben. Da diesmal aller Wahrscheinlichkeit nach der Feind uns mit seiner Anwesenheit beehren würde, beschloss meine Mutter, ein zweites Kalbsragout herzurichten. Dennoch hatte meine Mutter doch Angst wie jede andere Frau. Sie verschloss ihre Tür, verkroch sich in einen Winkel, rief mich zu sich, und drückte mich tiefbewegt und zitternd an ihre Brust. Das Kalbsragout stand wieder fünf Tage auf dem Feuer, und da Soissons am 1 9 . Februar von den Unsrigen zurückerobert wurde> und man wenigstens vorläufig keine Kosaken mehr erwartete, so erbarmten wir uns seiner und verzehrten es selbst. Alle Nachrichten lauteten nun wieder ziemlich beruhigend, und man sprach von einem Waffenstillstand. Doch plötzlich schlug die Flamme neuerdings empor; Schlag auf Schlag trafen die Hiobsposten von den Schlachten bei Bar sur Aube und Meaux und der Übergabe von la Fere ein. Der Feind rückte wieder näher. Meine Mutter hielt ein drittes Kalbsragout
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bereit. Plötzlich, an einem nebligen Februarmorgen, erscholl der Ruf: „Die Kosaken!" Wir vernahmen Pferdegetrabe und sahen bald darauf auf der Rue de Soissons etwa fünfzehn Reiter mit Bärten und langen Lanzen herankommen, die eher versprengten Flüchtlingen als drohenden Siegern glichen. Kaum waren sie verschwunden, als plötzlich ein Schuss fiel. Meine Mutter fuhr zitternd empor, aber auf mich machte der Pulvergeruch seine gewöhnliche Wirkung, ich rannte trotz ihres Bittens und Schreiens auf die Straße. Die Kosaken waren verschwunden. Aber unter der geöffneten Haustür rang die Frau des Mützenhändlers Ducoudray wehklagend die Hände. Beim Herannahen der Kosaken hatte auch der Mützenhändler aus Angst seine Haustür verschlossen. Als sie nun zum erstenmal vorüber waren, öffnete er aus Neugier das Tor. In diesem Augenblick sprengte die wilde Schar auf dem Rückzug wieder vorbei und einer der Reiter schoss seine Pistole wie nach einer Scheibe nach dem rasch wieder geschlossenen Tor ab. Die Kugel drang durch das dünne Holz, traf Ducoudray am Hals und zerschmetterte ihm die Wirbelsäule. So lag er nun am Boden, das Haupt lehnte am Knie seiner Tochter. Blut schoss aus der Wunde, die Pulsader war getroffen. Kein Atemzug hob mehr die Brust des armen Mannes. Nun hielt meine Mutter weder das Kalbsragout noch den Soissoner Wein für einen sicheren Schild gegen die uns drohende Gefahr. Wir hatten eine Haushälterin, die „Königin" genannt wurde. Meine Mutter überließ der „Königin" Ragout und Wein, hieß sie das Haus sorgfältig bewachen, nahm mich an der Hand und zerrte mich mit fast an Wahnsinn grenzender Hast nach dem Steinbruch fort. Allmählich begann der erste Schreck sich zu legen, man wagte endlich wieder, sich die Nase vom Sonnenlicht bescheinen zu lassen, die Kühnsten stiegen sogar bis auf die Oberfläche der Erde empor. Sie erfuhren, dass die Kosaken verschwunden waren, und die Stadt sich der vollkommensten Ruhe erfreute. Meine Mutter nahm den Vorschlag der Frau Picot an, den Tag über mit mir im Pachthof la Noue zu verweilen und erst abends nach dem Steinbruch zurückzukehren, wo wir auch die Nacht zubringen sollten. Eines Tages hörten wir vom Pachthof aus Kanonendonner. Bei Neuilly wurde gekämpft. In der folgenden Nacht schlief ich ein, den Kopf voll Schlachtgedanken und Kriegsgeschrei, und träumte, die Kosaken seien in den Steinbruch eingedrungen. Am andern Morgen erzählte ich meiner Mutter diesen Traum, und sie ängstigte sich so sehr, dass sie den Steinbruch am nächsten Tag verlassen wollte. Meine Mutter kehrte nach ViIlers-Cotterets zurück, um einige Sachen zu holen, die sie für die Reise nach Paris brauchte, besonders aber um das Säckchen mit den dreißig Louisdor aus seinem Gefängnis zu befreien. Ich war entzückt, als ich vernahm, dass ich zum zweitenmal die Hauptstadt der gebildeten Welt sehen sollte, ich freute mich auf diesen Anblick obwohl ich nur zu gut wusste, dass die Stimmung in Paris
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in diesem Augenblick keineswegs allzu rosig sein dürfte. Von dieser zweiten Reise nach Paris, die von der ersten durch einen Zwischenraum von acht Jahren getrennt ist, habe ich nur zwei klare Erinnerungen behalten: Die eine voll Licht und Poesie, die andere voll Schmutz und Ekel. Die erstere ist die Erinnerung an den Augenblick, wo unter klingendem Spiel und unter dem Rauschen der Fahnen, die über 50 000 Nationalgarden flatterten, das blondgelockte Köpfchen und die rosigen Wangen eines dreijährigen Kindes mit dem tausendstimmigen Ruf begrüßte: „Es lebe der König von Rom! Es lebe die Regentschaft!" Ja, er war's, der König von Rom, dieses arme Kind, als König geboren, und vom Schicksal nicht nur seines zweifachen Reiches, sondern auch des Vaters und der Mutter beraubt. Es war das Original jener beiden Porträts, deren eines den Kaiser an der Moskwa er reichte, während das andere ihn nach St. Helena begleitete. Man schwur diesem armen Kind Treue und wenn Fanfaren und Freudenrufe für einen Augenblick verstummt wären, hätte man den Donner der Kanonen gehört, die zwei Meilen vor Paris grollten. Man versprach im Namen des Kindes, dass es Paris nicht verlassen werde, dass es samt seiner Mutter Marie Louise und seinem Onkel, dem König Joseph, in der Mitte der Franzosen sterben wolle. - Und im Tuilerienhof standen schon die Wagen angespannt, die ihn am nächsten Tag entführen sollten. Das ist die Erinnerung voll Licht und Poesie, die meinem Geist noch jetzt gegenwärtig ist. Die zweite, das ist die Erinnerung an jene gemeinen Dirnen, die aus ihren Fenstern mit frecher Stimme und unverschämten Gebärden die Vorübergehenden anlockten. Jeden Augenblick wandte ich mich zu unsern Begleitern um und sagte „Man ruft uns." Sie lachten, und ich wusste nicht warum. Meine Mutter entschloss sich endlich zur Heimreise nach Villers-Cotterets, die am folgenden Tag in aller Eile angetreten wurde. Ein paar Tage nach unserer Rückkehr besuchte uns Herr Colland. Meine Mutter plauderte lange mit ihm, dann entfernte er sich und versprach, uns abends bei Herrn Deviolaine wiederzusehen. Meine Mutter begab sich dorthin und nahm auch mich dahin mit. Wie das letzte Mal, so fand ich auch jetzt zahlreiche Gesellschaft und besonders viele Säbel und Epauletten, nur mit dem Unterschied, dass es jetzt russische Säbel und Epauletten waren. Übrigens war die Sprache dieselbe, die Manieren dieselben, vielleicht noch etwas feiner, weiter nichts. Ich konnte nicht begreifen, dass das unsere Feinde sein sollten. Ich wusste nicht, dass der Feind nicht im Menschen, sondern im Prinzip zu suchen sei. Meine Mutter und Collard plauderten miteinander. Herr Collard sollte am folgenden Tag nach Paris reisen und versprach im Vorübergehen vor seiner Abreise noch einmal bei uns vorzusprechen. Als wir abends wieder nach Hause kamen, nahm mich meine Mutter bei der Hand und sagte zu mir eben in so zärtlichem, aber viel feinerem Ton, als gewöhnlich: „Mein Kind, der Graf von Artois, der zum Generalstatthalter des Königreichs, und Ludwig XVIII, der soeben zum König von Frankreich ernannt wurde, sind die Brüder Ludwigs XVI. Dein Großvater, der Marquis de la Pailleterie, diente dem König Ludwig XVI, wie dein
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Vater der Republik gedient hat. Und nun merke wohl auf, denn wahrscheinlich hängt deine ganze Zukunft von dem Entschlusse ab, den wir fassen werden. Willst du Davy de la Pailleterie heißen, wie dein Urgroßvater, dann bist du der Enkel des Marquis Davy de la Pailleterie, Kammerherrn des Prinzen von Conti und Generalkommissar der Artillerie. Du wirst einen Freiplatz erhalten, und unter die Pagen aufgenommen, mit einem Wort, du hast eine gesicherte Zukunft unter dem neuen Herrscherhause. Oder willst du dich ganz schlicht und kurz Alexander Dumas nennen, wie dein Vater? Dann bist du der Sohn des republikanischen Generals Alexander Dumas, dann ist dir auch jede Laufbahn verschlossen, denn statt jenen, die jetzt am Ruder sind, zu dienen, wie es dein Großvater getan, hat dein Vater viel mehr gegen sie gekämpft. - Herr Collard reist heute nach Paris; er kennt Herrn von Talleyrand, mit dem er in der gesetzgebenden Versammlung saß, er kennt den Herzog von Orleans und noch viele einflussreiche Personen des neuen Hofes. Je nachdem du dich entscheidest, wird er handeln. überlege dir alles reiflich, ehe du antwortest." „Oh, da gibt’s nichts zu überlegen, liebe Mutter. Ich heiße Alexander Dumas und nicht anders. Meinen Vater habe ich gekannt, meinen Großvater aber nicht; was möchte mein Vater sagen, der noch im Augenblick, wo er von uns ging, von mir Abschied nahm, wenn ich ihn verleugnen wollte, um mich nach meinem Großvater zu nennen?" Das Antlitz meiner Mutter strahlte vor Freude. „Ist das wirklich deine Meinung?" fragte sie. - „Jawohl, und nicht wahr, es ist deine auch, Mütterchen?" - „Leider ja, aber was soll nun aus dir werden?" - ,Ei, was? Hast du vergessen, dass ich den Nepos übersetzen und erklären kann und dass ich daher auch wissen muss, was der Wahlspruch meines Vaters: Deus dedit, Deus dabit bedeutet? Er bedeutet: Gott hat gegeben, Gott wird weitergeben." „Geh schlafen, mein Junge", entgegnete meine Mutter. „Du machst mir mitunter viel Kummer, aber ich sehe doch, dass du ein gutes Herz hast.“ Ich ging zu Bett, ohne zu wissen, dass ich, wie meine Mutter sagte, über die ganze Zukunft meines Lebens entschieden hatte. Am nächsten Morgen kam Herr Collard wieder. Es wurde beschlossen, dass er für mich nichts, für meine Mutter hingegen nur eine Tabakverkaufsstelle erbitten solle. Ist das nicht die ganze Schlichtheit und Einfachheit der Antike? Die Witwe des Horatius Cocles von Tirol Eine Tabakverkäuferin! Was mich betrifft, so wurde meine Erziehung bei Abbe Gregoire fortgesetzt. Abbe Gregoire war mittlerweile seine Befugnis, eine öffentliche Erziehungsanstalt zu unterhalten, entzogen worden. Immerhin wurde ihm noch erlaubt, Hausunterricht zu erteilen für sechs Franken monatlich wurde ich nun sein „Hausschüler". Überdies sollte ich vom Stadtschulmeister Oblet Unterricht im Rechnen erhalten und auch meine Fechtstunden bei Vater Monnier fortsetzen. Gegen das Rechnen hatte ich mein Leben lang eine so gründliche Abneigung, dass ich es nie weiter als bis zur Multiplikation bringen konnte. Habe ich auch bei Oblet nicht viel Rechnen gelernt, so fügte es der liebe Gott, der mich nie verließ, doch so, dass ich etwas anderes
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lernte. Außer der vollkommenen Kenntnis seines Rechenbuches besaß Oblet auch noch eine ausgezeichnet schöne Schrift. Er schrieb mit freier Hand nicht nur die schwierigsten Buchstaben des Alphabets wie Prudhomme, sondern zeichnete ebenso gewandt mit der Feder allerlei Verzierungen, Herzen, Rosetten, Liebesgötter, Adam und Eva, das Bildnis Ludwigs XVIII. und andere wunderbare Dinge noch. Ach, die Schreibkunst war etwas ganz anderes, daran ging ich mit Lust und Liebe! Wenn Oblet mit mir etwas gerechnet hatte, dann nahmen wir hübsches weißes Papier zur Hand, schnitten aus drei oder vier Federn eine grobe, eine feine und eine von mittlerer Dicke, und dann ging es los. Nach drei Monaten hatte ich meinen Meister erreicht, und, wenn ich nicht fürchten müsste, seine Eigenliebe zu verletzen, so würde ich sagen, dass ich ihn in manchen Punkten sogar übertraf. Diese Fortschritte in der Schönschreibkunst freuten meine Mutter, aber sie hätte es doch lieber gesehen, wenn ich etwas mehr rechnen gelernt hätte. „Ja, schreiben", sagte sie oft, „Schönschreiben ist auch eine Leistung. Alle Dummköpfe lernen das. Sieh einmal Bonaparte an; du hast an zwanzig Briefe, die er an deinen Vater geschrieben hat. Kannst du auch nur einen davon lesen?" - „Ja, Madame", erwiderte dann Oblet, „dafür ist Herr Bonaparte jetzt auch auf der Insel Elba." „Sie werden doch nicht behaupten", entgegnete meine Mutter, „dass er deshalb auf der Insel Elba ist, weil er eine schlechte Schrift hatte?" - „Warum sollte ich das nicht behaupten?" antwortete Oblet. „Man sagt, Herr Bonaparte sei von seinen Marschällen verraten worden. Ich aber sage die Vorsehung fügte es so, dass dieser Usurpator eine schlechte Schrift hatte, dass seine Befehle unleserlich waren, so dass seine Befehle nicht ausgeführt werden konnten ... Die Marschälle verrieten ihn? ... Nein, Madame, sie haben nur falsch gelesen und taten das Gegenteil von dem was ihnen aufgetragen wurde, daher unsere Niederlagen, die Einnahme von Paris und die Verbannung nach Elba." - „Aber lassen wir ihn doch auf „seiner Insel Elba in Ruhe, Herr Oblet." - „Sie haben ja selbst von ihm angefangen, Madame, nicht ich, ich spreche nie von diesem Menschen, nie. " -- „Aber wenn nun Alexander . . ." - „Madame, wenn ihr Herr Sohn einmal König der Franzosen wird, so werden - da er eine herrliche Schritt haben wird oder vielmehr jetzt schon hat -, so werden seine Befehle auf den Buchstaben vollzogen werden, es sei denn, seine Marschälle könnten nicht lesen." Meine Mutter, die sich für diese Aussicht für meine Ungeschicklichkeit im Rechnen durchaus nicht getröstet fühlte, seufzte und sagte nur: „Nun ja!" Unterdessen war ich allmählich dreizehn Jahre, und es hieß dass ich bald zum erstenmal zur Beichte gehen sollte -- ein wichtiges Ereignis im Leben eines jeden Kindes. So jung ich auch war, so fühlte ich mich doch, abgesehen von den äußeren Zeremonien, von einem tief religiösen Sinn beseelt. Die Kirche, die ich fast nie betrete, ist für mich ein so heiliger Ort, dass ich befürchten müsste, sie zu entweihen, würde ich sie so besuchen, wie man sie gewöhnlich besucht, das heißt,
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bloß um eine augenblickliche Neugier, eine religiöse Anwandlung zu befriedigen. Am Tag vor der Feier traf mich meine Mutter in eine Lektüre vertieft, die meinen ganzen Geist zu fesseln schien. Sie zweifelte keinen Augenblick, dass das Buch, das meine Aufmerksamkeit in so hohem Maße festhielt, irgendein Erbauungsbuch, eine christliche Lektüre sei. Sie trat sacht näher und blickte über meine Schulter ins Buch. Ich las die Briefe Abelards an Heloise, von Collard in Verse gebracht. Meine Mutter riss mir das Buch aus der Hand. Ich wollte mein Buch in Schutz nehmen, ich fand die Ermahnungen Abelards durchaus moralisch und die Klagen Heloises gottergeben und fromm; ich verlangte zu wissen, inwiefern dieses Buch noch die vollkommene Sühnung a1ler Schuld, die mir am nächsten Tag vergeben werden sollte, beeinträchtigen könnte. Meine Mutter war jedoch durchaus nicht geneigt, sich auf derlei Erörterungen einzulassen. Als Abbe Gregoire kam, wurde er zum Schiedsrichter ausersehen. Er schlug das Buch auf, las etwa eine halbe Saite, schüttelte dann den Kopf und sagte: „Die Verse sind wirklich nicht gut." Dann gab er das Buch meiner Mutter zurück. Ich muss gestehen, dass ich der Ansicht des Abbe nicht beipflichten konnte, sondern die Verse Collards ganz prächtig fand. Ich brachte fast die ganze Nacht schlaflos zu. Der Gedanke, dass ich mich mit dem göttlichen Leib unseres Erlösers in Verbindung setzen sollte, bewegte mich bis tief in die innerste Seele. Es war mir, als wollte sich ein Tränenstrom gewaltsam Luft machen, und erstickte Seufzer schnürten mir die Kehle zusammen. Ich fühlte, dass ich der hohen Gnade nicht würdig sei, die ich nun empfangen sollte. Von dieser Zeit an hegte ich die tiefste Ehrfurcht für alles Heilige, die innigste Anbetung für alles Große, jeder Funke des himmlischen Lichtes entzündete die Flamme auf dem Altar meines Herzens. Es dauerte ein paar Tage, ehe ich mich von dieser Gemütserschütterung völlig erholt hatte. Abbe Gregoire besuchte mich, ich warf mich weinend in seine Arme. „Lieber Freund", sagte er, „ich wünsche lieber, es wäre minder heftig und hielte länger an." - Abbe Gregoire war ein recht vernünftiger Mann. Im übrigen nahm der Unterricht seinen gewohnten Gang. Abbe Gregoire kam täglich zwei Stunden zu mir, dann war ich den ganzen übrigen Tag frei. Um weniger Mühe zu haben, besaß mein Lehrer einen Virgil und einen Tacitus mit gegenüberstehender Übersetzung. Damit er jedoch die beiden dicken Bände nicht jeden Tag mitschleppen musste ließ er sie bei uns, verschloss sie aber in ein kleines Kästchen. Den Schlüssel nahm er wohlweislich mit; denn er wusste, wie groß in solchen Fällen die Versuchung für einen faulen Schüler wie mich sein musste. Leider entdeckte ich, dass der Deckel der Schatulle nur angeschraubt war. Mit einem Stemmeisen öffnete ich ihn ein wenig und zog, je nachdem ich es eben brauchte, den Sänger der Aeneis oder den Geschichtsschreiber der Cäsaren hervor. So lieferte ich denn Übersetzungen, die so trefflich waren, dass sie selbst meinen Lehrer
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aufs höchste überraschten. Meine Mutter war noch mehr entzückt. „Da seht nur einmal dieses Kind", sagte sie zu jedem, der uns besuchte, „in einer Stunde macht es seine Aufgaben für den ganzen Tag." Leider ging es mit den Aufgaben nicht so leicht wie mit den Übersetzungen. Diese Aufgaben wurden mir vom Abbe diktiert, und ich sollte sie ins Lateinische übersetzen. Es gab da kein Kästchen, das ich nur zu öffnen brauchte, um die lateinische Übersetzung fertig vorzufinden. Ich musste jedes Wort im Lexikon nachschlagen, wobei ich so viel Fehler machte, dass der Ärger meines Professors über diese Schnitzer seiner guten Meinung bezüglich der Übersetzungen voll kommen das Gleichgewicht hielt und ihn immer wieder zu der Frage drängte: „Wie kommt es, dass dieses Kind so stark im Übersetzen und so schwach in den Aufgaben ist?" Der gute Mann ist darüber gestorben, ohne die Antwort gefunden zu haben. Den größten Teil meiner Freizeit brachte ich bei einem Waffenschmied zu, der uns gerade gegenüber wohnte. Dieser Waffenschmied, Montagnon, hatte einen Sohn, der mit mir das College des Abbe Gregoire besuchte; er war an der Schwindsucht gestorben. Trotzdem blieb ich doch im Hause des Vaters ein täglicher Gast. Was mir dort am meisten gefiel, das waren die vielen prächtigen Waffen. Unter ihnen befand sich auch das Gewehr, dessen ich mich am Tage nach dem Tod meines Vaters bemächtigt hatte, um „den lieben Gott totzumachen". Dieses Gewehr sollte mir gehören, „wenn ich einmal groß sei". Ich hielt mich nun schon für groß genug, denn ich war noch etwas größer als das Gewehr. Diese fleißigen Besuche bei Montagnon hatten zur Folge, dass ich im Büchsenmachen noch viel stärker wurde als im Übersetzen. Ich konnte ein Gewehrschloss ebenso zerlegen und wieder zusammensetzen wie der geschickteste Waffenschmied. Vater Montagnon behauptete daher auch steif und fest, dass ich zum Büchsenmacher besondere Begabung besäße, und er erbot sich, mich unentgeltlich in die Lehre zu nehmen. Meine Mutter hatte Montagnon strengstens untersagt, mir das Gewehr meines Vaters auszuhändigen, aber Montagnon kannte meine Geschicklichkeit mit Büchsen umzugehen zu gut, als dass er die Besorgnisse meiner Mutter hätte teilen können. --- Er übergab mir also nicht etwa das mit Verbot belegte Gewehr - Montagnon war Auvergnat vom Scheitel bis zur Zehe und zu ehrlich, um sein Wort zu brechen -, aber er gab mir ein anderes, das er für seinen Sohn angefertigt hatte, und auf das er sich daher verlassen konnte. Aber das war noch nicht alles. Da man ohne Pulver und Blei nicht jagen kann, versah er mich auch mit Munition. Es war eine Stockbüchse, deren Lauf man bequem in der Hand tragen konnte, während man den Schaft in die Tasche steckte. Da es niemand in den Sinn kam, dass ich eine solche Waffe besitzen könnte, erweckte ich auch nirgends Misstrauen. Der Feldhüter, der einen Schuss gehört hatte, kam zu mir und erkundigte sich. Natürlich hatte auch ich den Schuss gehört, den Schützen aber nicht gesehen, oder er war bei meinem Anblick davongelaufen, und zwar immer in der entgegengesetzten
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Richtung, wohin ich wollte. Wenn ich meine Aufgaben beendet hatte, lief ich unter irgendeinem Vorwand schnurstracks zu Montagnon. Er hielt schon das Gewehr für mich bereit, ließ mich durch die Hintertür hinaus, und mit zwei Sprüngen war ich an der großen Allee. Dort traf ich Biche. Hanniquet, der, ich weiß nicht weshalb, den Beinamen Biche hatte, war ein Bursche von etwa 20 Jahren, mittlerer Größe, wohlgebaut, kräftig, und vor allem ein ausgezeichneter Wildschütz. Biche war mein Lehrer geworden. Er lehrte mich jede List, nicht des Jägers, sondern der Tiere; aber jeder List eines Tieres hatte er zwei andere für den Jäger entgegenzusetzen. Erst später fand Biches Talent die verdiente Anerkennung. Da man sah, dass man ihn nicht am Wildern hindern konnte, machte man ihn zum Feldhüter. An einem schönen Morgen in den letzten Tagen des Februar 1815, als die Sonne in voller Pracht auf eine fußdicke Schneeschicht nieder strahlte, war ich in der Verfolgung eines von Baum zu Baum flatternden Krammettsvogels so vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, dass ich selber verfolgt wurde. Der Vogel blieb endlich mitten im Buschwerk sitzen, ich legte meine Stockbüchse an und drückte los. Kaum war der Schuss gefallen, als ich in einer Entfernung von etwa drei Schritt hinter wir die fürchterlichen Worte vernahm: „Warte, kleiner Schelm, jetzt krieg, ich dich !" - Ich wandte mich erschrocken um und erblickte den damaligen Oberfeldhüter Creton. Seine ausgestreckte Hand war kaum einen halben Fuß vom Kragen meiner Jacke entfernt. Aber ich war zu gewandt, als dass ich mich so leicht hätte fangen lassen. Er hatte es übrigens gar nicht nötig, mir nachzulaufen, denn er hatte mich erkannt, und die Aussage eines Feldhüters ist ein völlig genügender Beweis. Aber Creton hatte den Ehrgeiz, mich zu fangen und gab daher die Verfolgung nicht auf. Ich lief der Ebene zu, von der mich etwa ein sechs Fuß breiter Graben trennte. Ich sprang darüber und lief noch ein gutes Stück in die Wiese hinein. Creton, der nun einmal im Laufen war, wollte dasselbe tun, aber seine Beine waren viermal so alt als die meinen und hatten daher nicht den vierten Teil der Elastizität der meinen. Statt hinüber zu fallen, fiel er rückwärts, und statt seinen Lauf aus Leibeskräften fortzusetzen, wie ich es tat, kroch er auf allen Vieren aus dem Graben, richtete sich mühsam wieder auf und hinkte, auf den Kolben seiner Büchse gestützt, davon. Ich kehrte zu Montagnon zurück und erzählte ihm alles. Cr et on faßte sein Protokoll ab und sandte es Herrn Deviolaine, der von meiner Halsstarrigkeit gehört und geschworen hatte, die Sache solle mir teuer zu stehen kommen. Er würde seinen Schwur sicherlich auch gehalten haben, hätte sich nicht am 6. März eine Nachricht verbreitet, die niemand erwartete und die alle so sehr überraschte, dass Creton darüber seine Verrenkung und Herr Deviolaine sein Protokoll vergaß. Bonaparte war am 1. März gegen Mittag im Golf Juan geIandet und mar schi er t e auf Paris.
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Die Hundert Tage Villers-Cotterets war der Gesinnung seiner Einwohner nach mehr eine royalistische als eine bonapartistische Stadt. Das Schloss hatten unter Ludwig XV. und XVI. die Herzöge von Orleans bewohnt. Philippe Egalite hatte sich hier während seiner Verbannung vom Hof aufgehalten und in dem großen Forst herrliche Jagden veranstaltet. Von den Wäldern lebte die Hälfte der Bevölkerung, die dort Arbeit und Brot fand, und drei Viertel der Armen, die dort Holz und Bucheckern sammelten. Schloss und Wald hatten also dazu beigetragen, in der Stadt die Erinnerung an den Adel wach zu halten. Daher war auch der erste Eindruck von der Nachricht der Landung Napoleons aus gesprochen feindselig. Vor allem die Frauen gaben ihren Gefühlen unverhohlen Ausdruck und ergingen sich in Schmähungen gegen den Usurpator. Diejenigen, für die die Rückkehr des Kaisers eine Hoffnung bedeutete, unterdrückten ihre Freude, ließen den Kopf hängen und blieben zu Hause. Meine Mutter gehörte nicht zu diesen, sie konnte auch nicht zu ihnen gehören, denn Napoleon hatte sich zu ungnädig gegen uns gezeigt, als dass seine Rückkehr uns irgendwie erwünscht sein konnte. Trotzdem fühlten wir aber, dass man uns für Bonapartisten hielt und uns feindselig gegenüberstand. Was konnten wir dagegen tun, eine Frau und ein Kind? Unsere Lage war also keineswegs angenehm und nichts weniger als beruhigend. Schon vor der Landung Napoleons hatten verschiedene seiner früheren Generale, die mit den neuen Verhältnissen unzufrieden waren, weil sie sich von der bourbonischen Regierung benachteiligt und zurückgesetzt fühlten, zu konspirieren und die Truppen aufzuwiegeln versucht. So hatten dir Brüder Lallemand, der eine war Artilleriegeneral, den Versuch gemacht, sich des Zeughauses und des Artillerieparks von La Fere zu bemächtigen. Sie wollten zuerst die Kanoniere gewinnen und dann den Kommandeur der Artillerieschule, General d'Aboville, auf ihre Seite bringen. Auf beiden Seiten stießen sie auf Widerstand. General und Soldaten blieben standhaft. Der General ließ die Garnison unter Waffen treten, das Arsenal besetzen und die Tore der Stadt schließen. Der Putschversuch war also fehlgeschlagen. Die Brüder Lallemand mussten die Flucht ergreifen und verirrten sich in einem Gelände, das sie nicht kannten. Das hatte sich in einer Entfernung von etwa 13 Meilen von Villers-Cotterets zugetragen. Am 12. März erhielt die Gendarmerie von Villers-Cotterets Befehl, nach den Flüchtigen zu fahnden, die sich in der Gegend von La-Ferte-Milon aufhalten sollten. Alle diese Begebenheiten und Nachrichten riefen in unserem Nest begreiflicherweise ungeheure Aufregung hervor. Häufiger denn je vernahm ich den Ruf „Bonapartist", aber meine Mutter hatte mich beschworen, nicht darauf zu achten. Abends rotteten sich Banden von zwanzig bis dreißig Halbstarken zusammen, die in die Häuser verdächtiger Personen eindrangen, „Vive le Roi" brüllten und die Bewohner zwangen, in den Ruf mit einzustimmen. Vielleicht zehnmal ging abends unsere Haustür auf, um diese Burschen einzulassen.
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Den ganzen Tag über stand alles auf den Plätzen umher. Da Villers-Cotterets an der Heerstraße von Paris nach Mezieres liegt, die über Soissons und Laon führt, pflegten bei besonderen Anlässen Wagen, Posten und Kuriere sich in den Straßen unserer Stadt förmlich zu drängen. Auf diese Weise erfuhren wir manches, was nicht in der Zeitung stand. So erhielten wir Kenntnis davon, dass Napoleon am 14. März in Lyon eingezogen war, das der Graf von Artois und der Herzog von Orleans ohne Heer verlassen mussten. Plötzlich vernahmen wir vom äußersten Ende der Rue de Largny her einen großen Lärm. Aus dieser Richtung sahen wir drei Wagen mit Postpferden unter starker Gendarmeriebedeckung näherkommen. Alles eilte den Wagen entgegen. In jedem saß ein General zwischen zwei Gendarmen, denen sechs weitere zu Pferd folgten. Als die Wagen die Rue de Soissons erreichten, die ziemlich eng und gewunden ist und wo sich zudem die Menge staute, wurden sie gezwungen, im Schritt zu fahren. Inzwischen hatten wir erfahren, dass die Generale die Brüder Lallemand seien, auf die unsere Gendarmen seit gestern fahndeten. Sie hatten sich diesen in der Nähe des Dorfes Mareuil widerstandslos ergeben. Die Brüder saßen in den beiden ersten Wagen, im dritten befand sich einer ihrer Adjutanten. Sie wurden nach La Fere abgeführt, um dort erschossen zu werden. Sie waren bleich, aber sehr ruhig. Von ihrem Eintritt in die Stadt an wurden sie mit wütendem Geschrei, empfangen. Die Generale, welche zweifellos ganz Frankreich napoleonisch gesinnt glaubten, sahen mit Erstaunen, wie sich fast die ganze Bevölkerung unserer kleinen Stadt gegen sie erhob, als plötzlich aus dem Laden eines Huthändlers in blinder Wut ein Weib herausstürzte, sich gleich einer Furie durch die Pferde der Gendarmen hindurchdrängte, auf den Fußtritt des ersten Wagens sprang und dem General Lallemand ins Gesicht spuckte, zugleich unter wüsten Schimpfreden den Versuch machte, ihm die Epauletten abzureißen. Der General bog sich zurück und fragte mehr mitleidig als zornig, wer die Unglückliche sei. Die Gendarmen entfernten das Weib, das aber dem Wagen unter Geschrei nachlief. Diese widerliche Szene hatte die ganze Stadt peinlich berührt; von da ab hörten die Schreie auf und die Gefangenen wurden mit Neugier, aber in Stillschweigen betrachtet. Die Postpferde wurden gewechselt, und dann ging die Reise weiter bis Soissons, wo sie übernachten sollten. Während ich noch den Wagen nachblickte, fasste mich plötzlich jemand an der Hand, ich sah mich um, es war meine Mutter. „Komm“, sagte sie leise und mir mit dem Kopf einen Wink gebend. Ich fühlte, dass in dem „Komm" und dem Wink etwas Besonderes lag und folgte ihr. Meine Mutter führte mich nach Hause. Ich bemerkte, dass sie innerlich heftig erregt war. Meine Mutter, die selbst Witwe eines Generals war, hatte nicht ohne gewaltige Entrüstung den Schimpf mit ansehen können, den man der Uniform antat, die auch mein Vater getragen hatte. Als wir allein waren, hub sie an:
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„Höre, mein liebes Kind, wir wollen jetzt etwas ausführen, das uns furchtbar bloßstellen kann, wir können aber nicht anders handeln, ich glaube, wir sind es dem Andenken deines Vaters schuldig." „Dann, liebe Mutter, wollen wir danach handeln." „Niemand darf etwas davon wissen." „Sei ruhig. Was ist also los?" „Wir werden sofort nach Soissons fahren." Nach Soissons zu fahren, war für mich jedes Mal ein großes Fest. Soissons war in meinen Augen eine Hauptstadt. Ihre eisenbeschlagenen Tore, ihre Wälle, die noch vom letzten Feldzug her durchlöchert waren, ihre Garnison, das Waffengeklirr, kurz: dort roch es nach Krieg, und das berauschte mein junges Herz. Zudem hatte ich dort einen Freund, den Sohn des Gefängniswärters, der mich jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, erschauern ließ, indem er mich in die „schönsten" Gefängnisse seines Vaters führte. Deshalb galt auch mein erster Besuch stets ihm. Er hieß Karl. Die Ankündigung, dass wir nach Soissons fahren würden, war daher für mich eine willkommene Nach richt. Ich stürzte in mein Zimmer und stand in wenigen Minuten reisefertig da. Ein kleiner Wagen erwartete uns vor dem Hause. Wir fuhren los und nahmen den Weg durch den Park des Schlosses. Hinter der Schlossmauer - war es Zufall oder Verabredung? - erwartete uns ein Notar von Villers-Cotterets, der ein eifriger Republikaner, aber dem Bonapartismus ergeben war, weil er das einzige Mittel der Opposition war. Meine Mutter stieg aus, sprach lange mit ihm und kam mit einem Paket zurück, das ich vorher nicht an ihr gesehen hatte. Nach zehn Minuten waren wir wieder auf der Hauptstraße. Drei Stunden später langten wir in Soissons an. Es war fünf Uhr abends, und wir kamen nur drei oder vier Stunden später als die gefangenen Generale an. Die Stadt war in heftiger Bewegung. Man verlangte unsere Pässe. Das war das einzige, woran meine Mutter nicht gedacht hatte. Sie wusste sich aber zu helfen und bat den diensttuenden Gendarmen, uns nach dem Hotel „Zu den drei Jungfrauen" zu begleiten, dessen Besitzer für uns gutsagen würde. Dort waren wir bekannt, weil wir immer da abstiegen. Der Gendarm machte weiter keine Schwierigkeiten, und als wir mit ihm ins Hotel kamen, lachte ihm der Wirt ins Gesicht und erklärte, dass er für uns bürge. Dann bestellten wir unser Zimmer und etwas zu essen. Obgleich meine Mutter den ganzen Tag nur eine Tasse Kaffee zu sich genommen hatte, war sie doch nicht imstande zu essen; es war klar, dass sie in einer furchtbaren Aufregung war. Nach Tisch ließ sie den Wirt kommen und fragte nach den Gefangenen. Der Wirt konnte darüber nicht erstaunt sein, da dieses Thema das Stadtgespräch bildete. Ihre Festnahme hatte in Soissons dieselbe Erregung hervorgerufen wie in Villers-Cotterets, nur mit dem Unterschied, dass Soissons bonapartistisch gesinnt war. Zumal unser Wirt lebhaftes Bedauern über den Sturz Napoleons empfand und sich sehr für die bonapartistischen Verschwörer interessierte. Er war daher
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in der Lage, meiner Mutter über alles zu berichten. Man hatte sie in das Stadtgefängnis geführt. Meine Mutter atmete auf und ließ die Worte fallen: „Gott sei Dank, ich fürchtete, dass sie im Militärgefängnis säßen!" Dorthin hätte man sie allerdings führen müssen, man fürchtete aber die Gesinnung der Soldaten; der Abfall des 7. Regiments sowie der Übergang verschiedener Korps zu Napoleon hatte die Regierung stutzig gemacht, nicht mit Unrecht, wie die Zukunft bewies. Ich passte auf alles eifrig auf, denn es war mir klar geworden, dass unsere Reise nach Soissons mit den Ereignissen zusammenhängen wusste, die alle Welt beschäftigten. Die Fragen, die meine Mutter an den Wirt richtete, bestärkten mich in meiner Meinung. Kaum war dieser hinaus, als meine Mutter mich an sich presste und küsste. Es lag etwas Feierliches in ihrer Haltung. „Höre mich an, Junge. Ich habe vielleicht unrecht gehabt, dich in ein so gefährliches Unternehmen hineinzuziehen, ich kann aber nicht anders. Als ich unsere armen Freunde heute erblickte und dieselbe Uniform, die dein Vater trug, auf ihrer Brust sah, die morgen vielleicht von zehn Kugeln durchbohrt sein wird, da kam mir der Gedanke, sie mit deiner Hilfe zu retten. Du kennst den Sohn des Gefängniswärters. Sieh zu, dass du durch ihn mit den Gefangenen in Verbindung treten und ihnen dieses Paket in die Hände spielen kannst. Darin sind Pistolen, jede mit zwei Schüssen. Mit ihrer Hilfe können sie fliehen, oder, wenn die Lage verzweifelt ist, sich erschießen. Hier hast du auch eine Rolle Gold, verliere sie nicht, es sind fünfzig Louis darin. Denn wenn es nicht möglich ist, den Gefangenen das Geld zu übergeben, dann muss ich es wieder zurückgeben." Das Gold steckte ich in meine Uhrtasche. Eine solche hatte ich nämlich wenn auch keine Uhr. Das Paket mit den Pistolen nahm ich nicht, denn wie hätte ich es verbergen können? Dafür steckte ich aber die Pistolen in meine Hosentaschen. „Ich bin bereit, Mutter." Jetzt aber verließ der Mut sie. „Oh, mein armes Kind, wenn man alles entdecken und dich festnehmen würde?" Doch es war keine Zeit mit Jammern zu verlieren; sollte etwas geschehen, so musste sofort gehandelt werden. Es war sieben Uhr geworden, vielleicht konnte ich gar nicht mehr ins Gefängnis eingelassen werden. Wir brachen daher auf, meine Mutter zitterte vor innerer Erregung. Ich selber hatte nicht einmal eine Ahnung davon, dass wir uns in Gefahr befänden. Meine Mutter klopfte an das Gefängnistor, der Schalter ging auf. „Wer da? '" fragte der Schließer. - „Mein lieber Herr Richard, kann Alexander nicht ein wenig mit Ihrem Sohn spielen, während ich einen Besuch mache?“ „Ah! Sie sind's, Frau Dumas, wollen Sie mir nicht die Ehre schenken, einen Augenblick näher zu treten?" - „Unmöglich, ich habe es sehr eilig. In einer halben Stunde werde ich Alexander wieder abholen.“-- „Gut, gut, kommen Sie, wann Sie wollen."
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Darauf machte er sich daran, drei oder vier Schlösser zu öffnen. Die Tür ging auf. Auf dem Korridor glänzten Gewehre und Bajonette. Meine Mutter schauderte und zog mich an sich. „Keine Furcht, Mutter", flüsterte ich ihr zu. „Mir scheint, dass Sie einen Zuwachs an Garnison haben, lieber Herr?" - „Und wissen Sie, warum?" - „Ich kann es mir denken, wegen der Gefangenen, die heute Abend eingetroffen sind." „Ganz recht. Das sind große Tiere. Wir konnten ihnen nicht verweigern, ihnen ein Zimmer und eigene Verpflegung zu gewähren, dafür hat man aber die Wache verdoppelt." Meine Mutter drückte mir die Hand, ich verstand. „Und wie steht ihre Sache?" - „Schlecht, Frau Dumas, schlecht ... Sie sollen nach La Fere geführt und vor ein Kriegsgericht gestellt werden, na, und dann piff, paff, und alles ist beendet." - „Kann Alexander sie sehen?" - „Nichts leichter als das. Sie sind da hinter der Tür, sanft wie die Lämmer. Karl war schon mehr als zehnmal bei ihnen, er hat sich mit ihnen angefreundet, als ob sie schon zehn Jahre lang bekannt wären." - „Ach, liebe Mutter", rief ich dazwischen, „ich möchte sie so gern sehen." - „Na, dann geh mit Herrn Richard, geh, er wird sie dir zeigen . . ." Meine Mutter sagte die letzten Worte mit schwerem Herzen, aber entschlossen. Sie ließ meine Hand los und schob mich dem Schließer hin. Ich beruhigte sie mit einem Wink und sprang in den Korridor, indem ich nach Karl rief. Karl erkannte meine Stimme und kam mir entgegen. „Ah! Du bist's. Wenn du ein wenig früher gekommen wärest, so hättest du Hutin noch angetroffen." Hutin war einer unserer Kameraden, von dem bei der Julirevolution noch die Rede sein wird. „Nun, das macht nichts, wir können auch ohne ihn zusammen spielen." -- „Mach nur kein Geräusch, denn die Gefangenen nebenan haben mich soeben fortgeschickt, sie wollen schlafen." „Ja, ich weiß die Gefangenen! Kann ich sie nicht sehen? Du Kannst ihnen sagen, dass ich der Sohn eines Generals bin, sie müssen meinen Vater gekannt haben." Karl näherte sich der Tür. Er rief General Lallemand und sagte ihm, der Sohn des Generals Dumas wünsche ihn zu sprechen. Sofort ließ man mich eintreten. „Also du, mein Sohn, bist Alexander Dumas? Tritt näher, es ist für einen Soldaten stets ein Vergnügen, den Sohn eines Braven zu begrüßen, und dein Vater war ein Braver. Was willst du in Soissons?" - „Schicken Sie Karl hinaus", sagte ich leise. Auf dem Tisch stand eine Kerze. Der General näherte sich ihr, wie um sie zu putzen, und löschte sie aus. „Wie ungeschickt! Karl, zünde uns die Kerze wieder an." Karl nahm sie und ging hinaus. Wir blieben in der Dunkelheit zurück. „Was willst du, mein Junge?" fragte der Gefangene. - „General, ich bin beauftragt, Ihnen von meiner Mutter und einigen Freunden
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Pistolen und fünfzig Louis auszuhändigen. Ich habe alles in meinen Taschen. Wollen Sie die Sachen annehmen?" Der General besann sich einen Augenblick, dann küsste er mich auf die Stirn und antwortete: „Dank, mein Junge, tausend Dank, du bist ein braves Kerlchen! Aber es ist nicht mehr nötig, der Kaiser wird in Paris sein, bevor man uns den Prozess macht. Geh jetzt spielen und gib acht, dass kein Verdacht auf dich fällt." - „Dann darf ich also denen, die sich um Sie ängstigen, sagen, dass Sie keine Furcht haben?" - Der General lachte. „Ja, das kannst du ihnen sagen." Er küsste mich zum letzten Mal und schob mich sanft zur Tür hin, durch welche Karl soeben mit der angezündeten Kerze wieder eintrat. „Gute Nacht, General!" Und ich ging auf den Korridor hinaus. Eine halbe Stunde später kam meine Mutter, mich abzuholen. Ich umarmte Karl, dankte Vater Richard und warf mich an die Brust meiner Mutter. „Nun?" fragte sie. - „Der General hat alles zurückgewiesen, weil der Kaiser in Paris sein wird, bevor er und die anderen erschossen werden." „Gebe es der Himmel." Am anderen Morgen traten wir die Rückreise an. Die fünfzig Louis wurden dem Auftraggeber zurückerstattet, die Pistolen aber schenkte man mir als Andenken an die Entschlossenheit und den Mut, die ich bei dieser Expedition gezeigt hätte. Es waren herrliche, silberbeschlagene Pistolen mit Doppelläufen. Sie werden sonderbarerweise im Jahre 1830 in dieser selben Stadt Soissons noch eine große Rolle spielen. General Lallemand sollte sich nicht getäuscht haben. Napoleon näherte sich in Eilmärschen der Hauptstadt und traf vor Eröffnung des Prozesses gegen die Gefangenen dort ein. Am 21. März ritt ein Kurier mit verhängten Zügeln in Viller-Cotterets ein. Während er sein Pferd wechselte, wurde er mit Fragen bestürmt. Er erwiderte: „Seine Majestät der Kaiser und König hat gestern Abend um acht Uhr seinen Einzug in die Tuilerien gehalten." Alles rannte lärmend davon, um schnellstens diese Nachricht zu verbreiten. Nur der Postmeister blieb da. Und Sie sollen die Nachricht im Departement verbreiten?" - Nun. Ich habe den Befehl, die Generale Lallemand in Freiheit setzen zu lassen.“ Er sprang in den Sattel und ritt im Galopp davon. Am gleichen Tage passierte eine Kalesche mit vier Pferden unsere Stadt, die befreiten Gefangenen saßen darin. Als der Wagen die Rue de Soissons
im Schritt durchfuhr, ging die
Fensterscheibe herunter, und gerade vor dem Hause, vor dem er so schimpflich behandelt worden war, steckte der General Lallemand seinen Kopf zum Fenster heraus. Die Frau, die ihm ins Gesicht gespuckt hatte, stand vor der Haustür. Lächelnd sagte er zu ihr: „Da sind wir wieder, Madame, und zwar wohl und munter. Jetzt sind wir obenauf!" U n d e r b o g s i c h w i e d e r ins Innere des Wagens zurück, der seinen Weg nach Paris fortsetzte.
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„Sei ruhig, Brigant", schrie die Frau, die Faust ballend, hinterher, „unsere Zeit wird auch noch kommen." Im Jahre 1840 dinierte ich beim Herzog Decazes mit demselben General Lallemand, den ich seit dem Tage nicht wiedergesehen hatte, wo er mich im Gefängnis von Soissons geküsst hatte. Das Haar des Mannes war weiß geworden, das Haar des Kindes fing an grau zu werden achtundzwanzig Jahre waren darüber verstrichen! Nach dem Diner näherte ich mich ihm. „General, erinnern Sie sich an den 14. März 1815?" „Der 14. März 1815, warten Sie ... Ganz recht, das war ein wichtiger Tag in meinem Leben, da waren mein Bruder und ich verhaftet worden." „Und an das, was darauf folgte?"„O ja, an ein Weib, das mich anspie, an das Gefängnis in Soissons, und dann an den Besuch eines Kindes, das mich retten wollte. Ja, ja, das sind Dinge, die man nicht vergisst."„Dieses Kind war ich, General, heute vielleicht ein bisschen größer und älter als damals . . ." Der General packte mich an beiden Händen und sah mir ins Gesicht. „Potztausend, alle Wetter, Herr, umarmen Sie mich." Und wir fielen uns in die Arme. „Was, zum Teufel, treibt ihr da?" fragte der Herzog, der nicht begreifen konnte, warum wir uns plötzlich küssten. - „Nichts weiter, nur eine Geringfügigkeit, die sich ehemals zwischen dem General und mir ereignet hatte", erwiderte ich. Mich wieder zum General wendend, bemerkte ich: „General, wer hätte uns an jenem 14. März 1815 prophezeien können, dass wir eines schönen Tages beim Herzog Decazes speisen würden, dem Großkanzler der Pairskammer unter der Regierung Louis Philippes?"„Ach, mein Lieber", sagte der General, „wir werden noch ganz andere Dinge erleben!"Die Truppenmärsche begannen nun aufs neue, eine Abteilung nach der andern strömte nach Villers-Cotterets, Soissons, Laon und Mezieres. Ich muss offen gestehen, es lachte einem das Herz im Leib, als man die wohlbekannten Uniformen wiedersah, die alten Kokarden, die man auf dem Weg von Elba bis Paris aus dem Bauch der Trommeln wieder hervorgeholt hatte, und die glorreichen Fahnen, die noch von den Kugeln von Austerlitz, Wagram und an der Moskwa durchlöchert waren. Die alte Garde gewährte einen herrlichen Anblick, sie trug den echt militärischen Typ, der heutzutage ganz verschwunden ist, sie war die Personifikation der zehn Kaiserjahre, die lebendige, glorreiche Legende Frankreichs. So zogen binnen drei Tagen 30 000 Mann, 30 000 Riesen, fest, ruhig, beinahe düster an uns vorüber, als wäre sich jeder einzelne dessen bewusst, dass ein Teil des napoleonischen Gebäudes, das sie mit ihrem Blut gekittet hatten, auf seinen Schultern ruhe. Und sie alle waren stolz auf diese Last, obwohl man es ihnen anmerkte, dass sich ihr Nacken unter dieser Bürde beugte, von der sie einst ganz erdrückt werden sollten. Oh, lasst es uns nie vergessen, dass
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diese Männer, die so festen Schrittes gen Waterloo, das heißt dem Grabe zu, schritten, dass sie die Aufopferung, die Ehre und der Mut selbst, dass sie Frankreichs edelstes, heißestes, reinstes Blut waren! In ihnen spiegelten sich zwanzig Jahre des Kampfes gegen ganz Europa, in ihnen spiegelte sich die Revolution, unsere Mutter, das Kaiserreich, unsere Amme; sie bildeten nicht den französischen Adel, sondern den Adel des französischen Volkes. Ich sah sie alle vorüberziehen, bis auf das letzte Häuflein, ein Bruchstück aus Ägypten: 200 Mamelucken mir ihren roten Hosen, ihren Turbanen und krummen Säbeln. Es lag nicht nur etwas Edles, es lag auch etwas Andächtiges, Heiliges in der Erscheinung dieser Männer, die, ebenso sicher und unwiderruflich dem Tod geweiht wie die Gladiatoren, gleich diesen sagen konnten: Ave, Cäsar, morituri te salutant! Aber sie schritten in den Tod, nicht um Lust und Vergnügen willen, sondern für die Freiheit eines Volkes; sie gingen in den Tod, nicht gezwungen, sondern aus eigenem freiem Willen. Die Gladiatoren waren nur Opfertiere. Unsere Soldaten waren Sühnopfer. Eines Morgens war das Geräusch ihrer Fußtritte verhallt, die letzten Akkorde ihrer Musik verklungen. Diese Musik, ich erinnere mich dessen genau, war die Melodie des Liedes: „Veillons au salut de lÉmpire", Bald darauf meldete die Presse, Napoleon werde am 12. Juni Paris verlassen, um sich zur Armee zu begeben. Napoleon schlug denselben Weg ein, den seine Garde genommen hatte; er kam also durch Villers-Cotterets. Am 11. traf die amtliche Meldung seiner Ankunft ein, die Pferde wurden von der Post in Bereitschaft gehalten. Er sollte morgens drei Uhr von Paris abreisen, konnte daher ungefähr um sieben oder acht Uhr in Villers-Cotterets sein. Schon um sechs Uhr wartete ich am Ende der Rue de Largny mit den kräftigsten Leuten des Ortes, das heißt mit jenen, die ebenso schnell zu laufen vermochten, als die kaiserlichen Wagen fuhren. Man konnte Napoleon im Vorbeifahren nicht so genau sehen wie beim Pferdewechsel. Je näher ich dem Platz kam, wo die Pferde gewechselt werden sollten, desto vernehmbarer ward auch das Rollen der Wagen, die sich gleichfalls näherten. Endlich war ich an Ort und Stelle; ich wandte mich um, und nun sah ich die drei Wagen wie das Wetter heranbrausen; vom Pflaster stoben die Funken, von den Pferden rieselte der Schweiß, und die in voller Parade , gekleideten, reichbebänderten Postillione keuchten fast atemlos mit ihren Pferden um die Wette. Alles stürzte dem Wagen des Kaisers entgegen. Ich war natürlich einer der ersten. Er saß rechts im Hintergrund des Wagens in seiner grünen Uniform mit weißen Aufschlägen, die Brust mit dem Orden der Ehrenlegion geschmückt. Das blasse, kränkliche Gesicht, das eher aus einem Elfenbeinblock gehauen schien, war leicht gegen die Brust gesenkt. Zu seiner Linken saß sein Bruder Jerome. Diesem gegenüber auf dem Vordersitz der Adjutant Letort. Er hob den Kopf, blickte um sich und fragte: „Wo sind wir?" - „In Villers-Cotterets, Sire" antwortete eine Stimme. - „Also noch sechs Meilen bis Soissons?" fragte er wieder.-„Ja, Sire, nur sechs Meilen bis
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Soissons." - „Vorwärts!" Und er versank wieder in jene Art Stumpfsinn, aus dem ihn der plötzliche Stillstand des Wagens geweckt hatte. Unterdessen waren die Pferde gewechselt worden. Die neuen Postillione saßen im Sattel, die früheren, die eben abgesessen hatten, schwenkten ihre Hüte und riefen: „Es lebe der Kaiser." Die Peitschen knallten, der Kaiser machte eine leichte Bewegung mit dem Kopf, die als Gruß gelten sollte. Die Wagen rollten im Galopp davon und ver schwanden um die Ecke der Rue de Soissons. Die riesenhafte Erscheinung war vorüber. Fünf Tage verflossen. Wir erfuhren den Übergang über die Sambre, die Einnahme von Charleroi, die Schlacht von Ligny und das Treffen bei Quatre-Bras. Das erste Echo war also ein Echo des Sieges. Am 18., am Tage der Schlacht bei Waterloo, erhielten wir die Kunde von den am 15, und 16. errungenen Erfolgen. Mit Ungeduld sah man nun weiteren Nachrichten entgegen. Der 19. verfloss, ohne sie uns zu bringen. Der Kaiser, so hieß es in den Zeitungen, besuchte das Schlachtfeld von Ligny und ließ den Verwundeten Hilfe bringen. General Letort, der im Wagen dem Kaiser gegenüber gesessen hatte, war bei der Einnahme von Charleroi gefallen. Jerome, der an seiner Seite gesessen, war der Säbelgriff durch eine Kugel zerschmettert worden. Langsam und traurig floss der Tag des 20. Juni dahin, der Himmel hüllte sich in dichte Wolken, Regen ging in Strömen nieder, der Sturm heulte durch die Luft. Bei einem solchen Wetter, hieß es, hat man sich doch unmöglich schlagen können. Plötzlich verbreitete sich das Gerücht, es seien Leute, die schlimme Nachrichten aussprengten, verhaftet und auf die Mairie gebracht worden. Sie berichteten, wie man sich erzählte, wir hätten eine Entscheidungsschlacht verloren, die französische Armee sei vernichtet, die Engländer, Preußen und Holländer marschierten geradenwegs auf Paris. Da man die zuverlässigsten Nachrichten stets auf der Post zu erhalten pflegte, liefen meine Mutter und ich nach der Post. Um sieben Uhr kam ein Kurier; er war über und Über mit Schmutz bedeckt; sein Pferd zitterte an allen Gliedern und schien jeden Augenblick vor Müdigkeit umsinken zu wollen. Er bestellte vier Pferde für einen Wagen, der ihm auf dem Fuße folge, schwang ich wieder auf sein Pferd und sprengte davon. Vergebens wurde er von allen Seiten mit Fragen bestürmt; er wusste nichts oder wollte nichts wissen. Die vier Pferde wurden angeschirrt, und nun harrte man des Wagens. Ein dumpfes Rollen, das immer vernehmbarer wurde, meldete seine An kunft. Endlich bog er um die Straßenecke und hielt vor dem Posthaus. Der Postmeister trat vor und blieb verblüfft stehen, ich hängte mich an seinen Rockschoß. „Er ist's. Es ist der Kaiser." Es war wirklich der Kaiser, er saß am nämlichen Platz in einem ähnlichen Wagen, neben ihm ein Adjutant, ihm gegenüber ein zweiter. Aber Jerome und Letort waren es nicht. Letort war gefallen und Jerome zur Armee nach Laon geschickt worden. Aber der im Wagen saß, war noch immer derselbe Mann, dasselbe blasse, kränkliche, ruhige Antlitz. Nur das Haupt war etwas tiefer
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gegen die Brust geneigt. War das bloße Müdigkeit, war es der Schmerz, um eine Welt gespielt und verloren zu haben? Als der Wagen hielt, hob er, wie das erstemal, das Haupt und schaute mit demselben unsteten Blick um sich, mit diesem Blick, der so durchdringend war, wenn er ihn auf ein Menschengesicht oder einen Horizont heftete, zwei hinter denen so oft die Gefahr zu lauern pflegt. „Wo sind wir?" fragte er. - „In Villers-Cotterets, Sire." - „So, achtzehn Meilen bis Paris?" - „Ja, Sire." - „Vorwärts!" Nachdem er beinahe dieselben Fragen gestellt und mit demselben Befehl geendet hatte, wie das erstemal, fuhr der Wagen weiter. Wäre über die Wahrheit des Berichtes von der Niederlage bei Waterloo, wie sie in VillersCotterets durch jene blut- und staubbedeckten Flüchtlinge verbreitet wurde, noch ein Zweifel gewesen, die Durchreise Napoleons hätte ihm selbst in den ungläubigsten Köpfen, bei den hartnäckigsten Skeptikern ein Ende machen müssen. Überdies war die Vorhut von Flüchtlingen nur der Vorläufer der eigentlichen Armee. Wir sahen und erkannten diese Trümmer, es waren die letzten jener schönen Regimenter, die so stolz, so drohend an uns vorüber gezogen und deren Musik, als wollte sie die allgemeine Begeisterung in Töne übersetzen, das: Veillons au salut de 1'Empire. Leider war diese Armee geschlagen und das Kaiserreich zertrümmert. Allmählich nahmen die Karren ab, bis sie endlich ganz verschwanden. Nun begann der Durchzug des Korps, das Jerome unter den Mauern von Laon gesammelt hatte. Jedes Regiment war um zwei Drittel zusammengeschmolzen. Inmitten dieser Verwirrung kam mein Schwager mit meiner Schwester an. Eingedenk der Belagerung von Soissons im Jahre 1814, als Letellier Bürgermeister von Soissons war und sich hervorragend bewährt hatte, wollte man seinen Sohn durch eine Beförderung erfreuen. Er war zum ambulanten Kontrolleur für Villers-Cotterets ernannt worden. So kam er mit meiner Schwester von der Pariser Straße her, gerade in dem Augenblick, wo man den Feind von der Rue de Soissons her erwartete. Diesmal war die Angst nicht so groß. Es war von keiner Seite Widerstand zu befürchten. Napoleon hatte abgedankt, man hatte Napoleon II. zum Kaiser ausgerufen, obwohl niemand ernstlich daran glaubte, selbst diejenigen nicht, die dabei mitgewirkt hatten. Eines Tages vernahmen wir Trompetenschall, aber es war eine uns fremde Melodie; in demselben Augenblick sahen wir 5000 bis 6000 Mann auf dem Marktplatz aufmarschieren. Es waren Preußen in sehr hübschen Uniformen, an denen man vielleicht nur auszusetzen hatte, dass sie für die Soldaten zu elegant waren. Mit den Preußen zugleich marschierte auch ein englisches Regiment auf. Bei uns waren zwei englische Offiziere einquartiert. Das berühmte Kalbsragout kam wieder zum Vorschein und es wurde ihm von unseren Gästen, zwei wackeren, jungen Leuten mit äußerst gesegnetem Appetit, alle Ehre angetan. Sie sprachen nicht französisch, und ich verstand damals noch kein Wort Englisch; einer der Offiziere hatte nun den drolligen Einfall, mit mir lateinisch zu sprechen. Ich gestehe, dass ich anfangs glaubte, er rede
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noch immer englisch und die merkwürdige Zähigkeit dieses Mannes zu bewundern anfing. Plötzlich machte ich durch ein zufällig aufgefangenes Wort die Entdeckung, dass er mir die Ehre erweise, mir in der Sprache Virgils ein Glas Wein anzubieten. Ich nahm es an, und im Laufe des Tages brachten wir es nach und nach doch dahin, dass wir uns wenigstens halb und halb verständigen konnten. Dann ging alles wieder seinen normalen Gang, und in unserem Städtchen, das fern von allem Lärm inmitten des Forstes vereinsamt lag, hätte man glauben können, es habe sich nichts verändert. Mord Ich war mittlerweile fünfzehn Jahre alt geworden. Da wurde es allmählich Zeit, dass ich mich nach einer ernsthaften Beschäftigung umsah. So wurde also beschlossen, dass ich Notar werden sollte. Ich sollte in die Kanzlei des Herrn Mennesson eingestellt werden, als dritter Schreiber sagten die höflichen Leute, als Laufbursche die anderen. Maitre Mennesson war damals ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mehr klein als groß, untersetzt, stämmig, und er wurde infolge seines stattlichen Aussehens von jedermann mit Zuvorkommendheit behandelt. Er hatte kurzgeschorene rote Haare, lebhafte Augen und einen spöttischen Mund. Er war ein geistreicher, oft barscher, immer eigensinniger Mann, wütender Voltairianer und schon zu einer Zeit Republikaner, als noch niemand es war. Man sagte mir jedoch, er sei später auffallend fromm geworden, gehe jetzt mit der Kerze in der Hand bei allen Prozessionen mit, während er vorher nicht mal seinen Hut vor ihnen abnahm. Gott sei ihm gnädig und barmherzig ... Mennesson hatte für die Bauern der Umgegend viel zu tun, und wenn sich die in ihrer Bequemlichkeit nicht stören lassen wollten, trug ich ihnen die Urkunden zum Unterschreiben ins Haus. Eines Tages sagte mir mein Chef, er werde mich morgen nach Crequi schicken, um seinem dortigen Kollegen, Maitre Leroux, eine Akte zu bringen. Ich entledigte mich getreulich meines Auftrages, und gegen sieben Uhr abends bestieg ich wieder mein Pferd und trat den Heimweg an. Es war, soviel ich mich noch erinnere, im Oktober, die Tage nahmen rasch ab, und da es auch trübe und regnerisch war, war es schon Nacht, als ich Crequi verließ. Etwa eine Viertelstunde von Crequi zieht sich ein Teil des Waldes von Pillet bis an die Straße hin. Anderthalb Meilen weiter steigt die Straße, die bis dahin ganz eben ist, zu einem sanften Hügel an, an dessen Fuß eine Quelle entspringt, die dann seitwärts durch die längst aufgegebenen Steinbrüche rieselt. Von der Quelle hat der Ort den Namen Fontaine-Eau-Claire erhalten. Die Steinbrüche, die mit ihren tiefen, schwarzen Rachen die Straße anstarren, geben dem Ort das Ansehen einer düsteren Einöde und erfüllen die vorübergehenden Landleute mit leisem Schauer. Seit undenklichen Zeiten erzählt man sich hier von Raub und Mord. Nur die Volkssage weiß etwas von diesen Verbrechen, die trotzdem sprichwörtlich geworden sind.
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Da der Bach diesmal etwas zu breit war, um hinüberspringen zu können, hatte mir ein Bäcker, ein Klient des Herrn Mennesson, für diese Reise ein Pferd zur Verfügung gestellt. Es war für mich stets ein Festtag, wenn ich reiten konnte, und wäre es auch nur auf einem Ackergaul. Eine halbe Meile oberhalb der klaren Quelle öffnet sich dem Blick (das reizende Tal von Vauciennes, dann senkt sich der Weg plötzlich und steigt wieder an. Diese beiden Abhänge sind der Schrecken aller Fuhrleute, die beim Bergabfahren an dem einen nicht genug bremsen und am andern nicht hinaufkommen können. Den Gipfel des zweiten Berges, von dessen Höhe man auf VillersCotterets hinabschaut, beherrscht eine Windmühle des Gutpächters Picot. Sie steht einsam da, zwei Kilometer von Vauciennes und ungefähr eine Meile von Villers-Cotterets entfernt. Der Mond, der eben im ersten Viertel stand, war durch dichte Wolken verschleiert, die in raschem Flug über den Himmel zogen und an den Rändern wie von grauem Schaum umbrandet schienen. Ich hatte Gold bei mir, aber keine Waffe. Dazu war ich erst fünfzehn Jahre alt; a l l die Sagen von der klaren Quelle traten lebhaft vor meine Seele und das Herz begann mir fast hörbar zu schlagen. Ich überschritt die gefährliche Stelle, den „Malo Sitio", wie man in Spanien sagt, ohne dass mir ein Unfall begegnet wäre. Ringsumher schien alles zu schlafen. Die in tiefem Dunkel liegende Landschaft wurde weder durch ein Licht vom Himmel noch durch das Gebell eines Hundes belebt, das uns in der Ferne einen Hof verkündet, ohne dass unser Auge ihn zu erblicken vermag. Auch die Windmühle schlief; die starren, regungslosen, wie in stummer Verzweiflung zum Himmel emporgereckten Flügel glichen den Armen eines Skeletts. Nur die Bäume an der Straße schienen zu leben. Sie krümmten sich und ächzten im Wind, der ihnen ungestüm die Blätter entriss und sie gleich Scharen von Trauervögeln in die Ebene hinab flattern ließ. Plötzlich machte mein Pferd, das in der Mitte der Straße forttrabte, einen so jähen und unerwarteten Satz, dass es mich fünfzehn Schritte weit auf die andere Seite der Straße hinüberschleuderte. Statt nun stehen zu bleiben und mich zu erwarten, begann es mit doppelter Schnelligkeit, aus vollen Nüstern blasend, davonzurennen. Ich stand wieder auf. Der Sturz hatte mich betäubt und hätte mich vielleicht das Leben gekostet, wenn ich statt auf die weiche Erde auf die harten Steine gefallen wäre. Im ersten Augenblick wollte ich meinem Gaul nachrennen, aber er war schon so weit weg, dass ich dies für eine vergebliche Mühe hielt und lieber meine Neugierde befriedigen wollte, die Ursache eines so plötzlichen Schreckens kennen zu lernen. Ich schüttelte mich und wankte wieder nach dem Fußweg hinüber. Kaum hatte ich hundert Schritte gemacht, als ich einen Mann quer über der Straße liegen sah. Ich hielt ihn für einen betrunkenen Bauer und freute mich, dass ihm mein Pferd nicht die Rippen eingeschlagen hatte. Nun bückte ich mich, um ihn aufzuheben. Ich berührte seine Hand, sie war starr und kalt. Ich stand wieder auf, blickte mich um,
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und es schien mir, als sähe ich in einer Entfernung von etwa zehn Schritt im Graben eine menschliche Gestalt wanken. Da fuhr mir plötzlich der Gedanke durch den Sinn, dass dieser regungslose Mensch ermordet und die Gestalt im Graben der Mörder sei. Das genügte mir. Ich sprang über den Leichnam hinweg und rannte, dem Beispiel meines Pferdes folgend, Hals über Kopf auf Villers-Cotterets zu. Ohne anzuhalten, ohne mich umzusehen, beinahe ohne Atem zu schöpfen, legte ich in etwa zehn Minuten die Meile zurück, die ich zu durchlaufen hatte, und kam keuchend und mit Schweiß und Schmutz bedeckt im selben Augenblick zu meiner Mutter, als der Bäcker ihr erzählte, sein Pferd sei allein in den Stall zurückgekommen. Meine Mutter war ganz blass vor Schreck, sie wurde noch bleicher, als sie mich sah. Ich nahm sie beiseite und erzählte ihr alles. Ich brachte samt meiner Mutter einen großen Teil der Nacht schlaflos zu. Die ganze Stadt war in Aufregung. Ein Fuhrmann aus Villers-Cotterets, an dem ich ungefähr auf halber Bergeshöhe vor Vauciennes vorüberkam, hatte den Leichnam gefunden, ihn aufgeladen und der Polizei abgeliefert. Der Tote schien ein junger Mann von achtzehn bis neunzehn Jahren zu sein. Die tödliche Wunde ging quer über den Kopf und hatte die Hirnschale geöffnet. Übrigens wurde der Tote von niemand erkannt. Zwei Tage lang bildete dieses Ereignis das Stadtgespräch, als sich plötzlich die Nachricht verbreitete, als Mörder sei ein Schäfer im Dienst des Herrn Picot verhaftet worden. Wirklich sah man vom Ende der Rue de Largny einen Mann in einer Bluse herankommen. Er trug Handschellen und schritt zwischen zwei berittenen Gendarmen mit gezogenen Säbeln einher. Der Friedensrichter begann sofort die Untersuchung, aber beim ersten Verhör leugnete der Gefangene hartnäckig. Unterdessen kamen sehr belastende Beweise gegen ihn zum Vorschein. Bekanntlich schlafen die Schäfer in einer fahrbaren Hütte in der Nähe ihrer Pferche Diese Hütte stand nun am Tag, als der Mord geschah, und in der darauf folgenden Nacht, in der, der Leichnam gefunden wurde, höchstens zweihundert Schritte von der Heerstraße entfernt. Dazu hatte man an dem mit einer alten Matratze bedeckten Stroh Blutspuren gefunden. Auch war der Hammer, mit dem der Angeklagte die Pflöcke seines Pferches einzuschlagen pflegte, an einem Ende mit Blut befleckt. Trotz dieser Beweise hatte Maro, so hieß der Schäfer alles geleugnet. Aber gegen elf Uhr nachts schien sich der Gefangene eines Bessern zu besinnen. Er rief den Wärter Sylvester, der zugleich Kirchendiener war, und bat ihn, den Friedensrichter zu holen, da er ihm ein Geständnis zu machen hätte. Er hatte eine ganze Geschichte zu erzählen, die eine Anklage auf Mord gegen seinen Brotherrn Victor Picot war. An dem Tag, an dem der Mord begangen wurde, kam ein junger Mensch, der Arbeit suchte, über die Heerstraße und ging auf Maro zu, der gerade im Begriff war, seinen letzten Pflock mit dem Hammer einzuschlagen. Er schilderte dem Schäfer seine Not und sagte, er sei, obwohl er nicht mal einen Sou für Brot hatte, doch zu stolz, um zu
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betteln. Da brachte denn Maro aus seiner Hütte eins jener großen Brote, wie sie die Pächter jeden Morgen unter ihre Tagelöhner austeilen und gab die Hälfte des Brotes dem Fremden, der sich neben ihn hinsetzte. Plötzlich kommt Herr Picot in gestrecktem Galopp herangeritten und schreit erzürnt seinen Schäfer an: „Kerl, glaubst du, ich gebe dir mein Brot, um damit Vagabunden und Bettler zu füttern?" Der Fremde wollte antworten, aber Picot ritt so nahe heran, dass der arme junge Mensch, um nicht unter die Hufe des Pferdes zu geraten, seinen Stock zur Abwehr empor halten musste. Bei dieser Bewegung, die nur eine Selbstverteidigung war, bäumte sich das Pferd und traf mit der Vorderhand die Brust des Fremden. Der junge Mann fiel bewusstlos zu Boden. Um einen unglücklichen Zufall zu verbergen, beging Pirot ein Verbrechen. Er sah Maros Hammer am Boden liegen, und damit versetzte er dein Fremden einen Schlag auf den Kopf und tötete so den Ohnmächtigen Der Tod trat augenblicklich ein. Nun machte Picot dem Schäfer allerlei Versprechungen, damit dieser sein Verbrechen nicht verriet Der Schäfer war schwach genug, sich durch die Bitten seines Herrn rühren zu lassen, und willigte ein, die Leiche in seiner Hütte zu verbergen daher die Blutflecken am Stroh und an der Matratze. Am Abend wollten sie den Toten nach der Windmühle tragen, zu der Picot den Schlüssel hatte, und ihn dort einscharren. Als sie aber über die Straße gingen, vernahmen sie den Hufschlag eines Pferdes, das in scharfem Trab daherkam. Sie ließen daher den Leichnam fallen und flüchteten nach verschiedenen Seiten. Zehn Minuten später kamen sie zurück, aber da sahen sie auf der Höhe von Vauciennes einen Fuhrmann, und der habe sie wieder vertrieben, so dass sie ihre Arbeit aufgeben mussten. Wie gesagt, das Märchen war nicht schlecht erfunden, wohl nicht, um die Überzeugung des Richters irrezuleiten, aber doch um auch Picot verhaften zu lassen. Das erregte großes Aufsehen. Picot war nicht gerade beliebt. Er war zu reich, hübsch, stattlich, hochfahrend in seinen Reden, lauter Eigenschaften die in einer kleinen Stadt hinreichen, jemand unpopulär zu machen.
In Wirklichkeit aber hatte Picot nie jemand etwas Böses angetan Trotzdem hatte er beim ersten Bekannt werden des Mordes die halbe Stadt gegen sich. Die Untersuchung gegen ihn wurde wirklich eingeleitet. Am folgenden Tage sollte ein Lokaltermin stattfinden und der Staatsanwalt war zu diesem Zweck aus Soissons herübergekommen Den Eindruck, den dieser ernste Zug auf mich machte, werde ich in meinem Leben nicht vergessen. Voraus gingen die Behörden der Stadt und der Staatsanwalt, dann kam Picot zwischen einer doppelten
Reihe von
Gendarmen, die ihn förmlich einschlossen, dann Maro zwischen zwei Reihen Gendarmen, dann die ganze Stadt, nur mit Ausnahme derer, die es vorzogen, den Zug von den Bänken und Fenstern aus zu betrachten.
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Das ganze Verfahren drehte sich darum, ob und in welcher Weise die Brust des jungen Mannes verletzt war. Der Schäfer behauptete, sie sei durch einen Hufschlag des Pferdes eingedrückt worden. Picot erwiderte, wenn der junge Mann einen so heftigen Schlag auf die Brust erhalten hätte, dass er davon ohnmächtig zu Boden sank, müsse auch der Abdruck des Hufeisens sichtbar sein. Die Brust sei wohl verletzt, aber weit eher durch den Schuhabsatz des Schäfers als durch das Eisen des Pferdes. Die beiden Angeklagten wurden in das Gefängnis nach Soissons abgeführt. Nach einem Monat wurde das Verfahren gegen Picot eingestellt. Er kehrte zu seiner Familie zurück, aber der Schlag war so heftig, dass er die Zukunft dieses Menschen vernichtete. War er früher hochfahrend, so wurde er nun völlig zum Menschenfeind. Er schloss sich in seinem Hof in Noue ein, mied den Umgang mit Altersgenossen und heiratete endlich die Tochter eines Gendarmen, die schon vorher seine Geliebte war. Der Schäfer wurde zu zehn oder fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er sich die Kleidungsstücke des Toten angeeignet hatte. Ein sonderbares Urteil, das ein Verbrechen zugestand, ohne den Täter zu ermitteln. Erste Liebe
Es war Anfang 1818. Im Juli sollte ich sechzehn Jahre werden. Der Mai, der Lieblingsmonat des Jahres, allenthalben so reich und so schön, ist doch in VillersCotterets reicher und schöner als sonst wo. Man kann sich keine Vorstellung machen, wie damals und ganz besonders zu jener Jahreszeit der schöne Park aussah, dem mein Herz noch immer nachtrauert, seitdem er auf Louis-Philippes Befehl ausgerodet wurde. Die ganze Anlage war einfach und doch zugleich großartig. An das unermessliche Schloss, das den Grasplatz beherrschte, schlossen sich Flügeln gleich zu beiden Seiten zwei herrliche, mehr lange als breite Laubgänge, deren eines Ende an die Schlossmauer stieß, während das andere in zwei Alleen riesiger Kastanienbäume mündete, die die Seiten eines großen Vierecks bildeten, sich schräg einander näherten, dann wieder, ehe sie zusammentrafen, in gerader Linie fortliefen, bis sie endlich dem Auge entschwanden. Zwischen ihnen lag ein breiter leerer Raum, und erst in einer Entfernung von einer Meile grenzten die Höhen von Vivieres mit ihren rötlichen Erdbrüchen und ihrem dichten Buschwerk den Horizont ab. Zur Winterszeit war alles stumm und öde. Dichte Krähenschwärme, die die höheren Bäume besetzten, waren die einzigen, die sich aus diesem herrlichen Sitz durch Sturm und Frost nicht verdrängen ließen; eine wahre Barbareninvasion, die sich nur dann wohl zu fühlen scheinen, wenn die Erde erstarrt, der Wald entblättert ist. Das dauerte alljährlich vier Monate. Wenn es aber April wurde, da sprosste das Gras munter aus dem Boden hervor, trotz des Reifes, der ihn jeden Morgen mit einem Silberteppich überzog, da kleideten sich die Bäume, die bis dahin
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so nackt so verödet, tot dagestanden, neuerdings in den flockigen Samt ihres Knospen- und Blütenschmuckes. Von da an begann mit jedem Tag sich ein anderes Glied der erwachenden Natur zu regen. Zuerst kamen Kastanienbäume, Pappeln und Linden, die Vorboten des nahenden Frühlings, dann lugte Tausendschön aus dem Gras, und Maiglöckchen läuteten den Lenz ein. In dem immer höher emporschießenden Gras zirpten Grillen, und Schmetterlinge die fliegenden Blumen der Luft, küssten die schüchternen Blumen der Erde wach. Dann kamen auch all die Stadtkinder mit weißen Kleidern und roten Bändern und lagerten auf den Grasplätzen umher. Da war plötzlich alles bevölkert und belebt. Der Frühling schwebte auf den Fittichen des Maizephirs heran, es war, als sähe man ihn seine rosenumwundenen Locken schütteln und die Welt mit seinem ,luftigen Hauch erfüllen. Diese Zeit der freudigen Wiedergeburt hatte auch die Stadt für ihr schönstes Fest gewählt, das stets reichlich und glänzend war, weil die Natur dabei die Kosten trug. Das war das Pfingstfest und währte drei Tage So lange hallte von einem Ende des Parkes bis zum andern Freudengeschrei und fröhlicher Lärm, der mit dem frühesten Morgen erwachte und erst spät in der Nacht entschlummerte. Der Park vereinigte die ganze Stadt zu einer großen Familie, und da die Familie alle Nebenlinien, Freunde, Verwandten und Bekannten herbeirief, steigerte sich die Bevölkerung aufs Vierfache. Während dieser drei Tage glich die Stadt einem allzu vollblütigen Körper, dessen Herz zehnmal schneller schlug, denn sonst. Am Mittwoch aber begann diese Überfülle abzunehmen und sich in den folgenden Tagen ganz und gar zu verlieren. Allmählich nahm alles wieder sein gewohntes Aussehen a n , der Wald, der drei Tage lang bis in seine dichtesten Schatten hinein verfolgt wurde, fand seine Einsamkeit und Stille wieder. Dieses Jahr sollten zum Pfingstfest zwei fremde Damen kommen. Die eine war die Nichte des Abbe Gregoire. Sie hieß Laurentia, ihren Zunamen habe ich vergessen. Die andere war ihre Freundin, sie gab sich für eine Spanierin aus, und nannte sich Vittoria. Die Ankunft der beiden Damen war mir durch Abbe Gregoire im voraus gemeldet. Eines Morgens trat er in das Haus und ließ mich rufen."Kannst du tanzen?" - „Warum fragen Sie mich das, Herr Abbe?" –„Hast du mir nicht bei deiner letzten Beichte gesagt, du seiest in d e r Komödie, in der Oper und auf dem Ball gewesen?" In der Tat hatte ich in einem jener Beichtbüchlein, die man schon gedruckt kaufen kann, um einem trägen oder widerspenstigen Gedächtnis
nachzuhelfen, gelesen, dass es eine Sünde sei, in die
Komödie, in d i e Oper oder auf den Ball zu gehen, und da ich - als ich in einem Alter von drei Jahren mit meinem Vater in Paris war – der Vorstellung von „Paul und Virginie" in der Opera Comique beigewohnt hatte, d a i c h überdies jedes Mal dabei war, wenn eine wandernde Schau spielergruppe in Villers-Cotterets eine Vorstellung gab, da ich endlich auch auf dem Ball war, den Madame Deviolaine zum Namensfest einer ihrer Gregoire ganz naiv
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Töchter veranstaltete, so hatte ich dem Abbe
diese drei Sünden gebeichtet, die ihm viel zu lachen gaben und die er nun trotz der Heiligkeit des Beichtgeheimnisses verraten hatte. „Ja", antwortete ich, „ich kann tanzen. Was weiter?" - „Du wirst also meine Nichte, die uns zu Pfingsten besuchen will, zum Tanz führen." „Aber ich tanze nicht gern", erwiderte ich kurz. - „Ach was, aus Galanterie wirst du so tun, als ob du gern tanzen würdest." Ich hatte also acht Tage vor mir, um mich für meinen Kavaliersdienst vorzubereiten. Bis dahin ereignete sich etwas Großes und Unerwartetes. Als mein Schwager von Villers-Cotterets abreiste, ließ er einen Teil seiner Bibliothek zurück. Unter diesen Werken befand sich auch eins in acht oder zehn Bänden, die in rotes Glanzpapier eingebunden waren. Mein Schwager zeigte dieses Buch meiner Mutter. „Er darf alle lesen", sagte er, „nur dieses nicht." Ich sah mir das Buch von der Seite ganz verstohlen an und nahm mir vor, es gerade vor allen anderen zu lesen. Nach der Abreise meines Schwagers ließ ich ein paar Tage verstreichen, dann begann ich jenen roten Bänden nachzuspüren, die ich nicht lesen durfte. Ich kehrte in der Bibliothek das Oberste zu unterst, was ich suchte, fand ich nicht. Endlich gab ich mein Vorhaben auf. Da ich jedoch den Ritter eines zweiundzwanzig bis vierundzwanzigjährigen Mädchens machen sollte, begann ich unwillkürlich meine Kleidung aufmerksamer zu betrachten. Fast alle meine Jacken waren am Ellbogen und die Hosen an den Knien mit Flicken ausgebessert. Der einzige leidliche Anzug, den ich besaß, war der, in dem ich zur Firmung gegangen bin: Nankinghose, eine weiße Pikeeweste und ein hellblauer Rock mit Messingknöpfen. Glücklicherweise war alles schon ursprünglich um zwei Zoll zu lang gemacht worden, daher war es jetzt nur einen Zoll zu kurz. Auf dem Boden stand noch eine große Truhe. Darin lagen Überröcke und Hosen von meinem Vater und von meinem Großvater. Alles noch in sehr gutem Zustand. All diese Kleidungsstücke die der Reihe nach für meine Toilette verwendet werden sollten, wurden durch Kampfersäcke gegen Mottenfraß geschützt. Ich hatte mich nie um meine Toilette gekümmert und folglich auch niemals diese Truhe durchstöbert. Als mich aber Abbe Gregoire, der mit meinem Tanzen sehr zufrieden war, zum Cicisbeo seiner Nichte ausersehen hatte, musste ich mich nun mit diesem mir ganz neuen Gebiet beschäftigen Es überkam mich plötzlich etwas wie Koketterie. Ohne meiner Mutter ein Wort zu sagen, denn ich hatte meine eignen Pläne, begab ich mich auf den Boden. Um in meinen Nachforschungen nicht gestört zu werden, sperrte ich mich ein, und nun öffnete ich die Truhe. Es war alles da, was sich der anspruchsvollste Kavalier nur wünschen konnte, vom Rock aus gepresster Seide bis zur roten goldgestickten Weste, von den Ripsbeinkleidern bis zu den Lederhosen. Aber unter all diesen Kleidungsstücken, ganz am Boden der geheimnisvollen Truhe, lagen die rotgebundenen Bücher, die ich so lange gesucht
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hatte und die ich nicht lesen sollte. Hastig öffnete ich den nächstbesten Band, der mir in die Hand kam, und las: „Abenteuer des Chevalier de Faublas." Der Titel sagte mir nicht viel, die Kupferstiche sagten etwas mehr. Etwa zwanzig Zeilen, die ich gierig verschlang, sagten mir noch weit mehr als die Kupfer. Ich nahm die vier ersten Bände, legte sie auf die Brust, knüpfte meine Jacke darüber und stieg auf den Fußspitzen wieder hinunter. Statt durch den Laden meiner Mutter, schlich ich durch den Gang des Herrn Lafarge, erreichte in schnellem Lauf den Park, suchte mir den verborgensten dunkeln Winkel aus, wo ich sicher war, nicht gestört zu werden - und begann zu lesen. Der Zufall hatte mir schon öfter unzüchtige Bücher in die Hand gespielt. Ein Hausierer, der in seinem Kasten erlaubte Bilder, aber unter seinem Mantel verbotene Bücher trug, und je nach Wunsch bald diese, bald jene verkaufte, kam zwei- oder dreimal des Jahres durch VillersCotterets. Er ging nur mühsam auf seinen beiden Stelzfüßen daher und gab sich für einen Invaliden aus. Das Geld, das ich mit Not meiner armen Mutter erpresst hatte, wurde oft zum Ankauf dieser verbotenen Bücher verwendet. Aber ein gewisses Zartgefühl, das mir stets innewohnte und dem ich es zu verdanken habe, dass unter den 600 Bänden, die ich in meinem Leben geschrieben habe, kaum vier sein dürften, die eine gewissenhafte Mutter vor ihrer Tochter verbergen müsste, dieses Zartgefühl ließ mich ähnliche Bücher gewöhnlich schon bei der zehnten Seite oder beim zweiten Kupferstich in die Ecke schleudern. Anders mit dem Faublas. Faublas ist, dagegen lässt sich nichts sagen, i n
moralischer
Beziehung ein schlechtes, in stilistischer ein mittelmäßiges Werk, als Roman aber an und für sich ein reizendes Buch. Reich an Erfindung und ganz besonders an mannigfaltigen Figuren, die mitunter wohl etwas überspannt sind, für die sich aber in der Gesellschaft
Ludwigs XV. lebende
Modelle finden ließen. I n diesem Augenblick entdeckte ich in mir eine Berufung, von der ich his dahin nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte: Ich wollte ein zweiter Faublas werden. Ich hatte also die vollständige Theorie der Verführungskunst inne, als der Pfingstsonntag kam und ich in meinem lichtblauen Rock und meinen
Nankingbeinkleidern den beiden
liebenswürdigen Pariserinnen vorgestellt wurde. Die eine, Fräulein Laure, groß und schlank, mit einer biegsamen Taille, halb spöttischer, halb gleichgültiger Miene, blondem Haar frischem Teint, und mit der den Pariserinnen eigenen e l e g a n t e n Grazie gekleidet, war, wie gesagt, die Nichte meines guten Abbes . Die andere, Fräulein Vittoria, war blass mit einem üppigen Busen, hohen Hüften und feurigem Blick. Der matte Teint, der dunkle Glanz ihrer Augen und die Biegsamkeit des Wuchses ließen auf den ersten Blick die Spanierin erkennen. W a r e s nun das Gefühl pflichtschuldiger Ehrfurcht für den Abbe Gregoire , d er mich vor allen andern zum Ritter seiner Nichte auserlesen hatte oder jener milde Anflug von Sanftmut und Reinheit, der sich über das ganze
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Wesen des Mädchens ergoss - genug an dem, Fräulein Laure war diejenige, der ich zuerst meine Aufmerksamkeit schenkte. Ihr bot ich also meinen Arm, als es nach dem Essen hieß, man wolle einen kleinen Spaziergang durch den Park machen. Ich verhehlte mir nicht, dass ich mich sehr befangen fühlte, und dass mich diese Schüchternheit lächerlich und unbehilflich machte. Mein Anzug, für einen Knaben, der zur Firmung geht, immerhin gut genug, war jedoch für einen jungen Mann, der den ersten Schritt in die Welt tun sollte, etwas zu exzentrisch. Kniehosen wurden zu jener Zeit nur noch von den „Hartnäckigen" getragen, die fast dem vorigen Jahrhundert angehörten. Ich, noch ein Kind, sollte einen Umschlagkragen, eine runde Jacke und besetzte Hosen tragen, und ich war gekleidet wie ein alter Herr und ließ durch den Anachronismus die reizende Kokette, die ich am Arm führte, nur noch mehr hervortreten, denn sie wusste nur zu gut, dass sie unter dem lächerlichen Aussehen ihres Kavaliers nichts zu leiden habe, und so blieb sie trotz des spöttischen Schmunzelns, mit dem man mich betrachtete, trotz der neugierigen Blicke, die man uns nachsandte, ruhig wie die Götter Virgils, die gleichgültig auf Erden einher wandeln und sich um die neugierigen Blicke der Menschen nicht kümmern, weil sie selbst niemand eines Blickes würdigen. Anders war es mit mir. Ich errötete jedes Mal, so oft ich einem Bekannten begegnete, und wandte, statt stolz seinen Blick zu suchen, den meinen schüchtern zur Seite. Das Schlimmste an der Sache war, dass die beiden Damen die Blicke aller Neugierigen auf mich lenkten. Fräulein Vittoria ging dicht hinter uns, und hatte ihren Arm der Schwester des Abbe gereicht, einer buckligen, kleinen, aber herzensguten Frau, deren einfache Kleidung die elegante Tracht und die herrliche, üppige Gestalt der Spanierin noch auffallender hervortreten ließ. Von Zeit zu Zeit blickten die jungen Mädchen einander an und wechselten ein Lächeln, das ich zwar nicht sah, aber sozusagen fühlte, und das mir die Schamröte ins Gesicht trieb. Es schien zu sagen: „Ach, liebe Freundin, in welches Wespennest sind wir da geraten!" Ein Wort verdoppelte meine Verlegenheit und verwandelte sich fast in Zorn. Ein junger Pariser, der seit zwei Jahren im Schloss angestellt war, und alle Eigenschaften besaß, die mir abgingen - er war blond, von rosigem Angesicht, runden Formen und elegant gekleidet -, ging an uns vorüber und betrachtete uns durch eine Lorgnette, die an einem Stahlkettchen hing. „Ah, seht nur", rief er aus, „Dumas geht nochmals zur Kommunion, nur mit einer anderen Kerze." Diese boshafte Bemerkung traf meine wundeste Stelle. Ich erblasste und war nahe daran, den Arm meiner Begleiterin fahren zu lassen. Sie muss jedoch meine Verlegenheit bemerkt haben und wandte sich, als hätte sie nichts gehört, mit der Frage an mich: „Wer ist der junge Mann, der eben an uns vorüberging?" „Ein gewisser Miaud, Angestellter des Unterstützungsvereins für Arme. "
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Ich gestehe, dass ich die letzten Worte mit innigem Wohlbehagen besonders betonte, denn ich hoffte, sie würden die gute Meinung, die meine Begleiterin von diesem Fatzke auf den ersten Blick gefasst haben mochte, bedeutend herabstimmen. „Ah", sagte sie, „das ist sonderbar, ich hätte ihn für einen Pariser gehalten - „Und warum?" „Weil er so elegant gekleidet ist. "Ich bin überzeugt, dass dieser Hieb unbeabsichtigt geführt wurde, aber nichtsdestoweniger zerfleischte er mir gleich dem mit Widerhaken versehenen Pfeil des Parthers das Herz.Weil er so elegant gekleidet war! Die Kleidung war also die Hauptsache, danach konnte man Verstand, Geist und Herz der Menschen beurteilen. Der junge Mann war in der Tat vollkommen nach der neuesten Mode des Jahres 1 8 1 8 gekleidet. Er trug kaffeebraune, enganliegende Beinkleider und Kappenstiefel, eine chamoisfarbene Weste mit goldenen Knöpfen und einen braunen Rock mit hochstehendem Kragen. In seiner Westentasche ruhte eine vergoldete Lorgnette, die an einer feinen Stahlkette hing, und an seinem Uhrtäschchen spielte eine ganze Menge kleiner Uhrgehänge in höchst koketter Weise. Ich seufzte und beschloss, mir das alles anzuschaffen, möge es kosten, was es wolle. Wir machten den Spaziergang, den jeder Bürger der Stadt und jeder Fremde, der die Stadt besuchte, zu machen pflegte, das heißt, wir gingen durch die lange, herrliche Kastanienallee, die über und über mit Blüten bedeckt war, bis hinab zu jenem Laubgang, der durch das dichte Gebüsch versteckt war und „Ha Ha" hieß, wahrscheinlich von dem
Ausruf der Spaziergänger, die ihn früher nicht
gesehen hatten und dann plötzlich seiner ansichtig wurden. Ich glaubte, der Augenblick s e i gekommen, um von meinem eingebüßten Ansehen etwas zurückzuerobern Ich hatte es in den Leibesübungen zu einer ziemlichen Gewandtheit gebracht und war vor allem ein guter Springer. „Sehen Sie diesen Graben da", sagte ich zu meiner Begleiterin, und glaubte sie in die höchste Verwunderung zu versetzen, „- ich springe mit einem Satz hinüber." „Wirklich?“ erwiderte sie gleichgültig. „Er scheint ziemlich breit zu sein.“ „Vierzehn Fuß. Ich wette mit Ihnen, dass Herr Miaud mir das nicht nachmachen würde." „ D a tut er recht", entgegnete sie. „Was hätte er auch davon?" Ich war baff über diese Antwort. Ein solcher Sprung, den mir nur wenige nachmachten, sollte die Pariserin kalt lassen? „Sie werden es gleich sehen“', sagte ich. Und ohne auf eine Antwort zu warten, nahm ich einen Anlauf, und mit einem Sprung war ich drüben. Als ich mich aber erhob, ließ sich ein u n h e i l v o l l e s Krachen vernehmen. Gleichzeitig fühlte ich einen frischen Luftzug meiner
durch den unteren Teil meines Rückens streichen. Das Gesäß
Hose war geplatzt. Das war ein vernichtender Schlag. Es war mir unmöglich meine
schöne Pariserin nach dem Tanzsaal zurückz u f ü h r e n . I ch konnte ihr aber auch nicht sagen, welcher Unfall mich betroffen
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hatte und mich nötigte, auf eine halbe Stunde Urlaub zu
nehmen. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, lief ich nach unserer Wohnung, von der wir ungefähr eine halbe Meile entfernt waren, und die verwunderten Spaziergänger fragten sich, ob mein unsinniges Rennen Folge einer Wette oder ob ich plötzlich verrückt geworden sei. Als mich meine Mutter keuchend und atemlos kommen sah, war sie außer sich vor Schrecken. Auf ihre Fragen vermochte ich nur mit einer ziemlich unehrerbietigen und unanständigen Geste zu antworten, die der Neapolitaner sich erlaubt, wenn er mit dem Vesuv unzufrieden ist. Meine Mutter verstand die Gebärde und besserte den Schaden sogleich aus. Ich trank noch rasch ein großes Glas Obstsaft, den wir aus gedörrten Äpfeln zubereiteten, und rannte nun wieder, beinahe mit derselben Schnelligkeit fort, mit der ich soeben erst gekommen war. Aber so schnell ich auch lief, so konnte ich doch erst zehn Minuten nach meinen beiden Pariserinnen den Tanzsaal betreten. Fräulein Vittoria tanzte bereits mit Herrn Niguet, Fräulein Laure mit Herrn Miaud. Bei jedem Lächeln, das Laure mit ihrem Tänzer wechselte, stieg mir Zorn und Schamröte ins Gesicht, es schien mir, als wäre ich der Gegenstand ihrer Heiterkeit, die für meine Eigenliebe nicht gerade sehr schmeichelhaft war. Nach dem Tanz führte Miaud Laure an ihren Platz zurück. Ich näherte mich der Bank, auf der meine beiden Pariserinnen saßen - schöner und eleganter, als die schönsten, elegantesten und vornehmsten jungen Mädchen der Umgegend. „Da bin ich wieder, Fräulein Laure", sagte ich kleinlaut „Ah, das ist schön", antwortete sie, ,.als ich Sie Hals Über Kopf davonrennen sah, fürchtete ich schon, es wäre Ihnen ein Unfall zugestoßen." Das Gespräch nahm schon bei den ersten Worten eine Wendung, die mich neuerdings in Verlegenheit setzen musste. „In der Tat, Mademoiselle", stotterte ich, "ich bemerkte plötzlich, dass..." „Dass Sie Ihre Handschuhe vergessen hatten ich begreife. Sie wollten nicht ohne Handschuhe tanzen, und da haben Sie auch ganz recht." Ich warf einen Blick auf meine bloßen Hände und wurde purpurrot. Mechanisch steckte ich sogleich meine beiden Hände in die Taschen. Ach, ich hatte keine Handschuhe! Ich trat einen Schritt zurück und ließ verwirrt meine Blicke umherschweifen. Etwa vier Schritte von mir stand ein junger Mann namens Fourcade, der aus Paris gekommen war, um in Villers-Cotterets Unterrichtskurse abzuhalten. Der junge Mann plagte sich eben mit dem Anziehen nagelneuer Handschuhe die er höchstens eine Viertelstunde vorher gekauft haben mochte. Fourcade war ein trefflicher Junge, der fast ebenso dem begrabenen wie dem beginnenden Jahrhundert angehörte, und daher wie ich Nankinghose und einen hellblauen Rock trug. Diese Gleichheit unseres Anzuges erfüllte mich vollends mit Vertrauen, selbst wenn ich es nicht schon früher für ihn gehegt hätte. „Lieber Freund", sagte ich zu ihm, „Sie könnten mir eine große Gefälligkeit erweisen, wenn Sie mir Ihre Handschuhe leihen wollten. Ich habe Fräulein Laure, die dort auf der Bank sitzt, zum Tanz auf
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gefordert und da merkte ich erst, dass ich meine Handschuhe vergessen habe. Sie verstehen wohl das Peinliche meiner Lage." „Lieber Freund", erwiderte Fourcade, „Sie scheinen mir ungemein verliebt zu sein. Aber soviel kann ich Ihnen sagen, dass Sie ein Glückspilz sind, denn ich habe ausgerechnet zwei Paar Handschuhe bei mir." Und er zog aus seiner Tasche ein zweites Paar Handschuhe, ebenso neu wie das erste, und gab es mir. Dieser unerhörte Luxus setzte mich in grenzenloses Erstaunen. „Wozu denn zwei Paar Handschuhe?" fragte ich. „Weil das eine beim Anziehen reißen könnte", erwiderte er gleichgültig und beinahe erstaunt, dass ich eine solche Frage an ihn stellen konnte. Diese Antwort verblüffte mich noch mehr. Es gab also Leute die so vorsichtig waren, zwei Paar Handschuhe mitzunehmen, während andere nicht einmal eines besaßen! „Haben Sie schon einen Tischnachbar?" fragte ich Herrn Fourcade. „Nein, ich bin eben erst gekommen." - „Wollen Sie mein Gegenüber sein?" - „Recht gern." „Auf die Plätze zum Kontertanz", ließ sich der Tanzmeister vernehmen. Ich eilte auf Fräulein Laure zu und bot ihr stolz die behandschuhte Hand Fourcade wandte sich an ihre Nachbarin Vittoria. Wir waren die einzigen, die Kniehosen trugen. Bei den ersten Schritten Fourcades ließ sich ein Beifallsgemurmel vernehmen. Die nicht tanzten, stiegen auf die Bänke, die Tänzer traten einen Augenblick zur Seite, um einen Schritt Fourcades zu erhaschen. Sein Auftreten war also ein wahrer Triumph. Ich suchte mir aus seinen Wendungen und kunstvollen Schritten diejenigen heraus, die ich gleichfalls leisten zu können glaubte, und als nun, nach dem Erfolg meines Partners, die Reihe an mich kam, gab mir ein wohlwollendes Murmeln kund, dass ich meine Sache besser gemacht hatte als ich dachte. Von da an wurde ich ein wütender Tänzer, und diese Wut dauerte so lange, bis es unter den jungen Leuten Mode wurde, sich für zu blasiert und unglücklich zu halten, um noch an einer so kindlichen Unterhaltung wie es der Tanz ist, teilnehmen zu können. Als ich meine Tänzerin an ihren Platz zurückführte, erntete ich sogleich die Früchte meines Triumphes. „Wissen Sie auch, dass Sie recht gut tanzen?" sagte die Pariserin zu mir. „Wo haben Sie das gelernt?" ..“Hier." - „Wie, hier in Villers-Cotterets?" In der Vorliebe für meinen Geburtsort tief verletzt, hatte ich große Lust zu antworten: „Ja, halten Sie uns Provinzler denn für Tölpel?" Aber ich begnügte mich, mit etwas schalkhafter Miene zu erwidern: „Allerdings, hier in Villers-Cotterets." Dann fügte ich dem Ton eines der seiner Sache sicher ist, hinzu: „Tanzen Sie zufällig auch W a l z e r ? " Nein, ich werde dabei meist schwindlig. Aber Vittoria lebt und stirbt für den Walzer."
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Ich wandte mich an die Spanierin: „Hätten Sie Lust, es mit mir zu wagen?" Sie sah mich an. „Aber natürlich", fügte sie dann lebhaft hinzu. Der Walzer begann. Wenn ich im ganzen ein leidlicher Tänzer war, so tanzte ich doch Walzer ausgezeichnet! Die Spanierin merkte das gleich bei der ersten Tour, und überließ sich nun mit aller Leidenschaft meiner Führung. „Sie tanzen wunderbar", sagte sie.„Es freut mich um so mehr, dass Sie mir das sagen", erwiderte ich, „da ich bisher nur mit Stühlen getanzt habe." „Wieso, mit Stühlen?" „Ja", fuhr ich fort, „ich lernte in demselben Jahr tanzen, in dem ich zur Kommunion ging. Da verbot mir der Abbe Gregoire mit Frauen zu walzen, und mein Tanzmeister gab mir jedes Mal einen Stuhl statt eine Tänzerin. So lernte ich walzen, ohne eine Sünde zu begehen." Meine Tänzerin blieb sprachlos stehen. Als sie wieder zu sich kam, meinte sie: „Sie sind weiß Gott ein komischer Mensch. Ich habe Sie lieb, walzen wir weiter.“ Und wir stürzten uns neuerdings in den Wirbel, der uns mit fortriss. Es war dies, wie gesagt, das erste Mal, dass ich mit einem Mädchen tanzte, es war das erste Mal, dass ich meine Wangen von einem fremden Hauch umfächelt, mein Antlitz von fremden Locken berührt wurde, es war das erste Mal, dass sich mein Auge auf eine entblößte Schulter senkte, dass mein Arm einen vollen, biegsamen Körper umfing. Es ward mir so sonderbar zumute, dass ich meinem Wonneschauer in einem tiefen Seufzer Luft machen musste. Die Musik schwieg. Wir blieben wie angewurzelt stehen, ich mit offenem Mund und starrem Blick, sie an mich geschmiegt mit wogendem Busen und raschem Atemzug. Eine ungeheure Veränderung war in mir vorgegangen. Der weibliche Atem, der Duft des Haares, die Wärme des Körpers hatten mich in wenigen Minuten zum Mann gemacht. „Werden Sie noch mit mir tanzen ?" fragte ich sie. - „Soviel Sie wollen", antwortete sie. Dann setzte sie sich neben ihre Gefährtin, die sich zu ihr hinneigte. Mit einem Lächeln, das mich erkennen ließ, dass der Vorwurf nur scherzhaft gemeint sei, sagte Laure: „Hüte dich, mir meinen Studenten abwendig zu machen, du weißt, dass mein Onkel ihn mir gegeben hat." - „Gott bewahre", erwiderte die Spanierin lächelnd, und zeigte ihre Zähne in voller Pracht, „du leihst ihn mir nur für den Walzer und ich gebe ihn dir wieder für den Kontertanz zurück." Es lag in alledem ein Hohn, den ich recht gut herausmerkte. Ich sah ein, dass ich in den Händen dieser beiden Mädchen nur ein unbedeutendes Spielzeug, eine Art Federball war, den man zum Vergnügen hin und her wirft und sich nicht darum kümmert, wenn er durch die Heftigkeit des Wurfes Feder um Feder verliert.Da bemächtigte sich meiner ein Gefühl, wenn auch nicht der Scham, so doch der tiefsten Traurigkeit, es war nicht mehr eine leichte Röte,
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die meine Stirn überflog, es war der Stich eines scharfen Pfeiles, der mir das Herz bluten machte. Ich war in der Tat in den zweiten Abschnitt des menschlichen Lebens eingetreten: ich begann zu leiden. Das erste Bedürfnis, das ich nun empfand, war das Verlangen nach Einsamkeit. Die Musik spielte die ersten Akkorde einer Quadrille, jeder eilte zu seiner Tänzerin. Als die beiden Pariserinnen mit zwei anderen Tänzern antraten, verließ ich den Saal. Ich vermag unmöglich zu schildern, was während der Stunde in mir vorging, die ich nun verlebte oder vielmehr verträumte. Die ganze Vergangenheit meiner Kindheit versank hinter mir, wie Dörfer und Städte, Berge und Täler, Seen und Ströme bei einem Erdbeben. Nur die Gegenwart allein stand licht und groß vor mir. Ein unermessliches Chaos - über ihm flüchtiges Gewölk, zu verworren, zu luftig und wesenlos, dass weder mein Geist noch mein Auge es festhalten oder durchdringen konnte. Nur eins war mir klar und fassbar: Ich liebte, liebte seit einer Viertelstunde. Wen? Noch niemand, die Liebe! . . . Erst nach einer Viertelstunde kam ich in den Tanzsaal zurück. „Sie sind recht liebenswürdig", rief mir Vittoria entgegen, „Sie laden mich zum Walzer ein und dann gehen Sie mir auf und davon." - „Es ist wahr", antwortete ich, „aber verzeihen Sie mir, ich hatte es vergessen." „Dann sagen Sie mir wenigstens jetzt, woher Sie kommen." - „Nun, sehen Sie dort die schöne dunkle Allee? Sie heißt die Seufzerallee. Von dort komme ich." „Habe ich dir nicht gesagt, dass er ein liebenswürdiger Junge ist?" flüsterte Vittoria ihrer Freundin Laure zu. Ich konnte nicht begreifen, wieso und warum ich ein liebenswürdiger Junge sein sollte. Statt daher der Spanierin für das Kompliment zu danken, das sie mir in meinem Beisein gemacht hatte, schnitt ich ein ganz abscheuliches Gesicht, Worauf die beiden Mädchen in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Ich wäre am liebsten nach meiner Seufzerallee zurückgekehrt, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Abermals begann ein Tanz."Jetzt aber Schluss mit dem Schmollen, junger Mann", wurde Laure energisch „Ich fordere Sie zum Tanz auf -, machen Sie mit?" - „Ja, Leider." - „Wieso, leider?" - „Jawohl, leider. Ich weiß schon, was ich damit sagen will." Und ich reichte ihr die Hand. So verfloss der Abend und ein Teil der Nacht. Erst gegen ein Uhr brachen wir auf. Niguet, der erste Schreiber meines Notars, begleitete Laure nach Hause. Die letzten Stunden der Nacht waren die unruhigsten und bewegtesten meines Lebens.Mein Flirt mit der schönen und stolzen Nichte des Abbes sollte für mich noch recht peinliche und demütigende Folgen haben, denn durch meine Verliebtheit wurde ich bald zu einer
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Zielscheibe des Spottes und billiger Witze. In dem kleinen Ort hatte es sich natürlich sehr bald herumgesprochen, dass ich der feschen Pariserin nur allzu eifrig und auffällig den Hof machte. Miauds anzügliche Reden im Tanzsaal und Laures stichelnde Bemerkungen über meine, für einen angehenden Kavalier noch etwas kindliche und jungenhafte Kleidung hatten schon hinreichend dafür gesorgt. Mir war der Eindruck nicht entgangen den die modische Eleganz Miauds auf meine Angebetete gemacht hatte. Ich ahnte allmählich, von welcher Bedeutung der Schnitt eines Rockes oder die Farbe der Hose für eine Frau sein könnte. Um daher der schönen Laure um jeden Preis zu gefallen, musste ich mir unbedingt auch einen solchen Anzug anschaffen, wie der junge Mann ihn trug. Der wichtigste und zugleich teuerste Teil dieser Ausstattung waren die aus feinem Korduranleder gearbeiteten Kappenstiefel, die zu der eng anliegenden Hose getragen wurden. Ich ging also in die Werkstatt des Meisters Landerau und bestellte ein solches Paar, das' 20 Franken kosten sollte. Meine gute Mutter erklärte sich bereit den Betrag in Raten abzuzahlen, worauf der Meister Maß nahm und die Stiefel anfertigte. Die Anschaffung der dazu passenden Hose kam wesentlich billiger, denn wir ließen eine himmelblaue Uniformhose meines Vaters umarbeiten. Die goldenen Generalsborden und Streifen trennte meine Mutter ab und verkaufte sie für 8 Franken, die ich als Taschengeld bekam. Als Jackett musste der Rock meines Kommunionanzugs
dienen, nachdem auch er einer modischen
Umarbeitung unterzogen worden war. Ich konnte kaum den Tag erwarten, wo ich mich in, Glanz meiner neuen Aufmachung der neckischen Pariserin endlich als vollendeter Kavalier vorstellen und ihr durch mein sicheres und weltgewandtes Auftreten imponieren wollte. Wir trafen uns gewöhnlich gegen ein Uhr im Park und gingen
dann anschließend spazieren,
die Spanierin Vittoria am Arm eines jungen Kandidaten, während ich Laure begleitete. Schuster und Schneider fanden sich rechtzeitig ein, doch ergab sich bei der Anprobe noch eine kleine Änderung der Hose. Sosehr sich der Schneider auch mit dieser Korrektur der modischen Linie beeilte so konnte ich doch nicht mehr pünktlich zum Treffpunkt kommen. Diese Verspätung wäre an sich nicht schlimm gewesen, denn ich kannte alle Wege und Laubgänge des Parks, und würde daher dir beiden Damen in Kürze dort entdecken und einholen. Als ich gerade im Begriff war, ihnen nachzueilen, kam die Schwester des Abbe Gregoire auf mich zu, und übergab mir einen Brief, den Mademoiselle Laure beim Fortgehen für mich zurückgelassen hatte. Es war der erste Brief, den ich von einer jungen Dame erhielt, und ich war daher nicht wenig stolz auf diese offensichtliche Gunstbezeugung. Ohne Zweifel enthielt der Brief die Aufforderung, ihr möglichst rasch nachzukommen. In meiner Verliebtheit presste ich das duftende Papier zärtlich an meine Lippen, entsiegelte es mit klopfendem Herzen und las mit stockendem Atem:
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Mein lieber Junge! Schon seit vierzehn Tagen mache ich mir Vorwürfe darüber, dass mein Onkel Sie mit der Bitte belästigte, mir als Kavalier zu dienen, und dass ich die Gefälligkeit, die Sie ihm schuldig zu sein glaubten, so lange missbrauchen konnte. So sehr Sie sich auch bemühten, die Langeweile zu unterdrücken die Ihnen diese, über Ihr Alter weithinausgehende Aufgabe bereitete, so merke ich doch nur allzu sehr, dass ich eine völlige Störung und Verwirrung Ihrer bisherigen Gewohnheiten verursacht habe. Ich bedaure das von ganzem Herzen. Kehren Sie daher zu Ihrem Spielkameraden zurück, die schon längst auf Sie warten. Um mich können Sie unbesorgt sein. Ich habe für die kurze Zeit, die ich noch bei meinem Onkel verbleiben werde, Herrn Miaud als Begleiter angenommen Empfangen Sie daher, mein lieber Junge, meinen verbindlichstem Dank für Ihre Gefälligkeit. Laure. Ich war wie vom Blitz getroffen. Beim ersten Durchlesen dieses Briefes fühlte ich nur die Wucht des Schlages, erst beim zweiten und dritten Male den tiefen Schmerz. Da zuckte ein Gedanke mir durchs Gehirn: Da ich bisher noch keine Gelegenheit hatte, der schönen Laure zu beweisen, dass ich kein Kind mehr sei, blieb mir nur noch ein Mittel, um ihr zu zeigen, dass ich ein Mann geworden war, nämlich Miaud zu fordern und mich mit ihm zu schlagen. Ich ging nach Hause und schrieb meinem Nebenbuhler folgende Zeilen: Mein Herr! Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, weshalb ich Sie in der Parkallee in Begleitung zweier Zeugen zu treffen wünsche. Sie wissen das ebenso gut wie ich. Da Sie behaupten könnten, Sie hätten mich nicht beleidigt, und da ich es bin, der Sie fordert, so überlasse ich Ihnen die Wahl der Waffen. Da Sie heute voraussichtlich erst spät nach Hause kommen, Kann ich heute Abend noch nicht Ihre Antwort erwarten, doch hoffe ich, sie morgen früh zu erhalten. Am anderen Morgen brachte mir ein Bote Miauds Karte und eine - Rute. Das war die Waffe, die mein Nebenbuhler gewählt hatte. So endete meine erste Liebe und zugleich auch mein erstes Duell. Ich knirschte vor Wut, verließ die Kanzlei und rannte spornstreichs zu meiner Mutter, die einen Angstschrei ausstieß, als sie mich in einem solchen Zustand nach Hause kommen sah. Ich legte mich sogleich ins Bett, und eine Stunde später kam Dr. Lecone, der ein Gehirnfieber feststellte. Ich zog meine Genesung absichtlich hinaus und verließ das Zimmer erst, als die beiden Pariserinnen Villers-Cotterets verlassen hatten. Ich habe sie nie wiedergesehen... ...
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Wie Franz I. nach der Schlacht von Pavia, hatte ich nach meiner Niederlage auch nicht alles verloren -, besaß ich doch noch meine Stiefel und die lange Hose, die beide die Bewunderung und den Neid meiner Freunde herausforderten. Außerdem hatte ich durch den vierzehntägigen Umgang mit den zwei eleganten Damen jenen ersten Schliff erhalten, den eben nur Frauen zu geben vermögen. Vor allem lernte ich auf mich selbst einige Sorgfalt verwenden, was mir bis dahin überflüssig schien. Ich hatte ziemlich hübsche Hände, wohlgeformte Nägel, starke, aber weiße Zähne, und einen im Verhältnis zu meinem Wuchs kleinen Fuß. Von all diesen Vorzügen hatte ich nichts gewusst. Erst meine beiden Pariserinnen machten mich darauf aufmerksam und erteilten mir zugleich treffliche Ratschläge, wie ich den Wert dieser Naturgaben erhöhen könnte. Diese befolgte ich zuerst, um ihnen zu gefallen, dann blieb ich dabei zu meiner eigenen Befriedigung, so dass ich bei ihrer Abreise die Grenze, die den Knaben vom Jüngling trennt, in der Tat schon überschritten hatte. Dann ging es mir aber wie jedem, der in den Apfel Evas gebissen hat. Ich bekam Lust, einen zweiten Versuch zu wagen, auch wenn dieser noch schmerzhafter ausfallen sollte, als der erste.
Die Mädchen von Villers-Cotterets
Mit uns war eine reizende Generation herangewachsen, die ich bisher nur nicht beachtet hatte. An jungen Mädchen waren übrigens wenig Städte so gesegnet, wie unser Villers-Cotterets. Nie war ein großer Park, selbst der von Versailles, von so reizenden Blumen bevölkert, wie der Park von Villers-Cotterets und der Rasen des „Parterre". Drei streng geschiedene Klassen stritten sich hier um den Kranz der Schönheit: Aristokratie, Bürgertum und jene dritte Klasse, ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll - -, die zwischen Bourgeosie und Volk stand, ohne zu beiden zu gehören und die die Modistinnen und Verkäuferinnen der Stadt umfasste. Diese Gruppe junger Mädchen die in dieser kleinen, vom grünen Gürtel des Forstes umschlossenen Welt denselben Platz einnahmen wie Maiglöckchen, Tausendschön, Kornblumen und Hyazinthen unter den Blumen. Es war ein herrlicher Anblick, wenn sie sonntags daherkamen in ihren weißen Kleidern mit den rosafarbenen oder blauen Gürteln und den kleinen selbstgestickten Häubchen die sie auf tausend kokette Arten aufzusetzen verstanden, denn keine von allen wollte je einen Hut tragen. Es war ein herrlicher Anblick, diese jungen, frischen Geschöpfe zu sehen, frei von jedem Zwang, durch keine Etikette beengt, spielend, springend, die nackten Arme verschlungen und wieder entwirrt -, ach, die lieblichen Wesen -, ach, das reizende, schöne Geschlecht! Zuerst kamen zwei allerliebste, neckische und kokette Mädchen, Josephine und Nanette Thierry. Josephine, brünett mit rosigen Wangen, regelmäßigen Gesichtszügen und graziöser Bewegung; Nanette,
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die immer sang, lachte und hüpfte, um ihre Stimme hören, ihre Zähne sehen und ihre zierlichen Füße, die schmalen Fesseln und die runden Waden, bewundern zu lassen - ganz Virgils Galathea die sie übrigens nicht einmal dem Namen nach kannte - die stets floh, um verfolgt, und sich versteckte, um desto gewisser gesehen zu werden. Was aus ihnen geworden ist? Ich habe sie später wiedergesehen, beide in recht unglücklichen Verhältnissen, in Paris und Versailles, welke, entblätterte Blüten des Rosenkranzes, an dem ich die ersten Gebete der Liebe stammeln gelernt habe. Sie waren Töchter eines alten Schneiders und wohnten zwischen Kirche und Mairie. Ihnen gegenüber wohnte Luise Brezette, die Nichte meines Tanzmeisters, eine kräftige, gesunde Blüte von fünfzehn Sommern, die ich in meinem Roman Die schwarze Tulpe geschildert habe. Ihr Haar glich dem feinsten Stahl, wenn Sonnenstrahlen die dunklen Reflexe aufleuchten ließen. Ach, die schöne jugendliche, frische Brünette mit dem festen Fleisch und der goldbraunen Haut, mit den Perlzähnen zwischen den tiefdunkelroten Lippen, die ein leiser Anhauch feiner ebenholzschwarzer Haare überflog -, wie man da in der Tiefe ihrer üppigen Brust Leben und Liebe glühen und sieden fühlte, wie man diesem ganzen Wesen anmerkte, dass es beim ersten Funken, der es berührt, überströmen würde von Liebeslust und Lebensfreude. Und dabei war sie sehr fromm - es war ihr ein Bedürfnis zu lieben, und so liebte sie Gott. Ein paar Schritte auf den Platz zu, etwas oberhalb der Rue de Soissons, sah man auf der linken Seite ein Schaufenster, das mit der Ladentür die ganze Vorderfront eines Hauses einnahm. Im Fenster hingen Hüte, Halskrausen, Handschuhe, Stickereien und bunte Bänder, kurz, ein ganzes Arsenal weiblicher Koketterie. Hinter Tür und Auslage fielen schwere Vorhänge nieder und verwehrten neugierigen Blicken in das Innere des Ladens zu dringen. Aber mag es nun an der Eisen stange des Vorhangs gelegen haben oder der Luftzug die Ursache gewesen sein - bald auf der rechten, bald auf der linken Seite ließ die Gardine doch immer einen indiskreten Spalt offen, durch den die Vorübergehenden in den Laden schauen konnten. Über Tür und Fenster las man in großen Buchstaben das Firmenschild: Mlles Rigolo, Marchandes de Modes. Wer vor dieser Öffnung stehen blieb und den Blick ins Innere des Ladens versenkte, hatte seine Zeit nicht verloren und brauchte seine Mühe nicht zu bereuen. Das bezog sich aber keineswegs auf die beiden Geschäftsinhaberinnen, denn das waren ältliche Jungfern, über die Vierzig hinaus, die außer Achtung kein anderes Gefühl mehr wachriefen. Nein, diese Bemerkung bezieht sich auf zwei engelhafte Mädchen die schönsten, die man sich denken kann -, eine Blondine und eine Brünette die dort am Arbeitstisch nebeneinander saßen, um ihre Vorzüge gegenseitig noch auffallender zur Schau zu stellen. Das waren die beiden Putzmacherinnen Albine Hardy, die braune, und Adele Dalvin die blonde.
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Albine war 17, sie hatte eine dunkle, matte Gesichtsfarbe und große, rehbraune Augen, über denen sich dichte schwarze Brauen wölbten, die so fest und gleichmäßig waren, als wären sie mit dem Pinsel gemalt worden. Sie glich dem Urbild jener Marie Duplessis, der entzückenden Kurtisane, mit dem Anstand einer Königin, die mein Sohn zur Heldin seiner Kameliendame gemacht hat. Albine war noch mehr als eine Herzogin oder Königin. Sie glich einer Nymphe im Gefolge Dianas. Ihr engelschönes Haupt mit einer Reiherfeder geschmückt, wäre sie inmitten einer Schar lärmender Ruderknechte und einer Meute bellender Hunde das vollendete Ebenbild der Begleiterin der Jagdgöttin gewesen. Im gewöhnlichen Leben fand man sie so schön, dass lange Zeit kein Mann wagte, sich ihr mit Liebesgefühlen zu nahen, da man es für unmöglich hielt, die Liebe eines so herrlichen Weibes zu gewinnen. Albines blonde und rosige Kollegin war Adele Dalvin. Nie sah ich schöneres, golden schimmernderes Haar als das ihre, nie hübschere Augen und ein liebenswürdigeres Lächeln. Mehr klein als groß, mehr mollig als schlank. mehr fröhlich als ernst, glich dieses Mädchen den Engeln Murillos, die zu Füßen der Jungfrau ruhen. Sie war weder eine Schäferin Watteaus, noch ein Bauernmädchen von Greuze, sie hatte vielmehr von beiden das Beste. Man fühlte förmlich, dass es leicht und süß war, sie zu lieben, aber schwer, Gegenliebe bei ihr zu finden. Ihre Eltern waren redliche, ehrenwerte Landleute, von sehr bescheidener Herkunft. Es war geradezu erstaunlich, dass einem solchen Boden eine so frische und duftige Blume entsprießen konnte. Bevor die beiden Pariserinnen nach Villers-Cotterets kamen, hatte ich diesen Rautenkranz des Frühlings kaum beachtet. Erst als sie wieder fort waren, fiel mir die Binde von den Augen, und erst von diesem Augenblick an konnte ich sagen, dass ich nicht nur auf der Welt war, sondern auch Leben hatte. Meinem Alter nach stand ich zwischen den Kindern, die sich mit harmlosen Spielen unterhielten, wie die Nichte des Abbe Gregoire boshaft, aber treffend, bemerkt hatte, und den Burschen, die sich im Übergangsstadium zum Mann befanden. Statt mich zu den einen herabzulassen, wie es mir die schöne Pariserin geraten hatte, zog es mich zu den andern empor, und ich stellte mich auf die Fußspitzen, um meine sechzehn Jahre schneller zu erreichen. Wenn man mich nach meinem Alter fragte, so sagte ich immer, ich wäre bereits siebzehn. Die drei jungen Leute, die mir als Freunde am nächsten standen, waren Fourcade, Saunier und Chollet. Fourcadc, der Pariser Kurslehrer, hatte mir auf dem Ball seine Handschuhe geliehen und mir Gesellschaft geleistet. Er war ein sehr gut erzogener, geistvoller, junger Mann, sein Vater war im diplomatischen Dienst gestanden und viele Jahre Konsul in Saloniki gewesen. Zum Gegenstand seiner Liebe hatte er Josephine Thierry erkoren, der er seine ganze Freizeit widmete. Saunier, mein ehemaliger Mitschüler beim Abbe Gregoire, war jetzt zweiter Schreiber beim Notar Perrot. Sein Vater und Großvater waren Schlosser, und als Junge hielt
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ich mich viel in ihrer Schmiede auf, wo ich Feuerwerk aus Eisenfeilspänen herzustellen lernte und außerdem manchen Schabernack trieb. Saunier hatte zwei Leidenschaften, die seine Zeit ausfüllten. Die eine - wie ich glaube, die stärkere - galt seiner Klarinette, der Gegenstand der zweiten war Nanette Thierry. Chollet, der dritte im Bunde meiner Freunde, stand dem Alter nach zwischen Fourcade und Saunier. Er wohnte bei meinem Vetter Roumy, Deviolaine sollte ihn in Forstwirtschaft unterrichten. Die Familie dieses jungen Mannes kannte ich nicht. Sie muss wohl reich gewesen sein, denn sooft ich Chollet besuchte, sah ich immer eine Menge Fünffrankstücke auf seinem Kamin liegen, unter denen bisweilen auch einige Goldstücke mein an diesen Anblick ziemlich ungewohntes Auge blendeten. Chollet hatte fast gar keine Erziehung genossen, er besaß aber viel natürlichen Verstand und war ein hübscher Jüngling mit herrlichen Augen, blendend weißen Zähnen, aber sein Gesicht war von Blatternarben entstellt und sein Benehmen war ungehobelt und gemein. Bei Luise Brezette versuchte er, die Liebe zum Schöpfer in die Liebe zum Geschöpf umzuwandeln. Als es sich nun darum handelte, auch meinerseits eine Herzenswahl zu treffen, war es, obwohl ich zur Hälfte bei Deviolaine und bei Collard aufgewachsen war, weder der Adel noch das Bürgertum, von dem ich mich in das verlockende Geheimnis der Liebe einweihen lassen wollte. Ich wandte mich vielmehr der Gesellschaftsklasse zu, an der auch die Herzen meiner drei Freunde hängen geblieben waren. Jedes Mädchen hatte ein mehr oder minder festes Verhältnis. Übrigens genossen sie alle einen ziemlich hohen Grad von Freiheit, wahrscheinlich eine Folge des Vertrauens, das die Eltern in sie setzten. Die Ungezwungenheit des Verkehrs unter den jungen Leuten beider Geschlechter erinnerte an englische Sitten, wie man sie in keiner anderen französischen Stadt antraf. Das musste um so mehr auffallen, da die Eltern dieser Mädchen ehrenhafte Leute waren und im Grund ihres Herzens die Überzeugung hegten, dass die Barken, die nach dem Feenland der Liebe steuerten, weiße Segel führten und mit Orangenblüten bekränzt waren. Und, was noch auffallender erscheinen muss, bei der Mehrzahl der zehn bis zwölf Liebespaare unserer Gesellschaft war das auch wirklich der Fall. Ich musste also ruhig abwarten, bis eins dieser Bündnisse gelöst oder zerrissen wurde. Der Zufall arbeitete mir in die Hand. Nach sechs Wochen löste sich plötzlich ein noch ganz junges Verhältnis. Richoux, der Sohn eines Landmanns, wollte seine Nachbarin Adele Dalvin, die kleine Modistin, heiraten. Da aber seine Eltern reicher waren als die des Mädchens, so widersetzten sie sich dieser erst im Entstehen begriffenen Liebschaft, und so wurde die junge Blondine mit einem Male wieder frei. Während der letzten sechs Wochen hatte ich viel dazugelernt, indem ich meine Freunde beobachtete. Außerdem hatte ich es diesmal nicht mit einer anmaßenden und spottsüchtigen Pariserin zu tun, die die Weit kannte, sondern mit einem bescheidenen, naiven Mädchen,
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das noch schüchterner war als ich und das den Anschein von Mut, den ich mir geben musste, für ernst nahm. Sie war so gütig, sich vor mir zu fürchten und mir zu zeigen, dass es Menschen gäbe, die noch weniger Kühnheit besäßen als ich. Diesmal war übrigens ich der aktive Teil, der Angreifer, aber sie verteidigte sich so gut, dass ich einsah, dieser hartnäckige Widerstand könne nur durch eine regelrechte Belagerung gebrochen werden. Nun begann für mich jene Reihe goldener Tage, deren Strahlen das ganze Leben verklären, jener reizende Kampf der Liebe, der stets begehrt und doch nie müde wird, immer zu verweigern, jener schöne, wenn auch flüchtige Morgen des Lebens. In der Tat, es war ein herrliches Leben! ... Morgens, wenn ich erwachte, meine gute Mutter, die mit lächelndem Auge und langanhaltendem Kuss an meinem Hals hing, von neun bis vier Uhr Arbeit, die leicht und bequem war, weil eigentlich nur Hand und Auge abschrieb, während der Geist sich frei mit dem Herzen unterhalten konnte, von vier bis acht Uhr wieder meine Mutter, und um acht Uhr Freude, Liebe, Leben, Hoffnung und Glück! Im Sommer um acht, im Winter um sechs, trafen wir uns mit unseren jungen Freundinnen am verabredeten Platz; sie reichten uns die weiße Stirn oder die rosige Wange und drückten uns die Hand, ohne durch übelangebrachte Koketterie oder berechnete Verstellung ihre Freude über das Wiedersehen zu verbergen. War es Sommer und schönes Wetter, dann hatten wir den Park mit seinem Rasenplatz, seinen schattigen Alleen, seinen lauen Lüften, die durch das Laub der Bäume zitterten, und in mondhellen Nächten die ganze reizende Gegend, die in geisterhaftem Halbdunkel schwamm. Im Winter und bei schlechtem Wetter kamen wir bei Luise Brezette, der Nichte meines Tanzlehrers, zusammen. Mutter und Tante zogen sich dann ins Hinterstübchen zurück und überließen uns die beiden vorderen Zimmer. Beim Schein einer einzigen Lampe, die im Hinter stübchen brannte und bei der Luises Mutter stickte, während die Tante die „Nacheiferung Christi" und den „Vollkommenen Christen" las, schwatzten wir, eng aneinandergeschmiegt, fast immer zu zweit auf einem Stuhl, traulich beisammen und sagten uns, was wir uns tagsüber gesagt hatten, und glaubten doch immer etwas Neues zu sagen. Um zehn Uhr wurde die Unterhaltung beendet. Jeder geleitete sein Mädchen nach Hause. Unter der Tür schenkte sie dann ihren, Herzliebsten manchmal noch ein halbes, mitunter auch ein ganzes Stündchen, das für ihn und sie gleich süß war. Sie setzten sich dann beide auf die Bank neben dem Haustor oder blieben im Gang stehen, der zum Zimmer der Mutter führte, aus dem sich wohl zehnmal der mürrische Mahnruf ver nehmen ließ, der jedoch zehnmal mit demselben „Ich komme gleich, Mama", beantwortet wurde. Am Sonntag trafen wir uns um drei Uhr, gingen spazieren, sprangen, tanzten und kehrten gewöhnlich erst nach Mitternacht heim, Dann gab es auch noch Feste in der Nachbarschaft, die minder vornehm waren als in Villers-Cotterets.
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Bei einer solchen Gelegenheit machte ich die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der zwei Jahre älter war als ich und der auf mein Leben einen großen Einfluss ausüben sollte. Geselligkeit und Freunde Es war in dem reizenden, von Villers-Cotterets nur eine Meile entfernten Dorf Corcy, das mitten im Wald wie ein Vogelnest in dichten Zweigen versteckt lag. Ich hatte meine Gefährten auf dem Tanzboden gelassen und entfernte mich, um einen alten Freund meines Vaters, den Besitzer des kaum eine Viertelmeile vom Dorf entfernten Gutshofes, zu besuchen. An einer Krümmung des Weges sah ich plötzlich drei Personen auf mich zukommen, die ein hervorbrechender Sonnen strahl mit seinem goldenen Licht übergoss. Zwei davon kannte ich bereits, die dritte war mir fremd. Die beiden waren Caroline Collard, die nun eine Baronin Capelle geworden war, und ihre dreijährige Tochter Marie, die später zu ihrem Unheil Frau Lafarge wurde *). Die dritte Person, die mir auf den ersten Blick wie ein deutscher Student vorkam, war ein junger Mann von sechzehn bis siebzehn Jahren. Er trug einen grauen Rock, eine Mütze aus Wachsleinen, eine gemsfarbene Weste und lichtblaue, enganliegende Hosen. Dieser große, magere, brünette junge Mann mit schwarzem, bürstenförmig geschnittenem Haar, wunderschönen Augen, scharfgeschnittener Nase, perlenweißen Zähnen und ungezwungen vornehmem Gang war der Vicomte Adolf Ribbing de Leuven, der nachmalige Verfasser des „Vert-vert" und des „Postillion von Lonjumeau", Sohn des Grafen Adolf Ludwig Ribbing af Leuven, einer der drei schwedischen Edelleute, die der Ermordung des Königs Gustav III. von Schweden beschuldigt wurden **). Ich hatte seit langem niemand von der Familie Collard gesehen; Frau von Capelle, die stets auf meiner Seite war, stellte mir Leuven als meinen künftigen Freund vor und lud mich, um näher mit ihm bekannt zu werden, zu einem Frühstück ein. *) Marie Capelle heiratete 1838 den Hammerwerksbesitzer Lafarge in Correze, der sich mit dem Vermögen seiner Frau sanieren wollte. Auf einer Reise nach Paris erkrankte Lafarge Ende 1839 nach dem Genuss eines Kuchens, den seine Frau gebacken hatte. Als er im Januar 1840 starb, wurde Marie unter dem Verdacht des Gattenmordes verhaftet. Obwohl sie ihre Unschuld beteuerte und ein einwandfreier Nachweis für die Vergiftung ihres Mannes nicht erbracht werden konnte, wurde sie zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Nach fünf Jahren Arbeitshaus durfte sie sich in ein Kloster zurückziehen, bis der Prinzpräsident Louis Napoleon sie 1852 begnadigte. Wenige Monate später starb sie an der Schwindsucht. Marie Laarge hat bis zuletzt ihre Unschuld beteuert, und auch die öffentliche Meinung stand auf ihrer Seite. Der Prozeß Lafarge gehörte zu den berühmtesten Kriminalfällen des 19. Jahrhunderts und hat seinerzeit ungeheures Aufsehen erregt. Im Gefängnis in Montpellier schrieb Marie Lafarge 1841 bis 1842 vier Bände Memoiren, die auch ins Deutsche übersetzt wurden (Leipzig 1841, zwei Bände). Mütterlicherseits war Marie Lafarge eine Urenkelin der Mme. Genlis und des Herzogs Philipp von Orleans (Philippe Egalite), des Vaters des Königs Louis-Philippe (1830-1848).**) Adolf Graf Ribbing de Leuven (1800-1884), Sohn des Grafen Ribbing, der seit 1792 aus Schweden verbannt war, zeichnete als Verfasser und Mitarbeiter an 150 dramatischen Werken, von denen ihn nur das Textbuch zu Adolphe Adams Oper überlebt hat, das er mit Louis Levy Brunswick (1805--1859) schrieb.
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Das Fest in Corcy verging, wie alljährlich, unter Tanz und Sang. Ich erinnere mich noch immer mit Wonne an die Heimkehr von diesen Festen, wenn wir, von dem majestätischen Schweigen der Nacht umfangen, durch die dichten, zitternden Laubgänge wanderten, wie die Schatten des alten Elysium in stummer Seligkeit durch die dunklen Pfade schritten. Auch die Schatten, die durch dieses irdische Elysium wandelten, flüsterten so leise, dass man sie für stumm halten konnte ... Ich musste nach Villers-Cotterets zurück, um Adele nach Hause zu bringen, der ich in diplomatischer Weise begreiflich zu machen suchte, dass ich der Einladung Folge leisten und die Verbindung mit der Familie Collard aufrechterhalten müsse. Sie war ein so treffliches Mädchen und hatte einen so klugen Verstand, dass sie das wohl einsah, und obwohl sie mich nur mit schwerem Herzen unter so viele junge und schöne aristokratische Damen gehen ließ, erhielt ich endlich einen dreitägigen Urlaub. Am anderen Morgen brach ich um neun Uhr auf, um pünktlich am verabredeten Ort im Walde eintreffen zu können. Nach einem Marsch von einer Dreiviertelstunde war ich am Dorfteich, an dessen Rand ich Adolf de Leuven antraf, der einen Bleistift in der Hand hielt und damit in der Luft herumfuchtelte, als ob er übergeschnappt sei. Als er mich bemerkte, errötete er leicht. „Was, zum Teufel, machen Sie denn da?" fragte ich. - „Ich dichte." - „Sie dichten, Sie machen Verse? Und worauf denn?" - „An Louise Collard. Sie soll einen Russen heiraten, und das will ich verhindern. Nun habe ich einen Vierzeiler gedichtet, den ich ihr unbemerkt ins Album schreiben will. Wenn sie ihn liest, wird sie sich die Heirat überlegen." Er las mir sein Gedicht vor, ich fand es ausgezeichnet. „Sie wohnen für längere Zeit in Villers-Hellon?" „Solange es den Bourbonen gefällt, uns in Ruhe zu lassen." - „So, Sie haben also Streit mit den Bourbonen?" - „So ziemlich mit allen Königen." Diese Worte, majestätisch hingeworfen, blendeten mich und nahmen mich vollends für den jungen Mann ein. In diesem Augenblick erschien ein ganzer Schwarm reizender junger Mädchen, die alle zu dem Frühstück im Walde eingeladen waren. Die Damen wurden auf Wagen gesetzt, während die Herren sich zu Fuß zum Ort des Rendezvous begaben. Unter einem Gewölbe von Blüten war eine lange Tafel zu dreißig Gedecken hergerichtet, ungefähr zehn Schritte von einem sprudelnden Quell entfernt. Alle diese jungen Mädchen, jungen Mütter und Kinder erschienen in dieser Umgebung wie Blumen des Waldes, die ihre Blüten in die würzige Luft empor strecken. Was ist aus ihnen allen geworden? Sie sind dahingeschwunden, wie meine Jugend! Abends fuhren wir alle nach Villers-Hellon. In diesem reizenden Schlösschen war alles so praktisch eingerichtet, dass jeder Gast sein eigenes Zimmer erhalten konnte, aber auch Kobolde wohnten darin,
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die sich ihre Opfer aussuchten. Der Hexenmeister war der Arzt des Hauses, Manceau, und seine Gehilfen waren Luise, Cäcilie und Augustine. Die vorher bezeichneten Opfer waren Hippolyte Leroy, Leuven und ich. Hippolyte Leroy war damals fünfundzwanzig Jahre alt. Er war der Vetter des Herrn Leroy de Corcy und heiratete später meine Kusine Augustine Deviolaine. Unsere drei Zimmer gingen ineinander. Nach Mitternacht suchten wir unsere Lagerstätten auf. Leuven legte sich zuerst nieder. Kaum lag er einige Sekunden im Bett, als er über heftiges Jucken am ganzen Körper klagte. Wir sahen nach und fanden, dass das ganze Bett mit einer Substanz bestreut war, die die Marktschreier unter dem Namen Juckpulver verkaufen. Nach Verlauf von fünf Minuten kratzte sich der Ärmste so sehr, dass wir inniges Mitleid mit seiner Lage empfanden. Wir gaben ihm den Rat, sich in den Bettvorhang einzuhüllen und auf dem Kanapee zu schlafen. Dann legten wir uns auch nieder. Nach fünf Minuten stieß Hippolyte Leroy laute Schreie aus. Als er sich ausgestreckt hatte, fühlte er an seinen Füßen das Ende eines Bindfadens. Er zog daran und öffnete dadurch einen Sack, der mit Fröschen vollgestopft war, die, der Freiheit wiedergegeben, sich über das ganze Bett und den Leib des Darin liegenden verbreiteten und ihm heisere Schreie entlockten. Hippolyte warf die Bettdecke in die Luft und sprang Aus dem Bett; die Frösche ihm nach. Man hatte ihm gut zugemessen, es waren wenigstens zwei Dutzend. Ich glaubte schon, dass man mich verschont habe, als ich plötzlich in einem Schrank, gegen den das Kopfende meines Bettes stand, ein verdächtiges Geräusch vernahm. Ich wollte ihn aufschließen, es war aber kein Schlüssel daran. Es war zweifellos, dass irgendein Tier darin eingeschlossen war, aber welches? Ich brauchte mir nicht lange den Kopf zu zerbrechen: Schlag ein Uhr krähte am Kopfende meines Bettes ein Hahn und erneuerte sein Krähen jede Stunde, die uns noch vom neuen Tag trennte! Ich verleugnete zwar nicht den Heiland wie Petrus, ich muss aber gestehen, dass ich ein wenig fluchte. Um sieben Uhr waren wir endlich trotz Juckpulver, Fröschen und Hahn eingeschlafen, als Manceau uns weckte und uns mitteilte, er habe auf Umwegen erfahren, dass wir alle drei eine schlechte Nacht gehabt hätten, und er stelle deshalb seine ärztliche Kunst zu unserer Verfügung. Damit hatte er sich selbst verraten. Wir hatten in dieser Unglücksnacht so gelitten, dass wir durch einen schrecklichen Fluch unseren Verfolger, wer es auch sein mochte, zu den Göttern des Hades verwünscht hatten, und dieser Fluch sollte in Erfüllung gehen. Auf ein Zeichen schloss Leuven die Tür ab, ich warf mich auf Manceau und Hippolyte knebelte ihn. Dann zogen wir ihn splitternackt aus, wickelten ihn in Adolfs Bettlaken, banden ihn wie eine Wurst, schleppten ihn die Hintertreppe hinunter und legten ihn am
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entlegensten Ort des Parkes mitten in einen kleinen Bach nieder, wo er zwar noch Grund hatte, aber Gefahr lief, ihn zu verlieren, wenn er eine Bewegung machte. Dann legten wir uns ruhig wieder nieder und setzten den unterbrochenen Schlaf fort. Um zehn Uhr gingen wir zum Frühstück hinunter. Wir wurden mit großer Ungeduld erwartet. Alle sahen sich kichernd an. Die Mädchen hatten die Rollen unter sich verteilt: die einen taten so, als ob sie sich kratzten, die anderen quakten leise wie Frösche, andere wieder krähten. Wir blieben allem gegenüber unempfindlich, fragten aber unaufhörlich nach dem Doktor. Niemand hatte ihn gesehen. Darauf gingen wir zu Tisch. Das Huhn sei hart, meinte Cäcilie, vielleicht sei es der alte Hahn, der die ganze Nacht gekräht habe. Augustine fragte, wo die Frösche geblieben seien, die sie tags zuvor in der Küche gesehen habe? Ob sie sich verlaufen hätten? Luise fragte Adolf, ob er nicht eine ansteckende Krankheit habe, seitdem er ihr den Arm geboten habe, um sie in den Speisesaal zu geleiten, leide sie an schrecklichem Hautjucken. „Wenn Manceau da wäre", warf ich ein, „dann könntest du ihn um ein Rezept bitten, um es zu vertreiben." „Ja, wo ist denn eigentlich Manceau?" fragte Madame Collard. Kein Mensch wusste etwas von ihm. Man wurde unruhig und fing an, sich um den lieben Doktor Sorgen zu machen. Auch der Hausmeister hatte ihn nicht gesehen. „Vielleicht ist er ertrunken", äußerte ich, „gestern Abend hat er uns ein Bad vorgeschlagen, wir haben aber alle drei so fest geschlafen, dass wir das Rendezvous heute morgen auf seinem Zimmer versäumt haben. Nun ist er wahrscheinlich allein hingegangen und ertrunken, der arme Kerl." Daraufhin verfielen die Damen in ein allgemeines Jammern, demgegenüber das Heulen und Wehklagen der Juden, als sie in die Verbannung geschickt wurden, ein Nichts war. „Mein Gott, der Unglückliche!" sagte Madame Capelle, „er kann ja nicht schwimmen!" Nun ging es ans Suchen, der ganze Schwarm junger Mädchen zerstreute sich im Garten, wir blieben zurück, und die älteren Herren lasen im Salon die Zeitungen. Hippolyte spielte Billard. Adolf und ich stiegen die Treppe hinauf und gingen ins jungfräuliche Zimmer Luisens, wo ersterer schnell sein Gedicht in ihr Album schreiben konnte. Kaum war er damit fertig, als wir großes Geschrei hörten. Wir blickten durchs Fenster und sahen Luise und Augustine im Sturmschritt herbeieilen, während die mutigere Cäcilie stehen geblieben war und mit mehr Neugier als Schrecken nach dem Bach hinüberschaute. Wir eilten schnell hinunter.
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„Ein Gespenst, ein Gespenst liegt im Bach!" schrieen die Mädchen. „Oh! Mein Gott!" meinte Adolf, „sollte das schon die Seele Manceaus sein, der sich da oben langweilt?" Es war nicht seine Seele, aber sein Leib. Es war ihm endlich nach heißer Mühe gelungen, einen Arm frei zu bekommen, dann band er den andern los, nahm den Knebel aus dem Mund und fing an zu schreien. Die Mädchen hatten ihn gehört, waren aber bei dem Anblick dieser in ein weißes Tuch gehüllten Gestalt, die verzweifelte Gebärden machte, entsetzt davongelaufen, sie für ein Gespenst haltend, da sie doch nicht annehmen konnten, unter diesem sonderbaren Kostüm konnte der Doktor stecken. Man schickte ihm den Gärtner zu Hilfe. Manceau klapperte vor Frost, denn wenn wir auch im Monat Juli waren, so hatte ihn doch dieses etwas verlängerte Bad - er lag von sieben Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags im Wasser - doch etwas zu sehr abgekühlt. Man wärmte ihm sein Bett und steckte ihn hinein. Von da ab war er der Gegenstand des allgemeinen Mitleids, während man uns den größten Abscheu bezeugte. Denn Manceau - möge es ihm der Herr verzeihen - hatte die Feigheit gehabt, uns zu denunzieren. Adolf berief sich erfolglos auf seine roten Hände und bot vergebens an, den Rest seines Körpers zu zeigen, der noch schlimmer aussah. Vergebens sammelte Hippolyte die noch in seinem Zimmer herumhüpfenden Frösche, vergebens holte ich den alten Hahn herbei, der die ganze Nacht gekräht hatte; nichts konnte unsere Richter rühren, und wir wurden wegen Totschlagsversuches an Doktor Manceau feierlichst aus der Gesellschaft ausgestoßen. Wir gaben uns das Wort, den Doktor das nächste Mal wirklich zu ersäufen. Da man am nächsten Tage fortfuhr, mit uns zu schmollen, verließen wir, Hippolyte und ich, Villers-Hellon, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen, und kehrten nach Villers-Cotterets zurück. Sonderbar! Ich habe nie wieder den Fuß dorthin gesetzt, dieses schmollen junger Mädchen hat dreißig Jahre gedauert! Einmal noch sah ich Luise wieder, die Frau Garat geworden war, gelegentlich eines Diners in der Bank. Einmal auch Marie Capelle, einen Monat, bevor sie Frau Lafarge wurde. Madame Collard und die Baronin Capelle habe ich nie wieder getroffen. Beide sind tot. Aber wenn ich die Augen schließe, so sehe ich sie alle deutlich vor mir, trotzdem dreißig Jahre dazwischenliegen. Was aus Manceau geworden ist, kann ich nicht sagen, ich glaube aber, dass auch er schon gestorben ist; glücklicherweise jedoch nicht infolge des unfreiwilligen Bades, das wir ihm verordnet hatten! Nach dem ungerechten Urteil, das man über uns in Villers-Hellon gefällt hatte, war ich froh, wieder in Villers-Cotterets zu sein und den aristokratischen Kreisen, die uns so schnöde behandelt hatten, den Rücken zu kehren. Hier fühlte ich mich wohler in meiner Umwelt, wo Wünsche meines Herzens erfüllen und Befriedigung meines Stolzes finden konnte.
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Adele hatte mich zuerst ziemlich schlecht empfangen; das dauerte aber nicht lange, und nach kurzer Zeit hatte sie wieder das alte liebe Lächeln für mich. Während sich diese erste oder vielmehr zweite Liebe entwickelte, die leider auch keine längere Dauer hatte als jede andere Liebschaft, die man im Alter von sechszehn Jahren anknüpft, schlug zugleich der immergrüne Baum der Freundschaft, der das ganze Leben hindurch blühen sollte, tiefe Wurzeln in meinem Herzen. Ich sprach bereits von Adolf von Leuven, der nicht nur ein Gefährte meiner Jugend, sondern auch in meinem ganzen Leben eine wichtige Rolle zu spielen berufen war. Ich muss hier gleich noch einen Freund erwähnen, der - indem er mir neue Gesichtskreise eröffnete - das Werk vollenden sollte, das der Sohn des Grafen von Ribbing begonnen hatte. Eines Tages sah man auf den Straßen von Villers-Cotterets einen jungen Mann von sechsundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahren, der die Uniform eines Husarenoffiziers mit ganz ungewöhnlicher Eleganz trug. Es war kaum möglich, ein hübscheres und dabei vornehmeres Aussehen zu haben als dieser junge Mann. Sein Gesicht wäre vielleicht allzu zart und mädchenhaft gewesen, hätte nicht die Narbe eines furchtbaren Säbelhiebes, der von der linken Seite der Stirn bis zum rechten Winkel der Oberlippe ging, diesem sanften Antlitz den Stempel männlichen Mutes aufgedrückt. Der junge Mann hieß Amedee de la Ponce. Welcher Zufall, welche Laune oder Notwendigkeit ihn nach Villers-Cotterets führte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich kam er als Tourist, der eben nichts weiter zu tun hat, als -eine 5000 oder 6000 Franken Rente zu verzehren. Die Gegend gefiel ihm, er ließ sich dort nieder und war nach Verlauf eines Jahres der Gatte eines jungen reizenden Mädchens, einer Freundin meiner Schwester, namens Luise Moreau. De la Ponce sprach Deutsch und Italienisch als Muttersprache. Er bot mir an, mich in Mußestunden - und Gott allein weiß, welchen Überfluss an Mußestunden ich damals hatte - in Deutsch und Italienisch zu unterrichten. Wir fingen mit Italienisch an. Nach zwei Monaten sprach ich ziemlich korrekt italienisch und begann bereits Gedichte zu übersetzen. Das alles gefiel mir weitaus besser als meine Kauf- und Verkaufskontrakte, Eheverträge und Schuldbriefe beim Notar Mennesson. So kam es denn auch, dass die Veränderung für mein literarische Erziehung so günstig war, einen in dem selben Maße ungünstigen Einfluss auf meine „notarielle" Erziehung übte. Niguet erwarb in einer benachbarten Kleinstadt eine Notariatskanzlei, musste sie aber an Lafarge abtreten, weil er keine reiche Frau fand, die ihm das Geld dazu gegeben hätte. An Niguets Stelle kam Paillet, einer meiner Freunde, als Praktikant zu Mennesson. Paillet war reich. Er besaß ein hübsches Landgut in der Nähe von Villers-Cotterets und hatte Sinn für Vergnügen und Wohlleben. Er verzieh mir daher weit eher als Niguet, dieser verknöcherte
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Federfuchser, der ganz Geschäft war, die einzigen Vergnügen, die ich mir gönnen konnte: Jagd, Tanz und Liebe. Statt mich daher auf dem engen, steinigen Pfad eines Provinznotariats forttrotten zu lassen, lenkte er meinen Blick auf weitere Bahnen. Er mochte wohl erkennen, dass ich für die, die man mich einschlagen ließ, nicht geschaffen sei. So war ich denn glücklich durch die Liebe meiner Mutter und durch eine zweite jüngere Liebe, die neben jener keimte, ohne ihr jedoch Eintrag zu tun, durch die Freundschaft mit de la Ponce, Paillet und Leuven, und es fehlte mir noch die „Aurea mediocritas" des Horaz, um sagen zu können, es bleibe mir nichts mehr zu wünschen übrig. Eines Tages verbreitete sich plötzlich das Gerücht, Herr Deviolaine werde sich mit seiner Familie auf sein Gut Saint-Remy zurückziehen und sein Haus in Villers-Cotterets dem Grafen von Ribbing überlassen. So geschah es auch, und das Haus, in dem ich aufgewachsen bin und das für mich eine ganze Welt von Erinnerungen barg, ging aus dem Besitz eines Verwandten in den eines Freundes über. Was Herrn von Leuven ganz besonders angelockt hatte, das war der schöne Garten, in dem er seine Arbeiten, die durch den aufeinanderfolgenden Ankauf von Brunnoy und Quincy unterbrochen wurden, wiederaufnehmen konnte. Übrigens war Graf Ribbing durch keinerlei Verfolgung belästigt worden. Sei es nun, dass Ludwig XVIII. von dem Aufenthalt des Grafen in Frankreich keine Kunde hatte oder dass er absichtlich ein Auge zudrückte, genug an dem, niemand wagte es, den Grafen in irgendeiner Weise zu behelligen. Leuven und sein Vater ließen sich also in Villers-Cotterets nieder, und binnen vierzehn Tagen kam auch Frau von Leuven nach. De la Ponce mietete das Haus am Ende der Rue de Largny, mit großem Garten und geräumigem Hof. Ich teilte mir nun meine Zeit in drei Abschnitte. Der eine war der Freundschaft, der andere der Liebe, der dritte der Arbeit und dem Notariat gewidmet. Aber da ist ja die Mutter ganz vergessen worden, wird man mir sagen. Kann denn eine Mutter jemals vergessen werden? Ist sie, ob nah, ob fern, nicht immer im Geist um uns? . . . Kam ich tagsüber nicht zehn- bis zwanzigmal nach Hause? Und küsste ich meine Mutter dann nicht jedes Mal? De la Ponce, Leuven und ich kamen alle Tage zusammen, und zwar in der Regel bei de la Ponce. Wir hatten uns den Hof als Schießplatz eingerichtet und schossen täglich zwanzig bis dreißig Kugeln nach der Scheibe. Leuven hatte ausgezeichnete deutsche Pistolen, echte Kuchenreiter. Mit ihnen schossen wir so sicher und genau, dass man kaum entscheiden konnte, wer der beste Schütze war.
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Zwischendurch las uns Leuven eine Fabel oder ein Gedicht aus seiner Feder vor. Eines Morgens verbreitete sich in der Stadt eine wichtige Neuigkeit. Zu Leuven waren drei Freunde auf Besuch gekommen.Herr Arnault *) und seine beiden Söhne Telleville und Louis. Arnault, der Verfasser des „Germanicus" und des „Marius zu Mintunnä", war damals ein liebenswürdiger Greis von sechzig Jahren, aber noch voll Saft und Mark unter den weißen Locken seines seidenweichen Haares. Er besaß lebhaften Geist, war stets schlagfertig und gleich einem gewandten Fechter jederzeit zum Gegenstoß bereit.Telleville Arnault war ein junger Offizier von hübschem Äußeren, lebhaftem Geist und erprobtem Mut. Louis war noch halb Kind und mit uns gleichaltrig. Als Arnault Villers-Cotterets verließ, nahm er Adolf von Leuven mit. Ich blieb nun mit de la Ponce allein zurück und warf mich mit doppeltem Eifer auf meine italienischen Sprachstudien. Bald fühlte ich mich in der Sprache Ariosts und Dantes stark genug, um nun zu der Schillers und Goethes überzugehen. Aber das war freilich etwas ganz anderes. Nach drei oder vier Monaten gab mir de la Ponce einen Roman von August Lafontaine zu lesen. Ich erkannte, dass dieses Ver langen meine Kräfte überstieg und sah alle meine Mühe schmählich scheitern. Ich ließ das Deutsche fahren, ohne dass ich je den Mut gehabt hätte, mich wieder daran zu machen ... In diese Zeit fällt auch der erste ernstere dramatische Eindruck, den ich im Leben empfangen habe. Jemand, ich weiß nicht, was für ein Nabob es war, ließ von Herrn Mennesson einen Notariatsakt aufnehmen und war so großmütig, ihm 150 Franken für das Kanzleipersonal zu übergeben. Paillet erhielt 75 Franken, Romsin und ich jeder 37 Franken und 50 Centimes. Ich sah mich zum erstenmal im Besitz einer großen Summe. Ich fragte mich nun, was ich damit beginnen solle. Das Herannahen eines der vier hohen Festtage des Jahres stellte uns zwei freie Tage
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Sonntag und Montag- in Aussicht .Paillet schlug vor, wir sollten jeder unsere 37 Franken und 50 Centimes zusammenlegen, das gäbe dann 75 Franken, das heißt so viel, wie er allein besaß, und für diese unermessliche Summe sollten wir uns in Soissons während der Feiertage alle Vergnügungen leisten, die uns diese Stadt als Sitz einer Unterpräfektur bieten konnte. Dieser Vorschlag wurde mit Freuden angenommen, Paillet zum Kassierer ernannt und sogleich Plätze in Pariser Diligence bestellt, die morgens um halb vier Uhr durch Villers-Cotterets kam und um sechs Uhr in Soissons eintraf. Unter den Vergnügungen, die wir uns von der zweiten Hauptstadt des Aisnedepartements versprachen, stand das Theater obenan. Eine Truppe von Schülern des Konservatoriums, die die Provinz bereiste, gab an diesem Abend als außerordentliche Vorstellung den „Hamlet" von Ducis. *) Antoine Vincent Arnault (1766-1834) war der Dramatiker des ersten Kaiserreichs. Seine Tragödien, meist der Römerzeit entnommen, sind nach streng klassischem Muster gehalten. „Marius in Minturnä" (1791) begründete seinen Dichterruhm und rettete ihn vor der Guillotine. Napoleon setzte ihm für seine „Vie militaire et politique de Napoleon" ein Legat von 100000 Franken aus. Sein ältester Sohn Lucien (nicht Louis, wie Dumas schreibt) Emile (1787-1863) war ebenfalls Dramendichter. „Regulus" (1822), „Gustave Adolphe" (1830), „Le dernier jour de Tibere" (1828) sind seine bedeutendsten Werke.
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Ich hatte keine Ahnung, wer und was Hamlet ist. Ebenso wenig kannte ich den Namen Ducis. Man konnte nicht leicht unwissender sein, als ich damals war. Meine gute Mutter hatte mir wohl die Trauerspiele Racines und Corneilles zu lesen gegeben, aber - ich muss es zu meiner Schande gestehen - sie hatten mich damals entsetzlich gelangweilt. Ich hatte noch keinen Begriff von Stil, Form und Gehalt eines Kunstwerkes. Ich war ein Naturbursche in der vollsten Bedeutung des Wortes. Was mich unterhielt, das war in meinen Augen gut, was mich langweilte, war schlecht. Ich las also beinahe mit Schrecken auf dem Theaterzettel das Wort: Tragödie. Es sind jetzt ungefähr zweiunddreißig Jahre, seit ich jenes Trauerspiel gesehen habe. Aber dieser Abend machte einen so tiefen Eindruck auf mich, dass ich mich seiner noch mit allen Einzelheiten erinnere. Cudot, der den Hamlet spielte, war ein blasser, brünetter junger Mann mit schönen Augen und einer gewaltigen Stimme. Er hatte dem großen Talma so vieles abgelauscht, dass ich, als ich Talma später in dieser Rolle sah, öfter glauben mochte, er kopiere Cudot. Ich wusste nicht einmal, dass es jemals einen Dichter namens Shakespeare gegeben hatte, und als ich bei meiner Rückkehr in Gegenwart meiner Schwester, die Englisch konnte, den Namen des Dichters von „Macbeth" und „Romeo und Julia" so aussprach, wie er geschrieben wird, brach sie in schallendes Gelächter aus und hatte Stoff für ihren Spott, an dem sie es mir gegenüber niemals fehlen ließ. Nach unserer Rückkehr hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als die paar Franken, die vom Ausflug nach Soissons übriggeblieben waren, Fourcade nach Paris zu schicken und ihn zu bitten, mir sofort den „Hamlet" zu besorgen. Nach drei Tagen wusste ich die Rolle des Hamlet auswendig und - was noch schlimmer ist - ich besitze ein so gutes Gedächtnis, dass ich sie bis zur Stunde noch nicht vergessen habe. So war denn „Hamlet" das erste dramatische Werk, das auf mich einen tiefen Eindruck machte, voll von unerklärlichen Sensationen, Wünschen ohne Ziel und mysteriösem Glanz, in dessen Schimmer ich damals nur noch das Chaos sah.
Erste Liebe
Übrigens reifte ich mit jedem Tag mehr zum Mann heran, Nur meine Mutter behandelte mich immer noch als Kind. Wie war sie daher erstaunt, als ich eines Abends zur gewohnten Stunde nicht daheim war, sondern erst gegen drei Uhr morgens frohgemut und klopfenden Herzens in mein Schlafzimmer schlich, das seit drei Monaten, in Voraussicht dieses Ereignisses, von dem meiner Mutter getrennt war. Ich fand meine Mutter in Tränen schwimmend am Fenster sitzen und meiner harren, zugleich aber in voller Bereitschaft, mir meine Strafpredigt zu halten, die eine so späte oder vielmehr so frühe Heimkehr mit Fug und Recht verdiente.
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Nach einem Jahr voll Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Liebe und kleinen Gunstbezeigungen, die teils gewährt, teils verweigert und dann gewaltsam geraubt wurden, pflegte sich die unerbittliche Tür, die mich sonst nach elf Uhr ausstieß, ganz sachte wieder zu öffnen und dahinter harrten meiner zwei zuckende Lippen, zwei weich umfangende Arme, ein Herz, das gegen das meine schlug, tiefe Wonneseufzer und heiße Freudenzähren. Adele hatte es, gleich mir, bei ihrer Mutter durchgesetzt, dass sie ein eigenes Zimmer erhielt. Es war noch besser als ein Zimmer, es war ein kleiner Pavillon, den nur eine Hecke von der Straße trennte. Die Tür dieses Pavillons hatte sich heute nacht nach elf Uhr vor mir geöffnet und erst um drei Uhr morgens sich wieder hinter mir geschlossen, während meine Mutter in Tränen gebadet, beinahe schon bereit war, mich in den 600 Häusern der Stadt zu suchen. Was aber meine Mutter noch mehr quälte, das war, dass sie nicht wusste, wer an meiner so langen Abwesenheit schuld war. Sie hatte mich aus einer anderen Richtung kommen sehen, als sie vermutet hatte. Das Mädchen, das sich mir nach einem Kampf von mehr als einem Jahr hingegeben hatte, war ein so reiner, keuscher und ehrbarer Engel, dass - so sehr mich auch Liebe und Stolz dazu drängten, mein Glück aller Welt bekannt zugeben - Gewissen, Ehre und Zartgefühl mir strengstes Stillschweigen zur Pflicht machten. Um daher zu solcher Stunde weder in der Nähe des Hauses noch in der dahinführenden Straße gesehen zu werden, hatte ich durch ein Seitengässchen den Weg nach den Feldern eingeschlagen. Vom Park aus erreichte ich die sogenannte Reitschule und von da gelangte ich durch den Schlosshof nach der Stadt zurück. Da nun meine Mutter nach der Seite hinschaute, konnte sie mich natürlich nicht sehen, und da sie keine Ahnung von jener List hatte, deren ich mich bediente, um ebenfalls die geschwätzigen Lästerzungen der Kleinstädter irrezuführen, zerbrach sie sich den Kopf darüber wo ich eigentlich hergekommen war. Meine Mutter schalt mich tüchtig aus. Ihr Zorn war nur von kurzer Dauer, dann fiel ich, während sie mich zankte, ihr um den Hals und küsste sie. Ihr Gefühl als Mutter und Frau erkannte, dass ich maßlos glücklich war. Meine Mutter legte sich zu Bett, nicht, weil sie müde war, sondern weil sie ahnte, dass ich das Bedürfnis fühlte, allein sein, allein - mit meinen noch so jungen, frischen Erinnerungen. Ach, wie gleichgültig war mir am nächsten Tag Meister Mennesson samt seiner Kanzlei! Wie schön erschien mir der Park. Liebe! Erste Liebe! Zaubertrank der Jugend . . . Mittlerweile war Leuven nach fast halbjähriger Abwesenheit nach Villers-Cotterets zurückgekehrt, und damit öffnete sich meinem Wünschen und Sehnen wieder ein neues Feld. In Paris war mit Adolf eine bedeutende Veränderung vorgegangen, die auch auf mich nicht ohne Nachwirkung bleiben konnte.
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Bei Arnault, dessen Gast er war, hatte Adolf Gelegenheit, eine Welt in der Nähe zu betrachten, die er schon früher von der Ferne bei Talma gesehen hatte: die der Bühne und Literatur. Meine Neugierde sprang stets von einem Künstler auf den andern über, und nachdem die Berühmtheiten des Gymnasetheaters erschöpft waren, erkundigte ich mich nach Talma, nach der Mars und Duchesnois, und das Fragen hatte kein Ende. Dann sprach er mit mir über Talent und Leistung dieser großen Künstler und berührte bis dahin schlummernde Saiten in meiner Brust, dass sie zitternd erklangen und unbekannte Töne von Ruhmessehnsucht und Ehrgeiz erschallen ließen, die staunend durch mein bis dahin so stilles Gemüt rauschten. Da kam dem armen Adolf ein sonderbarer Einfall - er wollte mich an den Hoffnungen teilnehmen lassen, die er für sich hegte. Acht Tage vor seiner Rückkehr - als ich noch nicht über den beschränkten Horizont des Provinzlebens hinauszublicken vermochte, da der erste Strahl des Himmels, der mir Licht bringen sollte, noch nicht erschienen war -, kannte ich noch kein anderes Ziel meines Ehrgeizes, als eine Einnehmerstelle in der Provinz mit 1500 bis 1800 Franken Jahresgehalt; denn dass aus mir jemals ein Notar werden sollte, daran wagte ich gar nicht zu denken. Es fehlte mir jede Begabung dazu. Seit drei Jahren schrieb ich nun schon Kaufkontrakte, Schuldscheine und Eheverträge ab, und doch hatte ich es in der Rechtswissenschaft nicht um ein Haar weiter gebracht, als nach drei Jahren Musikunterricht bei Vater Heraux. Daraus ging klar hervor, dass das Notariat ebenso wenig mein Beruf war wie die Musik, und dass ich mit dem Gesetzbuch ebenso ungeschickt umgehen würde, wie mit der Violine. Meine Mutter war darüber trostlos, zumal ihre guten Freundinnen ihr fortwährend die Hölle heiß machten. „Hören Sie, meine Liebe", pflegten sie zu ihr zu sagen, „Ihr Sohn ist ein großer Faulenzer, aus dem wird sein Lebtag nichts Rechtes." Meine Mutter seufzte, küsste mich und fragte besorgt: „Mein armer Junge, ist das denn wahr?" Ich antwortete ganz naiv: „Ei, Mutter, das weiß ich selbst nicht.“ Was konnte ich auch sonst antworten! Ich sah nicht über die letzten Häuser meines Geburtsstädtchens hinaus und wenn ich hier auch manches fand, was mein Herz befriedigte, so suchte ich doch vergebens nach einem Gegenstand, der meinen Geist und meine Einbildungskraft befriedigen konnte. Leuven schoss eine Bresche in die Mauer, die mich von der Welt absperrte, und durch sie erblickte ich in nebelgrauer Ferne ein damals noch unbestimmtes, formloses Ziel. Mittlerweile wirkte de la Ponce von anderer Seite auf mich ein. Ich übersetzte mit ihm den italienischen Roman „Die letzten Tage des Ugo Foscolo", den italienischen Werther. Außerdem hatte de la Ponce, um mich bereuen zu lassen, dass ich das Studium der deutschen Sprache aufgegeben hatte, Bürgers schöne Ballade „Lenore" für mich übersetzt.
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Diese Ballade, die einer mir ganz fremden Literatur angehörte, machte auf mich einen tiefen Eindruck. Sie kam mir vor wie eine jener Landschaften, die man im Traum sieht und nicht zu betreten wagt, weil sie von dem Alltäglichen und Gewohnten so sehr verschieden sind. Der schauerliche Refrain, den der gespenstige Reiter seiner Braut zuruft, die er auf seinem Geisterross entführt, dieses: „Hurra, die Toten reiten schnell", stach von den Sonetten Demoustiers, den Liebesliedern Parnys und den Elegien des Chevalier Bertin so sehr ab, dass sich in mir eine förmliche Revolution vollzog, als ich die düstere deutsche Ballade gelesen hatte. Noch am nämlichen Abend versuchte ich sie in Verse zu bringen, aber das ging, wie man sich wohl denken kann, weit über meine Kräfte. An diesem Vorhaben brach sich meine aufflatternde Muse zum erstenmal die Flügel, und ich begann meine literarische Laufbahn, wie ich die Laufbahn der Liebe begonnen hatte - mit einer unbestreitbaren Niederlage, von der zum Glück niemand etwas, erfuhr. Unter ersten Liebeleien und Arbeiten vergingen sechs Monate. Außer unseren regelmäßigen Zusammenkünften bei I.uise Brezette besuchte ich Adele auch noch zweimal bis dreimal wöchentlich in ihrem Pavillon. Da Adele mir immer die Gangtür aufschließen und ich an der Schlafzimmertür ihrer Mutter vorübergehen musste, sann ich schon lange auf ein Mittel, um auf anderem Wege zu Adele zu gelangen. Endlich hatte ich es auch gefunden. Eine der drei Haustüren führte nach einem Garten, von dem Adeles Pavillon durch eine Mauer und zwei Hecken getrennt war. Zu Adeles Garten hatte ich freien Zutritt. Ich brauchte nur die nach der Straße führende Tür zu öffnen. Die Tür war verschlossen, und der Gang wurde nachts von einem Hund bewacht. In acht tagen war ich mit allem in Ordnung. Einmal versuchte ich trotz dem Gebell Muftis, so hieß der Hund, die Tür mit einem Taschenmesser zu öffnen. Die sieben anderen Nächte verwendete ich dazu, mit Mufti Bekanntschaft zu machen, den ich nach und nach dadurch verführte, dass ich ihm über die verschlossenen Tür Fleisch- und Hühnerknochen zuwarf. Die letzten Nächte war Mufti bereits an die Leckerbissen, die ich ihm zu bringen pflegte, gewöhnt und erwartete mich ungeduldig. Als er mich in einer Entfernung von zwanzig Schritt roch, begann er mit beiden Vorderpfoten an der Tür zu kratzen und zu winseln, als schmerzte es ihn, dass wir durch dieses Hindernis voneinander getrennt waren. In der achten Nacht öffnete ich in der Überzeugung, in Mufti nicht nur keinen Gegner, sondern einen Helfershelfer zu finden. Meine Voraussicht hatte mich nicht getäuscht. Mufti sprang an mir hinauf und bewies mir die wärmste Freundschaft. Ich hatte für diesen ersten Einbruch und Einsteigeversuch eine jener düsteren Herbstnächte gewählt, in der auch nicht ein Schimmer des Mondes zu sehen ist.
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Es war mir, als würde hinter mir eine Tür geöffnet. Ich beflügelte meine Schritte und erreichte eine Stelle, wo Stangenbohnen standen. Darin versteckte ich mich, nahm Mufti zwischen die Beine und seine Schnauze zwischen die Hände, um den leisesten Laut unterdrücken zu können. Es war wirklich einer der Bewohner des Ganges. Er hatte ein Geräusch gehört und er machte die Runde durch den Garten, ging in einer Entfernung von zwei Schritten an mir vorüber, ohne mich zu sehen, hustete, und kehrte dann in seine Behausung zurück. Nun ließ ich Mufti los, sprang über die Mauer, dann über die Hecken und eilte vorwärts, um an den Fensterladen zu pochen. Aber ich brauchte nicht erst zu klopfen! Noch ehe ich das Fenster erreichte, hörte ich ein leises Flüstern, sah einen schlanken Schatten, fühlte zwei Arme, die sich mir entgegenstreckten, mich zitternd umfingen und mich in den Pavillon hineinzogen, dessen Tür sich hinter uns schloss. Ach, wäre ich damals Dichter gewesen, welch herrliche Verse wären zu Ehren dieser ersten Blüten im Garten unserer Liebe aus meiner Feder geflossen! Aber leider war ich damals noch keiner, und so begnügte ich mich damit, Adele Parnys und Bertins Elegien vorzutragen, die sie, wie ich glaube, ganz entsetzlich langweilten. Gegen drei Uhr morgens verließ ich sie, um den gewohnten Umweg durch den Park zu machen. Um nicht gezwungen zu sein, dreimal oder viermal wöchentlich den im Dunkeln immerhin gefährlichen Sprung über den Graben zu machen, hatte ich an einer Stelle Steine angehäuft, mit deren Hilfe ich den Sprung vermeiden konnte. Als ich mich in dieser Nacht in den Graben heruntergleiten ließ, bemerkte ich vier Schritte vor mir einen Schatten und eine Hand, die einen Stock hielt, nicht den Schatten eines Stockes, sondern einen leibhaftigen, gehörigen Knüppel. Wenn mir eine Gefahr drohte, so ging ich ihr stets entschlossen entgegen. Ich ging also auf den Knüppel los. Er wurde in die Höhe gehoben und fiel auf meine Hand nieder. Nun entbrannte in dem dunklen Graben ein Kampf, wie ich ihn hartnäckiger nie wieder in meinem Leben geführt habe. Der Mann, der mich aus dem Hinterhalt anfiel, hatte sich das Gesicht schwarz gemacht, ich konnte ihn nicht erkennen, aber ich ahnte, wer es war. Er war vierundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, ich erst kaum achtzehn, aber ich war stark in allen körperlichen Übungen und besonders im Ringkampf. Es gelang mir, ihn mittels eines Untergriffs zu Boden zu werfen, wobei sein Kopf auf einen Stein stieß, dass es krachte. Alles dies ging vor sich, ohne dass zwischen uns ein Wort gewechselt wurde. Während er nun am Boden und ich auf ihm lag, fühlte ich, wie er in seiner Tasche etwas suchte; das konnte nur ein Messer sein. Ich packte daher seine Hand oberhalb des Gelenks und drehte sie so um, dass seine Finger sich öffnen und das Messer loslassen mussten. Mit schnellem Griff bemächtigte ich mich
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des Messers. Einen Augenblick packte mich die furchtbare Versuchung, den Menschen zu töten, was schließlich mein Recht gewesen wäre. Das Leben eines Mannes hing in diesem Augenblick an einem Faden: wenn mein Zorn diesen Faden zerriss, so war dieser Mann tot! Aber ich überwand mich und hatte die Kraft, von ihm abzulassen und aufzuspringen. Ich nahm das Messer in die eine, den Stock in die andere Hand und wartete, bis mein Gegner aufgestanden sein würde. Er sprang einen Schritt zurück und bückte sich, um einen Stein aufzuheben. Im selben Moment, wo er sich wieder aufrichtete, traf ihn die Spitze des Stockes mitten auf die Brust, und er flog zehn Schritte weit weg. Diesmal musste er wohl ohnmächtig geworden sein, denn er blieb lautlos am Boden liegen. Ich stieg die andere Seite des Grabens empor und entfernte mich rückwärts gehend; ich fürchtete Vorrat, denn ich hatte einen furchtbaren Hass in diesem hinterlistigen Angriff herausgefühlt. Aber es erschien niemand weiter, und ich konnte in großer Erregung, das muss ich eingestehen, unser Haus erreichen. Dieses Ereignis hatte für meine Person schwere Folgen, denn es brachte mich dazu, die einzige schlechte Handlung zu begehen, die ich mir im Laufe meines Lebens vorzuwerfen habe. Das kam so. Ich ging am nächsten Morgen zu de la Ponce, erzählte ihm den Vorfall und bat ihn, mir, da ich fürchtete, der Angriff könnte sich in noch schlimmerer Form wiederholen, seine Taschenpistolen zu leihen. Ich sagte ihm alles, verschwieg ihm aber den Schauplatz des Kampfes, um Adele nicht bloßzustellen, und nannte ihm einen anderen Ort in einer engen Straße, auf welche drei Häuser ihren Ausgang hatten. In einem davon wohnte Hippolyte Leroy, im zweiten die Familie Leuven und im dritten der Notar Lebegue, der meine Cousine Eleonore Deviolaine geheiratet hatte. Eleonore war eine geistvolle, sehr ehrenwerte, aber sehr kokette Frau, die sich in der kleinen Stadt durch ihre Überlegenheit viele Feinde zugezogen hatte. Man machte ihr ein Verbrechen daraus, dass sie etwas freie Manieren hatte und sogar sich von ihren Freunden die Hand küssen ließ. Das Verbrechen war um so größer, als die Hand schön war. Mein Abenteuer wurde stadtbekannt, und man fing an zu munkeln. Da ich nachts drei Uhr weder von Hippolyte noch von Leuven gekommen sein konnte, so hieß es bald, dass ich in dieser Nacht bei der Frau Lebegue gewesen, und dass sie meine Geliebte sei. Ich hätte diesem Gerücht sofort mit äußerster Empörung entgegentreten müssen, ich beging aber, froh, dass der Verdacht nicht Adele traf, das Unrecht, es nur schwach zu bekämpfen und es gerade dadurch zu bestätigen. Ich erhielt dafür meine Strafe. Mit Madame Lebegue, die annahm, dass ich der Urheber des Gerüchtes sei, kam ich natürlich auseinander. Sie verschloss mir und meiner Mutter ihr Haus und war in Zukunft unsere Todfeindin, deren Angriffen wir später mehr als einmal ausgesetzt waren. Ich versuchte aber niemals, ihr Gleiches mit Gleichem zu vergelten, denn sie hielt
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mich ja für schuldig. Schuldig war ich, aber nicht so, wie sie annahm. Überall, wo ich in Zukunft mit ihr zusammentraf, wandte ich mich ab und senkte meinen Blick vor dem ihren: der Schuldige gestand ganz leise sein Vergehen ein. Das war damals. Heute klagt er sich laut vor aller Welt an. Am andern Morgen besuchte ich aus Neugier den Kampfplatz. Ich hatte mich in meiner Vermutung nicht getäuscht: einige Haare, die ich auf einem blutigen Stein vorfand, bestätigten meinen Verdacht; jetzt wusste ich, wer mein Angreifer war. Am Abend erzählte ich Adele alles, auch wer mein Gegner war, aber sie wollte es nicht glauben. Gerade während wir noch davon sprachen, ging der Wundarzt Raynal vorüber, den ich am Morgen aus der Richtung herkommen sah, wo das Haus meines Gegners sich befand. Ich hielt ihn an und fragte: „Warum hat Sie denn heute morgen Herr Soundso rufen lassen?" „Er ist heute nacht in der Dunkelheit mit der Brust gegen eine Deichselstange gerannt. Der Stoß war so heftig, dass er dadurch nach rückwärts niederfiel und sich dabei den Hinterkopf verletzt hat." „Wann gehen Sie wieder zu ihm?" „Morgen früh." „Ach, wollen Sie dann so freundlich sein und ihm sagen, dass ich heute nacht gerade an der Stelle vorübergegangen bin, wo ihm der Unfall passiert ist, und dort sein Messer gefunden habe. Geben Sie es ihm zurück, Doktor, und fügen Sie hinzu, dass es zwar eine gute Waffe sei, dass er aber unrecht haben würde, damit einem Mann entgegenzutreten, der zwei Pistolen in der Tasche habe, so wie diese hier..." Ich glaube, der Doktor hatte mich verstanden. „So, so", erwiderte er, „sei ruhig, ich werde es ihm sagen." Ich glaube auch, dass der Messerheld seinerseits verstanden hatte, denn ich habe von ihm nichts mehr gehört, obwohl ich vierzehn Tage später auf einem Ball im Schlosspark ihm gegenüber tanzte! Literarische Versuche Ich hatte Leuven ganz naiv erzählt, dass ich außerstande sei, Bürgers schöne Ballade zu übersetzen. Da er sich aber vorgenommen hatte, aus mir einen Dichter zu machen, tröstete er mich, indem er sagte, sein Vater behaupte, gewisse deutsche Werke sträubten sich gegen die Übersetzung, und dazu gehöre in erster Linie die „Lenore". Da ich sah, dass Leuven die Hoffnung nicht aufgab, bekam auch ich nach und nach wieder Mut. Ja, noch mehr, einige Tage später feierte ich sogar einen förmlichen Triumph. Lafarge, unser Zimmerherr, hatte gelacht, als Leuven einmal äußerte, er wolle mich zu seinem Mitarbeiter machen. Was wusste ich auch schon vom Pariser Theater, ich, ein Junge ohne höhere Schulbildung, ein armer Provinzler, in einer Kleinstadt der Isle de France, der die größten Meister der Literatur kaum dem Namen nach kannte. Ich, der ich nie den „Gil Blas", den „Don Quichotte" oder den „Hinkenden Teufel" zu Ende gelesen hatte. Dafür las ich alles Schlechte aus Voltaire, der
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als Mann der politischen und religiösen Opposition damals in Mode war - ich, der ich nie einen Band von Walter Scott oder Cooper gelesen, dafür aber alle nichtswürdigen Bücher von PigaultLebrun verschlang, der ich Goethe, Schiller, Uhland, Andre Chenier kaum dem Namen nach kannte, und von Shakespeare nur hier und da sprechen gehört hatte, aber wie von einem Barbaren, aus dessen Mistbeet Ducis jene Perlenreihe gezogen hatte, die „Othello", „Hamlet", „Romeo und Julia" heißt - dafür aber Bertin, Parny, Legouve und Demoustier auswendig konnte. Fürwahr, Lafarge hatte recht, und Adolf musste sehr viel überflüssige Zeit haben, wenn er sich diese Mühe machen wollte, deren Ziel lächerlich erscheinen musste, wenn es nicht gar so unmöglich geschienen hätte. Aber Adolf mit seinem englisch-deutschen Phlegma arbeitete an dem begonnenen Werk rüstig weiter, und wir brachten endlich, so gut es eben ging, den Plan zu einem Einakter zusammen, der „Der Major von Straßburg" heißen sollte. Die patriotischen Stücke waren an der Tagesordnung. Gegen unsere Verluste von 1814 und unsere Niederlagen von 1815 hatte sich eine innere Reaktion gebildet. Nationale Lieder erregten stets einen Beifallssturm, politische Anspielungen waren Mode. Wenn man nur die „Franzosen" und „die Großen", „Krieger" und „Sieger" reimte, konnte man des Beifalls sicher sein. Es verstellt sich von selbst, dass Leuven und ich uns keine neue Bahn brachen, sondern ganz andächtig in die Fußtapfen der Herren Francis und Dumersan traten. So war auch unser „Major von Straßburg" einer jener ehrenwerten, im Ruhestand lebenden Offiziere, deren Patriotismus den Feind zum größeren Ruhm Frankreichs in Versen bekämpfte und für Leipzig; und Waterloo auf den Schlachtfeldern des Gymnase und Variete-Theaters Revanche nahm. Unser Major, der ein schlichter Landmann geworden war, wurde von einem Vater und dessen Sohn überrascht, die, ich weiß nicht mehr aus welcher Veranlassung, eben in dem Augenblick zu ihm kamen, wo er, statt den Boden mit seinem Pflug zu bearbeiten, sich mit der Lektüre eines Werkes über die Siege des Kaisers beschäftigte, in die er sich nach und nach so sehr vertiefte, dass er Vater und Sohn nicht kommen hörte. Von diesem Augenblick an dachte ich nur noch an die dramatische Literatur, und da Adolf jeden Tag nach Paris zurückkehren sollte, machten wir uns emsig ans Werk, damit er eine ganze Ladung ähnlicher Erzeugnisse, wie der „Major von Straßburg,', mitnehmen könne. Es bestand kein Zweifel, dass solch ausgezeichnete Werke vor einem so gebildeten Publikum, wie dem Pariser, den wohlverdienten Erfolg ernten und mir eine an Lorbeerkränzen und Goldstücken überreiche Bahn nach der Hauptstadt europäischer Kunst eröffnen müssten. Was würden dann jene wohlwollenden Leute sagen, die meiner Mutter durchaus einreden wollten, ich sei ein Faulenzer und es würde aus mir nie etwas Rechtes werden? Ans Werk, künftiger Schiller! Ans Werk, künftiger Walter Scott! An die Arbeit!
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Unser zweites Vaudeville war den „Erzählungen für meine Tochter" des ehrwürdigen Bouilly entlehnt. Es hieß „Ein Freundesmahl". Unser erstes Drama war Florians „Gonzalvo von Cordova" entnommen. Es hieß „Die Abenceragen". Nachdem Graf Leuven sah, dass man ihn in Frankreich nicht behelligte, beschloss er, die Rückkehr nach Paris zu wagen. Natürlich musste auch Adolf seinem Vater dorthin folgen. Adolfs Abreise, die mich sonst zur Verzweiflung gebracht hätte, erfüllte mich diesmal mit Freude. Nahm er doch unsere Meisterwerke mit nach Paris! Und konnte man auch nur im entferntesten daran zweifeln, dass die Bühnen, für die diese Meisterwerke bestimmt waren, sie mit Handkuss aufnehmen werden? . . . So stießen wir denn den Nachen, mit zwei Vaudevilles und einem Drama beschwert, in jenen Pactolus, aus dem Scribe seit 1822 das Gold in Masse fischte. Auf seinem Rücken wollte ich mich nach Paris tragen lassen, wo sich mir eine Laufbahn reich an Rosen und Banknoten eröffnen sollte. Man kann sich denken, mit welcher Ungeduld ich Adolfs ersten Brief erwartete. Er kam lange nicht, und ich wollte schon ungeduldig werden. Endlich ging eines Morgens die Briefträgerin - es war eine alte Frau, die Mutter Colombine - auf unser Haus zu: in der Hand trug sie einen Brief mit der Schrift Adolfs und dem Poststempel Paris. Die Direktoren - Adolf wusste selber nicht warum balgten sich keineswegs um unsere Stücke, wie wir erwartet hatten. Aber Adolf hatte immer noch Hoffnung, die Stücke wenigstens bis zur Leseprobe zu bringen. Trotz der wenigen Hoffnungsstrahlen, die über Adolfs Brief streiften, war der Ton im ganzen doch recht pessimistisch. So wartete ich nun auf seinen zweiten Brief. Er blieb länger als einen Monat aus. Ach, diesmal blieb mir blutwenig Hoffnung. Das .,Freundesmahl" bot keine spannende Intrige, der „Major von Straßburg" erinnerte zu sehr an den „Soldat als Landmann", der gerade im Variete-Theater mit ungeheurem Erfolg über die Bretter ging. Was endlich die „Abenceragen" betrifft, so hatte von diesen jedes Boulevard-Theater - seit zehn, fünfzehn oder gar zwanzig Jahren - ein solches Stück vorrätig. Wir mussten also im besten Fall - das heißt, selbst wenn unser Stück angenommen würde ziemlich lange auf die Aufführung warten. Übrigens war für das „Freundesmahl" und den „Major von Straßburg" noch immer etwas Hoffnung vorhanden. Nachdem er vergebens an die Pforten des Gymnase- und Variete-Theaters geklopft hatte, konnte er es noch bei der Porte Saint Martin, beim Ambigue Comique oder beim Gaite-Theater versuchen. Für die armen „Abenceragen" war leider kein Kraut gewachsen. Ich weinte über sie bittere Tränen, wie Boabdil über Granadas Fall, und erwartete, von einem bangen Vorgefühl erfüllt, Adolfs dritten Brief. Schmach und Schande, man hatte uns überall abgewiesen! Ich war völlig niedergeschlagen.
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Mittlerweile trat ein Ereignis ein, das mir unter anderen Umständen hoffnungsreichere Aussichten eröffnete. Deviolaine war zum Oberforstverwalter des Herzogs von Orleans ernannt worden. Er verließ Villers-Cotterets und ging nach Paris, um dort die Direktion der Forstverwaltung zu übernehmen. Er konnte mich entweder in seinem Büro anstellen, oder mich im aktiven Dienst verwenden. Leider stand ich mit der Familie Deviolaine nicht auf festem Fuß. Das hinderte jedoch meine Mutter nicht, bei Herrn Deviolaine eine Fürbitte zu wagen, um mir eine Zukunft zu sichern. Man erinnert sich wohl noch, dass Herr Deviolaine kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte. Er antwortete meiner Mutter: „Ja, freilich, wenn Ihr Bengel Alexander kein Faulenzer wäre, ließe sich schon etwas für ihn tun. Aber ich sage es Ihnen gerade heraus, ich habe kein Vertrauen zu ihm, und dann, nachdem was hier geredet wird, würde man mir die Haare ausreißen, wenn ich etwas für ihn täte." Meine Mutter ließ sich nicht abweisen. Sie klammerte sich krampfhaft an die letzte Hoffnung, die ihr zu entschlüpfen drohte. „Nun, gut", sagte endlich Deviolaine, „lassen Sie uns einige Zeit warten. Wir wollen dann sehen, was zu machen ist." So endete eine Liebe Ich harrte der Rückkehr meiner Mutter mir derselben Ungeduld, mit der ich der Briefe Adolfs geharrt hatte. Die Antwort lautete auch diesmal wenig ermutigend. Zwei Tage zuvor hatten wir einen Brief von meinem Schwager, dem Steuereinnehmer in Dreux erhalten. Er lud mich ein, sechs oder acht Wochen bei ihm zuzubringen. Leider waren wir schon so arm, dass meine Mutter in den Ersparnissen, die durch meine Abwesenheit möglich wurden, einen Trost für den Schmerz der Trennung, suchen musste. Es war die erste Trennung. Außerdem gab es in der Stadt noch jemand, von der mir die Trennung•, schwer fiel. Obgleich unser Verhältnis bereits mehr als drei Jahre währte, liebte ich Adele noch immer sehr, und während dieser Zeit war - fast unerhört im Leben einer Liebe - das Azurblau unseres Himmels nur selten durch ein leichtes Wölkchen getrübt worden. Seit einiger Zeit war das Mädchen schwermütig geworden. Die Ursache war leicht zu erraten. Ich zählte erst neunzehn, sie bereits zwanzig Jahre. Unsere Liebschaft, ein reizendes Kinderspiel, bot ihr nicht nur keine Aussicht für die Zukunft, sondern stellte sie auch noch bloß. Da niemand an der Reinheit unseres Verhältnisses zweifelte, hatten sich zwei oder drei Freier gemeldet, aber -- sei es nun, dass sie dem Mädchen nicht behagten oder unserer Liebe geopfert wurden - genug, Adele schlug sie aus. Wird sie nicht, nachdem sie Barsch, Karpfen und Aal ausgeschlagen, am Ende mit ein paar Fröschen vorlieb nehmen müssen? Ich sah nun ein, dass die Trennung für uns beide gleich dringend notwendig war. Wir weinten viel, sie mehr als ich, und da sie mehr Tränen vergoss, musste sie natürlich auch schneller getröstet sein. Der
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Entschluss der Trennung stand nun fest. Es war im Juli 1822. Nur noch acht Tage behielt ich mir vor - acht Tage und acht Nächte - eine letzte Woche voll Glück und Seligkeit -, eine Ahnung sagte es mir, dass es die letzte sei. Der verhängnisvolle Augenblick kam, es musste geschieden sein. Wir schwuren, einander nicht eine Stunde zu vergessen, und versprachen uns wenigstens zweimal wöchentlich zu schreiben. Ach, leider waren wir nicht reich genug, um uns den Luxus, einander täglich zu schreiben, gestatten zu können! So sagten wir denn Lebewohl. Es war ein grausamer Abschied. Es war mehr als das Losreißen der Körper voneinander, es war die Trennung zweier Herzen. Wie ich von Villers-Cotterets nach Dreux gelangte? Ich erinnere mich an die geringfügigsten Einzelheiten aus meinem Jugendleben, aus den Zeiten meiner Kindheit, aber die eine Frage kann ich doch nicht beantworten. Ich musste wohl über Paris gefahren sein, denn das ist der kürzeste Weg, und doch ist mir von dieser Reise durch Paris keine Erinnerung geblieben. Habe ich mich dort aufgehalten? Traf ich Adolf? Von all dem weiß ich nichts mehr. Ich weiß nur, dass ich Villers-Cotterets verließ, und plötzlich in Dreux war. Wenn etwas meine gedrückte Stimmung zu erleichtern vermochte, so war es sicherlich der Aufenthalt bei meiner Schwester und meinem Schwager. Victor war ein Mann von hellem, sprudelndem, schwunghaftem Geist, aber leider hatte ich zwei Lücken im Herzen mitgebracht, die schwer auszufüllen waren. Ich blieb zwei Monate in Dreux, da ging die Jagd wieder auf. Ich hatte viel von einem Hasen mit drei Läufen erzählen gehört, den alle Jäger gesehen und auf den alle geschossen hatten, aber nach jedem Schuss schüttelte er die Ohren und sprang lustiger denn zuvor davon. Wir hatten uns am 1. September noch nicht eine Viertelmeile vom Haus entfernt, als mir ein Hase in den Wurf kam. Ich legte an, drückte los, und er wälzte sich am Boden. Mein Hund brachte ihn mir. Es war der Hase mit den drei Läufen. Sämtliche Jäger von Dreux gaben mir ein Festessen. Der Tod dieses phantastischen Hasen und ein Doppelschuss auf Rebhühner verschafften mir im Eure- und Loiredepartement eine Berühmtheit, die dort heute noch andauert. Übrigens konnten alle diese Ehrenbezeigungen mich nicht bewegen, länger als bis zum 15. September zu bleiben. Adeles Briefe waren immer seltener geworden. Endlich waren sie ganz ausgeblieben. Am 15. September trat ich die Rückreise an. Auf welcher Straße? Mit wem? Kam ich durch Paris? Ich habe von der Rückreise nicht mehr Erinnerungen behalten als von der Hinreise. Ich weiß nur, dass ich in Villers-Cotterets ankam und dort zugleich mit den Worten empfangen wurde: „Weißt du, dass Adele Dalvin heiratet?" – „Ich wusste es nicht", antwortete ich, „aber ich dachte es mir schon." Arme Adele! Es war keine Heirat aus Liebe! Sie bekam einen Mann, der doppelt so alt war wie sie. Er hatte lange in Spanien gelebt, und von dort ein kleines Vermögen mitgebracht. Es war eine Heirat aus Berechnung,
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zu der Adele sich entschloss. Die Nacht nach meiner Rückkehr fasste ich den Vorsatz, das Mädchen wiederzusehen. Ich schob, wie gewöhnlich, den Riegel des Schlosses zurück, öffnete die Tür, fand dort meinen Freund Mufti wieder, der mich so stürmisch empfing, dass er mich beinahe verraten hätte. Dann er kletterte ich - mir hüpfte das Herz im Leib wie noch nie -, die Mauer und sprang über die beiden Hecken. Als ich den Garten betrat, war ich einer Ohnmacht nahe. Ich lehnte mich an einen Baum und kam allmählich wieder zu Atem. Nun trat ich den Weg zum Pavillon an. Je mehr ich mich ihm näherte, je deutlicher die einzelnen Umrisse aus dem Dunkel hervortraten, desto enger ward mir die Brust. Die Fensterläden, die ich geschlossen zu finden wähnte, waren ganz, die Fenster halb offen. Ich lehnte mich an das Fensterkreuz und blickte hinein; alles war still und düster. Nun stieß ich die beiden Fensterflügel auf und schwang mich hinein. Das Zimmer war leer. Ich tappte nach dem Bett, auch das war leer. Es blieb mir kein Zweifel mehr. Adele erriet, dass ich kommen würde, sie verließ daher das Zimmer, um mir ihre Absicht offen kundzugeben. Ach ja. ich begriff alles, alles! Wozu sollten wir uns wiedersehen, da doch zwischen uns alles aus war! Ich setzte mich aufs Bett und dankte dir, mein Gott, dass du uns Tränen gabst, nachdem du uns den Schmerz gegeben hast. In vierzehn Tagen sollte die Hochzeit sein. Während dieser vierzehn Tage schloss ich mich fast ununterbrochen in mein Stübchen ein. Nur sonntags ging ich in den Park zum Ballspiel. Ich liebte dieses Spiel und hatte darin eine gewisse Fertigkeit erlangt. Außerdem besaß ich eine ungewöhn liche Muskelkraft und schlug den Ball gewöhnlich bis ans Ende der Spielbahn, oft auch noch darüber hinaus. Dadurch war ich der Schrecken aller Mitspieler. Nun erst an diesem Tag,. wo es mir so Not tat, durch eine außergewöhnliche körperliche Anstrengung den Gram meiner Seele zu übertäuben -- an diesem Tag überließ ich mich mit einer gewissen Raserei dem Ballspiel. Einmal schlug ich den Ball in Mannshöhe auf und traf einen der Spieler, den der Stoß zu Boden warf. Es war der Sohn des Gendarmeriebrigadiers Savard. Der Ball hatte ihn an der Schulter getroffen. Sechs Zoll höher, und ich hätte ihn getötet. Ich warf mein Rakett weg und habe seitdem nie wieder Ball gespielt. Was blieb mir anderes übrig. als nach Hause zu gehen und dort in der Arbeit Zerstreuung zu suchen. Aber vergebens. Zur Arbeit braucht man Geist und Herz. Adolf hatte meinen Geist entführt. Und Adele war eben im besten Zug, mir das Herz zu brechen. Der Hochzeitstag rückte immer näher. An diesem Tag wollte ich auf keinen Fall in VillersCotterets bleiben. Ich verabredete mich daher mit einem Jugendfreund, den ich etwas vernachlässigt hatte, seit Adolf und de la Ponce eine so wichtige Rolle nicht nur in meinem Herzen, sondern auch in meinem Leben eingenommen hatten. Wir wollten auf den Vogelfang gehen. Mein Jagdgefährte war Sattler und hieß Arpin.
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Da wir mit der Pfeife zu fangen beabsichtigten, machten wir uns tags zuvor unsern Baum zurecht. Wir wählten einen herrlichen Platz in einem wunderbar lieblich gelegenen Gehölz, etwa eine Viertelmeile von dem hübschen Dörfchen Haramont, dem ich in meinem „Ange Pitou" und „Conscience" ein kleines Denkmal errichtet habe.*) Am nächsten Morgen standen wir schon vor Tagesanbruch auf unseren Posten, die Strahlen der aufgehenden Sonne spiegelten sich in den verführerischen Leimruten unseres Baumes, und die Jagd begann. Doch sonderbar! Diese Jagd, die mir früher solches Vergnügen bereitete, dass ich gewöhnlich die Nacht zuvor kein Auge zutat, vermochte jetzt nicht, den Kummer meiner Seele zu zerstreuen und mich von dem Druck zu befreien, der mir das Herz abschnürte. Der Tag ging zur Neige. Es kam die Stunde, da das Heimchen zirpt und das Rotkehlchen singt, wo die ersten Schatten schweigend in den Schoß der Wälder niedersteigen, da wurde ich plötzlich' durch den schrillen Ton einer Geige und schallendes Gelächter aus meinen Träumen empor gescheucht. Geigenspiel und Gelächter kamen immer näher, und ich sah durch die Bäume einen Hochzeitszug, der von Haramont herkam und sich gegen Villers-Cotterets entfernte. Er musste in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritt an mir vorüberkommen. Es waren junge, weißgekleidete Mädchen, junge Männer in blauen und schwarzen Anzügen, alle mit Blumensträußen und bunten Bändern geschmückt. Ich steckte den Kopf zur Hütte hinaus, und stieß einen Schrei aus. Es war Adeles Hochzeit! Die Braut mit dem weißen Schleier und den Orangenblüten, die am Arm des Bräutigams voranging, war sie. Ihre Tante wohnte in Haramont. Nach der Messe hatten sie bei dieser Tante gefrühstückt; jetzt befanden sie sich auf dem Heimweg. Ich floh vor dem Schmerz, und er folgte mir nach.Adele konnte mich nicht sehen, sie wusste nicht, dass sie so nahe an mir vorüberging. Sie stützte sich auf den Arm des Mannes, dem sie nun vor Gott und Menschen angehörte. Und er hielt mit dem einen Arm ihren schlanken Leib umfangen. Meine Blicke folgten noch lange dieser Reihe weißer Gewänder, die dem Zug in der Abenddämmerung das Aussehen einer Gespensterprozession verlieh. Dann entrang sich ein schwerer Seufzer meiner Brust. Mein erster Traum war aus, meine erste Täuschung zerronnen.
Heimliche Reise nach Paris Während meiner Abwesenheit war mir eine Stelle als Schreiber beim Notar Lefevre in Crepy angeboten worden.Die Stelle war nicht schlecht. Ich sollte Kost und Wohnung erhalten. Ich war für meine Mutter eine so drückende Last geworden, dass sie einwilligte, sich ein zweites Mal von mir zu trennen, um nur die Kost für mich zu ersparen. Ich nahm mein kleines Bündel unter den Arm
*) Wie in „Ange Pitou" hat Dumas auch in der Geschichte des Soldaten Conscience seine Jugenderinnerungen verwertet.
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und traf eines schönen Abends bei Meister Lefevre ein, denn Crepy ist nur wenige Meilen von Villers-Cotterets entfernt. Lefevre war damals noch ein hübscher Mann von vierunddreißig bis fünfunddreißig Jahren, mit sehr dunklem Haar, sehr blassem Gesicht und etwas verlebten Zügen. Man sah ihm auf den ersten Blick an, dass er lange in Paris gelebt und dort viel von den erlaubten, noch mehr aber von den verbotenen Freuden genossen hatte. Übrigens war Herr Lefevre ein wackerer Mann, kalt, anspruchsvoll, aber gerecht. Wenn man Urlaub verlangte, verweigerte er ihn höchst selten, aber er konnte es nicht verzeihen, wenn jemand Urlaub nahm, ohne ihn verlangt zu haben. Die Mutter meines Schwagers wohnte in Crepy. Damit war mir der Weg zu der gesamten Gesellschaft des kleinen Ortes eröffnet. Ach, welch ein Unterschied zwischen dieser und jener dreifachen Gesellschaft von Villers-Cotterets, von der aller liebsten Gesellschaft, die wir jungen Leute bildeten, gar nicht zu reden! In der alten Hauptstadt des Valois langweilte ich mich entsetzlich, so dass ich oft am Samstagabend mein Gewehr nahm und unter dem Vorwand, dass ich auf die Jagd gehe, zu meiner Mutter nach Villers-Cotterets schlafen ging. Am nächsten Montag um sechs Uhr morgens nahm ich dann wieder mein Gewehr und traf, nachdem ich unterwegs noch ein bisschen gejagt hatte, gerade zur Eröffnung der Kanzlei wieder bei Maitre Lefevre ein. So ging das drei Monate lang. Ich hatte ein hübsches Zimmer, das nach einem blumenreichen Garten ging. Die Strahlen der Abendsonne fielen auf meinen Arbeitstisch, dessen ganzer Schmuck in Papier, Tinte und einer Menge Federn bestand. Dabei hatte ich gute Kost und folglich ein gesundes Aussehen, und dennoch fühlte ich, dass es mir unmöglich wäre, ständig ein solches Leben zu führen. Auf einem meiner Ausflüge nach dem Mutterhaus schlug ich den Weg über Ermenonville ein. Ermenonville ist sechs Meilen von Crepy entfernt, aber was war eine Entfernung von sechs Meilcn für Beine wie die meinen? Ich besuchte den klassischen Boden der Herren von Giradin, die Wüste, die Pappelinsel, das Grab des Unbekannten. *) Der poetische Reiz dieser Wanderung weckte meine erstarrte Muse zu neuem Leben. Sie war ein fahler, matter Falter, der statt im lauen Mai im frostigen Januar seiner Puppe entstieg. Ich machte mich an die Arbeit und schrieb ein Werk, halb in Prosa, halb in Versen - einen matten Abklatsch von Demoustiers „Briefen an Emilie" und der „Reise des Chevalier Bertin". Als das Werk beendet war, schickte ich es Adolf. Da ich beim Theater nicht durchdringen konnte, wollte ich durch ein Buch bekannt werden. Es erhielt den Titel „Pilgerfahrt nach Ermenonville". Adolf konnte damit natürlich nichts anfangen, er verlor es und fand es nie wieder. Ich habe von dem ganzen Werk auch nicht ein Wort im Gedächtnis behalten. Übrigens erging es Adolf nicht um ein Haar besser *) Jean Jacqu es Rou sseau starb 1 778 in Ermenonville und wurde auf der P appelinsel begraben.
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als mir. Auch er sah eine Hoffnung nach der anderen zu Wasser werden und schrieb, wir könnten nur vereint zum Ziel gelangen. Ihn aber zum Ziel - das heißt vorläufig nach Paris - zu gelangen, musste ich erst von Crepy aufbrechen, und wie sollte ich von Crepy nach Paris reisen, da ich selbst in den allerbesten Zeiten nicht über mehr als acht bis zehn Franken verfügte? Aber die Wege der Vorsehung sind unergründlich. An einem Samstagabend im November meldete Maitre Lefevre in gewohnter Weise seine bevorstehende Abreise nach Paris. Fast gleichzeitig - wir waren eben mit dem Abendessen fertig - meldete mir die Köchin, dass wich einer meiner Freunde zu sprechen wünsche. Es war Paillet, mein , ehemaliger Kollege beim Notar Mennesson, den er gleich mir verlassen hatte. Er bewohnte für den Augenblick seinen Pachthof in Vez, wo er sich in einem Turm einquartiert hatte. Der Turm von Vez ist eine Sehenswürdigkeit, der unerschütterliche Überrest eines Schlosses des 12. Jahrhunderts, in dem Raben und Eulen hausen. Er war nach Crepy geritten, um sich nach den Getreidepreisen zu erkundigen. Paillet war wohl noch immer zeitweilig zweiter Schreiber bei einem Notar in Paris oder erster Schreiber bei einem Notar auf dem Land. Aber eigentlich hatte er einen ganz anderen, weit angenehmeren Beruf - er war Gutsbesitzer. Wir machten einen Spaziergang nach den Stadtwällen. Ich war eben im besten Zug, ihm alle meine Leiden zu erzählen, an dem dieser edle Freund, der mir innig zugetan war, aufrichtigen Anteil nahm, als ich mir plötzlich an die Stirn schlug: „Freund", rief ich aus, „ein herrlicher Gedanke!" „Lass hören." - „Wir wollen ein paar Tage in Paris zubringen." - „Und deine Kanzlei?" - „Maitre Lefevre reist morgen selbst nach Paris und bleibt gewöhnlich zwei bis drei Tage aus. In zwei bis drei Tagen sind auch wir wieder zurück." Paillet durchsuchte seine Taschen und zog 28 Franken heraus. „Hier“, sagte er, „das ist alles, was ich bei mir habe, und du?" – „Ich habe 7 Franken." „28 und 7 macht 3 5. Wie, zum Teufel, sollen wir damit nach Paris fahren? 30 Franken kostet ja allein der Wagen für Hin- und Rückfahrt“.- „Warte, ich weiß ein Mittel ... Du hast ein Pferd bei dir?" – „Ja." –„Wir packen unsere Kleider in einen Mantelsack, ziehen unsere Jagdröcke an, nehmen unsere Büchsen und gehen jagend immer weiter. Das Wildbret verzehren wir dann unterwegs, und so kostet uns die Reise gar nichts." - „Wie meinst du das?" - „Sieh, die Sache ist ganz einfach,. Von hier bis Dammartin schießen wir doch wenigstens einen Hasen, zwei Rebhühner und eine Wachtel." - „Ich hoffe, wir werden mehr schießen." – „Ich hoffe es auch, aber ich will nur ganz gering rechnen. Wir kommen also nach Dammartin, lassen uns dort den Rücken unseres Hasen braten, den Lauf einbeizen, und essen und trinken nach Herzenslust." - „Und dann?" - „Dann? Wir bezahlen unsere Zeche mit unseren zwei Rebhühnern und geben die Wachtel dem Kellner als Trinkgeld. Wir hätten also nur noch für dein Pferd zu sorgen. Mit 3 Franken täglich hat das vollauf zu fressen."
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„Aber wofür werden uns denn die Leute halten?" - „Ei nun, für Studenten, die eine Ferienreise machen." - „Aber wir haben ja nur ein Gewehr." - „So ist's gerade recht. Der eine jagt und der andere reitet unterdessen. So hat jeder von uns von den 16 Meilen bis Paris nur acht zurückzulegen." Wir trennten uns. Paillet ging ins Gasthaus, um sein Pferd satteln zu lassen, ich in mein Zimmer, um mein Gewehr zu nehmen und meine Jagdkleider anzulegen. Hemd, Überrock, eine Hose und ein Paar Stiefel wurden von einem dritten Schreiber zu Paillet gebracht, der dafür einen Mantelsack besorgen sollte. Dann hing ich mein Gewehr um und ging bis an die letzten Häuser der Stadt, wo ich Paillet erwarten musste. Er kam bald. Zum Jagen war es schon zu spät, und so suchten wir nur so schnell als möglich vorwärts zu reiten. Ich saß hinten auf. Zwei Stunden darauf waren wir in Ermenonville. Es war das zweite oder dritte Mal, dass ich im Gasthof zum Kreuz abstieg. Unser Abendessen bestand aus einer Eierspeise, einer Flasche Wein und Brot. Am folgenden Morgen verlangten wir unsere Rechnung. Sie machte, das Futter für das Pferd mit eingerechnet, 6 Franken. Es blieben also noch 29 Franken. Wir sahen einander an, als wollten wir sagen: ,Schau, wie das Geld Flügel hat`, und nach einem mehrmaligen philosophischen Kopfschütteln machten wir uns wieder auf den Weg und schlugen die Straße nach Dammartin ein, wo wir frühstücken wollten. Aber ums Frühstück war uns gar nicht bange, das hatten wir bereits im Lauf unseres Gewehres, und wir wollten schon machen, dass wir es herausholten. Das Revier von Ermenonville war ebenso reich an Wild wie an Feldhütern, und wir waren kaum eine Viertelmeile weit gegangen, als wir auch schon mit sechs Schüssen zwei Hasen und drei Rebhühner erlegt hatten. Kaum hatte jedoch mein Hund das dritte Rebhuhn gebracht, als Paillet das verabredete Zeichen gab. Ein Feldhüter erschien am Horizont und trat immer deutlicher aus dem weißlich flockigen Hintergrund hervor. Im Nu war ich auf dem Pferd und sprengte mit dem Corpus delicti davon. Die Unterredung zwischen Paillet und dem Feldhüter war lange und heftig, aber sie endete, wie wir es vorgesehen hatten. Paillet zog ein 20-Sous-Stück aus der gemeinschaftlichen Börse. Die Gesamtsumme der Ausgaben hatte sich nun auf 7 Franken erhöht. Das war der Verlust, aber als Gewinn hatten wir zwei Hasen und drei Rebhühner in der Tasche. Paillet holte mich bald wieder ein. Ich blieb auf dem Pferde sitzen, und er begann nun zu jagen. So wechselten wir ab. Um zehn Uhr vormittags kamen wir mit drei Hasen und acht Rebhühnern beladen in Dammartin an. Von zwei Feldhütern, die uns noch begegneten, hatte der eine die 20 Sous stolz ausgeschlagen, während der andere sie demütig annahm. Unser Vermögen war somit auf 27 Franken herabgesunken. Aber es war bereits mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt und wir hatten drei Hasen und acht Rebhühner in der Tasche. Beim Frühstück bezahlten wir unsere
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Rechnung mit einem Hasen und drei Rebhühnern, wobei wir noch sehr großzügig waren, denn wir ließen uns nicht einmal die kleinen Münzen in Lerchen herausgeben. Um elf Uhr wanderten wir weiter, und zwar gerades Weges auf Paris zu, wo wir um halb sieben Uhr abends unseren Einzug hielten, ich zu Fuß und Paillet zu Ross - mit einem Gefolge von vier Hasen, zwölf Rebhühnern und zwei Wachteln. Wir hatten in unserer Tasche, den Marktpreisen gerechnet, wenigstens für 30 Franken Wildbret. Im Gasthof in der Rue des Vieux-Augustins gab sich Paillet zu erkennen und stellte sogleich seine Bedingungen. Es handle sich, sagte er, um eine beträchtliche Wette, die wir mit ein paar Engländern gemacht hätten. Wir wetteten nämlich, nach Paris und zurück zu reisen, ohne einen Sou auszugeben. Wir seien daher genötigt, um die Wette zu gewinnen, mit unserem Wirt ein Tauschgeschäft abzuschließen. Er solle unser Wildbret nehmen und uns dafür Kost und Wohnung geben. Der Anblick der vier Hasen, der zwölf Rebhühner und zwei Wachteln bewog unseren Wirt, auf den Handel einzugehen und uns zweitägige Verköstigung und Beherbergung für uns beide, unser Pferd und unsern Hund inbegriffen.
Überdies sollte er uns noch bei der Abreise eine Pastete und eine Flasche Wein als Wegzehrung mitgeben. Der Wirt, der froh war, ein vorteilhaftes Geschäft zu machen, bot sich auch an, uns schriftlich u bestätigen, dass wir bei ihm nicht einen Sou ausgegeben haben. Wir dankten ihm dafür und erwiderten, unsere Engländer würden uns auch aufs bloße Wort glauben. Nachdem das geordnet war, nahmen wir vor allem ein Bad. Trotz aller Sparsamkeit mussten wir unser Kapital abermals um 3 Franken 50 Centimes verringern, und so b lieben uns noch in allem 23 Franken und 50 Centimes. Wir hatten mithin bereits ein Drittel unseres Vermögens verbraucht, aber dafür hatten wir uns für 48 Stunden Kost und Wohnung gesichert. Trotz der Strapazen des Tages schlief ich dennoch sehr schlecht, denn - ich war in Paris. Ich beneidete beinahe meinen Hund, der neben meinem Bett, frei von allen Folgen einer aufgerechten Phantasie, halb tot vor Müdigkeit und unbekümmert um den Ort, an dem er sich befand, in tiefem Schlaf lag. Ich erwachte daher schon um sieben Uhr morgens. Rasch war ich angekleidet. Leuven wohnte in der Rue Pigalle Nr. 14, das heißt, beinahe eine Meile weit von der Rue des Vieux-Augustins. Wohl hatte ich tags zuvor zehn bis zwölf Meilen zurückgelegt - die verschiedenen Seiten- und Umwege nicht mit eingerechnet -, aber deshalb konnte ich am folgenden Tag um so leichter eine Meile zurücklegen. Ich, machte mich auf den Weg. Paillet hatte seine Geschäfte, ich die meinen. Es war vorauszusehen, dass wir uns erst beim Mittagessen oder vielleicht gar nur des Abends wiedersehen würden.
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Ich ging durch die Rue Croix des Petits-Champs gerade vor mich hin. Plötzlich gewahrte ich nach einer Seite hin ein großes Gedränge, ich folgte dem Menschenschwarm und gelangte in eines der übelsten Viertel von Paris, ich kam durch die Rue de Valois nach der Passage der Rue Neuve des-Bons-Enfants. Ich wäre gern umgekehrt, wenn ich mich nicht geschämt hätte.
Talmas Dichtertaufe Endlich stand ich vor dem Palais-Royal. Die Hälfte der Kaufläden war noch geschlossen. Vor dem Theatre Francais machte ich halt und las den Zettel: „Morgen, Montag: ,Sulla', Trauerspiel in fünf Akten und in Versen von Jouy." Ich gelobte mir nun auf jeden Fall, und müsste ich mich selbst an der gemeinsamen Börse vergreifen, den „Sulla" zu sehen. Um so mehr, da am Fuß des Zettels in großer Schrift zu lesen war: „Herr Talma wird in der Rolle des ,Su11a` auftreten." Da ich jedoch durch Adolfs Vermittlung vielleicht eher zu diesem Kunstgenuss gelangen konnte, fragte ich sogleich nach der Rue Pigalle und setzte mich nun wieder in Marsch. Nachdem ich eine Unzahl Kreuz- und Querstraßen hinter mir hatte, war ich endlich um neun Uhr morgens am Ziel. Adolf war noch nicht aufgestanden, aber sein Vater ging bereits im Garten spazieren. Ich ging auf ihn zu. Er ließ mich herankommen und streckte mir die Hand entgegen. „Na, da sind Sie ja endlich in Paris. Auf wie lange?" - „Nur für zwei Tage, um Adolf und Talma zu sehen." -- „Nicht übel. Sind Sie denn Millionär geworden, dass Sie sich solche Scherze leisten können?" Ich erzählte nun Herrn von Leuven, wie ich mit Paillet nach Paris gekommen war. Er blickte mich eine Weile an. „Sie kommen gewiss ans Ziel“, sagte er dann, „denn Sie haben einen festen Willen. Eilen Sie zu Adolf und wecken sie ihn. Er wird Sie zu Talma führen, von dem Sie Eintrittskarten erhalten können. Dann kommen Sie wieder hierher und frühstücken mit uns." Nun war ich gerettet. Ich stürzte ins Haus, Öffnete zwei falsche Türen, ehe ich an die Adolfs gelangt,.. Adolf schlief so fest, wie die berühmten Siebenschläfer zusammen. Er rieb sich die Augen und erkannte mich noch immer nicht. „Ich bin's", sagte ich. „Stehe auf, kleide dich an und führe mich zu Talma." - „Zu Talma? Was willst du bei ihm? Hast du etwa gar ein Trauerspiel bei dir, das du ihm vorlesen willst?" - „Nein, ich will ihn nur um Eintrittskarten ins Theater bitten." - „Was wird denn gegeben?" Ich fiel aus allen Wolken. Adolf wohnte in Paris und wusste nicht, was man gab, da doch Talma spielte! Ja, an was dachte er denn sonst, der Unglückselige? Da war es freilich kein Wunder, wenn er meine „Pilgerfahrt nach Ermenonville" noch bei keinem Verleger, meine Stücke noch an keiner
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Bühne untergebracht hatte. Adolf stand auf und kleidete sich an. Um , elf Uhr klingelten wir an einem Hause der Rue Cour-des-Dames. Fräulein Mars, Fräulein Duchesnois und Talma wohnten dort Tür an Tür. Talma war eben bei der Toilette. Aber Adolf war ein vertrauter Freund des Hauses, und so ließ man uns eintreten. Talma war sehr kurzsichtig. Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt bemerkte. Er wusch sich eben die Brust. Sein Kopf war beinahe kahl, und das wunderte mich um so mehr, als ich wiederholt gehört hatte, dass sich bei Talma in der Szene mit dem Geist des alten Hamlet die Haare sichtlich emporsträubten. Ich muss offen gestehen, das Aussehen Talmas war, wenigstens in diesem Augenblick, nichts weniger als poetisch. Als er sich aufrichtete, als er mit dem entblößten Nacken dastand und das eine Ende seines weißen Mantels über die Brust zog, lag in dieser Bewegung etwas Majestätisches, dass mir vor Freude und Staunen das Herz im Leib erbebte. Leuven trug ihm unser Anliegen vor. Talma nahm eine Art antiken Stilus, an dessen Ende eine Feder stak, und schrieb uns eine Anweisung auf zwei Plätze. Adolf sagte ihm dann, wer ich sei. Damals war ich nur der Sohn des Generals Dumas, weiter nichts; aber selbst das war immerhin etwas. Überdies erinnerte sich Talma auch noch, meinen Vater einmal bei Saint-Georges gesprochen zu haben. Er reichte mir die Hand. Ich hatte große Lust, sie zu küssen. Bei meinen damaligen Begriffen vom Theater war Talma für mich ein Gott, freilich ein unbekannter Gott, unbekannt, wie es Jupiter für Semele war. Aber immerhin ein Gott, der mir morgens erschien und sich abends mir offenbaren sollte. Unsere Hände berührten sich. Talma, wärst du damals zwanzig Jahre jünger oder ich zwanzig Jahre älter gewesen! So aber vermochte ich wohl, dich zu erkennen, denn ich kannte die Vergangenheit, aber du kanntest die Zukunft nicht. Wenn man dir, Talma, damals gesagt hätte, dass die Hand, die damals die deine berührte, sechzig oder achtzig Dramen schreiben würde, in deren jedem du - der du dein ganzes Leben hindurch nach Rollen suchtest - eine Rolle gefunden hättest, um Großes, Wunderbares zu leisten. Wenn man dir das gesagt hätte, Talma, dann hättest du ihn nicht so von dir gehen lassen, den armen, jungen Menschen, ganz verschämt, weil er dich gesehen, ganz stolz, weil seine Hand die deine berührt! *) Aber wie hättest du, Talma, alles das in mir sehen sollen, da ich es selber nicht sah? Ich ging nun zu Leuven zurück. Meine Karte hielt ich mit eiserner Faust fest. Hätte man mir eine andere und noch 500 Franken geboten, ich wäre auf den Tausch nicht eingegangen. Ich bildete mir ungeheuer viel darauf ein, mit einer von Talma unterzeichneten Eintrittskarte ins Theatre Francais zu kommen.
*) Francois Joseph Talma (1763-1826) war einer der hervorragendsten klassischen Schauspieler.
Napoleon
schätzte den großen Künstler als Freund und ließ ihn 1808 auf dem Fürstenkongress zu Erfurt vor dem berühmten „Parterre von Königen" spielen.
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Am Abend gingen wir ins Schauspielhaus. Es war zum Erdrücken voll, obwohl das Stück bereits zum achtenmal gegeben wurde. Wir hatten nummerierte Plätze, aber wir konnten uns kaum zu ihnen durchschlagen. Adolf schenkte der Schließerin mit königlicher Großmut 40 Sous, und diese machte endlich eine kleine Öffnung ausfindig, dort keilten wir uns ein und schoben uns dann allgemach bis zu unseren Plätzen vor. Adolf hatte recht, es war höchste Zeit. Kaum saßen wir, als auch schon der Vorhang aufging. Die Abdankung Sullas erinnerte an die Abdankung des Kaisers, der Kopf Talmas an den Napoleons. Wahrscheinlich ist hierin der Grund des außergewöhnlichen Erfolges zu suchen, dessen sich das Stück zu erfreuen hatte. Diesen Parallelen hat es seine hundert Wiederholungen zu verdanken. Aber hinter der Maske des Schauspielers und der geschichtlichen Reminiszenzen war auch noch etwas anderes zu finden: schöne Verse, großartige Szenen und eine eben durch ihre Einfachheit kühne Lösung. Als ich Talma sah, stieß ich einen Schrei der Überraschung aus. Ja, ja, das war das düstere Antlitz jenes Mannes, den ich acht Tage vor der Schlacht bei Ligny - das Haupt gegen die Brust geneigt - in seinem Wagen sitzen und am Tag nach der Schlacht bei Waterloo wiederkehren sah! Viele haben seither versucht, mit Hilfe der grünen Uniform, des grauen Überrockes und des kleinen Hutes die antike Statue, die antike Medaille nachzuahmen, aber niemand als Talma hatte das blitzende Auge, keiner das heitere Gesicht, auf dem der Verlust eines Thrones, das Todesröcheln von 25 000 Menschen keine Spur der Reue, keine Furche von Gewissensbissen einzugraben vermochte. Wer Talma nicht gesehen hat, kann sich nicht vorstellen, was er war. Er vereinigte in sich die drei höchsten Eigenschaften, die ich seither nie mehr beisammen gefunden habe: Einfachheit, Kraft und Poesie. Es ist unmöglich, schöner zu sein -- ich meine hier jene Schönheit, die nicht der Person des Schauspielers anhaftet, sondern je nach den Helden, die er darzustellen hat, wechselt - in diesem Sinn ist es unmöglich, schöner zu sein als Talma es war. War Talma in der ganzen Rolle einfach, erhaben und unübertrefflich, so war er doch in der Abdankungsszene am großartigsten. Freilich erinnerte diese Abdankung Sullas lebhaft an die von Fontainebleau, und wir wollen nicht in Abrede stellen, dass gerade diese Ähnlichkeit zwischen dem modernen und dem antiken Diktator auf das große Publikum einen ungeheuren Eindruck machte. Diese Ansicht teilte auch die Zensur von 1821, die diese Verse strich, da sie in den ersteren eine Anspielung auf den ersten Konsul Bonaparte, in den letzteren auf den Kaiser Napoleon erkannte. Der Vorhang fiel unter nicht endenwollendem Beifall. Ich war betäubt, geblendet, entzückt. Adolf schlug mir vor, uns in Talmas Loge zu begeben, um ihm dort zu danken. Ich folgte ihm durch das endlose Labyrinth von Gängen, die sich durch das Innere des Theatre Francais hinzogen.
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Nie mag das Herz eines Klienten, der vor den wahren Sulla zutreten im Begriff stand, rascher und heftiger geschlagen haben, als das meine, da ich dem Sulla der Bühne gegenüberstehen sollte. Leuwen öffnete die Tür, und wir traten in die Loge des Altmeisters, dir mit Leuten überfüllt war, die ich nicht kannte und von denen doch jeder einen berühmten Namen hatte oder doch wenigstens in Zukunft haben sollte. Ich blieb demütig und errötend an der Tür stehen. „Talma", sagte Adolf, „wir kommen, Ihnen unseren Dank abzustatten." Talma blinzelte mit den Augen - sein Blick schien mich zu suchen. Er sah mich an der Tür stehen. „Ah", sagte er dann, „treten Sie doch näher." Ich ging ihm entgegen. ,.Nun", sagte er freundlich, „sind Sie mit mir zufrieden?" - „Mehr als das . . . Ich bin hingerissen vor Bewunderung." „Das freut mich. Sie müssen mich bald wieder besuchen, damit ich ihnen Karten geben kann." „Leider muss ich morgen, längstens übermorgen Paris wieder verlassen." „Ach, das tut mir leid. Sie hätten mich im ´,Regulus` sehen sollen. Sie wissen wohl, Lucian, dass ich den ,Regulus' für übermorgen ansetzen ließ?" „Ich weiß es, und danke Ihnen", erwiderte Lucian Arnault. „Schade, schade", fuhr er zu mir gewendet fort. ,.Sie können also durchaus nicht bis übermorgen bleiben?" - „Unmöglich, ich muss in die Provinz zurückkehren." - „Was treiben Sie denn dort?" .,Ich wage es kaum zu sagen. Ich bin Schreiber bei einem Notar." Dabei seufzte ich. „Ach", entgegnete Talma, „Sie müssen deshalb nicht verzweifeln. Corneille war auch Schreiber bei einem Advokaten.... Meine Herren, ich stelle Ihnen hier einen künftigen Corneille vor." Ich errötete bis über die Ohren. „Berühren Sie meine Stirn", sagte ich zu Talma, „das wird mir Glück bringen." Talma legte seine Hand auf mein Haupt.„Nun, denn, Alexander Dumas", sagte er, „ich taufe dich im Namen Shakespeares, Corneilles und Schillers zum Dichter. Kehre heim in die Provinz und in deine Kanzlei, und wenn du wirklich die Berufung in dir hast, dann wird dich der Engel der Poesie finden, wo du auch sein magst, dich bei den Haaren packen, wie den Propheten Habakuk, und dich dahin tragen, wo sich dir die Bahn zum Ruhm erschließt." Ich ergriff Talmas Hand und wollte sie küssen. „Schau, schau", sagte er, „der Junge hat Begeisterung. Da wird schon etwas aus ihm werden." Und er schüttelte mit herzlich die Hand. Nun hatte ich nichts mehr hier zu tun. Ein längeres Verweilen in dieser von berühmten Männern überfüllten Loge wäre lächerlich gewesen. Ich winkte Adolf und wir gingen. Draußen wäre ich Adolf gern um den Hals gefallen.
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„Lass nur gut sein", rief ich, „ich komme nach Paris. Darauf gebe ich dir mein Wort." Wir stiegen eine kleine Wendeltreppe hinab, gingen durch die Galerie und standen endlich am Platz des Palais-Royal. „So", sagte Adolf, „jetzt weißt du, welchen Weg du zu nehmen hast. Rue Croix des PetitsChamps, Rue de Coquilliere, Rue des Vieux Augustins, und nun gute Nacht. Ich verlass dich, es ist schon spät, und die Rue Pigalle ist weit von hier. - Noch eins! Du weißt wohl, dass wir um zehn Uhr frühstücken und um fünf Uhr zu Mittag speisen." Adolf bog um die Ecke der Rue de Richelieu und verschwand. Fristlos entlassen
Es war wirklich schon spät - alles war still und finster -, nur einige verspätete Fußgänger gingen noch über den Platz. Was Adolf auch gesagt hatte, ich wusste doch nicht, welchen Weg ich nehmen musste - darum war ich auch in furchtbarer Verlegenheit, als ich mich nun plötzlich allein sah. Überdies ängstigte mich auch der Gedanke, gerade in den Straßen von Paris zu so später Stunde einsam umherzuwandeln. Ich hatte eine Menge Geschichten von nächtlichen Überfällen, Diebstählen und Mordtaten gehört, und mit meinen 50 Sous in der Tasche befürchtete ich allen Ernstes, ausgeplündert zu werden. Nun entspann sich in meinem Innern ein heftiger Kampf zwischen Mut und Furcht. Die Furcht trug endlich den Sieg davon. Ich rief einen Fiaker. Er kam, Ich öffnete den Kutschenschlag. „Monsieur, wissen Sie wohl, dass Mitternacht vorüber ist?" fragte der Kutscher. - „Potz, Wetter! Ob ich das weiß", entgegnete ich. „Eben darum nehme ich ja einen Fiaker", setzte ich ganz leise hinzu. – „Wohin fahren wir, Bürger?" „Rue des Vieux Augustins." - „He?" fragte der Kutscher. „Wissen Monsieur auch ganz gewiss, dass Sie dahin fahren wollen?" - „Donnerwetter, ich werde doch wissen, wohin ich fahren will!" „Nun, in Gottes Namen, fahren wir", erwiderte der Kutscher. Nach etwa zwanzig Sekunden hielt der Wagen, der Kutscher stieg ab und öffnete den Wagenschlag. „Nun, was gibt's denn?" fragte ich. -- „Was es gibt? Wir sind an Ort und Stelle, Bürger. Rue des Vieux Augustins." Ich erkannte sogleich das Hotel. Nun begriff ich erst das Staunen des Kutschers, als er einen nichts weniger als schwächlichen, zwanzigjährigen Rangen vom Palais-Royal-Platz hierher einen Fiaker mieten sah. Da ich mich jedoch durch das Geständnis, dass mir die Entfernung der beiden Orte voneinander unbekannt war, noch mehr lächerlich gemacht hätte, sagte ich mit fester Stimme: „Ganz recht. Was bin ich schuldig?" - „Ach, das werden Sie wohl selber wissen, Bürger." - Wenn ich's wüsste, würde ich nicht fragen." - „Nun, so geben Sie mir fünfzig Sous!" - „Was? Fünfzig Sous", rief ich ganz verzweifelt über die unnötige Ausgabe, die ich gemacht hatte. „Jawohl, Bürger, das ist die Taxe."
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..Fünfzig Sous vom Palais-Royal bis hierher?" „Ich habe Sie gleich darauf aufmerksam gemacht, dass Mitternacht bereits vorüber ist." - „Da, nehmen Sie", sagte ich. - „Und nicht , einmal ein kleines Trinkgeld, Bürger?" Ich hätte große Lust gehabt, den unverschämten Kerl zu erwürgen. Aber der sah so kräftig aus, dass ich mit Grund befürchten konnte, er würde eher mich erdrosseln. Ich klingelte, das Tor ging auf, und ich trat ein. Es wurmte mich über alle Maßen, dass ich mein Geld so verschleudert hatte, besonders weil selbst wenn Paillet gar nichts ausgegeben hätte - nur mehr 20 Franken 50 Centimes blieben. Paillet war in der Oper gewesen und hatte 8 Franken l0 Sous ausgegeben. Es blieben uns also noch 12 Franken. Wir sahen einander mit ziemlicher Besorgnis an. „Schau", sagte dann Paillet, „du hast Talma gesehen, ich habe die .Wunderlampe' gehört. Du sahst das Höchste, was du zu sehen wünschtest. Ich hörte das Höchste, was ich zu hören wünschte. Wenn du mir folgen willst, so reisen wir statt übermorgen schon morgen ab." „.Das wollte ich dir gerade vorschlagen." ,.Nun, so lass uns keine Zeit verlieren! Es ist ein Uhr morgens. Schlafen wir noch ein wenig bis sechs Uhr. Machen wir uns um sieben Uhr auf den Weg, um womöglich in Nanteuil zu übernachten." Eine Viertelstunde später schliefen wir beide wie die Ratten. Am Morgen um acht Uhr hatten wir la Villette bereits hinter uns. Um drei Uhr aßen wir in Dammartin zu Mittag, waren abends in Nanteuil und zogen am Mittwoch um ein Uhr mit zwei Hasen, sechs Rebhühnern - dem Rest vom Ertrag unserer Jagd - in Crepy ein, wo wir unsere letzten 20 Sous einem Armen schenkten. Am Marktplatz trennten wir uns. Ich ging durch die Allee in das Haus des Notars Lefevre und eilte in mein Zimmer, um mich umzukleiden. Durchs offene Fenster erkundige ich mich nun bei Pierre nach Herrn Lefevre. Er war in der Nacht angekommen. Ich schenkte mein Wildbret der Köchin, eilte in die Kanzlei und huschte an meinen Platz. Meine drei Kollegen saßen schon festgenagelt auf ihren Stühlen. Niemand richtete eine Frage an mich. Man glaubte, ich hätte einen meiner gewöhnlichen Ausflüge gemacht, der sich diesmal nur etwas über die gesetzlichen Grenzen hinaus erstreckte. Ich erkundigte mich, ob Maitre Lefevre nach mir gefragt habe. Er hatte in der Tat nach mir gefragt. Die Kollegen antworteten, sie wüssten es nicht, und damit war die Sache erledigt. Ich nahm meine Akten aus dem Pult und begann zu arbeiten. Bald darauf erschien der Notar. Er erteilte dem ersten Schreiber einige Aufträge und kehrte dann nach seinem Kabinett zurück, als ob er meine Anwesenheit nicht bemerkt hätte, was mich mit Recht vermuten ließ, dass er meine Abwesenheit nur zu sehr bemerkt habe. Die Mittagsstunde war gekommen. Wir setzten uns zu Tisch - alles ging seinen gewöhnlichen Gang. Als ich jedoch nach dem Essen aufstehen
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und mich entfernen wollte, sagte Maitre Lefevre: „Herr Dumas, ich hätte ein Wort mit Ihnen zu sprechen.“ Ich merkte sogleich, dass das Gewitter heranzog und nahm mir vor, fest standzuhalten „Ich stehe zu Diensten", antwortete ich . Lefevre wies auf einen Stuhl, der an der anderen Seite des Kamins seinem Sessel gegenüberstand. Ich setzte mich. „Herr Dumas" - dabei kratzte er sich mit der linken Hand am rechten Bein, was er ungemein gern tat _, „Herr Dumas, verstehen Sie etwas von Mechanik?" „In der Theorie - nein. In der Praxis - ja.“. Nun gut. Das genügt, um meine Beweisführung zu, verstehen." „Ich höre, Herr Notar." - „Herr Dumas - wenn eine Maschine in regelmäßigem Gang bleiben soll, darf keines ihrer Räder still stehen. Nicht wahr?“ - „Nun, sehen Sie, Herr Dumas, dann brauche ich Ihnen wohl nicht mehr zu sagen. Ich bin der Mechaniker. Sie sind ein Rad an der Maschine. Sie hat zwei Tage stillgestanden. Es hat also zwei Tage hindurch Ihre persönliche Mitarbeit in der allgemeinen Bewegung gefehlt.“ Ich stand auf. „Übrigens“, setzte er in einem weit weniger dogmatischen Ton hinzu, soll das nur eine vorläufige Mahnung sein.“ „Sie sind sehr gütig, Herr Notar, aber ich nehme diese Mahnung für endgültig an.“ „Noch besser", entgegnete Herr Lefevre, „ es ist aber schon sieben und das Wetter ist schlecht. Es wird dunkel. Bleiben Sie daher noch da, lieber Dumas. Da Sie nicht mehr Schreiber bei mir sind, betrachte ich Sie als Freund des Hauses. Je länger Sie bleiben, desto mehr wird es mich freuen.“ Ich empfahl mich höflich und ging in mein Stübchen. Ein großer Entschluss war gefasst. Ich sah ein, dass es für mich nur eine Zukunft in Paris gebe und nahm mir vor, sobald als möglich die Provinz zu verlassen. Tausend Gedanken bestürmten mich die halbe Nacht hindurch, und als ich einschlief, war mein Plan fertig. Am anderen Tag schnürte ich mein kleines Bündel und machte mich auf den Weg. Ich muss gestehen, dass ich ziemlich unruhig war, nicht etwa über die Art, wie meine Mutter mich empfangen würde - die arme Mutter, die erste Regung ihres Herzens, wenn sie mich wiedersah war stets Freude -, wohl aber über den Schmerz, den ihr meine Entlassung verursachen musste.Je mehr ich mich Villers-Cotterets näherte, desto langsamer wurde mein Gang. Gewöhnlich legte ich die zwei Meilen zwischen Villers-Cotterets und Crepy in zwei Stunden zurück, denn wenn ich an die letzte Meile kam, ging ich nicht mehr, sondern lief. Diesmal war es gerade umgekehrt. Die letzte Meile war mir auch die längste. Unterwegs wollte ich jagen, wie ich dies
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gewöhnlich tat. In einer Entfernung von dreihundert Schritt witterte mein Hund schon die Nähe des Hauses. Er stand einen Augenblick still, streckte dann die Schnauze empor und schoss wie ein Pfeil davon. Fünf Sekunden später, nachdem er in der Allee verschwunden war, sah ich auch schon meine Mutter am Haustor erscheinen. Der Bote, der mir vorangeeilt war, hatte ihr meine Ankunft gemeldet.Sie kam mit ihrem gewöhnlichen Lächeln. Sobald ich mich nur näherte, ging all die Zärtlichkeit ihres Herzens auf und blühte auf Ihrem Antlitz. Ich stürzte in ihre Arme.O Mutterliebe, ewig währt deine Güte, Hingabe und Treue! Du bist der einzige, echte Diamant unter all den falschen Steinen, mit denen die Jugend ihr Glück ausschmückt, klar und rein, leuchtend und strahlend in Freud und Leid, bei Tag und Nacht! Die ersten Augenblicke gehörten ganz der Freude des Wiedersehens. Endlich fragte mich meine Mutter, weshalb ich diesmal schon Donnerstag komme und nicht erst Samstag wie sonst. Ich getraute mich nicht, ihr zu erzählen, was vorgefallen war. Ich sagte ihr daher nur, dass die Geschäfte in der Kanzlei sich im Augenblick etwas vermindert hätten, dass ich daher auf einige Tage Urlaub erhielt, den ich nun bei ihr zubringen wollte. Abschied von der Heimat Obwohl ich meiner Mutter gesagt hatte, dass meine Rückkehr nur vorübergehend sei, schien sie doch zu vermuten, dass etwas anderes dahinter stecken müsse. Diese Ahnung wurde zur Gewissheit, als sie auch den Dienstag vergehen sah, ohne dass ich eine Miene machte, nach Crepy zurückzukehren. Dennoch erinnerte die arme Mutter mich nicht mit einer Silbe an die Rückkehr! Es hatte sie ein so großes Opfer gekostet, mich von sich zu lassen, dass sie mir nun, da mich der Himmel wieder zu ihr zurückführte, mit mütterlicher Liebe Haus und Herz öffnete. Übrigens hegte ich noch immer allerlei Hoffnungen. Adolf versprach mir, dafür zu sorgen, dass sich jemand beim Bankier Laffitte für mich vorwende. Würde ich eine Anstellung in der Bank erhalten, wo von zehn bis vier Uhr gearbeitet wurde, so blieben uns doch die Morgen und Abendstunden für unsere schriftstellerische Tätigkeit. Und wäre selbst keine Zeit, so hätte ich mir schon welche zu verschaffen gewusst. Die Hauptsache war, dass mein künftiger Chef in Paris war und dass mir vor allem daran gelegen war, mein armseliges Lichtlein an der großen, blendenden Sonne anzuzünden, die mit ihrem Strahlenglanz eine Welt erleuchtete. Vierzehn Tage nach meiner Rückkehr von Crepy erhielt ich einen Brief von Adolf. Die Fürsprache war vergebens gewesen, das Kontor Lafittes mit Beamten überfüllt. Es hieß sogar, die Zahl der Angestellten sollte verringert werden. Nun war ich fest entschlossen, den Plan zu verwirklichen, den ich mir während der letzten schlaflosen Nacht bei Lefevre entworfen hatte. Dieser Plan war im übrigen sehr einfach, und gerade deshalb zweifelte ich nicht an seinem Gelingen.
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Ich suchte aus den Papieren meines Vaters ein Dutzend Briefe von Jourdan, Victor, Sebastiani und anderen Marschällen und Generalen, die noch am Leben waren und mit denen mein Vater einst in Verbindung gestanden hatte. Dazu wollte ich noch eine kleine Summe Bargeld aufbringen, und damit nach Paris reisen, und die ehemaligen Freunde meines Vaters bitten, sich für mich einzusetzen, und es müsste doch rein mit dem Teufel zugehen, wenn vier oder fünf Marschälle von Frankreich, wovon der eine auch noch Kriegsminister war, durch ihren vereinten Einfluss dem Sohn eines ehemaligen Waffengefährten nicht eine Anstellung mit zwölfhundert Franken im Jahr verschaffen könnten. Der Augenblick, der meine Mutter zu einem festen Entschluss zwingen sollte, rückte immer näher. Sie hatte auf unsere dreißig Morgen Land, die an Herrn Gilbert von Soucy verpachtet waren, und auf das Haus, das uns Herr Harlay endlich räumte, so viele Schulden gemacht, dass die Darlehen dem Wert des Hauses und der Grundstücke beinahe völlig gleichkamen. Wir mussten uns nun entschließen, alles zu verkaufen. Die dreißig Morgen Land wurden versteigert und brachten 33 000 Franken ein. Das Haus wurde unter der Hand um 12000 Franken an Herrn Picot verkauft, der mich zuerst in die Geheimnisse des edlen Weidwerks eingeweiht hatte. Alles zusammen brachte 45 000 Franken. Nachdem alle Schulden bezahlt und alle Kosten und Gebühren berichtigt waren, blieben meiner Mutter noch 253 Franken. Zinsen - werden vielleicht einige optimistische Leser meinen: nein, lieber Leser, diese 253 Franken waren unser Kapital. Da wird man wohl begreifen, wie niedergeschlagen meine arme Mutter war, als sie ein solches Ergebnis vor Augen hatte. Und in der Tat waren wir dem Elend noch nie so nahe gestanden, wie in diesem Augenblick. Meine Mutter verlor nun allen Mut. Was mich betrifft, so war ich nie so heiter und zuversichtlich gewesen. Eines Morgens sagte ich zu meiner Mutter: „Hast du etwas an Herrn Danre zu bestellen?" „Was willst du denn bei Herrn Danre?" „Ich will ihn um ein Empfehlungsschreiben an General Foy bitten." Meine Mutter fragte sich, wer mir diese Gedanken eingebe, die alle auf ein Ziel gerichtet waren. Danre war ein alter Freund meines Vaters, der sich einst, als er sich auf der Jagd die linke Hand verstümmelte, in unser Haus bringen ließ. Dort hatte ihm Doktor Lecosse den Daumen geschickt amputiert, und da meine Mutter ihn während des Fiebers, das auf die Operation folgte, mit aller Sorgfalt pflegte, trug er uns - meine Mutter, meine Schwester und mich - sein ganzes Leben lang im Herzen. Er nahm mich daher stets mit der größten Freundlichkeit auf, mochte ich nun in Angelegenheiten des Notars Mennesson, solange ich noch bei diesem war oder in meiner
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eigenen Angelegenheit kommen. Diesmal kam ich in meiner eigenen Sache. Ich setzte ihm die Veranlassung meines Besuches auseinander. Als General Foy als Kandidat für die Deputiertenkammer auftrat, waren die Wähler für ihn nicht günstig gestimmt, aber Danre unterstützte seine Kandidatur und besaß in seinem Departement so viel Einfluss, dass General Foy gewählt wurde. Im Jahre 1823 erreichte General Foy den Gipfelpunkt seiner Popularität und gab von der Höhe, die er erklommen hatte, seinem Freund Danre von Zeit zu Zeit ein Lebenszeichen, das dem schlichten Pächter ein Beweis seiner Zuneigung und Erkenntlichkeit sein sollte. Danre gab mir daher anstandslos das verlangte Empfehlungsschreiben. Er sah wohl ein, wie dringend ich dessen bedurfte. Nachdem der Brief geschrieben und gesiegelt war, erkundigte sich Danre, wie es mit meinen Finanzen stehe. Ich sprach mich darüber ganz offen aus und erzählte ihm auch, auf welche Weise ich eine kleine Barschaft aufgetrieben hätte. „Meiner Treu", sagte Danre, „ich hätte wohl große Lust, dir meine Börse anzubieten, aber ich würde dadurch deine Pläne geradezu durchkreuzen. Wenn man einmal soweit ist, geht man nicht mehr zugrunde. Du wirst auch mit deinen 50 Franken fortkommen, und ich will dir nicht das freudige Bewusstsein rauben, dass du alles nur dir selber zu verdanken hast. So gehe denn in Frieden und Zuversicht. Und wenn du mich wirklich brauchst, so schreibe an mich. Ich stehe dir jederzeit zur Verfügung." „Sie haben also wirklich Hoffnung für mich?" fragte ich. „Jawohl, und noch dazu sehr viel Hoffnung." „Kommen Sie Donnerstag nach Villers-Cotterets?" Am Donnerstag war bei uns Wochenmarkt. „Ja, warum?" -- „Dann würde ich Sie bitten, diese Hoffnung auch in Gegenwart meiner Mutter auszusprechen, sie hält sehr viel auf sie, und da die Leute ihr immerfort vorreden, dass aus mir nie etwas würde . . ." ,.Daran ist eben nur so viel wahr, dass du bisher noch nichts Großes geleistet hast." „Weil man mich mit aller Gewalt in eine Bahn hineindrängte, die nicht die meine war. Aber Sie sollen sehen, lieber Herr Danre, wenn man mich nur ungehindert auf jenes Ziel zuschreiten lässt, für das ich bestimmt bin, dann wird schon noch etwas Rechtes aus mir werden.“ „Das glaube ich selber und will auch deiner Mutter gegenüber dafür einstehen.“ - „Das können Sie auch mit gutem Gewissen. Ich bürge Ihnen dafür." Zwei Tage darauf kam Herr Danre, wie verabredet, nach Villers-Cotterets und besuchte meine Mutter. Ich lauerte auf seine Ankunft. Als das Gespräch schon im Gang war, kam ich hinzu. Meine Mutter weinte, aber sie schien gefasst. Als sie mich erblickte, streckte sie mir die Hände entgegen. „So, du bist also entschlossen, mich zu verlassen?“ - „Es muss sein, liebe Mutter, aber wenn wir auch scheiden müssen;
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sei getrost, die Trennung wird nicht lange dauern." - „Ach, ja, denn deine Pläne werden scheitern und du wirst wieder nach Villers-Cotterets zurückkehren müssen." - „Nein, Mutter, nein. Ich werde durchhalten und dich nach Paris mitnehmen." - „Und wann willst du abreisen?" - „Höre mich an, Mütterchen. Wenn man einen großen Entschluss fasst, muss man ihn auch so schnell wie möglich ausführen. Frage nur Herrn Danre." „Ja, frage nur Herrn Danre. Ich weiß nicht, warum Herr Danre dir so die Stange hält. Ich weiß nur, dass . . . " „Dass Herr Danre ein kluger Mann ist, liebe Mutter. Er weiß, dass jedes Ding, um seinem Zweck zu entsprechen, sich in jenem Kreis bewegen muss, den ihm die Natur bestimmt hat. Ich würde ein schlechter Notar, Advokat, Gerichtsschreiber und ein ebenso erbärmlicher Steuer einnehmer werden. Darum meine ich, es müsse aus mir etwas weit Besseres werden." „Was denn, du unglückliches Kind?"„Ich schwöre dir, dass ich das selber noch nicht weiß. Aber du erinnerst dich wohl noch dessen, was uns die Wahrsagerin prophezeit hat?" Meine Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus. „Was hat sie denn prophezeit?" fragte Danre. „Ich erinnere mich noch an jedes ihrer Worte: ,Ich kann Ihnen nicht sagen, Madame' - so sprach sie -, was aus Ihrem Sohn wird, aber ich sehe ihn durch Wolken und Blitze, gleich dem Wanderer, der am Saum hoher Berge schreitet, eine Höhe erklimmen, die nur wenigen Menschen zu erreichen vergönnt ist. Ich will nicht sagen, dass er Völkern gebieten wird, aber ich höre ihn mit gewaltiger Stimme zu ihnen sprechen. Ich kann Ihnen über das Leben Ihres Sohnes nichts Bestimmtes sagen, aber er gehört zu jenen Menschen, die wir Auserlesene nennen.' - ,Dann wird mein Sohn am Ende gar ein König?` fragte meine Mutter lachend. - Das nicht, aber etwas Ähnliches, vielleicht noch Beneidenswerteres. Nicht alle Könige haben eine Krone auf dem Haupt und ein Zepter in der Hand.' - ,Desto besser', entgegnete meine Mutter scherzhaft, ich habe Madame Bonaparte nie um ihr Los beneidet.` - Zur Zeit, als mir dieses Horoskop gestellt wurde, Herr Danre, war ich fünf Jahre alt. Ich habe alles mit angehört und will mich bemühen, die Prophezeiungen der Zigeunerin zu rechtfertigen. Sie wissen wohl, dass Prophezeiungen meist deshalb in Erfüllung gehen müssen, weil sie im Geist derer, die sie betreffen, einen bestimmten festen Willen erzeugen, der auf die Ereignisse Einfluss hat, die Verhältnisse umgestaltet, und uns endlich an das Ziel gelangen lässt, weil wir es im Auge gehabt haben, während wir ohne jene Prophezeiung gedankenlos daran vorübergegangen wären." „Jetzt bitte ich Sie, um alles in der Welt“, rief meine Mutter erstaunt, „wo nimmt denn der Bursche das alles her, was er da sagt?" „Ei der Tausend! Es ist eben seine Überzeugung", entgegnete Danre. „Sie sind also auch der Ansicht, dass er gehen soll?" - „Unbedingt."
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„Aber der arme Teufel! Wissen Sie auch, wie's mit seinen Finanzen bestellt ist?" - „Er hat 5 0 F ranken und freie Fahrt nach Paris." - „Da, sehen Sie!" - „Das ist genug, wenn er die Berufung wirklich hat, die er zu haben vermeint. Hat er sie nicht, würde er auch mit einer Million nicht ans Ziel gelangen." „Nun, in Gottes Namen. Wenn er es durchaus will, so möge er denn ehen."„Höre mich an, liebe Mutter. Ich bleibe noch heute morgen und Samstag den ganzen Tag über bei dir.Samstag Abend reise ich mit dem Wagen, der um zehn Uhr abfährt, nach Paris und treffe dort um fünf Uhr morgens ein. - Das ist noch immer früh genug, um Adolf sprechen zu können, ehe er ausgegangen ist."„Ach ja", rief meine Mutter seufzend, „er ist an allem Unheil schuld."Ich nahm mir diesen Seufzer nicht sehr zu Herzen, weil ich fest überzeugt war, dass ich mein gegebenes Versprechen getreulich erfüllen werde, und so begann ich denn die Reihe meiner Abschiedsbesuche. Adele hatte ich seit ihrer Vermählung nicht mehr gesehen, schreiben wollte ich ihr nicht. Der Brief konnte ihrem Gatten in die Hände fallen und ihr Unannehmlichkeiten bereiten. Ich eilte also zu unserer gemeinschaftlichen Freundin Luise Brezette.Ach, das arme Kind schwamm in Tränen ... Nachdem ihr Freund Chollet seine Studien in der Forstkunde beendet hatte, musste er wieder zu seinen Eltern zurückkehren und trug all die süßen ersten Liebesträume des Mädchens mit sich fort. Sie war allein und trostlos zurückgeblieben. Ihr ganzes Leben lang, sagte sie, würde sie ihren Geliebten beweinen und um ihre so früh erstorbene Liebe trauern.Ich erinnerte sie an das Beispiel Adeles und forderte sie zur Nachahmung auf. Ich glaube ... ich glaube sehr, dass sie es wirklich nachahmte und dass ich selber ein gut Teil Schuld daran trug.Nachdem ich von Luise Abschied genommen hatte, ging ich zu Mennesson, mit dem ich noch immer auf gutem Fuß stand.Er hatte sich unterdessen vermählt, und es schien mir, als wäre er seit seiner Verehelichung nur noch misstrauischer und ungläubiger geworden..E r g a b mir zum Abschied den guten Rat: „Traue den Pfaffen nicht, verabscheue die Bourbonen und erinnere dich stets daran, dass die, einzig würdige Regierungsform für ein großes Volk die Republik ist." Dann ging ich zum Abbe Gregoire und umarmte ihn.Z w e i Tage darauf, nachdem ich noch meinen letzten Besuch auf d e m Kirchhof abgestattet hatte - ein frommer Gang, den meine
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Mutter täglich machte, und auf dem ich sie diesmal begleitete -, traten wir den Weg nach demGasthof „Zur goldenen Kugel" an, wo mich der nach Paris fahrende Wagen aufnehmen sollte.Um halb zehn Uhr hörten wir die Räder rollen. Wir durften nur noch eine halbe Stunde beisammen bleiben, ich und meine Mutter . . . Wi r z o g e n u n s in ein Zimmer zurück, wo wir allein waren, und weinten, aber w i r weinten aus ganz entgegengesetzten Gründen. Meine Mutter weinte, weil ihr bange Zweifel das Herz abdrückten, aber ich weinte, weil mir die Brust von freudiger Hoffnung schwoll. Wir haben Gott nicht gesehen, aber er schwebte in diesem Augenblick sicherlich über uns und lächelte milde auf uns herab . . .Auf Stellungsuche in Paris umm fünf Uhr morgens stieg ich in der Rue du Bouloy Nr. 9 in Paris ab.Ich fand mich alsbald zurecht und erkannte, dass ich mich in der Nähe der Rue des Vieux Augustins befand. Dann rang ich siegreich mit zwei oder drei Lastträgern um mein kleines Ränzlein und stand um halb sechs vor dem alten Augustinerhotel. Nun war ich zu Hause.Der Kellner erkannte in mir sogleich den Reisenden mit den Hasen und den Rebhühnern und führte mich, da der Wirt noch nicht auf gestanden war, in dasselbe Zimmer, das ich während meines letzten Aufenthaltes in Paris bewohnt hatte. Das Dringendste, was ich zu tun hatte, war - zu schlafen. Die Strapazen der Reise und das wache Träumen in der Diligence hatten mich an Körper und Geist matt und müde gemacht.Ich trug dem Kellner auf, mich um neun Uhr zu wecken, wenn ich bis dahin kein Lebenszeichen gegeben hätte. Ich kannte meinen Adolf als einen der größten Langschläfer und wusste, dass ich mich nicht zu beeilen brauchte, um ihn noch zu Hause zu treffen.Als jedoch um neun der Wirt in höchst eigner Person an meine Tür pochte, war ich schon wach und völlig angekleidet. Der Schlaf wollte sich diesmal nicht recht einstellen.Es war Sonntag. Unter den Bourbonen sah Paris am Sonntag sehr traurig aus. Strenge Ordonnanzen befahlen, an diesem Tag alle Läden geschlossen zu halten, und wer dagegen handelte, beging ein Verbrechen gegen die Religion und gegen die Majestät des Königs. Ich ging durch die toten Gassen bis zur Rue du Mont-Blanc, von da kam ich in die Rue Pigalle Nr. 14. Herr von Leuven ging, seiner Gewohnheit gemäß, im Garten spazieren. Es war anfangs Mai, und er besichtigte die aufblühenden Röschen. Als ich eintrat, wandte er sich zu mir. „Ah, sind Sie es?" rief er mir entgegen, „warum haben Sie sich denn so lange nicht sehen lassen?" - „Weil ich seitdem wieder nach Villers-Cotterets zurückgekehrt war." - „Und jetzt sind Sie wieder da?" „Wie Sie sehen. - Ich komme, um zum letztenmal mein Glück zu versuchen. Diesmal muss ich Ihnen schon auf dem Hals bleiben." - „Bleiben Sie immerhin bei uns, mein Lieber. Wir haben hier,
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die Gemeinschaft der Weiber und die Anwesenheit der Poeten abgerechnet, eine Art platonische Republik. Einer mehr oder weniger in dieser Republik, das spürt man nicht. Da oben wird sich schon noch irgendein freies Dachstübchen finden. Sie müssen das mit den Ratten ausmachen, aber ich zweifle nicht, dass Sie Sieger bleiben. Gehen Sie gleich zu Adolf und machen Sie alles mit ihm aus."Herr von Leuven schrieb damals für den „Courrier Francais" über die Außenpolitik. Er war sozusagen auf den Knien der nordischen Könige und Königinnen aufgewachsen, kannte ihre Sprachen und ihre Sitten und wusste alles, was man von der Politik der fremden Höfe überhaupt wissen durfte. Er war daher mit dem Ressort, das er in der Redaktion leitete, vollkommen vertraut. Er stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, erhielt um sechs Uhr die Zeitungen und war bis gegen acht mit seiner Arbeit für den „Courrier" fertig. Er war also mit seinem Tagewerk meist schon fertig, wenn Adolf das seine begann.Auch diesmal traf ich Adolf noch im Bett, was ich ihm jedoch verzieh, da er mir versicherte, er habe bis zwei Uhr an einem Zweiakter: „Das arme Mädchen", gearbeitet. In fünf Tagen hoffte er, das Stück für die Leseprobe fertig zu haben. „Ach, du lieber Gott", dachte ich, „wann werde ich auch so weit sein?" Der Herzog von Belluno war noch immer Kriegsminister. Das war alles, was ich brauchte. Ich besaß ein Schreiben des Herzogs, worin er meinem Vater für einen ihm in Italien geleisteten Dienst seinen Dank ausspricht und - für den Fall, dass er je in die Lage käme, diese Gefälligkeit erwidern zu können - sich meinem Vater ganz zur Verfügung stellt. Der Herzog war nun wirklich in der Lage, jene Gefälligkeit, wohl nicht dem Vater, aber doch dem Sohn entgelten zu können. Ich bat Adolf um Feder und Tinte und schrieb nun, so schön ich nur konnte, ein Audienzgesuch an den Kriegsminister. Adolf meinte sehr richtig, es wäre zweckmäßig, wenn ich mich für alle Fälle gleich noch an andere Kameraden meines Vaters wenden würde. Ich war damals noch sehr einfältig und ein richtiger Provinzler. Ach, vielleicht bin ich es heute noch viel mehr als damals! Unterdessen hatte mich Adolfs Zweifel doch stutzig gemacht. Ich beschloss daher, nicht erst die Antwort des Marschalls Victor abzuwarten, sondern meine übrigen Protektoren aufzusuchen. Schon am nächsten Morgen ging ich zum Marschall Jourdan. Ich ließ mich unter dem Namen Alexander Dumas anmelden. Der Marschall war überrascht. Er glaubte offenbar, die Nachricht vom Tode meines Vaters sei falsch gewesen, und er sei noch am Leben. Als er aber mich erblickte, änderte sich plötzlich seine Miene. Er erinnerte sich zwar noch, dass es einmal einen General Alexander Dumas gab. Ich tat zwar alles, um meine Identität zu beweisen, doch fertigte er mich kurz und ungläubig ab. Das war ein wenig ermutigender Anfang. Von Jourdan ging ich zum Marschall Sebastiani. Er empfing mich in einem großen Zimmer, wo in jeder Ecke einer seiner vier Sekretäre arbeitete. Jeder hatte auf seinem Schreibtisch außer Papier, Feder und Federmesser auch eine goldene
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Tabakdose, die er dem General geöffnet hinhielt, wenn dieser im Auf- und Abgehen vor seinem Tisch stehenblieb. Mein Besuch war sehr kurz. So sehr ich den General achtete, so war ich doch nicht im mindesten gewillt, mich zum Tabakaufwärter herzugeben. Ich kehrte ziemlich verstimmt in mein Hotel in der Rue des Vieux-Augustins zurück. Die beiden ersten Männer, an die ich mich wandte, hatten meine goldenen Träume grausam zerstört. Auch der Herzog von Belluno hatte noch nicht geantwortet. Meine frohe Zuversicht schwand allmählich. Ich blätterte mechanisch im Adressbuch, ohne zu wissen, was ich sah und las. Da fiel mein Blick plötzlich auf einen Namen, den meine Mutter oft mit großer Anerkennung genannt hatte. Es war der General Verdier, der unter meinem Vater in Ägypten gedient hatte. Er wohnte Rue du Faubourg Montmartre 6. Zehn Minuten später fragte ich den Portier des Hauses nach ihm. „Vierter Stock, die kleine Tür links." Ich ließ mir die Antwort wiederholen, denn ich glaubte, falsch gehört zu haben.Jourdan und Sebastiani bewohnten wundervolle Paläste in vornehmsten Vierteln - warum hauste der General Verdier in der vierten Etage eines Mietshauses in der armseligen Straße des Montmartre? „Ei der Tausend", murmelte ich, die Treppe emporklimmend, vor mich hin, „da ist doch keine Spur von den Lakaien des Marschalls Jourdan oder von den Schweizern des Marschalls Sebastiani zu sehen. General Verdier wohnt im vierten Stock, links die kleine Tür.` Ich stieg die Treppe hinauf und fand die kleine Tür, an der ein bescheidener grüner Glockenzug hing.Als ich klingelte, begann mir das Herz hörbar zu klopfen. Dieser dritte Versuch sollte für mein Urteil über die Menschen entscheidend sein. Ich hörte Schritte nahen, und die Tür ging auf. Ein Mann von etwa sechzig Jahren stand vor mir. Er trug eine Astrachanmütze, eine grüne Weste und weiße Kniehosen. In der Hand hielt er eine Malerpalette und einen Pinsel. Ich sah mich nach den anderen Türen um. „Verzeihung, mein Herr, aber ich glaube, ich bin fehlgegangen." - „Zu wem wollen Sie denn?" fragte der Mann mit der Palette. - „Zum General Verdier." - „Dann kommen Sie nur herein, der bin ich." Er führte mich in ein Atelier. „Sie entschuldigen schon", sagte der Maler, indem er sich wieder an ein Schlachtengemälde wandte, in dessen Ausführung ich ihn unterbrochen hatte. „Recht gern, mein Herr, nur wollen Sie mir noch sagen, wo ich den General finde?" Der Maler wandte sich um. „Den General? Welchen General?" - „Den General Verdier." - „Aber zum Donnerwetter, der bin doch ich!" „Sie?" fragte ich und sah den Maler so erstaunt an, dass er laut zu lachen anfing. „Sie wundern sich gewiss, weil ich den Pinsel so schlecht führe, während ich früher den Säbel besser schwang? Sehen Sie, ich kann eigentlich selber nichts dafür. Ich habe nun einmal eine
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unruhige Hand, sie will immer beschäftigt sein ... Doch da Sie nach alldem, was ich gehört habe, nicht den Maler zu suchen scheinen, so sagen Sie mir bitte, was Sie vom General wünschen." „Ich bin der Sohn des Generals Dumas, seines ehemaligen Waffengefährten in Ägypten." Er wandte sich lebhaft nach mir um und sah mich starr an. „Donnerwetter! Sie sind ihm wirklich aus dem Gesicht geschnitten." In seinen Augen glänzten Tränen. Er warf den Pinsel weg und reichte mir die Hand, die ich lieber geküsst als gedrückt hätte. „Ach, Sie erinnern sich also seiner noch?" ,.Das will ich meinen. Er war der tapferste und schönste Mann in der Armee. Ein wahres Modell für einen Maler. Und was führt Sie nach Paris, mein Lieber? Wenn ich mich recht erinnere, wohnten Sie mit Ihrer Frau Mutter in einem Dorf oder Städtchen." „Ganz recht, Herr General, aber meine Mutter wird alt und wir sind arm." - „Ach ja, davon weiß ich auch ein Liedchen zu singen." - „So bin ich denn nach Paris gekommen, um eine kleine Anstellung zu suchen und meine Mutter zu ernähren, wie sie mich bisher ernährt hat.“ „Daran hast du recht getan, Aber eine Anstellung, so klein sie auch sein mag, ist heutzutage, besonders für den Sohn eines republikanischen Generals, nicht so leicht zu bekommen. Ja, wenn du der Sohn eines Emigranten oder eines Chouan wärest, wenn dein Vater in der russischen oder österreichischen Armee gedient hätte, dann hättest du allerdings Aussichten." „Zum Teufel, General, Sie machen mir Angst. Und ich hatte auf Ihre Protektion gerechnet." „Auf was?" fragte Verdier. „Auf meine Protektion?" Er lächelte traurig und schüttelte den Kopf. „Mein armer Junge", fuhr er fort, „wenn du Unterricht im Malen nehmen willst, kann ich etwas für dich tun, aber selbst da würdest du kein großer Künstler werden, wenn du nicht deinen Meister überflügelst. Aber meine Protektion! Auf Ehre, ich danke dir für das Kompliment." „Verzeihung, General, ich verstehe Sie nicht." Weißt du denn nicht, dass mich das Bettelpack, was weiß ich wegen welcher Verschwörung mit Dermoncourt, in den Ruhestand versetzt hat, so dass ich jetzt Bilder malen muss, wie du siehst. Wenn du vielleicht ein Gleiches tun willst, da hast du Pinsel, Palette und Leinwand.“ Ich danke Ihnen, General. Aber dazu habe ich zuwenig Talent. Überdies würde auch die Lehrzeit zu lange dauern, und meine Mutter und ich können leider nicht warten." Ja, zum Kuckuck, was willst du dann von mir, mein Lieber? Du kennst doch das Sprichwort: ,Wer mehr gibt als er hat, ist ein Spitzbube` ... Doch Verzeihung, ich habe geirrt. Ich habe ja noch die Hälfte meiner Barschaft - der ganze Bettel ist freilich nicht der Rede wert.“
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Er schloss die Schublade eines kleinen Schreibtisches auf, in der, soweit ich mich erinnere, zwei Goldstücke und 4 0 Franken in Silber lagen. „Da, da nimm", sagte er, „es ist der Rest meiner vierteljährlichen Pension." „Herzlichen Dank, General, aber ich bin beinahe ebenso reich wie Sie." Wieder standen mir die Tränen in den Augen. „Ich danke Ihnen herzlichst, General", fuhr ich fort, „und bitte Sie nur, bei den Schritten, die ich noch weiter zu tun gedenke, mir mit gutem Rat an die Hand zu gehen." - „Was hast du schon getan?" - „Ich war heute schon bei Jourdan und Sebastiani. Ich habe mich gleich diesen Morgen auf die Beine gemacht." - „Na und?" - „Außerdem schrieb ich auch noch an den Kriegsminister." - „Und hat er dir geantwortet?" - „Bis jetzt noch nicht, aber ich hoffe, er wird noch antworten." Der General, der eben einen Kosaken malte, verzerrte höhnisch das Gesicht, als wollte er sagen: Wenn du auf nichts Besseres hoffst . . .' Ich erriet seine Gedanken. „Ich habe auch noch", fügte ich hinzu, „ein Empfehlungsschreiben an den General Foy, den Abgeordneten meines Departements." „Nun, mein lieber Sohn, da du vielleicht viel Zeit, gewiss aber sehr wenig Geld hast, so rate ich dir, nicht erst die Antwort des Kriegsministers abzuwarten. Morgen ist Dienstag, daher Kammersitzung. Stelle dich zeitig beim General Foy ein - du wirst ihn wahrscheinlich bei der Arbeit finden. Er stochert ebenso unermüdlich drauflos wie ich, nur dass er Besseres leistet. Sei unbesorgt, er wird dich gut aufnehmen." - „Glauben Sie?" - - „Ich bin dessen gewiss." „Gehofft habe ich es auch, denn ich habe ein Schreiben an ihn . . ." - „Er wird dich jedenfalls gut aufnehmen, teils um dieses Schreibens, aber noch mehr um deines Vaters willen, obwohl er ihn nicht persönlich gekannt hat. Und nun, willst du heute mit mir speisen? Wir werden von Ägypten plaudern, Oh, da ging es verdammt heiß zu." „Mit Vergnügen, General, wann speisen Sie?"„Um sechs ... Jetzt mache noch einen Spaziergang über die Boulevards, unterdessen bin ich mit meinem Kosaken fertig, und um sechs sehen wir uns wieder."Ich nahm vom General Abschied und stieg die vier Treppen mit leichterem Herzen hinunter als ich sie hinaufgestiegen war. Nach und nach begannen mir die Menschen und die Dinge in ihrem wahren Licht zu erscheinen, und die Welt, die ich bisher nur durch den Nebelschleier der Täuschung gesehen hatte, trat in ihrer nackten Wirklichkeit vor mich hin, wie Gott und der Teufel sie im Guten oder Bösen geschaffen hatten. Ich erzählte Adolf meine Erlebnisse. „Mach nur so weiter", sagte er. „wenn deine Geschichte so endet, wie sie angefangen hat, dann kannst du ein Lustspiel daraus machen." Adolf hatte von Lucian Arnault zwei Sperrsitze fürs Theatre Francaise erhalten, wo heute sein „Regulus" aufgeführt wurde. Er selbst hatte
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keine Zeit hinzugehen, und so konnte ich nun dem General Verdier sein Mittagessen mit einer Theaterkarte vergüten. Um sechs Uhr ging ich zu Verdier, der mich in seiner Wohnung erwartete. Ich zeigte ihm die beiden Karten und lud ihn ein, mit mir zu gehen. „Nun, meiner Treu", antwortete er, „ich sage nicht nein. Ich kann mir nur selten den Luxus gönnen, ein Schauspiel und gar erst Talma zu sehen ... Du hast also Bekanntschaft mit Dichtern?" - „Ja, ich kenne Arnault. Und dann muss ich Ihnen aufrichtig gestehen, General, dass ich hauptsächlich deshalb in Paris bleiben möchte, um mich mit Literatur zu beschäftigen." „Schön. Nur rechne nicht darauf, von der Schriftstellerei leben zu können. Du scheinst mir einen gesegneten Appetit zu haben, und bei der Schriftstellerei könnte es dir doch hier und da widerfahren, dass du mit leerem Magen zu Bett gehen musst.. . An solchen Tagen kommst du immer zu mir. Der Maler wird dann seine Brotkrumen mit dem Dichter teilen. Ut pictura poesis. Ich brauche dir wohl nicht zu erklären, was das heißt, denn ich setze voraus, dass du Lateinisch verstehst." - „Ein wenig, General." - „Nun, dann verstehst du noch immer mehr als ich. Doch nun wollen wir essen gehen." - „Speisen Sie denn nicht zu Hause?" -- „Wie, meinst du etwa, ich mit meinem Ruhegehalt sei reich genug, um mir eine Köchin zu halten? Ich esse gewöhnlich für 4 0 Sou im Palais-Royal. Heute wollen wir uns jedoch etwas Besonderes gönnen und sechs Franken ausgeben. Du siehst, dass du mir nicht teuer zu stehen kommst und brauchst dir keine Gewissensbisse zu machen." Wir begaben uns nach dem Palais-Royal, wo wir in der Tat für unsere sechs Franken oder vielmehr für die sechs Franken des Generals sehr gut speisten. Dann gingen wir in den „Regulus".General Verdier begleitete mich noch ein Stück. An der Rue Coquilliere trennten wir uns, er drückte mir die Hand und wünschte mir alles Gute.Am nächsten Morgen um zehn Uhr war ich beim General Foy. Er wohnte in der Rue du Mont-Blanc Nr. 6 4 . Ich wurde in sein Arbeitszimmer geführt.Um ihn, auf Stühlen, Sesseln und selbst am Boden lagen in scheinbarer Unordnung aufgeschlagene Bücher, Reden, Zeichnungen und Landkarten.General Foy war damals etwa achtundvierzig bis fünfzig Jahre alt. Er war mager, mehr klein als groß und hatte dünnes, angegrautes Haar, eine breite, gewölbte Stirn, Adlernase und fast gelbe Gesichtsfarbe. Den Kopf trug er stets hoch, er sprach kurz, und jede Geste war gebieterisch. „Alexander Dumas? Sind Sie etwa der Sohn des Generals, der die Alpenarmee befehligte?" - „Ja, Herr General." - „Man sagte mir, Bonaparte sei gegen ihn und seine Witwe sehr ungerecht gewesen." – „Er ließ uns im tiefsten Elend." - „Kann ich etwas für Sie tun?" „ I c h g e s t e h e Ihnen, Herr General, dass Sie meine einzige Hoffnung sind. Wollen Sie bitte vorerst von diesem Schreiben des Herrn Danre Kenntnis nehmen. Er war ein vertrauter
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Freund meines Vaters." - „Jawohl, ich erinnere mich. Er wohnt eine Meile von VillersCotterets, wo der General Dumas gestorben ist ... Nun, wie geht's denn dem lieben Danre?" „Er ist glücklich und stolz darauf, dass er zu Ihrer Erwählung etwas beitragen konnte." „Etwas? Sagen Sie lieber alles. Wissen Sie auch", indem er den Brief noch immer ungelesen in der Hand hielt, „dass er den Wählern mit seinem Kopf für den meinen, mit seiner Ehre für die meine eingestanden ist ... Die Leute haben mich nicht wählen wollen. Doch lassen Sie sehen, was er mir schreibt." „Aha", rief er aus, „er empfiehlt Sie mir nachdrücklich. Er muss Sie wohl sehr lieb haben?" „Wie ein Vater sein Kind, Herr General." - „Nun muss ich vor allem wissen, was Sie können!" „Ach, leider nicht viel. Ich bin mit meinen Ansprüchen sehr bescheiden." - „Etwas Mathematik?" - „Nein, Herr General." – „Nun, dann besitzen Sie doch wenigstens Kenntnisse in Algebra, Geometrie und Physik?" Der General hielt bei jedem Wort einen Augenblick inne, und bei jedem Wort fühlte ich mich immer tiefer erröten und den Angstschweiß in dichten Perlen von meiner Stirn rieseln. Es war das erste Mal, dass man mir meine Unwissenheit so vor Augen hielt. „Nein, General", antwortete ich stotternd, „ von alldem weiß ich nichts." - „Dann haben Sie wahrscheinlich die Rechte studiert." - „Nein, Herr General." - „Aber Lateinisch und Griechisch werden Sie verstehen?" - „Lateinisch - ein wenig. Griechisch - gar nichts." - „Eine lebende Sprache?" - „Italienisch." - „Sind Sie ein gewandter Rechner?" - Das am allerwenigsten." Ich war auf der Folter, und auch der General schien das drückende Gefühl dieses Augenblicks mit mir zu teilen. „Ach, General", rief ich in einem Ton, der Eindruck auf ihn zu machen schien, „meine Bildung ist ganz und gar verfehlt, und, o Schmach, erst in diesem Augenblick sehe ich das ein ... Aber ich werde das Versäumte nachholen, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, und eines Tages werde ich auf alle die Fragen. die ich heute mit Nein beantworten musste, mit ruhigem Gewissen ja sagen können. - „Das ist ganz schön, lieber Freund. Aber haben Sie auch bis dahin zu leben?" - „Nichts, gar nichts, General", rief ich, von dem Gefühl meiner Hilflosigkeit niedergeschmettert. Der General sah mich mit einem Blick inniger Teilnahme an. „Und doch möchte ich Sie nicht im Stich lassen." - „Oh, tun Sie das nicht, General, denn nicht ich allein wäre dann verlassen. Ich bin unwissend, ein Faulenzer, mit Tränen in den Augen muss ich es gestehen - aber meine Mutter, der ich versprach, eine Stellung zu finden, soll nicht für meine Unwissenheit und Faulheit gestraft werden." „Geben Sie mir Ihre Adresse", sagte der General, „ich will sehen, was sich für Sie tun lässt ... Gehen Sie hierher an den Schreibtisch." Er reichte mir eine Feder, mit der er soeben geschrieben hatte. Ich nahm sie, sie war noch nass. Nachdem ich sie eine Weile betrachtet hatte, schüttelte ich den Kopf und gab sie dem General zurück.
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„Nun?"
„Nein, Herr General", sagte ich, „mit Ihrer Feder schreibe ich nicht, das wäre eine
Entweihung."
Er lächelte. „Sie sind noch ein Kind", sagte er dann. „Nun, da haben Sie eine andere." Ich schrieb; der General sah mir zu. Kaum hatte ich meinen Namen geschrieben, als er freudig in die Hände klatschte. „Jetzt ist uns schon geholfen", rief er. - „Wieso, Herr General?" „Sie haben eine schöne Handschrift." Ich ließ den Kopf sinken, so viel Beschämung vermochte ich nicht zu ertragen. Eine schöne Handschrift! ... Das war also alles, was ich aufzuweisen hatte. Eine schöne Handschrift! - Ich konnte es also einmal bis zum Handabschreiber bringen. Das war die Zukunft, die ich vor mir hatte. Ich hätte mir in diesem Augenblick gern die rechte Hand abhauen lassen. Unbekümmert um das, was in mir vorging, fuhr General Foy fort: ,Hören Sie mich an. Ich speise heute im Palais- Royal. Ich werde Ihretwegen mit dem Herzog von Orleans sprechen, dass er Sie schon deshalb anstellen muss, weil Sie der Sohn eines republikanischen Generals sind. Setzen Sie sich dorthin ... Er zeigte auf einen zweiten Schreibtisch. „Setzen Sie ein Gesuch auf, und schreiben Sie so schön Sie können." Ich gehorchte. Als ich fertig war, nahm General Foy mein Gesuch, las es durch und schrieb einige Zeilen an den Rand. Seine schlechte Schrift neben meiner guten ließ mich abermals erröten. Dann faltete er die Bittschrift zusammen, steckte sie in die Tasche, reichte mir zum Abschied die Hand und lud mich ein, morgen wiederzukommen und mit ihm zu frühstücken. Ich kehrte in mein Hotel zurück und fand dort ein Schreiben mit dem Siegel des Kriegsministeriums. Bisher hatte sich Gutes und Schlechtes, das mir begegnete, so ziemlich die Waage gehalten. Der Minister antwortete mir, er habe keine Zeit, mich persönlich zu empfangen und ersuchte mich, mein Anliegen schriftlich vorzubringen. Nun hatte die Waagschale, in der das Schlimme lag, jedenfalls das Übergewicht. Ich antwortete ihm, die verlangte Audienz habe keinen anderen Zweck gehabt, als ihm ein Dankschreiben vorzulegen, das er einst an meinen Vater, seinen damaligen Oberbefehlshaber, gerichtet habe. Da ich nicht die Ehre haben könne, ihn persönlich zu sprechen, so beschränke ich mich darauf, eine Abschrift jenes Briefes beizulegen. - Der arme Marschall! Ich habe ihn inzwischen oft wiedergesehen. So ahnungslos er damals mir gegenüber handelte, so freundlich war er später, und heute sind sein Sohn und Enkel meine besten Freunde. Am folgenden Tag machte ich mich zeitig auf den Weg zum General Foy,
der jetzt meine
letzte Hoffnung war. Er empfing mich mit lächelnder Miene, was mir jedenfalls als eine gute Vorbedeutung erschien. „Nun“, begann er, „unsere Sache ist in Ordnung. Sie treten als überzähliger Beamter mit einem Gehalt von 1 2 0 0
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Franken in das
Sekretariat des Herzogs von Orleans ein. Das ist zwar nicht viel, aber es liegt an Ihnen, sich emporzuarbeiten." „Ach, es ist das größte Glück, das ich mir wünschen kann. - Wann trete ich den Dienst an?" „Nächsten Montag, wenn Sie wollen. So habe ich es mit Ihrem Bürochef vereinbart." - „Darf ich um seinen Namen bitten?" - „Er heißt Oudard ... Sie werden sich ihm mit einer Empfehlung von mir vorstellen. . ." - „Ach, General, ich kann noch nicht an mein Glück glauben." Der General sah mich mit einem Ausdruck unaussprechlicher Güte an. Da erinnerte ich mich erst daran, dass ich ihm noch nicht einmal gedankt hatte. Ich sprang ihm an den Hals und umarmte ihn recht herzlich. Er lächelte. „In Ihnen steckt ein guter Kern", sagte er, „aber erinnern Sie sich dessen, was Sie mir versprochen haben: lernen Sie." „O gewiß, General. Ich werde jetzt von meiner Handschrift leben müssen, aber ich verspreche Ihnen, dass ich eines Tages von meiner Feder leben werde." „Nun, wir werden ja sehen. Jetzt nehmen Sie die Feder und schreiben Sie an Ihre Mutter." „Nein, General, nein. Diese frohe Botschaft muss ich ihr mündlich mitteilen. Heute haben wir Dienstag, ich reise heute Abend ab und bleibe bis Samstag bei der Mutter. Dann kehre ich hierher zurück und trete Montag meinen Dienst an. Was soll ich", fragte ich dann, „was soll ich Herrn Danre von Ihnen melden?" - „Ei, sagen Sie ihm, dass wir zusammen gefrühstückt haben und dass ich mich wohl befinde." Ein runder, vollständig gedeckter Tisch wurde hereingetragen. „Noch ein Gedeck", rief der General. - „In der Tat, Herr General, Sie machen mich schamrot. . ." - „Haben Sie vielleicht schon gefrühstückt?" - „Nein, aber..." - „Zu Tisch, zu Tisch! Ich muss um zwölf Uhr in der Kammer sein." Der General sprach mit mir über meine Aussichten für die Zukunft. Ich setzte ihm meine literarischen Pläne auseinander. Er sah und hörte mich mit jenem, nur großen Herzen eigenen Lächeln an, als wollte er sagen: „Goldene Träume, törichte Hoffnungen, flüchtige Purpurwolken, die über den Himmel der Jugend dahingleiten, verschwindet nicht zu rasch von dem blauen Firmament meines armen Schützlings." Der liebe, gute General! Diese ehrliche Seele, dieses edle Herz ist leider gestorben, bevor sich diese Träume verwirklicht hatten ... Ich rannte in die Rue Pigalle, um Adolf die Erfüllung aller meiner Hoffnungen zu melden. Endlich hatte ich die Gewissheit, in Paris bleiben zu können. Die so heißersehnte Laufbahn erschloss sich mir ohne Grenzen und Schranken. Gott hatte für mich das möglichste getan. Adolf teilte mein Glück von ganzem Herzen. Herr von Leuven spottete ein wenig über meine Begeisterung, um nicht aus der Übung zu kommen, und Frau von Leuven, eine herrliche Frau, freute sich schon im voraus über das Glück meiner Mutter.
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Sie wollten mich zum Essen dabehalten, aber ich wusste, dass um halb fünf ein Eilwagen abging und dass ich daher um ein Uhr morgens daheim sein konnte. Sonderbar! So sehr ich mich früher beeilt hatte, Villers-Cotterets zu verlassen, um nach Paris zu reisen, so sehr drängte es mich jetzt, Paris recht bald hinter mir zu haben und wieder in Villers-Cotterets zu sein. Die Heimkehr des Siegers Um ein Uhr nachts traf ich in Villers-Cotterets ein. Nur eines verdarb mir die Freude. Es schlief alles, keine Seele ließ sich in den düsteren Straßen blicken, es war niemand da, dem ich zurufen konnte: „Da bin ich wieder, aber nur für drei Tage. Ich kehre nach Paris zurück und bleibe dort. Ich habe eine Anstellung." Fünf Minuten später war ich an unserem Haus. Noch von meinen nächtlichen Wanderungen her kannte ich einen Griff, die Haustür ohne Schlüssel zu öffnen. Auch jetzt gelangte ich auf dieselbe Weise in; Haus und stürzte in das Zimmer meiner Mutter, die sich vor kaum einer Stunde zu Bett begeben hatte. Dabei schrie ich: „Sieg, liebe Mutter, Sieg!" Meine Mutter fuhr erschrocken empor. Sie hatte nicht erwartet, dass ich so schnell zurückkehren und doch eine so gute Nachricht mitbringen würde. Am Ende musste sie es aber doch glauben, da ich - nachdem sie mich geküsst hatte - wie besessen durch das Zimmer sprang und immerfort „Sieg" rief. Ich erzählte ihr alles. Sobald ich fertig war, musste ich immer wieder von vorne anfangen. Meine Mutter konnte nicht glauben, dass ich armer Knabe ohne Hilfe, ohne Stütze, ohne Bekanntschaft, einzig und allein durch die Beharrlichkeit meines Willens binnen drei Tagen meinem Schicksal eine so dauerhafte und günstige Wendung gegeben hatte. Endlich hatte ich nichts mehr zu erzählen, und der Schlaf begann sein Recht geltend zu machen. Ich stieg wieder in mein noch kaum ausgekühltes Bett, und als ich erwachte, hätte ich mich fast selber fragen mögen, ob es Traum oder Wirklichkeit sei, dass ich drei Tage von Villers-Cotterets fortgewesen war. Ich sprang aus dem Bett, kleidete mich an, umarmte meine Mutter und rannte dann Hals über Kopf auf der Straße nach Vouty zu. Danre sollte der erste sein, der von meinem Glück Kunde erhielt, dessen Urheber er ja war. Danre hätte mich gern den ganzen Tag über bei sich behalten, aber ich entschlüpfte wie ein Aal seinen Händen. Ich hatte Eile, aller Welt mein Glück zu verkünden. Nach fünfundzwanzig Minuten war ich wieder in Villers-Cotterets. Aber so schnell ich auch lief, die Nachricht lief noch schneller. Als ich zurückkehrte, wusste bereits jedermann, dass ich als überzähliger Beamter im Sekretariat des Herzogs angestellt sei, und jeder harrte meiner an der Tür seines Hauses, um mir Glück zu wünschen.
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Hinter mir bildete sich ein förmlicher Zug, der mich bis zum Abbe Gregoire geleitete. Als ich nach Hause kam, fand ich das Zimmer meiner Mutter voll Basen und Gevatterinnen. Außer unserer Freundin d'Arcourt waren noch die Nachbarinnen Lafarge, Dupre, Dupuis und andere versammelt. Sie alle empfingen mich, den Helden des Tages, mit offenen Armen. Man habe - so hieß es nun - niemals an mir gezweifelt, man habe es ja immer gesagt, dass aus mir noch etwas Tüchtiges werden müsse, und man freue sich nun, dass diese Voraussagung so schnell in Erfüllung gegangen sei. Das waren, wohlgemerkt - mit Ausnahme der Frau d'Arcourt - dieselben Personen, die meiner Mutter stets die Ohren vollgeschwatzt hatten, dass ich ein Faulenzer und Taugenichts sei, aus dem nie etwas Rechtes werden könnte. Den ganzen Tag konnte ich keinen Augenblick mit meiner Mutter allein sein. Ich benutzte das Gewimmel im Haus, um mich unbemerkt davonzuschleichen und meiner lieben Luise einen Abschiedsbesuch zu machen, die mich gewiss über Adeles Heirat getröstet hätte, wenn ein Trost möglich gewesen wäre, und die sich ebenso gewiss über die Abreise Chollets getröstet hätte, wenn ich nicht selber hätte abreisen müssen. Erst abends war ich endlich mit meiner Mutter allein. Nun konnten wir erst ungestört unsere kleinen Angelegenheiten besprechen. Ich wollte, meine Mutter sollte alles Unnötige verkaufen und sogleich mit mir nach Paris übersiedeln. Zwanzig Jahre voll schwerer Unfälle und bitteren Leides hatten das Herz meiner armen Mutter mit Misstrauen und Zweifel erfüllt. Mein Vorschlag war ihrer Ansicht nach zu voreilig. Außerdem sei ich vorerst nur auf Probe angestellt; auch waren die 1200 Franken, die ich für ein unermessliches Kapital hielt, ein unbedeutendes Einkommen, um davon in Paris leben zu können. Wenn dann mein Bürochef Oudard, gleich Meister Lefevre, mir einen Stuhl anbieten und mich fragen sollte: „Mein Herr, verstehen Sie etwas von der Mechanik?" - dann wären wir verloren, und meine Mutter hätte nicht einmal mehr den geringen Ertrag unseres Tabakverschleißes, den sie nicht unter der Bedingung des Rückkaufes veräußern könnte, sondern förmlich aufgeben müsste. Meine Mutter schlug daher vor, ich sollte zunächst allein nach Paris zurückkehren und nur die nötigsten Sachen für mich mitnehmen, bis meine Stellung gesichert sei. Dann erst sollte meine Mutter zu mir kommen. Den folgenden Tag - es war ein Donnerstag - benutzte ich dazu, um mich von der Musterung zu befreien, da ich in dem Alter stand, in dem ich dem Vaterland dienen musste, wenn ich nicht der einzige Sohn einer Witwe gewesen wäre. Unterwegs begegnete ich Boudoux, dem großen Esser. „Ah, Herr Dumas", rief er mir entgegen, „jetzt, da Sie eine so hübsche Anstellung haben, können Sie mir ein Vierpfundbrot zahlen."
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Ich ging mit ihm zum Bäcker und kaufte ihm ein acht Pfund schweres Brot. Meinen Musterungszettel hielt ich noch immer in der Hand. „Was haben Sie denn da?" fragte Boudoux. „Es ist die Nummer, die ich gezogen habe." - „Wie, Sie haben die Nummer 9 gezogen? Nun, dann will ich Ihnen für das Achtpfundbrot einen guten Rat geben. An Ihrer Stelle ging ich zu meiner Tante Chapuis und würde auf die Nummer 9 ein 30-Sou-Stück setzen. 30 Sous machen Sie nicht arm, und wenn der Neuner herauskommt, gewinnen Sie 73 Franken. „Es gilt, Boudoux. Da hast du dreißig Sous, setze sie für mich in die Lotterie und bring mir den Schein." Boudoux entfernte sich, indem er von dem Brot, das er unter dem linken Arm trug, mit der rechten Hand fortwährend riesige Stücke abzwackte. Tante Chapuis war zugleich Inhaberin des Post- und des Lottobüros. Nach zehn Minuten kam Boudoux mit dem Lottoschein zurück. Von dem achtpfündigen Brot war nur noch eine Kruste übrig, der er vor meinen Augen den Garaus machte. Er kam eben noch vor Schluss des kleinen Spieles, und ich sollte schon am nächsten Samstag erfahren, ob ich 30 Sous verloren oder 73 Franken gewonnen habe.Den Freitag brachten wir mit Vorkehrungen zu meiner Übersiedlung nach Paris zu. Meine Mutter hätte mir gern das ganze Haus eingepackt, aber ich erkannte wohl, dass bei einem Jahresgehalt von 1200 Franken das billigste Zimmer zugleich das passendste sei, und so be schränkte ich mich denn auf ein Bett, vier Stühle und einen Kasten. Nun war noch ein kleiner Übelstand aus dem Weg zu räumen.Ich sei überzähliger Beamter mit 1200 Franken Gehalt, so hatte mir General Foy allerdings gesagt, aber die l00 Franken, die mir die Großmut des Herzogs von Orleans bewilligt hatte, wurden mir erst Ende des Monats ausbezahlt. Ich hatte zwar keinen solchen Appetit wie Boudoux, aber ich konnte doch immerhin etwas vertragen, mitunter sogar sehr viel, davon hätte der General Verdier erzählen können. Von meinen 50 Franken waren mir nur noch 3 5 übriggeblieben. Meine Mutter entschloss sich daher, von 100 Franken - es war die Hälfte ihres Vermögens - Abschied zu nehmen. Es fiel mir schwer, meiner Mutter die 100 Franken zu entziehen, und ich hatte schon große Lust, die Börse des Herrn Danre in Anspruch zu nehmen, als Dienstag morgens mein Freund Boudoux mit dem Ruf hereingestürzt kam: „Herr Dumas, jetzt können Sie mir noch mal acht Pfund Brot kaufen." „Noch mal acht Pfund? Weshalb?" - „Der Neuner ist herausgekommen! Sie brauchen nur ins Büro der Tante Chapuis zu gehen und sich Ihre 73 Franken abholen." Meine Mutter und ich sahen einander erstaunt an. Dann wandte ich mich an Boudoux: „Ist das auch wahr, was du da sagst?" - „So wahr Gott lebt, Herr Dumas, der Neuner ist draußen! Sehen Sie nur selber die Ziehungsliste an, der Neuner steht obenan." Die Geschichte nahm uns fast nicht mehr wunder. Wir sahen ein, dass das Glück sein Antlitz uns zugewandt hatte.
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Nun gingen wir zur Tante Chapuis. Unser Glück war noch größer, als wir geglaubt hatten. Boudoux hatte den Neuner gleich auf den ersten Platz gesetzt, und so bekam ich nicht 73, sondern 150 Franken. Tante Chapuis erklärte mir lang und breit, wieso sich der Gewinn verdoppelt hätte, als ich aber die Taler sah und hörte, dass ich sie heim tragen dürfe, da verlangte ich keine weitere Erklärung. Ich war nun im Besitz von 185 Franken. Soviel Geld war noch nie in meiner Tasche gewesen. Meine Mutter wechselte mir das Silber in Gold um. Oh, wie schön ist doch das vielverleumdete Gold, wenn es die Verwirklichung unserer teuersten Lebenshoffnungen bringt. Neun Goldstücke sind nur eine Kleinigkeit, und doch hatten sie in meinen Augen mehr Wert als tausend ähnliche Münzen, die seither durch meine Hände gingen, und die ich, wie Jupiter, in den Schoß der schönsten, aber auch kostspieligsten Geliebten nieder regnen ließ, die Phantasie heißt. Meine Mutter brauchte also gar nichts zu bezahlen, selbst nicht den Transport meiner Möbel, die mir der Fuhrmann für 20 Franken nach Paris zu schaffen versprach. Endlich kam die Trennungsstunde. Die ganze Stadt wohnte meiner Abreise bei. Man hätte meinen können, einer der großen Weltumsegler des Mittelalters rüste sich zu einer neuen Fahrt in unbekannte Zonen und nehme die Segenswünsche und Abschiedsgrüße seiner Landsleute entgegen. Und in der Tat schienen die guten Leute in ihrer Einfalt zu ahnen, dass ich mich auf ein bewegteres und stürmischeres Meer begebe, als das war, das nach dem göttlichen blinden Sänger der Schildrahmen des Achill darstellte. Der Schreiber des Herzogs von Orleans Noch am gleichen Tage machte ich mich auf die Suche nach einer Wohnung. Nachdem ich eine Menge Treppen hinauf- und hinabgestiegen war, fand ich endlich ein mir zusagendes Zimmer im vierten Stock des Häuserblocks Place des Italiens Nr. 1, mir dem auch der Luxus eines Alkovens verbunden war. Es war gelb tapeziert, die Rolle zu zwölf Sous, und ging nach dem Hof. Da es mir in jeder Beziehung zusagte, nahm ich es, und sagte dem Portier, meine Möbel würden morgen eintreffen Der Mann verlangte ein Handgeld. Da ich mit den Pariser Sitten und Gewohnheiten nicht im entferntesten vertraut war, wusste ich auch nicht, was Handgeld ist. Ich meinte, es wäre eine Akontozahlung auf den Jahreszins und zog bereitwillig einen Napoleon aus der Tasche, den ich majestätisch in die Hände des Hausmeisters warf, der sich bis zum Boden verneigte. Offenbar hielt er mich für einen Prinzen, der inkognito reiste. 20 Franken als Handgeld auf ein Zimmer, das fürs ganze Jahr nur 120 Franken kostet . . . das hatte er noch nicht erlebt. 20 Franken, der sechste Teil des jährlichen Mietzinses!
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Darum erbat sich auch der Portier sogleich die Ehre, mich bedienen zu dürfen. Diese Ehre wurde ihm für einen Monatslohn von fünf Franken gegönnt, und ich bewahrte auch dabei die gleiche majestätische Haltung. Ich hatte die zweifache Überzeugung gewonnen, dass ich an
meiner
Person
wie
an
meiner
Kleidung verschiedenes ändern müsse. Ich musste mir die Haare und den Rock abschneiden lassen. Ich ließ einen Friseur und einen Schneider kommen. Der Friseur verlangte zehn Minuten, der Schneider einen Tag Zeit. Ich beschloss, im Frack ins Büro zu gehen, da der Amtsantritt ohnehin mit einem Besuch bei meinem Vorgesetzten verbunden war. Nachdem ich im Gasthof gefrühstückt und meine Rechnung bezahlt hatte, trat ich den Weg nach meinem Büro an. Um Viertel elf Uhr erfuhr ich vom Portier, dass der Weg zum Büro des Herrn Oudard, das heißt ins Sekretariat, über die Treppe des zweiten, nach dem Platz führenden Hofes des Palais Royal führte. Ich fand die Stiege, zog bei einem zweiten Portier weitere Erkundigungen ein und erfuhr, dass sich die Büros im dritten Stockwerk befänden. Ich stieg die Treppe hinauf. Mein Herz pochte fast hörbar. Ich trat in ein neues Leben ein, und diesmal in eines, das ich mir gewünscht und mir selbst gewählt hatte; diese Treppe führte in mein künftiges Amt. Wohin würden von hier aus meine Wege führen? Ich musste im Vorzimmer der Amtsdiener warten. Der erste Beamte, der erschien, war ein hübscher, großer, blonder junger Mann. Er kam singend die Treppe herauf und nahm dann die Büroschlüssel vom Nagel. Ich stand auf. „Herr Ernst", sagte Amtsdiener Raulot, „hier ist ein junger Mann, der mit Herrn Oudard zu sprechen wünscht." Der Beamte, der soeben mit „Herr Ernst" angesprochen wurde, warf mir einen flüchtigen Blick seiner hellblauen Augen zu. Ich trat näher. „Ich bin der neue Beamte, von dem Sie vielleicht schon gehört haben." - „Ach, Herr Alexander Dumas, der Sohn des Generals Alexander Dumas, empfohlen durch General Foy?" - „Ja, der bin ich", antwortete ich. „Kommen Sie mit mir", fuhr Herr Ernst fort, indem er vor mir herging und dann die Tür eines kleinen Zimmers mit einem Fenster und drei Schreibtischen aufschloss. „Sehen Sie, hier ist Ihr Platz. Es ist schon alles da, Tinte, Feder, Papier; Sie brauchen sich nur hinzusetzen und den Stuhl an den Tisch zu rücken. Ich bin zum Buchhalter mit 1800 Franken Gehalt befördert worden. Dadurch ist die Stelle eines Expedienten frei geworden, die Sie jetzt bekommen." - „Und wer ist unser dritter Kollege?" - „Unser zweiter Chef, Herr Lassagne." In diesem Augenblick ging die Tür auf. „Was ist mit Lassagne? Was hat der schon wieder angestellt?" fragte der Eintretende, ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren. Ernst wandte sich um.
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„Ah, Sie sind es!" sagte er dann, „ich erzählte soeben Herrn Dumas" - er deutete auf mich, ich verneigte mich. - „Also Sie sind unser neuer Kollege?" fragte Herr Lassagne. „Nun, seien Sie uns willkommen." Er reichte mir die Hand. Ich ergriff sie hastig. Es war eine jener warmen, leise bebenden Hände, die man gern immer wieder drückt. - Gut. Der wird bestimmt mein Freund, dachte ich. „Aber", fuhr Lassagne fort, „lassen Sie sich vor allem einen Rat geben. Man sagt, Sie seien mit der Absicht nach Paris gekommen, um sich hier als Schriftsteller zu betätigen. Lassen Sie das ja nicht laut werden. Es könnte Ihnen schaden ... Pst. Ich höre eben Oudard in sein Zimmer gehen." Wirklich vernahm ich im anstoßenden Gemach den festen und dabei gemessenen Schritt eines richtigen Bürovorstehers. Gleich darauf ging die Tür auf und Raulot meldete: „Herr Oudard wünscht Herrn Alexander Dumas zu sprechen."Ich stand auf und warf Lassagne einen fragenden Blick zu. Er schien die Frage verstanden zu haben. „Gehen Sie nur", sagte er. „Er ist ein ausgezeichneter Mann. Man muss ihn nur kennen, und dazu werden Sie hoffentlich bald Gelegenheit haben." Das war nicht sehr beruhigend, und das Herz pochte mir nur noch heftiger, als ich nach einem Umweg über den Korridor das Büro des Herrn Oudard betrat. Er stand vor dem Kamin.Er war ein Mann mit dunkler Hautfarbe, schwarzem Haar und sanften und zugleich entschlossenen Zügen. Sein Auge hatte einen harten Ausdruck, der den Mann verriet, der sich aus bescheidenen Anfängen zu einer leitenden Stellung emporgearbeitet hatte. Er hatte schöne Zähne, aber dennoch pflegte er nur selten zu lachen. Man merkte wohl, dass diesem Mann nichts gleichgültig war, selbst nicht die unbedeutendsten Vorfälle. Der Ehrgeizige verschmäht es nicht, sich auch nur einen Kieselstein unter den Fuß zu schieben. Er wirkt dann wenigstens um dieses Steinchen größer. Und Oudard war im höchsten Grade ehrgeizig. Er war aber zugleich ein grundehrlicher Mann, der keiner schlechten Handlung fähig war. Später wird man sehen, wie hart, beinahe unbarmherzig, dieser Mann gegen mich war. Er tat selbst das - ich bin davon überzeugt nur in der besten Absicht. Er glaubte nicht an meine Zukunft und fürchtete, ich würde eine Stellung verlieren, die er mir beschafft hatte. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Emporkömmlingen - Oudard war eher emporgeklommen als emporgekommen - sprach er oft (vielleicht tat er es eben aus Stolz, aber ich liebe solchen Stolz) von seinem Heimatdorf, von der Hütte, in der aufgewachsen war, von seiner alten Mutter, die ihn in ihrer Bauerntracht besuchte, und die er so ins Palais-Royal und ins Theater führte. Diese Mutter liebte er zärtlich - ein Gefühl, das bei Ehrgeizigen so selten ist, dass ich nicht umhin kann, hier öffentlich davon Zeugnis zu geben.
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Oudard mochte damals etwa zweiunddreißig Jahre alt sein, er war Chef des Sekretariats und Privatsekretär des Herzogs von Orleans. Diese beiden Stellungen brachte ihm einschließlich der besonderen Zulagen jährlich l0 000 Franken ein. Er trug stets einen schwarzen Anzug, eine weiße Weste, eine schwarze Krawatte und feine Baumwollstrümpfe und Schuhe, da er jeden Augenblick zu einem Prinzen oder einer Prinzessin gerufen werden konnte. „Treten Sie näher, Herr Dumas."
Ich näherte mich mit einer Verbeugung.
„Sie sind mir durch zwei Persönlichkeiten warm empfohlen worden, von denen ich die eine
hoch achte und die andere sehr lieb habe." - „Sie meinen Herrn General Foy, nicht wahr?" „Ja, das ist die Person, die ich hoch achte; raten Sie, wer die andere ist." - „Ich muss gestehen,
dass ich keine Ahnung davon habe, wer mich sonst noch empfohlen haben könnte."
„Herr Deviolaine. Ist er nicht Ihr Verwandter?" - „Ganz recht, aber er war es ja gerade, der
sich meiner Mutter gegenüber weigerte, mich dem Herzog von Orleans zu empfehlen, und zwar mit sehr schroffen Worten." - „Na, Sie wissen ja, dass unser braver Forstmeister einen sehr schroffen, herben Charakter hat, darauf dürfen Sie nicht achten." „Jedenfalls fürchte ich, dass das, was er Ihnen von mir gesagt hat, nicht sehr schmeichelhaft für mich war." - „Ist es nicht besser so? Es liegt jetzt an Ihnen, mich angenehm zu enttäuschen." „Er wird Ihnen gesagt haben, dass ich faul sei?" „Er hat mir gesagt, dass Sie nie viel gearbeitet haben, dass Sie aber bei Ihrer Jugend die verlorene Zeit leicht nachholen würden.` „Hat er nicht erwähnt, dass ich die Jagd liebe?" „Er meinte allerdings, dass Sie so etwas wie ein Wilddieb wären." „Dass ich es nirgends aushalten könne?" - „Er sagte, dass Sie bei allen Notaren von Villers-Cotterets und Crepy gearbeitet hätten, aber nie längere Zeit geblieben wären." - „Er hat jedenfalls übertrieben ... Dass ich nicht aushielt, liegt daran, weil ich durchaus nach Paris wollte." „Na, nun ist Ihr Wunsch ja erfüllt! Er hat aber auch gesagt, dass Sie ein ausgezeichneter Sohn sind, der seine Mutter anbetet, dass Sie zwar leichtsinnig sind, aber Intelligenz besitzen, und dass Sie zwar einen harten Kopf, aber auch ein gutes Herz haben ... Gehen Sie zu ihm und danken Sie ihm; gehen Sie sofort hin. Der Diener wird Sie zu ihm führen. Haben Sie schon Bekanntschaft mit Lassagne gemacht?" „Ich sprach fünf Minuten mit ihm." „Er ist ein liebenswürdiger Mensch, der nur einen Fehler hat; er wird zu schwach gegen Sie sein; glücklicherweise bin ich aber auch da." „Und Herr von Broval?" fragte ich. - „Er wird Sie noch zu sich bitten. Von ihm hängt Ihre ganze Zukunft ab." - „Und von Ihnen, Herr Oudard?" - „Nun, ich hoffe, dass Sie sich meinetwegen nicht zu beunruhigen brauchen. Doch nun gehen Sie zu Deviolaine, ihm Ihren Dank abzustatten."
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Fünf Minuten später war ich bei Deviolaine. Er hatte ein Büro für sich. Als er mich erblickte, rief er: „Na, du bist ja ein netter Kerl. Dreimal nach Paris kommen und mich nicht besuchen!" - „Ich wusste ja nicht, ob es Ihnen angenehm wäre." „Davon ist nicht die Rede, aber es war deine Pflicht." - „Nun bin ich ja da; besser spät als gar nicht." - „Was willst du bei mir?" - „Ihnen danken." - „Wofür?" - „Für das, was Sie Herrn Oudard über mich gesagt haben." - „Dann bist du nicht sehr anspruchsvoll, denn was ich ihm gesagt habe . . ." - „Für das, was Sie hinzugefügt haben." - „Ich habe gar nichts hinzugefügt, aber dir will ich was sagen; wenn du dir in Zukunft erlauben solltest, da oben deine blöden Theaterstücke zu schreiben oder einen Plunder von Versen zu schmieden, wie du es in Villers-Cotterets getan hast, dann werde ich dich zu mir nehmen und in eines meiner Büros stecken, wo ich dich hart anfassen werde ... Denke an mich!" „Nun, dann ist es schon besser, wenn ich gleich bei. Ihnen bleibe, Vetter." - „Wieso?" - „Weil ich eigens nach Paris gekommen bin, um solche blöden Stücke und Schandverse zu schreiben und sie im Sekretariat oder hier zu verfassen; schreiben muss ich sie jedenfalls." „Nun sage mal, bildest du dir denn wirklich ein, dass man mit einer Bildung, die man für drei Franken monatlich genossen hat, ein Corneille, Racine oder Voltaire werden kann?" „Wenn ich so etwas werden wollte, so würde sich das nicht der Mühe lohnen, denn das war schon da." „Du willst also was Besseres werden. nicht wahr?" „Etwas anderes." „Sag' mal, kannst du nicht ein bisschen näher kommen? Ich möchte dir gern einen Tritt in den Hintern versetzen. Unglücksmensch." Ich näherte mich ihm. "Da bin ich." -- ..Ich glaube wahrhaftig, der unverschämte Kerl kommt mir in die Nähe -- ,.Gewiss ... meine Mutter hat mich beauftragt, Sie in ihrem Namen zu küssen." - „Und wie geht es deiner armen Mutter?" - „Ich hoffe, gut.', „Sie ist eine Heilige! Ich frage mich immer, wir es möglich war, dass da von dieser Frau in die Welt gesetzt werden Na, nun gib mir schon einen Kuss und verschwinde. Hast du übrigens Geld nötig?“ „Nein, ich danke." - „Wo hast du welches gestohlen?" -
,. Das erzähle ich Ihnen ein anderes
Mal, es würde zu lange dauern „Du hast recht, ich habe auch keine Zeit mehr, und nun raus!" - „Adieu, Vetter!" - „Komm zu uns zu Tisch, wann du willst." - „Ja, ich danke schön, damit man mir ein Gesicht macht!" -- „Damit man dir ein Gesicht macht! ... Das möchte ich mal sehen! Meine Frau hat sich lange genug von deinem Großvater und deiner Großmutter füttern lassen, dass du jetzt auch bei uns, sooft du Lust dazu hast, speisen kannst. Aber mach doch, dass du weiter kommst, du Säugetier, du stiehlst mir ja meine Zeit."
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Diviolaines Bürodiener, Feresse mit Namen, den wir später wieder antreffen werden, rief ihn in diesem Augenblick ab, und ich zog mich in unser gemeinschaftliches Büro zurück. Ich setzte mich an meinen Platz und bat Lassagne, der mir gegenüber saß, mich in meine Arbeit einzuführen. Korinthisches Erz
Lassagne war damals etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahre, hatte ein angenehmes, von schwarzem Haar umschattetes Gesicht mit großen lebens- und geistvollen schwarzen Augen und weißen, regelmäßigen Zähnen, um die ihn auch die koketteste Frau beneidet hätte. Das einzige unregelmäßige in seinem Gesicht war die ein wenig seitwärts gebogene Adlernase, aber selbst diese Unregelmäßigkeit trug nur dazu bei, seinem Gesicht den Stempel der Originalität zu verleihen, den es ohne sie nicht gehabt hätte. Dazu kam noch eine sympathische Stimme, die sich einschmeichelnd in das Ohr des Zuhörers legte und einen wohltuenden Eindruck zurückließ. Außerdem war Lassagne ein Mann von Geist und gründlicher Bildung, ein guter Sänger, ein vertrauter Freund aller bekannten Vaudevillisten jener Zeit. Für die ihm verhasste bürokratische Tätigkeit entschädigte er sich durch sein geistiges Schaffen, das ihn begeisterte, für die Arbeit ums tägliche Brot durch Artikel für Tageszeitungen und durch Mitarbeit an mehreren guten Lustspielen. Das war ein Bürochef, wie ich ihn brauchte, und ich hätte mir gewiss nie in meinem Leben einen besseren wünschen können. Und wirklich war es während der fünf Jahre, die wir im selben Amt zubrachten, zwischen Lassagne und mir nie zu Streit, Ärger oder Meinungsverschiedenheiten gekommen. Ich freute mich, wenn ich kam, weil ich wusste, dass er auch binnen wenigen Minuten kommen musste. Ich freute mich, wenn ich im Amt saß, weil auch er da war, stets bereit, mir Aufschluss über alles zu geben, was mir noch fremd und unbekannt war. Lassagne gab mir mein tägliches Arbeitspensum, das im mechanischen raschen und sauberen Kopieren von Briefen bestand, um sie dann, je nach dem Grad ihrer Wichtigkeit, von Oudard, Herrn von Broval oder vom Herzog von Orleans selbst unterzeichnen zu lassen. In diese Korrespondenz, die alle Zweige der Verwaltung umfasste und mitunter an fremde Fürsten gerichtet war, schlüpften bisweilen auch Berichte über die Prozessangelegenheiten des Herzogs von Orleans, der seinem Rat gewöhnlich selber alle Unterlagen lieferte. Ich hatte soeben den ersten Brief angefangen und befleißigte mich, da auch Lassagne darauf besonderes Gewicht legte, einer möglichst schönen Handschrift, als ich die Tür zum Büro des Herrn Oudard aufgehen hörte. In der Verstellungskunst schon fast wie ein altgedienter Beamter geübt, tat ich, als wäre ich so in meine Arbeit vertieft, dass
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mich nichts darin zu stören vermochte. Dessen ungeachtet hörte ich recht gut die Schritte des Eintretenden, der sich meinem Tisch näherte. „Dumas", rief Lassagne in einem Ton, wie er beim Namensaufruf üblich ist, „der Herr Chevalier de Broval." Ich steckte die Nase in die Höhe und sah zur linken Seite einen mir völlig unbekannten Mann stehen. Ich stand auf. „Lassen Sie sich nicht stören", sagte Herr von Broval. Dann nahm er meinen fast vollendeten Brief und las ihn durch. Ich benützte diesen Augenblick, um mir den Mann näher zu betrachten. Broval war ein kleines, altes Männchen, etwa sechzig Jahre, mit kurzer Plüschfrisur, etwas verwachsen und leicht nach links gebeugt, mit einer großen roten Nase, die sehr viel, und kleinen grauen Augen, die gar nichts sagten. Er war der vollendete Typ eines Höflings. Glatt und einschmeichelnd seinem Herrn gegenüber, gutmütig, wenn ihn eben die Laune dazu anwandelte, aber in der Regel mürrisch und launisch gegen seine Untergebenen, ein Kleinigkeitskrämer sondergleichen, der auf das Falzen eines Briefes, auf die Prägung des Siegels ungeheure Wichtigkeit legte, im übrigen ganz Werkzeug des Herzogs von Orleans, der an Pedanterie Herrn von Broval noch weit übertraf. Herr von Broval las den Brief, nahm eine Feder, setzte hier und da ein Satzzeichen hinzu, dann legte er ihn mir wieder hin. Ich schrieb den Brief zu Ende. Er stand dicht hinter mir. Die Nähe dieses sonderbaren Gesichtes machte auf mich einen beängstigenden Eindruck. Mit zitternder Hand schrieb ich die letzten Zeilen. Er nahm wieder die Feder und unterzeichnete, bestreute dann meine und seine Schrift, gab mir den Brief zurück, der nur an einen schlichten Inspektor gerichtet wir -, denn für den Anfang wollte man meiner ungeübten Hand kein wichtigeres Stück anvertrauen. Dann fragte er: „Wissen Sie, wie man Briefe faltet?" Ich sah ihn ganz verwundert an. Ich verstand ihn wohl, aber meine Verlegenheit war so groß, dass ich ihn dennoch missverstanden zu haben befürchtete. Es fiel mir daher ein Stein vom Herzen, als Herr von Broval den Brief betrachtete und dann mit zufriedener Miene äußerte: „Gut. Aber Sie müssen das alles tüchtig lernen. Ernst, Sie werden Dumas zeigen, wie Briefe gefaltet, kuvertiert und gesiegelt werden." Damit verließ er unser Büro. Ernst hatte in dieser Kunst eine wahre Meisterschaft erlangt. Aber ich brachte viel guten Willen mit, und so gelang es mir meinen Lehrer bald zu erreichen, ja sogar zu überflügeln. Ich hatte es dann allmählich zu einer solchen Vollkommenheit gebracht, dass der Herzog von Orleans, der 1 8 31 bereits Ludwig Philipp I. hieß, als ich meine Entlassung nahm, nur eines bedauerte: „Jammerschade, dass der Mann geht; ich habe noch keinen gefunden, der so gut Briefe siegelte wie er." Vom Büro lief ich nach dem Place des Italiens. Meine Möbel standen bereits vor der Tür, binnen einer Stunde war ich mit der Einrichtung fertig
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Ich hatte somit von dem, was man braucht, zunächst wenigstens ein trauliches Dachstübchen. Aber ich hatte noch etwas, was noch mehr wert war: meine Jahre. Dann eilte ich in die Rue Pigalle. Es drängte mich, Adolf mitzuteilen dass ich mein Amt beim Herzog von Orleans bereits angetreten, d as s ich ein Schreibpult, Papier, Feder, Tinte und Siegelwachs im Palais Royal und vier Stühle, einen Tisch, ein Bett und ein Zimmer mit gelben Tapeten an der Place des Italiens besitze. Herr von Leuven lud mich ein wöchentlich an einem bestimmten Tag bei ihm zu speisen. An diesem Tag sollte für mich stets ein Gedeck bereit sein. Um mich in der Familie Arnault bekannt zu machen, sollte ich schon am folgenden Tag zum Essen kommen. Ich meldete sowohl Ernst wie auch Lassagne diese große Neuigkeit. D e r erstere blieb dabei völlig gleichgültig, der letztere schien daran nur geringes Interesse zu finden. Ich drang in Lassagne, mir zu sagen, woher seine Kälte solchen Berühmtheiten gegenüber käme. Lassagne antwortete mir gerade heraus: „In politischer Hinsicht gehöre ich nicht zur Partei dieser Herren. In literarischer Beziehung haben ihre Leistungen in meinen Augen nicht viel Wert." Ich war sprachlos. Mit der wunderbaren Sanftmut, die in seinen Augen und in seiner Stimme lag, und dem väterlichen Wohlwollen, das ich auch jetzt, nach 25 Jahren, noch immer bei ihm finde, wenn ich die Gelegenheit habe, ihm zu begegnen und das Glück, ihn zu umarmen, sagte Lassagne: „Hören Sie, mein lieber Junge, Sie wollen doch Schriftsteller werden?" „Allerdings!" - „Nicht so laut", entgegnete er, „Sie wissen doch, dergleichen Dinge nicht so laut zu sprechen, w e n i gs t e n s
d a s s ich Ihnen riet, über
nicht hier. Nun, wenn Sie Literatur
treiben wollen, so n eh me n Sie sich ja nicht die Literatur der Kaiserzeit zum Muster." – „Welche denn?" - „Mein Gott, ich komme wirklich in Verlegenheit, wenn ich Ihnen das sagen soll. Unsere jungen Dramatiker Soumet, G i ur a u d Casimir Delavigne, Ancelot haben allerdings Talent. Lamar o n e und Hugo sind Lyriker, sie gehören nicht hierher. Sie haben nie fürs Theater geschrieben und wenn sie es je tun sollten, so glaube ich ka u m dass ihnen der Wurf gelingen würde . . ." „Warum nicht?" - „Der eine ist zu sehr Träumer, der andere zu viel Denker. Weder der eine noch der andere lebt in der Welt der Wirklichkeit und das Theater, sehen Sie, mein Lieber, das Theater ist
da s wirkliche Leben der Menschheit. Ich sage also, dass die jungen D r a ma t i ke r
Talent
haben, aber diese Leute sind nur Schriftsteller einer Übergangsperiode - Ringe, die die Kette der Vergangenheit an die Kette der Zukunft knüpfen -, Brücken zwischen dem, was war und d e m w a s kommen wird." „ U n d was wird denn kommen?"„ L i e b e r Freund, da fragen Sie mich mehr, als ich selber weiß. Das Publikum selbst hat noch keine feste Meinung, es weiß bereits, was es n i c h t mehr will, aber es weiß noch nicht, was es will . . ."" I n Lyrik Drama oder Roman?"
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„Im Drama und im Roman - jedenfalls. In der Lyrik entsprechen Lamartine und Hugo den Anforderungen des Augenblicks. Damit wollen wir uns vorderhand begnügen." „Und wen soll man denn im Lustspiel, im Trauerspiel, im Drama nachahmen?" „Nachahmen soll man überhaupt niemand. Studieren muss man. Wer einem Führer folgt, muss hinter ihm hergehen. Wollen Sie denn einen andern?" „Nein." „Dann müssen Sie eben studieren. Schreiben Sie kein Lustspiel, keine Tragödie, kein Schauspiel. Nehmen Sie Leidenschaften, Handlung, Charaktere. Schmelzen Sie dies alles in dem Modell Ihrer Phantasie zusammen und dann zu Statuen aus korinthischem Erz!" „Was ist korinthisches Erz?" - „Sie wissen das nicht? Dann können Sie Gott danken, Sie Glücklicher!" - „Wieso?" - „Weil Sie dann alles durch sich selbst lernen werden, weil Sie dann keinen andern Maßstab anzulegen brauchen, als den Ihrer eigenen Intelligenz, weil Sie sich dann keinen anderen Gesetzen fügen, als dem in Ihrer eigenen Bildsamkeit ... Korinthisches Erz? ... Haben Sie davon gehört, das Mummius Korinth niedergebrannt hat?" „Ja, ich glaube, einst in den ,De viris illusstribus` etwas Ähnliches übersetzt zu haben." „Dann worden Sie auch gelesen haben, dass in der Glut des Brandes Gold, Silber und Erz schmolz und in Strömen durch die Straßen floss Aus der Mischung dieser drei edelsten Metalle entstand ein neues Metall, das man korinthisches Erz nannte. Nun hören Sie: derjenige, der mit seinem Genie aus dem Lustspiel, Trauerspiel und Schauspiel dasselbe schafft, was Mummius - unbewusst in seiner Blindheit, Rohheit und Barbarei - aus Gold, Silber und Bronze gemacht hat, derjenige, der durch die Flamme wahrer Begeisterung Äschylus, Shakespeare und Moliere in eine Form zusammenschmelzt, der, lieber Freund, der wird ein Erz finden, das ebenso kostbar ist wie das korinthische." Ich dachte einen Augenblick über alles nach, was ich soeben von Lassagne gehört hatte. „Was Sie mir da sagen", entgegnete ich endlich „ist alles sehr schön. Und da es schön ist, muss es auch wahr sein." --- "Kennen Sie Äschylus?" - „Nein." - „Kennen Sie Shakespeare?" – „Nein." -- "Kennen Sie Moliere?" - „Kaum." - „Nun, dann lesen Sie alles, was diese drei geschrieben haben, und wenn Sie es gelesen haben, dann lesen Sie es noch einmal, und wenn Sie es nochmals gelesen haben, dann lernen Sie es auswendig. Dann gehen Sie an Äschylus, Sophokles, Euripides, Seneca, Racine, Voltaire; von Voltaire zu Chenier. Sie werden dabei zugleich den Stammbaum eines Geschlechtes kennen lernen, das mit Adlern anfängt und mit Papageien aufhört." - „Wollen Sie mir das alles aufschreiben, was Sie mir da gesagt haben?" - „Wozu?" - „Als Richtschnur für meine Studien." - „Das ist überflüssig, da Sie mich zur Hand haben." - „Aber ich werde Sie nicht immer haben."
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„Wenn Sie mich nicht mehr haben, so kann Ihnen das jeder andere auch sagen." Dann muss ich allerdings sehr unwissend sein", murmelte ich und ließ das Haupt in die Hände sinken. „So viel ist gewiss, dass Sie noch sehr viel lernen müssen. Aber Sie sind ja noch jung und werden es schon schaffen." - „Und mit dem Roman?" „Wie mit dem Theater. Welche Romane haben Sie gelesen?" „Die von Lesage, Madame Cottin und Pigault-Lebrun." - „Und welchen Eindruck haben die auf Sie gemacht?" - „Lesage hat mich unterhalten, Madame Cottin zu Tränen gerührt, und Pigault- Lebrun hat mich zum Lachen gebracht." - „Sie haben also nichts von Goethe, Walter Scott und Cooper gelesen?" - „Nichts." - „Nun, dann müssen Sie sie lesen." - „Und wenn ich sie gelesen habe, was dann?" - „Dann machen Sie korinthisches Erz daraus. Nur müssen Sie noch etwas beimischen, das Sie weder bei dem einen noch bei dem andern vorfinden, nämlich: Leidenschaft ... Goethe ist ein reicher Quell für Poesie, Walter Scott für das Studium der Charaktere, Cooper für die geheimnisvollen Schönheiten der Fluren, Wälder und Meere, aber Leidenschaft würden Sie bei allen dreien vergebens suchen." „Wer also die Poesie Goethes, die Beobachtungsgabe Walter Scotts, das Schilderungstalent Coopers vereinigt und damit auch noch Leidenschaft zu verbinden weiß . . ." „Der wäre beinahe vollkommen." „Und welche Werke dieser drei Meister soll ich zuerst lesen?" „Wilhelm Meister von Goethe, Ivanhoe von Walter Scott und den Spion von Cooper." „Ich habe heute nacht den ,Jean Sbogar` von Charles Nodier gelesen." „Der gehört nicht hierher. Das ist ein Genreroman. Aber das ist nicht das, was Frankreich erwartet. Es braucht den historischen Roman." „Aber die Geschichte Frankreichs ist doch so langweilig." Lassagne hob den Kopf in die Höhe und sah mich an. „Woher wissen Sie denn das?" Ich errötete. „Man hat es mir immer gesagt!" - „Armer Junge, man hat es Ihnen gesagt ... Lesen Sie vorerst und dann urteilen Sie." - „Was soll ich lesen?" - „Du lieber Gott! Eine ganze Welt von Schriftstellern: Joinville, Froissart, Monstrelet, Chatelain, Juvenil des Ursins, Montluc, SauTavannes, l'Estoil, den Kardinal von Retz, Saint-Simon, Villars, Madame de la Fayette, Richelieu ... was weiß ich, einige 300 Bände." - „Und Sie haben alle gelesen?" -- „Freilich." - „Und ich muss sie auch lesen?" - „Wenn Sie Romane schreiben wollen, müssen Sie sie nicht nur gelesen haben, sondern sogar auswendig wissen." - Ich muss Ihnen offen gestehen, dass Sie mir Angst machen. Dazu brauche ich mindestens drei Jahre. Vorher darf ich nicht schreiben?" - „Es wird sogar noch länger dauern. Aber Sie werden das sicher einholen."
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„Sie werden mir dabei doch helfen?" - „Aber der Bürodienst?" – „ Oh, im Büro mache ich schon meine Arbeit. Aber nachts studiere ich, und bisweilen unterhalten wir uns über alles, wie heute." „Gern. Aber heute haben wir schon zu lange geplaudert." „Möchten Sie mir nun nicht auch sagen, welche Dichter ich zu studieren habe?" „Sagen Sie mir zuerst, was Sie schon gelesen haben." „Voltaire, Parny, Bertin, Demoustier, Legouve, Colardeau." „Gut, das alles müssen Sie wieder vergessen. Dann studieren Sie Homer, Virgil und Dante. Es ist Löwenmark, was ich Ihnen da gebe." „Und von den Neueren?" - „Ponsard, Mathurin, Regnier, Milton, Goethe, Uhland, Byron, Lamartine, Victor Hugo und ganz besonders Andre Chenier." „Aber ich kenne keine fremden Sprachen." „Sie müssen sie eben lernen." „Wie soll ich das anfangen?"„Das weiß ich selber nicht, aber merken Sie sich eines: Man lernt alles, was man lernen will. Und nun glaube ich, wäre es höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen." Herr Oudard fand mich so in meine Arbeit vertieft, dass er sich am Ende der Amtsstunden über meinen Fleiß lobend aussprach. Mit jedem Tag wurde ich mir meiner schrecklichen Unwissenheit mehr bewusst, und gleich dem Wanderer, der an einem schlüpfrigen Abhang steht, fand ich kein Fleckchen festen Bodens, worauf ich den Fuß setzen konnte, um meinem Ziel entgegenzuschreiten Warum hatte Adolf mir von all dem nichts gesagt? Mein geistiges Auge vertiefte sich träumend in den unermesslichen Horizont, der sich nun meinen erstaunten Blicken erschloss Glaubte Adolf vielleicht, man könne auch ohne Kenntnisse Schriftsteller werden? Oder konnte eben nur die Literatur in die er mich einführen wollte, all dieser Vorstudien entbehren? Wie oft sah ich seinen Vater die Achsel zucken wenn wir von unseren Bühnenwerken sprachen. Mochte sich nicht vielleicht sein Vater, der soviel gelernt hatte, im stillen über unsere Pläne belustigen, da ich gar nichts gelernt hatte? Sollte Herr Deviolaine zufällig recht haben, wenn er instinktiv - denn, mit Ausnahme des Forstwesens wusste er nicht um ein Haar mehr als ich - meine Theaterstücke Dreck und Plunder nannte? Ich beschloss also zu lesen, zu arbeiten, zu studieren. Aber wie sollten all die Dinge, die ich von Lassagne gehört hatte, in meinem Kopf Platz finden, ohne dass er aus den Fugen ging? Das Geheimnis der Maria Stella Ich arbeitete bereits seit ungefähr einem Monat in dein Büro des Herzogs von Orleans, und zwar zur Zufriedenheit Oudards und Brovals. Eines Tages ließ Oudard mich durch den Amtsdiener Raulot in sein Kabinett rufen. Oudard empfing mich mit feierlicher Miene. „Mein
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lieber Dumas", begann er, „der Herzog von Orleans ließ mich soeben ersuchen, ihm jemand zu schicken, der ihm einen Schriftsatz, den er für seinen Anwalt entworfen hat, schnell und sauber abschreiben könnte. Ohne dass der Inhalt dieses Aufsatzes ein großes Geheimnis wäre, so werden Sie doch, wenn Sie ihn lesen, sogleich erkennen, dass so etwas nicht auf dem Schreibtisch herumliegen darf. Ich habe sofort an Sie gedacht. Sie schreiben schnell und korrekt und haben dabei die beste Gelegenheit, sich dem Herzog vorzustellen. Ich werde Sie gleich in sein Kabinett führen." Ich muss gestehen, dass ich sehr verlegen war, als ich erfuhr, dass ich binnen wenigen Minuten einem Mann gegenüberstehen sollte, dessen Wille von so entscheidendem Einfluss auf meine Zukunft sein musste. Oudard merkte die Wirkung seiner Worte auf mich und suchte mich zu beruhigen, indem er mir die große Güte des Herzogs rühmte. Aber trotzdem betrat ich doch mit großer Unruhe das Kabinett Seiner Königlichen Hoheit. Der Herzog war eben beim Frühstück, und so waren mir noch einige Minuten gegönnt, um mich von meiner Bestürzung zu erholen. Aber bald darauf vernahm ich Schritte, die ich für die des Herzogs hielt, und es bemächtigte sich meiner sogleich wieder die frühere Angst. Die Tür ging auf und der Herzog von Orleans trat herein. Ich hatte ihn schon früher ein- oder zweimal in Villers-Cotterets gesehen, wenn er wegen Ankauf von Waldungen dahinkam. Er wohnte dann gewöhnlich bei Herrn Collard, der ihn stets mit allem Pomp empfing. Im nächsten Oktober sollte der Prinz sein fünfzigstes Lebensjahr antreten. Er war noch immer ein hübscher Mann, wenngleich etwas schwerfällig durch seine Wohlbeleibtheit, die seit zehn Jahren fortwährend zunahm. Er hatte ein offenes Gesicht und einen lebhaften, geistreichen Blick, wenngleich ohne Festigkeit und Tiefe. Im Gespräch war er ungemein leutselig, ließ sich aber nie soweit herab, sein aristokratisches Wesen zu verleugnen, ausgenommen etwa, wenn es sich darum handelte, irgendeinem eitlen Spießbürger den Hof zu machen. Wenn er guter Laune war, lag in seinem Ton etwas Angenehmes, ja beinahe Wohlwollendes, und wenn er so recht zum Plaudern aufgelegt war, hörte man ihn schon von fern - mit einer so falschen Stimme wie Ludwig XV. - ein Messlied singen. Ich wurde ihm mit zwei Worten vorgestellt. Man machte nicht viel Umstände mit mir. „Monseigneur, das ist Herr Dumas, von dem ich gesprochen habe -, der Schützling des Generals Foy." ".Na, gut", antwortete der Herzog. „Hat mich sehr gefreut, dem General Foy, der Sie mir recht nachdrücklich empfohlen hat, eine Gefälligkeit erweisen zu können. Sie sind der Sohn eines tapferen Soldaten, den Bonaparte, wie es scheint, verhungern oder doch beinahe verhungern ließ," Ich verneigte mich zum Zeichen der Bejahung.
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„Sie haben eine sehr schöne Handschrift, Sie siegeln gut und machen treffliche Umschläge. Arbeiten Sie nur fleißig so weiter, dann wird Oudard schon für Sie sorgen." „Seine Königliche Hoheit", bemerkte Oudard zu mir, „will Ihnen unterdessen eine wichtige Arbeit anvertrauen und wünscht, dass sie schnell und korrekt erledigt wird." „Ich werde nicht von der Stelle gehen, bis ich sie fertig habe und mein möglichstes tun, um es zu jener Korrektheit zu bringen, die Seine Königliche Hoheit mit Recht von mir verlangt." Der Herzog winkte Oudard, als wollte er ihm sagen: „Nun, nicht schlecht für einen Provinzler." Dann ging er an mir vorüber und sagte: „Kommen Sie mit und setzen Sie sich dort an den Tisch." Er wies auf einen Schreibtisch. Dann nahm er einen Pack Papier zur Hand, etwa fünfzig Blätter, sämtlich mit seiner langgezogenen Schrift auf beiden Seiten beschrieben und in der rechten Ecke der Seite nummeriert. „So", fuhr er dann fort, „schreiben Sie von da bis hierher. Sollten Sie damit fertig sein, ehe ich zurück bin, so erwarten Sie mich." Ich machte mich sogleich an die Arbeit. Sie betraf ein Ereignis, von dem ganz Paris sprach. Es handelte sich um die Ansprüche, die Maria Stella Petronilla Chiappini, Baronin von Sternberg, auf den Rang und das Vermögen des Herzogs von Orleans erhob, die beide nach ihrer Behauptung ihr gehörten. Diesmal las ich, wie man begreiflich finden wird, was ich abschrieb, ohne aber auch nur einen Augenblick an die Rechtmäßigkeit ihrer Forderung zu glauben. Es handelte sich um folgendes: Die Herzogin von Orléans hatte bis Januar 1772 ihrem Gemahl Louis Philippe Joseph nur ein totes Kind geboren. Diese Unfruchtbarkeit machte dem Herzog Kummer, dessen Vermögen, zum großen Teile aus Apanagen bestehend, mangels männlicher Nachkommenschaft an die Krone zurückfallen musste In dieser Sorge und in der Hoffnung, dass vielleicht eine Reise eine neue Schwangerschaft herbeiführen würde. begaben der Herzog und die Herzogin sich zu Anfang des Jahres 1772 als Graf und Gräfin Joinville nach Italien. Hören wir nun die Klägerin Maria Stella Petronilla: Kaum hatten die hohen Reisenden die Apenninen erreicht, als sich bei der Herzogin die Anzeichen einer neuen Schwangerschaft bemerkbar machten und sie zwangen, in Modigliana halt zumachen. In diesem Dorf befand sich ein Gefängnis, dessen Wärter Chiappini hieß. Der Herzog von Orleans, der sich gern beliebt machte, trat mit ihm in nähere Beziehung, was er sich um so leichter erlauben durfte, als er inkognito reiste. Er tat es übrigens in einer bestimmten Absicht. Die Frau Chiappinis war ebenfalls guter Hoffnung, genau zum selben Zeitpunkt, wie die Herzogin von Orleans.Da wurde zwischen den erlauchten Reisenden und dem armen Ge fängniswärter eine Vereinbarung getroffen, dass wenn die Gräfin Joinville ein Mädchen gebären,
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Frau Chiappini aber einem Knaben das Leben schenken sollte, die Kinder vertauscht werden sollten. Der Zufall wollte, dass es so kam, und der Tausch wurde gegen eine große Summe vollzogen, die der Herzog dem Gefängniswärter einhändigte. Der Knabe, der die Rolle des Prinzen spielen sollte, wurde nach Paris gebracht und seine Geburt, obwohl sie bereits am 17. April 1773 stattgefunden hatte, bis zum 6. Oktober geheimgehalten, und erst an diesem Tage bekannt gegeben. Inzwischen wuchs die Tochter der Herzogin in Italien unter den Namen Maria Stella Petronilla auf. Sie blieb in Unkenntnis über ihre Abstammung. Ihre Jugendjahre waren traurig. Die Frau des Gefängniswärters, die Sehnsucht nach ihrem Sohn hatte, und ihren Mann beständig mit Vorwürfen quälte, machte das Kind sehr unglücklich. Siebzehn Jahre alt und von großer Schönheit, machte sie einen solchen Eindruck auf Lord Newborough, der sich gerade in Modigliana aufhielt, dass dieser, einer der reichsten Edelleute Englands, sie fast gegen ihren Willen heiratete. Er führte sie nach London. In noch jungen Jahren wurde sie Witwe, nachdem sie mehrere Kinder geboren hatte, von denen eines heute Pair von England ist, und verheiratete sich dann in zweiter Ehe mit dem Baron von Sternberg, der sie nach Petersburg brachte, und von dem sie einen Sohn hatte. Eines Tages erhielt sie einen Brief aus Italien von der Hand dessen, den sie für ihren Vater hielt. Sein Inhalt lautete: „Mylady! Da ich fühle, dass meine letzte Stunde naht, möchte ich mein Gewissen erleichtern, indem ich Ihnen ein Geheimnis mitteile, das uns beide nahe angeht. Am Tage, als Sie geboren wurden von einer Mutter, die ich nennen kann, und die diese Erde schon verlassen hat, wurde mir ein Sohn geboren. Es wurde mir ein Tausch der Kinde, angeboten. Da ich arm bin, und die mir gestellten Bedingungen günstig waren so willigte ich ein. Ich nahm Sie als meine Tochter au, während der' andere Teil meinen Sohn adoptierte. Ich sehe, dass der Himmel mein Vergehen nicht bestraft hat, denn Sie befinden sich jetzt in besserer Lage und Stellung, als Ihr Vater, und deshalb kann ich in Ruhe meine Augen schließen. Indem ich Sie wegen meiner Tat um Verzeihung bitte, ersuche ich Sie jedoch, sie geheim zuhalten, um nicht in der Welt einen Skandal hervorzurufen, um eine Sache ' die nicht wieder gutzumachen ist. Diesen Brief werden Sie erst nach meinem Tod erhalten. Lorenzo Chiapini." Maria Stella reiste nach Empfang des Briefes sofort nach Italien. Sie glaubte nicht, dass die Sache nicht wieder gutzumachen sei, und wollte den Namen ihres Vaters kennen lernen. Sie forschte nach und fand heraus, dass vor ihrer Geburt ein französisches Ehepaar in Modigliana Aufenthalt genommen und dort bis April 1773 geweilt hatte. Diese Reisenden hatten sich Graf und Gräfin von
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Joinville genannt. Auf diese Nachricht hin ging sie nach Joinville und erfuhr dort, dass Joinville ehemals eine Apanage der Familie Orleans war, und dass der Herzog Louis Philipp Joseph von Orleans im Jahre 1772 in Italien gereist und 1793 auf dem Schafott gestorben sei. Er habe einen Sohn hinterlassen, den Herzog von Orleans, der in Paris lebe, das väterliche Vermögen geerbt habe und, da seine jüngeren Brüder, der Herzog von Montpensier in England und der Herzog von Beaujolais auf Malta verstorben seien, jetzt der einzige Prinz von Geblüt des Zweiges Orleans sei. Maria Stella reist sofort nach Paris und versucht vergeblich bis zum Herzog zu dringen. Sie wird von Geschäftemachern ausgebeutet und bestohlen, und lässt schließlich durch die Presse die Erben des Grafen von Joinville suchen, denen sie eine wichtige Mitteilung zu machen habe. Der Herzog hörte davon, weigerte sich aber, diese Mitteilung direkt entgegenzunehmen. Er beauftragte aber seinen Onkel, den greisen Abbe de Saint-Phar, bei der Baronin vorzusprechen. Nun trat alles klar zutage, und der Herzog von Orleans erhielt Kenntnis von den Machenschaften, deren Opfer er werden sollte. Und dagegen verfasste er das Memorandum, das ich berufen war, abzuschreiben. Es war mit einer Gewalt der Dialektik geschrieben, die eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Herzogs war und die Bewunderung des damals berühmtesten Advokaten, Meister Dupins, hervorrief. Nach zweistündiger Arbeit war ich an dem Punkt angelangt, wo ich aufhören sollte, und wartete auf den Herzog. Er nahm meine Abschrift, lobte meine Schönschrift und rief dann: „Ah! Sie scheinen Ihre eigene Interpunktion zu haben!" Darauf nahm er die Feder zur Hand, ließ sich an der Ecke des Tisches nieder, und verbesserte meine Interpunktion nach den Regeln der Grammatik. Der Herzog tat mir eine große Ehre an, wenn er behauptete, ich habe meine persönliche Interpunktion. In der Tat wusste ich wie von so vielen anderen Dingen nichts von ihr. Ich behandelte sie nach meinem Gefühl oder meistens überhaupt nicht. Das tue ich auch heute noch, und man wird in meinen Manuskripten kaum ein Ausrufungszeichen oder einen Akzent finden! Nachdem der Herzog mit dem Verbessern fertig war, ging er daran, mir das weitere zu diktieren, und bemerkte mit Befriedigung, dass ich fast so schnell schrieb, als er diktierte. Ich kam an den Satz: „Und wenn nur die auffallende Ähnlichkeit, die zwischen dem Herzog von Orleans und seinem erhabenen Ahnen Ludwig XIV. besteht, anzuführen wäre, würde das nicht schon allein genügen, um die Ansprüche dieser Abenteurerin abzuweisen? . . ."
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Ich war nicht sehr stark in Geschichte, aber so viel wusste ich doch, dass der Herzog von Orleans von Monsieur, dem Bruder Ludwigs XIV., abstammte, und dass dieser daher nicht der Ahne des Herzogs von Orleans sein konnte, der mir die Ehre erwies, sein Memorandum gegen Maria Stella zu diktieren. Ich erhob daher bei diesen Worten den Kopf, was jedenfalls eine große Unverschämtheit war, denn ein Fürst täuscht sich niemals. Der Herzog blieb daher auch plötzlich vor mir stehen und sagte: „Herr Dumas, merken Sie sich: Selbst wenn man von Ludwig XIV. nur zur linken Hand abstammen würde, so wäre das dennoch eine zu große Ehre, als dass man sich ihrer nicht rühmen sollte! ... Fahren Sie fort." Nun schrieb ich weiter, ohne noch einmal den Kopf zu erheben, und um vier Uhr gab der Herzog mir die Freiheit wieder, indem er mich fragte, ob ich am Abend mit ihm weiterarbeiten wollte. Ich antwortete, dass ich zur Verfügung Seiner Königlichen Hoheit stände. Am Abend wurde die Abschrift beendet, Meister Dupin wird meine Schönschrift noch unter seinen Akten finden. Ich sprang, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, stürmte ins Büro und rief ohne jede Vorrede Lassagne zu: „Wie kommt es denn, dass Ludwig XIV. Ahnherr des Herzogs von Orleans ist?" »Oh, mein, Gott das ist ganz einfach: der Regent heiratete Fräulein von Blois, eine natürliche Tochter Ludwigs XIV. und der Montespan, wofür er von seiner Mutter, der geborenen Prinzessin von der Pfalz, eine gesalzene Ohrfeige bekam, als er ihr die Verlobung, mitteilte. Sie können das in den Memoiren der Prinzessin und bei St. Simon lesen." Ach, dachte ich und ließ den Kopf sinken, das alles werde ich wohl niemals wissen. Ich will hier gleich anführen, wie die Sache der Maria Stella endete. Sie ging nach Italien, um sich mit den nötigen Schriftstücken zu versehen, und erfocht vor dem geistlichen Hof von Faenza ein Urteil zu ihren Gunsten und eine Berichtigung ihres Geburtsscheines. Mit diesem versehen, kam sie Ende des Jahres 1824 wieder nach Paris zurück, konnte aber weder von Ludwig XVIII., der gewiss dem Herzog von Orleans nicht grün war, noch von Karl X. Anerkennung ihres Namens erzielen. Als der Herzog von Orleans dann König wurde, blieben weitere Einschüchterungsversuche ohne Erfolg, selbst die erbittertsten Feinde des Königs hüteten sich, den Ansprüchen der Maria Stella Vorschub zu leisten. Sie blieb in Paris und wohnte am äußersten Ende der Rue de Rivoli im fünften Stock. Sie betrieb eine Geflügelzucht, und von fünf Uhr morgens ab wurden die Bewohner der Straße durch das Gegacker der Vögel aus ihrem Schlaf geweckt. Pariser werden sich vielleicht erinnern, wie ganze Scharen von Spatzen sich zu Tausenden auf drei Fenster stürzten, die auf den Balkon eines Hauses der Rue de Rivoli hinausgingen. Das waren die drei Fenster der Maria Stella Petronilla Newborough, Baronin Sternberg,
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die bis zu ihrem Lebensende sich als „geborene Joinville" unterzeichnete. Das arme Weib starb 1845 in halbem Wahnsinn. Ihre letzten Worte waren: „Geben Sie mir doch mal die Zeitung her; ich will die Rede von dem Banditen da lesen." Ungefähr zwanzig Tage später, nachdem ich die Abschrift des Memorandums angefertigt hatte, ließ mich Oudard in sein Büro rufen und eröffnete mir, dass ich von jetzt an fest angestellt sei. So war ich denn dank meiner Schönschrift und meiner Geschicklichkeit, Umschläge und Siegel zu machen, zum Beamten mit 1200 Franken Gehalt ernannt worden! Am selben Tage benachrichtigte ich meine Mutter und bat sie, bei der ersten Gehaltserhöhung, die ich bekommen würde, zu mir nach Paris zu ziehen.
Die Mutter zieht nach Paris
Am 1. Januar 1824 wurde ich vom überzähligen Beamten mit 1200 zum wirklichen mit 1500 Franken befördert. Ich fand diese Stelle überaus glänzend und dachte, nun sei es an der Zeit, meine Mutter nach Paris kommen zu lassen. Ich hatte sie seit neun Monaten nicht mehr gesehen und sehnte mich schon nach ihr. Während dieser Zeit war ich zu der traurigen, aber wichtigen Überzeugung gelangt, dass ich nämlich von all dem, was ich wissen sollte, um auf der von mir so sehnlich angestrebten Laufbahn auch nur halbwegs vorwärts zu kommen, rein gar nichts wusste. Aber nun hatte ich die Gewissheit, für die Dauer in einer einträglichen Stellung in Paris bleiben zu können, ich war gewiss, dass ich mit meiner Monatsgage von 125 Franken nicht verhungern werde. Weit entfernt, den Mut zu verlieren, begann ich nun, mit doppeltem Eifer meinem Ziel entgegenzustreben, und wenn ich es auch noch in weite Ferne gerückt sah, beschloss ich doch, die Zeit zu nutzen und mich mit allem Ernst meinen Studien zu widmen. Leider blieb mir nach Abzug meiner Amtsstunden nur sehr wenig Zeit übrig. Von halb elf bis fünf musste ich im Palais-Royal arbeiten. Überdies lastete auf dem Sekretariat eine Arbeit, von der alle anderen Amtsabteilungen befreit waren. Wir beide - Ernst und ich - mussten uns nämlich zwischen acht und zehn Uhr wieder einfinden, um die sogenannte Posttasche zu machen, so lange der Herzog von Orleans in Neuilly wohnte, das heißt, drei Viertel des Jahres hindurch, da der Herzog als besonderer Freund des Landlebens alljährlich fast neun Monate in Neuilly zubrachte. Die Arbeit war nicht schwer, aber unerlässlich und unaufschiebbar. Sie bestand darin, dem Herzog von Orleans mittels Stafette die Abendzeitungen und die im Laufe des Tages eingetroffenen Briefe zu übermitteln und dafür wieder die Befehle für den folgenden Tag entgegenzunehmen. Dadurch verlor ich jeden Abend zwei Stunden, und oben drein war es mir unmöglich, ein Theater zu besuchen, mit Ausnahme des Theatre Francais, das dicht an unser Amtsgebäude stieß.
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Um gerecht zu sein, muss ich auch noch erwähnen, dass Oudard, der täglich drei Freikarten zur Verfügung hatte, uns von Zeit zu Zeit eine dieser Karten zukommen ließ. Aber diese Großmut wandelte ihn nur an solchen Tagen an, an denen es schlechte Stücke gab. Dabei muss ich jedoch bemerken, dass man damals alle Stücke, in denen weder Talma noch die Mars auftraten, „schlechte Stücke" nannte. So kam es denn, dass ich für mich, der ich das Theater als Studium besuchte, unter diesen „schlechten Stücken" mitunter auch ausgezeichnete vorfand. Überdies hatte ich mit Ernst vereinbart, wöchentlich im Postdienst abzuwechseln, und so gewann ich jeden Monat fünfzehn freie Abende. Um diese Zeit lernte ich einen jungen Mann kennen, der sich Thibaut nannte. Er war Arzt, damals freilich noch ohne Patienten, aber deshalb keineswegs ohne Verdienst. Eine Kur verschaffte ihm einen bedeutenden Ruf, eine andere ein ebenso bedeutendes Einkommen. Bald darauf begleitete er die Marquise von Lagrange nach Italien und heilte sie von einem für tödlich gehaltenen chronischen Leiden. Nachdem die Kur beendet war, reichte die dankbare Marquise dem Retter ihre Hand. Beide bewohnen noch zur Stunde ihre herrliche Besitzung in der Nähe von Gros-Bois. Thibaut, der jetzt im Besitz einer Rente von 40 000 bis 50 000 Livres ist, hat die Medizin an den Nagel gehängt und beschäftigt sich nur noch mit der Zucht und Veredlung von Obst und Blumen. Aber damals war Thibaut, gleich Adolf und mir, arm wie eine Kirchenmaus. Wir gehörten übrigens auch zu seinen Kunden, und zwar zu den allerschlechtesten, denn wir bezahlten überhaupt nichts. Wieso wurden wir Thibauts Kunden oder Patienten, wenn das besser klingt? Um 1823 und 1824 kam die Schwindsucht förmlich in Mode. Jeder zweite Mensch war brustkrank, besonders die Dichter. Es gehörte sozusagen zum guten Ton, bei jeder etwas heftigeren Bewegung Blut zu spucken und unter dreißig Jahren zu sterben. Es versteht sich von selbst, dass Adolf und ich - jung, lang und mager, wie wir waren -, diese Mode auch mitmachten, wozu wir übrigens mehr als die meisten anderen berechtigt waren. Wir trafen uns fast jeden Abend in einem kleinen Zimmer in der Rue du Pelican, das vom PalaisRoyal nur hundert Schritte entfernt und daher für mich sehr günstig war, da ich jeden Augenblick hinübergehen konnte, um meine Posttasche abzufertigen. Des Morgens ging ich mit Thibaut zuweilen ins Spital und trieb dort ein wenig Physiologie und Anatomie, obwohl ich den mir angeborenen Widerwillen gegen Leichen und Operationen nie völlig zu überwinden vermochte. Daher habe ich auch das bisschen medizinische und chirurgische Wissen, das mir bei meinen Romanen oft sehr gut zustatten kam. Abends studierten wir auf seinem Zimmer Physik und Chemie. Dort holte ich mir die ersten Kenntnisse jener Gifte, die ich Madame Villefort im „Monte Christo" anwenden ließ.
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Bei unseren Studien war gewöhnlich auch eine junge, hübsche Nachbarin zugegen, die sich Fräulein Walker nannte und von Beruf Modistin war. Einmal war ich nahe daran, mich um ihretwillen mit Thibaut zu entzweien. Aber sie wusste den Streit beizulegen, und so blieben wir alle drei nach wie vor gute Freunde. Was Wissensdurst und Arbeitslust betrifft, habe ich Thibaut sehr viel zu verdanken. Andererseits begann ich auch nach den Weisungen Lassagnes zu lesen. Vor allem Walter Scott. Der erste Roman des „schottischen Barden", den ich las, war „Ivanhoe". Anfangs konnte ich dem derben Naturell Gurths und den tollen Scherzen Vambas wenig Geschmack abgewinnen. Als mich der Verfasser aber in den riesigen Speisesaal des alten Sachsen einführte, als ich die Flammen des Kaminfeuers die Tracht des unbekannten Pilgers magisch beleuchten, als ich die ganze Familie des „Than" vom Herrn des Hauses bis zum letzten Diener an dem langen Eichentisch Platz nehmen, als ich den Juden Isaak mit seiner gelben Mütze und seine Tochter Rebekka mit ihrem goldgestickten Leibchen, und in dem Turnier von Ashby ein mir fremdartiges Bild vor mir sah, da zerteilten sich die Wolken, die mein Auge bis dahin verdüstert hatten, und ich staunte in einen Horizont hinein, der mir noch ferner lag als alle, die sich bisher meinem Blick erschlossen hatten. Dann kam Cooper mit seinen Urwäldern, mit seinen unabsehbaren Wiesengründen, mit seinen unermesslichen Meeren. Ich lernte in seinen Romanen Meisterwerke der beschreibenden Dichtung kennen, die den Mangel eines tieferen Gehaltes hinter dem Reichtum der Form verbergen. Dann kam Byron, der fast in demselben Augenblick in Missolunghi verschied, als ich in Paris als Lyriker und Dramatiker zu studieren anfing. Armer, unsterblicher Dichter, der du noch im Sterben dich an der Hoffnung labtest, die Nachricht von deinem Tod werde in allen Herzen einen lebhaften Widerhall linden, was würdest du gesagt haben, wenn du zugegen gewesen wärest, als ich, mit der Zeitung in der Hand, ins Büro kam und verzweifelt "Byron ist tot", und unser zweiter Bürochef ganz naiv fragte: „Byron, wer ist denn das?" Diese Frage schmerzte mich tief, und doch freute sie mich auch wieder, denn ich hatte endlich einen Menschen gefunden, der noch unwissender war als ich, und dieser Mensch war obendrein ein zweiter Bürochef. Wäre er bloß ein Kanzlist gewesen, so hätte mir das wenig Trost gewährt. Meine Mutter, die sich ohne mich ebenso sehr langweilte wie ich mich ohne sie, hatte ihren Tabakladen aufgegeben und einen Teil ihrer bescheidenen Habe verkauft. Sie schrieb mir, sie werde in kurzem mit einem Bett, einer Kommode, einem Tisch, zwei Stühlen, vier Sesseln und 100 Louisdor Bargeld nach Paris kommen. 100 Louisdor ... das war gerade das Doppelte meines Jahresgehalts, wir hatten also zwei Jahre lang jährlich 2400 Franken zu verzehren. Nach diesen zwei Jahren, dachte ich, werde sich schon das weitere finden.
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Dass sich aber etwas finden müsse, erschien mir um so dringender, da, während im Palais-Royal der Herzog von Montpensier geboren wurde, bei mir, Place des Italiens Nr. 1, ein Herzog von Chartres das Licht der Welt erblickte *). Dieser Umstand sowie die gar zu große Beschränktheit in meiner gelb tapezierten Kammer, wo ich meine Mutter unmöglich unterbringen konnte, nötigten mich, eine neue Wohnung zu suchen. Sie zu suchen war leicht, sie zu finden aber desto schwerer, denn in der Nähe des Palais-Royal waren die Wohnungen sehr teuer. Wohnte ich aber zu weit weg vom Palais-Royal, so zerriss ich mit dem viermaligen Hin- und Hergehen des Tages mehr Stiefel oder Schuhe, als ich an Mietzins ersparte. Ein Mensch, der täglich vier Franken fünf Sous verdient, kann mit seinem Geld eben keine großen Sprünge machen. Ich hatte wohl mit Leuven drei oder vier Theaterstücke in Arbeit, aber ich musste zu meinem größten Leidwesen selbst gestehen, dass Leuven - der mit Soulie nicht zum Ziel gelangen konnte - mit mir wahrscheinlich noch weniger ausrichten würde. Ich musste mir also eine Wohnung suchen, die vom Palais-Royal nicht zu weit entfernt und die auch nicht zu teuer war. Eine solche fand ich denn endlich Faubourg Saint-Denis Nr. 55 in dem an den „Goldenen Löwen" stoßenden Haus. Dort mieteten wir im zweiten Stock eine auf die Straße gehende Wohnung, die aus Schlaf-, Speisezimmer, Kabinett und Küche bestand, Für das alles bezahlten wir 350 Franken, was für uns noch immer ein sehr hoher Mietzins war. Nun setzte meine Mutter zuerst ihre Möbel, dann sich selbst in Bewegung und richtete es so ein, dass sie mit den Möbeln zugleich in Paris eintraf. Es war eine große Freude für uns, als wir uns nach langer Trennung endlich wieder vereint sahen, obwohl sich, wenigstens bei meiner Mutter, in diese Freude auch wieder einige Unruhe mischte. Sie traute weder meinen Plänen noch teilte sie meine Hoffnungen. Ach, sie hatte so viele traurige Erfahrungen, so viele Täuschungen und Leiden eines langen, schmerzenreichen Lebens hinter sich ...
*) Der Herzog von Montpensier, fünfter Sohn des Herzogs von Orléans, wurde am 31. Juli 1824 geboren, vier Tage nachdem Dumas ebenfalls Vater eines Sohnes geworden war. Die Mutter des durch seine Schauspiele „Die Kameliendame", „Halbwelt" u. a. Werke berühmt gewordenen Bühnendichters Alexander Dumas fils (1829-1895) war die 1793 in Brüssel geborene Marie-Catherine Lebay, die getrennt von ihrem in Rouen lebenden Ehemann in Paris als Näherin ein kleines Wäschegeschäft aufmachte, in dem sie drei Gehilfinnen beschäftigte. Da sie mit Dumas auf einer Etage wohnte, lernten sich die beiden kennen. Schließlich gab Dumas sein Zimmer auf und führte gemeinsamen Haushalt mit der Geliebten. Catherine Lebay war mittelgroß, etwas füllig, sie hatte blondes Haar, auffallend helle Hautfarbe und ein niedliches Gesicht. Nach seinen ersten Erfolgen als Dramatiker trennte sich Dumas von ihr, da er in leidenschaftlicher Liebe zu Melanie Waldor entbrannt war. Die Mutter zog ihr Kind ziemlich nachlässig auf, bis Dumas' spätere Geliebte, die Schauspielerin Bell Krebsamer, die von Dumas eine Tochter hatte, sich des kleinen Alexanders annahm. Dumas brachte ihn in ein Internat, wo der intelligente Junge eine gute Ausbildung erhielt. Dumas versöhnte sich später mit der Mutter seines Sohnes, der mit rührender Liebe an ihr hing. Catherine Lebay starb 1868, als ihr Sohn bereits ein ebenso erfolgreicher und berühmter Dichter geworden war wie der Vater.
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Ich suchte sie so gut es ging zu beruhigen, und um ihr den Aufenthalt in Paris wenigstens während der ersten Tage etwas angenehmer zu gestalten, bot ich bei Oudard, Arnault und Adolf Leuven alles auf, um ihr Theaterkarten zu verschaffen. Schon nach einer Woche hatten wir uns in unserem Nest so behaglich eingerichtet, als wären wir nie getrennt gewesen. In demselben Stock, nur auf der anderen Seite, wohnte ein Ministerialbeamter, ein wackerer Mann, der schon über vierzig war. Er hieß Despres. In seiner Freizeit dichtete er und hatte ein paar Stücke geschrieben, die an kleinen Bühnen aufgeführt wurden. Der arme Mann siechte an einer Brustkrankheit dahin. Als ich gelegentlich einmal äußerte, unsere Wohnung wäre zu teuer, erwiderte er: „Warten Sie, bis ich tot bin, was nicht mehr lange dauern kann, dann nehmen Sie meine Wohnung, die sehr bequem ist und nur 2 3 0 Franken kostet." In der Tat starb er sechs Wochen später mit jener sanften Ruhe, mit jenem stoischen Gleichmut, den ich fast bei allen Menschen angetroffen habe, deren Leben noch im 1 8 . Jahrhundert wurzelte. Seine Wohnung stand nun leer. Wir mieteten sie und fanden sie unseren Verhältnissen durchaus entsprechend. Erstes Duell Am 3 . Januar 1 8 2 5 wurde einer unserer Kollegen namens Tallancourt von seinem Büro in die Bibliothek des Herzogs von Orleans versetzt. Aus diesem Anlass lud er mich und unseren Kollegen Betz zu einem Diner im Palais-Royal ein. Beide waren alte Soldaten. Tallancourt war bei Waterloo dabei gewesen. Als die Flucht begann, befühlte er Taschen und Magen und fand, dass beide leer waren. Kurz entschlossen packte er mit seinen Riesenkräften eine demontierte Vierpfünderkanone, lud sie auf seine Schultern, schleppte sie zwei Meilen weit und verkaufte sie für zehn Franken an einen Metallgießer. Dank dieser zehn Franken konnte er seinen Rückzug ziemlich anständig bewerkstelligen und begab sich nach Semur, seiner Heimat, von wo Vatout ihn mitnahm, um ihn in den Büros des Herzogs von Orleans und nun in dessen Bibliothek anzustellen. Nach dem Diner schlugen die beiden alten Soldaten, die leidenschaftliche Raucher waren, vor, in der holländischen Kneipe eine Zigarre zu rauchen. Ich wollte sie nicht verlassen, obwohl ich gegen Tabakrauch und Kneipen einen großen Widerwillen hatte, und ging mit ihnen zum ersten- und, ich habe das Recht, es zu hoffen, zum letzten Mal in dieses berühmte Lokal, das ein Schiff als Schild hatte. Ich hatte einen großen, weiten Mantel um, dessen Besitz ich ebenso heiß erstrebt hatte wie seinerzeit die berühmten Stiefel. Es scheint, dass die Art, wie ich ihn umgeworfen hatte, einem der Herren missfiel, die gerade Billard spielten. Er sagte einige Worte zu den Mitspielenden, alle blickten auf und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Mehr brauchte es nicht, um mich in
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Wut zu versetzen. Ich ergriff ein Billardqueue, stieß die Bälle auseinander und fragte: „Wer will mit mir eine Partie machen?" - „Aber die Herren spielen ja schon", bemerkte Tallancourt. - „Nun", erwiderte ich, „die werden wir davonjagen, ich" - und dabei ging ich auf den Betreffenden los, der sich über mich mokiert hatte - „übernehme den hier." Nun war der Krach fertig. Betz und Tallancourt begriffen sofort, dass ich Gründe haben müsse, so zu handeln, und sprangen herbei. Um jeden Lärm im Lokal selbst zu vermeiden, tauschten wir die Karten aus und verabredeten uns für den übernächsten Tag um neun Uhr morgens im „Hotel de Nantes". Tallancourt und Betz waren natürlich meine Zeugen. Sie waren in einer gewissen Unruhe über ihre Funktion. Ich war noch sehr jung, und das sollte mein erstes Duell sein; ich kam frisch aus der Provinz, konnte ich da waffengeübt sein? Sie fragten mich, welche Waffe ich vorziehe. Ich erwiderte, das sei mir gleich, das wäre ihre Sache, nicht die meine. Diese Versicherung beruhigte sie ein wenig, trotzdem bat mich aber Tallancourt, ihn am anderen Morgen auf dem Scheibenstand bei Gosset zu treffen. Seitdem ich in Paris war, hatte ich noch nicht einmal wieder eine Pistole abgeschossen, aber ich dachte an unsere Schießübungen im Hause de la Ponces und war beruhigt.
Tallancourt ließ eine Gipsfigur aufstellen. Da ich die Gewohnheiten der Pariser Schießstände nicht kannte und nach allem fragte, so hielt der Besitzer mich für einen Anfänger, und Tallancourt begann, das war deutlich zu bemerken, seine Meinung zu teilen.
Ich gestehe, dass diese allgemeine Meinung mich ärgerte. Ich wandte mich an Tallancourt und fragte: „Wie viel kostet das Gipsding da?" - „Vier Sous." - „Und wie viel Kugeln soll ich verschießen?" - „Zwölf." - „Nun gut. Da ich nicht reich genug bin, um mir den Luxus gestatten zu können, zwölf Puppen zu vernichten, so will ich dieser da mit elf Kugeln einen Rahmen schießen und sie mit der zwölften durchbohren." - „Wie? Was?" machte Tallancourt verblüfft. - „Ich will Ihnen zeigen, mein Lieber, wie wir das in Villers-Cotterets machen." Ich zeichnete einen Kreis um die Puppe und begann meine Operation. Es gelang mir ohne weiteres, zu wiederholen, was ich schon zwanzigmal bei de la Ponce ausgeführt hatte. Da Tallancourt so etwas zum erstenmal sah, so war er starr vor Verwunderung. „Das genügt, und ich bin nun beruhigt, falls Pistolen gewählt werden. Wie steht es aber mit dem Fechten? Wenn er nun Degen wählt?" - „Was kann ich dagegen tun? Dann werden wir eben auf Degen losgehen!" - „Und Sie können sich damit verteidigen?" - „Ich hoffe es." „Ich bemerke das, weil ich das Pistolenduell nicht liebe." - ,.Sie haben recht, die Pistole ist eine hässliche Waffe." „Ich werde sie nur annehmen, wenn es gar nicht anders geht." - „Das ist auch meine Ansicht." - „Na, dann um so besser. Geben Sie dem Mann 2 4 Sous, und dann wollen wir frühstücken gehen." Zum Glück waren wir erst am 4 . des Monats, so dass ich noch Geld hatte!
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Wir frühstückten und gingen dann ins Büro, wo Betz uns gespannt erwartete und mit großer Beruhigung den Bericht Tallancourts entgegennahm. Um fünf Uhr teilten sie mir mit, dass mein Gegner Degen gewählt habe. Ich kehrte nach Hause mit lächelnder Miene, aber in gedrückter Stimmung zurück. In Bezug auf mut hatte ich an mir folgendes beobachtet: sehr sanguinischen Temperaments, gehe leicht der Gefahr entgegen; wenn sie da ist und ich den Stier bei den Hörnern packen kann, dann überkommt mich keine Schwäche, die Erregung meines Blutes hält mich aufrecht. Wenn ich aber im Gegenteil stundenlang darauf warten muss, dann lassen meine Nerven nach, und es ist mir peinlich, mich der Gefahr ausgesetzt zu haben. Doch bald kommt mir dann die Überlegung zu Hilfe und gebietet der Moral energisch , sich gut aus der Affäre zu ziehen. Bin ich dann auf der Mensur, so besteht wohl noch eine gewisse innerliche Reue, äußerlich ist aber keinerlei Erregung bemerkbar. Ich bin übrigens der Ansicht, dass jeder Mensch, wenn er nicht eine ganz besondere Organisation besitzt, die Gefahr fürchtet und, seinen persönlichen Gefühlen folgend, instinktiv alles tun würde, um ihr zu entgehen, und dass nur die moralische Kraft, der Stolz, es sind, die ihn sich lächelnd einer Wunde oder dem Tod aussetzen lassen.
Meiner Mutter sagte ich natürlich nichts von dem bevorstehenden Zweikampf, blieb aber den ganzen Abend bei ihr. Am anderen Morgen küsste ich sie zärtlich, versteckte Vaters Degen unter meinem Mantel und ging fort. Tallancourt hatte versprochen einen zweiten Degen zu beschaffen. Zehn Minuten vor neun war ich im „Hotel de Nantes“, wo die beiden Zeugen meines Gegners schon eingetroffen waren. Es schlug halb zehn, zehn und elf Uhr. Betz und Tallancourt wurden nervös, da das Nichteintreffen meines Gegners sie die Bürostunden versäumen ließ. Ich muss gestehen, dass ich für meinen Teil sehr erfreut war. Ich hoffte, dass die Geschichte mit Entschuldigungen enden würde, und das wäre mir gerade so lieb gewesen. Um elf Uhr schlugen die Zeugen meines Gegners vor, diesen in seiner Wohnung aufzusuchen. Meine Zeugen gingen darauf ein. Ich wurde ins Büro geschickt mit der Weisung, Oudard offen alles zu gestehen und ihm die Ursache unserer Verspätung auseinander zusetzen. Oudard war aber zur Herzogin von Orleans geschickt worden, so dass nichts zu gestehen war.
Eine halbe Stunde später trafen meine Zeugen ein. Sie hatten meinen Gegner im Bett angetroffen. Er hatte sich damit entschuldigt, dass es ihm unmöglich gewesen sei, aufzustehen, er wäre körperlich ganz gebrochen, da er am tag zuvor zuviel Schlittschuh gelaufen sei.
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Diese Entschuldigung wäre von seinen Zeugen nicht angenommen worden und sie hätten ihn gebeten, nicht mehr auf sie zu rechnen, wenn die Sache Folgen haben sollte. Darauf hätten sie sich zurückgezogen, mein Gegner habe aber versprochen, am anderen Morgen, mit anderen Zeugen sich um neun Uhr an der Barriere Rochechouart einzustellen, und das Duell solle dann in einem der Steinbrüche von Montmatre stattfinden. Die Sache war als nur aufgeschoben. Wir stellten und pünktlich ein, diesmal war auch mein Gegner da. Man grüßte sich steif, und dann spazierten wir gemeinsam den Steinbrüchen zu. Ich ging mit einem der neuen Zeugen meines Gegners, der, mich für einen einfachen Zeugen haltend, sich mit mir in ein Gespräch einließ. Er wurde später mein Freund, wie die meisten von denen, die, ohne mich zu kennen, mir zuallererst feindlich gesinnt waren, später meine Freunde wurden. Es hatte die ganze Nacht geschneit, daher war es schwer einen passenden Platz zu finden. Die Steinbrucharbeiter, denen es ungewöhnlich vorkam, dass sechs Herren frühmorgens in dieser Gegend bei Kälte und Schnee spazieren gingen, mussten wohl die wahre Ursache unserer Gegenwart vermutet haben, denn bald gab uns eine ganze Schar Geleit. Endlich fanden wir einen ebenen Raum, zehn Schritte breit und zwanzig lang, mehr brauchten wir nicht. Die Degen wurden ausgelost. Der meines Vaters war zwei Zoll kürzer als der andere. Tallancourt schlug vor zu losen, wer den längeren haben sollte. Ich machte der Debatte darüber ein Ende, indem ich erklärte, ich wolle den kürzeren freiwillig nehmen, denn ich zog vor, zwei Zoll Eisen weniger zu haben als diesen Degen gegen meine Brust gerichtet zu sehen. Wir warfen unsere Röcke ab und legten uns aus. Da mein Gegner sich bei den Vorbereitungen sehr schneidig benommen hatte, so nahm ich an, es mit einem tüchtigen Fechter zu tun zu haben, und beschloss vorsichtig zu sein, zumal er den längeren Degen führte. Zu meinem großen Erstaunen bemerkte ich aber sogleich, dass es sich schlecht deckte und hauptsächlich gegen Terzen Blöße gab. Das konnte aber auch eine Finte sein, um mich zu diesem Stoss zu verleiten und dann aus meiner Unvorsichtigkeit Nutzen zu ziehen. Er machte einen Schritt rückwärts. Ich senkte meinen Degen und bemerkte: “Aber decken Sie sich doch besser!“ – „Wenn es mir nun so passt mich nicht zu decken?“ erwiderte er. – „Ah! Das ist etwas anderes.... Dann muss ich aber sagen, dass Sie da eine sonderbare Idee haben.“
Die Helden der Boheme Und ich legte mich wieder aus. Ich stieß eine Quart an und dann eine halbe Terz gleich hinterher. Er sprang zurück, stolperte über die Ranke einer Rebe und fiel auf den Rücken. Seine Zeugen stürzten auf ihn los, der inzwischen wieder aufgestanden war. Die Spitze meines Degens war ihm in die Schulter gedrungen. Gott sei Dank, dass ich die Terz nur angedeutet hatte, ausgestoßen hätte sie ihn durchbohrt.
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Der arme Bursche hatte noch nie einen Degen in der Hand gehabt. Da er es gestand und eine Wunde erhalten hatte, so wurde der Zweikampf für beendet erklärt. Ich stieg von Montmartre leichteren Herzens herunter als ich hinaufgegangen war. So verlief mein erstes Duell. Was ist aus meinen beiden Zeugen geworden? Von Betz hörte ich nie wieder etwas, seitdem er eine Stelle als Steuereinnehmer in der Provinz erhalten hatte. Den armen Tallancourt sah ich sehr traurig und schmerzlich enden. Der Herzog von Orleans hatte Freundschaft für ihn gefasst. Er war einer jener kraftvollen Menschen, die der Herzog liebte; und er war so intelligent, dass er seine Intelligenz zu verbergen wusste. Als der Herzog König wurde, berief er Tallancourt zu sich und konnte ihn bald nicht mehr entbehren. Wenn er in Neuilly weilte, schickte er Tallancourt häufig nach Paris, was dieser stets mit Freude hörte. Er fühlte sich im Büro nicht wohl und hatte frische Luft nötig So machte er diesen Weg stets zu Fuß, um Lungen und Herz zu stärken. Als er eines Tages wieder dorthin unterwegs war und längs des Chausseegrabens einher schritt, stürzte ein riesiger Hund, der von Tollwut befallen war, auf ihn los, um ihn zu beißen. Tallancourt hatte das unerhörte Glück, ihn mit beiden Händen an der Kehle packen zu können. Von dieser mächtigen Zange erfasst, kämpfte der Hund vergebens mit aller Macht, sich loszumachen, und nach fünf Minuten lag er erdrosselt am Boden, ohne dein Herkules auch nur die geringste Verletzung beigebracht zu haben. Aber diese fünf Minuten eines heroischen Kampfes, diese fünf Minuten Todesgefahr hatten seinem Gehirn eine schreckliche Erregung bereitet. Fünf oder sechs Monate später wurde Gehirnerweichung bei ihm festgestellt.Während eines Jahres sah ich den Ärmsten sichtlich körperlich und geistig verfallen, Kraft und Intelligenz Gebärde und Stimme verlieren. So litt er, allmählich dahinsterbend, achtzehn Monate lang, bis der Tod ihn von seinen Qualen erlöste. Meine Mutter hatte von der ganzen Duellgeschichte nichts erfahren. Sie wäre vor Angst gestorben, wenn sie nur eine Ahnung davon gehabt hätte. Da wir erst gegen ein Uhr ins Büro kamen mussten wir Oudard alles gestehen, der übrigens von dem Verhalten seines Beamten sehr angenehm berührt zu sein schien. Wir trafen ihn gerade in guter Laune, denn seit der Thronbesteigung Karls X. war im Palais Royal alles in Feststimmung. Der neue König*) hatte dem Herzog von Orléans endlich bewilligt, was Ludwig XVIII. ihm beharrlich verweigert hatte: den Titel Königliche Hoheit. *) Karl X., bisher Graf von Artois, der jüngere Bruder Ludwigs XVIII., war nach dessen Tod (16. September 1824) König von Frankreich geworden Er wurde durch die Julirevolution 1830 entthront und starb 1836 in Görz an der Cholera.
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Somit war das Abenteuer glücklich vorübergegangen, was um so wünschenswerter war, als mich häusliche Sorgen drückten.Die 100 Louisdor, die meine Mutter mitgebracht hatte, gingen zur Neige - eine wahrhaft erschreckliche Erkenntnis für uns, denn wir hatten somit in anderthalb Jahren 4000 Franken ausgegeben, fast 1800 mehr, als wir eigentlich durften. Es war für mich also höchste Zeit, mein Wort zu halten und durch irgendeine außeramtliche Nebenarbeit eine kleine Zulage zu meinem Gehalt zu verdienen.Ich arbeitete wohl noch immer fleißig mit Leuven, aber alle unsere Bemühungen waren bis dahin erfolglos geblieben. Wir schimpften daher auf die Ungerechtigkeit der Theaterdirektoren und den schlechten Geschmack der Dramaturgen, obwohl ich über den Wert unserer Arbeiten gerechter urteilte und mir im stillen gestand, dass ich meine Stücke ebenfalls ohne Umstände ablehnen würde.Wir beschlossen daher, ein Opfer zu bringen und Rousseau für uns zu gewinnen, damit er unseren Werken den letzten Schliff gebe. Dieses Opfer bestand darin, uns einige Flaschen alten Bordeaux, Rum und einen Zuckerhut zu verschaffen. Rousseau gehörte zu der bekannten Schule von Favart, Radet, Colle, Desaugier, Armand Gouffe und Konsorten, die nur arbeiten konnten, wenn sie die Pfropfen knallen hörten und die Punschbowle dampfen sahen. Rousseau besaß damals einen bedeutenden Ruf, den er aber zu seinem Bedauern mit seinem Mitarbeiter Romieu teilen musste Romieu*) war 1825 Rousseaus Mitarbeiter. Aber diese gemeinsame Arbeit hatte keinen anderen Erfolg, als dass sie eine Menge tolle Streiche verursachte, die das Tagesgespräch der Müßiggänger des „Cafe du Roi" und des „Cafe des Varietes" bildeten. Adolf war so heiter wie ein Trappist und ich konnte vermöge meines heiteren Temperaments wohl über die tollen Streiche anderer lachen, *) Francois-Auguste Romieu (1800-1856), l'homme le plus gai de France - der lustigste Franzose, wie seine Zeitgenossen ihn nannten, war einer der originellsten und geistvollsten Vertreter der an Originalen jeder Art so reichen Pariser Boheme der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sohn eines Offiziers, der bei einer Mission an den Hof des Schahs von Persien ums Leben gekommen war, besuchte R. das College Henri IV und das Polytechnikum, das er vor Ablegung der Offiziersprüfung verließ. Vorübergehend war er in einer Glaswarenfabrik tätig, dann wandte er sich der Literatur zu und schrieb gemeinsam mit anderen Autoren eine Reihe kurzweiliger Einakter und leichter Lustspiele, die an verschiedenen Pariser Theatern gespielt wurden und ihm in den Kreisen junger Anfänger einen gewissen Ruf verschafften. R. führte ein unstetes Vagabundenleben, war oft obdachlos und pflegte dann gewöhnlich in unbenützten Fiakern zu schlafen. Seine zahllosen Streiche, die er meist mit seinem Kollegen James Rousseau ausführte, wurden in ganz Paris belacht und haben in den zeitgenössischen Memoiren in verschiedenen Versionen ihren Niederschlag gefunden. Seine ausgezeichnete Schulbildung verschaffte R. durch die Vermittlung seiner Mutter 1838 den Posten eines Konservators für Denkmalpflege bei der Präfektur des Departements Morbihan.. Während er sich ernsthaft mit der Erforschung der vorgeschichtlichen Steindenkmäler und Hünenbetten der Bretagne befasste, schrieb er gleichzeitig neue Vaudevilles und geistvolle Plaudereien. 1830 wurde er dank der Protektion des Ministers Montalivet, der sein ehemaliger Mitschüler war, zunächst Unterpräfekt von Quimperle und Louhans (32), ein Jahr später bereits Präfekt des Departements Dordogne. Sein Freund Bugeaud, der berühmte Eroberer Algeriens und spätere Herzog von lsly, verschaffte ihm 1834 das Kreuz der Ehrenlegion. Die Langeweile des Provinzlebens verkürzte sich R. durch häufige und ausgedehnte Urlaubsreisen nach Paris, wo er als Feinschmecker Stammgast aller berühmten Lokale das Publikum durch seine Schwänke und Schlagfertigkeit belustigte. Der Posten als hoher Staatsbeamter war für R. im
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spielte aber dabei nie eine andere Rolle als die eines bloßen Zuschauers.Ich zollte daher auch der Überlegenheit, die Romieu und Rousseau in dieser Beziehung uns voraus hatten, stets meine vollste Bewunderung. Es verging selten eine Nacht, wo Rousseau — der weniger vertragen konnte, aber darum ebenso gern trank wie Romieu —, nachdem ihn sein treuloser Pylades im Stich gelassen hatte, nicht von einer Polizeistreife angehalten und wegen nächtlicher Ruhestörung festgenommen wurde. Aber Rousseau war wie die Kinder, denen man, damit sie nicht verloren gehen, einen Namen und eine Adresse einbläut. So hatte auch Rousseau den Namen eines gewissen Polizeikommissars, mit dem er befreundet war, so tief in sein Gedächtnis eingegraben, daß weder Wein noch Branntwein, weder Rum noch Punsch ihn auszulöschen vermochten. — Wenn Rousseau stammelte oder taumelte, sternhagel-betrunken war, wenn er den Namen und die Adresse Romieus, ja sogar seinen eigenen Namen und seine eigene Adresse vor lauter Wein seligkeit vergessen hatte, wusste er doch den Namen und die Adresse des Polizeikommissars genau und verständlich anzugeben.Und da man einen Menschen, wenn er auch noch so betrunken war, die gerechte Bitte nicht abschlagen konnte, zu einem Polizeikommissar geführt zu werden, so ließ sich auch Rousseau jedes Mal dem ihm befreundeten Kommissar vorführen, der ihm wohl erst eine derbe Strafpredigt hielt, ihn aber schließlich immer wieder frei ausgehen ließ. Einmal war jedoch diese Strafpredigt derber als sonst, und Rousseau hörte sie mit zerknirschtem Gemüt an. Der Kommissar machte ihm bittere Vorwürfe, daß er ihn jede Nacht im Schlaf störe, und daß es Zeit wäre, diesem Unfug ein Ende zu machen.„Sie haben recht", entgegnete Rousseau, „und ich verspreche Ihnen, daß ich mich künftig zu einem anderen Kommissar führen lasse und höchstens jede zweite Nacht zu Ihnen." wesentlichen eine Sinekure, die ihm Mittel und Kredit gewährte, um ein sorgloses Schlemmerleben zu führen. Auf den Boulevards, in allen Klubs, Theatern und Ballhäusern war der „Champagnergraf" eine bekannte Erscheinung. Jedermann wusste, daß der ordengeschmückte Präfekt der Freund der berühmten „poliste" des Bal Mabille war, „Reine Pomare". (Die nach der Königin von Tahiti genannte Tänzerin und Kokotte hieß eigentlich Heloise-Marie Sergent und war, wie ihre durch Dumas-fils' Roman und Schauspiel unsterblich gewordene Kollegin Alphonsine Plessis [La Dame aux Camelias], ein Bauernmädchen aus der Normandie.) Die „Königin Pomare" starb, kaum 22, an der Schwindsucht (1846), von R. aufrichtig betrauert. Kein Mensch nahm Anstoß an dem Verhältnis des verheirateten Regierungsbeamten mit der Kokotte. Er wurde Offizier der Ehrenlegion, Großkreuz hoher spanischer und deutscher Orden. Nach dem Sturz der Julimonarchie schloss er sich dem Prinz-Präsidenten Louis Napoleon an, dessen Gunst er sich vor allem durch seine politische Kampfschrift Le Spectre rouge (1852) gewann, die den französischen Bürger durch die Drohung mit der Wiederkehr einer Jakobinerschreckensherrschaft einschüchtern und für die Wahl Napoleons III. als „Retter der Gesellschaft" gewinnen sollte. Der Kaiser ernannte R. zum Generaldirektor der Schönen Künste und zum Inspektor der Kronbibliotheken. Der Tod seines einzigen Sohnes, der als Zuaven-offizier vor Sebastopol gefallen war, lähmte plötzlich die Lebenslust des genießerischen Epikureers. Ein altes Brustübel beschleunigte den Verfall seiner Kräfte und raffte den erst Sechsundfünfzigjährigen rasch hinweg. Alfred Marquiset, Romieu et Courchamps Paris 1913; Leon Seche, La Jeunesse doree sous Louis-Philipe, Paris 1910.
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Er hielt getreulich Wort. Aber nicht alle Polizeikommissare waren so nachsichtig wie der eine, der ihn persönlich kannte. Gleich der erste, zu dem er sich in der folgenden Nacht führen ließ, schickte ihn in das Polizeigefängnis des Stadtviertels Saint-Martin, aus dem er erst nach zweitägigem Arrest wieder entlassen wurde. Das bestimmte Rousseau, wieder zu seinem alten System zurückzukehren.Auf die Hausmeister und Kleinkrämer hatten es Rousseau und Romieu ganz besonders abgesehen. Rousseau steckt den Kopf durch das Fenster der Portierloge. „Guten Tag, lieber Freund." — „Guten Tag, Herr." — „Bitte, sagen Sie mir, was für ein Vogel ist das, der da am Fenster hängt?" — „Eine schwarze Grasmücke." — „Ach so ... Warum haben Sie denn eine schwarze Grasmücke?" — „Weil sie hübsch singt; hören Sie selbst." Der Hausmeister lauscht, die Hände über den Bauch gefaltet, kopfwackelnd und mit lächelnder Miene dem Gesang seiner Grasmücke.„Ja, Sie haben recht . . . Sind Sie übrigens verheiratet?" — „Ja, zum drittenmal." — „Wo ist denn Ihre Frau?" - „Die ist oben bei dem Zimmerherrn im fünften Stock." — „Der Tausend! Was macht sie denn beim Zimmerherrn im fünften Stock?" — „Sie räumt auf." — „Ist er jung oder alt, dieser Zimmerherr im fünften Stock?" — „So im mittleren Alter." — „Schön .. . Und Ihre Kinder?" — „Ich habe keine." — „Sie haben keine? Ja, was haben Sie denn mit Ihren drei Frauen gemacht?" — „Verzeihung, Herr . . . Suchen Sie jemand?" — „Nein." — „Wünschen Sie vielleicht sonst etwas?" — „Nein." — „Aber Sie richten doch schon seit einer Viertelstunde eine Frage um die andere an mich." „Allerdings." — „Aus welchem Grund taten Sie das?" — „Aus gar keinem Grund." — „Aus gar keinem Grund? ... Aber Sie müssen doch einen Zweck haben?" — „Durchaus nicht." — „Dann möchte ich aber doch wissen, wie ich zu der Ehre komme ..." „Mein Gott! Ich komme hier vorüber. Da lese ich auf der Tafel über Ihrer Loge: ,Auskunft auf Anfragen jeder Art erteilt der Hausmeister', und da ich gerade etwas Zeit hatte, ließ ich mir von Ihnen auf verschiedene Fragen Auskunft erteilen." Romieu kommt in den Laden eines Krämers. „Guten Tag." — „Ergebenster Diener, mein Herr." — „Haben Sie Achterkerzen?" — „In Menge, Herr, soviel Sie wünschen. Der Artikel geht sehr gut, da es mehr kleine, als große Geldbeutel gibt." — „Was Sie da sagen, gehört nicht mehr zum Krämergeschäft. Das ist eine wirtschaftspolitische Bemerkung." — „Oh, zuviel Ehre, zuviel Ehre." Romieu und der Krämer verbeugen sich. „Wenn ich mich nicht irre, so verlangten Sie ..." — „Eine Achterkerze." — „Nur eine?" — „Vorläufig, dann werden wir weiter sehen." Der Krämer zieht eine Kerze aus dem Paket. „Bitte sehr, mein Herr." — „Wollen Sie die Güte haben, mir die Kerze entzweizuschneiden. Ich fasse sie nicht gern an."
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„Sie haben recht, das riecht nicht gut. Hier sind die beiden Hälften Ihrer Kerze."„Nun muss ich Sie aber noch bitten, jedes dieser Stücke wieder in vier Teile zu zerschneiden." — „In vier Teile?" — „Ja, denn für meinen Zweck brauche ich acht Stückchen Kerze." — „Hier sind die acht Stücke." — „Wollen Sie auch die Gefälligkeit haben, ein Ende des Dochtes freizumachen?" — „Bei allen acht Stückchen?" — „Nein, nur bei sieben, denn beim obersten steht der Docht schon hervor." — „Das ist richtig." — ,Ja, ja ... so, so . . . ganz recht . . . Ich danke Ihnen. Nun warten Sie. Stellen Sie jetzt die acht Stückchen in einer Entfernung von je drei Zoll hier auf den Tisch." — „Ja, zum Teufel, was wollen Sie denn damit machen?" — „Das werden Sie gleich sehen . . . Würden Sie mir vielleicht noch ein Streichholz geben?" — „Recht gern, bitte sehr." — Und nun zündet Romieu mit wichtiger Miene die acht Kerzenstümpfchen an. „Aber, Herr, was machen Sie denn da?" — „Ich mache mir einen Jux." — „Wie, bitte? Sie machen einen Jux?" — „Jawohl." — „Und jetzt?" — „Und jetzt gehe ich wieder." Romieu grüßt höflich den Krämer und geht. „Wie? Sie gehen?" ruft ihm der Krämer nach. „Sie gehen, ohne zu bezahlen? . . . Bezahlen Sie mir wenigstens die Kerze." Romieu wendet sich in der Tür um. „Wenn ich Ihre Kerze bezahlen würde, wo wäre denn dann der Jux?" Und Romieu geht gelassen von dannen, ohne sich um das Geschrei des Krämers zu kümmern. Manchmal verstieg sich Romieu höher und verletzte die pflichtschuldige Ehrfurcht vor der hohen Handelswelt. Eines Abends geht er durch die Rue de la Seine. Es ist halb ein Uhr nachts, und er bemerkt an der Ecke der Rue de Bussy einen Angestellten, der sich eben anschickt, den Kaufladen „Zu den zwei Affen" zu schließen, der sonst schon um elf Uhr geschlossen wird. Romieu stürzt in den Laden. „Wo ist der Inhaber des Ladens?" — „Herr P . . .?" — „Jawohl." — „Er ist schon zu Bett gegangen?" — „Schon lange?" — „Vor einer Stunde." — „Aber er schläft doch im Hause?" — „Selbstverständlich." — „Gut, dann führen Sie mich zu ihm." — „Aber, mein Herr, ich bitte sehr ..." — „Keine Ausrede." — „Sie haben ihm also etwas sehr Dringendes zu sagen?" — „Ich zittere, daß ich mit jedem Augenblick zu spät kommen könnte." — „Wenn das der Fall ist ..." — „So gehen Sie doch, gehen Sie." Der Verkäufer nimmt sich kaum Zeit, den Laden zu schließen und führt Romieu sogleich in die Wohnung seines Chefs. Der schläft wie eine Ratte und schnarcht wie eine Bassgeige. „Herr P . . ., Herr P . . .", schreit der Angestellte. „Eh, Heh? Was willst du? Geh zum Teufel! Was gibt's? Was bringst du?" — „Ich . . . gar nichts." — „Wie? Gar nichts?" — „Nein, aber es ist ein Herr hier, der Sie unbedingt sprechen will." — „Jetzt — um diese Stunde?" — „Er sagte, es sei sehr dringend." — „Ja, wo ist denn
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dieser Herr?" — „Er steht hier an der Tür . . . Treten Sie doch bitte näher, mein Herr." Romieu geht leise auf den Zehen mit dem Hut in der Hand und süßlächelnder Miene in das Gemach. „Bitte tausendmal um Vergebung, mein Herr, daß ich noch zu so später Stunde störe ..." — „Oh, bitte sehr, das macht nichts . . . Womit kann ich Ihnen dienen?" — „Ich möchte gern den andern sprechen." —„Welchen andern?" — „Nun, Ihren Sozius." — „Wie, meinen Sozius?" —„Jawohl." — „Aber ich habe ja keinen Sozius." — „Wie, Sie haben keinen?" — „Gewiss nicht."
—
Ladenschild und
„Ja, schreiben:
unterstehen
Sie
wie ,Zu sich
können
Sie
denn
den
zwei
Affen?'
nicht
mehr,
ein
Pfui,
honettes
dann schämen Publikum
auf Sie zu
Ihr sich hinter
gehen. Gute Nacht wünsche ich Ihnen." Manchmal aber kam der Spaßvogel an den rechten Mann, der ihn kannte und ihm dann auch nichts schuldig blieb. So kam Romieu einmal in ein Uhrengeschäft. „Ich möchte gern eine gute Uhr haben." — „Bitte sehr, hier ist eine." — „Von wem ist diese Uhr?" — „Von Leroy." — „Wer ist dieser Leroy?" — „Einer meiner bekanntesten Kollegen." — „Garantieren Sie mir für diese Uhr?" — „Voll und ganz." — „Wie oft muss man sie aufziehen?" — „Einmal im Tag." — „Morgens oder abends?" — „Wie man will. Am besten aber wohl morgens." „Und warum am besten morgens?" — „Weil Sie abends gewöhnlich besoffen sind, verehrter Herr Romieu, und da könnten Sie die Feder leicht überdrehen." Diesmal war Romieu in die Falle gegangen. Er war für fremdes Verdienst durchaus nicht blind und versprach dem Uhrmacher, aus Dankbarkeit für den guten Witz zeitlebens seine Kundschaft. Ein Versprechen, durch dessen Erfüllung der Uhrmacher schwerlich reich geworden ist, und das Romieu aus Dankbarkeit ohnedies nicht gehalten hat. Dass Romieu, nachdem er zuerst Unterpräfekt und dann Präfekt geworden war, seine tollen Streiche nicht mehr fortsetzen durfte, versteht sich von selbst. Und dennoch versichert man, daß der „alte Adam" zuzeiten wieder erwachte, und die Natur wieder durchbrach, die du, um mit den Worten des Dichters zu reden, „furca expellas, tamen usque recurret." So erzählt man sich, daß der Herr Präfekt, als er sich abends in gehobener Stimmung auf dem Heimweg befand, mehreren Gassenbuben zusah, die sich das Privatvergnügen machten, mit Kieselsteinen nach der Laterne zu zielen, die vor der Präfektur brannte. In ihrer provinzialen Ungeschicklichkeit hatten sie schon mehrmals ihr Ziel verfehlt. Der Präfekt, der ihnen zusah, ohne von ihnen gesehen zu werden, zuckte höhnisch die Achseln. Endlich konnte er einer solchen Ungeschicklichkeit gegenüber nicht mehr an sich halten, er ging auf die Jungen zu, hob einen Stein auf, zielte, und — klirr — ging das Lampenglas in Trümmer. „Seht, so macht man das, meine Jungen", sagte er dabei.
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Auf dem Weg nach seiner Wohnung aber murmelte er seufzend vor sich hin: „Du lieber Gott, die heutige Jugend ist doch recht degeneriert." Bisweilen — jeder Mensch hat seine schwachen Stunden — nahm der Herr Präfekt in seiner goldstrotzenden Uniform ein steifes Wesen an. Eines Tages machte Henry Monnier, unser geistvoller Karikaturenzeichner, der liebenswürdige Verfasser schlagender Witze, seinem alten Freund Romieu einen Besuch und lud sich bei ihm zum Diner ein. Der Herr Präfekt gab an diesem Tage ein Festessen, zu dem alle Honoratioren des Departements eingeladen waren. Henry Monnier lässt sich dadurch nicht einschüchtern, er plaudert, erzählt und tut ganz, als ob er zu Hause wäre. Nur bemerkt er, daß Romieu, obwohl er ihn fortwährend duzt, dabei beharrt, Sie zu ihm zu sagen. Als er sich vergewissert hat, daß er sich nicht geirrt hat, ruft er ihm von einem Ende des Tisches zum anderen zu: „Aber, mein lieber Romieu, was soll denn das heißen? Ich sage du zu dir, und du sagst zu mir Sie, da wird man dich schließlich für meinen Diener halten!" Paris empfand die Abwesenheit Romieus wirklich als Lücke, obwohl er Rousseau dort gelassen hatte, und hätte gewünscht, ihn als Präfekten zu haben, was sich aber doch wohl nicht gut hatte machen lassen. Warum hatte Romieu Rousseau nicht mit sich genommen? Das war etwas, was Rousseau ihm nie verziehen hat. Als Romieu zum Unterpräfekten ernannt wurde, war Rousseau außer sich vor Freude. Er suchte ihn auf und gratulierte ihm. „Ich hoffe, du denkst nun auch an mich!" — „Wieso?" — „Na, du brauchst doch einen Sekretär. Das wäre ein Posten, wie für mich geschaffen: 1200 Franken, freie Wohnung und deine Gesellschaft, mehr verlange ich nicht auf der Welt." — „Das muss ich mir erst überlegen." — „Ach, mach keine Umstände." — „Na, komm morgen wieder, dann werde ich dir sagen, ob es möglich ist." — „Zum Teufel, wie soll das nicht möglich sein?" Rousseau stellt sich am übernächsten Tag wieder ein. Er trifft Romieu ernst, fast sorgenvoll an. „Nun?" fragt er. — „Nein, lieber Freund, ich bin untröstlich, aber es ist unmöglich!" — „Unmöglich, mich mit dir zu nehmen?" — „Ja, du wirst begreifen, daß ich vorher Erkundigungen über dich einziehen musste." — „Über mich? . .." — „Ja, über dich, und da habe ich erfahren ..." — „Nun, was?" — „Dass du ein Säufer bist! . .." Rousseau lief davon, um nicht wiederzukommen. Armer Rousseau, noch drei Monate vor seinem Tode erzählte er mir und meinem Sohn mit Tränen in den Augen diese Episode. „Romieu wird ein schlimmes Ende nehmen", fügte er in tragischem Kalchaston hinzu, „denn er ist ein Undankbarer!" Romieu blieb drei Jahre lang von der Hauptstadt fort, und seine Abwesenheit führte große Änderungen herbei, fatale Änderungen: man soupierte nicht mehr, aber man rauchte.
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Das Nichtsoupieren hat für die Menschheit schlimmere Folgen, als man denkt. Ich mache das und die Zigarre für die Entartung unseres Geistes verantwortlich. Man verstehe mich recht: ich will nicht sagen, dass unsere Söhne weniger Geist hätten als wir, Gott bewahre, mein Sohn würde mir so etwas nie verzeihen; ich behaupte nur, sie haben einen anderen Geist. Welcher ist der bessere? Unser Geist, der Geist von uns jetzt ungefähr vierzig Jahre alten Männern, hat noch etwas von der Aristokratie des achtzehnten Jahrhunderts und von der Ritterlichkeit des Kaiserreichs. Die Frauen hatten großen Einfluss auf ihn, und durch das Souper wurde er unterhalten. Wenn man abends elf Uhr seine Alltagssorgen beiseite gelegt hat und sich an einer guten Tafel neben einer schönen Nachbarin inmitten von Blumen und strahlendem Licht niederlassen kann, dann lässt sich der Geist wachend in die Sphären der Träume davontragen und erreicht den höchsten Grad von Lebendigkeit und Begeisterung. Beim Souper entwickelt man mehr Geist als sonst, und sogar einen anderen. Ich bin sicher, daß die meisten der schönen Schlagworte des großen achtzehnten Jahrhunderts beim Souper entstanden sind. Wenn man also nicht mehr soupiert, dann verschwindet auch der Geist, der noch da war, als man soupierte. Ehemals gingen Damen und Herren nach dem Frühstück in den Billardsaal oder in den Garten, nach dem Diner gingen alle in den Salon, wo die Konversation im gleichen Ton fortgeführt wurde, sich verallgemeinernd oder sich auf einen bestimmten Punkt konzentrierend. Heute, kaum vom Tisch aufgestanden, verlangen die Herren die Zigarre. Man geht auf die Straße hinunter, bummelt auf und ab und raucht. Auch da trifft man Frauen, die aber nicht desselben Geistes sind, wie die, die man im Salon gelassen hat, und man ist gezwungen, höflicherweise seinen Geist auf das Niveau dieser anderen herabzusetzen. Das wiederholt sich täglich. Man begegnet auf der Straße nicht Immer denselben Personen, aber die Unterhaltung mit allen ist ungefähr stets die gleiche. Dadurch wird der Geist verflacht und immer mehr abgestumpft, ohne daß man es merkt. Dazu kommt noch der narkotische Einfluss des Tabaks. Wenn man das alles bedenkt, muss man da nicht für die kommende Generation fürchten, besonders wenn der Geschmack an der Zigarre noch weiter zunimmt? Im Jahre 1950 werden wir noch gerade soviel Geist besitzen, wie die Holländer von heute. Drei Autoren schreiben ein Stück Adolf und ich hatten nichts Eiligeres zu tun, als Rousseau aufzusuchen. Er wohnte damals, ich weiß nicht mehr mit was für einer Kreatur,, in der Rue du PetitCarreau. Er war wütend.
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Am Abend zuvor hatte er mit Romieu bei Philippe gespeist. Gegen ein Uhr morgens verließen sie das Lokal. Rousseau war rechtschaffen betrunken. Kaum hatte er zwei Schritte getan, als auch schon die frische Luft ihre Wirkung tat. Nach hundert Schritten war er stern hagelbesoffen. Romieu bot mit wahrhaft heroischem Mut seine ganze Kraft auf, um seinen Freund abzuschleppen. Nachdem aber Rousseau ihn schon zweimal im Fallen mitgerissen hatte, entschloss sich Romieu, den Freund im Stich zu lassen, ihn aber vorher mit möglichster Sorgfalt und Vorsicht zu betten. Obwohl er nur noch dreißig Schritte von seiner Wohnung entfernt war, sah sich Romieu doch außerstande, den guten Rousseau weiterzuschleppen. Er setzte ihn daher ganz sacht vor dem Laden einer Gemüsehändlerin auf einen Haufen Kohlblätter nieder, lehnte ihn mit dem Rücken an die Wand, rannte dann zum nächsten Krämerladen und polterte mit Händen und Füßen so lange an die Tür, bis geöffnet wurde. Nun kaufte er ein Lampion, stellte es neben Rousseau, zündete den Docht an und schied dann von seinem unglücklichen Freund, indem er noch — halb als Trost, halb als frommen Wunsch — an ihn die Worte richtete: „Nun ruhe sanft, Sohn des Epikur! Jetzt wirst du wenigstens nicht getreten." Rousseau schlief sanft und ruhig die ganze Nacht hindurch unter dem Schutz der Lampe. Als er am Morgen erwachte, sah er zu seinem Erstaunen, daß er mehrere Sous in der Hand hatte. Mitleidige Passanten, die ihn für einen verschämten Bettler hielten, hatten ihm das Geld im Vorbeigehen in die Hand gedrückt. Da sich aber alles in dem Viertel zutrug, wo Rousseau wohnte, wurde er am folgenden Morgen von der Gemüsehökerin und dem Kaufmann erkannt, was ihm natürlich äußerst peinlich war.Endlich gelang es uns doch, ihn zu trösten, indem wir ihm ein Frühstück im Cafe des Varietes anboten. Danach führten wir ihn — es war Sonntag und ich hatte daher dienstfrei — in Adolfs Wohnung.Das Haus, das Arnault in der Rue Bruyere bauen ließ, war mittlerweile fertig geworden, und mit der Familie Arnault siedelte auch die Familie Leuven von der Rue Pigalle nach der Rue Bruyere über. Wir ließen vor allem Tee bringen, den Rousseau als für seinen Zustand unentbehrlich verlangte, und begannen dann, unserem Gast unsere verschiedenen dramatischen Versuche vorzulegen, damit er selbst beurteilen konnte, was davon seiner hohen Protektion am würdigsten sei.Bei der zweiten Szene äußerte Rousseau, er könnte besser zuhören, wenn er sich auf Adolfs Bett legen dürfe. Adolf willigte gern ein, und bei der vierten Szene schnarchte Rousseau bereits so laut, daß die Wände bebten — ein Beweis, daß man — so weich es sich auch auf Kohlblättern liegen mag — doch nur in einem ordentlichen Bett richtig schlafen kann. Wir achteten Rousseaus Schlaf und warteten geduldig auf sein Erwachen. Als er aber die Augen aufschlug, klagte er, der Kopf sei so schwer, daß er keine zusammenhängende Gedanken fassen
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könne. Es wäre ihm daher lieber, wenn er die Manuskripte mit nach Hause nehmen könnte, um sie mit Muße und Ruhe zu lesen und dann ein begründetes Urteil abzugeben. Wir vertrauten ihm unsere Schätze an, zwei Melodramen und drei Vaudevilles, und luden ihn für nächsten Donnerstag zum Diner bei Adolf ein. Am nächsten Donnerstag besorgte Frau von Leuven, die die Wichtigkeit dieses diplomatischen Diners erkannte, selber die Küche und ließ Rousseau trotz der bereits mündlich getroffenen Verabredung nochmals schriftlich zu Tisch laden. Am Schluss der Einladung, wo es gewöhnlich heißt: „Es wird getanzt", standen mit großen Buchstaben die Worte: „Es gibt auch Champagner." Rousseau fand sich pünktlich ein. Von unseren Stücken hatte ihm keines gefallen. Die Melodramen, meinte er, seien dem Stoff nach allzu bekannten Romanen entlehnt oder es seien bereits Melodramen über dasselbe Thema geschrieben und aufgeführt worden. Die Vaudevilles enthielten zuviel abgedroschene Ideen, zuviel aufgewärmtes Zeug usw. Ein solches Urteil hätte selbst stärkere Männer, als uns, zur Verzweiflung bringen können. Da fuhr Adolf plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, der unseren Mut wieder belebte und unsere Eigenliebe aufrichtete. „Er hat sie gar nicht gelesen", flüsterte mir Adolf leise zu. „Wahrscheinlich", erwiderte ich. Diese Vermutung oder vielmehr Überzeugung beruhigte uns einigermaßen. Nach Tisch erzählte ich einige Geschichten, darunter auch ein Jagderlebnis. „Das ist nicht schlecht", rief Rousseau. „Sie wissen so herrliche Geschichten und suchten sich den Stoff zu Ihren Melodramen aus Florian und Bouilly zusammen! Aus der Geschichte, die Sie uns eben erzählt haben, ließe sich ein prächtiges Vaudeville machen, das man etwa: „Jagd und Liebe" nennen könnte." „Meinen Sie?" Damals wagten wir noch nicht, Rousseau zu duzen. — „Aber gewiss!" — „Nun, dann sollten wir es versuchen." — „Ja, versuchen wir's!" riefen wir im Chor. „Halt, halt!" schrie Rousseau. „Seid ihr toll? Da steht noch eine Flasche Champagner, die müssen wir erst trinken." „In Gottes Namen, ich lasse auch noch eine dritte bringen, um damit den Plan zu taufen, den wir sogleich entwerfen wollen." „Einverstanden", jubelte Rousseau. Dann erhob er sein Glas und leerte es mit dem Ruf: „Auf den glücklichen Erfolg von ,Jagd und Liebe'." Wir ließen den Toast nicht unerwidert und so ging es fort, solange noch ein Tropfen in der Flasche war.„Die dritte Flasche", befahl Rousseau, während er den letzten Tropfen der zweiten in sein Glas schüttete. „Machen wir zuerst den Plan . . . dann wird sie schon kommen", entgegnete Adolf. — „Gut, dann an den Plan", brüllte Rousseau. Schüsseln, Töpfe und Teller wurden beiseite gescharrt, nur
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die drei Gläser blieben stehen. Dann holten wir Papier, Feder und Tinte, und ließen die dritte Flasche bringen. Nach einer Viertelstunde war sie leer, nach einer Stunde der Plan fertig. Wir teilten die 21 Szenen, die das Stück haben sollte, in drei Akte, so daß auf jeden Akt sieben Szenen fielen. Ich hatte den ersten Akt, Leuven den zweiten, Rousseau den letzten Akt auszuarbeiten. In acht Tagen wollten wir wieder gemeinsam speisen und unsere Arbeit vorlesen. Bis dahin musste jeder mit seinem Akt fertig sein. So arbeiteten die Vaudevillisten der alten Schule. Scribe hat diesem Unfug ein Ende gemacht und eine Dichtungsart ernster gestaltet, die bis dahin nur den Eingebungen der Laune und einer zügellosen Phantasie folgte. Schon am nächsten Abend hatte ich meine sieben Szenen fertig. Am festgesetzten Tag fanden wir uns pünktlich ein. Adolf und ich hatten unseren Teil fertig, Rousseau noch keine Zeile geschrieben. Er erklärte uns, er sei gewohnt, stets in Gesellschaft zu arbeiten, wenn er allein sei, falle ihm nichts ein. Wir erwiderten, er möge nur unsere Arbeit anhören, wir wollten uns dann in seinen Akt teilen. Ich las meinen Teil vor, er fand viel Beifall und das Couplet des Jägers begeisterte Rousseau vollends. Auch Adolfs Teil fand ehrenvolle Aner kennung; er hatte ein recht gelungenes Strophenlied. Es blieb uns nur noch, wie gesagt, Rousseaus Akt zu schreiben. Wir machten uns gleich am nächsten Abend ans Werk, konnten aber, da ich wieder Posttag hatte, erst um neun anfangen und daher erst gegen ein Uhr morgens fertig sein. Nachdem das Stück fertig war, fragte es sich nur noch, welches Theater wir mit diesem Meisterwerk beglücken sollten. Mir war es gleich, ich wollte nur, daß es recht bald aufgeführt werde. An welcher Bühne, danach fragte ich nicht. Adolf und Rousseau erklärten sich für das Gymnasetheater, ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Rousseau verlangte die Vorlesung des Stückes vor dem Beurteilungskomitee, sie konnte ihm nicht abgeschlagen werden, es waren bereits mehrere Stücke von ihm aufgeführt worden. Die Lesung wurde ihm also bewilligt. Aber Poirson, der eigentliche Direktor des Gymnasetheaters, ließ ihn drei Wochen darauf warten. Aber schließlich war nicht soviel daran gelegen, wir warteten ja ohnedies schon zwei Jahre. Wir beschlossen, daß nur zwei Verfasser genannt und zur Lesung beigezogen werden sollten. Ich überließ Adolf die Ehre von Herzen gern. Mit meinem Namen wollte ich erst an die Öffentlichkeit treten, wenn ich ihn vor ein bedeutendes Werk setzen konnte. Heutzutage hängt einmal alles von dem ersten Auftreten ab, und unsere Vaudeville „Jagd und Liebe" betrachtete ich — so wertvoll es mir auch in mancher Beziehung erschien — doch keineswegs als ein meiner Hoffnungen und meines Stolzes würdiges Debüt. Denn obwohl meine Hoffnungen seit zwei Jahren bedeutend zusammengeschrumpft waren, so hielt sich mein Stolz doch immer noch auf beträchtlicher Höhe. Ich sollte weder bei der Vorlesung des Stückes noch auf dem Theaterzettel
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genannt werden. Nur der Buchausgabe würde auf dem Titelblatt auch der Name Dumas beigefügt werden. Endlich brach der große Tag an. Wir frühstückten gemeinsam im Cafe du Roi und trennten uns dann gegen halb elf. Rousseau und Adolf begaben sich nach dem Gymnasetheater, ich in mein Büro. Ich gestehe offen, daß ich mit unbeschreiblicher Angst und Sehnsucht dem Nachmittag entgegensah. Endlich schlug es drei Uhr, die Tür ging auf und mein erwartungsvoller Blick begegnete zwei trostlosen Gesichtern. „Jagd und Liebe" war einstimmig abgelehnt worden. Ein Schrei des Unmutes ging durch das ganze Komitee. Am meisten Ärgernis verursachte mein Couplet, auf das ich mir so viel einbildete, und der Schauspieler Poirson bemerkte naserümpfend, er glaube kaum, daß Bühnenstücke wie das unsrige, in dem der schlechte Geschmack einen wahren Triumph feiere, auch nur auf einem Boulevardtheater zur Aufführung zugelassen würde. Nachdem meine beiden Leidensgefährten mir diese Hiobspost mitgeteilt hatten, entfernten sie sich wieder und versprachen, mich am folgenden Tag zu besuchen, um die weiteren Schritte mit mir zu besprechen. Es gibt nichts Trübseligeres, als Schriftsteller, deren Werke abgelehnt werden. Wenn man nicht ein so großer Dichter wie Corneille ist, pflegt in solchen Augenblicken der Zweifel aufzutauchen, ob der Direktor am Ende nicht doch richtig geurteilt, und ob nicht bloß die Eigenliebe den Dichter verblendet habe. Um jedoch in dieser wichtigen Streitfrage nicht selber die Rolle des Schiedsrichteramtes übernehmen zu müssen, beschlossen wir, das Stück an einer anderen Bühne einzureichen. Poirson hatte uns mit geringschätziger Miene an die Boulevardtheater verwiesen. Rousseau schlug das Ambigutheater vor. Da er mit dem Regisseur befreundet war, hoffte er, mit der Lesung nicht lange hingehalten zu werden, wie dies bei jedem anderen Theater gewiss der Fall gewesen wäre. Wir gingen auf Rousseaus Vorschlag ein. Er tat am anderen Tag sogleich die erforderlichen Schritte und bewirkte, daß die Lesung für den nächsten Samstag festgesetzt wurde. Wir alle sahen diesem Tag mit klopfendem Herzen entgegen, ich noch mehr als meine beiden Freunde. So geringfügig die Angelegenheit an und für sich erscheinen mochte, so war sie doch für mich eine wahre Frage. Wir — ich und meine Mutter sahen mit Schrecken unser kleines Vermögen zur Neige gehen. Obwohl unser Nachbar Despres gestorben war, und wir seinem Rat folgten und seine Wohnung mieteten, die um hundert Franken billiger war als die unsrige, obwohl wir jeden Sou dreimal umdrehten, bevor w i r ihn ausgaben, waren unsere geringen Mittel dennoch beinahe gänzlich erschöpft, und es befiel uns eine unbeschreibliche Angst, wenn w i r an die nächste Zukunft dachten und die Zeit kommen sahen, wo w i r allein von meinem Gehalt leben mussten. E n d l i c h war der heißersehnte Samstag gekommen. Um ein Uhr ging die Tür meines Büros auf, aber diesmal begegnete mein erwartungsvoller Blick zwei Gesichtern, deren Anblick ebenso
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beredt war wie das erstemal. „Angenommen?" rief ich. — „Einstimmig", entgegnete Rousseau. „Und mein unglückseliges Couplet?" — „Zweimal verlangt." Oh, wie hinfällig sind menschliche Urteile! Was Poirson mit Entsetzen erfüllte, darüber war Warez entzückt. Meine erste Frage galt den Tantiemen des Ambigutheaters. Ich erfuhr, daß das Honorar für den Abend zwölf Franken und sechs Sperrsitze für jede Vorstellung beträgt. Es kamen sonach auf jeden von uns vier Franken und zwei Sperrsitze. Diese zwei Sitze waren 40 Sous wert. Mein erster dramatischer Versuch brachte mir also täglich oder vielmehr abendlich sechs Franken ein. Das ist gewiss kein glänzendes Einkommen, aber sechs Franken für den Tag waren damals für mich eine beträchtliche Einnahme —gerade anderthalbmal soviel als mein Gehalt. Als Rousseau von der Lektüre zurückkehrte, nahm er mich beiseite und sagte: „Höre, brauchst du Geld?" — „Und ob ich Geld brauche!" — „Dann will ich dir einen braven Mann nennen, der dir pumpen wird." — „Woraufhin denn?" — „Auf deine Theaterkarten." — „Auf meine zwei Karten täglich?" — „Gewiss. Ich habe ihm bereits die meinen sowie meine Autorenrechte verkauft. Er hat mir für alles 250 Franken gegeben. Dann habe ich mir gesagt: man darf seine Freunde nicht vergessen, und habe dich bei ihm in den Himmel gelobt und in Aussicht gestellt, daß du Scribe und Delavigne in den Schatten stellen würdest. Er erwartet dich heute Abend im Cafe de l'Ambigu." — „Wie heißt der brave Mann?" — „Porcher." — „Gut, ich werde ihn aufsuchen." — „Noch eins: du kannst ihm sagen, was du willst, nur schimpfe nicht über Melesville." — „Das fällt mir nicht ein, ich schätze ihn im Gegenteil sehr hoch, aber wie kommst du darauf?" — „Das werde ich dir später einmal erzählen." Und er ging lustig davon, in der Tasche mit seinen 250 Franken klimpernd. Abends suchte ich Porcher auf. Ich traf ihn gerade bei einer Partie Domino an, er erhob sich aber sofort und kam zu mir. „Ich bin der junge Mann, von dem Rousseau Ihnen erzählt hat." — „Ich stehe zu Ihren Diensten. Haben Sie es eilig, oder kann ich erst meine Partie beenden.?" — „Lassen Sie sich nicht stören, ich werde auf dem Boulevard Spazieren gehen und Sie dort erwarten." Fünf Minuten später stieß er zu mir. „Also Sie wünschten Geld auf Ihre Karten?" — „Ja, wenn es möglich wäre." Und ich schilderte ihm kurz meine ganze Lage. — „Wie viel möchten Sie haben? Sie wissen, daß sie nur zwei Franken Wert pro Tag haben? Ich kann Ihnen daher nicht viel geben."Ich nahm allen meinen Mut zusammen und bat um 50 Franken. „Oh, die können Sie haben. Ich habe sie nicht bei mir, werde mir aber das Geld im Cafe geben lassen." — „Vielen Dank, ich werde inzwischen die Quittung vorbereiten." — „Nicht nötig. Ich schreibe Sie in mein Buch ein, wie die anderen; versprechen Sie mir aber auf Wort, in Zukunft nur
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mit mir Geschäfte zu machen." — „Damit bin ich von Herzen gern einverstanden." Porcher holte das Geld und händigte es mir aus. Welch ein köstliches Gefühl empfand ich bei der Berührung des ersten Geldes, das ich mit meiner Feder verdient hatte! Bis dahin hatte ich Geld nur mit meiner Handschrift verdient. „Und nun seien Sie vernünftig und fleißig, dann werde ich Sie auch mit Melesville bekannt machen." Ich sah Porcher an, diesen Namen erwähnte er nun schon zum zweiten Male. „Warum soll ich Melesville kennen lernen?" fragte ich schüchtern. — „Na, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Wenn Sie das erreichen, dann sind Sie lanciert." Ich überlegte, dann bemerkte ich: „Hören Sie mich an, Herr Porcher, es würde mir leid tun, wenn ich etwas sagen würde, was Ihnen missfiele." — „Hoho! Haben Sie vielleicht Schlechtes über Melesville zu sagen?" fragte er erregt. — „Davor soll mich Gott bewahren! Ich kenne ihn nur als einen liebenswürdigen und geistreichen Mann. Aber ich habe einen Ehrgeiz, nämlich in einem oder zwei Jahren allein in die Höhe und an das Theatre Francais zu kommen." — „Au, schlechtes Geschäft, das Theatre Francais. Sie haben keine Ahnung, was sie einem da für verdammte Schwierigkeiten mit den Karten machen. Na, das macht aber nichts, die Tantiemen sind hoch, und wenn Sie da ankommen können . . . Aber, ich sage Ihnen, leicht wird es nicht sein!" — „Ich weiß es, aber ich kenne Talma ein wenig." — „Ah! Ja, das ist gerade so, als ob Sie in Rom sagen: ich kenne den Papst. Gut, gehen Sie Ihren Weg, aber vergessen Sie nie, daß Sie mit Porcher Ihr erstes Geschäft gemacht haben. Haben Sie dafür ein gutes Gedächtnis! Leute mit gutem Gedächtnis haben auch ein gutes Herz." — „Ich glaube, Herr Porcher, daß Sie für diese Behauptung der lebendige Beweis sind, denn Sie haben schon mehrere Male den Namen Melesville ausgesprochen ..." — „Melesville, Herr, für den ließe ich mich totschlagen; er hat mein Glück begründet, indem ich seine Karten verkaufte. Durch ihn habe ich mein erstes Geld gemacht, und sollte ich jemals ein Vermögen machen, dann verdanke ich es ihm. Kommen Sie demnächst zu mir, da können Sie sein Bild neben den Bildern meiner Frau und Kinder hängen sehen." Ich war seitdem oft bei Porcher — hundert Male vielleicht, um ihn um eine Gefälligkeit zu bitten, und nur einmal, um ihm einen Dienst zu erweisen — und jedes Mal weilte mein Blick auf dem Porträt Meles-v i l l e s , den die Dankbarkeit dieses prächtigen Menschen in seinem Herzen seiner Frau und seinen Kindern gleichstellte. Eines Tages wollte Porcher an Cave, der damals Direktor der Schönen Künste war, ein Gesuch richten. Ich führte ihn zu ihm und stellte ihn vor: „Hier bringe ich dir einen Mann, der seit zwanzig Jahren mehr f ü r die Literatur getan hat, als du, dein Vorgänger und deine Nachfolger in einem Jahrhundert getan haben und tun werden!"
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Und was ich sagte, ist wahr. Niemals wird einem Schriftsteller, der in Verlegenheit ist, die Idee kommen, sich an den Minister des Innern oder den Direktor der Schönen Künste zu wenden. Aber an Porcher wird er sich wenden und tut gut daran. Bei Porcher findet er stets freundlichen Empfang und offene Kasse, zwei Dinge, die er wohl kaum bei einem Minister finden würde. Die Namen Theaulons, Soulies, Balzacs könnten dafür Zeugnis ablegen wie alle anderen Schriftsteller, die noch am Leben sind. Seit zwanzig Jahren hat Porcher ohne Übertreibung der Literatur mit fünfhunderttausend Franken unter die Arme gegriffen! Ich für meinen Teil bin Porcher dankbar, wie er es Melesville war, und, wenn ich ihn heute besuche, bin ich glücklich und stolz darüber, mein Porträt dreimal, als Büste, in Pastell und auf einer Medaille, an der Seite der Bilder seiner Kinder anzutreffen. Was ich ihm besonders nie vergessen werde, das sind die ersten 50 Franken, die er mir gab und die ich meiner Mutter einhändigte, denn sie ließen in ihrer Seele die Himmelsblume frisch aufblühen, die wir Hoffnung nennen und die bei ihr schon im Verblühen war. „Jagd und Liebe" gelangte endlich am 22. September 1825 mit großem Erfolg zur Uraufführung. Dieses Stück eröffnete den Reigen meiner dramatischen Arbeiten, deren Zahl ich auf jeden Fall noch auf hundert bringen möchte.
Während „Jagd und Liebe" einstudiert wurde und ich nach einem Stoff suchte, den ich gemeinsam mit Lassagne für die Bühne bearbeiten wollte, hatte ich einen kleinen Band Novellen beendet, den ich nun drucken lassen wollte. Es war damals die Zeit der großen Erfolge kleiner Werke. Ich hatte drei kleine Novellen geschrieben und das Bändchen wenigstens zehn Verlegern angeboten, doch alle zehn hatten — ich muss ihnen in dieser Beziehung volle Gerechtigkeit widerfahren lassen — ohne das geringste Bedenken mein Anerbieten zurückgewiesen. Damals lebte ein Mann namens Marle, der mit einer ungewöhnlichen Anmaßung auftrat, der alle Regeln der Rechtschreibung umstoßen und dafür eine solche ohne alle Regeln einführen wollte. Er behauptete, jedes Wort müsse so geschrieben werden, wie es gesprochen wird. Um die griechische, keltische, lateinische, arabische oder spanische Wurzel kümmerte er sich nicht. Er meinte, gerade die dramatischen Schriftsteller, besonders die Vaudevillisten, hätten am wenigsten auf Rechtschreibung zu achten, und darum suchte er zunächst unter uns Anhänger zu gewinnen. Marle gab auch eine eigene Zeitschrift heraus, die Setier im Cour des Fontaines druckte. Nachdem ich Marle kennen gelernt, machte ich natürlich auch bald die Bekanntschaft des Herrn Setier und seiner Frau. Da der Cour des Fontaines in der Nähe meines Büros lag, wohin ich mich fast jeden Abend begeben musste, so sprach ich natürlich auch oft bei Setier vor.
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Als ich meine drei Novellen beendet hatte, bat ich Madame Setier, sie zu lesen. Nachsichtig wie alle Frauen, fand sie meine Novellen allerliebst und bewog ihren Mann, sie auf halbe Rechnung zu drucken. Die Druckkosten für den Band, der in 1000 Exemplaren aufgelegt wurde — diese Auflage schien mir viel zu klein! — betrugen etwa 600 Franken. Bei einer Anzahlung von 300 Franken erklärte sich Setier bereit, mit dem Druck zu beginnen. Den Rest der Kosten wollte er tragen. Von dem Gewinn des Buches sollten ihm zunächst seine 300 Franken vergütet und alle weiteren Einnahmen zwischen uns geteilt werden. Deshalb verlangte ich von dem Billetthändler Porcher 300 Franken, die er mir auf meine künftighin zu erhoffenden Eintrittskarten bereitwilligst vorstreckte. Ich eilte damit zu Setier, übergab ihm mein Manuskript und genoss schon zwei Tage später das Vergnügen, die erste Korrektur lesen zu können. Damals ahnte ich wohl nicht, daß diese Arbeit, die mir anfänglich soviel Vergnügen bereitete, mich später so furchtbar langweilen würde. Nach Verlauf eines Monats, während unsere „Jagd und Liebe" fortwährend siegreich über die Bretter ging und mir an Honorar und Eintrittskarten zusammen 180 Franken einbrachte, erschien jener Band Erzählungen unter meinem Namen und unter dem Titel: „Novellen aus unserer Zeit". Es wurden davon ganze vier Exemplare abgesetzt, und der „Figaro" brachte einen Artikel über das Buch. Die vier Exemplare brachten uns 10 Franken ein. Setier musste also für die Ehre, mein Werk zu drucken, 290 und ich für das Vergnügen, es geschrieben zu haben, 300 Franken bezahlen. Die Spekulation fiel somit für keinen von uns beiden glücklich aus, und ich erkannte nur zu spät, daß der Verleger Bossange sehr recht und vernünftig gesprochen hatte, als er zu mir sagte: „Machen Sie sich einen Namen, dann drucke ich Ihre Schriften." Das war also die Hauptsache: sich einen Namen machen! Das war allerdings eine Bedingung, die einen zur Verzweiflung bringen konnte, ich sollte mir einen Namen machen, dann würde er meine Werke drucken, und doch konnten nur diese Werke allein mir einen Namen verschaffen. Dennoch verzweifelte ich nicht. Ich muss aufrichtig gestehen, daß ich auf verborgene Talente und verkannte Genies durchaus nichts gebe. Die meisten von ihnen haben dadurch, daß sie ungekannt oder verkannt blieben, mehr gewonnen, als wenn sie bekannt geworden wären. Ich trachtete also ganz ernstlich danach, mir einen Namen zu machen, um meine Bücher an den Mann zu bringen und sie nicht auf halbe Kosten drucken lassen zu müssen. So klein und bescheiden dieser Name auch war, so begann er allmählich schon unter dem Scheffel hervorzuleuchten. Vatout hatte meine „Ode auf den General Foy" und meine „Novellen" gelesen (da nur vier Exemplare abgesetzt wurden, konnte ich mit
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Widmungsexemplaren natürlich sehr freigebig sein) und schickte mir nun plötzlich drei oder vier Lithographien, zu denen ich ein Gedicht machen sollte. Vatout gab damals seine „Galerie du Palais-Royal" heraus. Dieses Werk erschien in prunkvoller Ausstattung unter dem Patronat des Herzogs von Orleans und enthielt Lithographien aller in der Galerie des Palais-Royal befindlichen Gemälde mit erläuternden Notizen, Erzählungen und Gedichten aus der Feder der bekanntesten Schriftsteller jener Zeit. Ich gehörte also zu denen, da Vatout ein Gedicht von mir bestellte. Unterdessen musste Marle seine Zeitschrift eingehen lassen. Er machte Adolf und mir den Vorschlag, seine zweihundert oder dreihundert Abonnenten, diese letzten Getreuen, unter unsere Fittiche zu nehmen und für sie eine Monatsschrift herauszugeben. Nachdem wir uns lange herumgestritten hatten, ob diese Schrift in Versen oder in Prosa erscheinen solle, beschlossen wir, abwechselnd Verse und Prosa zu liefern und unser Organ „Psyche" zu nennen. Das war für mich ein treffliches Mittel, meine poetischen und prosaischen Werke künftighin in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, ohne die halben Druckkosten tragen zu müssen. Lassagne hatte mir aufgetragen, Stoff zu einem Vaudeville zu suchen. Ich suchte und fand endlich einen solchen in dem Märchen von „Sindbad der Seefahrer" in „1001 Nacht". Sindbad kommt in ein Land, wo sich die Männer mit ihren Weibern und die Weiber mit ihren Männern begraben lassen. Er ist so unklug und heiratet. Seine Frau stirbt, und er ist nahe daran, bei lebendigem Leib mit seiner Gattin begraben zu werden. — Das war ungefähr die Fabel. Lassagne las meinen Plan und wurde noch freundlicher gegen mich gestimmt als bisher. Er verbesserte einiges an dem Entwurf und zog noch einen dritten hinzu, seinen Freund Vulpian, der später auch mein Freund wurde. Wir hatten zwei oder drei Zusammenkünfte und verteilten die Arbeit unter uns. Diesmal hatte ich es mit Leuten zu tun, die gewissenhafter Wort hielten als der arme Rousseau. Als wir wieder zusammenkamen, brachte jeder seinen Teil fertig mit. Nun wurden die drei Ringe miteinander verbunden, und das Ganze schien durchaus lebensfähig zu sein. Nachdem nun die drei Verfasser ihr Geisteskind gesund und hübsch fanden, wurde es „Hochzeit und Begräbnis" getauft, und nun wanderte es guten Mutes nach dem Vaudeville-Theater, da Lassagne und Vulpian mit Desaugiers persönlich bekannt waren. Leider litt Desaugiers schon damals an jenem Übel, das später auch seinen Tod herbeiführte. Er musste das Bett hüten und konnte der Lesung unseres Stückes nicht beiwohnen. Die Abwesenheit dieses einzigen Freundes und Gönners unseres Stückes war schuld, daß „Hochzeit und Begräbnis" vom Vaudeville-Theater ebenso zurückgewiesen wurde wie „Jagd und Liebe" vom Gymnase-Theater.
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Bürokraten und Literaten Ich war wie vom Blitz getroffen. Noch schlimmer wurde die Sache, als ich Lassagne am folgenden Tage mit einem wahren Leichenbittergesicht ins Büro kommen sah. Ich war das an ihm so wenig gewohnt, daß ich sogleich aufsprang und ihm entgegeneilte. „Was ist denn geschehen?" fragte ich. — „Was geschehen ist, mein armer Freund? Ich weiß selbst nicht, wie die Sache gekommen ist. Obwohl gestern kein Name genannt wurde, hat sich dennoch das Gerücht verbreitet, ich hätte gemeinschaftlich mit Ihnen ein Stück geschrieben, so daß mich Oudard soeben rufen ließ . . . " — „Und?" — „Und mir Vorwürfe machte, daß ich Sie zum Schriftstellern verleite. Er behauptet, Sie würden sich dadurch Ihre ganze Zukunft verderben. Ich musste ihm mein Ehrenwort geben, daß ich nicht nur mit Ihnen kein Stück mehr schreibe, sondern, daß ich auch das bereits fertige fallen lasse." „Und Sie haben ihm Ihr Wort gegeben?" „Ich musste es tun, lieber Dumas, in Ihrem Interesse. Sie haben keinen General Foy mehr, der Sie in Schutz nehmen könnte. Ich weiß nicht, wer Sie bei Broval anschwärzt. Aber so viel weiß ich mit Gewissheit, daß man Sie sehr ungern Schriftstellern sieht." Lassagnes Worte schnürten mir das Herz zusammen. Die 200 oder 300 Franken, die mir „Jagd und Liebe" bisher einbrachten, hatten unsere Lage so merklich verbessert, daß ich von diesem Augenblick an meine ganze Hoffnung nicht mehr auf eine Gehaltszulage von 20 oder 25 Franken im Monat setzte, sondern auf meine literarischen Arbeiten, die mir doppelt soviel eintrugen. Überdies war ein Teil des Ertrages von „Hochzeit und Begräbnis" schon im voraus bei Porcher verpfändet, der mir darauf 300 Franken geliehen hatte. Was ich soeben von Lassagne vernommen hatte, warf nun all diese Luftschlösser mit einem Mal über den Haufen. Da ich zu meinen literarischen Arbeiten nur meine Freizeit verwendete, fand ich es in höchstem Grade ungerecht, mir dies zu verbieten und zu verlangen, daß ich mit meiner Mutter und meinem Sohn von 125 Franken im Monat leben sollte. Meine Erregung war so heftig, daß sie mir den Mut gab, mich sogleich zu Oudard zu begeben.Mit Tränen in den Augen trat ich vor ihn und fragte in ruhigem, gemessenem Ton: „Ist es wahr, Herr Oudard, daß Sie Lassagne ver boten haben, gemeinschaftlich mit mir für die Bühne zu arbeiten?" .,Ja", antwortete Oudard. „Warum stellen Sie die Frage an mich?" — „ W e i l ich wirklich nicht glauben konnte, daß Sie so grausam w ä r e n . . . " — „Grausam, sagen Sie?" — „Jawohl, denn es gehört viel Grausamkeit dazu, zwei Menschen zu verdammen, von 125 Franken zu leben." „Ich meine, Sie könnten froh sein, monatlich diese 125 Franken zu haben, von denen Sie jetzt mit solcher Geringschätzung sprechen."
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„Nicht Geringschätzung, Herr Oudard. Im Gegenteil, ich fühle mich dem, der sie mir gibt, zu innigstem Dank verpflichtet. Ich sage nur, daß ich damit nicht auskomme und daß ich mich für berechtigt halte, mir noch etwas nebenbei zu verdienen, wenn meine Amtsgeschäfte nicht darunter leiden." „Heute vielleicht noch nicht, aber morgen oder übermorgen wird es schon der Fall sein." „Dann haben Sie immer noch Zeit, sich zu beklagen." „Übrigens", entgegnete Oudard, „geht die ganze Sache mich eigentlich nichts an. Ich gebe Ihnen nur die Ansicht des Herrn Generaldirektors wieder." — „Des Herrn von Broval?" — „Jawohl, des Herrn von Broval." — „Ich dachte, Herr von Broval bilde sich etwas darauf ein, ein Freund und Förderer der Literatur zu sein." — „Der Literatur — vielleicht . . . aber Sie werden doch Jagd und Liebe' oder .Hochzeit und Begräbnis' nicht Literatur nennen wollen?" — „Nein, das fällt mir auch gar nicht ein. Darum stand mein Name auch nicht auf dem Zettel des AmbiguTheaters. Und er wird auch nicht genannt werden, wenn ein anderes Theater ,Hochzeit und Begräbnis' aufführt." — „Aber wenn Sie diese Werke Ihrer nicht für würdig halten, warum schreiben Sie sie denn?" — „Zunächst deshalb, weil ich mir für den Augenblick nicht die Kraft zutraue, bessere zu schreiben, und dann, weil sie mir auch so, wie sie sind, in meiner Notlage eine Erleichterung verschaffen . . . Ja, Herr Oudard, in meiner Notlage, ich schrecke vor diesem Wort nicht zurück . . . Eines Tages erfuhren Sie — ich weiß selber nicht wie —, daß ich Nächte damit zubrachte, Theaterstücke, den Akt für vier Franken, zu kopieren. Sie haben mich selbst für meinen Mut gelobt . . . " — „Sie wollen also durchaus Schriftstellern?" — „Ja, aus Beruf und aus Notwendigkeit." — „Nun gut, dann werden Sie ein Schriftsteller wie Casimir Delavigne, und wir werden Sie nicht nur nicht tadeln, sondern noch ermutigen." „Herr Oudard", antwortete ich, „ich bin noch nicht so alt wie Casimir Delavigne, der gekrönte Dichter des Jahres 1811*)- Ich habe keine so gute Erziehung genossen wie Casimar Delavigne, der eine der besten Schulen von Paris besucht hat. Ich b i n erst zweiundzwanzig und muss Tag für Tag — vielleicht zum Nachteil für meine Gesundheit— mit eigenen Händen an meiner Bildung arbeiten, denn alles, was ich lerne — und ich schwöre Ihnen, ich lerne viel —, das lerne ich zu jener Zeit, wo andere sich amüsieren oder schlafen. Ich kann es also im Augenblick noch nicht Casimir Delavigne gleichtun. Aber eins will ich Ihnen noch sagen, Herr Oudard, selbst wenn es Ihnen sonderbar vorkommen sollte: wenn ich im voraus wüsste, daß ich in Zukunft nie etwas anderes schaffen würde als Casimir Delavigne, so würde ich augenblicklich Ihrem und Herrn von Brovals Wunsch nachkommen und Ihnen den feierlichsten Eid leisten, die Literatur für immer an den Nagel zu hängen." *) Casimir Delavigne (1794—1843) war neben Beranger und Scribe der Vertreter des literarischen Justemilieus, das zwischen klassischer und romantischer Schule die Mitte hält. Bekannt durch seine Dramen und Komödien „Sizilianische Vesper" (1819), „Die Schule der Greise" (1823), „Marino Falieri" (1829) usw. Als lyrischer Dichter: „Messenierinnen" und „La Parisienne", die Nationalhymne der Julirevolution.
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Oudard sah mich wie versteinert an, mein Hochmut brachte ihn ganz aus der Fassung. Ich empfahl mich und ging. Oudard aber rannte sogleich zu meinem Onkel Deviolaine, um ihm zu erzählen, zu welch wahnsinnigem Beginnen ich mich hinreißen ließe. „Ich werde mit seiner Mutter sprechen", sagte Deviolaine, „und wenn dieses Fieber nicht nachlässt, schicken Sie ihn zu mir. Ich nehme ihn dann in mein Büro und will darüber wachen, daß er nicht ganz verrückt wird." Als ich heimkam, fand ich meine Mutter in Tränen aufgelöst. Deviolaine hatte sie holen lassen und ihr alles erzählt, was zwischen Oudard und mir vorgefallen war. Am andern Tag machte meine Aussprache mit Oudard die Runde in allen Büros. Die dreiundsechzig Beamten Seiner Hoheit waren außer sich vor Genugtuung über meine Anmaßung, und mehrere Tage lang schallte durch die Gänge des Hauses Nr. 216 der Rue Saint-Honore ei n wahrhaft homerisches Gelächter. Nur ein Beamter, der erst tags zuvor seinen Dienst angetreten hatte und den noch niemand kannte, blieb ernst. „Nun", fragten sie ihn, „Sie lachen nicht mit?" — „Nein, weil ich an der ganzen Sache durchaus nichts Lächerliches finde." — ,.Wie? Ist es nicht lächerlich, wenn Dumas sagt, er werde Besseres leisten als Casimir Delavigne?" — „Er sagte nicht, daß er Besseres, sondern daß er etwas anderes leisten werde." — „Das ist aber doch das gleiche." — „Das ist es eben nicht, meine Herren." — „Kennen Sie denn Dumas?" — „Jawohl, und weil ich ihn kenne, stehe ich Ihnen dafür, daß er etwas leisten wird und daß seine Leistungen die Welt überraschen werden, nur mich nicht." Dieser Beamte, der tags zuvor eingetreten war, war Amedee de la Ponce, mein ehemaliger Lehrer der deutschen und italienischen Sprache. Es gab also unter Chefs und Beamten nur zwei, die nicht an mir verzweifelten: Lassagne und de la Ponce. Von diesem Augenblick an begann der Krieg, den Lassagne mir bei meinem Dienstantritt vorausgesagt hatte. Aber was lag mir daran? Ich war fest entschlossen, den Kampf aufzunehmen und ihn bis zum linde durchzufechten. Acht Tage darauf wurde mir wenigstens eine kleine Genugtuung zuteil. Vulpian meldete Lassagne und mir, daß das Theater der Porte-Saint-Martin unser Stück angenommen hatte. An diesem Theater wurden auch die Dichter besser honoriert. Die Porte-Saint-Martin zahlte für ein Vaudeville je Abend 18 Franken und gab noch für zwölf Franken Eintrittskarten dazu. Es kamen also jeden Abend acht Franken auf meinen Teil, gerade doppelt soviel, als ich in meinem Amt täglich verdiente. „Hochzeit und Begräbnis" wurde am 21. November 1826 uraufgeführt. Ich wohnte der Aufführung bei und hatte mit meiner Mutter im Orchester Platz genommen. Das Stück gefiel entschieden. Aber die Vorsehung hatte mir, damit ich mich am Erfolg nicht berausche, an
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jenem Abend einen Nachbar gegeben, der, als der Vorhang fiel, sich mit den Worten erhob: „Heißt alles nichts! Mit solchem Zeug kann dem Theater nicht geholfen werden!" Mein Nachbar hatte recht, und er verstand sich auf derlei Dinge um so besser, da er selbst Schrift steller war. Das Stück wurde ungefähr vierzigmal gegeben, und da Porcher so großmütig war, nur die Hälfte meines Anteils für sich zu beanspruchen, um sich für seine Vorschüsse bezahlt zu machen, blieben mir jeden Abend vier Franken, mit denen ich den Winter von 1826 auf 1827 glücklich überbrückte. Von diesem Augenblick an war mein Entschluss gefasst. Ich hatte, wie Ferdinand Cortez, die Schiffe hinter mir verbrannt: ich musste siegen oder untergehen. Leider spielte ich dies gewagte Spiel nicht für mich allein; auch meine arme Mutter war dabei beteiligt. Obwohl Soulie, noch unglücklicher als wir, bei diesem Spiel bisher noch nichts gewonnen hatte, ahnte ich doch bereits, welch ungeheure Kraft in seinem dichterischen Geist schlummerte, und beschloss, mit ihm zusammen ein bedeutenderes Werk zu schaffen. Soulie war in die Nähe des Bahnhofs von Jory umgezogen; eine Gesellschaft hatte ihn zum Leiter eines Sägewerks ernannt, das mehr als hundert Arbeiter beschäftigte. Im Vergleich zu uns, war Soulie ein reicher Mann. Ich sagte Soulie ganz offen, daß ich gemeinschaftlich mit ihm ein Drama schreiben wolle. Da sich aber keiner von uns beiden stark genug fühlte, um etwas Originelles zu scharfen, beschlossen wir, einen Stoff aus Walter Scott zu entlehnen. Walter Scott war stark in Mode; im Theater an der Porte-Saint-Martin war „Schloß Kenilworth" mit großem Beifall gegeben worden und das Theatre Francais bereitete ein Drama „Quentin Durward" vor. Unsere Wahl fiel auf die „Puritaner in Schottland". Nachdem wir uns über den Stoff geeinigt hatten, machten wir uns mit allem Eifer an die Arbeit. Aber sooft wir auch zusammenkamen, es wollte mit dem Plan durchaus nicht vorwärtsgehen. Nachdem wir uns drei Monate hindurch fruchtlos abgemüht hatten, waren wir noch genau so weit, wie am ersten Tag. Aber eines hatte ich im Kampf mit diesem gewaltigen Lanzenschwinger doch gewonnen: bis dahin unbekannte Kräfte begannen sich in mir zu regen, und wie dem Blinden, dem das Augenlicht wiedergegeben wird, schien sich auch meinem Blick mit jedem Tag ein weiterer Horizont zu erschließen. Nebenbei arbeitete ich an einer metrischen Übersetzung des „Fiesco" von Schiller. Ich betrachtete diese Arbeit als Studie, nicht als Erwerbsquelle, und obwohl sie mir nichts eintrug und uns eine nahrhafte Arbeit dringend Not tat, besaß ich doch Mut und Ausdauer genug, mein Werk zu vollenden. Um diese Zeit bot sich meiner Mutter, die stets für meine Anstellung bangte, Gelegenheit, mir ein neues Beispiel getäuschter Hoffnung vor Augen zu halten. Mein Landsmann August Lafarge hatte seine Kanzlei verkaufen müssen und sich aus Verzweiflung der Literatur in die Arme geworfen.
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Er war soeben gestorben, nachdem er drei Jahre lang mit Not und Elend gekämpft hatte. Ich mochte meiner Mutter sagen, was ich wollte: daß Lafarge nie auch nur einen Funken dichterischer Begabung besessen, daß er nicht gekämpft habe, sondern widerstandslos unterlegen sei, vergebens betonte ich, daß ich von einer Energie und Willenskraft beseelt sei, die Lafarge nie gekannt hatte — sie sah nur die Tatsache, daß er in Not und Elend gelebt hatte und eines jämmerlichen Todes gestorben war. Betz, der mir als Zeuge bei meinem Duell gedient hatte, war zum ersten Sekretär mit 2400 Franken Gehalt befördert worden. An seine Stelle trat Ernst und ich an Ernsts Platz mit 1800 Franken, und kam aus dem Sekretariat in die Wohlfahrtsabteilung. Dieser Wechsel brachte mir einen doppelten Vorteil. Zunächst eine Gehaltserhöhung und dann größere Bewegungsfreiheit, denn da ich mich nach den Verhältnissen der Hilfsbedürftigen erkundigen musste, die um Unter stützung baten, brachte ich oft ganze Tage außerhalb des Büros zu, um die Stadt vom einen Ende bis zum anderen zu durchlaufen.
Das Geheimnis des Papageis Ich hatte allmählich die Bekanntschaft so ziemlich aller bedeutenden Männer der Opposition gemacht, die das unterbrochene Werk des letzten Jahrzehnts des achtzehnten Jahrhunderts wiederaufgenommen hatten, indem sie die Monarchie des neunzehnten Jahrhunderts zu untergraben suchten. Ich lernte Carrel bei Leuven kennen, wohin er als Mitarbeiter des „Courrier" oft kam, dessen hauptsächlicher Redakteur Leuven war. Manuel, Benjamin Constant und Beranger hatte ich bei Oberst Bro kennen gelernt. Beranger war von ihnen der einzige, der mich richtig einschätzte, und mit dem ich Freundschaft zu schließen die Zeit hatte; die beiden anderen starben, bevor ich bekannt wurde. Bro hatte mich sehr gern und verschaffte Adolf und mir alle Vergnügungen, die in seiner Macht standen, unter anderen auch das der Jagd. Zu dieser Zeit war er Besitzer des Sees von Enghien, der damals noch nicht im entferntesten das war, was er heute ist. Es war ein einfacher Teich, der mit Gebüsch umgeben war, und in seinen Fluten tummelten sich Wasserhühner und wilde Enten, an deren Menge zwanzig Nimrode ihre Lust hätten haben können. Auf Adolfs und meinen Wunsch hatte Oberst Bro eine Jagd auf einen Sonntag festgesetzt, da wir dann frei waren. Wir hatten uns um sieben Uhr morgens in seiner Wohnung zu versammeln, von wo aus wir in Wagen nach Enghien aufbrechen sollten, wo ein würdiges Frühstück unserer harrte. Immer zu früh auf, wenn es sich um die Jagd handelte, war ich schon um halb sieben bei Oberst Bro. Ich wurde in ein kleines Boudoir geführt, wo ich mich plötzlich einem großen, blauroten Papagei gegenüber befand, der auf einer Stange saß. Ich ließ mich auf das Kanapee nieder.
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Ich richtete an den Vogel einige schmeichelnde Worte, worauf er mich melancholisch mit seinen großen Augen ansah. Dann stieg er langsam, sich vorsichtig mit Schnabel und Krallen weiterhelfend, bis zum Fußboden herab und näherte sich mir, bei jedem Schritt einen Schrei ausstoßend. Als er an meiner Stiefelspitze angelangt war, ging er daran, mein Bein zu erklettern. Soviel Vertrauen rührte mich, und ich streckte ihm die Hand entgegen, um ihm die Mühe des Aufstiegs zu ersparen. Da kam ich aber schlecht an. Sei es, daß er sich über meine freundlichen Absichten täuschte, sei es, daß er einen vorbedachten Angriff bisher unter einem wohlwollenden Äußern verborgen gehalten hatte, kurz, er packte meinen Zeigefinger und brachte mir in der ersten Phalanx eine doppelte Wunde bei, die bis auf den Knochen ging. Ich empfand einen heftigen Schmerz, der um so größer war, als er mich unerwartet traf. Ich stieß einen Schrei aus, in einer Reflexbewegung flog mein Fuß mit der Elastizität einer Stahlfeder nach vorwärts, und die Spitze meines Jagdstiefels traf den Papagei mitten auf die Brust, so daß er gegen die Wand geschleudert wurde, von dort zurückprallte und bewegungslos liegen blieb. War er tot oder nur ohnmächtig? Ich hatte keine Zeit, es zu untersuchen, denn ich hörte Schritte im Nebenzimmer. Schnell nahm ich den Vogel, hob den Überzug des Kanapees in die Höhe und stopfte ihn darunter. Dann wickelte ich den verwundeten Finger in mein Taschentuch und setzte mich wieder hin, als ob nichts passiert sei.Oberst Bro trat ein, die üblichen Komplimente wurden ausgetauscht, und bald trafen auch die anderen Jagdgäste ein.In Enghien bemerkte ich unter ihnen einen, der auch die Hand verbunden hatte, und fragte ihn nach der Ursache seines Leidens. Er hatte sich die Hand in der Tür gequetscht. Es war der berühmte Doktor Ferrus. Als er meinen Namen hörte, fragte er, ob ich der Sohn des Generals Dumas sei, und erzählte mir dann die Geschichte von den vier Gewehren. Unter uns war ferner ein Freund von Telleville Arnault, ein Mann, der sicher einer der tapfersten, geistreichsten und originellsten war, die je gelebt haben. Er hieß Morrisel, war Oberst, trug eine Brille und glich allem anderen eher, als einem Obersten. Man sprach gerade in diesem Augenblick viel von ihm, aus Anlass eines Duells, das er beinahe gehabt hätte. Er war Stammgast im Cafe Francais, Rue Laffitte, wo alle eleganten, jungen Leute zu verkehren pflegten. Changeur, der Oberkellner des Cafes, der ein großer Billardspieler vor dem Herrn war, gab eines Abends einem kleinen, jungen Mann Unterricht im Billardspiel, als Baron B . . . mit einem seiner Freunde ins Lokal trat, als Krakeeler von Natur — er hatte bereits mehrere Duelle mit töd lichem Ausgang gehabt —, sich dem Billard näherte und zu Changeur, ohne den jungen Mann zu beachten, sagte: „Changeur, mach mir Platz und bringe uns Kaffee." — „Verzeihung, Herr Baron, ich spiele gerade mit dem Herrn da." — „Na, da wirst du eben aufhören, sehr einfach." — „Herr", bemerkte darauf der junge Mann schüchtern und höflich, „wir haben nur noch einige Points zu machen, in zehn Minuten gehört das Billard Ihnen." — „Nicht in zehn Minuten, sondern sofort
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will ich es haben. Changeur, mein Junge, gib mir dein Queue!" Morrisol, der schon alt war, mit ergrautem Haar und von schwächlichem Aussehen, trank seine Tasse Kaffee an einem Nebentisch. Er wandte sich plötzlich an Changeur und sagte mit flötender Stimme, die in einem sonderbaren Gegensatz zu seinen Worten stand: „Changeur, mein Lieber, ich verbiete dir, das Billard abzutreten." — „Aber der Herr Baron verlangt, daß ich ihm mein Queue gebe", erwiderte Changeur verlegen. — „Wenn du es tust, dann nehme ich ihm den Stock weg und schlage ihn dir auf dem Kopf entzwei!" Baron B .. . begriff, daß Changeur nur den elektrischen Verbindungsdraht abgab; der Hieb saß. Er wandte sich zu dem, der ihn versetzt hatte. „Herr, es scheint mir, als ob Sie Streit mit mir suchen wollen?" — „Ich gratuliere Ihnen, mein Herr, zu Ihrer Weitsichtigkeit!" — „Und warum, wenn ich fragen darf?" — „Weil Sie Ihre Kraft gegenüber diesem jungen Mann missbrauchen, und ich jeden Gewaltmissbrauch irgendwelcher Art hasse." „Wissen Sie, wer ich bin, Herr?" fragte darauf Baron B . . . in drohendem Ton. — „Jawohl", antwortete Morrisel, friedlich seine Brille auf die Stirn schiebend, „Sie sind Baron B. .., Sie haben einen Herrn Soundso im Duell getötet, andere verwundet usw., das weiß ich." — „Und Sie fahren fort, sich dagegen zu sträuben, daß mir das Billard überlassen wird?" — „Jetzt erst recht!" — „Nun gut, Sie begreifen aber, daß ich das als Beleidigung ansehen muss!" — „Ich habe nichts dagegen." — „Dann werden wir uns morgen früh sechs Uhr im Boulogner oder Vincenner Wald treffen." — „Herr, ich bin fünfundzwanzig Jahre älter als Sie und liebe den Schlaf. Zudem bin ich Spieler, komme gewöhnlich nicht vor fünf Uhr morgens nach Hause und schlafe bis Mittag. Dann pflege ich meine Toilette zu machen, ich hänge auch an dieser Gewohnheit und werde nicht darauf verzichten. Danach trägt mir mein Diener das Frühstück auf. Nach dem Frühstück nehme ich hier, wie Sie sehen, den Kaffee. Bis ich damit fertig bin, ist es zwei Uhr. Ich werde also morgen um zweieinhalb Uhr, wenn Ihnen das passt, zu Ihrer Verfügung stehen, aber auch erst dann." — „Gut, hier ist meine Karte." Morrisel prüft sie aufmerksam, steckt sie in die Tasche und zieht zwei Karten mit seiner Adresse
hervor,
gibt
eine
davon
dem
Baron
und
hüllt
die
andere
in
einen
Fünfhundertfrankenschein ein. Dann ruft er Changeur: „Da sind 500 Franken. Nimm dem Herrn Baron Maß, und wenn du das getan hast, dann gehe zum Leichenbestatter . . . " „Zum Leichenbestatter? . . . " „Ganz recht, Changeur, und bestelle bei ihm in meinem Namen — im Namen des Obersten Morrisel, verstehst du — eine Beerdigung erster Klasse für Herrn Baron von B . . . Wohlverstanden, erster Klasse, das kostet zwar mehr, die 500 Franken sollen auch nur eine Anzahlung sein, aber das Feinste, was es in diesem Artikel gibt, Changeur." Baron B. . . wollte auf den Scherz eingehen.
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„Mir will scheinen, als ob Sie meiner Familie diese Sorge überlassen könnten", bemerkte er lachend. „Durchaus nicht, Herr Baron, Ihre Familie ist ruiniert, wie man munkelt, und da würde sie die Sache vielleicht etwas ärmlich machen. Denken Sie nur, Herr Baron B . . . in einem Leichenwagen zweiter oder dritter Klasse! Pfui! Ich habe in meinem Leben zweiundzwanzig Menschen im Duell getötet und habe stets die Beerdigungskosten getragen. Verlassen Sie sich auf mich, Sie sollen ein adliges Begräbnis haben. Ich will, daß jeder, der den Zug sieht, fragt: ,Oh! Wer wird da so vornehm zu Grabe getragen?' Und dann kann Changeur, da der Zug hier vorübergeht, antworten: ,Da wird Baron B . . . beerdigt, der berühmte Duellant. Er hatte hier in brutaler Weise Streit gesucht mit einem Jüngling, der sich nicht verteidigen konnte; Oberst Morrisel war gerade da, er ist für den jungen Mann eingetreten und hat Baron B . . . mit dem ersten Schuss niedergestreckt!' Das wird eine gute Warnung für unverschämte Duellanten sein . . . Auf Wiedersehen, Herr Baron von B . . ., auf morgen, ich erwarte Ihre Zeugen, Sie haben die Wahl der Waffen." Und zum Kellner sich wendend, schloss er: „Also, lieber Changeur, keinen Irrtum: erster Klasse! Für den Herrn Baron ist das Beste eben gut genug!" Er schob seine Brille wieder herunter, nahm seinen Regenschirm und verließ das Lokal. Der Streit hatte viel Lärm gemacht. Das Cafe Francais war am nächsten Tage von zwölf Uhr ab überfüllt. Jeder wollte wissen, wie die Sache ablaufen würde. Um ein Uhr erschien Morrisel zu seiner gewohnten Zeit mit Brille und Regenschirm. Ein jeder trat vor ihm zur Seite. „Changeur, meinen Kaffee." Er war gerade dabei, phlegmatisch seinen Zucker aufzulösen, als Baron B. . . ins Cafe kam. Er ging auf Morrisel los, der seine Brille hinaufschob und lächelnd den Gruß seines Gegners erwiderte. „Herr Graf", hub der Baron an, „ al s ich Sie gestern forderte, war ich nicht ganz nüchtern. Heute komme ich, Ihnen meine Entschuldigungen zu überbringen, und bitte Sie, diese annehmen zu wollen. Ich darf so sprechen, da ich meine Proben abgelegt habe, und da meine Worte nicht meinem Rufe schaden können." „Das ist Ihre Sache, Herr Baron! Changeur, geh sofort zum Leichenbestatter und sage ihm, daß die Beerdigung des Herrn Baron auf unbestimmte Zeit verschoben worden ist." — „Das ist unnötig, ich glaubte es verantworten zu können, wenn ich noch etwas wartete. Hier ist der Schein, Herr Oberst." — „Dann gib mir mal meine Rechnung." Changeur kam mit der Aufstellung wieder. ,,Ah! 900 Franken! Da, Changeur, hast du einen zweiten Schein über 500 Franken, der Rest ist für den Kellner." Dann trank er ruhig seinen Kaffee aus, schob die Brille herunter, nahm seinen Schirm und verließ unter dem lauten Beifall aller Gäste das Cafe.
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Der arme Morrisel starb an einer grausamen Krankheit. Trotz Sonde und Höllenstein, trotz Civiale, Pasquier und Dupuytren war er auf einen Punkt gelangt, wo von der reichlich genossenen Flüssigkeit kein Tropfen mehr aus seinem Körper ausgeschieden werden konnte. Man verlängerte sein Leben durch Schwitzkuren. Eines Tages fragte er seine Ärzte, die ihm seinen Zustand nicht verraten wollten, ob sie nicht, bevor er stürbe, sich in irgendeinem Krankenhaus den Leichnam eines Mannes verschaffen könnten, der derselben Krankheit erlegen sei, an der er leide. Die Ärzte erwiderten, daß das wohl möglich sei und daß man einen suchen würde. Drei oder vier Tage später teilten sie ihm mit, daß er das Gewünschte haben könne. Morrisel kaufte den Leichnam zum gewöhnlichen Preise — ich glaube sechs Franken —, ließ ihn auf einen Tisch neben seinem Bett niederlegen und bat einen der Ärzte, die Autopsie vorzunehmen. Nachdem das geschehen war, äußerte Morrisel seine Befriedigung darüber, nun zu wissen, was ihm fehle. Zufrieden bereitete er sich darauf vor, ruhig zu sterben, eine Operation, die er, das muss man sagen, mit einem bewundernswerten Mut ausführte. Vierzehn Tage nach der Jagd in Enghien machte ich dem Oberst Bro wieder einen Besuch. Zu meinem größten Erstaunen saß der Papagei wieder ruhig auf seiner Stange, aber so ruhig, daß ich bald merkte, daß er ausgestopft war. „Wie?" fragte ich den Oberst, „Ihr armer Jacquot ist gestorben?" — „Ja, denken Sie sich. Und dabei habe ich eine Tatsache festgestellt, woran ich immer gezweifelt habe: daß nämlich Tiere sich verstecken, um zu sterben . . . " — „Nun?" — „Ja, der arme Jacquot hat es so gemacht. Als er den Tod herannahen fühlte, hat er sich unter den Überzug des Kanapees verkrochen. Wir dachten erst, er sei davongeflogen, aber nach langem Suchen fand man ihn dort tot am Tage nach unserer letzten Jagd." — „War er bösartig? Biss er?" fragte ich schüchtern. — „Er? Niemals." Ich machte schon eine Bewegung, um meinen noch nicht ganz vernarbten Finger zu zeigen, aber ich dachte, daß es besser sei, den Oberst in Unkenntnis über die Charaktereigenschaften seines Papageis zu lassen. Heute, nachdem viele Jahre darüber hingegangen sind, und wohl keine Feder des unglücklichen Vogels mehr übriggeblieben ist, will ich demütig mein Verbrechen eingestehen und bitte die Leidtragenden um Verzeihung. Aller Anfang ist schwer Wenn ich nicht irre, war es 1822 oder 1823, als ein englisches Ensemble im Theater an der Porte-Saint-Martin Vorstellungen gab. Die Engländer wurden mit solchem Gejohle empfangen, es wurden so vi e l Äpfel und Orangen auf die Bühne geworfen, daß die armen Schauspieler endlich vor diesen Geschossen die Flucht ergreifen und das Schlachtfeld dem Nationalbewusstsein überlassen mussten. Denn ein solches Treiben galt im Jahre 1822 als Äußerung des
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Nationalbewusstseins. Fünf Jahre waren seitdem verflossen, und zum Erstaunen des Publikums verbreitete sich plötzlich die Nachricht, eine englische Truppe sei da und werde Shakespeares Meisterwerke in der Ursprache aufführen. Fünf Jahre hatten also genügt, um das Publikum über seine Verirrung aufzuklären; so schnell reiften die Ansichten an der glühenden Sonne des neunzehnten Jahrhunderts. Die tiefe Verachtung, die man früher für die englische Literatur an den Tag legte, schlug nun plötzlich in enthusiastische Bewunderung um. Walter Scott, Cooper, Byron gingen von Hand zu Hand. „Richard III.", „Schloß Kenilworth", „Macbeth", „Ludwig XL in Peronne" waren mit ungeheurem Beifall gegeben worden. Soulie hatte seinen „Romeo und Julia" und Alfred de Vigny seinen „Othello" beendet. Es war nicht zu leugnen, der Wind wehte scharf von Westen herüber und kündete das Nahen der literarischen Revolution.
Am 7. September 1827 traten die Engländer zum erstenmal auf. Endlich war „Hamlet" angekündigt. Diesmal durfte ich nicht fehlen. Ich verließ schon um vier Uhr das Amt und stellte mich an den Eingang des Theaters. Ich wusste meinen Hamlet so gut auswendig, daß ich mir nicht erst das Buch zu kaufen brauchte und dennoch sicher sein konnte, daß mir kein Wort des Schauspielers entgehen werde. Ich gestehe, daß der Eindruck meine Erwartung weit übertraf. Die Szene auf der Plattform, die mit den Schauspielern, mit den beiden Porträts, die Wahnsinns- und die Kirchhofszene machten auf mich einen geradezu betäubenden Eindruck. Erst von diesem Augenblick an hatte ich einen klaren Begriff vom Wesen des Theaters, erst jetzt erkannte ich, wie man die einzelnen Trümmer vergangener Ereignisse, die im Geist wirr umherliegen, zusammenfügen und daraus eine Welt schaffen kann. „Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern", heißt es in der Bibel. Ich sah zum erstenmal echte Leidenschaften und Menschen mit Fleisch und Blut, die nur von der Bühne herabzusteigen und sich an unsere Seite zu stellen brauchten, um zu uns zu gehören. Am 10. September beendeten die Engländer ihr Gastspiel und ließen in meinem Herzen den Balsamduft eines neuen Frühlings, in meinem Geist einen Himmel strahlender Sterne zurück. Sechs Tage vorher war die Kunstausstellung eröffnet worden. Mademoiselle Fauveau stellte zwei kleine Skulpturen aus, die die Aufmerksamkeit aller Kunstkenner auf sich zogen. Sie stellten eine Szene aus dem „Abbe" und die Ermordung Monaldeschis dar. Den „Abbe" hatte ich gelesen. Ich wusste also, was die eine Skulptur bedeuten sollte. Aber in der Geschichte war ich so wenig bewandert, daß mir die Idee des andern ganz unbekannt war, ja, ich wusste nicht einmal, wer Monaldeschi und Christine waren. Ich verließ das Museum, und da es gerade Sonntag war und ich Soulie schon einige Tage nicht mehr gesehen hatte, wollte ich ihn diesen Abend besuchen. Ich sagte meiner Mutter, daß ich wahrscheinlich erst spät nach Hause käme. Um neun Uhr saß ich schon am lodernden Kaminfeuer beim Tee und besprach mit Soulie
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die Veränderungen, die er nach dem, was wir von den Engländern gesehen hatten, an seinem „Romeo und Julia" vornehmen sollte. Plötzlich fiel mir wieder die Skulptur ein, die die Ermordung Monaldeschis darstellte. Aber die Furcht, wegen meiner Unwissenheit ausgelacht zu werden, hielt mich davon ab, Soulie darüber um Auskunft zu bitten. Ich verlangte nur sein Konversationslexikon. Ich las die beiden Artikel „Monaldeschi" und „Christine". Dann versank ich in tiefes Träumen. Es war mir, als sähe ich dunkle Gestalten an mir vorüberhuschen, als hörte ich Schwerter klirren, als drängen Wehrufe an mein Ohr. Plötzlich fuhr ich in die Höhe. „Weißt du auch, Soulie", rief ich, als hätte er dem Lauf meiner Gedanken folgen können, „daß sich daraus ein furchtbares Drama machen ließe?" — „Woraus denn?" — „Aus der Ermordung Monaldeschis durch Christine." — „Das glaube ich wohl." — „Wollen wir es zusammen schreiben?" — „Nein", antwortete Soulie ganz trocken, „ich arbeite mit niemand mehr. Ich habe mir vorgenommen, endlich einmal allein ein bedeutendes Werk zu schaffen. Außerdem will ich gerade selbst eine Tragödie über diesen Stoff schreiben." „Ach", rief ich verblüfft, und schlug die beiden Bände des Konversationslexikons zu. — „Das soll dich übrigens nicht abhalten, ein Gleiches zu tun", meinte Soulie. „Es gibt wohl zwei Theater in Paris und ein und derselbe Stoff lässt sich von zehn verschiedenen Gesichtspunkten aus behandeln." — „Aber wer von uns wird sein Stück dem Theatre Francais einreichen?" — „Wer zuerst damit fertig ist." Da ich nicht reich genug war, mir ein Konversationslexikon kaufen zu können, bat ich Soulie, ob ich die beiden Artikel abschreiben dürfe. Er hatte nichts dagegen und ich sah nun, daß ihm meine Konkurrenz keinen Schrecken einjagte. Um Mitternacht trennten wir uns. Ich eilte den Boulevards zu und träumte von meiner künftigen „Christine". Die Nacht war finster, das Wetter regnerisch, die Straßen waren fast menschenleer. Als ich an der Porte Saint Denis in eine Gasse einbiegen wollte, vernahm ich in nächster Entfernung einen halberstickten Hilferuf und sah in der Dunkelheit eine kleine Gruppe, die sich auf dem Boulevard hin und her bewegte. Ich eilte hin und fand zwei Banditen, die einen Mann und eine Frau überfallen hatten. Der Mann suchte sich mit seinem Stock zu verteidigen, die Frau lag am Boden und der eine Räuber wollte ihr gerade ihre goldene Halskette entreißen. Ich stürzte mich auf den Räuber, warf ihn zu Boden und kniete mich auf seine Brust. Als der andere dieses rasche Manöver sah, ließ er sein Opfer los und machte sich rasch .ms dem Staub. Auf das Geschrei des Mannes sowie auf die früheren Hilferufe der Überfallenen kamen endlich Polizisten von der nächsten Hauptwache herbei. Ich ließ den Kerl nicht eher los, bis ihn die Wache fast gewaltsam unter meinem Knie hervorzog. Erst jetzt antwortete ich auf den Dank der Geretteten.
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Die Stimme der Frau machte auf mich einen überraschenden Eindruck. Es konnte niemand anders sein als Adele, die ich seit meinem Wegzug von Villers-Cotterets nicht mehr gesehen hatte. Der Mann war ihr Gatte. An der Porte-Saint-Martin war diesen Abend „Hochzeit und Begräbnis" gegeben worden, und da die beiden erfuhren, daß dieses Stück teilweise aus meiner Feder stammte, so wollten sie es unbedingt sehen. Leider waren die Polizisten, denen ich den Räuber überliefert hatte, mehr tapfer als vernünftig; sie wussten zwischen Banditen und ehrlichen Leuten keinen Unterschied zu machen. Sie brachten uns allesamt zur Hauptwache und erklärten uns, daß wir wenigstens bis zum Morgen dort bleiben müssten, bis der Polizeikommissar den Weizen von der Spreu sondern würde. Räuber und Beraubte wurden in die Abteilung der Hauptwache abgeführt, die die Geige heißt, und dort waren wir in Gottes Namen der Willkür des Herrn Kommandanten überlassen. Da Adele und ihr Mann für sich das eine Ende des Feldbettes beanspruchten, blieb mir und dem Dieb die andere Hälfte. Lange betrachtete ich mit tiefer Wehmut diese Frau, die erste Liebe meiner Jugend, wie sie jetzt an der Brust eines andern schlief, wie sie diesen andern duzte und in seiner Nähe glücklich schien. Sie hatte schon zwei Kinder; die Mutter musste die Geliebte trösten. Sie schliefen. Aber ich und der Dieb, wir konnten keinen Schlaf finden. Allmählich wandten sich meine Blicke von Adele und ihrem Gatten ab. Meine Gedanken kehrten wieder dorthin zurück wo der unerwartete Zwischenfall ihren Gang unterbrochen hatte. Das Steinbild trat wieder vor mein geistiges Auge und hier in dem finsteren Amtslokal der Hauptwache, an der Seite dieser Frau und dieses Mannes, in unmittelbarer Nähe eines Banditen, der im günstigsten Fall drei Jahre Galeeren zu erwarten hatte, schuf ich in Gedanken die ersten Szenen meiner Christine. Um acht Uhr kam der Polizeikommissar. Er nahm unsere Aussagen zu Protokoll, ließ sich unsere Adressen geben und setzte uns dann sogleich wieder auf freien Fuß. Der Dieb wurde nach der Polizeipräfektur gebracht. Ich eilte nach Hause und fand meine arme Mutter in größter Bestürzung und Angst. Es war ihr so gegangen wie mir; sie hatte die ganze Nacht über kein Auge geschlossen. Ich habe Adele während ihres Aufenthaltes in Paris noch ein- oder zweimal gesehen; aber um diese Zeit gehörte mein Herz oder wenigstens mein Geist einer Geliebten, die alle früheren und späteren mit Recht eifersüchtig machen konnte. Diese Geliebte oder richtiger: diese Gebieterin war — die Kunst! Ich habe bereits gesagt, daß ich von den englischen Schauspielern unendlich viel gelernt hatte. Ich hatte Hamlet, Romeo, Shylock, Othello Richard III. und Macbeth gesehen, ich las, nein, ich verschlang nicht nur das ganze Repertoire Shakespeares, sondern das ganze Repertoire des
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Auslands. Ich erkannte endlich, daß in der Bühnenwelt alles Licht von Shakespeare ausströmt wie in der realen Welt von der Sonne; ich erkannte, daß er einzig und unvergleichlich dasteht, in der Tragödie so groß wie Corneille, im Lustspiel so groß wie Moliere, an Originalität so groß wie Calderon, als Denker so groß wie Goethe, an Feuer und Glut der Leidenschaft so groß wie Schiller — ja, noch größer als sie, da er vor ihnen gelebt und gedichtet hatte. Ich erkannte schließlich, daß Shakespeare das Wesen war, das nächst Gott am meisten geschaffen hatte. Von dem Tag an, als ich in den englischen Schauspielern Bühnenkünstler kennen lernte, als ich diese Verschmelzung des erdichteten Lebens mit dem wirklichen sah, war mein Beruf entschieden. Ich begann in mich selbst ein Vertrauen zu setzen, das mir bis dahin fremd war, und ich steuerte nun kühn einer Zukunft entgegen, an der ich stets gefürchtet hatte zu scheitern. Dennoch gab ich mich über die Schwierigkeiten, denen ich auf dieser Bahn begegnen musste, durchaus keiner Täuschung hin. Ich wusste, daß mir vor allem tiefe und gründliche Studien Not taten, daß ich, um mich mit Erfolg an die lebende Natur wagen zu können, zuerst die tote Natur genau kennen müsse. Ich begnügte mich daher nicht mehr mit den flüchtigen Studien meiner früheren Jahre, ich suchte wieder die genialen Werke eines Shakespeare, Moliere, Calderon, Goethe und Schiller hervor, ich legte sie wie Leichen in der Anatomie vor mich hin und suchte nun ganze Nächte hindurch, mit dem Seziermesser in der Hand bis ans Herz vordringend, nach der Quelle ihres Lebens und nach dem Geheimnis des Blutkreislaufes. Endlich erforschte ich den wunderbaren Mechanismus, durch den sie Nerven und Muskeln in Bewegung setzen, endlich lauschte ich ihnen die Kunst ab, das Fleisch zu formen, daß es in immer wechselnder Form das Gerippe umhüllte, das stets unverändert bleibt. Denn der Mensch erfindet nichts. Gott hat ihm die Schöpfung in die Hand gegeben. Der Mensch muss sie für seine Bedürfnisse ausbeuten und der Fortschritt des Menschen ist nichts anderes als der Sieg, den er in Tagen, Monaten oder Jahrhunderten über die Materie davonträgt. Ich arbeitete also gleichzeitig an meiner dramatischen Schöpfung und an meiner dramatischen Ausbildung. Jene war bald vollendet, diese wird es niemals sein! Meine „Christine" schritt rasch der Vollendung entgegen. Aber der Schlusspunkt des Manuskripts bildete erst den Anfangspunkt meiner Verlegenheit; ich kam mir vor wie ein armes Mädchen, das ein außereheliches Kind in die Welt setzt. Was sollte ich mit dem Bastard anfangen, der weder im Schoß der Akademie noch des Instituts das Leben erhalten hatte? Sollte ich ihn selbst erwürgen, wie ich es mit seinen älteren Geschwistern getan hatte? Das wäre doch zu hart gewesen! . . . Also hinaus mit ihm in die Welt! . . . Ja, aber dazu bedurfte es noch einer Bühne, die es annehmen, der Schauspieler, die es spielen, und des Publikums, das es anhören wollte.
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Aber Talma war tot und außer ihm kannte ich am Theatre Francais auch nicht eine Seele. Ich wandte mich an Oudard und verlangte von ihm keck ein Empfehlungsschreiben an das Theatre Francais. Oudard schlug mir meine Bitte ab, indem er vorgab, auch er kenne niemand vom Theatre Francais. Aber ich sah bisweilen einen Mann mit dichten Augenbrauen und langer Nase ins Sekretariat kommen, der die neunzig Eintrittskarten brachte, die Oudard den Monat über verteilen sollte. Dieser Mann war der Souffleur. Ich lauerte ihm auf, vertrat ihm den Weg und setzte ihm statt eines Dolches oder einer Pistole die Frage auf die Brust, wie man es anfangen müsse, um vor dem Komitee des Theatre Francais ein Stück vorlesen zu können. Er antwortete mir, ich müsse das Stück beim Schriftführer einreichen, bemerkte aber auch sogleich, es liegen schon so viele vor, daß ich jedenfalls mindestens ein Jahr warten müsse. „Aber sagen Sie mir doch", fuhr ich fort, „gibt es denn kein Mittel, um all diese Formalitäten abzukürzen?" — „O ja, wenn Sie mit Baron Taylor bekannt sind . . . " Ich dankte ihm. — „Bitte, keine Ursache", erwiderte er. Und er hatte recht; ich hatte auch keine Ursache, ihm für seinen Rat zu danken, denn ich kannte den Baron Taylor nicht im entferntesten. Auch Lassagne kannte ihn nicht, aber er sagte mir, daß der Baron mit Charles Nodier auf vertrautem Fuß stünde. Ich sollte mich also an ihn wenden. Ich schrieb auch an Nodier, und man kann sich leicht denken, mit welcher Ungeduld ich auf Antwort wartete. An Nodiers Stelle antwortete mir Baron Taylor selber. Er ersuchte mich, ihn in einer Woche um sieben Uhr morgens zu besuchen. Obwohl es in ganz Paris vielleicht keinen solchen Langschläfer wie mich gab, war ich doch zur bestimmten Stunde bereit. Freilich hatte ich vor Ungeduld die ganze Nacht hindurch kein Auge geschlossen. Taylor wohnte damals in der Rue Bondy Nr. 42 im vierten Stock. Seine Wohnung bestand aus einem Vorzimmer voll Büsten und Bücher, aus einem Esszimmer voll Gemälde und Bücher, aus einem Turnzimmer voll Waffen und Bücher und aus einem Schlafzimmer voll Manuskripte und Bücher. Das Herz pochte mir laut, als ich an der Tür des Vorzimmers läutete. Ich klingelte ganz sacht, es rührte sich niemand, ich klingelte zum zweiten Male, ebenso leise, aber es ließ sich noch immer niemand sehen. Dennoch glaubte ich, als ich aufmerksam horchte, innen ein Geräusch zu vernehmen, das mich vermuten ließ, daß in Taylors Wohnung etwas Besonderes vorgehen müsse. Ich vernahm verworrene, bald heftigere, bald leisere Töne, bald den Ausbruch wilden Zorns, dann wieder ein für den Fernstehenden kaum hörbares Bitten und Flehen und dazu schnarrte eine derbe Männerstimme einen sehr monotonen Bass. Ich konnte nicht erraten, was das zu bedeuten hatte, und fürchtete, Taylor in diesem Augenblick recht ungelegen zu kommen. Aber es war ja die Stunde, die er selbst bestimmt hatte. Ich schellte stärker. Nun hörte ich eine Tür knarren und im selben Augenblick vernahm ich den Lärm im Innern der Wohnung noch viel lauter als vorher.
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Endlich ging die Tür des Vorzimmers auf, und ich stand einer recht freundlichen alten Haushälterin gegenüber. „Ach, Herr", rief sie, „Sie erweisen dem Herrn Baron durch Ihr Komme« wirklich einen unschätzbaren Dienst. Er erwartet Sie schon mit größter Ungeduld." — „Mich? . . Weshalb, wenn ich bitten darf?“ — „Kommen Sie nur! Es ist schade um jede Minute." Ich fand Taylor in seiner Badewanne sitzend, gefangen, wie der Wolf in der Grube, neben ihm ein Herr, der ihm seine Tragödie „Hekuba" vorlas. Dieser Mann hatte sich mit Gewalt in den Salon gedrängt; er traf Taylor wie Charlotte Corday ihr Opfer Marat im Bad und ermordete ihn dort mit seiner Tragödie, nur daß der Todeskampf des königlichen Kommissars länger dauerte als der des Volkstribunen. Die Tragödie hatte zweitausendvierhundert Verse! Als der Herr mich erblickte, fürchtete er, ich würde ihm sein Opfer entreißen. Er klammerte sich an die Badewanne und schrie: „Nur noch zwei Akte, Herr Baron, nur noch zwei Akte!" — „Zwei Degenstiche! Zwei Dolchstöße! Zwei Messerstiche! Wählen Sie eine Waffe, die Sie wollen, Sie haben hier Auswahl genug", schrie ihm Taylor entgegen, ..wählen Sie die, die am sichersten und schnellsten tötet, aber morden Sie mich nicht stückweise." „Herr Baron", entgegnete der Verfasser der „Hekuba", „die Regierung hat Sie als Kommissar eingesetzt, Sie müssen also mein Stück anhören, es ist Ihre Pflicht, und Sie werden es anhören." „Das ist ja gerade mein Unglück", jammerte Taylor. „Ja, ja, ich bin leider Kommissar, aber Sie und Ihresgleichen werden es noch so weit bringen, daß ich mein Amt niederlege, daß ich auf und davon gehe und Frankreich verlasse. Man hat mir eine Mission nach Ägypten angeboten; ich nehme sie an, ich will die Nilquellen entdecken, bis Nubien vordringen, das Mondgebirge ersteigen . . . auf der Stelle hole ich meinen Pass und gehe!" „Gehen Sie meinetwegen nach China", erwiderte der Verfasser der „Hekuba", „aber erst müssen Sie mein Stück anhören." Wie ein besiegter Athlet stieß Taylor einen tiefen Seufzer aus und winkte mir, ich solle mich einstweilen ins Schlafzimmer begeben. Dann sank er in seine Badewanne zurück und neigte das Haupt in stiller Verzweiflung gegen die Brust. Der Dichter las weiter. Taylor hatte es gut mit mir gemeint, als er mich von dem Vorleser durch eine Tür getrennt wissen wollte, aber es half nichts, es ging mir kein Wort der Tragödie verloren und ich musste die beiden letzten Akte mit anhören. Gott ist groß und barmherzig; er schenke jenem Dichter die ewige Ruhe und verzeihe ihm, wie ich ihm verzeihe! Nachdem der gute Mann mit seiner Tragödie zu Ende war, gab er endlich Taylors dringendem Flehen nach und ging. Die Alte folgte ihm auf dem Fuß und schloss die Tür hinter ihm zweimal ab. Während der beiden letzten Akte hatte sich auch das Bad abgekühlt. Taylor kam frierend und zähneklappernd ins Schlafzimmer. Ich hätte mein Monatsgehalt darum gegeben, wenn er jetzt sein Bett schön angewärmt gefunden hätte.
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Denn ein halberfrorener Mensch, der eben erst fünf Akte anhören musste, dürfte kaum in der Stimmung sein, nochmals fünf Akte hinunterzuwürgen. „Herr Baron", sagte ich ganz schüchtern, „wenn Sie es erlauben, werde ich ein andermal kommen." „O nein, nein", erwiderte Taylor, „da Sie nun schon einmal da sind, fangen Sie nur ruhig an." Zitternd zog ich mein Stück aus der Tasche, das Manuskript war ein dicker Band. Auch Taylor erschrak beim Anblick des dickleibigen Folianten so sehr, daß ich ganz verlegen bemerkte: „Erschrecken Sie nicht, Herr Baron, die Blätter sind nur einseitig beschrieben." Er atmete wieder auf und ich begann. Ich war so verlegen, daß mir die Buchstaben vor den Augen tanzten, ich las mit so ängstlicher Stimme, daß ich mich selbst kaum hörte. Taylor sprach mir Mut zu. Eine solche Bescheidenheit schien in seiner Praxis nicht zu den alltäglichen Erscheinungen zu gehören. Ich las weiter und gelangte, so gut es eben ging, bis ans Ende des ersten Aktes. „Soll ich weiterlesen, Herr Baron?" fragte ich kaum vernehmbar und ohne die Augen aufzuschlagen. „Ja, freilich! Nur zu, meiner Treu, das Ding ist gar nicht so übel."Ich fühlte mich neu belebt und las den zweiten Akt mit mehr Mut als den ersten. Kaum war ich zu Ende, als Taylor auch schon den dritten zu hören verlangte, dann den vierten und endlich den fünften. Ich hatte große Lust, dem Mann um den Hals zu fallen. Er hätte es schon um der Angst willen verdient, die ihm mein dickleibiges Manuskript anfangs einflößte. Als ich die letzten Zeilen gelesen hatte, sprang Taylor mit einem Satz aus dem Bett. „Sie gehen mit mir sogleich ins Theatre Francais", rief er. — „Mein Gott, wozu denn, Herr Baron?" — „Damit Sie erfahren, wann Sie Ihr Stück dem Komitee vorlesen dürfen."Am folgenden Donnerstag hatten sich vielleicht durch Zufall, vielleicht auch, weil Taylor von dem Stück viel Rühmliches zu erzählen wusste, die Komiteemitglieder vollzählig eingefunden: Herren und Damen in großer Toilette, wie für einen Ballabend. Die Damen mit Blumen und Bändern im Haar, die Herren im schwarzen Frack, der grüne Teppich, die neugierigen Blicke, die auf mir ruhten, das alles versetzte mich in eine ungewöhnliche Aufregung. „Christine" lag damals noch nicht in der heutigen Fassung vor. Es war ein ganz einfaches Drama, der Form nach romantisch, dem inneren Wesen nach klassisch. Das Stück bestand aus fünf Akten, die alle in Fontainebleau spielten. Ich hatte die Vorschrift des Aristoteles über Einheit von Zeit, Ort und Handlung streng eingehalten. Und was noch sonderbarer erscheinen wird, die Rolle der Paula, die jetzt die gelungenste Schöpfung des Stückes, der eigentliche Knotenpunkt ist, lag damals noch gar nicht vor. Monaldeschi wurde nur an Christines Ehrgeiz, nicht aber auch an ihrer Liebe zum Verräter.Ich muss mir selbst das Kompliment machen, daß ich wenig Werke kenne, die sich bei der Vorlesung vor dem Komitee eines solchen Erfolges erfreuten.
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Dreimal musste ich den Monolog Sentinellis und die große Szene Monaldeschis vorlesen. Ich war vor diesem unerwarteten Triumph wie betäubt. Das Stück wurde einstimmig angenommen. Nur wegen der vielen Neuerungen sollte die Aufführung erst stattfinden, wenn die Lesung wiederholt oder das Manuskript von einem Schriftsteller und Vertrauensmann des Komitees geprüft worden wäre. Das alles war wie ein Traumbild an meinem geistigen Auge vorübergezogen. Ich wusste, daß mein Stück angenommen war, und mehr wollte ich nicht wissen. Man stellte mir Bedingungen, ich würde sie erfüllen; es gab Schwierigkeiten, ich würde sie überwinden. Daher wartete ich nicht einmal das Ende der Beratung ab. Ich dankte Taylor und verließ das Theater so stolz und wohlgemut wie damals, als mir meine erste Geliebte ihr „Ich liebe dich" stammelte. Nun lief ich schnurstracks nach der Rue Saint-Denis, rannte alles über den Haufen, was mir in den Weg kam und schaute verächtlich auf die Vorübergehenden, als wollte ich ihnen zurufen: „Ihr habt keine .Christine' geschrieben! Ihr kommt nicht geradeswegs vom Theatre Francais! Euer Stück ist nicht angenommen worden!" In meiner Freude wollte ich über eine Pfütze setzen und fiel hinein, ich sah keine Wagen, keine Pferde mehr und ich stieß bald da, bald dort an. Bis ich in die Rue Saint-Denis kam, hatte ich sogar mein Manuskript verloren. Aber das alles kümmerte mich nicht, ich wusste mein Werk auswendig. Mit einem Satz war ich vom Hausflur im Zimmer. Meine Mutter, die mich gewöhnlich erst um fünf Uhr nach Hause kommen sah, fuhr ganz entsetzt in die Höhe. „Einstimmig angenommen!" schrie ich und tanzte dabei im Zimmer umher, so wenig Platz auch zum Tanzen vorhanden war. Meine Mutter meinte, ich sei plötzlich verrückt geworden. Ich hatte ihr nichts davon gesagt, daß ich mein Stück dem Komitee vorlesen würde, um mir die Schmach zu ersparen, wenn es durchfallen sollte. „Und was wird denn Feresse sagen?" meinte meine arme Mutter. „Was kümmert mich der? Ich gehe heute nicht ins Büro, und so hat er Zeit, wie der deutsche Dichter Schiller sagt, .fern von Madrid' über mich nachzudenken." „Gib nur acht, mein armer Junge", entgegnete meine Mutter kopfschüttelnd, „daß er dir nicht Zeit gibt, ,fern von Madrid' über deinen Leichtsinn nachzudenken. Mein Gott, wenn du entlassen würdest. . ." ..Nun, Mama, desto besser, dann habe ich Zeit, die Proben persönlich zu leiten." „Wenn aber das Stück durchfällt und auch dein Amt zum Teufel ist, was sollen wir dann anfangen?" „Dann schreibe ich eben ein neues Stück, das mehr Glück hat." „Aber, liebes Kind, wir müssen doch bis dahin leben." „Zum Teufel, das ist ja das Unglück, daß man leben muss! Weißt d u was, Mutter, ich gehe in Gottes Namen wieder in mein Büro. Deviolaine hat mir zwar den ganzen Tag dienstfrei gegeben, aber es ist erst halb drei, und ich kann mit meiner Arbeit immer noch fertig werden.
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Behüt dich Gott, Mütterchen! Du hast recht, wir müssen vor allem sorgen, daß wir nicht verhungern." Ich lief nun so rasch ich konnte nach der Rue Saint-Honore. Luft und Bewegung taten mir wohl. In unserem engen Zimmer glaubte ich ersticken zu müssen. In meinem Büro fand ich einen ganzen Stoß Akten. Ich machte mich an die Arbeit und war um sechs Uhr mit allem fertig. Unterdessen hatte sich Feresses Zorn gegen mich bis zu tödlichem Hass gesteigert, denn er hatte wegen mir bis sechs Uhr im Büro bleiben müssen. Ich las das Geschriebene zweimal durch, aus Furcht, es könnten sich irgendwo ein paar Verse aus meiner „Christine" eingeschlichen haben. Aber meine Akten waren in Ordnung, und es fand sich wie gewöhnlich auch nicht ein Fünkchen Poesie darin. Nun händigte ich sie Feresse aus, der sie brummend wie ein Bär ins Büro des Herrn Fossier trug. Dann kehrte ich zu meiner armen Mutter zurück, die von den Ereignissen dieses Tages aufs tiefste erregt und erschüttert war. Es war der 30. April 1828. Am anderen Morgen sah ich beim Eintritt ins Büro den guten Feresse an der Tür seines Zimmers stehen. Er wartete schon seit acht Uhr auf mich, obwohl er wusste, daß ich immer erst um zehn Uhr kam. „Ah, da sind Sie ja!" rief er mir entgegen. „Sie haben also eine Tragödie geschrieben?" — „Wer hat Ihnen das gesagt?" — „Da, in der Zeitung steht es. Lesen Sie nur selbst." Er reichte mir ein Blatt, in dem ich folgende Zeilen las: „Heute hat das Theatre Francais eine Tragödie in fünf Akten und Versen von einem in der Literatur noch unbekannten jungen Mann einstimmig angenommen. Der Verfasser ist im Büro des Herzogs von Orleans angestellt, der ihm alle Schwierigkeiten geebnet und das Stück dem Komitee aufs wärmste empfohlen hat." Man sieht, mit welcher Genauigkeit die Tagespresse über meinen ersten dramatischen Versuch berichtete. So ungenau übrigens diese Einzelheiten auch sein mochten, die Sache an sich war dennoch wahr, und die Nachricht verbreitete sich mit Blitzesschnelle auch durch das ganze Haus. In allen Räumen wurde geflüstert und debattiert, gelobt und gespottet, es war ein Gehen und Kommen, ein Zusammenstecken der Köpfe, als ob die Herzogin von Orleans mit Zwillingen niedergekommen wäre. Man überhäufte mich von allen Seiten mit Glückwünschen, die zur Hälfte aufrichtig, zur Hälfte spöttisch gemeint waren. Nur von meinem Bürochef war nicht einmal eine Nasenspitze zu sehen. Da er mir aber viermal soviel Arbeit schickte als sonst, so durfte ich mit Recht annehmen, daß auch er die Zeitung gelesen hatte. Um zwei Uhr kam Deviolaine, fünf Minuten später ließ er mich rufen. Ich trat, den Kopf emporgereckt und die Arme in die Seite gestemmt, in sein Zimmer. „Ah, da bist du ja, Hanswurst?" fragte er mich. „Also um deine dummen Streiche auszuführen, hast du gestern Urlaub genommen?"
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„Hat meine Arbeit darunter gelitten?" „Darum handelt es sich nicht. Aber hast du denn nicht gemerkt, daß sie sich mit dir nur einen Scherz gemacht haben?" — „Wer denn, Herr Deviolaine?" — „Die Schauspieler." — „Und doch haben Sie mein Stück angenommen." „Angenommen! Aber spielen werden sie es nicht. Und wenn sie es auch spielen, dann muss es erst noch dem Publikum gefallen." — „Und warum soll es denn dem Publikum nicht gefallen, wenn es doch den Schauspielern gefallen hat?" — „Am Ende willst du mir gar einreden, daß du mit deiner Bildung für drei Franken im Monat dort durchdringen willst, wo Leute wie Viennet, Lemercier und Lebrun gescheitert sind? . . . Rede doch keinen Unsinn!" In diesem Augenblick steckte Feresse, der wahrscheinlich an der Tür gehorcht hatte, mit verschmitzter Miene den Kopf herein. „Ich bitte um Entschuldigung, Herrn Deviolaine", sagte der Spitzbube, „es ist ein Komödiant draußen", und das Wort Komödiant betonte er besonders, „der Herrn Dumas sprechen will." „Ein Komödiant? Was für einer?" fragte Deviolaine. — „Herr Firmin vom Theatre Francais." — „Ganz recht", antwortete ich ruhig, „er spielt den Monaldeschi in meinem Stück." — „Was, Firmin spielt in deinem Stück?" — „Den Monaldeschi, wie ich eben sagte . . . Oh, die Besetzung ist ganz ausgezeichnet: Firmin als Monaldeschi, Fräulein Mars als Christine . . . " — „Das ist nicht wahr." — „Soll sie es Ihnen selbst sagen?" — „Am Ende glaubst du gar, ich werde mir noch Unannehmlichkeiten machen, um dich zu überzeugen, daß du lügst." — „Das ist nicht nötig, sie wird hierher kommen." — „Fräulein Mars soll hierher kommen? Zu dir . . .?" — „Zum Teufel! Ich bitte um Verzeihung, aber Sie sehen ja, daß Firmin ..." — „Mach nur, daß du fort kommst! Du machst mich noch verrückt . . . Fräulein Mars! . . . Fräul e i n Mars wird sich gerade dir zuliebe hierher bemühen! . . . Da hör nur einer an! . . . Fräulein Mars!" Und er hob die Arme zum Himmel wie ein Verzweifelter, der nicht begreifen kann, wie solcher Wahnsinn im Kopf eines Mitgliedes seiner Familie Platz finden konnte. Ich benutzte diese echt dramatische Gebärde, um mich aus dem Staube zu machen. Firmin erwartete mich wirklich. Er schlug mir vor, sofort mit ihm zu Picard zu gehen, der mein Manuskript lesen sollte. Picard besaß das volle Vertrauen des Theatre Francais, und sein Urteil war maßgebend. Ich aber hegte gegen Picard eine tiefe Abneigung, denn Picard hatte nach meiner Ansicht das Schauspiel ebenso sehr herabgesetzt wie Scribe es gehoben hatte. Es schien mir unmöglich, daß Picard auch nur, was I n h a l t und Form anlangt, meine „Christine" verstehen und beurteilen konnte. Ich wehrte mich also so gut ich konnte gegen den Schiedsr i cht e r , den man mir aufzwingen wollte. Aber Firmin behauptete, er kenne Picard besser als ich. Picard sei ein aufrichtiger Freund aller jungen strebsamen Talente. Picard sei der beste Ratgeber, den ich mir nur wünschen könnte, und so musste ich denn, um es mit Picard nicht zu verderben, am Ende doch nachgeben.
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Um halb fünf Uhr machten wir uns auf den Weg. Ich hatte unterdessen meine „Christine" noch einmal recht sauber abgeschrieben und das Manuskript mit einem nagelneuen Band verschnürt, das mir meine Mutter gegeben hatte. Der Eindruck, den Picards Äußeres auf mich machte, stimmte vollkommen mit der Ansicht überein, die ich mir über ihn gebildet hatte. Er war ein kleines, buckeliges Männchen mit winzigen, funkelnden Augen und spitzer Nase. Er empfing uns mit der ihm eigenen spöttischen Höflichkeit, die von vielen für geistreiche Gemütlichkeit gehalten wurde. Er äußerte uns übrigens ganz allgemein seine „bescheidene Ansicht" in dieser wichtigen Angelegenheit und bat uns schon im voraus um Verzeihung, wenn das Studium der kleinen klassischen Lustspiele sein Urteil über die „großen romantischen Maschinerien" etwas befangen gemacht habe. Das war eine Einleitung, die jedenfalls sehr wenig versprach. Nach acht Tagen kamen wir wieder. Picard erwartete uns. Er saß im selben Lehnstuhl, das nämliche Lächeln auf den Lippen. Er hieß uns Platz nehmen und erkundigte sich sehr höflich nach unserm Befinden, dann langte er mit seinen hageren Fingern nach dem Schreibtisch und zog mein
Manuskript
heraus,
das
er
wieder
zusammengerollt
und
ebenso
sorgfältig
zusammengebunden hatte. Dann begann er mit liebenswürdigem Lächeln: „Lieber Herr, haben Sie eine feste Stellung?" „Ich bin beim Herzog von Orleans mit einem Jahresgehalt von acht zehnhundert Franken angestellt." — „Nun, mein lieber Junge, dann rate ich Ihnen: gehen Sie wieder in Ihr Büro und bleiben Sie dort." Nach einer solchen Äußerung konnte die Unterredung nicht lange dauern. Wir standen auf, grüßten und gingen. Das heißt, ich ging. Firmin blieb noch einen Augenblick bei Picard, wahrscheinlich wollte er eine ausführliche Kritik hören. Durch die halbgeöffnete Tür sah ich Picard mit solcher Heftigkeit die Achseln zucken, daß ihm beinahe der Kopf vom Rumpf hüpfte. Der moderne Moliere war so noch viel hässlicher als sonst. Über seine ganze Gestalt ergoss sich der Ausdruck tückischer Bosheit. Am andern Tag ging ich zu Taylor. Ich gab ihm das Manuskript mit Picards Anmerkungen, die aus Kreuzen, Fragezeichen, Ausrufezeichen und sogenannten Eselsohren bestanden, eine Bezeichnung, die in diesem Fall vielleicht nicht ohne tieferen Grund war. Unter dem letzten Vers stand noch die Bemerkung: „Unmöglich." Was sollte unmöglich sein? Das ganze Stück? Der Schluss oder der letzte Vers? Picard war zartfühlend genug, mich darüber in Ungewissheit zu lassen. Ich erzählte Taylor den Vorfall und zeigte ihm Picards Noten. „Gut", sagte er, „lassen Sie das Stück da und kommen Sie morgen früh wieder." Ich ließ ihm das Stück und ging. Ich war, freilich leider durch eigene Erfahrung, zu der Überzeugung gelangt, daß beim dramatischen Schriftsteller im schroffen Gegensatz zu den Naturgesetzen gerade das Gebären die größte Wonne ist, und daß unmittelbar nach der Geburt die Wehen ihren Anfang nehmen.
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Am andern Morgen war ich schon um acht Uhr bei Taylor. Er zeigte mir das Manuskript, auf das Nodier eigenhändig folgende Worte geschrieben hatte: „Ich erkläre nach bestem Wissen und Gewissen, daß ,Christine' eines der bedeutendste» Werke ist, die ich seit zwanzig Jahren gelesen habe" „Sie werden wohl einsehen", bemerkte Taylor, „daß ich eines solchen Rückhaltes bedurfte, um fest und .sicher auftreten zu können. Sie werden das Stück dem Komitee nochmals vorlesen, halten Sie sich bereit." Drei Tage später erhielt ich eine Einladung auf Sonntag. Die Versammlung war noch zahlreicher, und das Stück wurde womöglich mit noch lebhafterem Beifall aufgenommen als das erstemal. Es wurde einstimmig angenommen, nur mit Vorbehalt einiger Änderungen, worüber ich mich mit Samson ins Einvernehmen setzen sollte. Zum Glück kam aber zwischen Samson und mir keine Verbindung •zustande. Ich sage zum Glück, denn die Meinungsverschiedenheit hatte eine völlige Umarbeitung des Werkes zur Folge, das dadurch den Prolog, die beiden Akte in Stockholm, den Epilog in Rom und die ganze Rolle der Paula gewann. Zwei Bücherfreunde Zur Zeit der ersten Gastspiele der englischen Schauspieler, also damals, wo ich noch meine Abende zum größten Teil im Büro zubringen musste, machte ich die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der Cordelier-Delanoue hieß. Wir gaben damals die „Psyche" heraus; Cordelier-Delanoue schickte uns ein Gedicht „Hamlet", das wir in unser Blatt aufnahmen. Er kam, um uns dafür zu danken, und bald war er mir und Adolf ein lieber, guter Freund geworden. Mir ganz besonders, denn Delanoue war der Sohn eines Revolutionsgenerals, der meinen Vater gekannt hatte. Dieser Umstand brachte uns einander um vieles näher; die Übereinstimmung unserer Ansichten in Literatur und Politik tat dann das übrige. Eines Abends besuchte mich Delanoue in meinem Büro und machte mir den Vorschlag, mich ins Athenäum zu führen. Herr Villenave hielt dort gerade einen literarischen Abend. Ich wusste ebenso wenig wer Herr Villenave war, als ich das Athenäum kannte. Aber ich ging auf Delanoues Vorschlag ein. Ich hatte ja die Aussicht, von Literatur sprechen zu hören und Literaten zu sehen, und das war mir genug. Für diese Aussicht wäre ich getrost über die Schneide des Rasiermessers gegangen, das die Brücke zum Paradies Mohammeds bildet. Ich würde diesen gefährlichen Weg auch heute noch gehen, so sehr ich auch an Schwindel leide, aber jetzt nur, um dem zu entfliehen, was ich damals o sehnsüchtig aufsuchte. Es wurde im Athenäum über allerlei Dinge gesprochen, die einen im Salon zur Verzweiflung gebracht hätten und die im Athenäum, gelinde gesagt, höchst langweilig waren. Die Redner hatten
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Anspruch auf eine bestimmte Anzahl Eintrittskarten, die sie unter ihre Verwandten, Freunde und Bekannten verteilten. Sie hätten ja diese langweiligen Diskurse auch allein halten können, aber sie zogen es, aus mir unerfindlichen Gründen, vor, dabei ein zahlreiches Auditorium um sich zu versammeln. Auch an jenem Abend war der Saal gedrängt voll. Herr Villenave hatte einen sehr ausgedehnten Bekanntenkreis, auch genossen diese Versammlungen einen gewissen Ruf, ohne dass jemand wusste warum. Worüber an jenem Abend gesprochen wurde? Wenn ich augenblicklich gehenkt werden sollte und mir das Leben durch die Beantwortung dieser Frage erkaufen könnte, bei Gott, ich müsste mich henken lassen. Wahrscheinlich war es eine Studie über die Werke einer verstorbenen Mittelmäßigkeit, die zu einigen Seitenhieben auf die Lebenden benutzt wurde. Herr Villenave stand vor dem Pult, zu beiden Seiten ein großer Armleuchter, vor ihm ein Glas Wasser. Er war ein schöner Greis von 66 Jahren. Prächtige weiße Locken hingen an beiden Schläfen herab, aus den schwarzen Augen sprühte südliches Feuer und trotzdem sein herrlich gebauter Körper durch das anhaltende Sitzen am Schreibtisch etwas vorgebeugt war, machten doch Gestalt und Bewegung einen ungemein edlen und anmutigen Eindruck. Als ich mich ins Büro zurückbegeben wollte, eilte mir Delanoue nach und überbrachte mir im Namen der Familie Villenave die Einladung, sie nach der Sitzung zum Tee nach Hause zu begleiten. Ich verdankte diese Ehre nur all dem Schönen und Guten, das mein Freund Delanoue über mich gesagt hatte. Ich eilte in mein Büro, erledigte die Post und rannte dann ins Athenäum zurück. Unterdessen war die Sitzung zu Ende, und ich fand Herrn Villenave in einem kleinen Salon, wo er die Komplimente seiner Angehörigen und Freunde entgegennahm. Delanoue stellte mich Villenave und seiner Familie vor. Diese bestand aus Madame Villenave, einer kleinen, anmutigen, geistreichen, sehr gebildeten, aber innerhalb ihrer vier Wände audi redit pedantischen alten Frau und aus Theodor Villenave, einem großen, stattlichen jungen Mann, der schon einige kleinere Gedichte geschrieben und den Wallenstein übersetzt hatte. Ferner gehörten dazu Madame Melanie Waldor*), die Gattin eines Infanteriehauptmanns, der selten und nur für kurze Zeit nach Paris kam und den alle, die ihn kannten, als einen tapferen Soldaten rühmten. Endlich Elise Waldor, die damals noch ein allerliebster, kleiner blondgelockter Engelskopf war und die seitdem eine schöne große Frau geworden ist. Die ganze Familie trat nach patriarchalischer Weise den Heimweg zu Fuß an, nur von fünf oder sechs Freunden begleitet, die gleich mir *) Zwischen Dumas und ihr entspann sich bald ein leidenschaftliches Liebesverhältnis, das Dumas den Stoff zu seinem Gesellschaftsschauspiel „Antony" lieferte, das eine Mischung von Romantik und Weltschmerz ist. Der Titelheld trägt unver kennbar die Züge des Verfassers, während Melanie Waldor das Urbild der Adele ist, deren Name an seine Jugendgeliebte Adele Dalvin erinnert.
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in der Rue de Vaugirard eine Tasse Tee trinken und ein paar Stückchen Kuchen essen wollten. Ich, als Fremder, durfte Madame Waldor den Arm reichen. Da sich der Weg bedeutend in die Länge zog, so war das eine sehr bequeme Gelegenheit, eine Bekanntschaft anzuknüpfen. Es ist doch etwas Sonderbares um solch unverhofftes Zusammentreffen! Wie hätte ich mich gewundert, wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich mich dieser Familie, die ich noch vor zwei Stunden überhaupt nicht kannte, Jahre hindurch so innig anschließen würde, als hätte ich ihr seit undenklichen Zeiten angehört. Villenave ganzes Wesen hatte etwas Tyrannisches, das sich nicht nur auf seine Familie, sondern auch auf seine Freunde auswirkte. So wie jene italienischen Fürsten verlangten, daß man ihren Prinzipien huldigte, sobald man die Grenze ihres armseligen Gebietes überschritten hatte, so gestattete auch Villenave niemandem, der einmal die Schwelle seines Salons überschritten hatte, eine andere Meinung zu haben als er. Man wurde sozusagen ein Stück Eigentum dieses Mannes, - der alles gesehen und alles studiert hatte und der alles wusste. Dieser Despotismus lastete, wenn auch durch die Höflichkeit des Hausherrn einigermaßen gemildert, doch immerhin drückend auf der Gesellschaft. War Herr Villenave zugegen, so war die Konversation sehr anständig, vernünftig und gemessen — aber unterhaltender, freier und auch geistreicher war sie jedenfalls, wenn er nicht dabei war. Zum Glück erschien Villenave nur äußerst selten in seinem Salon. Er hielt sich meist im zweiten Stock seines Hauses auf und kam nur bei den Mahlzeiten mit seiner Familie zusammen. Da plauderte er einen Augenblick, hielt seinem Sohn eine Moralpauke, zankte seine Frau aus, dann streckte er sich in einen Lehnstuhl, und wenn ihm seine Tochter die Locken zurechtgekämmt hatte, vergrub er sich wieder für den übrigen Tag in seine Papiere. Herr Villenave, der damals noch ein schöner Greis war, musste einst ein herrlicher junger Mann gewesen sein. Trotz aller Gelehrsamkeit besaß er sogar noch im Alter viel Koketterie, ein Vorzug und ein Fehler, die man oft vereint findet. Aber der Gegenstand dieser Koketterie war einzig und allein sein Kopf. Von seiner stets weißen Krawatte abwärts, war ihm alles gleichgültig. Der Rock mochte blau oder schwarz, die Hose eng oder weit, die Stiefel rund oder spitz sein, das alles ging nicht ihn, sondern seinen Schneider und Schuster, oder vielmehr seine Tochter an, die für diese Dinge zu sorgen hatte. Villenaves Wohnung im zweiten Stock bestand aus fünf Zimmern voll Bücher und Mappen, weiter nichts. Diese fünf Zimmer mochten, was alles in Schränken stand und am Boden oder auf Tischen umherlag, bei 40 000 Bände und 4000 Mappen enthalten. Schon das Vorzimmer allein bildete eine unermessliche Bibliothek. Auch Schlaf- und Arbeitszimmer des Herrn Villenave waren weiter nichts als zwei Bibliotheken. Die vier Wände waren förmlich mit Büchern tapeziert, deren Unterlage eine Unmenge Mappen bildete. Das war eine sehr sinnreiche Erfindung, aber noch lange nicht die sinnreichste in diesem Zimmer.
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Diese bestand aus einem viereckigen Pfeiler aus Büchern, der die Mitte des Zimmers einnahm und ringsum einen viereckigen, rechts und links von Büchern begrenzten Raum frei ließ, der so schmal war, daß nur eine einzige Person sich ungehindert darin bewegen konnte. Eine zweite Person hätte bereits den Durchgang verhindert, und so war es auch nur den allervertrautesten Freunden des Herrn Villenave vergönnt, dieses Allerheiligste betreten zu dürfen. Die Mappen enthielten Handschriften; die von Ludwig XV. allein füllten ihrer fünf. Dort war die Arbeit von fünfzig in stetem Fleiß durchlebten Jahren aufgehäuft, von denen jeder Tag dem Streben nach Verwirklichung einer einzigen großen Idee geweiht, jede Stunde einer einzigen edlen und doch heftigen Leidenschaft gewidmet war, der Leidenschaft des unermüdlichen Urkundensammlers, der darin die Freude und das Glück seines Lebens sieht. Hier begegnete man einem Teil der Papiere Ludwigs XVI., die sich in dem eisernen Schrank befanden, dem Briefwechsel Malesherbes, 200 Autographen von Rousseau, 400 von Voltaire, dann Autogrammen aller Könige von Frankreich, von Karl dem Großen bis auf unsere Zeit, Skizzen von Raffael, Leonardo da Vinci, Andrea del Sarte, Lebrun, Greuze, Watteau, Boucher, David u. a. Villenave hätte diese beiden Zimmer nicht für hunderttausend Taler hergegeben. Wer aber das Schlafzimmer, in dem das Bett der unscheinbarste Gegenstand war, nicht gesehen hat, kann sich keinen Begriff machen, wie das Schlafzimmer eines Bücherwurms aussieht. In diesem Zimmer empfing Villenave seine Freunde. Nachdem ich bereits vier oder fünf Monate lang fast täglich sein Haus besucht hatte, wurde mir erst die Ehre zuteil, in dieses Gemach eingeführt zu werden. Ich hatte Villenave eine Handschrift versprochen; nicht eine von Napoleon, denn er besaß deren fünf oder sechs, nicht von Bonaparte, denn er besaß deren drei oder vier, sondern eine von Buonaparte. Als mich seine alte Dienerin Franziska meldete, rief er in höchster Ungeduld: „Herein mit ihm, herein mit ihm." Ich trat ein. „Ah, Sie sind es?" rief er mir entgegen. „Ich möchte wetten, daß Sie das Autogramm nicht gefunden haben." „Doch, ich habe es gefunden." Ich reichte ihm das Blatt hin. Villenave eilte ans Fenster. Währenddessen hatte ich mich im ganzen Zimmer umgesehen und festgestellt, daß der Lehnstuhl, den Villenave soeben verlassen hatte, das einzige Möbel war, das nicht mit Büchern beladen war. Nachdem Villenave das Autogramm lange genug untersucht hatte, steckte er es in einen weißen Umschlag, schob ihn in die Mappe, die er wieder an ihren Platz legte, und ließ sich dann mit selig lächelnder Miene in seinen Sessel nieder. „Nun, so setzen Sie sich doch", sagte er zu mir. — „Das täte ich, aber wohin, wenn ich bitten darf?" — „Ei, aufs Sofa." — „Hm, aufs Sofa? Wollen Sie es nur bitte näher ansehen." — „Richtig, es ist mit Büchern belegt. Nun, so nehmen Sie sich einen Stuhl." — „Gern, aber die Stühle sind
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ebenso beladen wie das Sofa." — „Ach ja! Du lieber Gott, ich habe so viele Bücher, so viele Bücher . . . Haben Sie den großen Sprung an der Mauer meines Hauses gesehen?" — „Nein." — „Hm, er ist doch groß genug, um aufzufallen. Nun, lieber Freund, daran sind die Bücher schuld. Die Bücher ruinieren mir das ganze Haus. Denken Sie nur, ich hatte zwölfhundert Foliobände, zwölfhundert prächtige, seltene Foliobände. Ich glaube, es sind selbst ein paar ganz unbekannte darunter gewesen, so selten waren diese Werke. Ich ließ sie auf den Boden stellen, ich wollte noch mehr hinauftragen lassen, denn es wäre noch für weitere zwölfhundert Platz gewesen. Da plötzlich erbebt das Haus, kracht und bekommt einen Riss." „Das muss ja geradezu wie ein Erdbeben gewesen sein." „Das war es auch . . . Als ich mich jedoch überzeugte, daß es nur von lokaler Natur war, ließ ich den Baumeister kommen. Er untersuchte das Haus vom Keller bis zum zweiten Stock und erklärte, der Unfall könne nur von einer Überlastung der Pfeiler herrühren. Er verlangte nun auch den Dachboden zu besichtigen. Ach, das war's eben, was ich befürchtete! . . . Hätte es sich um mich allein gehandelt, ich hätte ihm um keinen Preis der Welt den Schlüssel gegeben, aber ich musste mich für das allgemeine Wohl opfern . . . Er besichtigte den Dachboden, fand dort die zwölfhundert Foliobände, erkannte auf den ersten Blick, daß sie wenigstens achttausend Pfund wiegen und erklärte mit aller Bestimmtheit, die Bücher müssten verschwinden, oder er könne für nichts einstehen . . . So wurden denn die Bücher verkauft, mein verehrter Freund . . . " „Mit Verlust?" „Das nicht . . . leider verdienten wir dabei fünftausend bis sechstausend Franken, denn solche Bücher steigen im Wert, wenn sie durch d i e Hand eines Kenners gegangen sind . . . Aber was hilft das alles, die armen Foliobände waren für mich verloren, verjagt von dem friedlichen Dachboden, der ihnen eine sichere Zufluchtsstätte bot . . . ach, nie, nie werde ich mehr eine solche Sammlung finden! . . . Aber nehmen Sie doch einen Stuhl." Er schien schon wieder vergessen zu haben, daß auch nicht ein einziger im ganzen Zimmer frei war. Früher glaubte ich noch die Frage beantworten zu müssen, wie es Herrn Villenave möglich wurde, solch unermessliche Schätze zu sammeln, ohne im Besitz eines großen Vermögens zu sein. „Durch Geduld und die Länge der Zeit", wie Lafontaine sagt. Diese Samml u n g war die Frucht seines ganzen Lebens. Wie Ghiberti als junger Mann die Türen des Domes von Florenz begann und erst als Greis im Werk vollenden konnte, so hatte auch Villenave dem Zusammentragen seiner Schätze 50 Jahre geopfert. Nie in seinem Leben hat Villenave ein Blatt Papier verbrannt oder einen Brief zerrissen. Auch ich schrieb ihm zwei- oder dreimal, um m i r über verschiedene Gegenstände Aufschluss zu erbitten, und selbst meine Briefe erhielten ihre Umschläge, ihre Nummer und Aufschrift. Wie kam ich zu dieser Ehre? Wer weiß, konnte ich nicht auch noch einmal ein großer Mann werden? Wenn er
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nun selbst meine Briefe aufbewahrte, so kann man sich wohl denken, welche Sorgfalt er auf wertvollere Beiträge verwendete. Einladungen zu gelehrten Versammlungen, zu Hochzeiten und Beerdigungen, alles wurde aufgehoben, klassifiziert und nach einer bestimmten Ordnung aufbewahrt. Ich kenne kein Fach, für das Villenave nicht eine eigene Sammlung angelegt hatte. Ich fand bei ihm sogar eine Sammlung halbverbrannter Bücher, die am 14. Juli aus den Flammen der Bastille gerettet wurden. Villenave hatte zwei Adjutanten oder vielmehr Spione; der eine hieß Fontaine und hatte selber
ein
„Handbuch
der
Autographen"
geschrieben,
der
andere
war
Beamter
im
Kriegsministerium. Zweimal wöchentlich wurde große Jagd abgehalten: sie durchstöberten die Läden aller Trödler, die an diese Besuche gewöhnt waren und alle Papiere beiseite legten, die sie für halbwegs wertvoll oder selten hielten. Unter diesen suchten die Spürhunde die brauchbaren heraus, zahlten dem Trödler 15 Sous für das Pfund und verkauften es Villenave wieder für 30 Sous. Außerdem gab es an gewissen Tagen „Königsjagden", d. h. Villenave ging in höchsteigener Person auf Beute aus. Alle Trödler von Paris kannten ihn und schleppten ganze Stöße Papier herbei, in denen er dann tagelang mit Wonne herumwühlte. Man musste Villenave an diesen Tagen sehen, wo er ausging, um an der Hauptaufgabe seines Lebens zu arbeiten. An solchen Tagen war er weder kokett noch frisiert, an solchen Tagen vermisste man auch die weiße Krawatte und den blauen Rock mit den goldenen Knöpfen, an solchen Tagen musste jeder Schein von Reichtum vermieden werden, um nicht von den Trödlern übervorteilt zu werden. An solchen Tagen setzte er einen alten, verbeulten Hut auf, band eine hohe, schwarze Krawatte um und zog einen Rock ohne Gold und Stickereien an. Dann bummelte der unermüdliche Büchersammler an den Kais entlang. Die Hände steckte er behäbig in die Hosentaschen, der Oberkörper war etwas nach vorn geneigt, das schöne, kluge Antlitz von Sehnsucht und Erwartung verklärt. So sandte er den forschenden Blick nach rechts und links, um den unbekannten Schatz zu finden, der ihm in Gestalt einer Gutenberg-Bibel oder einer Elzevirausgabe unaufhörlich vor der Seele schwebte. Oft kam der emsige Jäger auch leer heim. Dann ging er mit mürrischer Miene ins Zimmer, redete bei Tisch kein Wort, schalt nach dem Essen seine Tochter, weil sie ihm beim Lockendrehen die Haare auszupfe, nahm dann seinen Wachsstock und ging, ohne jemand Gute Nacht zu sagen, in sein Zimmer hinauf. War aber die Ausbeute reich gewesen, brachte Villenave ein kostbares Buch, eine seltene Ausgabe mit nach Hause, dann trat er mit lächelnder Miene ins Zimmer, nahm die kleine Elise auf den Arm, scherzte mit seinem Sohn, umarmte seine Tochter, machte seiner Frau Komplimente über ihre vorzügliche Küche und dankte endlich nach Tisch seiner Friseuse durch ein Grunzen, das dem eines befriedigten Katers sehr ähnlich war.
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Herr Villenave hatte dann nur noch eine Sorge: wo sollte er seine Neuerwerbung unterbringen? Die Bücher standen bereits so gedrängt in ihren Fächern, daß dazwischen nicht mal die Klinge eines Papiermessers Platz gehabt hätte. Er ging nun von Fach zu Fach, drängte und zwängte die Bücher vergebens aneinander, dann erhob er die Hände voll Verzweiflung und jammerte, daß er für seine Bücher nicht e i n Fleckchen Platz im Haus habe, und entschloss sich endlich, das neuerworbene Exemplar auf ein Sofa, einen Tisch oder Stuhl zu legen, indem er dabei seufzend ausrief: „Vielleicht wird sich doch noch ein Plätzchen finden!" Das Plätzchen fand sich aber nicht, und das Buch blieb auf dem Tisch, auf dem Sofa oder auf dem Stuhl liegen, — ein neues Hindernis für den Besucher, der sich gern gesetzt hätte. Ich muss in diesem Zusammenhang auf Nodier zurückkommen, mit dem Villenave außer vielen anderen Eigenschaften auch die gemeinsam hatte, dass er ein ebenso großer Bibliophile war. Nachdem mir Charles Nodier*) beim Theatre Francais einen so großen Dienst erwiesen hatte, suchte ich ihn auf, um ihm meinen Dank abzustatten. Er nahm mich freundlich auf und öffnete mir bereitwillig d i e Pforten des Arsenals. Charles Nodier bewohnte das bekannte düstere Gebäude am Cölestiner-Kai, das sich an die Rue Morland anlehnt und „Arsenal" heißt. Seine Wohnung, die nicht besonders komfortabel war, lag abseits von der Treppe und bestand aus einem Speisezimmer mit Fliesenbelag, einer Kammer und drei Zimmern, von denen das eine als Schlafzimmer der Madame Nodier, das andere als Salon und das dritte als Arbeitszimmer, Bibliothek und Schlafzimmer für Nodier selbst diente. In Nodier fand man zwei verschiedene Menschen vereinigt: Den Werktagsmenschen, das war der rastlose Arbeiter und gelehrte Bücherfre u n d ; dann den Sonn- und Feiertagsmenschen, das war der galante Weltmann, der zuvorkommende Hausherr. Nodier war ein wirklich verehrungswürdiger Mann. Ich habe noch niemand gefunden, der eine so gründliche Gelehrsamkeit mit einer so aufrichtigen Leutseligkeit zu verbinden wusste. Dabei hatte er kein einziges Laster, wohl aber eine Menge kleiner Fehler, an denen geniale Naturen nie arm sind. Nodier war freigebig, sorglos und leichtsinnig, aber er verstand mit Geschmack leichtsinnig zu sein. Dazu warf man ihm vor, er liebe Welt, ohne zwischen Würdigen und Unwürdigen einen Unterschied zu machen. Aber auch das war die Folge seiner angeborenen Sorglosigkeit; er wollte sich nicht erst die Mühe nehmen, die Menschen zu prüfen und zu beurteilen und danach seine Gefühle zu verteilen. Nodier war ferner durch und durch Gelehrter. Er wusste alles und noch mehr. Dazu besaß er den Vorzug aller genialen Köpfe: wenn sein Wissen nicht mehr ausreichte, dichtete er, und was er erdichtete, klang
*) Charles Nodier (1780—1844), hervorragender Romanschriftsteller, Lexikograph und Bücherkenner. Dumas hat Nodiers Häuslichkeit auch in der Vorrede zu dem Roman „ Die Frau mit dem Samthalsband" beschrieben. Diese Geschichte soll Nodier Ihm kurz vor seinem Tod erzählt haben.
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in der Regel viel wahrscheinlicher, viel poetischer und viel geistreicher als das, was er wusste und was Gemeingut aller geworden war. Nodier war ein Mensch im Sinn des Terenz, dem „nichts Menschliches fremd ist". Er liebte, wie das Feuer wärmt, wie die Fackel leuchtet, wie die Sonne scheint, er liebte, weil Liebe und Freundschaft die Früchte seines Herzens waren, wie die Traube die Frucht des Weinstocks ist. Ich sage Liebe und Freundschaft, weil Nodier in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen Mann und Weib kannte. So wie er für alle Männer Freundschaft fühlte, so fühlte er auch, solange er jung war, für alle Frauen Liebe. Wie viele hat er geliebt? Das hätte er wohl selber kaum sagen können. Dazu verwechselte er, wie alle empfindsamen Gemüter, stets seine Träume mit seinen Idealen und seine Ideale mit der Materie. Für ihn waren alle Gebilde seiner Phantasie wirklich vorhanden: „Therese Aubert", die „Krümmelfee", „Ines de la Sierras"; er lebte und webte inmitten dieser Schöpfungen seines Genies, und nie hat ein Sultan einen prächtigeren Harem gehabt als er. Wer einmal die sanfte, herzliche Freundschaft dieser Familie genoss, der konnte zum Essen kommen, so oft es ihm beliebte. Wenn man die bereits hergerichteten Gedecke noch um eins, um zwei, um drei vermehren musste, so geschah es; wenn der Tisch nicht ausreichte, so wurde er angestückt. Aber wehe dem, der als Dreizehnter kam! Der musste unwiderruflich an einem Seitentischchen essen, wenn nicht ein vierzehnter, ebenso unerwarteter Gast kam, der ihn aus der Klemme zog. Bald gehörte auch ich zu den vertrauten Freunden des Hauses, und es wurde ein Platz zwischen Madame Nodier und Marie Nodier für mich bereitgehalten. Wenn ich erschien, empfingen mich Freudenrufe, und alle, selbst Nodier, streckten mir ihre Arme entgegen, um mir die Hand zu drücken oder um mich zu umarmen. Nach einem Jahr besaß ich de jure, was ich früher nur de facto besessen hatte. Mein Platz blieb unbesetzt, bis die Suppe abgetragen war; erst dann wagte man, ihn an einen anderen Gast zu vergeben. Aber mochte er auch vergeben sein, mochte ihn mein Nachfolger zehn Minuten oder eine halbe Stunde lang innegehabt haben, und selbst wenn ich auch erst zum Dessert kam, so stand der Gast auf und ich trat wieder in meine alten Rechte ein. Nach dem Essen wurde am selben Tisch der Kaffee aufgetragen. Nodier war viel zu sehr Sybarit, als daß er aufgestanden und seinen Mokka stehend oder in einer unbequemen Lage, vielleicht gar in einem schlecht geheizten Zimmer, getrunken hätte. Da blieb er lieber in dem mäßig warmen Speisezimmer auf seinem bequemen Stuhl, wo er nur die Hand auszustrecken brauchte, um seine Tasse zu erreichen. Während dieses letzten Aktes der Mahlzeit standen Madame Nodier und Marie auf, um den Salon zu beleuchten. Da ich weder Kaffee noch überhaupt ein geistiges Getränk nehme, begleitete ich sie und half ihnen, wobei mir mein hoher Wuchs recht gut zustatten kam, da ich die Lüster bequem anzünden konnte, ohne auf einen Stuhl steigen zu müssen. Wenn im Salon die Lichter brannten, fiel ihr Strahl auf die weiß bemalte Wandvertäfelung aus der Zeit Ludwigs XV.,
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sonst aber auf eine höchst einfache Einrichtung, die aus zwölf mit rotem Kaschmir überzogenen Stühlen und Sesseln samt dem dazugehörigen Sofa, dann aus Vorhängen von derselben Farbe, aus einer Büste Victor Hugos, einer Statue Heinrichs IV. als Kind, aus einem Porträt des Hausherrn und einer von Regnier gemalten Alpenlandschaft bestand. Links in einer Art Erker stand Maries Klavier. Da war für die Freunde des Hauses gerade Platz genug, um neben Marie stehen und mit ihr plaudern zu können, während sie mit ihren gewandten und sicheren Fingern Walzer und Kontertänze spielte. Aber die Walzer und Kontertänze begannen erst zu einer bestimmten Zeit. Zwei Stunden — von acht bis zehn Uhr — waren unabänderlich dem Plaudern gewidmet. Von zehn bis ein Uhr morgens wurde getanzt. Bald stellten sich dann die gewöhnlichen Besucher ein: Fontanay und Alfred Johannot, zwei Gestalten, die sich stets in den schwarzen Schleier des Trübsinns hüllten und an unseren Scherzen keinen Anteil nahmen, als würde sie die unbestimmte Vorahnung eines Todes beschleichen; Tony Johannot, der nie kam, ohne irgendein Bildchen oder eine Skizze mitzubringen, womit Marie ihr Album bereicherte; Barye, der sich von all dem Lärmen und Toben fernhielt, so daß es immer schien, als sei sein Geist auf Entdeckungsreisen ausgegangen und nur sein Körper bei uns zurückgeblieben, Boulanger, ein Muster an Launenhaftigkeit, heute lustig, morgen traurig, doch immer ein großer Künstler und Dichter und ein trefflicher Freund; Francisque Michel, ein wahrer Aktenwurm, der über seinen archäologischen und historischen Forschungen oft ganz vergaß, daß er einen Filz aus Ludwigs XIII. Zeiten und gelbe Schuhe trug; de Vigny und Musset, der letztere noch ein halbes Kind, das von seinen spanischen und italienischen Märchen träumte, endlich Hugo und Lamartine, die beiden Könige der Lyrik, die friedlichen Eteokles und Polyneikes der Kunst, von denen der eine das Zepter, der andere die Krone im Reich der Oden und Elegien trug. Wenn Nodier sich nach Tisch in seinen Lehnstuhl neben dem Kamin niederließ, so bedeutete das, er wolle als egoistischer Genießer ganz nach Lust irgendeinem Traum seiner Phantasie nachhängen und die seligen Augenblicke auskosten, die auf den Genuss des Kaffees folgen. Wenn er sich aber schwerfällig erhob und mit dem Rücken an das Gesims des Kamins lehnte, die Beine der wohltuenden Wärme des Feuers aussetzend, so war das ein Zeichen, daß er erzählen wolle. Dann lächelte jeder schon im voraus über das Kommende; kein Laut ließ sich vernehmen, und nun entschlüpfte Nodiers feingeschnittenen Li p p e n eine jener allerliebsten Anekdoten aus dem Jugendleben, die u n w i l l k ü r l i c h an die Romane eines Longus oder an die Idyllen eines The o k r i t erinnerten. In solchen Augenblicken schien Nodier Walter Scott und Perrault zugleich zu sein, der Gelehrte ging mit dem Poeten Hand in Hand, die Erinnerung kämpfte mit der Phantasie. Aber es war nicht nur höchst anziehend, Nodier zu hören, es war auch interessant ihn zu sehen. Die hohe, hagere Gestalt, die langen, mageren Arme, die ausgestreckten weißen Hände, das längliche,
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bleiche Gesicht mit dem Ausdruck einer melancholischen Heiterkeit, alles stand miteinander in völliger Harmonie und gesellte sich zu dem etwas schleppenden Ton und dem Akzent, der an die Franche-Comte erinnerte. Nodier mochte eine Liebesgeschichte erzählen oder eine Schlacht in den Gefilden der Vendee schildern, oder ein Drama, das vorm Revolutionstribunal spielte, vor unserem Geist entrollen oder von der Verschwörung Cadoudals oder Oudets sprechen: immer hörte man ihm lautlos zu, so sehr verstand es der Erzähler, die anziehendste Seite herauszustellen. Die Gäste, die während der Erzählung eintraten, gaben keinen Laut von sich, sie grüßten mit der Hand und setzten sich dann auf einen Stuhl oder lehnten sich an die Wand. Stets endete die Erzählung zu früh; es schien jedem, als könnte Nodier fort und fort aus dem Beutel Fortunats, den man Phantasie nennt, spenden, ohne ihn zu erschöpfen. Man applaudierte nicht. Applaudiert man etwa dem Murmeln des Baches, dem Gesang der Vögel, dem Duft der Blumen? Aber wenn das Murmeln verstummt, der Gesang schweigt und der Duft verflogen ist, dann wünscht man mit Sehnsucht ihn immer wieder genießen zu können. Nodier aber schleppte sich langsam vom Kamin fort, sank wieder in seinen Lehnstuhl und sagte dann lächelnd zu Hugo oder Lamartine: „Nun genug Prosa; jetzt Verse." Und nun ließ einer der Dichter, ohne langes Bitten und Zieren, den harmonischen Fluss der Poesie von seinen geweihten Lippen rauschen. Dann wandten sich alle dem begeisterten Sänger zu, alle Geister folgten dem Flug dieses einzigen Geistes, der auf Adlerfittichen sich rasch in die Wolkenregion verlor und sein lichtgewohntes Auge bald an dem grellen Leuchten der Blitze, bald an den milden Strahlen der Sonne weidete. Und wenn er zu Ende war, applaudierten alle, und wenn der Beifall verrauscht war, eilte Marie an ihr Klavier, und liebliche Klänge wiegten sich wie junge Falter bei Frühlingsanfang, erst zaghaft und schüchtern, dann immer lauter und kühner in der vom Blumenduft geschwängerten Luft. Das war das Zeichen zum Tanz; Stühle und Sessel wurden beiseite geschoben, die Kartenspieler in d i e Ecken verdrängt, und wer statt des Tanzes vorzog, mit Marie zu plaudern, schlüpfte in den Erker. Der Ball begann, und Nodier, der im Spiel gewöhnlich Unglück hatte, mischte die Karten. Von diesem Augenblick an sah und hörte man ihn nicht mehr; er zog sich sozusagen in den Hintergrund zurück. Das war die herzliche Gastfreundschaft der guten alten Zeit, wo sich der Hausherr verleugnete, damit sich der Gast desto heimischer fühle. Nachdem Nodier eine Zeitlang scheinbar verschwunden war, verschwand er schließlich wirklich; er ging früh zu Bett oder er wurde vielmehr früh zu Bett gebracht. Madame Nodiers Geschäft war es, das große Kind einzuschläfern; sie ging daher erst hinaus und machte ihrem Mann das Bett zurecht. Im Winter, wenn es kalt war und in der Küche gerade kein Feuer brannte, sah man zwischen den Tänzern eine Wärmpfanne durchschlüpfen, sich dem Kamin nähern, ihren weiten Rachen aufsperren, eine tüchtige Portion Glut verschlingen und dann in der Richtung
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nach Nodiers Schlafzimmer wieder verschwinden. Hinter der Wärmpfanne trippelte Nodier her und jedermann wusste, was das zu bedeuten habe. So war Nodier. So lebte dieser ausgezeichnete Mann. Eines Tages fanden wir ihn gedrückt, verlegen und beschämt. Der Verfasser des „Königs von Böhmen und seiner sieben Schlösser" war zum Mitglied der Akademie ernannt worden. Er entschuldigte sich bei Hugo und mir, als ob er Gott weiß was für eine Schuld auf sich geladen hätte. Wir verziehen ihm. Später wurde auch Hugo, nachdem man ihn fünfmal zurückgewiesen hatte, zum Mitglied der Akademie ernannt. Er entschuldigte sich nicht, und er tat recht daran. Ihm hätte ich das nicht verziehen. Wie „Heinrich III." entstand Unterdessen war es Juli 1828 geworden. Das Odeontheater hatte, wie Soulie vorausgesagt hatte, seinen „Romeo" angenommen, die Rollen verteilt und bereitete gerade die Aufführung vor. Seit dem Abend, als wir uns vornahmen, jeder solle seine „Christine" schreiben, hatten wir uns nicht wiedergesehen. Dennoch vergaß er mich nicht und schickte mir für die Premiere seines „Romeo" zwei Galeriesitze. Da meine Mutter mich oft von Soulie reden hörte, denn sie wusste, dass ich mit ihm befreundet war, gab ich ihr gleichsam einen Vorgeschmack von der ersten Aufführung meines Werkes, indem ich sie in die Premiere Soulies führte. Die Uraufführung eines Werkes war damals immer ein Ereignis, zumal wenn der Autor einer neuen Schule angehörte. Übrigens wusste man recht gut, daß Soulies „Romeo" nichts entscheiden würde. Vor dem Gastspiel der Engländer hätte er Aufsehen erregt; danach konnten weder seine Fehler noch seine Vorzüge besonders auffallend hervortreten. Es war kein lärmendes Fiasko zu befürchten, aber auch kein besonderer Erfolg zu erhoffen. Das Stück errang, wie ihm dies auch gebührte, einen literarischen Erfolg, der das Publikum im fünften Akt sogar etwas wärmer werden ließ, ein Verdienst, das freilich mehr auf Shakespeares als auf Soulies Rechnung zu stehen kam. Ich selbst war bei der Uraufführung meiner eigenen Stücke noch nie so aufgeregt wie bei der Premiere von Soulies ..Romeo", nie habe ich so viel gelitten, als während der ersten vier Akte, die sich kalt und langsam über die Bretter schleppten, was nur di e Schuld von Soulies allzu gutem Geschmack war, der selbst Shakespeare verbessern zu müssen glaubte. Nach dem alten Sprichwort „Ende gut, alles gut" war auch das Publikum mit dem neuen Stück zufrieden. Aber Soulie war es nicht, das weiß ich gewiss. Unterdessen war Picards Urteil über meine „Christine" nicht ohne Rückwirkung auf die Schauspieler des Theatre Francais geblieben. Fräulein Mars, die anfangs von der Rolle der Christine begeistert war, wurde nach und nach immer kühler. Denn so unvollkommen die Rolle damals auch noch war, so war die Mars doch verständig genug, um einzusehen, dass sie dieser
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Rolle nicht gewachsen war. Auch Firmin war ein Schauspieler, der viel Wärme in der Darstellung, aber wenig schöpferische Kraft besaß; ihn beunruhigte die Rolle des Monaldeschi. Ligier endlich, der den Sentinelli spielen sollte, war vom Theatre Francais zum Odeontheater übergegangen. Aber nun ereignete sich ein noch ernsterer Vorfall. Das Komitee des Theatre Francais hatte eine zweite „Christine" angenommen. Der Verfasser dieser „Christine", ein Herr Brault, war vordem Präfekt gewesen und dabei ein vertrauter Freund des Herzogs von Decazes, der ihn mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht unterstützte. Die Hauptrolle dieser neuen Tragödie, die Rolle der Christine, war Madame Valmonzey zugeteilt worden. Madame Valmonzey war eine schlechte Schauspielerin, aber eine hübsche Frau und die Geliebte des Herrn Evariste Dumoulin, des Redakteurs des „Constitutionel". Die Aufnahme jener zweiten „Christine" und das Verhältnis der Madame Valmonzey mit Herrn Dumoulin hatten zur Folge, daß letzterer erklärte, er werde das Theatre Francais in seiner Zeitung unbarmherzig herunterreißen, wenn das Stück seines Freundes Brault nicht vor dem des Herrn Alexander Dumas gegeben werde. Diese offene Kriegsandrohung jagte dem Theatre Francais gewaltigen Schrecken ein. Da aber die Forderung Dumoulins unerhört und noch nie da gewesen war, antwortete das Komitee, es sei bereit, die „Christine" des Herrn Brault vor der meinen zur Aufführung zu bringen, wenn ich ihm freiwillig den Vorrang abtrete. Herr Brault litt damals bereits an einer unheilbaren Krankheit, die bald darauf seinen Tod herbeiführte. Es musste für den sterbenden Dichter ein großer Trost sein, vor seinem nahen Ende noch sein Stück aufführen zu sehen. So wurde mir die Sache von seinem Sohn in einem sehr höflichen schmeichelhaften Brief, vom Herzog von Decazes in einer sehr warmen und verbindlichen Unterredung dargestellt. Zu allem Überfluss verpflichteten sich auch noch die Mitglieder des Theatre Francais, mein Stück zur Aufführung zu bringen, sobald nur die „Christine" des Herrn Brault ein paar Mal über die Bretter gegangen sei. So gab ich denn nach und ließ Herrn Brault den Vorrang. Der Lohn für diese Selbstaufopferung blieb nicht aus. Schon am folgenden Tag meldeten die Zeitungen, das Komitee des Thetre Francais habe in Braults Tragödie mehr Chancen für einen günstigen Erfolg gefunden als in der meinen, darum werde auch das Stück des Herrn Brault in kurzem zur Aufführung gelangen, während das meine für unbestimmte Zeit zurückgestellt sei. Ich will gern glauben, daß weder der sterbende Dichter, noch sein Sohn, noch der Herzog von Decazes schuld an diesem elenden Zeitungsklatsch waren. Aber all diese Erbärmlichkeiten, die ich so tief verachtete, hatten doch ihre unangenehme Seite. Meine Mutter las keine Zeitungen, aber man las sie dafür bei Deviolaine, man las sie im Büro, und ein paar gute Freunde rannten sofort zu meiner Mutter und riefen: „Ei, der Tausend, wissen Sie schon, was man von Ihrem Sohn spricht?"„Von meinem Sohn? Inwiefern?" fragte
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meine Mutter bleich und zitternd. Und nun erzählen sie ihr umständlich die ganze Geschichte. Da zog tiefe Trauer in dies arme Herz ein, das außer mir nichts Liebes mehr auf der Welt hatte und um mich besorgter war als sich selbst Die Proben von Braults „Christine" wurden ebenso rasch betrieben wie die meinen langsam vor sich gegangen waren. Übrigens weiß man wohl, was man beim Theatre Francais Geschwindigkeit nennt, und der arme Brault konnte in aller Ruhe sterben ehe seine Tragödie zur Aufführung gelangte die sich übrigens nur eines sehr mittelmäßig Erfolges zu erfreuen hatte. Madame Valmonzey aber blieb mit ihrer Leistung selbst hinter diesem mittelmäßigen Erfolg noch weit zurück. Doch das alles konnte mir nur wenig helfen; mein Stück war nun einmal auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Unterdessen war auch Soulie mit seiner „Christine" fertig geworden und hatte ihre Annahme beim Odeon durchgesetzt, wo Fräulein Georges und Ligier die Hauptrollen spielen sollten. Was war mittlerweile mit mir vorgegangen? So wie mich ein Zufall auf die Idee brachte, eine „Christine" zu schreiben so war es eben wieder der Zufall, der mir den Stoff zu „Heinrich III. in die Hand spielte. Den einzigen Schrank, den ich im Büro hatte, musste ich mit dem Amtsdiener Feresse teilen; er legte seine Tintenflaschen, ich mein Papier hinein. Einmal hatte er einen Gang zu machen und war es Unachtsamkeit oder geschah es, um mir einen Streich zu spielen und mir zu zeigen, daß er mehr Recht besitze als ich, kurz, er ging und nahm den Schlüssel zum Schrank mit. Während er fort war, verschrieb ich alles Papier, das ich auf meinem Schreibtisch liegen hatte und da ich noch drei oder vier Berichte zu erledigen hatte, ging in das Sekretariat, um mir noch ein paar Bogen Papier zu holen. Ich weiß nicht, wie es kam, daß sich ein Band von Anquetils Geschichte auf einen der dortigen Schreibtische verirrt hatte; genug, das Buch lag aufgeschlagen da, ich ließ mechanisch meinen Blick darüber schweifen, und als ich ein paar Worte gelesen hatte, trat ich näher und fand auf Seite 75 folgende Zeilen: „Obwohl er dem König ergeben und somit auch ein Feind des Herzogs von Guise war, liebte Saint-Megrin dennoch die Herzogin Katharina von Cleves und fand, wie es heißt, bei ihr Gegenlieber Die Quelle, aus der wir diese Angabe schöpfen, behauptet zugleich' dem Herzog sei, diese wirkliche oder nur scheinbare Treulosigkeit seiner Gattin ziemlich gleichgültig gewesen. Er wies jede Aufforderung seiner Verwandten, an den Schuldigen Rache zu üben auf das bestimmteste zurück; er vergalt seiner Gattin die Worte oder das Verbrecken, dessen sie sich schuldig gemacht, nur mit einem Scherz. Eines Tages ging er in das Gemach der Herzogin, in der einen Hand ein Flaschchen ,in der anderen einen Dolch. Nachdem er sie unsanft geweckt und mit Vorwürfen überhäuft hatte, donnerte er sie wutentbrannt an: ,Sie haben jetzt zu wählen,
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Madame, ob Sie durch diesen Dolch oder durch Gift sterben wollen!' Vergebens fleht die Frau um Gnade; er zwingt sie, zu wählen-, sie entscheidet sich für das Gift, leert das Fläschchen mit einem Zug, sinkt dann auf die Knie und harrt, ihre Seele dem Herrn empfehlend, auf den unvermeidlichen Tod. Es vergeht eine volle Stunde, der Tod tritt nicht ein-, die Herzogin fühlt sich im Gegenteil bis auf die Angst recht wohl. Da erscheint der Gatte mit heiterer Miene und eröffnet seiner Frau, daß das, was sie als Gift genommen habe, eine ausgezeichnete Kraftbrühe gewesen sei. Von da an soll die Herzogin bei ihren Liebesabenteuern vorsichtiger gewesen sein." Das regte mich an, in der großen Biographie über diesen Gegenstand weiter nachzulesen; die Biographie verwies mich auf L'Estoiles Memoiren. Das Buch war mir unbekannt, aber Herr Villenave lieh es mir, und ich fand im vierten Teil auf Seite 35 folgende Zeilen: „Saint-Megrin war ein junger, hübscher und reicher Edelmann aus Bordeaux und einer der elegantesten ,Mignons' des Königs. Als er einst nachts um elf Uhr aus dem Louvre kam, wo der König wohnte, und nach der Rue Saint-Honore zu ging, fielen zwanzig bis dreißig unbekannte Männer mit Säbeln, Pistolen und Messern über ihn her und ließen nicht eher nach, als bis Saint-Megrin halbtot auf dem Pflaster lag. Tags darauf starb er. Man wunderte sich, wie er noch so lange leben konnte, da er doch vierunddreißig bis fünfunddreißig tödliche Wunden erhalten hatte. Der König ließ den Toten nach Boisys Haus in der Nähe der Bastille bringen, wo auch sein Gefährte Quelus gestorben war. Saint-Megrin wurde dann bei St. Paul mit demselben Gepränge und derselben Feierlichkeit beigesetzt wie früher seine beiden Gefährten Quelus und Maugiron. Die Mörder wurden nicht weiter verfolgt. Seine Majestät wusste wohl, daß die Tat vom Herzog von Guise ausging, weil es allgemein hieß, dieser Mignon pflege mit der Herzogin sträflichen Umgang. Man wußte auch, dass einer der Mörder, in bezug auf Bart und Haltung, dem Herzog von Maine sehr ähnlich gesehen habe. Ah der König von Navarra von dem Vorfall Kunde erhielt, äußerte er:“ Ich kann meinen Vetter, den Herzog von Guise, nur loben, daß er sich von einem solchen Lotterbuben, wie diesem Saint-Megrin keine Hörner aufsetzen lassen wollte. So sollte man es mit allen galanten jungen Herrchen bei Hofe machen, die jeder Prinzessin nachlaufen, um mit ihr Liebeshändel anzufangen.'" An einer anderen Stelle, wo vom Tod Bussy d'Amboises die Rede war, hieß es in L'Estoiles Memoiren: „Am Mittwoch, dem 19. August, wurde Herr Bussy d'Amboise, erster Kammerherr des Herzogs, Gouverneur von Anjou, Abbe von Bourgueil, der sich auf die Gunst seines Herrn soviel zugute tat und sich in Anjou soviel Unbilden und Erpressungen zuschulden kommen ließ, samt dem Kriminalrichter von Saumur von dem Seigneur de Monsoreau in dessen Haus ermordet,
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wohin ihn der Kriminalrichter als Liebesbote geführt hatte, um die Nacht bei Frau von Monsoreau zuzubringen. Bussy stellte dieser Dame schon seit langem nach, und sie gab ihm absichtlidt eine falsche Weisung, damit er von ihrem Gatten, dem Herrn von Monsoreau, überrascht werde. Als Bussy um Mitternacht kam, wurde er sogleich von zehn oder zwölf Männern angefallen, die Herrn von Monsoreau begleiteten. Die Leute fielen wütend über ihn her. Er sah sich verraten und allein, da man zu solchen Abenteuern keine Begleiter mitzunehmen pflegt. Dennoch wehrte er sich bis zum letzten Augenblick und bewies, daß, wie er so oft gesagt hatte, Furcht in seinem Herzen keinen Platz hatte. Solange er noch einen Stumpf seines Degens in der Hand hatte, kämpfte er mannhaft, später sogar mit der bloßen Faust. Bänke, Tische und Stühle dienten ihm als Waffen, mit denen er mehrere Gegner verwundete. Schließlich musste er aber doch der Übermacht erliegen; es blieb ihm kein Gegenstand mehr, mit dem er sich verteidigen konnte, und so wurde er in dem Augenblick niedergemacht, als er sich aus dem Fenster stürzen wollte. Also starb Kapitän Bussy . . . "
Diese Stellen über Bussy und Saint-Megrin waren die Unterlage, auf der ich mein Drama aufbaute. Um die Sitten jener Zeit besser studieren zu können, nannte Villenave mir zwei kostbare Werke: „Confessions de Sancy" und „L'lle des Hermaphrodites". Gerade durch meinen „Heinrich III." überzeugte ich mich, daß dramatische Begabung angeboren sein muss. Ich war damals 25 Jahre alt und „Heinrich III" meine zweite ernstere Arbeit. Der gewissenhafte Kritiker, der das Drama zur Hand nimmt und einer strengen Prüfung unterzieht, wird am Stil sehr viel, am Aufbau jedoch nichts auszusetzen haben. Seitdem habe ich mehr als fünfzig Dramen geschrieben, aber keines ist bühnensicherer gearbeitet als „Heinrich III.". Ich erinnere mich, dass ich kurz nachdem ich den Plan zu „Heinrich III." entworfen hatte, nach Villers-Cotterets auf die Jagd ging. Auf dem Rückweg erzählte ich einigen Freunden das ganze Drama von der ersten bis zur letzten Szene. Von dem Augenblick an, wo der Plan fertig war, war auch das Stück fertig. Sooft ich mit Lust und Liebe an einem Werk arbeite, fühle ich das Bedürfnis, zu erzählen. Während des Erzählens dichte und erfinde ich, und nach ein paar solchen Erzählungen habe ich eines schönen Morgens das ganze Werk fertig. Als ich „Heinrich III." beendet hatte, las ich ihn bei Madame Waldor einem kleinen Bekanntenkreise vor. Das Stück machte starken Eindruck, aber man hielt es allgemein für vorteilhafter, erst „Christine" zur Aufführung zu bringen. „Heinrich III." wäre für ein Erstlingswerk doch zu gewagt. Selbstverständlich fand Villenave diese Neuerungsversuche abscheulich und erklärte sie für beklagenswerte Verirrungen des menschlichen Geistes. Aber gerade um diese Zeit sprosste mit und um uns ein ganz neues Geschlecht empor. Junge Männer in unserem Alter gründeten eine neue Presse und nahmen mutig den Kampf gegen die
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veralteten Ansichten des „Constitutionnel", des „Courrier Francais", des „Journal de Paris" und des „Journal des Debats" auf. Diese neuen Blätter waren der „Figaro" und die „Sylphe" und ihre Redakteure Nestor Roqueplan, Alphonse Roger, Louis Desnoyers, Alphonse Karr, Vaillant, Dovalle und noch ein halbes Dutzend andere kühne Vorkämpfer der romantischen Schule. Ich versammelte sie in Nestor Roqueplans Wohnung und lud außerdem noch Lassagne und Firmin ein. Damals hatte Nestor Roqueplan noch keine prunkvolle Wohnung im Operntheater und keine mit Gold eingelegten Möbel. Er bewohnte ein kleines Zimmerchen im fünften Stock, wo wir nun zu fünfzehn eingepfercht waren. Die Matratzen wurden aus dem Bett genommen und auf den Boden ausgebreitet. Das war unser Diwan, das Bett musste als Sofa dienen. Ich stellte mich vor einen Tisch, auf dem zwei Kerzen brannten, die Teemaschine wurde aufgesetzt, um nach jedem Akt einen Schluck Tee zur Anfeuchtung zu nehmen. Man war einstimmig dafür, ich sollte die arme „Christine" ihrem Schicksal überlassen und mich mit um so größerem Eifer meines „Heinrich III." annehmen. Firmin war entzückt; die Rolle des Saint-Megrin begriff er viel besser als die Monaldeschis. Er erbot sich daher auch freiwillig, mir so rasch als möglich eine Leseprobe vor dem Komitee des Theatre Francais zu verschaffen. Unterdessen wollte er mit meiner Einwilligung ein paar Kollegen einladen, denen ich dann einen Vorgeschmack von meinen Stücken geben könnte. Ich war von diesem Erfolg berauscht. Ich hätte das Stück auf Verlangen fünfzigmal vorgelesen. Firmin setzte den nächsten Donnerstag für eine Zusammenkunft fest; auch Beranger sollte anwesend sein, außerdem Taylor, Michelet, Samson, sowie die Damen Leverd und Mars. Ich wollte meiner Mutter das Glück verschaffen, dieser Vorlesung beizuwohnen, um deren Erfolg es mir nicht bangte, und ich bewog sie auch endlich dazu, mich zu begleiten. Arme Mutter! Ist es nicht, als ob ich es geahnt hätte, daß sie die Aufführung meines Stückes nicht mehr sehen sollte? . . . Das Stück machte auf die ganze Gesellschaft tiefen Eindruck. Obwohl sich Beranger nie recht mit der dramatischen Dichtung befreunden konnte, fühlte er sich doch von den beiden letzten Akten ergriffen und verhieß mir bedeutenden Erfolg. Von diesem Abend an hegte Beranger die herzlichste und aufrichtigste Freundschaft für mich, die er auch später in keiner Lebenslage verleugnet hat. Diese Freundschaft nahm nicht selten einen spöttischen, mitunter sogar bitteren Ausdruck an, denn Beranger war durchaus nicht der gutmütige Mensch, für den man ihn hielt, denn dazu besaß er zu viel Geist. Aber trotzdem war seine Freundschaft stets aufrichtig und immer bereit, ein herbes Wort durch eine aufopfernde Tat wieder gutzumachen. Am 17. September 1828 las ich „Heinrich III." vorm Komitee des Theatre Francais, und er wurde einstimmig angenommen.
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Wie bei „Christine" hatte auch diesmal die Presse die Annahme meines neuen Dramas gemeldet, und wie damals, erregte die Nachricht auch jetzt im Büro großes Aufsehen. Aber noch konnte man mir nichts anhaben. Nun geschah es aber öfters, daß Firmin die Lage meines Büros — dem Theater gerade gegenüber — benutzte und mich dann und wann hinüberrief, um auftauchende Schwierigkeiten in der Besetzung und Inszenierung zu besprechen, und daß ich deshalb mitunter das Büro verließ. Das war eine Tatsache, die sich nicht in Abrede stellen ließ, und man benutzte die Gelegenheit auch redlich, um endlich einmal sein Mütchen an mir kühlen zu können.So überbrachte mir denn eines Morgens Feresse die Aufforderung, mich unverzüglich zum Herrn Generaldirektor zu begeben. Herr von Broval erwartete mich mit stürmischer Miene, die der unverkennbare Vorbote eines nahenden Gewitters war. Aber ich verspürte doch etwas in mir, was mir die Brust hob. Es war das Selbstvertrauen, das ich durch sechsjährige ununterbrochene Arbeit und durch die Annahme der „Christine" und „Heinrich III." gewonnen hatte. So sah ich also dem Ungewitter mit einer Ruhe entgegen, die Herrn von Broval überraschte, ja beinahe aus der Fassung brachte. Endlich erklärte er mir in zuckersüßem Ton, Literatur und Bürokratie seien Gegner, die sich nicht vertragen könnten. Er habe nun gesehen, daß ich die beiden dennoch vereinen wolle. Er müsse mich daher dringend ersuchen, zwischen ihnen meine Wahl zu treffen. Ich sah ein, daß in diesem Augenblick alles auf dem Spiel stand, und ich alles gewinnen aber auch alles verlieren könnte. Ich ließ daher Herrn von Broval seine Phrasen zurechtdrechseln, und als er damit fertig war, antwortete ich: „Herr Baron, wenn ich Ihre Worte recht verstanden habe, so fordern Sie mich auf, zwischen meiner Stellung als Beamter und meinem Beruf als Schriftsteller zu wählen."„Jawohl, Herr Dumas, da haben Sie mich ganz recht verstanden." „Herr Baron, um die Stelle, die ich jetzt bekleide, hat der General Foy beim Herrn Herzog von Orleans nachgesucht, und dem General Foy hat der Herzog sie bewilligt. Ehe ich daher glauben kann, daß der erste Prinz von Geblüt, den alle Welt Beschützer, Schirmherr und Förderer der Kunst und Wissenschaft nennt, der Casimir Delavigne in seine Bibliothek aufnahm, nachdem er um der Dichtung willen sein Amt verloren hatte, ehe ich glauben kann, daß dieser Mann mich wegen desselben Vergehens entlässt, das man Casimir Delavigne zur Last legte, und das der Herzog als ein Verdienst betrachtete, muss der Herzog mir meine Entlassung mündlich oder schriftlich zukommen lassen. Ich werde auf keine andere Weise meine Entlassung verlangen, aber ich werde sie auch nicht anders annehmen. Was mein Gehalt anlangt, so hat der Herr Baron mir zu verstehen gegeben, daß mein Monatslohn von 12 5 Franken für das Budget Seiner Königlichen Hoheit eine untragbare Belastung sei. Herr Baron, ich bin sofort bereit, darauf zu verzichten." „Oh", rief Broval erstaunt, „wovon wollen Sie denn mit Ihrer Mutter leben?"
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„Das ist meine Sache, Herr Baron." Ich grüßte und wollte gehen.„Merken Sie sich wohl, Herr Dumas", rief mir Herr von Broval nach, „vom nächsten Monat an beziehen Sie kein Gehalt mehr."„Schon von diesem ab, wenn es Ihnen beliebt, mein Herr. Sie ersparen dadurch Seiner Königlichen Hoheit ganze 125 Franken, und Seine Königliche Hoheit wird Ihnen für diese Sparsamkeit gewiss zu Dank verpflichtet sein." Ich grüßte abermals und ging.Herr von Broval hielt wirklich Wort. Als ich in mein Büro kam, wurde mir auf dem Dienstweg eröffnet, daß ich in Zukunft nach eigenem Gutdünken über meine Zeit verfügen könne, da meine Bezüge von diesem Augenblick an eingestellt seien.Das wird manchem unglaublich vorkommen, und doch ist es die reinste Wahrheit! . . . Ja noch mehr, die Gehälter, die der Herzog von Orleans seinen Beamten bezahlte, waren meist so niedrig, daß diese kaum davon leben konnten. Es musste sich also fast jeder einen Nebenverdienst suchen, wenn er sich nicht in fortwährender Geldnot befinden wollte. Die einen heirateten Näherinnen, die einen kleinen Weißzeughandel trieben, die anderen beteiligten sich an einer Lohnkutscherei, andere wieder unterhielten im Quartier Latin Privatmittagstische, wo man für zweiunddreißig Sous essen konnte. Diese Leute legten um fünf Uhr die Feder aus der Hand, um sie zu Hause sofort mit der Serviette des Kellners oder des Gastwirtes zu vertauschen. Diesen Leuten machte man keinen Vorwurf, daß sie das Ansehen der königlichen Hoheit herabwürdigten. Nein, im Gegenteil, man lobte ihre Betriebsamkeit oder fand sie doch wenigstens ganz natürlich. Ich aber hatte keine Lust, eine Näherein zu heiraten, ich besaß keine Mittel, um mich an einem Fuhrunternehmen zu beteiligen, ich war gewohnt, die Serviette auf die Knie und nicht über den Arm zu legen . . . ich suchte also mein Fortkommen in der Literatur, und das rechnete man mir als Verbrechen an, man stellte die Bezahlung ein, weil das Theatre Francais eine Tragödie und ein Drama von mir zur Aufführung angenommen hatte.Übrigens hatte ich schon im voraus meinen Entschluss gefasst, und das verlieh mir eben den Mut, Herrn von Broval mit solcher Entschiedenheit entgegenzutreten. Ich wollte mich an Beranger wenden, um durch seine Vermittlung bei Laffitte *) Unterstützung zu finden. Im schlimmsten Fall, hoffte ich, würde Laffitte wenigstens so viel für mich tun, wie er für Theaulon in ähnlicher Lage getan hatte: er würde mir nämlich 3000 Franken leihen. Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, daß Laffitte sonderlich entzückt gewesen sei, mir diesen Dienst zu erweisen. Aber ich müsste ebenso lügen, wenn ich leugnen wollte, daß er ihn mir schließlich doch erwiesen hat. Ich unterzeichnete einen Wechsel über 3000 Franken und verpflichtete mich ehrenwörtlich, ihn gegen 3000 Franken aus dem Erlös meines Stückes zu bezahlen. Von Zinsen war keine Rede.Ich verließ Laffitte mit 3000 Franken in der Tasche, umarmte Beranger und eilte heim zu meiner Mutter. Ich fand sie in größter Verzweiflung; die Hiobspost war schon bis zu ihr gedrungen. Ich sagte keine Silbe, sondern zog ganz ruhig meine drei Tausendfrankenscheine *) Jacques Laffitte (1767—1844) Staatsmann und Bankier, hatte großen Anteil an der Julirevolution und war Louis Philipps Finanzminister .
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aus der Tasche und drückte sie meiner Mutter in die Hand. Es war gerade das Doppelte meines Jahresgehalts. Ich erklärte ihr, woher das Geld stamme, und sie wusste vor Erstaunen gar nicht, wie das möglich sei. Die arme Frau begann allmählich selber zu glauben, daß ich doch nicht ganz unrecht hätte, wenn ich mich mit allem Eifer darauf verlege, Stücke zu schreiben, da man mir ja schon auf das Manuskript eines solchen doppelt soviel lieh, als ich sonst im ganzen Jahr verdiente. So standen die Dinge zu Beginn des Jahres 1829, in dessen Verlauf ich den harten Kampf zwischen Vergangenheit und Zukunft endlich ausfechten musste. Seit Oktober des vergangenen Jahres hatte ich mich im Büro nicht mehr blicken lassen. An Neujahr erhielten die Beamten gewöhnlich eine kleine Gratifikation. Obwohl ich nun dreiviertel Jahr hindurch mit allem Fleiß gearbeitet hatte und also auch drei Viertel der üblichen Zulage beanspruchen konnte, wies die Liste dennoch einem jeden seinen Teil an der Großmut Seiner Königlichen Hoheit zu — nur mir nicht! Ich hätte ja denken können, mein Name sei übersehen worden, obwohl auch dies eine schmerzliche Demütigung für mich gewesen wäre. Aber ich überzeugte mich, daß die Sache zur Sprache gebracht, erörtert und reiflich erwogen worden war, denn Seine Königliche Hoheit hatte neben meinem Namen eigenhändig vermerkt: „Die Gratifikation für Dumas streichen, da er sich mit Literatur beschäftigt." Unterdessen erregte „Heinrich III." in immer weiteren Kreisen bedeutendes Aufsehen. Man war allgemein der Ansicht, die Premiere dieses Stückes müsse, wenn sie von Erfolg gekrönt sei, in unserer dramatischen Dichtung eine unmittelbare Revolution zur Folge haben. Die Aufführung, die, wie es beim Theater üblich ist, von einem Tag auf den anderen verschoben wurde, ward endlich auf den 16. Februar festgesetzt. Ich war gerade im Theater und vernahm mit großer Freude, daß mein Stück von der Zensur des Herrn von Martignac günstig und rasch erledigt worden sei, als plötzlich ein Diener des Herrn Deviolaine mit verstörter Miene hereinstürzte und mir meldete, meine Mutter sei, als sie die Treppe heruntergehen wollte, plötzlich ohnmächtig geworden und habe bis jetzt das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Ich eilte sogleich fort und hieß noch einen Diener den Theaterarzt Florence zu meiner Mutter zu rufen. Einige Minuten später war ich schon bei meiner Mutter. Sie saß in einem Sessel, mit offenen klaren Augen, aber sie vermochte kaum zu lallen. Die eine Seite war völlig regungslos und unempfindlich. Die arme Frau hatte Deviolaine besucht und wie gewöhnlich kam man auch auf mich zu sprechen, wie gewöhnlich sagte man ihr auch diesmal, ich sei ein unverbesserlicher Dickkopf und der Wohltaten unwürdig, die der Herzog von Orleans an mich verschwendete. Mein Stück werde durchfallen und nicht mal die 3000 Franken einbringen, die ich darauf schon schuldig sei. Dann würde ich verlassen und brotlos dastehen, ohne Verdienst für die Gegenwart, ohne Aussicht für
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die Zukunft. Meine Mutter brach über all diese Reden in bittere Tränen aus. Als sie fortging, fühlte sie ihre Sinne schwinden, und als sie die Treppe heruntergehen wollte, versagten ihr die Füße den Dienst und plötzlich sank sie bewusstlos zu Boden. In diesem Zustand fand sie einer der Hausbewohner. Ich fühlte ihr den Puls und hob ihren Arm empor, aber er sank schlaff wieder herab. Unterdessen war auch meine Schwester herbeigerufen worden. Zum Glück befand sie sich in Paris, um der Uraufführung meines Stückes beizuwohnen. Ein ebenso glücklicher Zufall war es, daß im dritten Stock des Hauses gerade ein Zimmer frei war, das wir auf ein Vierteljahr mieteten. Madame Deviolaine ließ für meine Mutter ein Bett herbeischaffen. Für uns holten wir Matratzen und breiteten sie auf den Boden aus, da wir — meine Schwester und ich — fest entschlossen waren, die Mutter nicht einen Augenblick allein zu lassen. Am andern Tag machte die Besserung erfreuliche Fortschritte, und der Arzt erklärte, für das Leben der Kranken einstehen zu können, falls kein Rückfall eintrete. Wie segnete ich die Stunde, in der ich meine Zuflucht zu Laffitte genommen hatte. Wie segnete ich Laffitte dafür, daß er mir die 3000 Franken vorgestreckt hatte! So konnten wir wenigstens beruhigt sein, daß meine Mutter keine Not zu leiden hatte. Außerdem schickte mir ein Freund, der Sohn des berühmten Juweliers Edmond Halphen, 20 Louisdor. Er wusste noch nicht, daß ich reich war wie Ali-Baba. Die 20 Louisdor schickte ich ihm zurück, aber die Börse behielt ich als Andenken an diese zarte Aufmerksamkeit, die ich im Leben so selten fand, daß ich diese Tat, die mich so tief rührte, mit dankbarem Herzen hier wiedererzähle. So betrübt ich auch war, so musste ich meine Mutter doch auf ein paar Stunden verlassen. Mein Drama war für d i e Darsteller so neu und ungewohnt, daß sie in dem Augenblick, wo ich der Bühne den Rücken kehrte, auch schon alles Vertrauen auf sich und auf das Werk verloren. Man hat keinen Begriff von der Aufregung, in der ich diese Tage verlebte: Auf der einen Seite der Schmerz um die sterbende Mutter, auf der anderen Seite die mühseligen Vorbereitungen für die Premiere meines ersten Dramas.
Am Tag vor der Aufführung begab ich mich nach dem Palais-Royal und verlangte den Herzog von Orleans zu sprechen. Dieses Verlangen überraschte alle durch seine unerhörte Kühnheit so sehr, daß man glaubte, der Herzog selbst müsse mich bestellt haben. Er ließ sich meinen Namen zweimal wiederholen und befahl dann, mich vorzulassen. „Ah, sind Sie es, Herr Dumas?" rief er mir entgegen. „Was für ein guter Wind führt denn Sie hierher oder vielmehr wieder zurück?" — „Monseigneur, morgen gelangt mein Drama .Heinrich III.' zur Aufführung." — „Ich weiß schon", entgegnete der Herzog.
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„Ich komme nur, um von Eurer Königlichen Hoheit eine Gnade oder vielmehr eine Gerechtigkeit zu erbitten." — „Und das wäre?" — „Der Uraufführung meines Stückes beizuwohnen. Seit einem Jahr sagt man Eurer Königlichen Hoheit, ich sei ein eitler, halsstarriger Narr. Seit einem Jahr behaupte ich, ein ganz bescheidener und fleißiger Schriftsteller zu sein. Eure Königliche Hoheit haben, ohne mich zu hören, meinen Anklägern recht gegeben. Hätten Eure Königliche Hoheit nur noch etwas gewartet, so wäre Ihr Urteil anders ausgefallen; leider hat das Eure Königliche Hoheit nicht getan. Morgen wird das Publikum in dieser Angelegenheit Richter sein, und daß Eure Königliche Hoheit bei dieser Urteilsverkündung anwesend zu sein, ist die einzige Bitte, die ich an Sie, Monseigneur, zu richten habe." Der Herzog sah mich einen Augenblick an, dann antwortete er: „Gern, sehr gern, Herr Dumas, würde ich Ihrem Wunsch nachkommen, denn man hat mir gesagt, Sie seien, wenn auch nicht gerade eine Verkörperung des Fleißes, so doch jedenfalls ein Muster von Beharrlichkeit. Aber leider ist es mir unmöglich. Urteilen Sie selbst: Ich habe für morgen 20 bis 30 Prinzen und Prinzessinnen zu Tisch geladen." — „Und glauben Eure Hoheit nicht, daß die Premiere auch Ihre Prinzen und Prinzessinnen interessieren würde?" — „Wie können sie denn der Vorstellung beiwohnen? Wir speisen um sechs Uhr und um sieben fängt das Theater schon an." — „Monseigneur gehen eine Stunde früher zu Tisch und ich lasse die Vorstellung eine Stunde später beginnen. Eure Hoheit haben somit drei volle Stunden zur Bewirtung Ihrer erlauchten Gäste." — „Der Einfall ist nicht übel . . . Aber glauben Sie denn, daß das Theatre Francais den Beginn der Vorstellung um eine Stunde verschieben wird? Und wenn, wo sollen dann meine Gäste Platz finden? Ich habe nur drei Logen!" — „Das Theatre Francais wird sich glücklich schätzen, Eurer Hoheit dienen zu können. Ich habe die Direktion ersucht, über die Logen des ersten Ranges nicht eher zu verfügen, als bis ich mit Eurer Hoheit gesprochen habe." — „Sie setzen also voraus, daß ich bestimmt der Aufführung Ihres Stückes beiwohnen werde?" — „Ich war nur im voraus von Ihrem Gerechtigkeitsgefühl überzeugt, Monseigneur." — „Nun gut. . . Sagen Sie also Herrn Taylor: wenn das Theatre Francais den Beginn der Vorstellung um eine Stunde verschiebt, so nehme ich sämtliche Logen des ersten Ranges. Sind Sie damit zufrieden?" — „Ich eile; ich bin entzückt, Monseigneur, aber ich hoffe, Eure Hoheit werden Ihre huldvolle Zusage nicht zu bereuen haben." — „Das will ich auch hoffen . . . Und nun Glückauf!" Ich verneigte mich und ging; in zehn Minuten war die Theaterdirektion von allem unterrichtet. Endlich brach der heißersehnte Tag an. Die
Verwaltung
hatte
mir
eine
Anzahl
Karten
zur
Verfügung
gestellt.
Applausversicherungsgesellschaften wie heutzutage gab es damals noch nicht, man musste alles dem Wohlwollen seiner Freunde und der Unparteilichkeit des Publikums überlassen. Es blieben mir genug Parterrekarten für meine ehemaligen Amtskollegen. Für mich behielt ich eine kleine Proszeniumsloge, in der nur zwei Personen Platz hatten.
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Meine Schwester saß mit Boulanger, de Vigny und Victor Hugo in einer Loge des zweiten Ranges. Ich hatte bis dahin weder Hugo noch Vigny gekannt. Sie wandten sich an mich, da sie keinen Platz mehr bekommen konnten, und von diesem Augenblick datiert unsere Freundschaft. Alle übrigen Plätze waren bereits seit acht Tagen vergeben. Man verkaufte Logen um den enormen Preis von 20 Louisdor. Um drei Viertel acht umarmte ich meine Mutter, die bei ihrer Gehirnschwäche, die noch immer nicht geheilt war, keine Ahnung hatte, welchem Kampf ich entgegenging. Im Gang des Theaters traf ich Deviolaine, der einen Orchestersitz hatte. „Nun, du Teufelskerl", schrie er mir entgegen, „hast du es also doch durchgesetzt?" — „Habe ich es Ihnen nicht versprochen?" — „Nun, ja, aber jetzt wollen wir erst sehen, was das Publikum dazu sagen wird." — „Sie werden es ja sehen, da Sie dabei sind." „Werden schon sehen", brummte Deviolaine. „Es ist noch nicht ausgemacht, dass ich es sehen werde." Ich ging weiter ohne zu wissen, was er damit sagen wollte und erreichte endlich meine Loge, von wo aus ich das ganze Haus bequem übersehen konnte: Im ersten Rang nichts als ordengeschmückte Prinzen, der zweite Rang von der Aristokratie besetzt, die Damen überladen mit funkelnden Diamanten, die Herren in Frack und Ordensbändern. Endlich hob sich der Vorhang. Ich hatte noch nie ein ähnliches Gefühl empfunden wie in dem Augenblick, als der kühle Luftzug von der Bühne her meine schweißtriefende Stirn berührte. Der erste Akt fand eine recht wohlwollende Aufnahme, obwohl die Exposition gedehnt und matt war. Ich lief rasch hinaus, um mich nach meiner Mutter umzusehen. Bei der Rückkehr stieß ich in der Vorhalle abermals auf meinen lieben Onkel Deviolaine. Als er mich sah, verschwand er in einem gewissen kleinen Kabinett. Es schien, als weiche er mir absichtlich aus. Doch ich tat dem armen Mann unrecht; er hatte etwas anderes zu tun! Der zweite Akt begann; er war unterhaltender als der erste. Der Vorhang fiel unter langanhaltendem Beifall. Aber erst der dritte Akt sollte den Erfolg entscheiden. In der letzten Szene zwingt der Herzog von Guise seine Frau, ihrem Liebhaber Saint-Megrin ein Stelldichein zu geben. Diese Szene entpresste einem Teil der Zuschauer einen Schrei des Entsetzens, auf den aber sogleich ein endloser Beifallssturm folgte. Es war das erstemal, dass auf der Bühne das Leben mit solchem Freimut, ich möchte sagen mit solcher Realistik wiedergegeben wurde. Ich verließ wieder das Theater, um nach meiner Mutter zu sehen, obwohl ihr Zustand derart war, dass sie mich kaum noch erkannte. Wie glücklich wäre ich gewesen, hätte ich sie an diesem Abend statt im Bett an meiner Seite im Theater gesehen! Ein sanfter Schlaf hatte sich auf die arme Kranke niedergesenkt. Ich küsste sie, ohne sie zu wecken, und eilte wieder ins Theater zurück. Unter dem Eingang begegnete ich Deviolaine, der eben fortgehen wollte. „Wie", fragte ich, „Sie bleiben nicht bis zum Schluss?" — „Wie kann ich es denn bis zum
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Schluss aushalten, Dummkopf!" — „Warum denn nicht?" — „Weil ich ein dummes Rindvieh bin . . . Ich habe vor Rührung die Kolik bekommen." Deviolaine hielt beide Hände vor den Bauch und rannte aus Leibeskräften in Richtung Rue Saint-Honore davon. Alles kam, wie ich es vorausgesehen hatte. Vom vierten Akt bis zum Schluss steigerte sich der Beifall bis zur Raserei. Alle Hände, selbst die der Damen, klatschten ununterbrochen. Als endlich Firmin erschien, um den Namen des Verfassers bekannt zugeben, war der Jubel derartig, daß selbst der Herzog von Orleans aufstand und mit entblößtem Haupt den Namen seines Beamten entgegennahm, den einer der glänzendsten, wenn auch nicht völlig verdienten Erfolge jener Zeit als Dichter begrüßte. Als ich nach Hause kam, fand ich folgenden Brief des Herrn von Broval vor:
Ich kann mich nicht zur Ruhe begeben, mein lieber junger Freund, ohne Ihnen zu sagen, wie glücklich mich Ihr schöner Erfolg macht, ohne Sie von ganzem Herzen und nicht minder Ihre gute Mutter zu beglückwünschen, um die Sie, wie ich weiß, mehr besorgt sind als um sich selbst. Meine Schwester, ich und unsere Kollegen sind alle in Angst um sie und freuen uns daher um so mehr über einen Triumph, den Kindesliebe und die Ausdauer des edelsten Talents verdient und errungen haben. Ich bin überzeugt, daß Lorbeeren und eine Zukunft voll Ruhm Sie dem Gefühl der Freundschaft nicht verschließen werden, und ich wäre daher glücklich, wenn Sie die erwidern würden, die ich für Sie empfinde. 11. Februar 1829.
de Broval.
Das schrieb nun der gleiche Mann, der mich fünf Monate früher gezwungen hatte, auf mein Gehalt zu verzichten! Nur wenige Menschen haben wohl einen so plötzlichen Umschwung ihrer Verhältnisse erlebt, wie ich es während der vier Stunden der Aufführung meines .Heinrich III.' Ganz Paris beschäftigte sich mit einem Male mit mir, während ich ein paar Stunden vorher im Guten wie im Bösen noch völlig unbekannt war. Auf einmal hatte ich eine Menge Feinde, die mich nicht kannten, die aber nicht verwinden konnten, daß mein Werk solches Aufsehen erregte. Aber ich gewann dafür auf der anderen Seite auch recht viel Freunde. Meine Neider hatten gewiss keine Ahnung, daß ich die Nacht nach einem solchen Triumph auf einer elenden Matratze lag, und neben dem Bett meiner sterbenden Mutter weinte. Am anderen Morgen war das Zimmer mit Blumen überfüllt. Ich legte sie aufs Bett meiner Mutter, die sie mit der einen Hand, die sie noch bewegen konnte, näher zog oder beiseite schob, ohne zu wissen, was diese Blumen bedeuten sollten — vielleicht wusste sie nicht einmal mehr, daß es überhaupt Blumen waren.
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Am Tag nach der Premiere, um zwei Uhr nachmittags, war das Manuskript schon für 6000 Franken verkauft. Ich wechselte sie in sechs Scheine um und zeigte sie Deviolaine. „Wie?" rief er erstaunt. „Gibt es denn wirklich solche Hornochsen, die so etwas abkaufen? Das müssen schöne Narren sein!" Achselzuckend gab er mir die sechs Scheine zurück. „Und du erkundigst dich nicht einmal nach meinem Befinden?" fragte er. — „Ich wagte es nicht . . . Nun?" — „Es hat sich zum Glück etwas gebessert." — „Konnten Sie ins Theater zurück?" — „Ja, ich konnte sogar bis zum Schluss bleiben." — „Und hat es Sie nicht ein wenig gefreut, als mein Name genannt wurde?" — „Ein wenig, du Schafskopf? Geheult habe ich wie ein Kettenhund, gebrüllt wie ein Stier!" — „Das einzugestehen hat
Sie
sicher
große
Selbstüberwindung gekostet. Dafür muss ich Sie aber auch herzlich umarmen." Deviolaine standen Tränen in den Augen. „Ach, wenn dein armer Vater das noch hätte erleben können!" — „Meine Mutter hätte wenigstens dabei sein können, wenn . . . man sie nicht so elend gemacht hätte." — „Hör mir nur auf! Willst du mir wohl gar weismachen, dass ich schuld bin, wenn sie jetzt im Bett liegt? Tausend Donnerwetter! . . . Ich will aufrichtig sein . . . Der Gedanke hat mich während der ganzen Vorstellung gequält . . . Das wollte mir nicht aus dem Kopf, und ich glaube, daß ich davon die Kolik bekam . . . Was werden nun die Herren im Büro sagen?" Ich zeigte ihm Brovals Brief. Er las ihn zweimal durch und gab ihn mir kopfschüttelnd zurück. „Wirst du nun wieder ins Büro gehen?" — „Nein, danke schön. Ich denke nicht daran." — „Du hast recht. Willst du Fossier sehen?" — „Fällt mir nicht ein. Er hätte mich ja auch beglückwünschen können." — „Und wenn er dich um Karten für seine Töchter bittet?" — „Ach so . . . Freikarten. Das nächste Mal werde ich Ihnen eine Loge reservieren lassen. Diesmal hatten Sie einen schlechten Platz, gleich an der Tür . . . " — „Spötter! Ich war froh, daß ich an der Tür saß . . . Nun, sag mal: Wird der Unsinn, den du geschrieben hast, dir außer dem Geld, das du schon hast, noch etwas einbringen?" — „Na, ich rechne so mit etwa 15 000 Franken." — „Wie? Was? Wie viel sagst du?" — „So an 15 000 Franken."„Und wie lange hast du daran gearbeitet?" — „Etwa zwei Monate."— „Was? In zwei Monaten hast du also die Jahresgehälter von drei Bürochefs, einschließlich der Gratifikationen, verdient?" — „Und warum nicht? Nehmen Sie Ihre drei Bürochefs zusammen und sagen Sie ihnen, sie sollen es mir nachmachen." — „Hör auf! Ich fürchte, die Decke fällt mir sonst noch auf den Kopf." — „Morgen kommen Sie also?" — „Ja, wenn ich nichts Besseres vorhabe." Darüber machte ich mir keine Sorgen. Man hätte Deviolaine ruhig ein Jahresgehalt bieten können, wenn er nicht ins Theater ginge — er hätte es bestimmt ausgeschlagen.Von Deviolaine eilte ich zu Laffitte; ich war stolz darauf, meine Schuld so rasch abtragen zu können. Ich zahlte ihm seine 3000 Franken, und er gab mir dafür den Wechsel und das Manuskript zurück. Ich werde mich dieses Liebesdienstes bis ans Grab in Dankbarkeit erinnern. War er an sich schon aller Anerkennung wert, so machte ihn mir die Krankheit meiner Mutter gerade zu jener Zeit wahrhaft unschätzbar.
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Der Herzog von Orleans hatte melden lassen, er werde auch der zweiten Ausführung meines „Heinrich III." beiwohnen. Als ich ins Theater kam, sagte man mir, der Herzog sei bereits anwesend und lasse mich für einen Augenblick in seine Loge bitten. Gleich nach dem ersten Akt beeilte ich mich, dieser Aufforderung nachzukommen. Das ausverkaufte Haus bewies deutlich, daß sich die Nachricht vom Erfolg des ersten Abends mit Blitzesschnelle verbreitet hatte. Der Herzog von Orleans empfing mich aufs huldvollste. „Nun, Herr Dumas", sagte er, „jetzt werden Sie wohl zufrieden sein. Sie haben Ihren Prozess gegen die ganze Welt, gegen das Publikum und auch gegen mich glänzend gewonnen. Selbst Broval, Deviolaine und Oudard, alle sind entzückt." Ich verbeugte mich. „Fast hätten Sie mir dabei eine sehr schlimme Sache eingebrockt", fuhr er lachend fort. „Der König hat mich gestern wegen Ihres Dramas zu sich befohlen und mich gefragt, ob in meinem Büro ein junger Mann beschäftigt sei, der ein Stück geschrieben habe, in dem er und ich aufträten, er als Heinrich III. und ich als Herzog von Guise." — „Monseigneur, Sie hätten ruhig antworten können, das müsse ein Irrtum sein, denn der junge Mann sei nicht mehr in Ihrem Dienst." — „Nein, ich habe eine bessere Antwort gefunden! Ich wollte nicht lügen, denn ich behalte Sie. Ich sagte: ,Sire, man hat Sie getäuscht: Erstens schlage ich meine Frau nicht, zweitens setzt mir die Herzogin von Orleans keine Hörer auf, und drittens hat Eure Majestät keinen treueren Untertan als mich!' Finden Sie diese Antwort nicht besser?" — „Gewiss, Monseigneur, jedenfalls geistreicher." — „Und auch wahrer . . . Doch da geht der Vorhang wieder auf. Gehen Sie Ihren Geschäften nach. Das meine ist, Ihnen zu lauschen." — Ich verbeugte mich. — „Ach, da fällt mir gerade noch ein: Die Herzogin wünscht Sie morgen Vormittag zu sprechen. Sie möchte sich nach dem Befinden Ihrer Mutter erkundigen." Ich verbeugte mich abermals und verließ die Loge. Am anderen Morgen folgte ich der Einladung. Die Herzogin war überaus freundlich und huldvoll zu mir. Ach, warum musste das alles erst so spät kommen? Ich hatte, nachdem ich mich völlig frei bewegen konnte, keinen Grund, dem Mann den Rücken zu kehren, der, wenn man es recht nimmt, am Ende doch sechs Jahre lang meine materielle Existenz gesichert und mir dadurch die Möglichkeit gewährt hatte, meine Studien fortzusetzen und das Wenige zu erreichen, das ich bereits erlangt hatte. Dazu vertrat der Herzog von Orleans damals gerade die Seite der Opposition, der auch ich als Sohn eines republikanischen Generals angehören musste. Der Herzog von Orleans war, wenn auch gerade kein „republikanischer" Prinz, wie man ihn 1792 nannte, doch wenigstens ein „Bürgerprinz", wie man 1829 sagte. Es vertrug sich also mit meiner Ehre wie mit meiner Gesinnung, auch weiterhin im Dienst des Herzogs zu bleiben.
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Das alles hatte ich schon längst überlegt und brauchte mich daher nicht erst zu sammeln, als ich von Oudard die schriftliche Einladung erhielt, ihn in seinem Büro zu besuchen. Früher hätte mich eine derartige Aufforderung ernstlich beunruhigt, jetzt entlockte sie mir nur ein Lächeln. Oudard empfing mich sehr freundlich, gratulierte mir zu dem Erfolg meines Dramas und fragte mich, in welcher Eigenschaft ich im Dienst des Herzogs von Orleans bleiben wollte. Ich verlangte eine Stelle als Bibliothekar des Herzogs, ich wollte also der Kollege Delavignes und Vatouts werden. Oudard versprach, meinen Wunsch dem Herzog von Orleans vorzutragen. Zwei Tage später ließ mich Oudard wieder rufen. Er wollte etwas gefunden haben, was mir vielleicht mehr zusagen würde als die Bibliothekarstelle: ich sollte Vorleser der Herzogin von Orleans werden. Ich dankte Oudard, erklärte ihm aber auch, daß ich bei meinem ersten Entschluss verharre. Zwei Tage später erhielt ich ein drittes Schreiben. Er wollte endlich etwas herausgefunden haben, was mir besser zusagen würde als alles andere. Man wollte mich zum Hofkavalier der Prinzessin Adelaide machen. Ich blieb aber unbeugsam, und so entschloss man sich, doch nachzugeben, und ernannte mich zum zweiten Bibliothekar mit einem Jahresgehalt von 1200 Franken. Da ich im voraus erklärt hatte, daß mir am Gehalt wenig gelegen sei, schlug man dem Herzog vor, mich zum Bibliothekar zu ernennen, dafür aber das Gehalt, das ich seither als Beamter erhielt, um 300 Franken zu kürzen. Da ich sechs Monate lang kein Gehalt mehr bezogen hatte, so musste mir dieser Ausfall nachträglich vergütet werden. Da ich aber als Bürobeamter 1500, als Bibliothekar jedoch nur 1200 Franken Gehalt hatte, datierte man meine Ernennung um ein halbes Jahr zurück und ersparte somit bei der Vergütung des rückständigen Gehalts 150 Franken und, die mir entzogene Zulage für 1829 mitgerechnet, 350 Franken. Dazu noch die 50 Franken, um die ich 1 827 zu kurz kam, so ersparte die Kasse des Herzogs an mir innerhalb zweier Jahre volle 400 Franken. Ich habe sie längst verschmerzt. Aber ich wollte meinen Lesern doch ein kleines Beispiel von der Engherzigkeit und Beschränktheit der Leute geben, die die Umgebung des Herzogs von Orleans bildeten. Leider war diese Umgebung des Herzogs später auch di e des Königs. Ich war nun also Bibliothekar und lernte meine beiden Kollegen Vatout und Casimir Delavigne kennen, d i e mich keineswegs mit offenen Armen aufnahmen; besonders Delavigne konnte mir meinen Bühnenerfolg nicht verzeihen. Aber auch Arnault konnte das nicht, obwohl ich früher jeden Sonntag bei ihm zu Tisch war. Als ich am Sonntag nach der Premiere meines Stückes wie üblich zu ihm kam, traf ich seine Frau allein an. Im Laufe des Gesprächs meinte sie: „Wenn Sie wieder zu Mittag zu uns kommen wollen, lieber Dumas, dann melden Sie sich lieber vorher an, damit Sie nicht wieder das Unglück haben, mich allein anzutreffen." Ich verstand, und ging nie mehr hin.
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„Christine"
Mein „Heinrich III." brachte alle Vorteile und Nachteile mit sich, die in der Regel mit jedem größeren Erfolg verbunden sind. Ich war den ganzen Winter 1829 hindurch der „Schriftsteller des Tages", ich erhielt Einladungen über Einladungen und Herr Sosthene de la Roche-foucault, Minister des königlichen Hauses, übermittelte mir ein Schreiben, das mir freien Zutritt zu allen königlichen Theatern gewährte. Deveria lithographierte mein Bildnis, David d'Angers prägte eine Medaille. Es fehlte also nicht an meinem Ruhme, selbst nicht die kleine Beigabe des Lächerlichen, die jede aufkommende Berühmtheit begleitet. „Heinrich III." hatte keinen Reichtum in unser Haus gebracht, aber doch eine merkliche Verbesserung unserer Verhältnisse herbeigeführt. Vor allem waren wir schuldenfrei geworden. Wir hatten Porcher und Laffitte bezahlt und konnten unsere kleine Wohnung in der Rue Saint-Denis aufgeben, um für meine Mutter in der Rue Madame Nr. 7 eine Parterrewohnung mit Garten zu mieten. Frische Luft und Bewegung hatte der Arzt ihr dringend empfohlen, und ich wählte dieses Stadtviertel und diese Straße, um in die Nähe der Familie Villenave zu kommen, die durch Familienverhältnisse veranlasst, gleichfalls nach der Rue Madame Nr. 2 übergesiedelt war. Für mich mietete ich an der Ecke der Rue de l'Universite und Rue du Bac eine Wohnung im vierten Stock, und da meine neuen Verbindungen mir häufige Besuche von seilen der Schauspieler und Schauspielerinnen des Theatre Francais verschaffte, so hatte ich mein Heim mit einer gewissen Eleganz eingerichtet. Da mich überdies die Vergangenheit gelehrt hatte, nicht zu fest auf die Zukunft zu bauen, sicherte ich mir gegen Zahlung von 800 Franken im Cafe Desmares meine Verpflegung für ein ganzes Jahr. Leider machte das Cafe einen Monat nach Abschluss meines Vertrages pleite. Dadurch verlor ich meine 800 Franken. Meine erste Spekulation nahm, wie man sieht, einen ziemlich schlechten Ausgang. Unterdessen machte mir eine reizende Künstlerin vom Theatre Francais den Vorwurf, sie habe in „Heinrich III." nur eine untergeordnete Rolle zu spielen, in der „Christine" aber gar keine. Dieser Vorwurf war durchaus berechtigt und es veranlasste mich daher, die Umarbeitung des Stückes in Angriff zu nehmen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ich müsse, um .Christine' umgestalten zu können, eine kleine Reise machen. Wohin, das war mir gleichgültig. Ich fand bald, was ich suchte, das heißt eine Post nach Le Havre, deren Kupee frei war. Damals brauchte man noch volle 20 Stunden, um von Paris nach Le Havre zu gelangen, aber das war mir gerade recht. Wenn mir auf einer solchen Fahrt die Gedanken nicht massenweise zuströmen, dann kommen sie wohl niemals. Ich trat also frohen Mutes meine Reise an. Als ich in Le Havre ankam, war die Umarbeitung meines Stückes in Gedanken bereits fertig. Die Teilung des Schauplatzes in Stockholm, Fontainebleau und Rom war gefunden und die Rolle
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der Paula stand im Geist vor mir. Ich musste das Stück natürlich ganz neu schreiben, denn von der ersten Fassung konnte nur sehr wenig übernommen werden. Es drängte mich so sehr, mich an diese Arbeit zu machen, daß ich beinahe wieder nach Paris zurückgereist wäre, ohne das Meer gesehen zu haben. Ich hielt mich in Le Havre nur so lange auf, um eine Portion Austern zu essen, einen Spaziergang am Meeresufer zu machen und zwei Porzellanvasen zu kaufen, die man in Paris viel wohlfeiler bekommt. Dann trat ich wieder die Heimreise an. In 72 Stunden hatte ich meine Reise gemacht und nebenbei auch noch mein Stück umgearbeitet. Man wird diese Laune, plötzlich auf und davon zu fahren, etwas sonderbar finden. Aber ich bin nun einmal so veranlagt, und obwohl ich schnell und leicht arbeite, so habe ich beizeiten doch eine solche Zwangsvorstellung und ich bringe nichts zustande, ehe ich sie nicht befriedigt habe. Als ich meinen „Do Juan von Marana" und später den „Kapitän Paul" schrieb, erging es mir ebenso. Ich bildete mir ein, den Plan zu jenem phantastischen Drama nur umrauscht von lärmender Musik finden zu können. Ich ließ mir von meinem Freund Zimmermann eine Eintrittskarte für das Konservatorium geben. Da setzte ich mich dann in die Ecke einer Loge, in der sich noch drei mir unbekannte Personen befanden, schloss die Augen und während mich die himmlischen Klänge Beethovens und Webers in einen Halbschlummer einwiegten, fand ich binnen zwei Stunden die Hauptszenen meines Dramas. Beim „Kapitän Paul" erging es mir gerade umgekehrt. Ich sehnte mich hinaus auf das offene Meer, nach einem weiten, unbegrenzten Horizont, nach den wandernden Wolken, nach lauen Lüften, die an Masten und Segeln hinstreichen. Ich ließ während meiner Reise in Sizilien mein kleines Fahrzeug am Eingang der Meerenge von Messina zwei Stunden vor Anker liegen. Zwei Tage darauf war mein „Kapitän Paul" fertig. Bei meiner Rückkehr von Le Havre lag ein Brief von Victor Hugo auf meinem Tisch. Der Erfolg meines „Heinrich III." ließ ihn nicht schlafen. Auch er hatte ein Drama geschrieben und bat mich zu Deveria zu kommen, wo er es vorlesen wolle. Das Drama hieß „Marion Delorme". Ich verdankte „Marion Delorme" nicht nur einen unbeschreiblichen Genuss, sondern auch einen unberechenbaren Vorteil. Unbekannte Gesichtskreise erschlossen sich meinem geistigen Auge, ich lernte den Bau der Verse kennen, von dem ich früher keine Ahnung gehabt und fasste hier den ersten Entschluss, meinen „Antony" zu schreiben. Gleich am folgenden Tage nahm ich das Manuskript meiner „Christine" vor und ging mit unerhörtem Eifer an die Arbeit. Die Musik der Verse, die ich tags zuvor gehört hatte, lag mir noch im Ohr und stieg allmählich in meine Seele hinab, wo sie noch lange fortklang. Ungefähr einen Monat, nachdem Soulies „Christine" so schmählich durchgefallen war, war die meine in ihrer gegenwärtigen Gestalt fertig, Ich begab mich noch am gleichen Tag zum Direktor des Theatre Francais mit dem Brief des Komitees in der Hand
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und verlangte, daß mein Stück sofort einstudiert werde. Der Direktor, ein gelbhäutiger, großäugiger Mulatte, dessen Namen ich vergessen habe, versprach mir, die Sache am nächsten Tag dem Komitee vorzutragen. Das Komitee verlangte eine nochmalige Vorlesung. Darauf ging ich nicht ein. Es war mein erster Konflikt mit dem Theatre Francais. Am gleichen Tag erhielt ich von Harel*) folgendes Schreiben: „Mein lieber Dumas, was sagen Sie zu dem Einfall der Georges: Ihre .Christine' soll ohne Aufschub auf derselben Bühne und mit denselben Künstlern aufgeführt werden, die Soulies .Christine' gespielt haben. Die Bedingungen haben Sie zu stellen. Haben Sie keine Hemmungen, daß Sie dadurch das Stück eines Freundes totschlagen. Es ist ohnedies schon längst selig im Herrn entschlafen. Ihr ergebener Harel
Ich rief meinen Diener und schrieb an den Rand des Briefes folgende Worte: „Mein lieber Frederic, lies diesen Brief. Welch ein Halunke ist doch Dein Freund Harel! Stets der Deine
Alexander Dumas s ,"
Mein Diener trug den Brief zu Soulie und brachte ihn mir eine halbe Stunde später wieder zurück; Soulie hatte seine Antwort an den unteren Rand geschrieben: „Mein lieber Dumas, Harel ist nicht mein Freund. Er ist Theaterdirektor. Er ist auch kein Halunke, sondern Geschäftsmann. Ich würde ja nicht so handeln wie er, aber ich würde es ihm doch raten. Lese die Fetzen meiner .Christine' auf — Du wirst viele und nicht ganz wertlose finden — wirf sie in den Sack des nächstbesten Lumpensammlers und lasse Dein Stück aufführen. Stets der Deine Frederic Soulie."
Nachdem Soulie mich ermächtigt hatte, mein Stück auf Harels Bühne aufführen zu lassen, hatte ich keinen Grund mehr, sein Anerbieten abzulehnen. Die einzige Bedingung, die ich stellte, war die, daß das Stück binnen sechs Wochen zur Aufführung gelange. Die Vorlesung vorm Komitee der Schauspieler hatte großen Erfolg. Aber Harel kam am nächsten Morgen zu mir, um mir vorzuschlagen, meine „Christine" in Prosa umzuarbeiten. Ich lachte ihm ins Gesicht, und ich wies ihm die Tür. *) Harel, ein Neffe des Dichters Luce de Lanceval, war zuerst Sekretär des Reichserzkanzlers Cambaceres. Als Freund der Georges, wandte er sich nach Napoleons Sturz (er war als Bonapartist eine Zeitlang verbannt und lebte in Brüssel} dem Theater zu und wurde Direktor des Odeon und der Porte Saint-Martin.
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Zwei Tage darauf wurde die Leseprobe abgehalten, als ob zwischen uns nicht das mindeste vorgefallen wäre. Das Stück war wunderbar besetzt: die Georges als Christine. Da kam plötzlich vom Ministerium die Nachricht, das Stück sei verboten worden. Erst „Marion Delorme" und jetzt „Christine" — die Zensur schien so recht auf den Geschmack zu kommen. Ich wartete ruhig ab. Es blieb mir keine andere Waffe als die Geduld. Eines Tages machte ich einen Spaziergang über die Boulevards. Plötzlich blieb ich stehen und überlegte: „Ein Mann, der in dem Augenblick, wo er von dem Gatten seiner Geliebten überrascht wird, diese tötet, weil sie sich ihm angeblich verweigert hat, und der wegen dieses Mordes hingerichtet wird, rettet die Ehre der Frau und sühnt das eigene Verbrechen." Die Idee des „Antony" war gefunden. Was den Charakter des Helden betrifft, so habe ich seine Grundzüge dem Didier aus „Marion Delorme" entnommen. Sechs Wochen später war „Antony" fertig.Ich las das Stück im Theatre Francais vor. Es fand nur sehr mäßigen Beifall. Die Hauptrollen hatte ich der Mars und Firmin zugedacht, aber ich merkte, daß es ihnen lieber gewesen wäre, wenn ich mir andere Darsteller gewählt hätte.Ich reichte das Stück der Zensur ein. Es wurde verboten, wahrscheinlich damit die „Christine" Gesellschaft bekam. Doch dem sei wie da wolle — mag sich nachträglich ein gewisses Schamgefühl der Zensur bemächtigt oder sich unter der Hand ein Freund für mich verwendet oder Harel beim Ministerium wirklich so viel Einfluss gehabt haben, wie er vorgab, genug — anfangs März wurde „Christine" ohne bedeutende Abänderungen freigegeben. So nahmen die unterbrochenen Proben wieder ihren regelmäßigen Fortgang. Zu der Zeit, als ich an „Christine" arbeitete, hatte ich ein Erlebnis, das mir gerade wieder einfällt und das daher an dieser Stelle stehen möge. In der Welt der Pariser Boheme lebte damals ein hochaufgeschossener, hagerer Jüngling, der ein wenig verrückt war. Er hieß Lassailly und war der Sohn eines Apothekers in Orleans. In Paris spielte er den kleinen Don Juan bei Zimmermädchen und Portierstöchtern, die er in seinen Elegien und Sonetten in Baroninnen und Herzoginnen verwandelte. Es gibt Menschen, die die sonderbare Begabung besitzen, auch die schmerzlichsten Vorgänge ins Groteske zu verzerren. Lassailly war einer der Begabtesten unter diesen Vertretern des Lächerlichen. Ich lag noch im Bett und schrieb gerade die erste Szene zwischen Paula und Monaldeschi, da hörte ich, wie die Tür meines Salons aufging und ein heulender Mensch sich meinem Schlafzimmer näherte. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und ein Mann stürzte herein. Er fiel zu Boden, raufte sich die Haare und wälzte sich auf dem Teppich herum. Ich war so erschrocken, daß ich schon nach meinen Pistolen greifen wollte. Da erkannte ich Lassailly. Ich verlangte von
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ihm Rechenschaft über sein reichlich seltsames und mir völlig unverständliches Benehmen. Das Possenspiel hatte einen traurigen Hintergrund. Der Vater des armen Teufels hatte sich ertränkt. Die Leiche war gelandet worden und nun im Schauhaus in Orleans ausgestellt, wo sie nur gegen Bezahlung der üblichen Gebühren den Angehörigen zur Bestattung ausgeliefert wurde. Lassailly wollte dieses Geld von mir leihen, da er nichts hatte. Beim Anblick eines Sohnes, der seinen unter so tragischen Umständen verstorbenen Vater beweinte, sah ich nicht mehr die Lächerlichkeit, mit der er in übertriebenem Maße seinen vielleicht aufrichtigen Schmerz äußerte, sondern
nur
das
wirkliche,
nicht
wieder
gutzumachende
Unglück,
einen
bleichen,
wassertriefenden Leichnam auf den feuchten Steinfliesen des Schauhauses liegen. Ich versuchte Lassailly gar nicht erst zu trösten, sondern sagte zu ihm: „Lieber Freund, da muss sofort etwas geschehen. Sie wollen nach Orleans, um Ihren Vater zu begraben. Zu diesem Zweck wollen Sie 100 Franken haben. Ich befürchte, daß das nicht reicht, und ich möchte Ihnen daher gern das Doppelte geben. Ich kann Ihnen aber leider nicht mehr anbieten, als ich selbst besitze. In dem Kasten dort müssen 13 5 Franken liegen. Nehmen Sie davon 130 und lassen Sie mir fünf." Lassailly wollte sich in meine Arme werfen und mich küssen. Er nannte mich seinen Retter. Ich schob ihn sanft zurück, und deutete auf den Kasten. Er nahm das Geld heraus und verschwand. Ein paar Wochen später erhielt ich die erste Nummer einer Zeitschrift. Ein Kritiker erklärte darin, es sei angebracht, einmal die Wahrheit über verschiedene Berühmtheiten zu sagen, deren falscher Ruhm über Nacht entstanden sei. Er werde diesen Größen den Platz anweisen, der ihnen gebühre. Den Reigen dieser literarischen Hinrichtungen werde er mit Alexander Dumas eröffnen. Als Verfasser dieser Ankündigung zeichnete — Lassailly. Der Freund, der mir diese Zeitung brachte, wusste, was ich kurz zuvor für Lassailly getan hatte. Er fragte empört: „Was sagen Sie zu dieser Gemeinheit? Für den Artikel hat er 100 Franken bekommen." „Der arme Teufel wird das Geld gebraucht haben. Vielleicht hat er auch noch seine Mutter begraben müssen", erwiderte ich. Und legte die Zeitung in den Kasten, aus dem Lassailly das Geld genommen hatte, das er mir übrigens niemals zurückgegeben hat. Trotz all dieser Plackereien besuchte ich fleißig die Bibliothek des Palais-Royal und hatte dort eine sehr interessante Bekanntschaft gemacht, nämlich die des Herzogs von Chartres*). Der Herzog von Chartres sah in mir einen jungen Mann, der ihm an Jahren nahe oder wenigstens nicht allzu fern stand, und so oft er entwischen konnte, eilte er in die Bibliothek, um mit mir zu plaudern. Das Gespräch ging jedoch bald von der Kunst auf die Künstler, vom Stück auf die Schauspieler über, und wir sprachen wenigstens ebenso
*) Der Herzog von Chartres (geb. 1810), der älteste Sohn Louis Philipps, seit 1830 Herzog von Orleans und französischer Kronprinz, war ein vertrauter Freund Dumas'.
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viel von Virginie Bourbier, Luise Despreaux, Alexandrine Noblet und Leontine Fay als von „Heinrich III." und „Christine". Aber unsere Unterredungen währten in der Regel nur kurze Zeit. Gewöhnlich hörten wir schon nach ein paar Minuten den Herzog von Orleans oder sonst jemand, der nach dem Herzog von Chartres rief. Der Herzog, der sogar später als Mann noch vor dem König zitterte, schlüpfte dann rasch durch eine Seitentür hinaus und flüsterte mir noch in Eile zu: „Ach, Herr Dumas, sagen Sie nicht, daß ich bei Ihnen war." Kurz vor der Aufführung meiner „Christine" kam er wieder und äußerte den Wunsch, in Begleitung seiner beiden jüngeren Brüder der Aufführung meines zweiten Dramas beizuwohnen, aber, setzte er hinzu, er fürchte, der Herzog von Orleans werde ihm die Bitte nicht gewähren. Und was wollte der junge Mensch von mir? Er bat mich, bei seinem Vater Fürsprache einzulegen. Mit innigem Vergnügen übernahm ich diese Aufgabe, und sobald ich Seine Königliche Hoheit wie dersah, brachte ich mein Anliegen vor. Der Prinz ließ zwei oder drei „Hm, Hm" vernehmen, was bedeuten sollte, daß einem Stück, das von der Zensur beanstandet wurde, doch nicht recht zu trauen sei. Aber ich beruhigte ihn, so gut ich konnte, und drang so lange in ihn, bis er mir versprach, dem Wunsch der jungen Prinzen zu willfahren. Am folgenden Donnerstag war ich wieder in der Bibliothek. Ich vermutete, daß mich der Herzog von Chartres besuchen würde. Er kam auch, aber in Begleitung des Herrn von Boismilon. Dennoch fand er Gelegenheit, in einem unbewachten Augenblick mir zuzuflüstern: „Wir dürfen ins Theater gehen. Ich danke Ihnen." Harel hielt, um der bevorstehenden Aufführung der „Christine" einen feierlichen Anstrich zu verleihen, sein Theater wiederholt „wegen Vorbereitungen" geschlossen —, ein damals noch ziemlich unbekanntes Mittel, um das Publikum zu ködern. Am Tag der Generalprobe bat Soulie mich um eine Eintrittskarte für die Probe. Ich schickte ihm sofort eine für seine Person und für alle, die er mitnehmen wollte.Nach dem fünften Akt verließ ich das Orchester und ging auf Soulie zu. Er war tief ergriffen und streckte mir die Hände entgegen. Ich fiel ihm gerührt um den Hals. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, einem Menschen kühl zu begegnen, den ich recht von Herzen liebte und dessen Talent ich aufrichtig bewunderte.„Du hast recht gehabt", begann er nach einer Weile, „deine .Christine' allein zu schreiben. Sie ist ein prächtiges Werk, und wenn es auch hier und da noch an der Technik hapert, das tut nichts, Technik lässt sich lernen. Du wirst einst die Bühne beherrschen, und wir andern werden dann deine ergebenen Diener sein." „Geh, geh, lieber Freund", entgegnete ich, „du bist wohl nicht recht gescheit." — „Auf Ehre, ich spreche, wie ich denke. Ich will zwar nicht behaupten, daß es mir ein besonderes Vergnügen macht, dir das zu sagen, aber es ist so, lieber Freund." Ich dankte ihm für die Teilnahme.
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„Aber jetzt lass uns ein ernstes Wort reden", fuhr er fort. „Ich weiß, daß gegen dein Stück eine große Kabale im Gang ist und daß man dir morgen Abend gehörig zusetzen will." — „Das dachte ich mir." — „Hast du noch fünfzig Parterrekarten zu deiner Verfügung?" — „Ja." — „Dann gib sie mir. Ich komme mit meinen Arbeitern aus dem Sägewerk, und daß wir dich tapfer unterstützen werden, darauf kannst du dich verlassen." Ich gab ihm ungezählt ein Paket Eintrittskarten und eilte auf die Bühne, wo ich verlangt wurde. Ist es nicht ein rührender Zug von Kameradschaft und Vertrauen, daß dieser Mann, dem drei oder vier Monate zuvor ein Stück unter demselben Titel, auf derselben Bühne ausgepfiffen wurde, von seinem Rivalen fünfzig Eintrittskarten verlangte, um ein Stück zu unterstützen, dessen Erfolg das Misslingen des seinen nur noch eigens bestätigte? Wir haben uns vielleicht beide lächerlich gemacht, aber wir haben jedenfalls bewiesen, daß wir ehrliche Leute waren und uns auch dafür hielten. Tags darauf gelangte das Stück zur Uraufführung. Soulie hatte nicht gelogen. Man hatte — wer, davon habe ich auch nicht die leiseste Ahnung, vielleicht hatte die ganze Sache auch keinen anderen Urheber als den gemeinsamen Neid —, man hatte in der Tat eine furchtbare Kabale vorbereitet. Wie gewöhnlich wohnte ich der ersten Aufführung meines Stückes in einer Loge bei. Deshalb entging mir keine Einzelheit dieser furchtbaren Schlacht, die sieben volle Stunden währte, in der das Stück, zehnmal zu Boden geschlagen, sich zehnmal wieder aufraffte, bis das Publikum endlich um zwei Uhr morgens keuchend, überrascht, von Schauder und Entsetzen durchbebt, vor dem herabrollenden Vorhang stand. Während der ganzen Vorstellung ließ ich Soulie nicht aus den Augen. Er hatte sich mit seinen fünfzig Arbeitern pünktlich eingefunden. Ich selber hätte, wenn ich maskiert im Theater gewesen wäre, für mein Stück sicher nicht so viel tun können wie er. Die Zuschauer verließen das Theater, ohne daß jemand zu sagen vermochte, ob „Christine" gefallen hatte oder durchgefallen war. Zum Abendessen hatte ich einige Freunde geladen. Wir kamen, wenn auch nicht siegestrunken, doch jedenfalls kampferhitzt nach Hause. Da muss ich gleich einen Vorgang schildern, der ein Gegenstück zu Soulies' Haltung bildet und in der Literaturgeschichte wohl einzig dasteht. In meinem Stück mussten etwa hundert Verse geändert werden, die bei der ersten Aufführung beanstandet wurden. Bei den folgenden Aufführungen mussten sie den Unwillen des Publikums nur noch mehr steigern. Überdies fanden sich in dem Stück noch zehn oder zwölf Stellen, deren Streichung durch gewandte und doch liebevolle Hände vollzogen werden musste. Das alles musste noch im Laufe der Nacht geschehen, damit das Manuskript am folgenden Morgen wieder abgeliefert, die Änderungen bis Mittag einstudiert und das Stück am Abend wieder gespielt werden konnte. Ich hatte im Augenblick den Hunger und Durst von fünfundzwanzig
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Gästen zu stillen und konnte mich also unmöglich an die Arbeit machen. Hugo und Vigny nahmen das Manuskript, baten, mich um die Sache nicht weiter zu kümmern, schlössen sich ein, und, während wir anderen aßen, tranken und sangen, arbeiteten sie vier Stunden ununterbrochen mit einer Gewissenhaftigkeit, als geschehe es für sich selbst. Als sie bei Tagesanbruch kamen, fanden sie uns alle in tiefen Schlaf versunken. Da legten sie das für die Aufführung spielfertige Manuskript auf den Kamin, und, ohne jemand zu wecken, gingen die beiden Rivalen Arm in Arm von dannen, als ob sie Brüder wären. Am folgenden Morgen weckte uns der Verleger Barba aus dem Schlaf. Er kam, um mir für das Manuskript meiner „Christine" 12 OOO Franken, also doppelt soviel zu bieten, als ich für meinen „Heinrich III." erhalten hatte. Nun durfte ich wohl annehmen, daß mein Stück gefallen hatte. Bruder und Schwester in Apoll Die Proben meiner „Christine'" öffneten mir das Haus der Georges, wie mir die meines „Heinrich III." das der Mars geöffnet hatten. Das Haus meiner lieben guten Georges*) — Rue Madame Nr. 72 — war in jeder Beziehung höchst originell, vor allem um seiner Bewohner willen. Im obersten Stockwerk, eigentlich in den Mansarden, wohnte Jules Janin.**) Im zweiten Stock Harel. Im ersten und im Parterre die Georges mit ihren Schwestern und Neffen. Der eine dieser beiden Neffen, der den Namen Harel trägt, paradierte lange in Paris wie in der Provinz als stereotype Figur auf den Theaterzetteln neben seiner Tante, der er beinahe unentbehrlich geworden war. Fünf oder sechs Jahre hindurch hieß es fortwährend auf dem Zettel: „Der kleine zehnjährige Tom wird die Ehre haben, in der Rolle des . . . aufzutreten." Die Rolle wechselte, nur das Alter änderte sich nicht. Der kleine Tom blieb immer zehn Jahre.Um übrigens dem kleinen Tom Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss ich bemerken, daß er das Theater von Heizen verabscheute. Jedes Mal, wenn er auftreten musste, murmelte er zwischen den Zähnen: „Verfluchtes Theater! Wenn nur der Blitz einmal hineinschlagen wollte." — „Was sagst du, Tom?" fragte die Georges. — „Nichts, liebe Tante, ich wiederhole nur meine Rolle", entgegnete Tom.Sein Bruder Paul, genannt der kleine Popol, war seinem Äußeren nach ein ungemein drolliges Kerlchen. Ein hübscher Kopf mit schönen schwarzen Augen und langem kastanienbraunem Haar saß auf einem verhältnismäßig viel zu kleinen Körper. Dieses Missverhältnis verlieh der ganzen äußeren Erscheinung des Kindes etwas ungemein Groteskes. *) Georges Weymer (1786—1867) war neben der Mars die hervorragendste Schauspielerin des ersten Kaiserreiches. Als Schülerin der Rancourt debütierte sie 1802 als Klytämnestra in „Iphigenie in Aulis". Napoleon, der der Aufführung beiwohnte, interessierte sich für die sechzehnjährige Schönheit, die bald seine Geliebte wurde. **) Jules Janin (1804—1874), bedeutender Kritiker und Feuilletonist.
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Dabei war der Knabe jedoch sehr witzig und ein großes Leckermaul. Er wäre, im Gegensatz zu seinem Bruder Tom, sein ganzes Leben lang auf der Bühne geblieben, wenn es dort nur etwas zu essen gegeben hätte. Zu der Zeit, als ich ihn kennen lernte, war er noch ein Knirps von sechs oder sieben Jahren und hatte es doch schon durch allerlei scharfsinnige Schliche fertiggebracht, in dem Cafe an der Ecke der Rue de Vaugirard und Rue Moliere, Kuchen und Gebäck auf Kredit zu bekommen. Eines schönen Morgens zeigte es sich, daß sich die Rechnung des kleinen Popol auf 100 Taler belief. In drei Monaten hatte er auf Rechnung von Mutter und Tante für 300 Franken Bavaroise und Milchreis geholt und in aller Heimlichkeit vertilgt. Der kleine Gauch wollte nie ein Gebet lernen, was dem Voltarianer Harel viel Spaß machte. Als die Cholera ausbrach, fiel allgemein auf, daß der kleine Popol morgens und abends ein Gebet hersagte, das er in Anbetracht der Umstände selbst erdacht hatte. Um zu hören, was der Kleine betete, versteckten sich seine Angehörigen und vernahmen nun folgendes Gebet: „Lieber, guter Gott, nimm meine Tante Georges, meinen Onkel Harel, meinen Bruder Tom, Mama Bebelle und meinen Freund Provost zu dir und lasse nur den kleinen Popol und die Köchin am Leben." Aber dieses Gebet, so inbrünstig es auch war, brachte dem armen Knaben doch kein Glück. Er wurde von der Cholera befallen und starb, nachdem die Seuche am selben Tag bereits 1500 Opfer hinweggerafft hatte. Die Georges war damals ungefähr 41 und ein wunderbar schönes Weib. Sie hatte Hände, Arme, Nacken, Schultern, Zähne und Augen, deren Pracht sich nur bewundern, nicht beschreiben ließ. Aber wie bei der schönen Fee Melusine war auch ihr Gang etwas unbeholfen, warum, weiß ich nicht, denn sie besaß einen Fuß, der ihrer Hand vollkommen würdig war, und diese Unbeholfenheit wurde durch die übertriebene Länge ihrer Kleider noch erhöht. Wenn es sich nicht um Theaterangelegenheiten handelte, denn für ihre Kunst zeigte die Georges stets größte Dienstbereitschaft, war sie von einer geradezu unglaublichen Trägheit. Groß, majestätisch im Bewusstsein ihrer Schönheit, der zwei Kaiser und drei oder vier Könige gehuldigt hatten, lag sie gewöhnlich auf einem prächtigen Ruhebett, im Winter in Samt oder indischem Kaschmir, im Sommer in Batist oder Musselin gekleidet. So empfing sie ihre Gäste bald mit dem erhabenen Ernst einer römischen Matrone, bald mit dem schalkhaften Lächeln einer griechischen Kurtisane, während aus den Falten ihres Kleides die Köpfe zweier Windhunde edelster Rasse hervorlugten.
Die Reinlichkeit der Georges war sprichwörtlich. Sie machte erst Toilette, bevor sie ins Bad ging, um das Wasser nicht zu verunreinigen, in dem sie eine Stunde verweilte. Dort empfing sie nur ihre vertrautesten Besuche. Von Zeit zu Zeit steckte sie mit goldenen Nadeln das Haar fest, das sich immer wieder löste und ihr Gelegenheit gab, ihre prächtigen Arme aus dem Wasser zu
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erheben und ihren Hals zu zeigen, der aus karrarischem Marmor gemeißelt schien. Diese Bewegungen, die bei jeder anderen Frau herausfordernd und unzüchtig gewirkt hätten, waren bei der Georges einfach und natürlich wie die einer Griechin aus der Zeit Homers oder Phidias'. Schön wie ein Marmorbild, schien sie auch ebenso wenig wie ein solches ihre Nacktheit anstößig zu finden, und sie wäre gewiss erstaunt gewesen, wenn ein eifersüchtiger Liebhaber ihr verboten hätte, sich so sehen zu lassen, wie ihre prächtigen Schultern und ihr schneeweißer Busen sich aus dem Wasser emporhoben. Das Gegenteil davon war Harel. Für ihn war die Reinlichkeit ein ungeheures Opfer, das er nur ungern und gezwungen brachte. Darum erklärte auch die Georges, die ihn anbetete und diesen genialen Mann keinen Augenblick missen konnte, ihren Besuchern, sie liebe nur das Genie des Mannes, mit allem übrigen könne er machen, was er wolle. Wenn Harel die Georges von ihren sauber gewaschenen und gekämmten Hunden umgeben auf dem Sofa liegen sah, wurde jedes Mal ein lang gehegter, aber noch immer nicht erfüllter Wunsch in seinem Herzen rege. Auch er sehnte sich nach einem Lieblingstier, und zwar nach einem — Schwein. Seiner Ansicht nach war der Heilige Antonius der glücklichste aller Heiligen, und auch Harel hätte sich gleich ihm in die Wildnis zurückgezogen, wenn die Vorsehung ihm einen ähnlichen Gefährten gegönnt hätte.
An seinem Namenstag wollten die Georges und ich ihm endlich seinen Wunsch erfüllen. Für 22 Franken kauften wir ein drei Monate altes Schweinchen, setzten ihm ein Diadem auf, banden ihm an der Seite einen Rosenstrauß fest, schmückten seine Pfoten mit Schuhen und führten es dann ins Speisezimmer, wo Harel mit Lockroy und Janin in eifrigem Gespräch verharrte. Bei den melodischen Tönen, die der unerwartete Gast von sich gab, eilte Harel ihm entgegen. Das Schwein hatte einen Glückwunsch in der Pfote, die es Harel hinstreckte. Dieser ahnte sogleich, daß der liebenswürdige Vierfüßler für ihn bestimmt war. Er stürzte auf das Schwein zu, drückte es an sein Herz, streichelte ihm den Rüssel, ließ es dann neben sich auf Popols Rollstuhl setzen und fütterte es mit allerlei Naschwerk. Harel gab seinem Lieblingstier auch sofort einen Namen, und zwar den höchst wohlklingenden Piaff-Piaff. Noch am selben Abend nahm Harel Piaff-Piaff in seine Wohnung im zweiten Stock mit, und da niemand daran gedacht hatte, worauf das arme Tier liegen sollte, bereitete er ihm aus einem Samtkleid der Georges ein Lager. Diese Vorliebe für sein Schwein artete allmählich in förmliche Raserei aus. Einmal sagte er mir bei der Probe: „Das werden Sie wohl nicht glauben, lieber Freund! Ich liebe mein Schwein so sehr, daß ich mit ihm zusammen schlafe." „Nun, sehen Sie", entgegnete ich, „ich habe vorhin Ihr Schwein getroffen, das hat mir dasselbe gesagt."
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Ich glaube, das war die einzige Antwort, auf die Harel nichts zu erwidern wusste. Aber es erging uns mit Piaff-Piaff wie mit allen verhätschelten Tieren. Es wurde sich seiner Macht bewusst, missbrauchte sie so lange, bis es endlich einmal recht übel ankam. Piaff-Piaff hatte gute Kost, gutes Lager und gute Pflege, und brachte es somit nach und nach auf das erkleckliche Gewicht von 150 Pfund. In einem Kriegsrat, von dem Harel ausgeschlossen war, wurde der Entschluss gefasst, daß Piaff-Piaff in Gestalt von Würsten und Schinken nutzbar gemacht werden sollte, sobald es 200 Pfund wiegen würde. Zu allem Unglück richtete Piaff-Piaff auch noch täglich irgendeine neue Unordnung an und beschleunigte somit seinen Untergang, obwohl andererseits Harels Vorliebe für das Tier den Vollzug des Beschlusses immer wieder hinausschob. Eines Tages schnüffelte Piaff-Piaff an den Stäben einer Voliere herum, in der sich ein Goldfasan befand, den ich Tom geschenkt hatte. Der unglückselige Fasan steckte den Hals zwischen den Stäben heraus, um ein davor liegendes Korn aufzupicken. Aber auch Piaff-Piaff streckte seinen Rüssel vor und biss dem armen Fasan den Kopf ab. Der kleine Tom, der dabeistand, schlug einen Höllenlärm über diesen Mord. Solange Piaff-Piaff klug war, mit dem kleinen Tom keine Händel anzufangen, fanden sich trotz der Unzahl seiner Missetaten immer wieder mildernde Umstände. Jetzt aber gab es für den Sünder keine Gnade mehr. Die Georges erklärte energisch, er habe das Dasein verwirkt. Niemand, selbst Janin wagte es nicht, gegen diesen Urteilsspruch Einspruch zu erheben. Nachdem das Urteil gefällt war, benutzte man Harels Abwesenheit zur Vollstreckung und ließ den Metzger kommen. Fünf Minuten darauf schrie Piaff-Piaff, daß man es bis ans andere Ende des Stadtviertels hörte. An der Haustür stand ein Posten, um Harel aufzuhalten, wenn er zufällig vor Beendigung der Exekution kommen sollte, nur wurde dabei vergessen, daß vom Garten aus eine Tür nach dem Luxembourg führte und daß Harel auch durch diese Tür hereinkommen könnte. In dem Augenblick, als Piaff-Piaff jene Schmerzenslaute von sich gab, die den Eintritt des Todeskampfes anzeigen, ging plötzlich die Tür auf und Harel erschien. „Was hat man meinem armen Piaff-Piaff getan?" schrie er. „Höre mal", entgegnete die Georges, „dein Piaff-Piaff ist uns allmählich zu lästig geworden." „Mein armes Tier, mein armes Tier", jammerte Harel, „es stirbt, es stirbt!" Dann fuhr er nach einer kurzen Pause fort: „Herr Metzger, vergessen Sie nicht, recht viel Zwiebeln in die Würste zu tun. Ich esse nämlich Zwiebeln für mein Leben gern." Das war die Leichenrede, die Harel seinem geliebten Piaff-Piaff hielt.
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Nach der zweiten Aufführung meiner „Christine" ging ich um ein Uhr nachts über den Odeonplatz. Ich trat aus dem hellerleuchteten Schauspielhaus auf die finstere Straße, aus dem Beifallsrauschen in die nächtliche Stille, aus der idealen Welt der Bühne in die nüchterne des Alltagslebens — als sich plötzlich ein Frauenkopf aus dem Schlag eines Fiakers beugte und meinen Namen rief. Ich kehrte um, der Fiaker hielt. „Sind Sie es, Dumas?" fragte die Dame, die im Wagen saß. — „Zu Ihren Diensten, Madame." — „Nun, so steigen Sie schnell ein und umarmen Sie mich . .. Sie besitzen ein seltenes Talent . . . ., Ihre Frauengestalten sind Meisterwerke." Ich begann zu lachen und umarmte diejenige, die mir dieses Lob spendete. Es war die Dorval*), der ich mit vollem Recht das Kompliment zurückgeben konnte: „Sie besitzen ein seltenes Talent, Ihre Frauengestalten sind Meisterwerke." Der Ausruf der Dorval, als sie mich am Odeonplatz in ihren Wagen nahm, diese Verbrüderung in Apoll, die sie mit einem schwesterlichen Kuss besiegelte, machten mich überglücklich. Um unseren Stolz zu befriedigen, muss das Lob von jemandem kommen, der höher oder wenigstens ebenso hoch steht als wir selbst. Was von oben kommt, ist Ambrosia; der Qualm, der von unten zu uns emporsteigt, nur gewöhnlicher Weihrauch. Michelet**), den ich nie gesehen und nie gesprochen habe, schrieb mir: „Ich liebe und bewundere Sie, denn Sie sind eine wahre Naturkraft (une des forces de la nature)." Dieser Brief freute mich weit inniger, als wenn man mir das Großkreuz der Ehrenlegion verliehen hätte. Der Tanz auf dem Vulkan Eines Tages arbeitete ich in der Bibliothek, als der Herzog von Orleans hereinkam und mit einem Brief in der Hand auf mich zuging. „Hier, lesen Sie, was ich für Sie beantragt habe", sagte er, indem er mir das Schreiben reichte. Es war an den Großkanzler der Ehrenlegion, den Herzog Sosthene de la Rochefoucauld, gerichtet. Wie ich höre, beabsichtigen Sie dem König Herrn Alexander Dumas als Anwärter für die nächste Verleihung von Kreuzen der Ehrenlegion vorzuschlagen. Dumas' Erfolge als Dramatiker scheinen mir eine solche Vergünstigung entschieden zu verdienen, und es wäre mir um so erwünschter, wenn ihm diese Auszeichnung zuteil würde, da der junge Mann seit fast sechs Jahren in meinem Sekretariat und meiner Forstverwaltung angestellt und in ehrenvollster Weise die einzige Stütze seiner Familie ist. Wie ich höre, beabsichtigt er, in Kürze eine Reise *) Marie Dorval (1798—1849), eine der hervorragendsten französischen Schauspielerinnen des 19. Jahrhunderts. Dumas hat ihr in „Les morts vont vite" und in „La derniere annee de Marie Dorval" (1854) ein Denkmal gesetzt, **) Jules Michelet (1798—1874), berühmter französischer Historiker, schrieb eine bändereiche Geschichte Frankreichs und der französischen Revolution, die Dumas für seine Romane oft benutzte.
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durch Nordeuropa zu machen. Ich bin überzeugt, daß er besonderen Wert darauf legt, wenn er noch vor Antritt seiner Reise dekoriert würde. Wäre der 12. April nicht eine passende Gelegenheit, dem König Ihren Vorschlag zu unterbreiten? Auf alle Fälle möchte ich Sie hierdurch auf diese Angelegenheit aufmerksam machen, um Ihnen zu zeigen, welches Interesse ich an Herrn Dumas nehme. Ich
benutze diese Gelegenheit,
um Sie, Herr Herzog, meiner freundschaftlichsten
Gesinnung zu versichern, mit der ich verbleibe Ihr wohlgeneigter Louis-Philippe d'Orleans. Ich wusste zwar, daß ich für die nächste Promotion der Ehrenlegion vorgesehen war, aber daß der Herzog von Orleans sich herablassen würde, sich persönlich für mich zu verwenden, das hätte ich mir nicht einmal im Traum einfallen lassen. Ich errötete, stammelte ein paar Worte des Dankes und fragte den Herzog, wem ich das Glück seiner mächtigen Fürsprache zu verdanken habe. „Einem Freund", antwortete er ausweichend. Mehr konnte ich von ihm nicht erfahren. Leider blieb seine Empfehlung ohne Erfolg. Später erfuhr ich, Monsieur Empis, der Bürochef des königlichen Hauses, habe die gute Absicht des Prinzen und des Herzogs von Larochefoucauld zunichte gemacht. Monsieur Empis betätigte sich nämlich selbst als dramatischer Autor, und zwar huldigte er einer meiner Richtung entgegengesetzten Schule. Er schrieb das an sich ausgezeichnete Schauspiel Mutter und Tochter, das mit Frederic Lemaire in der Hauptrolle im Odeon mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Ich sagte, leider blieben die Bemühungen des Herzogs ohne Erfolg. Denn zu jener Zeit, als man mit der Verleihung der Ehrenlegion noch nicht so freigebig war wie heute, wäre das Kreuz für mich wirklich der schönste Lohn gewesen. Ich war noch jung, voll Glauben, Eifer und Begeisterung und stand erst am Anfang meiner Laufbahn. Wenn man das alles berücksichtigt, wird man verstehen, daß eine solche Auszeichnung mich zu der Zeit wahrhaft beglückt hätte. Leider wissen diejenigen, die zu geben haben, nie, wann sie zur rechten Zeit geben müssten. Das Kreuz, das der Herzog von Orleans 1830 für mich verlangte, erhielt ich erst 1836 vom König Louis-Philippe, und auch da gab es mir nicht er, sondern der Kronprinz, der anlässlich seiner Hochzeit ein Großkreuz, zwei Offizierskreuze und ein Ritterkreuz verleihen durfte. Großkreuz wurde Francois Arago, Offiziere Augustin Thierry und Victor Hugo und Ritter ich. Die Folge war, daß ich das Kreuz nicht im Knopfloch trug, sondern in die Tasche steckte. Warum hatte übrigens die Empfehlung des Herzogs von Orleans versagt? Der Grund liegt sehr nahe: Das Ansehen des Herzogs von' Orleans in den Tuilerien ging in dem Maße zurück, wie seine Volkstümlichkeit zunahm. Oft ließ er vor dem Hof Worte fallen, die nur allzu deutlich eine
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offene Opposition verrieten, denn seit der Ernennung Polignacs zum Ministerpräsidenten rechnete man allgemein mit einer Revolution. Das Vorgefühl einer kommenden Umwälzung lag förmlich in der Luft, und diese Ahnung beherrschte auch mich. Als die Aufführung meiner „Christine" verboten wurde, ersuchte ich Herrn von Lourdoucir, den damaligen Chef der Zensurbehörde, um Freigabe meines Schauspiels. Unsere Unterredung dauerte nur fünf Minuten. Sie wurde von beiden Seiten mit lebhafter Erbitterung geführt. Schließlich sagte Lourdoucir: „Es ist schade um jedes weitere Wort, das wir verlieren. So lange die ältere Linie der Bourbonen am Ruder ist und ich Chef der Zensur bin, bleibt Ihr Stück verboten." — „Gut, dann werde ich eben solange warten
". erwiderte ich und
ging. Ich wartete also ruhig ab, denn es blieb mir keine andere Waffe als die Geduld. Und so verbrachte ich den strengen Winter 1829/30 unbeschwert und in froher Gesellschaft auf Abendveranstaltungen, Künstlerfesten und Kostümbällen. Es ist eine Eigenart der Revolution, daß sie das Volk häufig inmitten von Tanz und Spiel überrascht . . . Am 31. Mai 18 30 gab der Herzog von Orleans im Palais Royal einen Ball zu Ehren seines Schwagers, des Königs von Neapel. Im Vertrauen auf seine Lazzaroni, die eigentliche Macht des Thrones beider Sizilien, kam er zu Besuch nach Frankreich, wo er einige Tage im stillen Familienkreise verleben wollte. Am Hof fand das neapolitanische Königspaar freundliche Aufnahme, dafür war die Pariser Bevölkerung so feindlich gestimmt, daß der Seinepräfekt nicht wagte, den hohen Gästen ein Fest zu geben, da man ihm sonst die Fenster eingeworfen hätte. Wozu der Präfekt nicht den Mut aufbrachte, das durfte sich der Herzog von Orleans unter Berufung auf seine verwandtschaftlichen
Beziehungen
und
im
Vertrauen
auf
seine
ständig
zunehmende
Volkstümlichkeit herausnehmen. Noch blieb allerdings ein großes Problem zu lösen oder vielmehr eine große Begünstigung zu erwirken. Sie bestand darin, Karl X. zum Besuch dieses Festes zu bewegen. Der Herzog von Orleans wusste als genauer Kenner des Hofzeremoniells, daß der König von Frankreich Feste zwar zu geben, aber keine zu besuchen pflegte. Aber der Herzog wiederholte seine Bitte so lange, bis Karl X. sich endlich erweichen ließ und unter der Bedingung einwilligte, daß das Palais Royal eine Stunde vor seinem Erscheinen von einer Kompanie seiner Garde besetzt werden sollte, um ihm für die Dauer der Anwesenheit des Königs den Charakter einer königlichen Residenz zu verleihen. Bei dieser Gelegenheit sollte dem König von Neapel die literarische und künstlerische Prominenz Frankreichs vorgestellt werden. Gleichzeitig sollte auch Karl X. sie zu sehen bekommen, der sie so wenig kannte. Ich wurde offenbar nicht dazu gerechnet, denn mein Name fehlte in der Liste der Eingeladenen. Dagegen erhob der Herzog von Chartres Einspruch, und der treffliche junge Prinz hatte endlich die Freude, mir eine Einladung schicken zu können. Ich war anfangs unschlüssig, ob ich ihr überhaupt Folge leisten sollte, denn der König von Neapel war
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der Sohn des Königs Ferdinand, der meinen Vater durch Gift ermorden lassen wollte. Andererseits durfte ich aber den Herzog von Chartres durch mein Fernbleiben nicht kränken, und so begab ich mich auf den Ball. Als der Herzog von Orleans mich erblickte, kam er auf mich zu. Ich war erstaunt über diesen Beweis von Aufmerksamkeit. Aber der Herzog wollte mir keineswegs eine Gunst erweisen, sondern bloß mir einen Rat erteilen. Seine Königliche Hoheit mutete mir so wenig Vertrautheit mit der höfischen Etikette zu, daß er mir einen Rückhalt geben wollte, um auf dem glatten Parkett des Palais Royal nicht auszugleiten. „Herr Dumas", sagte er, „sollte der König Ihnen zufällig die Ehre erweisen, Sie anzusprechen, so werden Sie wohl wissen, daß Sie weder ,Sire' noch .Majestät', sondern nur einfach ,der König' sagen dürfen." — „Ja, mein Prinz, das weiß ich." — „Wieso wissen Sie das?" — „Seitdem der Usurpator mit ,Sire' und .Majestät' angeredet wurde, sind diese Prädikate für immer entweiht worden. Die Höflinge haben durchaus den scharfsinnigen Schluss gezogen, daß diese Titel auf einen rechtmäßigen König nicht mehr angewandt werden dürfen." „Sehr gut", sagte der Prinz, indem er mir den Rücken kehrte. Am Ton seiner Stimme merkte ich, daß er lieber gesehen hätte, wenn ich weniger gut unterrichtet gewesen wäre. Bald darauf verkündete Trommelwirbel die Ankunft des Königs. Der Herzog von Orleans nahm den Arm der Herzogin, winkte der Prinzessin Adelaide und dem Herzog von Chartres, ihm zu folgen. Er befand sich eben in der großen Vorhalle des Palais Royal, als Karl X., der schon aus dem Wagen gestiegen war, den ersten Fuß auf die Treppe setzte. Alles drängte sich hinter den erlauchten Gästen her, die zwischen einem doppelten Spalier von Garden erschienen, an der Spitze König Karl X., am Arm die Herzogin von Orleans. An der Tür des ersten Salons kamen ihnen König und Königin von Neapel entgegen. Karl X. war damals ein großer, hagerer Greis, das edle Haupt von schönem weißem Haar umkränzt, etwas nach vorn geneigt, das Auge lebhaft und mild, die bourbonische Hakennase, der Mund durch die herabhängende Unterlippe verunstaltet. Im übrigen voll Anmut und Höflichkeit, treuherzig und ehrlich, beharrlich in seiner Freundschaft, gewissenhaft und treu in seinen Schwüren. Er besaß alle Eigenschaften eines Königs bis auf den Mut, alle Eigenschaften eines Ritters bis auf die Begeisterung. Sein Benehmen war erhaben und wahrhaft königlich, wie es seinem ganzen Geschlecht eigen war. Die Vorsicht des Herzogs von Orleans mir gegenüber erwies sich als gänzlich überflüssig. Der König sah mich nicht einmal an. Aber auch ich bemühte mich nicht im geringsten, seinen Blick auf mich zu lenken. Ich hatte, ich leugne es nicht, gegen die Bourbonen der älteren Linie jederzeit eine besondere Abneigung empfunden, und die Toten mussten erst der Geschichte, die Lebenden der Verbannung anheimfallen, ehe ich es über mich gewinnen konnte, ihnen gebührende Gerechtigkeit
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widerfahren zu lassen. Nach der Ankunft des Königs, des Kronprinzen, der Kronprinzessin und der Herzogin von Berry- begann das Fest, von dem Herr von Salvandry zum Herzog von Orleans sagte: „Monseigneur, das ist ein echt neapolitanisches Fest, denn wir tanzen auf einem Vulkan." Es dauerte auch wirklich nicht lange, und der Vulkan sprühte sein erstes Feuer. Es ging vom Palais Royal aus, dem alten Krater von 1789, den man seit fünfunddreißig Jahren für erloschen hielt, während er nur etwas ausgeruht hatte. Ich war dabei, ich sah die ersten Funken fliegen und kann daher als Augenzeuge davon erzählen. Ich ging auf die Terrasse hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Ich sann eben über die sonderbare Fügung des Zufalls nach, daß ich — schon damals Republikaner — Zeuge eines Festes sein musste, das die Bourbonen von Frankreich, gegen die mein Vater gekämpft hatte, den Bourbonen von Neapel gaben, die ihn vergiftet hatten. Da ertönte plötzlich ein lautes Geschrei, und aus dem Garten des Palais schlugen helle Flammen empor wie von einem Scheiterhaufen. Sie schienen vom Sockel der Statue des Apollo auszugehen. Die zahlreichen Zuschauer, die sich im Garten des Palais Royal drängten, wollten sich für ihren Teil eine Unterhaltung verschaffen. Trotz der Posten hatten junge Leute die Balustraden erstiegen und begannen, einander die Hände reichend und das alte Revolutionslied „Ca ira" singend, einen seltsamen Rundtanz. Mittlerweile schichteten andere junge Leute eine Stuhlpyramide auf und beleuchteten sie, indem sie in jeden Stuhl Lampions stellten. Der eigentliche Schöpfer dieses schwankenden Baues und Anführer des revolutionären Tanzes war ein junger Mann, der durch seinen Tod einige Berühmtheit erlangte. Er hieß Alphonse Signol und nannte sich Schriftsteller. Wenige Tage zuvor hatte er mir ein Drama „Der Lumpensammler" gebracht und mich gebeten, es durchzulesen. Das Stück war nicht schlecht, aber seine Tendenz entsprach nicht meinem Geschmack, so daß ich dem guten Mann nicht einmal einen guten Rat geben konnte. Anfangs ging alles noch gut, bis di e Lampions die Strohsitze der Stühle in Brand setzten. Da war im Nu der lodernde Scheiterhaufen fertig. Daher das Geschrei, der grelle Schein und die Flucht angsterfüllter Weiber durch die Laubgänge des Gartens und die Arkaden der Galerien. Der Tumult zog bald die Aufmerksamkeit aller Gäste auf sich. Plötzlich fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Es war der Herzog von Chartres. Er konnte vor Tumult und Rauch nicht erkennen, um was es sich handelte. Er fragte mich, ob ich es wüsste. Ich musste zwar verneinen, erbot mich aber hinzugehen und mich nach allem genau zu erkundigen. Der Herzog lehnte das Anerbieten ab, jedoch in einer Weise, die wohl merken ließ, daß er es nur aus Diskretion tat. Ich eilte durch die Vorhalle in den Garten und kam eben recht, um Zeuge eines Kampfes zwischen einem jungen Mann und einem Soldaten zu sein. Ich glaubte den jungen Mann zu erkennen und stürzte auf ihn zu, und hatte die Kämpfenden bald getrennt. Ich hatte mich nicht getäuscht. Der
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junge Mann war Signol, der Soldat ein Korporal oder Feldwebel des dritten Garderegiments. Signol war in dem Kampf arg mitgenommen worden und daher außer sich vor Wut. „Warte, Elender", drohte er mit geballter Faust seinem Gegner, „mit dir will ich nichts zu tun haben, aber dem ersten Offizier deines Regiments, der mir begegnet, dem gebe ich eine Ohrfeige, das schwöre ich dir." Ich wollte ihn beschwichtigen. „Nein, nein", schrie er, „ich gelobe es und Sie müssen mein Zeuge sein — nicht wahr, Sie sind mein Zeuge?" Ich sagte ja, um ihn zu beruhigen, und zog ihn dann nach der Rue de Valois fort. Dort fragte ich ihn nach dem Vorfall. Mitten in der Erzählung fragte er, ob ich sein Drama schon gelesen hätte. Ich bejahte die Frage. „Nun, ich komme morgen, um mit Ihnen darüber zu sprechen", sagte er. Dann eilte er, gleichsam als wäre es ihm leid, wenn sich der Tumult in seiner Abwesenheit legen sollte, wieder nach dem Garten des Palais Royal zurück. Ich ließ ihn gehen, denn ich wusste, was ich wissen wollte. Das Ganze war nur ein Dummejungenstreich. Ich erstattete dem Herzog von Chartres ausführlichen Bericht. Die Gäste beruhigten sich wieder, und der Ball nahm seinen Fortgang. Zur Erhöhung der Sicherheit wurde der Garten geräumt, und das Fest dauerte ohne Unterbrechung bis zum Morgen fort. Der König und die königliche Familie hatten sich bereits um Mitternacht zurückgezogen. Am folgenden Morgen wurde ich von Signol geweckt. Er schien mir noch wütender als am Abend zuvor. Jetzt wollte er nicht mehr einen Offizier des dritten Regiments töten, sondern gleich das ganze Regiment vernichten. Da ich diese Mordgier für das erste Zeichen eines entstehenden Wahnsinns hielt, begann ich mit ihm von seinem Melodrama zu sprechen. Nun war er plötzlich ein ganz anderer Mensch. Er hatte das Stück geschrieben, um seiner alten Mutter eine kleine Unterstützung gewähren zu können. Seine ganze Hoffnung klammerte sich also an dieses Werk. Hätte ich mich nicht entschlossen, es noch einmal zu lesen, einiges zu verbessern oder ihm wenigstens Ratschläge zu erteilen, dann hätte er nur zu deutlich erkannt, wie unvollkommen und ungeeignet zur Aufführung sein Drama war. Ich versprach also, den „Lumpensammler" noch einmal durchzulesen und ihm nach Möglichkeit zu helfen. Dann lud ich den Verfasser zum Frühstück ein. Wir trennten uns erst gegen Mittag. Er ging nach dem Theatre Italien, um sich eine Karte für die „Diebische Elster" zu holen, die am Abend gegeben wurde. Ich hatte an diesem Abend ein Stelldichein mit einer sehr hübschen Schauspielerin, die in der Provinz die Rollen der Mars spielte. Dabei wurden so interessante Dinge besprochen, daß ich erst am nächsten Mittags nach Hause kam. Mein Diener sagte mir, der junge Mann, der am vorhergehenden Tag bei mir gefrühstückt hatte, sei um sieben Uhr morgens wieder da gewesen und habe sehr bedauert, mich nicht getroffen zu haben. Er habe dann Papier und Feder verlangt
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und einige Worte aufgeschrieben. Joseph — so hieß mein Diener — übergab mir das Blatt, und ich las: „Signol in einer sehr dringenden Angelegenheit." Ich meinte, es handle sich um sein Drama, und da ich diese Sache nicht für so dringend hielt, wie Signol meinte, da ich überdies ziemlich müde war, legte ich mich schlafen und trug meinem Diener auf, jedem Besucher zu sagen, ich wäre nicht zu Hause. Gegen fünf Uhr erwachte ich und klingelte. Signol war wieder da gewesen und hatte abermals einige Zeilen geschrieben. Ich las: „Lieber Herr Dumas! Morgen werde ich mich mit Leutnant Marulaz vom 3. Garderegiment auf Degen schlagen. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie zum Zeugen nehme und wollte Sie heute morgen bitten, mir diesen Dienst zu erweisen. Sie waren nicht zu Hause, ich musste mir einen andern suchen und habe ihn auch bereits gefunden. Wenn ich falle, nehmen Sie sich meines ,Lumpensammlers' an. Er ist die einzige Hilfsquelle meiner Mutter. Wale et me ama.
A.Signol „
Dieser Brief erfüllte mich den ganzen Tag und die ganze Nacht mit trüben Gedanken. Ich wusste nicht, wo Signol wohnte — wenn er überhaupt eine Wohnung hatte — und konnte also auch nicht zu ihm schicken. Da fiel mir ein, daß ich vielleicht im Cafe des Varietes, wo er ständig einkehrte, etwas über ihn erfahren könnte. Er hatte dort ungefähr vor einem Monat mit Soulie einen Streit angefangen, der mit einem Pistolenduell endete. Es war ungefähr fünf Uhr nachmittags. Mein Freund Rochefort, der ein paar originelle Stücke und Lieder geschrieben hatte, saß an einem Tisch und trank ein Glas Absinth. Als er mich erblickte, kam er mir entgegen. „Oh", sagte er, indem er sich dabei seiner Gewohnheit gemäß seine Nase rieb, „der arme Signol." — „Nun, was ist mit ihm?" — „Er ist tot!" Ich erschrak, obwohl mich die Nachricht eigentlich nicht überraschte. Ich hatte geahnt, was ich soeben mit Bestimmtheit erfuhr. Signol hatte für die Aufführung der „Diebischen Elster" einen Orchestersitz erhalten. Ein Zufall wollte es, daß an diesem Abend ein Offizier des dritten Garderegiments Dienst im Theatre Italien hatte. Ein Platz, vor dem Signols, war leer. Gegen Ende des ersten Aktes kam ein Offizier und besetzte ihn. Es war der Sohn des Generals Marulaz. Der Leutnant vertrat nur einen Freund, der — sonderbare Verkettung der Umstände — eine Verabredung hatte und Marulaz gebeten hatte, statt seiner das Kommando der Theaterwache zu übernehmen. Kaum hatte der Offizier sich niedergesetzt, als er auch schon auf der Lehne des Sitzes zwei Hände fühlte. Sie gehörten Signol. Der Offizier dachte an keine üble Absicht und wartete etwa zehn Minuten. Als die Hände auch dann noch nicht wichen, wandte er sich um und bemerkte Signol mit aller Höflichkeit, daß der Platz für dessen Hände durchaus nicht auf der Lehne eines
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fremden Sitzes sei. Signol zog hierauf wortlos seine Hände zurück. Der junge Gardeoffizier maß der Sache keine Wichtigkeit bei. Als er sich aber später zurücklehnte, fühlte er die beiden Hände wieder an derselben Stelle. Diesmal wartete er nicht, sondern drehte sich um und sagte: „Mein Herr, ich war bereits so frei, Ihnen zu bemerken, daß mir Ihre Hände hier sehr lästig sind. Haben Sie also die Güte, sie in die Tasche zu stecken, wenn Sie keinen anderen Platz dafür wissen, aber legen Sie sie nicht auf die Lehne meines Sitzes." Signol zog die Hände abermals zurück. Aber ehe noch zehn Minuten verflossen waren, fühlte der Gardeoffizier nicht nur die beiden Hände in seinem Nacken, sondern sogar den Kopf des lästigen Hintermannes an seinen Schultern. Diesmal riss ihm die Geduld, er sprang auf, wandte sich um und rief: „Zum Donnerwetter, wenn Sie schon etwas mit mir vorhaben, dann sagen Sie es gefälligst gleich." „Allerdings habe ich etwas mit Ihnen vor", entgegnete Signol und stand gleichfalls auf. „Ich will Sie beleidigen, und wenn Ihnen das, was ich Ihnen bisher getan habe, noch nicht genug ist, so gebe ich Ihnen noch etwas dazu." Und der Wahnsinnige gab Marulaz eine Ohrfeige. Über diesen Schimpf, den er sich nicht erklären konnte, außer sich, griff der junge Offizier mechanisch nach dem Degen und zog ihn halb aus der Scheide. „Seht, seht", schrie nun Signol, „er will mich ermorden." Marulaz stieß den Degen zurück. „Nein, Herr", sagte er dann, „ich will Sie nicht ermorden, aber ich werde Sie töten." Und um ihm vor allem die unverdiente Beschimpfung zurückzugeben, packte ihn Marulaz, der sehr stark war, hob ihn wie ein Kind über die Lehne zu sich herüber und legte ihn vor seine Füße. Der Vorfall rief im ganzen Hause einen furchtbaren Tumult hervor, um so mehr, da die Nachbarn nicht wussten, um was es sich handelte. Da sie nicht wussten, wer recht oder unrecht hatte, ergriffen sie Partei für den Schwächeren, umringten Marulaz und entrissen ihm Signol, der taumelnd und halb erwürgt ins Theatercafe ging. Marulaz folgte ihm dorthin. Es handelte sich hier nicht mehr um einen Kampf, sondern um eine Ehrenrettung. Sie wechselten die Karten und vereinbarten für den folgenden Tag ein Treffen im Wald von Vincennes. Die Zeugen bestimmten als Waffe den Degen. Beim zweiten Gang war Signol entwaffnet. „Mein Herr", rief er zurückweichend, „Sie sehen, ich bin entwaffnet." „Das sehe ich wohl", antwortete Marulaz ruhig, „aber da Sie noch nicht verwundet sind, so nehmen Sie Ihren Degen, und wir fechten weiter." Signol hob seinen Degen wieder auf, zog einen Bindfaden aus der Tasche, mit dem er sich den Griff an die Hand festband, nahm wieder Stellung, fiel aus und brachte seinem Gegner am Arm eine tiefe Wunde bei.
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Als Marulaz das kalte Eisen in seinem Fleisch fühlte und sein Blut fließen sah, geriet er in eine unbeschreibliche Wut. Auch er fiel nun aus, drängte seinen Gegner etwa zwanzig Schritte weit zurück und rannte ihm dann den Degen durch den Leib. Signol stieß einen durchdringenden Schrei aus und war tot, ehe er noch ganz zu Boden gesunken war.„Meine Herren", wandte sich Marulaz an die vier Zeugen, „habe ich ehrlich gehandelt?"Die vier Zeugen verneigten sich zustimmend. Wenn man jemand etwas vorzuwerfen hatte, so war es dem Toten.Ich hatte Signols Manuskript geerbt, eine Abschrift davon befand sich in den Händen des Direktors der Porte-Saint-Martin. Drei oder vier Monate später wohnte ich der Uraufführung von „Victorine oder Nackt bringt Rat" bei. Ich erkannte die Handlung des Lumpensammlers wieder, nur der Rahmen war gefälliger als bei Signol. Einer der Verfasser war Dupeuty, den Namen des anderen habe ich vergessen. Ich suchte Dupeuty auf, gab ihm das Manuskript des „Lumpensammlers" und fragte ihn, ob es gerecht sei, daß der Mutter Signols das Drittel der Einnahme vorenthalten würde, das ihr gebührte. Dupeuty und sein Mitarbeiter wussten nichts von der Existenz dieses Manuskriptes. Den Stoff zu ihrem Vaudeville hatten sie vom Direktor der Porte-Saint-Martin erhalten und ihn dann nach ihrem Geschmack bearbeitet. Als ich sie von der wahren Sachlage in Kenntnis setzte, teilten sie freiwillig, ehrlich und großmütig die Früchte ihrer Arbeit mit Signols Mutter. Vorspiel der Revolution Am 26. Juli um acht Uhr kam Achille Comte in mein Zimmer. „Wissen Sie schon die große Neuigkeit?" — „Nein." — „Die Ordonnanzen*) stehen heute im .Monitcur". Wir werden jetzt interessante Dinge zu sehen bekommen." Ich rief meinen Diener: „Joseph, geh zu meinem Büchsenmacher und hole mir eine Doppelbüchse und zweihundert Patronen." Zwei Stunden später war Joseph mit den verlangten Gegenständen wieder zurück. Ich verschloss Büchse und Patronen sorgfältig und begab mich dann auf die Straße, um frische Luft zu schöpfen. Es war zehn Uhr morgens und das Gesicht der guten Stadt Paris so ruhig, als ob der Moniteur statt der Ordonnanzen die Eröffnung der Jagd berichtet hätte. Comte lachte über meine Befürchtungen. Ich führte ihn in das dritte Stockwerk des Hauses Nr. 7 in der Rue de l'Universite, wo wir frühstücken wollten. Im dritten Stockwerk des Hauses Nr. 7 in der Rue de l'Universite wohnte eine sehr hübsche *) Die sechs berüchtigten Ordonannzen, die die Julirevolution auslösen und den Sturz Karls X. herbeiführen sollten, hoben die Pressefreiheit auf, lösten die Deputiertenkammer auf, schufen ein neues reaktionäres Wahlgesetz und ernannten eine Reihe unpopulärer Ultras zu Staatsräten
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junge Dame, die mich auf meiner geplanten Reise nach Algier begleiten wollte*). Ich werde noch öfter auf diese Bekanntschaft zurückkommen, die mir der Himmel als Trost in meinen trüben Stunden, als eine freundliche Stütze in bedrängter Zeit geschenkt hat. Firmin habe ich sie zu verdanken. Er hatte den Saint-Megrin in der Provinz gespielt und als er nach Paris zurückkehrte, stellte er mir eine treffliche Herzogin von Guise vor, für die er meinen ganzen Einfluss beim Theater in Anspruch nahm. . Meine erste Frage an Firmin war, wie groß und von welcher Art seine Teilnahme für diesen weiblichen Schützling sei. Ich habe stets die Schützlinge meiner Freunde geachtet, und einer so hübschen Frau gegenüber, wie diese „Herzogin von Guise", war meine Frage jedenfalls gerechtfertigt. Firmin antwortete mir, seine Teilnahme sei rein künstlerischer Natur, die meine könne daher sein, was sie wolle. Jetzt sah ich mir meine „Herzogin" etwas näher an und fand, daß sie schwarzes Haar, tiefblaue Augen, eine Nase, schön wie die der Venus von Milo, und Perlenzähne hatte. Es versteht sich von selbst, daß ich mich ihr sogleich völlig zur Verfügung stellte. Die Zeit der Engagementabschlüsse war im April vorüber, und ich lernte Madame S. erst gegen Ende Mai kennen. Meine Empfehlung blieb sonach erfolglos, aber die schöne Herzogin sah ein, daß die Schuld nicht an mir lag. Ich empfahl ihr, vorläufig in Paris zu bleiben. Sie sei jung und könne warten —, an günstigen Gelegenheiten würde es ihr nicht fehlen, wenn sie diese nur geschickt zu ergreifen wisse, und sollte, im schlimmsten Fall, diese Gelegenheit nicht von selbst kommen, so würde ich schon Mittel zu finden wissen, um sie herbeizuführen. Mittlerweile begann ich diese schöne Festung zu belagern. Anfänglich glaubte ich, ich würde wie Achill vor Troja dazu mindestens neun Jahre brauchen. Aber zu meiner Freude täuschte ich mich. Ich brauchte, wie der Herzog von Orleans vor Antwerpen, nicht mehr als drei Wochen. Wenn meine Leserinnen aufrichtig sein wollen, werden sie dasselbe Geständnis ablegen müssen, daß ein drei Wochen dauernder Widerstand sehr ehrenvoll ist, und daß es nur wenige Plätze gibt, die sich so lange halten können. Meine Festung hat sich gehalten und da sie schließlich im Sturm genommen wurde, konnte keine förmliche Kapitulation abgeschlossen werden. *) Dies „allerliebste Frauenzimmer", das Dumas stets „Melanie S.u nennt, war die aus Belgien stammende Schauspielerin Bella Krebsamer. Noch während seines Verhältnisses mit Madame Waldor lernte Dumas die rassige Jüdin kennen. Bella Krebsamer gebar am 7. März 1831 eine Tochter, die auf den Namen Marie Alexandrine getauft wurde. Sie heiratete am 24. April 1856 den Gutsbesitzer Olinde Petel. Die Ehe wurde nach kurzer Dauer geschieden. Marie, die einen ausgesprochen semitischen Typus hatte, war sehr fromm. Sie ging später in ein Kloster, beschäftigte sich mit Malerei und Literatur und veröffentlichte unter dem Namen Marie Alexandre Dumas mehrere Novellen. Zeitlebens stand sie in gutem Einvernehmen mit ihrem Vater, den sie oft besuchte und während seiner Todeskrankheit pflegte. Marie Dumas starb 1880, nach andern schon 1878.
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Um ein Uhr machte ich mit Achille Comte einen Bummel über die Kais. Da aber keine Spur einer Aufregung zu sehen war, trennten wir uns bald wieder und verabredeten uns für den folgenden Tag. Nachmittags war die Stadt ebenso ruhig. Ich ging ins Palais Royal, um etwas zu erfahren, es war aber nicht möglich: der Herzog von Orleans war in Neuilly; der Herzog von Chartres in Joigny an der Spitze seines Regiments; Broval in Villiers, und Oudard hatte niemand gesehen. Dann ging ich ins Cafe du Roi, wo ich auf Etienne Arago stieß, der meine politischen Ansichten teilte. Er stellte mir eine Karte für die Akademie zur Verfügung, wo sein Bruder Francois heute eine Rede halten sollte. Ich war noch nie in der Akademie gewesen und nahm daher sehr gern an.Auf dem Pont des Arts begegneten wir dem uns befreundeten Rechtsanwalt Merneilliod, der uns mitteilte, daß bei der ersten Nachricht von der Veröffentlichung der Ordonnanzen mehrere Journalisten und Deputierte zu Dupin geeilt wären, um von dem berühmten Rechtsgelehrten zu erfahren, ob es möglich wäre, Nachrichten ohne besondere Genehmigung zu veröffentlichen, aber der große Mann habe, statt das Problem zu lösen, nur die eine Antwort gehabt: „Meine Herren, die Kammer ist aufgelöst . . . Ich bin nicht mehr Deputierter . . . " Das war alles, was man von ihm erfahren konnte, worauf die Herren wütend davongeeilt wären. Alle diese Schritte deuteten schon darauf, daß man anfing, Widerstand zu leisten. Etienne Arago äußerte, daß sein Bruder wahrscheinlich nicht sprechen und die Schwierigkeit der Lage vorschützen werde. In der Akademie waren die Unsterblichen in heller Aufregung, sie, die sonst so ruhig in ihren blauen, mit grüner Stickerei versehenen Fräcken dasaßen. Das Gerücht ging, Arago würde nicht sprechen.„Wird er sprechen?" fragte ich Etienne. — „Das werden wir gleich erfahren. Ich sehe ihn dort im Gespräch mit dem Herzog von Ragusa*), einem seiner ältesten Freunde." — „Wir wollen zu ihm. Ich bin neugierig, was der Unterzeichner der Kapitulation von Paris von dem Unterzeichner der Ordonnanzen sagt!" — „Sapperlot, was sonst, als daß heute am 26. Juli 1830 zerstört wurde, was er am 30. März 1814 geschaffen hatte." Als wir endlich bis zu Francois Arago Bahn gebrochen hatten, war der Herzog nicht mehr bei ihm. „Du sahst soeben Marmont, was sagt er?" fragte ihn sein Bruder. — „Er ist wütend! Er sagt, die Leute rennen in ihr Unglück, und er fürchte nur eins, daß er gezwungen werden könnte, für sie den Degen zu ziehen." — „Und was sagst du?" — „Ich, ich sage, daß ich meine Rede nicht halten werde." Cuvier, der gerade vorbeiging, hörte diese Worte, nahm Arago beiseite und drang mit noch mehreren auf ihn ein, um ihn umzustimmen. Arago durfte sich dem Verlangen seiner Freunde nicht widersetzen. Als er bei uns vorüberging, um seinen Platz einzunehmen, sagte er zu Etienne: „Ich werde sprechen, aber sei ruhig. Ich versichere dir, daß *) Marschall Marmont.
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beim Schluss meiner Rede alle denken, es wäre besser, wenn ich nicht gesprochen hätte!" Nachdem wir die Akademie verlassen hatten, wollten wir Erkundigungen über das große Thermometer der Pariser Gemütsstimmung, Börse genannt, einziehen. Die Börse stand auf Gewitter, und die dreiprozentige Rente war von 78 auf 72 Franken gefallen. War es nicht sonderbar, daß am gleichen Tage, zur gleichen Stunde Wissenschaft und Geld ihren Bannfluch aussprachen, daß Akademie und Börse derselben Ansicht waren? Nach dem Diner ging ich zu Adolf von Leuven, dessen Vater Chefredakteur des Courrier war, und traf Frau von Leuven allein an. Sie war in Unruhe, ihr Mann war um zwei Uhr ausgegangen und um sieben Uhr abends noch nicht zurück; sie habe Adolf nach ihm aus geschickt, der sei aber auch nicht wiedergekommen. Nun ging ich an die Suche nach allen beiden und fand sie im Büro des Courrier, wo sie im Namen der Verfassung einen Protest redigierten, der von allen Journalisten unterzeichnet werden sollte. Man drohte mit Steuerstreik. Thiers, der sonst so vorsichtige Politiker, hatte seine Ansicht durchgesetzt, daß der Protest nicht anonym, sondern mit den Unterschriften aller Redakteure erscheinen sollte. Um Mitternacht war der Protest mit den Unterschriften von fünfundvierzig Männern versehen, die ihren Kopf riskierten! Ich hätte auch gern mitgemacht. Da das aber nicht anging, so ging ich um elf Uhr schlafen, nachdem ich mich noch eine Weile in der Rue de l'Universite aufgehalten hatte. Am anderen Morgen machte ich zuerst einen Besuch bei meiner Mutter, die ich seit zwei Tagen nicht gesehen hatte. Ich fürchtete, daß sie sich bei den umlaufenden Gerüchten meinetwegen beunruhigen würde. Meine gute Mutter wohnte damals Rue de l'Ouest Tür an Tür mit der Familie Villenave, die sich ihrer auf das herzlichste annahm. Leider waren aber Villenaves gerade in diesem Augenblick, wo meine Mutter ihre Nachbarin so nötig hatte, nach der Vendee gereist, wo sie ein kleines Gut, la Jarrie, drei Meilen von Clisson entfernt, besaßen. Ich fand meine Mutter völlig beruhigt vor, bis hierher war noch kein Gerücht gedrungen. Ich frühstückte mit ihr und überließ sie dann ihrer behaglichen Ruhe. Ich fuhr dann zu Carrel. Er war das Haupt der jungen Opposition. Ich hatte ihn bei Leuven kennen gelernt. Er war damals achtundzwanzig, von mittlerer Größe, hatte schwarzes Haar und kleine, lebhaft blitzende Augen, eine lange spitze Nase, dünne, etwas bleiche Lippen und eine gelbliche Gesichtsfarbe. Obwohl er sich zu den Grundsätzen des am weitesten vorgeschrittenen Liberalismus bekannte, hatte er die aristokratischsten Gewohnheiten, die man sich denken kann, und zwischen seiner Erscheinung und dem Inhalt seiner Reden bestand der schreiendste Gegensatz. Er trug stets Lackstiefel, eine große schwarze Krawatte, schwarzen Überrock, weiße Pikeeweste und graue Beinkleider. Man sah ihm den ehemaligen Offizier von weitem an. Etwas Militärisches in seinem Benehmen konnte er nie verleugnen.
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Wenn Karl der Große seine Verträge mit dem Schwertknauf siegelte und sie mit der Schärfe seines Schwertes verteidigte, so schienen Carrels Artikel nicht mit einer Feder, sondern mit einem Dolch geschrieben zu sein. Übrigens war Carrels polemischer Stil edel, freimütig und offen, stets bot er dem Gegner die Brust dar. Wir waren sehr intim, obwohl wir uns vielleicht gegenseitig etwas ungerecht beurteilten: er sah in mir zu sehr den Dichter, und ich in ihm zu viel den Soldaten. Ich traf ihn beim Frühstück an. Er hatte den Protest unterschrieben, glaubte aber an keinen anderen als an den gesetzlichen Widerstand. Von einem solchen mit bewaffneter Hand wollte er nichts wissen. Er wollte zu Hause bleiben und den ganzen Tag über arbeiten. Auf mein Drängen aber und besonders, als ich ihm sagte, ich hätte eine gewisse Erregung auf den Straßen bemerkt, entschloss er sich, mit mir zu gehen, steckte ein Paar Taschenpistolen zu sich und nahm einen biegsamen Stock mit. Wir schritten den Boulevards zu. Auf dem Platz vor der Börse angelangt, sahen wir die Menge sich in die Rue de Richelieu stürzen. Man erzählte sich, daß das Gebäude der Temps von berittener Gendarmerie abgesperrt sei. Natürlich folgten wir der Menge und erblickten in der Tat einige zwanzig Gendarmen, die vor dem Hause, auf dessen Hof sich die Druckerei der Temps befand, aufmarschiert waren. Das Haustor war geschlossen, und man wartete auf die Ankunft des Polizeikommissars, um in die Geschäftsräume eindringen zu können. Als dieser eintraf, befahl Baude, einer der Redakteure der Temps und Unterzeichner des Protestes, die Zugangstür zu den Geschäftsräumen zu schließen und das Haustor nach der Straße zu öffnen. Der Kommissar mit der weißen Schärpe klopfte gerade an das Tor, als dieses sich öffnete, und er sich Baude gegenüber befand. Der Polizeikommissar wich zurück, was er sah. Baude war ein Prachtmensch, nicht gerade von hervorragender Schönheit, aber ein Koloss von ungefähr sechs Fuß Größe und mit langem, schwarzem Haar, gleich einer Mähne. Dichte Brauen überdachten seine Augen und schleuderten Blitze und seine Stimme klang wie der Donner. Hinter ihm standen die übrigen Redakteure, seine Beamten und seine Arbeiter. Wenn man das bleiche Gesicht und das entblößte Haupt des Chefs sah und dahinter die verzerrten Züge der Arbeiter, so begriff man sofort, daß hinter dem gesetzlichen Widerstand, an den Baude zu appellieren im Begriff war, der tatsächliche Widerstand mit bewaffneter Hand drohte. Ich drückte Carrels Arm; er war sehr bleich und schien tief erregt zu sein, aber er sprach kein Wort und schüttelte nur den Kopf. Die Straße war von wenigstens zweitausend Personen besetzt, trotzdem herrschte tiefe Stille, so daß man ein Kind hätte atmen hören.
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Baude ergriff zuerst das Wort und fragte den Polizeikommissar: „Was wünschen Sie, Herr, und in welcher Absicht kommen Sie her?" — „Ich komme kraft der Ordonnanzen . . . " stammelte der Kommissar. „Um unsere Pressen zu zerschlagen, nicht wahr?" unterbrach ihn Räude, „nun gut, und ich, kraft des Gesetzes, "das älter ist, als Ihre Verordnungen und über ihnen steht, fordere ich Sie auf, unsere Pressen ungeschoren zu lassen!" Und er hielt ihm ein Gesetzbuch entgegen, in dem der Artikel „Einbruch" aufgeschlagen war. Das war eine schrecklichere Waffe, als Degen und Pistolen, doch die Befehle, die der Polizeikommissar erhalten hatte, waren klar und bündig. „Herr, ich muss meine Pflicht erfüllen", meinte er. „Man lasse einen Schlosser holen!" — „Gut. Ich erwarte ihn." Ein Gemurmel lief durch die Menge. Man begriff allmählich, daß sich auf offener Straße, angesichts Gottes und der Volksmassen, eine große Szene vorbereitete: der Widerstand des Gesetzes gegen Willkür, des Gewissens gegen Tyrannei. Keiner der Anwesenden hatte zu Baude gesagt: „Rechnen Sie auf mich!" Doch war klar, daß Baude schon herausgefühlt hatte, er könne auf alle rechnen. Der Schlosser kam und wollte, dem Befehl gehorchend, in das Haus gehen, um gewaltsam die Türen der Druckerei zu öffnen. Er wurde aber von Baude sanft am Arm gepackt und zurückgehalten. Dieser sagte zu ihm: „Mein Freund, Sie wissen wahrscheinlich nicht, was Sie riskieren, wenn Sie dem Befehl des Kommissars Folge leisten? Ich will es Ihnen sagen: einfach Zuchthaus." Und er las mit lauter Stimme folgende Zeilen vor: „. . . wird mit Zuchthaus bestraft, wer sich eines Diebstahls durch Einbruch von außen her, Einsteigen oder Gebrauch falscher Schlüssel durch Eindringen in ein bewohntes Haus, Wohnung oder Zimmer oder in Räume, die als solche dienen, schuldig macht oder daran teilnimmt, indem er sich die Funktion eines öffentlichen Zivil- oder Militärbeamten anmaßt oder die Uniform eines solchen trägt, oder einen falschen Befehl der bürgerlichen oder militärischen Behörden ausführt." Während Baude las, hatte der Schlosser die Mütze abgenommen und den Schluss unbedeckten Hauptes angehört.Beim Anblick dieses Mannes aus dem Volk, der dem Gesetze Achtung erwies, brach die Menge in ein ungeheures Beifallsgeschrei aus. „So, und nun wissen Sie, daß es sich um Zuchthaus handelt", schloss Baude. Der Schlosser stutzte unter dem Beifall der Menge, aber der Kommissar erneuerte den Befehl. Da wandte Baude sich an die Nächststehenden und sagte mit erhobener Stimme: „Meine Herren, ich werde beim Schwurgericht gegen den Herrn Polizeikommissar und beim Strafgericht gegen die Ordonnanzen Klage erheben . . . Wer will mir seinen Namen nennen, damit ich ihn als Zeugen dieses Gewaltaktes vorladen lassen kann?" Fünfhundert Antworten kamen zugleich, und mit bewundernswertem Eifer waren unter der Menge Bleistift und Papier im Umlauf, das sich rasch mit Namen und Adressen bedeckte.
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„Sie sehen, Herr Kommissar, an Zeugen wird es mir nicht fehlen!" bemerkte Baude. — „Und ich, Herr Kommissar", sagte der Schlosser, „will mit der Sache nichts zu tun haben. Beauftragen Sie damit, wen Sie wollen." Und er zog sich zurück, begleitet von Hochrufen und Beifallsklatschen. „Und doch muss dem Gesetz Achtung verschafft werden!" sagte der Polizeibeamte. — „Es scheint mir allerdings, daß man anfängt, ihm Achtung zu zollen", erwiderte Baude ironisch. — „Warten Sie ab! Man hole einen anderen Schlosser." Das Erscheinen dieses zweiten wurde von der Menschenmenge mit Murren begrüßt. Der Schlosser hatte Furcht und steckte einem der Zuschauer sein Bund Schlüsselhaken in die Hand. Dieser gab es weiter, und bald war es in der Menge verschwunden. „Herr Kommissar, ich bin nicht imstande, zu öffnen, man hat mir meine Schlüssel gestohlen." — „Du lügst! Verhaftet ihn!" Schon streckte sich die Hand eines Polizisten nach ihm aus, da öffnete sich das Gedränge vor ihm, schloss sich wieder, und der Schlosser war verschwunden, als ob er verschlungen worden wäre. Da die Haltung der Menge entschlossener und drohender wurde, ließ man die Straße durch die Gendarmen räumen. Die Menge zog sich über die Place Louvois, die Arcade Colbert und die Rue de Menars zurück unter dem Wutgebrüll: „Es lebe die Verfassung!" Die Straße wurde gesäubert, aber den moralischen Sieg hatte die Opposition davongetragen, und Baude stand groß da wie eine Gestalt aus dem Jahre 1789. Es war eine eigentümliche Lage. Niemand wollte etwas anderes als gesetzlichen Widerstand, an Revolution dachte niemand, auch bestand keine organisierte Verschwörung. Und doch war die Verschwörung weitverzweigt, allgemein und unüberwindlich: die Verschwörung der öffentlichen Meinung, die die Bourbonen für die Niederlage von 1815 verantwortlich machte und für Waterloo in den Straßen von Paris Rache nehmen wollte. Diese Verschwörung lag in den Augen, den Gebärden und den Worten, selbst im Schweigen der Leute, denen man begegnete, der Gruppen, die man durchschritt, selbst der einzelnen Individuen, die zögernd zu fragen schienen: „Wo ist etwas los? Wo tut sich etwas? Ich will auch dorthin, um zu handeln, wie alle anderen."Auf der Höhe der Rue Montmartre hörten wir Gewehrschüsse von der Seite des Palais Royal her. Es war ungefähr sieben Uhr abends. „Was ist das?" fragte ich Carrel. — „Der Teufel, Gewehrfeuer! Ich gehe nach Hause." — „Ich nicht, ich gehe dorthin." — „Gehen Sie, aber seien Sie vernünftig und hüten Sie sich, sich einzumengen." — „Seien Sie beruhigt. Wiedersehen!" — Ich hatte noch keine fünfzig Schritte gemacht, als mir Doktor Thibaut entgegenkam. Er sah sehr schläfrig aus. „Was gibt es Neues?" fragte ich ihn. — „Schlechte Nachrichten, die Sache nimmt ein schlimmes Ende. In der Rue du Lycee ist schon ein Mann getötet worden, in der Rue SaintHonore drei . . . Die Ulanen greifen in der Rue de Richelieu und auf der Place du Palais Royal an
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. . . Barrikaden wachsen überall aus dem Boden." Und er eilte weiter. Die Börsenuhr schlug acht. Ich wollte mein Faubourg Saint-Germain wieder erreichen. Als ich zu diesem Zweck in die Rue Vivienne einbog, sah ich am anderen Ende derselben Bajonette blitzen. Ich hätte durch die Rue des Filles-Saint-Thomas ausweichen können, aber die Neugier hielt mich zurück; ich zog mich bis zum Cafe du Theatre des Nouveautes zurück, das von dem braven Gobillard gehalten wurde, mit dem wir alle kameradschaftlich verkehrten. Die Truppen hielten die ganze Breite der Straße und gingen im regelmäßigen Schritt vor, Männer, Weiber und Kinder vor sich hertreibend. Die Menge schrie: „Es lebe die Linie!" und an den Fenstern standen die Frauen, die mit Taschentüchern winkten und riefen: „Nicht auf das Volk schießen!" Unter der zurückgedrängten Menge befanden sich Gestalten, die man nur an solchen Tagen sieht — Männer, die Aufstände und Revolutionen anzetteln und die man die Männer des Anfangs nennen könnte. Auf dem Börsenplatz entwickelten sich die Truppen. Da sie aber nicht zahlreich genug waren, die ganze Breite des Platzes zu halten, strömte die Menge an den Flügeln wieder in ihren Rücken zurück. In der Nähe der Börse stand eine alte Bretterbude, die als Wache diente. Das Regiment ließ dort zwölf Mann zurück und setzte dann seinen Marsch in der Richtung der Bastille fort. Kaum war es verschwunden, als einige junge Burschen sich den Soldaten in der Bude näherten und ihnen zuriefen: „Es lebe die Verfassung!" Solange sie nur schrieen, hörten die Soldaten geduldig zu. Als aber Steine angeflogen kamen, gab ein Soldat, der getroffen war, Feuer und tötete eine Frau von dreißig Jahren. Nun schrie man Mord, und im Nu wurde der Platz geräumt, die Laternen gelöscht und die Läden geschlossen. Nur das Theater blieb offen und beleuchtet; man spielte „Die weiße Katze", und die Zuschauer hatten keine Ahnung, was draußen vorging. In diesem Augenblick kamen ein Dutzend Leute aus der Rue des Filles-Saint-Thomas und stürzten auf den Platz. Etienne Arago stand an ihrer Spitze und schrie: „Schließt die Theater! Man mordet in den Straßen von Paris!" . . . Da bemerkten sie die Leiche der erschossenen Frau. „Legt sie auf die Stufen der Säulenhalle, damit alle Welt sie sehen kann", befahl Etienne, „den Saal werde ich räumen lassen." Einen Augenblick später verließen die Zuschauer das Theater und gingen entsetzt an dem blutigen Körper vorbei. Ich lief zu Arago. „Was geschieht? Was ist beschlossen worden?" — „Noch nichts ... man baut Barrikaden ... man tötet Frauen und schließt das Theater, wie du siehst." — „Wo kann man sich treffen?" — „Morgen früh, bei mir, Rue de Gramont 10."
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Dann wandte er sich zu seinen Leuten: „Nach den Varietes, Freunde, die Theater geschlossen. Über Paris wehen Trauerfahnen!" Und die kleine Truppe verschwand in der Rue de Montmorency. Sie war an der Wache vorbeigezogen, ohne daß diese sich gerührt hätte. Die Bewegung hatte folgendermaßen angefangen. Etienne Arago war zweifellos zum Anstifter der revolutionären Bewegung geworden. Er hatte mit Desvergers und Varin diniert und wollte mit ihnen ins Vaudevilletheater zurückkehren, als gegenüber der Passage Delorme ein Auflauf ihnen den Weg versperrte. Man erzählte sich, daß in der Rue du Lycee ein Mann getötet worden sei. Ein Wagen mit Bausteinen konnte ebenfalls nicht vorüber und wartete, bis der Auflauf vorüber sein würde, vier bis fünf Wagen warteten dahinter. „Um Vergebung, mein Freund", sagte Etienne zum Kutscher, „wir brauchen Ihren Wagen." — „Wozu, Herr?" — „Um eine Barrikade zu bauen." — „Ja, ja, Barrikaden, Barrikaden!" schrieen mehrere. Im Nu wurden die Pferde ausgespannt, der Wagen auf die Seite und die Steine quer über die Straße geworfen. „Gut!" sagte Arago. „Hier braucht ihr mich nicht mehr, und woanders verlangt man nach mir."Er überließ die Barrikade der Obhut derer, die bei ihrem Bau mitgeholfen hatten, und ging zum Vaudeville.Die Besucher wollten in das Theater.„Keine Vorstellung", rief er, „während man in den Straßen kämpft. Geben Sie das Geld für die Karten zurück!" Zu gleicher Zeit wollte er das Gitter schließen, als ihn jemand fragte, wie er dazu käme. „Weil ich der Direktor des Theaters bin, und es mir so beliebt!" — „Gut, aber die Regierung will es anders, und im Namen der Regierung fordere ich Sie auf, es zu lassen!" — „Wer sind Sie?" — „Das wissen Sie ja, Sie kennen mich doch . . . " — „Das ist möglich, ich wünsche aber, daß alle Anwesenden Sie auch kennen sollen." — „Ich bin der Polizeikommissar Mazue." — „Nun, Herr Polizeikommissar Mazue, dann nehmen Sie sich gefälligst in acht: wer sich nicht von hier entfernen will, der wird zerdrückt!" — Und zu gleicher Zeit drückte Arago ihn gegen das Gitter.„Herr Arago, morgen sind Sie nicht mehr Direktor des Vaudeville!" — „Und Sie nicht mehr Polizeikommissar!"Trotz des Widerstandes des Kommissars gelang es Arago, mit Hilfe von zwei Maschinisten das Gitter zu schließen. Hierauf verließ er das Theater durch eine Hintertür und machte sich dann daran, die Schließung der übrigen Theater durchzusetzen, was auf die Bewegung des Abends und des anderen Morgens einen ungeheuren Einfluss ausüben sollte. Alle diese Einzelheiten erfuhren wir im Cafe Gobillard, dessen Tür vorsichtigerweise geschlossen war. Wir waren drei oder vier hier beisammen und halbverhungert. Da wir den ganzen Tag umhergelaufen waren, ließen wir uns ein gutes Abendessen auftragen. Man kann sich denken, worüber wir sprachen. Die einen meinten, daß diese Bewegung keine größere Tragweite haben würde, als die von 1827. Die anderen im Gegenteil — und besonders ich — behaupteten, daß wir erst beim Vorspiel des Dramas angelangt wären und daß sich morgen Wichtiges ereignen würde. Wie um diese Ansicht zu bekräftigen, krachte in diesem Augenblick ein
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Gewehrschuss auf dem Platz, und es erscholl das Kommando: „Zu den Waffen!" Gleich darauf folgte Kampfeslärm. Es war neun Uhr vierzig Minuten auf der Uhr des Cafes. Wir stiegen rasch in die erste Etage hinauf und konnten von dort aus alles beobachten. Die Wache war von zwanzig Männern überrumpelt und angegriffen worden. Im Dunkeln war ein Kampf entbrannt, dessen Einzelheiten uns entgingen. Die Soldaten wurden niedergeschlagen und entwaffnet. Man entriss ihnen die Gewehre, Säbel und Pulverhörner. Dann hoben die Männer die Leiche der Frau, die noch immer auf den Stufen des Theaters lag, auf eine Bahre und schleppten sie durch die Rue des Filles-Saint-Thomas fort, indem sie „Rache!" schrieen. Die Zurückbleibenden häuften in der Wachtstube Stroh an, schlugen die Bretter der Bude ein und legten Feuer an die Trümmer. Im Nu stand alles in Flammen und bildete einen Feuerbrand, den sie im Stich ließen, um ihre Kameraden wieder einzuholen. Niemand dachte daran, den Brand zu löschen. Gegen Mitternacht trennten wir uns, sehr erregt über das, was wir erlebt hatten. Ich ging durch die Rue Vivienne, die Rue Neuve des Petits-Champs und die Rue de Richelieu. In der Rue de l'Echelle sah ich dunkle Schatten herumhuschen. Ich näherte mich. Man rief mir: „Wer da?" entgegen. Ich antwortete: „Freund." Ich schritt weiter und stieß auf eine Barrikade, die durch Geister der Nacht erbaut zu sein schien. Ich schüttelte den nächtlichen Arbeitern die Hände und gelangte auf den Karussellplatz. Hinter dem Gitter des Schlosses bemerkte ich Hunderte von Soldaten, die im Tuilerienhof kampierten. So ähnlich mag es hier wohl auch in der Nacht vom 9. zum 10. August 1790 ausgesehen haben! Ich wollte durch das Gitter schauen, aber eine Schildwache rief mir entgegen: „Weitergehen!" Ich setzte meinen Weg fort. Die Kais hatten ihr gewohntes Aussehen. Bis zur Rue de l'Universite begegnete ich keiner Menschenseele. Zu Hause angelangt, öffnete ich ein Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus: Paris lag da, einsam und still, aber diese Ruhe war trügerisch, man fühlte, daß diese Einsamkeit bewohnt, daß dieses Stillschweigen lebendig war! Die glorreichen Tage
Am 27. wurde ich wieder durch Achilles Comtes aus dem Schlaf gerissen. „Es geht los! Das Quartier Latin ist in Aufruhr, nur sind die Studenten wütend gegen die Hauptführer Laffitte, Casimir Perier, Lafayette . . . Sie haben diese Herren gestern aufgesucht: die einen haben ihnen geraten, sich ruhig zu verhalten, andere haben sie gar nicht empfangen ..."
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Ich kleidete mich rasch an und fuhr dann zu meiner Mutter, die ich so ruhig antraf, als ob in Paris nichts Außergewöhnliches vorginge. Ich hatte meine diesbezüglichen Anordnungen getroffen, so daß sie nichts erfahren konnte. Von da ging ich in die Rue de l'Universite Nr. 7. Dort hatte ich keine Absperrungsmaßregeln treffen können, wie bei meiner Mutter, und Melanie S . . . war von allem unterrichtet. Ich musste versprechen, die Dinge nur als Zuschauer mitzumachen und mich in nichts einzumengen. Gegen dieses Versprechen ließ sie mich fort. In der Rue de Beaune war vor dem Haus des Apothekers Robinett ein großer Menschenauflauf, bestehend aus Wählern und Nationalgardisten des zehnten und elften Bezirks. Alle wollten handeln, aber niemand hatte Waffen.
„Keine Waffen?" rief Arago, der zu einer Versammlung entsandt worden war, die bei Robinet stattgefunden hatte, „keine Waffen? Holt euch welche bei den Waffenhändlern." Schon am Morgen hatte er mehrere mit Gewehren, Säbeln und Pulverhörnern versorgt, die man dem Vaudeville, wo gerade Sergeant Mathieu gespielt worden war, entnommen hatte. Nun ging er mit anderen zum nächsten Waffenhändler und kaufte dort weitere Gewehre und Munition, deren man bald nötig haben sollte.
Ich kehrte nach Hause zurück, zog mein Jagdkostüm an, was für die Gefechtsübung, die wir vorhatten, das bequemste war, nahm Gewehr und Pulverhorn und stopfte mir die Taschen voll Patronen. Als ich fast damit fertig war, hörte ich großen Lärm auf der Straße. Ich sah zum Fenster hinaus und bemerkte Arago und Ganja, die das Volk zu den Waffen riefen. In diesem Augenblick zeigten sich am Eingang der Rue du Bac zwei Gendarmen. Bei ihrem Anblick stieß die Menge ein Wutgeheul aus. Die Gendarmen zogen die Säbel und drangen auf die Menge ein. Niemand hatte Waffen, und alles flüchtete in die Hausflure oder in die Rue de Lille. Arago und Ganja legten sich an den Ecken dieser Straße in den Hinterhalt, und als die Gendarmen auf sie lossprengten, schössen beide gleichzeitig. Beide hatten denselben Gegner aufs Korn genommen, und er stürzte, von zwei Kugeln durchbohrt, zu Boden, während der andere Gendarm die Flucht ergriff. Als ich auf die Straße herunterkam, waren Arago und Ganja verschwunden. Man kannte mich in dem Viertel und umringte mich. „Was sollen wir anfangen?" — „Barrikaden bauen!" antwortete ich. — „Wo denn?" — „Eine an jeder Seite der Rue de l'Universite und eine andere quer über die Rue du Bac." Man brachte mir ein Brecheisen, und ich machte mich an die Arbeit, das Pflaster aufzureißen. Alle Welt schrie nach Waffen. Inzwischen ertönte Trommelwirbel im Tuileriengarten, und ich sah drei Soldaten der königlichen Leibwache auf uns zukommen.
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„Da seht", sagte ich zu meiner Umgebung, „ihr fordert Waffen? Bedient euch! Da kommen drei Gewehre, nehmt sie ..." — „Na, wenn weiter nichts ist", war die Antwort. Und sie liefen auf die Soldaten zu. Ich war der einzige, der bewaffnet war. Ich schlug an und nahm sie aufs Korn, indem ich ihnen zurief: „Gebt eure Gewehre her, dann lassen wir euch laufen." Sie überlegten einen Augenblick, dann lieferten sie die Gewehre aus. Zu ihrem Glück, denn ich war fest entschlossen, den ersten, der Widerstand leistete, niederzuschießen. Man nahm ihnen die Gewehre ab, sie waren nicht geladen, woraus wohl zu erklären ist, warum die armen Teufel so schnell unseren Wünschen nachkamen. Wir gingen wieder an den Barrikadenbau. Bald stieß eine Schar Studenten unter Führung eines großen, blonden Jünglings zu uns, der allein von allen eine Flinte hatte. Sie halfen uns an der Barrikade, die schnell beendet werden musste, da bei der Nähe der Kaserne der Leibwache jeden Augenblick ein Angriff zu befürchten war. Ich war vom Aufreißen des Steinpflasters ermüdet und gab mein Brecheisen an den blonden Jüngling ab. „Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?" fragte er mich. — „Alexander Dumas." - „Ah! Wie herzlich mich das freut, Herr!" Und er streckte mir die Hand entgegen: „Ich heiße Bixio und studiere Medizin. Hier ist meine Karte; bitte, mich, wenn ich fallen sollte, dorthin schaffen zu lassen. Sollten Sie verwundet werden, so stelle ich meine ärztlichen Kenntnisse zu Ihrer Verfügung." — „Ich hoffe, daß wir Ihre Karte und Ihre Wissenschaft nicht nötig haben werden, aber man kann nicht wissen! Ich stecke die eine ein und nehme die andere an!" Von da ab datiert unsere Freundschaft. Nachdem die Barrikaden fertig waren, vertrauten wir sie der Obhut unserer Miterbauer an und gingen weiter. „Wohin gehen Sie?" fragte ich Bixio. — „Nach dem Gros Caillou." — „Dann begleite ich Sie bis zur Kammer. Ich muss sehen, was beim National vorgeht." — „Was? Sie wollen in diesem Aufzuge mit Ihrem Gewehr durch die Straßen gehen?" — „Nun ja, als Jäger, nicht als Kämpfer." — „Aber die Jagd ist noch nicht eröffnet!" — „Sehr einfach, dann werde ich sie eröffnen." Als ich in die Rue de Richelieu einbog, bemerkte ich ein Regiment Soldaten in der Nähe der Place Louvois. Auch von der anderen Seite des Palais Royal rückte eine geschlossene Linie von Truppen heran, und auf der Place du Royal war eine Schwadron Ulanen aufgestellt. Was tun? Mir war nach allen Seiten der Weg verlegt. Da bemerkte ich, daß ich mich zum Glück meinem alten Büro gegenüber befand. Ich ging in das Haus und in die erste Etage hinauf, wo ich Oudard antraf. Er sah mich erstaunt an und wusste nicht, ob er mich erkennen sollte oder nicht. „Wie? Sind Sie es wirklich?" — „Leibhaftig." — „Was wollen Sie heute hier?" — „Ich hätte gern den Herzog von Orleans gesprochen." — „Was wollen Sie zu ihm sagen?" — Ich begann zu lachen. „Eure Majestät" wollte ich zu ihm sagen."
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Oudard stieß einen wahren Schrei des Entsetzens aus. „Wie können Sie sich unterstehen, hier solche Gespräche zu führen? Wenn man Sie hörte!" — „Der Herzog kann mich nicht hören, denn ich vermute, daß er in Neuilly ist." — „Der Herzog von Orleans ist in diesem Augenblick da, wo sein Platz ist!" antwortete Oudard majestätisch. „Und wo ist das, wenn ich fragen darf? Ich kenne mich in der Etikette nicht so aus, wie Sie, lieber Oudard." „Beim König, meine ich." — „Na, dazu kann ich Seiner Hoheit nur gratulieren!" In diesem Augenblick ertönte Trommelwirbel an der Ecke der Rue de Richelieu, Truppen rückten heran, an der Spitze General de Wall mit seinem Stab. Es kitzelte mich, Oudard einen Schreck einzujagen. „Sagen Sie mal, Oudard, ich bin der Ansicht, daß, wenn ich diesen General im Vorüberreiten vom Pferd herunterschösse, die Geschäfte des Herzogs von Orleans, der beim König ist, sich viel schneller erledigen lassen würden?" Und ich nahm den General aufs Korn. Oudard wurde kreideweiß und stürzte sich auf mein Gewehr. Ich zeigte ihm lachend, daß der Hahn herunter und die Waffe nicht geladen war. „Oh, jetzt muss ich Sie aber bitten, daß Sie von hier fortgehen, nicht wahr?" — „Ich will nur warten, bis die Soldaten vorüber sind, da ich vernünftigerweise doch nicht allein 2000 oder 3000 Mann angreifen kann." Oudard ließ sich auf einen Stuhl sinken. Ich stellte mein Gewehr in eine Ecke und öffnete das Fenster.„Was machen Sie nun wieder?" - „Ich will die Soldaten vorbeimarschieren sehen, das macht mir Spaß."Als sie vorbei waren, ging ich, mein Gewehr auf der Schulter, ruhig die Rue de Richelieu entlang, als ob ich in der Ebene von Saint-Denis die Jagd eröffnete. Die Rue de Richelieu bot einen interessanten Anblick dar. Kaum waren die Truppen vorbei, als schon der Aufstand überall sein Haupt erhob und die Straße- beherrschte. Überall riss man die Schilder mit den Lilien und dem Namenszug des Königs herunter. Überall ertönten die Rufe: „Es lebe die Verfassung! Nieder mit den Bourbonen!" Bewaffnete Leute standen überall an den Ecken und schienen einen Mittelpunkt zu Kampf und Widerstand zu suchen. An den Fenstern winkten Frauen mit den Taschentüchern und riefen ihr Bravo jedem zu, der ein Gewehr trug. Niemand hatte den gewöhnlichen Schritt, alle Welt lief; man sprach nicht in gewohnter Weise, man rief sich nur abgebrochene Worte zu; ein allgemeines Fieber schien alle erfasst zu haben. Ich kam am National an und stieß dort auf Carrel und einen schönen Burschen von zwanzig Jahren, dem Carrel gerade die Hand schüttelte. „Sie sind es, Charras?" sagte er zu ihm. — „Ja, ich suche Sie. Wo schlägt man sich?" — „Schlägt man sich denn?" — „Donnerwetter und nicht schlecht! Ich hätte nie gedacht, daß es so schwer sei, sich den
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Schädel einschlagen zu lassen! Seit gestern Abend laufe ich dieser Gelegenheit nach und kann meinen Zweck nicht erreichen!" Charras, einer der tapfersten Offiziere der afrikanischen Armee und eine der loyalsten Erscheinungen der Revolution von 1848, war Anfang 1830 aus der Polytechnischen Schule entlassen worden, weil er beim Diner die Marseillaise gesungen und ein Hoch auf Lafayette ausgebracht hatte. Schon am 26.-hatte Charras an die Rolle gedacht, welche seine ehemaligen Mitschüler in einem Aufstand spielen könnten, und hatte sich mit ihnen in Verbindung gesetzt. Er fand die Mehrzahl zu allem bereit. Nun kam er zu Carrel mit der Frage: „Wo schlägt man sich?" Und das wussten nur wenige. Man behauptete allgemein, daß am Stadthause ein erbitterter Kampf stattfände, und man vernahm das Sturmgeläut der großen Glocke von Notre-Dame. Wir trennten uns, und ich bummelte wieder durch die Straßen. Ich sprach einen Augenblick bei Hiraux vor, dem Sohn meines ehemaligen Musiklehrers, der ein Cafe an der Porte-Saint-Honore besaß, und erfuhr dort, daß Marschall Marmont den Oberbefehl der Truppen von Paris übernommen hatte. Alle Welt war darüber erstaunt, am meisten aber ich, der zwei Tage zuvor in der Akademie den Marschall auf die Verordnungen schimpfen gehört hatte. Diese Nachricht davon warf einige fünfhundert Kämpfer mehr auf die Straße! Als ich den Pont de la Revolution erreichte, blieb ich wie betäubt stehen; ich traute meinen Augen kaum: auf Notre-Dame wehte die Trikolore! Ich muss gestehen, daß sich meiner beim Anblick dieser Fahne, die ich seit 1815 nicht mehr erblickt hatte und die in mir so edle, ruhmreiche Erinnerungen an die große Zeit wachrief, eine tiefe Erregung bemächtigte. Ich lehnte mich an das Brückengeländer, streckte die Arme zur Fahne empor und blickte tränenden Auges unverwandt nach ihr hin. Vom Greveplatz her hörte man lebhaftes Gewehrfeuer, und der Pulverdampf stieg in dichten Wolken gen Himmel. Der Anblick meines Gewehres zog ein Dutzend Männer herbei, die teils mit Gewehren, teils mit Säbeln und Pistolen bewaffnet waren und mich fragten, ob ich ihr Führer sein wollte. „Gern", erwiderte ich, „folgt mir." Wir überschritten den Pont de la Revolution und bogen in die Rue de Lille ein, um der OrsayKaserne auszuweichen, die den Kai beherrscht?. Unsere Truppe bildete einen Kern, dem sich bald bis zur Rue du Bac zwei Trommler, eine Fahne und vierzig Mann anschlössen. Im Vorbeigehen wollte ich in meine Wohnung hinaufgehen, um mehr Geld in die Tasche zu stecken, aber der Hauseigentümer hatte inzwischen dem Portier befohlen, mich nicht mehr ins Haus zu lassen, da meine Haltung und mein Anteil an dem Bau der Barrikaden einen Skandal verursacht hätte. Meine Leute boten mir an, das Tor einzuschlagen, aber da ich mich in meiner Wohnung wohl fühlte und es mit dem Wirt nicht verderben wollte, so besänftigte ich die
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Begeisterung. Wir setzten uns wieder in Bewegung. Am kleinen Eingangstor des Instituts trafen wir einen Herrn, der Pulver verteilte. Wer er war, und in wessen Auftrag er handelte, wussten wir nicht, es war uns auch gleichgültig, wir nahmen das Pulver, woher es kam. Jeder Gewehrträger — ich hatte jetzt deren dreißig — erhielt zwölf Pulverladungen; jeder Besitzer einer Pistole bekam sechs. Bei Joubert verschafften wir uns Kugeln.Da wir nach dem Greveplatz wollten, marschierten wir durch die Rue Guenegaud, über den Pont-Neuf und den Quai de l'Horloge. Gewehrfeuer und Kanonendonner ließen uns unseren Marsch beschleunigen, und nichts schien sich ihm entgegenzustellen, als wir uns plötzlich am Quai aux Fleurs einem ganzen Regiment gegenüber sahen. Es war das 15. leichte Infanterieregiment. Es ging nicht gut an, daß wir paar Menschen diese fünfzehnhundert Mann angriffen, wir machten daher halt. Da die Soldaten keine feindselige Haltung gegen uns annahmen, so näherte ich mich ihnen und bat, mit einem Offizier sprechen zu dürfen. Ein Hauptmann kam mir entgegen. „Was wünschen Sie?" — „Freien Durchzug für mich und meine Leute." — „Wohin wollen Sie?" — „Nach dem Stadthaus." — „Zu welchem Zweck?" — „Natürlich um mitzukämpfen!" Der Hauptmann lachte. „Wahrhaftig, Herr Dumas, für so verrückt habe ich Sie doch nicht gehalten." — „Wie? Sie kennen mich?" — „Als ich eines Abends auf Wache im Odeon war, hatte ich die Ehre, Sie zu sehen."„Na, dann wollen wir uns wie zwei Freunde unterhalten." — „Das tue ich doch schon, wie mir scheint." — „Warum bin ich verrückt?" — „Weil Sie riskieren, totgeschossen zu werden, und das mit Ihrem Beruf nichts zu tun hat; sodann, weil Sie von uns freien Durchzug verlangen, während Sie doch genau wissen, daß wir Ihnen den nicht gewähren können . . . Übrigens können Sie selbst sehen, welches Ihr Los sein würde, wenn wir Sie durchließen, da sehen Sie die armen Teufel, die verwundet herangeschleppt werden . . . " — „Schon gut; aber was tun Sie hier?" fragte ich ihn. — „Etwas recht Trauriges, Herr Dumas: meine Pflicht. Glücklicherweise hat das Regiment bisher keinen anderen Befehl erhalten, als den, niemand durchzulassen. Wie Sie sehen, beschränken wir uns darauf, diesen Befehl auszuführen. Solange man nicht auf uns schießt, werden wir ebenfalls nicht feuern. Sagen Sie das Ihren Leuten und empfehlen Sie ihnen, friedlich umzukehren. Wenn Sie soviel Einfluss auf sie hätten, sie nach Hause zurückkehren zu lassen, so würden Sie damit ein gutes Werk tun!" „Besten Dank für den Rat, mein Herr!" erwiderte ich lachend, „aber ich bezweifle stark, daß meine Leute davon Gebrauch machen werden." — „Desto schlimmer für sie." Ich grüßte ihn und wollte mich zurückziehen, als er noch fragte: „Übrigens, wann wird Anthony aufgeführt? . . . Das ist doch Ihr nächstes Stück, nicht wahr?" — „Ganz recht, Herr Hauptmann, und es wird aufgeführt, sobald wir die Revolution durchgeführt haben, in Anbetracht dessen, daß die Zensur mein Stück verboten und daß der Minister des Innern mir gesagt hat, wofern keine Revolution ausbräche, würde das Stück nicht aufgeführt werden."
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Der Offizier schüttelte den Kopf und meinte: „Dann fürchte ich, daß es nie aus dem Aktenschrank herauskommen wird." „Und ich, Herr Hauptmann, lade Sie hiermit zur Erstaufführung ein. Holen Sie Ihre Karte bei mir Rue de l'Universite 25 ab. Wir grüßten uns. Der Hauptmann kehrte zu seiner Kompanie, und ich zu meinen Leuten zurück. Unsere erste Sorge war, uns außer Schussweite zurückzuziehen, für den Fall, daß das Regiment zu weniger friedlichen Absichten übergehen würde. Dann hielten wir Rat und beschlossen, auf einem Umweg dahin zu gelangen, wo der Kampf wütete. Eine Viertelstunde später kamen wir aus der kleinen Ruelle de Clatigny. Wir kamen im rechten Augenblick an: man ging gerade daran, über die Hängebrücke hinweg einen entscheidenden Angriff auf das Stadthaus zu machen. Wenn wir noch mitmachen wollten, mussten wir uns beeilen. Unsere beiden Trommler schlugen zum Angriff, und wir eilten im Sturmschritt herbei. Von fern sahen wir, wie einige hundert Männer — mehr waren die Aufständischen nicht — kühn auf die Brücke stürzten, einer im Wind flatternden Trikolore folgend, als plötzlich eine Kanone, die am anderen Ende der Brücke aufgefahren war und diese bestrich, einen Kartätschenschuss abgab. Die Wirkung war schrecklich: die Fahne verschwand, acht oder zehn Männer lagen am Boden und einige fünfzehn ergriffen die Flucht. Während die Flüchtlinge sich wieder sammelten, schössen wir im Schutz des Brückengeländers auf die Kanoniere, von denen zwei fielen, aber sofort wieder ersetzt wurden. Ein zweites Mal spie die Kanone ihr verheerendes Feuer, und während wir im Sturmschritt zum Angriff übergingen, fiel ein dritter Schuss und zugleich gingen die Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett gegen uns vor. Dagegen konnten die Aufständischen nicht standhalten, zumal da vielleicht nur noch zwanzig unversehrt waren; einige vierzig lagen tot oder verwundet auf der Brücke. Ein vierter Kanonenschuss, der uns noch drei oder vier Mann tötete, beschleunigte unseren Rückzug, der von da ab in wilde Flucht ausartete. Es war das erstemal, daß ich das Heulen von Sprenggeschossen hörte, und ich gestehe offen, daß ich demjenigen nicht glauben würde, der behauptete, daß er dieses Geräusch das erstemal ohne Erregung gehört habe. Fünf Minuten später waren wir einige fünfzehn Mann wieder vor der Notre-Dame-Kirche versammelt. Die Nachrichten waren schrecklich: der Fahnenträger war tot, Charras sollte tödlich verwundet, die Brücke buchstäblich mit Toten bedeckt sein. Ich fand, daß für den Anfang meiner militärischen Laufbahn das Geleistete genügend sei, zumal da Geschrei von Flüchtlingen das Herannahen der Truppen anzeigte. Ich erreichte unversehrt den
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Quai des Orfevres und von da wieder die Rue Guenegaud, durch welche ich eine Stunde vorher triumphierend an der Spitze meiner fünfzig Mann geschritten war. Dann suchte ich Zuflucht im Hause meines Freundes, des Vaters Lethiere. Ich wurde herzlich aufgenommen und man be wirtete mich mit Rum, der direkt aus Guadeloupe kam. Weiß Gott, es war nicht unangenehm, nachdem man die Kugeln hatte pfeifen hören und einige fünfzig Menschen fallen sehen, im Freundeskreise sich in Sicherheit zu wissen und Rum zu trinken! Es war gegen drei Uhr. Lethiere erklärte mir, daß er mich dabehalten und den ganzen Tag über nicht wieder fortlassen werde. Ich ließ mir gern Gewalt antun und blieb zum Diner da. Um fünf Uhr brachte Lethieres Sohn Nachrichten mit. Auf allen Brücken von Paris wurde gekämpft, und die Boulevards waren von der Madeleine bis zur Bastille in Aufruhr. Die Hälfte ihrer Bäume war gefällt worden und hatte zum Bau einiger vierzig Barrikaden gedient; die Mairie des Petits-Peres war erstürmt worden; im Faubourg Saint-Antoine hatte man auf die von Vincennes eintreffenden Soldaten Möbel aus den Fenstern geworfen, Bettgestelle, Schränke, Kommoden, Marmorplatten, Stühle, Flaschen, sogar ein Piano. Die Truppen seien vollständig abgeschnitten. Die Deputierten fingen endlich an, sich zu erregen und hätten fünf von den ihrigen an Marschall Marmont gesandt, um ihm Vorstellungen zu machen und mit ihm zu unterhandeln. Vier Millionen wären bei ihm gut angebracht, hätte Casimir Perier gesagt, aber man hatte beim Marschall nichts ausrichten können. Während man beim Marschall war, wurde ein verwundeter Ulan in seine Wohnung gebracht. Demselben war die Brust in schauderhafter Weise zerrissen worden. Man konnte nicht begreifen, durch welches Geschoss eine solche Wunde verursacht worden war. Der Arzt dachte an Hasenschrot. Doch bald stellte sich heraus, daß in der Wunde Druckereibuchstaben steckten. So rächten sich die Männer, denen man ihre Pressen zerbrach! Diese Tatsache beweist außerdem, daß jeder sich, mangels einer gewöhnlichen Waffe, eine solche mit dem, was er gerade zur Hand hatte, schuf.Die Nachrichten, die wir erhielten, waren nicht gerade schlecht, aber Entscheidendes war noch nirgends geschehen. Gewiss, das Volk, die Bürgerschaft und die Jugend hatten sich entschlossen dem Aufstand in die Arme geworfen, wo waren aber die Finanz, die höheren Führer des Heeres und die Aristokratie geblieben?Man hatte wohl Dumoulin, seinen großen Säbel in der Hand und seinen Federhut auf dem Kopf, in der Rue Montmartre die Menge aufreizen und den Obersten Dufays mit verbundenem Kopf sie anstacheln sehen, aber Herr von Resumat saß in den Büros des Globe und hatte Fieber; Thiers und Mignet waren bei Madame de Courchamp in Mont-morency; Cousin sprach von der weißen Fahne als der einzigen, die Frankreich retten könne; Dupin hatte Tränen vergossen, als er Arago mit einem Gewehr in der Hand begegnet war; Sebastiani schrie, man müsse auf gesetzlichem Boden bleiben; Alexandre de Girardin proklamierte: was für Frankreich am besten
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passe, seien die Bourbonen; Carrel verurteilte laut den Wahnsinn der Bürger, die die Truppen angriffen, und während das Volk, die -Bürgerschaft und die jungen Leute der Militärschulen ihr Blut in Strömen und ohne es zu messen, vergossen, begnügten sich die Herren Laffitte, Mauguin, Casimir Perier, Lobau und Gerard damit, bei dem Mann, der Paris mit Kartätschen überschüttete, einen Versöhnungsversuch zu machen! Wenn am folgenden Tag nicht eine Besserung eintrat, dann war die Sache des Volkes verloren. Es waren allerdings nur etwa 13000 Mann in Paris, aber 50 000 Soldaten standen nur 25 bis 30 Meilen von der Hauptstadt entfernt aufmarschiert, und die Telegraphen, die ihre großen, unverständlichen Arme vor aller Augen in ständiger Bewegung hielten, bewiesen, daß die Regierung der Provinz tausend Dinge zu sagen hatte, die Paris nicht kannte. Es war daher zu befürchten, daß die Helden des 27. und 28. Juli am 29. gezwungen sein könnten, die Hauptstadt, ja selbst Frankreich zu verlassen. In dieser Voraussicht fragte Lethiere mich nach dem Stand meiner Börse und bot mir, wenn nötig, seine Hilfe an, wie er es schon öfter getan hatte. Aber ich war reich, denn ich hatte für meine Reise nach Algier 3000 Franken flüssig gemacht. Lethiere, der meine Art zu sparen kannte, wollte an mein Vermögen nicht glauben und dachte, ich wolle nur renommieren. Um ihm den Beweis von dessen Existenz zu liefern und es außerdem aus meiner mir verschlossenen Wohnung herauszuholen, schickte ich Lethieres Sohn mit einem Brief zu meinem Diener und gab ihm die nötigen Schlüssel mit, um zu meinem Pass und dem Geld gelangen zu können. Auch einige vierzig Patronen sollte er mir noch mitbringen. Ferner gab ich ihm noch einen Brief für Nr. 7 der Rue de l'Universite mit, in welchem ich die bewusste Person bat, sich über mich nicht zu beunruhigen; ich sei in Sicherheit und verspreche, keine Dummheiten zu machen. Das verpflichtete mich zu nichts, da ich Herr darüber blieb, die Grenze meiner vernünftigen Taten selber zu ziehen. Eine halbe Stunde war Lethiere mit den gewünschten Gegenständen zurück. Der Portier hatte keine Schwierigkeiten gemacht, der Hausbesitzer hatte sogar andere Saiten aufgezogen. Er genehmigte meine Rückkehr in die Wohnung und verlangte nur mein Ehrenwort, nicht aus den Fenstern zu schießen. Um neun Uhr verließ ich den guten Lethiere und ging in meine Wohnung, nachdem ich dem Portier das geforderte Ehrenwort gegeben hatte. Ich hatte aber keine Lust, schon zu Bett zu gehen, stellte mein Gewehr in eine Ecke und ging wieder hinunter, um Informationen einzuholen. Es schien mir dringendst geraten, auf die eine oder andere Weise die großen Führer der Opposition zu kompromittieren, und ich wünschte zu wissen, ob unsere Freunde sich bereits mit dieser kleinen Arbeit befassten.
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Ich versuchte, die Brücken zu passieren. Den Torposten am Karussellplatz und den Tuilerien war ausdrücklich verboten worden, irgend jemand durchzulassen, der die Parole nicht wusste. Durch die steinernen Bogengänge sah man den Hof der Tuilerien in ein ungeheures Biwak verwandelt, in ein düsteres, trauriges, geräusch- und bewegungsloses Feldlager. Ich ging längs des Kais weiter und wie am Morgen durch die Rue Saint-Honore und über die Place de la Revolution. Alle Läden waren geschlossen, aber an den meisten Fenstern waren Lampions angebracht. Fußgänger waren selten, und jedes Wagengeräusch war verstummt, da Wagen wegen der Barrikaden nicht verkehren konnten. Nur die Lüfte waren mit dem unaufhörlich ertönenden, grausigen, unheilverkündenden Geklage der großen Glocke von Notre-Dame erfüllt. Ich sagte schon früher, daß ich General Lafayette kennen gelernt hatte. Ich beschloss, ihm einen Besuch zu machen. Der Portier erwiderte, daß er nicht zu Hause sei. Gerade als ich wieder fortgehen wollte, erschien er mit Carbonnel und Lasteyrie. Er erkannte mich sofort. Ich erzählte ihm, was ich wusste, und daß ich gekommen sei, von ihm zu hören, was am nächsten Tage geschehen solle. Er zog mich beiseite und sagte: „Ich komme soeben aus der Kammer; mit den Deputierten ist nichts zu machen . . ." - „Warum handeln Sie dann nicht allein?
-„Man soll
mich dazu zwingen, und ich bin bereit!" - „Darf ich das meinen Freunden sagen?" „Sie dürfen." „Adieu, General." Er hielt mich am Arm fest. „Lassen Sie sich nicht totschießen." „Ich werde es versuchen." Ich eilte zu Arago, Rue de Gramont Nr. 10. Dort war die Revolution zu finden. Ich wiederholte ihm wörtlich meine Unterredung mit dem General, worauf wir zum National gingen. Dort war Taschereau mit Teste und Beranger damit beschäftigt, ein großartiges falsches Schriftstück anzufertigen: er stellte eine provisorische Regierung auf, die er aus Lafayette, de Gerard und dem Herzog von Choiseul zusammensetzte, und er erließ einen Aufruf, den er mit diesen drei Namen unterzeichnete. Am anderen Morgen sollte beides überall in Paris angeschlagen werden, und die erste Veröffentlichung sollte im Constitutionnel erfolgen. Es braucht nicht angeführt zu werden, daß der brave Constitutionnel bona fide handelte und daß er das Werk Taschereaus für echt hielt. Ich kehrte etwas beruhigter nach Hause zurück und, ermüdet von den Strapazen des Tages, fiel ich bald in tiefen Schlaf. Am anderen Morgen weckte mich mein Diener Josef. „Na, was gibt es denn?" fragte ich gähnend. - „Aber, gnädiger Herr, hören Sie denn gar nichts?" rief Josef, die Hände überm Kopf zusammenschlagend. „In nächster Nähe wird geschossen. Das muss am Zeughausmuseum sein. Dort befindet sich eine Hauptwache."
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„Richtig", rief ich, „beim Artilleriemuseum. Ich gehe hin. Schnell, h i l f mir beim Ankleiden, dann bring mir ein Glas Madeira oder Alikante . . . Oh, die Unseligen, sie werden alles fortschleppen!" Das war es, was mich mit Besorgnis erfüllte und zum Schauplatz des Kampfes hindrängte. Ich erinnerte mich noch der historischen Schätze, die ich bei meinen Studien über Heinrich III., Heinrich IV. und Ludwig XIII. gesehen hatte. All das sah ich Menschen ausgeliefert, die diese Wunderwerke der Kunst, deren Wert sie nicht kennen, dem Nächstbesten für ein Päckchen Tabak oder für ein paar Patronen hingeben würden. In fünf Minuten war ich fertig und eilte auf den Kampfplatz. Die Angreifer waren gerade zum drittenmal zurückgeschlagen worden. Das war ganz natürlich, denn sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, das Museum von der Rue du Bac und der Rue Saint-Dominique aus anzugreifen. Die Gewehre der Soldaten bestrichen aber gerade die beiden Straßen und säuberten sie mit unheimlicher Schnelle. Ich betrachtete die Häuser der Rue du Bac, die zugleich die Ecke der Rue de Gribauval bildeten, und fand, dass von den oberen Stockwerken ihrer Rückseite aus das Museum leichter zu beherrschen wäre. Ich teilte diesen Plan den Umstehenden mit, und er wurde sofort angenommen. Ich klopfte an die Tür des Hauses der Rue du Bac Nr. 3 5. Es dauerte ei ne Weile, bis geöffnet wurde und zehn Bewaffnete mit mir eindringen und die oberen Etagen besetzen konnten. Ich ließ mich mit vier Mann in einer Dachkammer nieder, und zwar mit solcher Sicherheit, als säße ich hinter einem Festungswall. Nun eröffneten wir das Feuer, aber mit ungleich günstigerem Erfolg als die unten Kämpfenden. In kaum zehn Minuten hatte die Hauptwache sechs Mann verloren. Plötzlich verschwanden auch die anderen, und es fi el kein Schuss mehr. Nach einer Weile erschien der Aufseher des Museums unter dem Tor und gab seine friedliche Absicht zu erkennen. Wir gingen hinunter, D i e Soldaten waren über die Mauer gestiegen und in die benachbarten V i e r t e l und Höfe geflüchtet. Ein Teil der Aufständischen war bereits m das Gebäude eingedrungen, als ich hinunterkam. „Um Himmels w i l l e n , Freunde", rief ich, „schont nur die Waffen." — „Was, die Waffen schonen? Da seht nur den an! Nehmen werden wir sie. Wozu sind sie denn sonst da?"Eigentlich hatte der Mann recht, denn das war ja gerade der Zweck der Angriffe gewesen. Es war unmöglich, das herrliche Gebäude vor der Plünderung zu schützen, und auch ich musste einen Teil der kostbaren Rüstungen holen. Entweder wird jeder die Gegenstände, die er fortträgt, behalten, oder er wird sie wieder zurückgeben. In beiden Fäll e n waren die wertvolleren Stücke bei mir am besten aufgehoben. Ich nahm Schild, Helm und Schwert, die Franz I. gehört hatten, und dazu noch eine Hakenbüchse, mit der Karl IV. angeblich auf die Hugen o t t e n geschossen hatte. Den Helm setzte ich auf, den Harnisch befestigte ich am Arm, das Schwert schnallte ich um, die Büchse nahm ich auf die Schulter, und nun ging ich, unter der Last der Rüstung keuchend, nach der Rue de l'Universite.
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Als ich den zweiten Stock erreicht hatte, brach ich fast zusammen. Wenn Franz I. bei Marignan außer seiner übrigen Rüstung noch diesen Helm und diesen Harnisch getragen hatte und damit vierzehn Stunden im Sattel gesessen hatte, dann glaube ich auch an die Heldentaten Rolands und der vier Haimonskinder. „Aber, gnädiger Herr", rief Joseph, als er mich sah. „Woher kommen Sie? Was bringen Sie denn da für altes Eisen?" Ich versuchte nicht erst, dem armen Teufel richtigere Begriffe über dieses alte Eisen beizubringen, denn es wäre doch umsonst gewesen. Ich befahl ihm bloß, mir vor allem den Helm abzunehmen, der mich erdrückte. Ich legte alles aufs Bett und eilte wieder fort, um bald darauf mit den übrigen Teilen dieser Rüstung zurückzukehren. Später habe ich diese herrliche Trophäe dem Artilleriemuseum zurückgegeben, und ich besitze noch das Dankschreiben des Direktors. Jeder nahm, was ihm gefiel, obwohl ich gestehen muss, daß die wackeren Leute weit weniger nach den Luxuswaffen, als vielmehr nach solchen griffen, die sie im Kampf gebrauchen konnten. Ein Mann schleppte eine Wallbüchse, die mindestens 150 Pfund wog. Vier andere zogen eine Kanone, mit der sie den Louvre angreifen wollten. Zwei Stunden später fand ich den Mann mit der Wallbüchse bewusstlos am Kai liegen. Er hatte zwei Hände voll Pulver und zwölf Kugeln in den Lauf gesteckt und schoss dann, die Büchse auf das Brückengeländer gestützt, über die Seine auf ein Kürassierregiment, das am Louvre vorbeiritt. Er richtete unter den Reitern eine furchtbare Verheerung an, aber die Büchse schleuderte i h n beim Zurückprallen zehn Schritt weit rückwärts, renkte ihm die Schulter aus und zerschmetterte ihm die Kinnlade. Delanoue, dem ich unterwegs begegnete, und der sich um jeden Preis ein Gewehr zu verschaffen suchte, sagte mir, daß alles zum Odeonplatz eile. Der Platz war bereits mit Menschen überfüllt. Es mochten 500 bis 600 sein. Schüler des Polytechnischen Instituts befehligten die einzelnen Abteilungen. In einem von ihnen erkannte ich Charras *), den ich tags zuvor noch in Zivilkleidung gesehen hatte. Zugleich mit uns zogen fünf Männer ein Geschütz, das einer Wache abgenommen worden war, auf den Odeonplatz. Ihnen folgte ein Wagen mit Pulverfässern. Das Pulver wurde sofort verteilt. Die einen steckten es in die Rocktasche, die anderen in Taschentücher, Mützen und Tabaksbeutel. Und dabei rauchten alle unbekümmert drauflos. In einer Kneipe auf der linken Seite des Odeonplatzes gössen vier Männer Kugeln aus dem Blei der Dachrinnen. Das dazu benötigte Papier warfen die Bewohner der umliegenden Häuser in jeder Form
*) Jean Baptiste Adolphe Charras (1810—1868) war während des Juniaufstandes 1848 Chef des Generalstabs, 1852 wurde er als Gegner Napoleons III. verhaftet und ausgewiesen. Er ist durch seine militärischen Schriften „Waterloo" und „Geschichte des Feldzuges 1813" bekannt geworden.
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aus den Fenstern. Fast wäre ich dabei von einem dicken Wörterbuch erschlagen worden. In einer Stunde waren 3000 Patronen fertig und verteilt. Man muss das mit angesehen haben, um sich die Begeisterung und Heiterkeit vorzustellen, die dabei herrschten. Jeder rief, was ihm eben einfiel: „Es lebe die Republik.'", ein anderer: „Es lebe die Verfassung!" Einer aus der Truppe Charras' schrie: „Es lebe Napoleon II..'" Als der Mann sich heiser brüllte, wurde Charras, der schon damals radikaler Republikaner war, die Sache schließlich doch zu bunt. Er ging auf den Bonapartisten zu. „Ja, glauben Sie denn, daß wir uns hier für einen Napoleon schlagen?" — „Schlagen Sie sich für wen Sie wollen", antwortete der Mann, „ich kämpfe für Napoleon II." — „Das kann Ihnen allerdings niemand verwehren . . . Aber dann schließen Sie sich einer anderen Truppe an." — „Oh, das ist mir recht", erwiderte jener, „heute wird man überall mit Freuden angenommen." Er verließ die Charras-Reihen und schloss sich einer anderen Truppe an. Durch eine sonderbare Fügung des Zufalls kam im selben Augenblick ein gewisser Chopin Direktor der Reitschule im Luxembourg, im Galopp auf den Platz gesprengt. Er trug einen zugeknöpften Überrock, einen dreieckigen Hut und ritt einen Schimmel. Er stieg ab und stand nun, die Hände auf dem Rücken, mitten auf dem Platz. Die Ähnlichkeit mit Napoleon war so täuschend, daß die ganze Menge, von der nicht einer für den davongejagten Bonapartisten Partei ergriffen hatte, einstimmig in den Ruf ausbrach: „Es lebe der Kaiser!" Eine gute, siebzigjährige Matrone nahm die Sache für Ernst. Sie kniete nieder, bekreuzigte sich und rief: „Gelobt seiest du, mein Jesus! So sterbe ich also nicht, ohne daß meine Augen ihn noch einmal gesehen haben."Hätte sich Chopin an die Spitze der am Odeonplatz versammelten 700 oder 800 Männer gestellt, er hätte sie in einem Zug bis nach Wien führen können. Charras war wütend, aber ich kümmerte mich nicht um die politische Lage. Ich stand hier als einfacher Philosoph, der wie Diogenes die Menschen studieren wollte.Es war zehn Uhr fünfunddreißig auf der Uhr des Instituts.Der Louvre bot einen furchtbaren Anblick dar. Alle Fenster der Gemäldegalerie waren offen, und an jedem Fenster standen zwei Schweizer mit dem Gewehr in der Hand.Der Balkon Karls IX. war gleichfalls mit Schweizern besetzt, die aus Matratzen eine Schanze errichtet hatten.Endlich stand auch eine doppelte Reihe Schweizer hinter dem Gitter der Gärten der Infantin und der Königin. Längs der Brustwehr defilierte ein Kürassierregiment, gleich einer riesigen Schlange mit stählernen und goldenen Schuppen, deren Kopf sich bereits im Tor der Tuilerien befand, während der Schweif sich noch am Quai de l'Ecole hinschleppte. Im Hintergrund war der Säulengang des Louvre in eine dichte Rauchwolke gehüllt. Rechts flatterte die dreifarbige Fahne auf Notre-Dame und dem Stadthaus. Durch die Lüfte zitterten die Klänge der Sturmglocke. Am blauen Himmel hing golden und feurig die Sonne. Den ganzen Kai entlang wurde geschossen,
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besonders aber aus den Fenstern und der Tür einer kleinen Wachstube am Seineufer. Aber Angriff und Verteidigung waren gleich lau. Jeder schien nur aus Pflichtgefühl, aber ohne jede Begeisterung zu schießen. Die Ankunft unserer Truppe brachte Leben in das Ganze, gerade als das Interesse zu erlahmen begann. Wir verteilten uns nach beiden Seiten des Kais hin. Ich suchte mir meinen Platz auf dem Springbrunnen aus und nahm Deckung hinter dem Bronzelöwen vor der Rue Mazarin. Zu meiner Rechten befand sich das Haupttor des Schlosses, das nur alle fünfzig Jahre einmal geöffnet wurde; zu meiner Linken hatte ich das kleine Tor des Instituts. Vor mir hatte ich den Pont des Arts, auf dem ich etwas erblickte, das mir einige Besorgnis verursachte und mir wie ein aufgefahrenes Geschütz vorkam.
Kaum zweihundert Schritte von mir entfernt defilierte das Kürassierregiment und bot mir seine Flanke dar, dahinter standen die Schweizer in roter Uniform mit weißen Aufschlägen: eine herrliche Zielscheibe für mich; das Wasser lief einem dabei im Mund zusammen, aber der Schweiß stand einem dabei auch auf der Stirn! Ich war hinter meinem Löwen ziemlich gesichert, und es hätte schon eines sehr geschickten Schützen bedurft, um mich von dort herunterzuholen. Die meisten Männer des Auflaufs, in dessen Mitte ich mich befand, waren Leute aus dem Volk, die übrigen waren Studenten, Angestellte und halbwüchsige Burschen. Solange das Kürassierregiment vorbeizog, wurde unser lebhaftes Gewehrfeuer, das übrigens nur wenig Unheil anrichtete, von den königlichen Truppen nur schwach erwidert, da sie durch die Linie der Reiter behindert wurden, die zwischen ihnen und uns hindurchzog. Als aber der letzte Reiter das Gitter des zweiten Gartens hinter sich hatte, ging der Tanz los. Es war eine unerträgliche Hitze, kein Lüftchen rührte sich. Der Pulverdampf aus den Gewehren der Schweizer stieg nur langsam. Bald war der Louvre hinter einer Rauchwolke verschwunden, die uns den Anblick der königlichen Truppen nahm, so daß unsere Schüsse völlig wirkungslos an den Mauern abprallten. Wenn einmal durch den Nebel hindurch einer rote Uniform sichtbar wurde, traten die wirklichen Schützen in Tätigkeit, und es geschah selten, daß dann nicht zwei oder drei Soldaten verschwanden. Auf unserer Seite hatten wir während dieser ersten Phase des Kampfes nur einen Toten und zwei Verwundete zu beklagen. Einer der Verwundeten war in den Ober schenkel getroffen worden. Er schleppte sich auf einem Bein fort und verschwand in der Rue de la Seine. Der andere hatte einen Bauchschuss. Er hockte sich nieder und presste beide Hände auf die Wunde, die fast gar nicht blutete. Nach zehn Minuten plagte ihn heftiger Durst; er schleppte sich in meine Nähe und rief meine Hilfe an, um ihn bis zum Brunnen hochzuziehen. Ich gab ihm die Hand und zog ihn zu mir empor. In zehn Minuten trank er wenigstens zehnmal; wenn er nicht trank, stöhnte er: „Oh, diese Bande! Sie haben mich nicht gefehlt!" Und wenn er sah, wie ich
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anlegte, rief er: „Fehlen Sie sie auch nicht!" Nach einer halben Stunde waren alle dieser nutzlosen Schießerei müde. „Zum Louvre, zum Louvre!" schrieen einige. Das war Wahnsinn, denn wie konnten einige hundert Leute es mit dieser Übermacht aufnehmen? Aber unter solchen Umständen fragt man nicht lange, ob etwas vernünftig ist oder nicht Ein Trommler schlug zum Angriff und stürzte als erster auf die Brücke. Alle jungen Burschen folgten ihm unter dem Kriegsgeschrei: „Es lebe die Verfassung!" Der Haupttrupp folgte. Ich gestehe offen, daß ich mich ihnen nicht anschloss. Ich sagte schon, daß ich glaubte, von meiner Stellung aus ein aufgefahrenes Geschütz gesehen zu haben. Solange dieses kein bestimmtes Ziel hatte, hatte man sich seiner nicht bedient. Als aber die Angreifer auf der Brücke daherstürmten, sah ich, wie die brennende Lunte dem Zündloch genähert wurde, und — verschwand hinter meinem Löwen. Im gleichen Augenblick hörte ich Kartätschenkugeln pfeifen, die gegen die Fassade des Institutes aufschlugen, und wurde von einem niederprasselnden Steinhagel überschüttet. Alle auf der Brücke sich befindenden Leute drehten sich um sich selbst, drei oder vier marschierten weiter vorwärts, fünf oder sechs fielen; fünfundzwanzig oder dreißig blieben wie angewurzelt stehen, der Rest ergriff die Flucht. Gewehrfeuer folgte auf den Kanonenschuss. Die Kugeln schlugen rechts und links von mir ein; mein Verwundeter stieß einen Schrei aus: eine zweite Kugel hatte ihm den Rest gegeben! Fast unmittelbar darauf krachte ein zweiter Kanonenschuss, und ein Orkan von Eisenstücken brauste über meinen Kopf dahin. Nun war keine Rede mehr davon, noch weiter vorwärts zu dringen; einige Leute sprangen in die Seine, um sich durch Schwimmen zu retten; der Rest stürzte wie aufgescheuchte Vögel davon und verschwand in der Rue des Petits-Augustins und in einer Sackgasse, die an der Münze entlang läuft. Im Nu war der ganze Kai menschenleer. Ein dritter Schuss krachte, und so wenig eitel ich auch bin, muss ich doch sagen, daß dieser gegen mich allein abgegeben worden ist. Ich hatte schon meinen Rückzugsplan festgelegt und rechnete dabei auf das kleine Eingangstor ins Institut zu meiner Linken. Kaum war daher der dritte Kanonenschuss gelöst, als ich, noch ehe der Pulverdampf sich verzogen hatte und man mein Manöver bemerken konnte, schon auf die Tür losstürzte und mit Kolbenstößen auf sie einschlug. Her Portier war so einsichtsvoll, mich nicht warten zu lassen. Ich schlüpfte durch die halboffene Tür und war in Sicherheit! Gerade als der Portier die Tür wieder schloss, wurde diese von einer Kugel durchbohrt, die ihn aber glücklicherweise nicht verletzte. Nun hatte ich die Wahl, zu welchem meiner Freunde ich mich flüchten sol l t e . Sie fiel auf Madame Guyet-Desfontaines. Ich muss gestehen, daß mein Erscheinen nicht die erwartete Wirkung hervorrief. Zuerst wurde ich fast nicht erkannt, und dann verletzte mein etwas sonderbarer Aufzug, der nicht gerade
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besuchsmäßig war. Als man jedoch mein Gewehr bemerkte, das ich, um keinen Schrecken zu erregen, vor der Tür hatte stehen lassen, da wurde alles klar. Nun wurde ich auf das herzlichste aufgenommen. Ich starb fast vor Hunger und Durst. Man holte mir eine Flasche Bordeaux, die ich fast mit einem Zug leerte. Dann verschlang ich ein großes Stück Schokolade. Die Folge dieser liebenswürdigen Aufnahme war, daß die Wohnung der Madame Guyet mir beinahe zum Capua wurde, wie dieser Ort zweitausend Jahre vorher für Hannibal. Indessen war ich stärker als der Sieger von der Trebia, von Cannä und dem Trasimenischen See; ich konnte mich beizeiten losreißen, ehe mich die Freuden des Aufenthaltes unterkriegten. Ich ging zur kleinen Tür der Rue Mazarin hinaus und kam ohne Unfall zu Hause an. Joseph war gerade damit beschäftigt, die Rüstung Franz I. zu putzen. „Ach, Herr Dumas", rief er, „wie schön ist das! Ich hatte alle diese kleinen Schnörkel vorher gar nicht bemerkt." Die Schnörkel auf der Rüstung waren die Darstellungen der Schlachten Alexanders des Großen. Ich war nach Hause gegangen, um mein Hemd zu wechseln und meinen Vorrat an Pulver und Blei zu ergänzen. Ich hatte aber kaum meine Weste ausgezogen, als ich Lärm auf der Straße vernahm. Er ging von Charras und seiner Truppe aus, die von der Kaserne der Rue Babylone zurückkehrten. Dort war ein furchtbares Blutbad angerichtet worden, und nach einer halbstündigen Belagerung waren sie gezwungen gewesen, Feuer an die Kaserne zu legen, um die Schweizer hinauszuwerfen. Auf den Spitzen ihrer Bajonette trugen sie als Trophäen die roten Uniformen der Schweizer, und von Charras' Dreispitz fiel ein roter Uniformärmel kokett auf seine Schulter herab. Sie alle marschierten, der Trommler an der Spitze, auf di e Tuilerien zu. Vom Schloss ertönte verdoppeltes Geschrei. Ich öffnete mein Fenster nach der Rue du Bac hinaus, von wo aus ich d i e Tuilerien sehen konnte, und sah Tausende von Briefen und Papieren in der Luft herumwirbeln und in den Tuileriengarten niederfallen. Das waren die Briefe Napoleons, Ludwigs XVIII. und Karls X.: die Tuilerien waren gefallen. Ich zog mich schnell wieder an und stürzte die Treppe hinunter. Ich erreichte die Abteilung Charras in dem Augenblick, als sie von der Westseite in die Tuilerien eindrang. Die Trikolore hatte die weiße Fahne auf dem Mittelbau ersetzt. Joubert, der Patriot aus der Passage Dauphine, hatte sie aufgepflanzt und war danach vor Ermüdung oder Freude, wahrscheinlich aus beiden Gründen, ohnmächtig niedergefallen. Die Gitter des Karussellplatzes waren niedergerissen, und die Menge strömte durch alle Tore hinein, darunter Hunderte von Frauen. Woher kamen diese so plötzlich?
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Wer diesem Schauspiel beigewohnt hat, wird es sein Lebtag nicht mehr vergessen. Im Thronsaal drängte sich die Menge, und mehr als 10 000 Personen setzten sich an diesem Tag in den liliendurchwirkten Thronsessel, manchmal zwei zugleich. Alle umarmten sich und fragten nach den Kameraden. Und wenn sie hörten, der und der sei tot, dann gab es als Leichenrede nur eine Geste, die sagen wollte: „Schade um ihn, aber er ist eines schönen Todes gestorben!"Und weiter ging es, vom Thronsaal in das Arbeitszimmer des Königs und von da in sein Schlafzimmer. Was sich hier zutrug, habe ich nie genau erfahren können. Ich sah nur, wie eine dichte Menge vor dem Bett stand, und schloss aus ihren Heiterkeitsausbrüchen, daß etwas Außergewöhnliches vorging . . .Vielleicht die Vermählung des Volkes mit der Freiheit! Als ich den Saal der Marschälle betrat, krachten Gewehrschüsse: man hatte auf das Bild des Marschalls Marmont von Genard geschossen, das man mangels des Originals hinrichtete. Das Porträt wurde herausgeschnitten. Ich bot einem Mann 100 Franken dafür. „Nicht für tausend gebe ich es her, Bürger."Adolph Pourrat näherte sich ihm darauf und bot ihm für das Porträt seine Doppelflinte an. Er erhielt es.In der Bibliothek der Herzogin von Berry bemerkte ich auf einem Arbeitstisch ein Exemplar meiner Christine, in veilchenblaues Leder gebunden und mit dem Wappen der Herzogin geschmückt. Ich glaubte, es mir aneignen zu dürfen und habe es später meinem Vetter Felix Deviolaine geschenkt.Ich war durch den Pavillon de Flore ins Schloss getreten und verließ es durch den Pavillon Marsan.Im Hof tanzten vier Männer Quadrille. Sie tanzten zu den Klängen einer Querpfeife und einer Violine einen der ersten Cancans. Sie trugen Hofkleider und Federhüte. Die Garderoben der Herzoginnen von Angouleme und Berry hatten die Kosten der Maskerade bestritten. Einer der Männer hatte über seine Schultern einen Schal geworfen, der einen Wert von wenigstens 3000 Franken hatte. In der Tasche hatte er wohl kaum 100 Sous . . . Als der Tanz zu Ende war, bestand der Schal nur noch aus Fetzen. Eine Reise in die Vendee Seit Tagen zerbrach ich mir den Kopf darüber, was ich außerhalb meines alltäglichen Lebens, außer meiner Vergangenheit und Zukunft noch zu leisten vermochte. Ich konnte ins PalaisRoyal gehen und um eine Mission bitten, ich konnte mich nach Preußen, nach Russland, nach Spanien schicken lassen, aber das wollte ich nicht. Mein Blick war auf die Vendee gerichtet. Vielleicht gab es dort etwas für mich zu tun.In Saint-Cloud war Karl X. einen Augenblick unschlüssig gewesen, Vitrolles hatte von der Vendee gesprochen, und der König war nahe daran, sich dieser Provinz in die Arme zu werfen. Freilich hatte Karl X. diese Vorschläge abgelehnt und war nach England ins Exil gegangen.
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Aber wenn er sich scheute, über die Leichen der bei Quiberon Gefallenen hinwegzusetzen, um den Boden der Vendee zu betreten, so stand sie doch noch immer anderen Angehörigen seiner Familie offen.Ich war daher der Ansicht, daß es politisch klug sei, einer künftigen Vendee von vornherein entgegenzuarbeiten. Vielleicht redete ich mir das alles nur ein, weil ich Lust hatte, eine Reise nach der Vendee zu unternehmen. Ich begab mich also zum General Lafayette *). Er empfing mich mit offenen Armen.„Ach, sind Sie endlich da? Während des Kampfes habe ich Sie oft zu sehen bekommen, warum nicht auch nach dem Sieg?" — „General", entgegnete ich, „ich wollte erst andere vorlassen, die es eiliger hatten als ich. Aber nun komme auch ich, noch dazu mit einer Bitte." — „Ei, warum nicht?" erwiderte er lachend. „Wünschen Sie vielleicht eine Präfektur?" — „Danke, davor möge mich der Himmel bewahren! . . . Aber nach der Vendee möchte ich reisen." — „Was wollen Sie dort?" — „Ich möchte sehen, ob sich dort nicht eine Nationalgarde aufstellen lässt." — „Kennen Sie Land und Leute?" — „Nein, aber ich werde sie kennen lernen!" — „Kein schlechter Gedanke. Frühstücken Sie in den nächsten Tagen mit mir. Wir wollen dann darüber sprechen."Am folgenden Morgen — es war der 6. August 18 30 — war ich bereits zehn Minuten vor neun Uhr in der Rue Anjou-Saint-Honore Nr. 6. Der General erwartete mich in seinem Arbeitszimmer. „Wenn es Ihnen recht ist, frühstücken wir hier", sagte er. „Wir haben hier alles zur Hand, was wir im Laufe des Gesprächs benötigen sollten. Lassen Sie uns zuerst von Ihrem Plan bezüglich der Vendee sprechen. Haben Sie die Sache auch reiflich überlegt?" — „Soweit ich überhaupt eine Sache zu überlegen imstande bin. Ich handle in der Regel mehr nach Instinkt als nach Überlegung. Ich schlage Ihnen vor, mich in die Vendee zu schicken, um zu sehen, ob sich dort eine Nationalgarde organisieren lässt, die das Land überwachen und jeden royalistischen Putsch vereiteln könnte, falls ein solcher versucht werden sollte." — „Und wie stellen Sie sich vor, daß ein royalistisches Land sich einem royalistischen Putsch widersetzen könnte." — „Vielleicht begehe ich da einen Irrtum, aber hören Sie mich an, General, *) Marie Joseph Motier, Marquis de Lafayette (1757—1834), „der Held zweier Welten", der unter Rochembeau für die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten gefochten hatte und als erster für die republikanische Staatsverfassung in Frankreich eintrat, hatte auch an der Revolution des Jahres 1830 regen Anteil genommen. Nach der Vertreibung Karls X. wirkte er für die Wahl Louis Philippes zum König. Lafayette nahm sich des jungen Dumas, der bei der Revolution um jeden Preis eine Rolle spielen wollte, an und beauftragte ihn zuerst mit einer Mission nach Soissons, um die Vorräte des dortigen Pulvermagazins nach Paris zu schaffen, wo man einen Angriff der Armee Karls X. befürchtete, auf den man nicht vorbereitet war. Der begeisterte Republikaner erledigte seine Aufgabe mit viel Geschick und Entschlossenheit. Die Frau des Kommandanten von Soissons, die in den Kolonien den Aufstand der Negersklaven miterlebt hatte, erschrak beim Anblick des kraftvollen Mannes mit dem dunklen Mulattengesicht so sehr, daß sie ihren Mann zum Nachgeben überredete. Er lieferte Dumas den gesamten Pulvervorrat aus. überglücklich über seinen Erfolg kehrte Dumas nach Paris zurück, an seinem Wagen flatterte die Trikolore, und er glaubte, eine Heldentat verrichtet zu haben wie sein Vater. Lafayette drückte ihm die Hand, der König empfing seinen ehemaligen Schreiber und nannte huldvoll den Zug nach Soissons Dumas' bestes Schauspiel.
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ich glaube, das, was ich Ihnen auseinandersetzen will, ist vielleicht nicht so unsinnig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, und wenn nicht gerade leicht, so doch möglich auszuführen. Die Vendee von 18 30 ist nicht mehr die von 1792; die Bevölkerung, die damals ausschließlich aus Adligen und Pächtern bestand, hat seitdem Zuwachs erhalten in Gestalt einer neuen sozialen Schicht, die sich zwischen beide geschoben hat: die Käufer der Nationalgüter. Obwohl das große Werk der Landverteilung, wie es dem Konvent vorschwebte und aus den von ihm getroffenen Maßnahmen hervorging, die größte Mühe hatte, in diesem Land, wo es vom Adel und der Geistlichkeit bekämpft wurde, festen Fuß zu fassen, so gibt es heute dort nur wenige Großgrundbesitzer, die nicht einige Lappen ihrer Erbschaft in den Händen der Revolution zurücklassen mussten. Diese Lappen sind es, General, die das kleine Grundeigentum bilden, in dem freiheitliche und fortschrittliche Ideen herrschen, weil Freiheit und Fortschritt allein imstande sind, diesen Besitz zu schützen, den jede Gegenrevolution in Frage stellen würde. Und diese Mittelschicht — ist Ihnen das nicht aufgefallen, General — schickt seit 1815 patriotische Abgeordnete in die Kammern und wird mit der Revolution von 1830 zufrieden sein, weil sie darin, wenn auch ein wenig verstümmelt, die Tochter der Revolution von 1792 wiedererkennen wird. Da diese Revolution für sie die Anerkennung des Verkaufes der Nationalgüter bedeutet, so muss sie diese naturgemäß mit aller Macht unterstützen. Nun frage ich Sie, General, gibt es dazu e i n besseres Mittel als die Errichtung einer Nationalgarde, die über d i e Ruhe des Landes wacht, und die aus einer so zahlreichen Klasse besteht, daß sie bei den Wahlen Stimmenmehrheit erhält und imstande ist, mit den Waffen in der Hand dem Land seinen friedfertigen Willen aufzuerlegen? . . . Sie sehen, General, daß mein Projekt fast e i n e algebraische Lösung ist, solide, wie alles, was auf Zahlen beruht, und logisch im Gedanken, daher möglich, ausgeführt werden zu können." „ E i , mein lieber Dichter", erwiderte Lafayette, „Sie treiben also auch Politik?" ..General", bemerkte ich darauf, „ich glaube, wir befinden uns heute in einer Epoche sozialer Wiedergeburt, zu der jeder einzelne beitragen muss, materiell oder intellektuell. Nun, mein Teil als Dichter ist der Wille, etwas Gutes zu schaffen, die Verachtung der Gefahr und die Hoffnung auf Gelingen. Ich will nicht mehr scheinen als ich bin und bitte Sie, mich nicht einmal für das zu halten, wofür ich gelten will, sondern nur für das, wofür Sie mich einschätzen." ..Gut, ich danke Ihnen . . . nach dem Frühstück sollen Sie Ihren Brief haben!" Wir gingen zu Tisch. Her General war ein reizender, interessanter Mensch, voll Gerechtigkeit, gesundem Sinn und Herzensgüte. Er hatte viel gesehen, und was er gesehen hatte, ergänzte das, was er zuwenig gelesen hatte. Man bedenke, was das für mich jungen Menschen bedeutete, so im vertraulichen Gespräch mit einem halben Jahrhundert Geschichte dazusitzen: mit dem Manne, der der Bruder Baillys, der
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Ächter Marats, der Retter der Königin, der Antagonist Mirabeaus, der Gefangene von Olmütz, der Vertreter der französischen Ritterschaft in der Fremde und die Stütze der Freiheit in Frankreich gewesen war; mit dem Manne, der als Held der Revolution von 1789 die Menschenrechte verkündet hatte und nun als Held der Revolution von 1830 das Programm des Stadthauses redigierte! Zum Schluss nahm Lafayette Feder und Papier zur Hand und schrieb:
Herr Alexander Dumas wird ermächtigt, sich als Sonderbeauftragter mit den Behörden der Departements Vendee, Loire Inferieure, Morbihan, Maine und Loire zwecks Errichtung einer Nationalgarde in Verbindung zu setzen. Wir empfehlen Herrn Alexander Dumas, einen der tatkräftigsten Patrioten von Paris, unseren Brüdern, den Patrioten des Westens. Am 6. August 1830
Heil Brudergruß!
.Lafayette
Er überreichte mir das Schriftstück; es war meine Bestallung. „Darf ich Uniform tragen, General?" — „Gewiss. Lassen Sie sich eine Adjutantenuniform oder etwas Ähnliches anfertigen. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß eine Uniform für eine Reise in die Vendee nicht zu empfehlen ist. Dort gibt es Hecken und Hohlwege, und ein Gewehr ist schnell abgeschossen." — „Bah, General! Wenn ich da bin, werde ich schon sehen." — „Nun gut. Wann wollen Sie reisen?" — „Sobald die Uniform fertig ist." — „Sie werden nur mit mir direkt korrespondieren." — „Zu Befehl, General." — „Dann also glückliche Reise! Ich muss jetzt in die Kammer." Damit umarmte er mich, und ich nahm von ihm Abschied. Ich habe seitdem noch oft diesen würdigen, edlen und ausgezeichneten greisen Helden wiedergesehen, der es nicht verschmähte, des öfteren auch mein Heim mit seiner Gegenwart zu beehren. Als ich über den Karussellplatz zu Madame Guyet-Desfontaines ging, der ich noch meinen Dank für die genossene Gastfreundschaft in den Stunden der Gefahr abzustatten hatte, kam mir ein alter Bekannter, Leon Pillet, entgegen. Sein Vater war der Besitzer des Journal de Paris, der mich zwar gelegentlich Heinrichs III. etwas scharf kritisiert, es aber in so geschmackvoller Weise getan hatte, daß ich dem alten Klassiker dafür noch meinen Dank aussprach. Was mich veranlasste, Leon Pillet, entgegenzueilen, war weniger er, als die brillante Uniform, die er trug: Tschako mit Federn in den drei Farben, silberne Epauletten, silberne Schärpe, blauer Waffenrock und blaue Hose. Das konnte wohl einen Mann interessieren, der ein Kostüm für seinen Vendeer Feldzug suchte. Mein erstes Wort war daher auch, ihm zu sagen, welch reizende Uniform er trüge. Es war die eines berittenen Nationalgardisten, die er wohl selbst erfunden hatte. Ich bat
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ihn um die Adresse seines Schneiders und eilte dann sofort zu diesem. Er hieß Chevreuil,
war
einer der ersten Schneider von Paris und wohnte damals an der Place de la Bourse. Er versprach, mir eine vollständige Uniform bis zum 9. oder 10. zu liefern. Ich nahm den Rückweg über den Pont des Arts. Es war das erstemal, daß ich seit dem Tage, wo ich davor Posten bezogen hatte, am Institut vorüberging. Seine Fassade war von Kugeln durchlöchert und erinnerte an das Gesicht eines Pockennarbigen. Dann besuchte ich meine gute Mutter, die ich über diesen Ereignissen ein wenig vernachlässigt hatte. Meine Schwester war soeben aus der Provinz eingetroffen, um mich zu bitten, etwas für ihren Mann zu tun. Arme Mutter! Aber ich hütete mich wohl, ihr zu sagen, daß ich nicht nur nichts zugunsten der Verwaltungskarriere meines Schwagers tun könne, sondern daß ich die meine, soweit das Palais Royal in Frage kam, als vollständig beendet betrachtete. Oudard wollte mich mit Gewalt in Paris zurückhalten oder mich vielmehr mit Athalin nach Petersburg schicken, wohin dieser sich als Gesandter begab. Das wäre für mich eine Gelegenheit, das Kreuz der Ehrenlegion zu erhalten, das mir trotz dem Brief des Herzogs von Orleans an Sosthene bei der letzten Ernennung entgangen war. Ich dankte Oudard für seine freundlichen Bemühungen, bat ihn aber, mich von jetzt ab als nicht mehr zur herzoglich-königlichen Verwaltung gehörig. anzusehen. Oudard bot alles auf, um mich in meinem Entschluss wankend zu machen und war aufrichtig traurig, als er einsah, daß es sich um einen endgültigen Bruch handelte. Am 10. August, also am Tag nach der Proklamierung des Julikönigtums, nahm ich die Post und trat meine Expedition in die Vendee an. Ich hielt mich zuerst in Blois auf, wo ich das Schloss besuchte. Das Schloss, die alte Residenz der Valois, mit seinen blutigen Erinnerungen und Kunstwerken, war in eine Kaserne umgewandelt, in der sich betrunkene und singende Kürassiere tummelten. In Tours nahm ich das Dampfboot bis Ponts-de-Ce und von da wieder den Landweg bis Angers.Hier besuchte ich einen Freund, Victor Pavie, einen braven, jungen Mann mit feurigem Kopf und reinem Herzen. Als ich zu ihm kam, erfuhr ich, daß er gerade einer Strafgerichtssitzung beiwohnte. Man urteilte einen armen Teufel aus der Umgegend von Beaupreau ab, der mit Quecksilber Kupferstücke der Republik weiß gemacht hatte, um sie als Dreißigsoustücke unterzubringen. Und warum hatte er es getan? Um seinen Kindern Brot geben zu können, die Hungers starben.Die ganze Stadt bedauerte den Unglücklichen, aber was half es? Damals wurde Falschmünzerei mit dem Tode bestraft. Trotz der Aufrichtigkeit seines Geständnisses, trotz der Tränen von Frau und Kindern und der glänzenden Verteidigung seines Anwalts wurde der Angeklagte zu zwanzig Jahren Galeerenstrafe verurteilt.
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Ich wohnte der Urteilsverkündung bei und empfand wie jeder die Härte, die den Ärmsten traf. Es war nicht ungerecht, aber allzu streng, und ich hatte das Gefühl, als ob mich die Vorsehung dorthin geschickt habe, um diesen Mann zu retten. Ich kehrte zu meinem Freund Pavie zurück, und ohne ein Wort verlauten zu lassen, schrieb ich an Oudard und an Appert, den Almosenverteiler der Herzogin. Ich setzte ihnen darin die Lage des Verurteilten auseinander und bat sie, beim König und der Königin um die Begnadigung des Schuldigen nachzusuchen. Ich betonte die gute politische Wirkung eines solchen Aktes auf die Vendeer in einem Augenblick, da alles von dieser Seite zu befürchten sei. Ich fügte hinzu, daß ich Angers nicht verlassen würde, bevor eine günstige Antwort eingetroffen sei. Inzwischen besichtigte ich Angers und seine Altertümer und war froh, als endlich ein Brief von Oudard eintraf, der mir kundtat, daß meine Bitte bewilligt worden war. Glücklich über diesen Erfolg, teilte ich meinem Schützling das Ergebnis mit und eilte von dannen. Als Nationalgardist zu Pferde konnte ich nicht gut zu Fuß reisen. Ich mietete mir daher in Meurs ein Pferd. Bei meiner Weiterreise machte ich dieselbe Feststellung wie bei meiner Expedition nach Soissons. In der nächsten Umgebung von Paris rief meine Uniform Beifall und Begeisterung hervor; in Blois wurde ich noch bewundert, in Angers neugierig angestaunt; aber in Meurs, Beaulieu und Beaumont wurde ich sehr kühl empfangen und hatte das Gefühl, daß von nun an, wie Lafayette mir vorhergesagt hatte, hinter jeder Hecke und jedem Strauch mir Gefahr drohe. In Chemille rief meine Uniform fast einen Aufstand hervor. Ich hätte ja meinen Jagdanzug tragen können. Damit wäre a l l e Gefahr für mich gebannt gewesen, aber das schien mir eines Julikämpfers unwürdig zu sein. Ich behielt also meine Uniform an und hing nur noch mein Gewehr um. Am Morgen des nächsten Tages ließ ich um acht Uhr mein Pferd satteln und beging di e Unvorsichtigkeit, ostentativ mein Gewehr mit zwei Kugeln zu laden. Allgemeines Stillschweigen, das wie eine Drohung aussah, begleitete mich, als ich di e Stadt verließ. Ich wollte heute von Chemille bis Chollet kommen, dort um zwei Uhr eintreffen und daselbst über Nacht bleiben. Gegen elf Uhr hatte ich Trementines passiert und näherte mich einem Ort, der mir nicht geheuer schien. Wenn mir eine Gefahr drohte, so war es hier, da ich den Hohlweg zwischen den Wäldern von Saint-Leger und Breil-Lambert zu durchqueren hatte. Ich fragte mich gerade, ob es besser sei, diesen malo sitio, wie die Spanier sagen, im Schritt oder im Galopp zu nehmen, als ich hinter mir eine atemlose Stimme vernahm, die, wie es mir schien, meinen Namen rief. Sollte ich mich verhört haben? Wer konnte hier meinen Namen kennen? Aber jeder Zweifel war unmöglich, als ich zum zweitenmal meinen Namen rufen hörte. Ich wandte mein Pferd um und sah einen Mann auf mich zueilen, der mir mit dem Hute zuwinkte. Es war ein Bauer. Was wollte er von mir? Endlich war er bei mir; er umfasste meine Stiefel und küsste meine Knie. Sprechen konnte er nicht, er war so außer Atem, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Ich glaube, wenn er
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noch fünfzig Schritte mehr hätte tun müssen, so wäre er, wie der Grieche bei Marathon, tot umgefallen. Endlich kam ihm der Atem wieder. „Sie kennen mich nicht", rief er mir zu, „aber ich weiß, wer Sie sind: Oh! Herr Dumas, wie soll ich Ihnen dafür danken, daß Sie mich vor den Galeeren bewahrt haben!" Und er kniete nieder und dankte mir im Namen von Frau und Kindern. Ich sprang vom Pferd und schloss ihn in meine Arme. Nach einigen Minuten hatte er sich so weit beruhigt, daß er weitersprechen konnte. „Welche Unvorsichtigkeit begehen Sie! Und welches Glück, daß ich zur rechten Zeit aus dem Gefängnis entlassen wurde!" — „Wieso das?" — „Wer hat Ihnen denn nur den Rat geben können, in dieser Uniform in der Vendee umherzureisen?" — „Niemand. Ich folgte meinem Kopf." — „Es ist ein wahres Wunder, daß Sie noch am Leben sind!" — „Sind denn die Menschen hier so böse?" — „Das sind sie nicht, aber sie glauben, Sie wollten sich über das Land lustig machen . . . Gestern Abend, Herr, bin ich in Freiheit gesetzt worden. Ich erkundigte mich sofort, wo ich Sie erreichen könnte, um Ihnen zu danken, und da Sie schon fort waren, bin ich Ihnen nachgeeilt. Überall konnte man mir Auskunft geben, man nannte Sie nur Monsieur Trikolore. Ich erfuhr, daß Ihr Erscheinen einen sehr unangenehmen Eindruck gemacht hatte, und nun lief ich hinter Ihnen her, bis ich den Atem verlor. Ich musste Sie unter allen Umständen noch vor dem Wald von Breil-Lambert einholen. Gott sei Dank, es ist mir gelungen! Im Namen unseres Herrn Jesu Christi setzen Sie sich nicht weiteren Gefahren aus!" — „Aber welchen Gefahren denn, lieber Freund?" — „Ermordet zu werden!" — „Nun, dann haben die Leute einen recht schlechten Charakter; desto schlimmer für sie, aber das werden wir sehen." — „Oh, lassen Sie mich mit Ihnen oder vor Ihnen gehen, Herr; wenn sie hören, daß Sie einen vom Bocage von den Galeeren gerettet haben, dann können Sie in Ihrer Uniform überall hingehen, und ich garantiere Ihnen, daß Ihnen nichts zustoßen wird . . . Darf ich es tun?" Ich verlangte nichts Besseres. „Tun Sie, wie Sie wollen", entschied ich. — „Gott sei Dank! Und wohin geht es jetzt?" — „Nach La Jarrie, zwischen Clisson und Torfou." — „Dann sind Sie nicht auf dem rechten Weg." — „Ich weiß, aber ich wollte Freunde besuchen." La Jarrie war ein Landgut, das meinem Freund Villenave gehörte, dort wollte ich mein Hauptquartier aufschlagen. Seit einigen Monaten wohnte dort seine Tochter, Madame Waldor, mit ihrer Mutter und Tochter. „Gut", sagte mein Mann, „dann lassen Sie mich Sie zu Ihren Freunden führen . . . Wir können leicht übermorgen dort sein. Wollen Sie?" — „Gern; ich vertraue mich Ihnen an. Sie kennen Land und Leute. Wenn mir nun etwas passiert, tragen Sie die Schuld." — „Von jetzt ab sind Sie in Sicherheit; dafür stehe ich ein!"
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Zwei Tage später kam ich in La Jarrie an, nicht nur ohne jeden Unfall, sondern überhäuft mit Glückwünschen aller Art, denn mein Mann, der vor mir herlief wie ein Kurier, erzählte jedem, der es hören wollte, und selbst denen, die es nicht hören wollten, von dem Dienst, den ich ihm geleistet hatte. Ich muss heute zu meiner Schande gestehen, daß ich den Namen meines Vendeers leider vergessen habe. Am Tage nach meiner Ankunft in La Jarrie zog ich mein Jagdgewand an, nahm Gewehr und Jagdtasche und machte mich auf den Weg nach Clisson. Zwei Stunden später traf ich dort ein, die Beine von Stechginstern und die Hände von Brombeersträuchern zerrissen. Von Wild keine Spur. Clisson, das man mir so sehr gerühmt hatte, wäre in Griechenland oder Italien eine ganz nette Stadt, aber in Frankreich, in der Vendee, nein: Es liegt etwas Unverträgliches zwischen dem nebligen Himmel des Westens und den flachen Dächern des Orients, zwischen den hübschen Fabriken Italiens und unseren schmutzigen französischen Bäuerinnen. Selbst das Schloss passt nicht in den Rahmen. Es ist von seinem Besitzer, dem berühmten Bildhauer Lemot, so gut wiederhergestellt worden, daß man ihm fast gram sein könnte, daß er an seinen Mauern nicht eine einzige Spinnwebe gelassen hat; es sieht aus wie ein Greis mit falschen Zähnen und falschem Haar, der geschminkt und nicht rasiert ist. Lemot hat Unsummen ausgegeben, um etwas Maleri sches zu schaffen, er hat aber nur eine Anomalie fertiggebracht, die noch dadurch erhöht wurde, daß auf dieser Ruine des elften Jahrhunderts die Trikolore wehte, da der Maire nicht erlaubt hatte, daß die Fahne auf dem Kirchturm gehisst wurde. Herr Lemot hatte sich alle Mühe gegeben, um eine Nationalgarde in Clisson ins Leben zu rufen; er hatte im ganzen zehn Mann dazu bereit gefunden, die der Gendarmeriefeldwebel heimlich einexerzierte. Letzterer war ein braver Kerl, was ihn aber nicht hinderte, mich um jeden Preis festnehmen zu wollen. Die Liberalen hatte er aufgehetzt, indem er behauptete, ich sähe aus wie ein Chouan, und den Chouans hatte er gesagt, ich sei ein Liberaler, so daß schließlich die ganze Stadt mich gern im Gefängnis gesehen hätte. In La Jarrie machte man mir die größten Vorwürfe über meine Unvorsichtigkeit; man konnte nicht begreifen, daß ich nicht auf der Strecke geblieben war. Im Familienrat wurde dann beschlossen, daß ich ohne meinen Führer keine weiteren Ausflüge mehr wagen dürfe. Mein Führer hatte einige Tage Urlaub genommen, um Frau und Kinder wiederzusehen und auch, um überall in den Dörfern mein Lob zu singen, damit ich in Zukunft in Sicherheit sei. Als er zurück war, machten wir uns auf den Weg nach Torfou. Um mir besser dienlich sein zu können, trug er die Landestracht. Er war Chouan vom Kopf bis zu den Füßen; er wollte selbst nichts davon wissen, daß der König ihn begnadigt hatte, in seinen Augen hatte ich es getan.
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Eine Viertelstunde vor Torfou steht an einem Kreuzweg eine zwanzig Fuß hohe Steinsäule, auf der inmitten eines Bronzekranzes vier Namen angebracht sind. Es sind die Namen Charette, d'Elbee, Bonchamp und Lescure. Ich bat meinen Führer um Auskunft darüber. „Ah", sagte er, „hier war es, wo Kleber und seine 35 000 Mainzer von den Chouans geschlagen worden sind." In Wirklichkeit hatte das Armeekorps, das Mainz geräumt hatte, nur aus 10 400 Mann bestanden. „Ja, ich erinnere mich", bemerkte ich, „es war am 19. September 1793." Und ich erzählte, wie hart Kleber bedrängt wurde, wie er zurückweichen musste und die Rettung des Restes seiner Leute nur der heldenmütigen Aufopferung des Feldwebels Schewardin verdankte, der mit 200 Mann bei der Verteidigung einer Brücke gegen die nachdrängenden Chouans fiel." „Ja, ja, so war es", bestätigte mein Führer, „ich war dabei. Ich war damals erst fünfzehn. Sehen Sie hier, Herr", fügte er hinzu und nahm seinen Hut ab, „diese Narbe auf meiner Stirn stammt daher. Ein Adjutant des Generals, der nicht viel älter war als ich, hat mir die Verwundung beigebracht; bevor ich aber zusammenbrach, hatte ich noch Zeit, ihn mit dem Bajonett zu durchbohren und zugleich zu schießen; wir fielen einer auf den anderen. Als ich wieder zu mir kam, sah ich ihn tot neben mir liegen. Eine Meile in der Runde um uns war die Erde mit Chouans und Blauen besät, so daß man nicht wusste, wohin den Fuß setzen. Man hat alle auf dem Fleck beerdigt, wo sie gefallen waren. Daher blühen hier die Bäume so herrlich, daher das frische Grün der Gräser." Ich blickte sinnend auf die Säule. Des Mutes Klebers und der Aufopferung Schewardins war nicht Erwähnung getan. Nur die Namen der vier Vendeer befanden sich darauf. Das Blut stieg mir in den Kopf über diese Parteilichkeit, und ich vergaß, wo ich war. „Ich weiß nicht", sagte ich laut, „was mich abhält, eine Kugel mitten auf die Säule zu schießen und Kleber und Schewardin darunter zu schreiben!" Da fühlte ich, wie die zitternde Hand meines Führers sich auf meine Schulter legte. Ich wandte mich nach ihm um; er war kreideweiß und sagte: „Im Namen unseres Heilandes, Herr, tun Sie das nicht! Ich habe geschworen, Sie mit heiler Haut aus dem Land wieder herauszubringen. Wenn Sie aber so handeln, stehe ich für nichts . . . Wissen Sie, daß diese vier Männer unsere Götter sind, und daß jeder Vendeer Bauer hier vor dieser Säule sein Gebet verrichtet, wie man am Eingang unserer Dörfer an den Stationen der Jungfrau betet? Tun Sie das nicht, sonst haben Sie die Hecken zu fürchten!" Ich erwiderte nichts darauf, und wir sprachen den ganzen Weg bis Tiffauges kein Wort mehr miteinander. Tiffauges ist eine ehemalige römische Station. Dieser Teil Galliens ist von den Römern niemals gänzlich unterworfen worden. Kaum ist Augustus auf dem Thron, als vom Bocage her der Kriegsruf ertönt.
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Agrippa eilt herbei und glaubt, den Aufstand niedergeschlagen zu haben, der nach seinem Abzug sofort wieder ausbricht. Messala folgt ihm und führt den Dichter Tibullus mit sich. Auch er hat keinen besseren Erfolg. In Tiffauges wird man an Cäsar, Hadrian, Chlodwig und die Westgoten erinnert; neben dem römischen Grabmahl steht die fränkische Wiege; zwanzig Jahrhunderte Geschichte haben sich hier abgespielt. Das Schloss, dessen Ruinen wir besuchten, scheint im Anfang des zwölften Jahrhunderts begonnen und erst am Ende desselben beendet worden zu sein. Der berüchtigte Gilles de Laval, Marschall de Rez, als Ritter Blaubart bekannt, hatte dort gewohnt und Anlass zu einer Menge von Legenden gegeben, die noch heute im Munde des Volkes fortleben. Nach einem Aufenthalt von sechs Wochen kannte ich dank meinem Führer das Land so gut, wie seine Bewohner, vielleicht noch besser. Ich nahm daher Abschied von Madame Villenave und ihrer Tochter und reiste nach Nantes. Jenseits Clisson hatte ich die Begleitung meines Vendeers nicht mehr nötig; ich entließ ihn daher, es gelang mir aber nicht, mich in irgendeiner Weise ihm für die geleisteten Dienste erkenntlich zeigen zu können; er lehnte alles ab, indem er anführte, daß er ewig mein Schuldner bleiben werde. Wir nahmen Abschied, und ich zog von dannen; er blieb noch lange stehen und winkte mir, so oft ich mich umdrehte. An einer Wegbiegung verlor ich ihn aus dem Gesicht. Eine Stunde später war ich in Nantes. Nantes hatte wie Paris seine Revolution gehabt. Man zeigte mir Häuser, die ebenso schöne Narben hatten wie der Louvre und das Institut. Von Nantes ging ich nach Paimboeuf. Ich hatte das Meer bisher nur bei Le Havre gesehen, und man behauptet sogar, daß das noch gar kein Meer sei, was ich gesehen hatte. Ich war sehr gespannt darauf, nun einmal das richtige zu erblicken, das die Seeleute das wilde nennen. Ich speiste in Paimboeuf im Gasthaus Jacomety. Neben mir saß eine junge Frau, die mit Mühe ihre Tränen zurückhielt und die Speisen kaum anrührte. Ich erfuhr später, daß der junge Mann neben ihr die reizende Dame gestern geheiratet hatte und sie nun nach Gouadeloupe in ihre neue Heimat mitnahm. Die Arme kannte das Land nicht, wohin sie ging, und weinte nun in Erwartung von Kindern, die ihre Tränen um Freunde und Eltern trocknen sollten. Auch der Kapitän, der das junge Paar entführen sollte, speiste mit uns. Ich bat ihn um die Erlaubnis, sein Schiff, die „Pauline", einen Dreimaster, besichtigen zu dürfen.
Am anderen Morgen weckte er mich frühzeitig, und wir gingen an Bord der „Pauline". Da ich glaubte, dem Schiff nur einen einfachen Besuch zu machen, und wir noch in den schönen Tagen am Ende des Sommers waren, so hatte ich mich sehr leicht gekleidet.
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Zum erstenmal in meinem Leben sah ich ein Schiff, das eine große Überseereise antrat. In Le Havre hatte ich allerdings schon große Passagierschiffe gesehen, die nach Boston oder NeuOrleans gingen, aber diese glichen mehr großen Hotels als Schiffen. Die „Pauline" dagegen war ein Dreimaster vom reinsten Wasser. Ich besichtigte das Schiff wissbegierig bis in alle Einzelheiten in der Hoffnung, daß ich bei Gelegenheit Seeromane wie Cooper oder wenigstens wie Eugen Sue schreiben könnte. Als ich auf Deck zurückkehrte, legte gerade das Boot an, das das junge Ehepaar mit seinem Gepäck an Bord brachte. Die junge Frau konnte sich nicht mehr zurückhalten und ließ ihren Tränen freien Lauf. Als ich ihr die Hand zur Hilfe entgegenstreckte, sah sie mich überrascht an und fragte, ob ich auch nach Gouadeloupe reiste. Ich verneinte und bot mich an, ihre Aufträge auszuführen, falls sie ihren Lieben noch etwas mitzuteilen habe. Ihr Mann reichte mir zum Dank die Hand und bat mich, seiner Schwiegermutter zu versprechen, daß er ihre Tochter in drei Jahren nach Frankreich zurückbringen werde.Ich versuchte, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen — und es gelang mir, die Ärmste ein wenig zu beruhigen. Inzwischen hatte der Kapitän seine letzten Befehle erteilt, die Taue waren eingezogen, und nur der Anker hielt das Schiff noch zurück. Als ich mich vom" Kapitän verabschieden wollte, bemerkte er: „Sie haben es ja sehr eilig, uns zu verlassen. Ich hatte midi schon darauf gefreut, mit Ihnen zu frühstücken." — „So? Aber wie soll ich denn wieder an Land kommen?" — „Sehr einfach: mit dem Lotsenboot. Geben Sie dem Lotsen einen Taler und fahren Sie mit uns, bis er uns verlässt. Er wird Sie dann für einen Engländer halten, der die Seekrankheit kennen lernen will." — „Gut. Dann frühstücke ich mit Ihnen." Er vereinbarte alles mit dem Lotsen und gab dann den Matrosen den Befehl „Anker auf". Die Segel wurden gesetzt, und langsam glitt die „Pauline" stromabwärts. Nun suchte ich wieder das junge Paar auf und teilte ihm mit, daß wir noch zusammen frühstücken würden, worüber beide hocherfreut waren. Mit dem Kapitän machte ich ab, daß das Frühstück auf Deck stattfinden sollte, damit die junge Frau noch so lange als möglich die heimatliche Küste im Auge behalten könnte. Als ich der jungen Frau das mitteilte, drückte sie mir gerührt die Hand und sagte zu ihrem Mann: „Wie gut ist doch der Herr!" — „Es ist wahr", entgegnete er, „sei ihm nur recht dankbar für diese Idee. Ich hätte, weiß Gott, nicht daran gedacht!" Wie kommt es, daß selbst die verliebtesten und ganz jung verheirateten Ehemänner niemals an Dinge denken, die Fremden einfallen? Vielleicht kann der Scharfsinn der Psychologen, die dieses Buch lesen, darauf eine Antwort erteilen. Die Tafel wurde also auf Deck aufgestellt; die junge Frau aß wenig, verlor aber keinen Augenblick die beiden Ufer der Loire aus den Augen, die mehr und mehr zurücktraten. Je mehr wir uns dem offenen Meer näherten, desto mehr nahm das Wasser eine andere Farbe an und ging vom
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Braun zum Grün über; auch kleine Wellen machten sich bereits bemerkbar. Sobald wir SaintNazaire passiert hatten, befanden wir uns am Grunde eines riesenhaften V, an dessen breitester Öffnung das unendliche Meer sichtbar wurde. Dieser Anblick machte auf die junge Frau einen tiefen Eindruck des Schreckens. Obwohl das Wetter nicht schlecht war, ging die See doch ziemlich hoch; aber nicht die Wellenberge mit ihren Schaumköpfen ließen die melancholische Reisende erbleichen, sondern der Gedanke an die Unendlichkeit, der einen beim Anblick des Meeres erfasst. Um zwei Uhr nachmittags waren wir auf hoher See. Zu unserer Linken zeigte sich die Insel Noirmoutier (nigrum monasterium), die ihren Namen einem Benediktinerkloster verdankt, das im siebenten Jahrhundert vom heiligen Philibert gegründet worden war und im neunten Jahrhundert von den Normannen zerstört wurde, deren Erscheinen die letzten Jahre Karls des Großen verdüstert hatte. Auf unserer Rechten trat BelleIsle hervor, die Insel Fouquets, die später der Heldin eines meiner Stücke ihren Namen geben, auch zum Schauplatz einer Episode meiner „Drei Musketiere" werden und meinem armen Freund Porthos ein würdiges Grab bereiten sollte*). Vor uns war das weite Meer mit seinen ausgezackten Schaumköpfen, und am Horizont ein drohender, von schweren Wolken verdunkelter Himmel, hinter dem die Sonne hinabtauchte. Wir waren ungefähr drei Meilen vom Hafen entfernt und hatten die gefährlichen Stellen hinter uns. Der Lotse erklärte daher, daß seine Tätigkeit nun zu Ende sei und gab das Kommando an den Kapitän zurück. Ich blickte mit einer gewissen Unruhe, ich gestehe es ein, auf die halsbrecherische Strickleiter, die meinen Umzug vom Schiff auf das Lotsenboot vermitteln sollte. Zudem l i e f das Schiff sieben Meilen in der Stunde. Ich war einen Augenblick nahe daran, erst in Gouadeloupe auszusteigen. Der Kapitän sah, was in mir vorging und überlegte, daß eine Verspätung von zehn Minuten bei einer sechswöchigen Fahrt nichts ausmache, und bemerkte: „Nun, nehmen Sie Abschied von Ihren neuen Freunden. Ich lasse inzwischen das Schiff anhalten." Er gab die nötigen Befehle, die Segel wurden anders gestellt, und das Schiff hielt in seiner Fahrt inne. Der Lotse war im Nu in seinem Boot. Ich näherte mich der Armen, die ihre Heimat verlassen musste. Sie zerfloss stillschweigend in Tränen. „Nicht wahr, Herr, Sie werden meinen Auftrag ausführen?" fragte sie schluchzend. „Sie werden meiner Mutter einen Kuss von mir überbringen?" — „Ich verspreche es Ihnen, Madame." — „Aber wenn du das willst", warf ihr Mann ein, „dann musst du doch zuerst den Kuss dem Herrn geben!" — „O ja", rief sie aus, „von Herzen gern." Und sie schlang beide Arme um meinen Hals. Wie sonderbar! Diese Frau und ich hatten uns gestern zum erstenmal im Leben gesehen. Heute morgen waren wir einander noch fremd. *) Am Schluß des 3. Teils von „Der Graf von Bragelonne“'.
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Bei der Abfahrt lernten wir uns kennen, beim Frühstück wurden wir Freunde und bei der Trennung waren wir intim wie Geschwister. „Sie werden meinen Namen nicht vergessen, nicht wahr?" fragte sie mich noch. — „Suchen sie sich die nächsten Bücher zu verschaffen, d i e ich schreiben werde, und Sie werden den meinen darin wieder finden." Abstieg ins Boot . . . Zum Glück hatte ich bei meinen turnerischen Übungen eine ganze Anzahl Zuschauer; und wenn man sich beobachtet sieht, fühlt man sich mutiger. Ich klammerte mich also tapfer an die Stricke des großen Mastes und an die Leiter, die der Lotse aus Angst, ich könnte ins Meer fallen, bevor er seinen Taler erhalten hatte, straff mit der einen Hand anzog, während er mit der anderen ein Tau ergriffen hatte, um die Barke im Bereich des Schiffes zu halten. Ich war kaum zwei Stufen hinunter, als der Wind meinen Hut entführte. Ich versuchte nicht einmal, ihn zu fassen; ich hatte noch zu wenig Hände, um mich an der Leiter festzuhalten. Endlich gelangte ich zu meiner großen Befriedigung in das Boot. Ich muss gestehen, daß ich in diesem Augenblick eine der lebhaftesten Freuden meines Lebens empfunden habe. Kaum saß ich auf der Bank, als der Lotse Leiter und Tau fahren ließ, und wir schon dreißig Schritte von der „Pauline" entfernt waren. Ich hörte noch das Kommando des Kapitäns, die Segel des Hauptmastes zu entfalten, und sah, wie das Schiff davonflog. Meine jungen Freunde standen auf dem Hinterdeck und winkten mir Abschiedsgrüße zu. Inzwischen hatte der Lotse ein kleines Segel gehisst. Der Wind wehte so heftig, daß er unser Boot ganz auf eine Seite legte, so daß ich mich an der entgegengesetzten Seite anklammern musste, um nicht ins Meer zu fallen.
Der Spaß fing an, kein Spaß mehr zu sein. Selbst der Lotse wurde unruhig und sah ängstlich zum Horizont. Je näher wir dem Land kamen, desto größer wurden die Wellen. Zudem brach die Nacht schnell herein. Ich sah noch den Dreimaster, weil seine Segelpyramide sich vom Rot der untergegangenen Sonne abhob, wir aber waren sicher schon den Blicken der darauf Befindlichen entschwunden wie eine in den Wellen verlorene Möwe. Wer sich schon auf einer gebrechlichen Barke befunden hat, verloren in Abgründen, die rechts und links von einer beweglichen Mauer eingeschlossen sind, die Unendlichkeit vor und hinter sich, über sich schwere Wolken und einen düsteren Himmel, der weiß allein, was ihm der vorbeisausende Wind zugeflüstert hat, wenn er ihm durch das schaumfeuchte Haar gefahren ist! Nach einer halben Stunde musste der Lotse das Segel einziehen und sich in die Ruder legen, die aber bei den hohen Wellen nur schwer zu handhaben waren. Wo Felsen herausragten, schlugen die Wellen höher und weißer empor und übersprühten uns mit feinen, eisigkalten Schauern. Zum
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Glück hatten wir die Flut mit uns, aber der Wind trieb uns von der Mündung der Loire fort, seitwärts gegen die Küste von Croisic zu. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo wir waren. Es war unmöglich, sich zu orientieren, da die Nacht inzwischen vollends hereingebrochen war. Ich beschloss, mich um nichts mehr zu kümmern, kauerte mich auf dem Boden der Barke nieder und klammerte mich dort an, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Angenehm war meine Lage nicht, denn ich saß bis zur Hälfte des Körpers im Seewasser, das vorher, als wir unter Segel gingen, ins Boot geschlagen war. So vergingen zwei volle Stunden, die mir die längsten schienen, die ich je verlebt hatte.
Plötzlich sah ich, wie der Lotse ungewöhnliche Bewegungen machte, und fühlte, daß das Boot in die Höhe sprang, als ob es plötzlich wahnsinnig geworden wäre. Im gleichen Augenblick wurde ich mit Wasser überschüttet, das mir in den Hemdkragen eindrang und bis in die Stiefel hinunterlief. Ich glaubte, daß es mit uns zu Ende sei, aber das Boot hob sich wieder: wir waren durch eine Art Wasserfall gefahren, der von der Höhe eines Felsens herabstürzte. Nun schloss ich die Augen und ergab mich abwartend in mein Schicksal.
Deutlich konnte man jetzt die Brandung vernehmen; es war klar, daß wir nur noch ein oder zwei Kabellängen von der Küste entfernt waren. Der Lotse war nur darauf bedacht, sein Boot durch die hervorstehenden Felsblöcke hindurch zu bringen. Plötzlich sprang er auf und rief mir zu: „Halten Sie sich gut fest!" Diese Empfehlung war unnötig, denn ich klammerte mich schon so fest an, daß meine Fingernägel sich in das Holz eindrückten. Nun erfolgte e i n heftiger Anprall; das Boot saß auf. Der Lotse sprang über mich hinweg ins Meer; er watete bis zur Brust im Wasser, ergriff ein Tau und zog das Boot hinter sich her. Fünfzehn Schritte vor uns war der Strand. Die nächste Welle warf das Boot noch näher an Land. Mein Mann wollte mich auf die Schultern nehmen und mich hinübertragen, damit ich nicht nass würde. Da ich aber schon durchweicht war wie ein Schwamm, so kam diese Vorsichtsmaßregel etwas zu spät. Ich sprang auch ins Meer, gerade als eine zweite Welle kam, die mir über den Kopf ging und mich ans Ufer warf. „Gut, jetzt ist das Bad wenigstens vollständig!" schrie ich. „Was muss ich Esel aber auch solche Spazierfahrten machen, wenn es nicht nötig ist!" Wie froh war ich aber trotzdem, wieder festen Boden unter mir zu fühlen! Wir waren in einer kleinen Bucht gelandet, anderthalb Meilen von Saint-Nazaire entfernt. Der Lotse blieb bei seinem Boot, während ich mich entschloss, zu Fuß nach Saint-Nazaire zu gehen. Ich musste Bewegung haben, denn ich war bei dem trockenen, eisigen Wind halb erstarrt. Ich zahlte meinem Mann anstatt der vereinbarten drei Franken fünf und lief mit bloßem Kopf, die Hände in den Taschen, keinen trockenen .Faden am ganzen Körper, die Kleider von Seewasser durchnässt, das niemals wieder trocknet, im Trab die Küste entlang.
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Eine Stunde später stand ich vor dem einzigen Gasthof von Saint-Nazaire und bat um Einlass. Der Wirt machte aber Schwierigkeiten, um e l f Uhr nachts einen Mann ohne Hut aufzunehmen. Unsere Unterredung hätte sich wahrscheinlich bis ins Unendliche fortgesetzt, wenn mir nicht der gute Gedanken gekommen wäre, ihm durch das Fenster e i n Fünffrankstück zuzuwerfen. Nachdem der Wirt es sorgfältig an der Lampe auf seine Echtheit geprüft und gut befunden hatte, entschloss er sich endlich, mir zu öffnen. Zehn Minuten später saß ich nackt an einem ungeheuren Feuer, das mich briet statt zu wärmen; ich war aber glücklich und zufrieden, da zu sein, und dachte nicht an die zu große Hitze, nachdem ich vorher zu große Kälte ausgestanden hatte. Der Wirt war jetzt sehr liebens würdig, gab mir eines seiner Hemden, wärmte mein Bett und nahm meine Kleider an sich, um sie in seinem Backofen zu trocknen. Am anderen Morgen konnte ich nach Paimboeuf reisen; abends war ich in Nantes und am nächsten Tag in Tours, wo ich Madame M . . . den letzten Auftrag ihrer Tochter ausrichten konnte. Am gleichen Tag nahm ich die Post. Ich war der karlistischen Sprache, die ich sechs Wochen lang gehört hatte, herzlich müde und sehnte mich wieder nach meiner Julisonne, nach meinem revolutionären Paris mit seinen kugeldurchlöcherten Häusern. Als ich in Paris ankam, regnete es in Strömen. Die Kugelspuren an den Gebäuden wurden beseitigt, und Guizot war Minister. Ich fand Paris in großer Erregung. Während meiner Abwesenheit waren die Minister der vorigen Regierung, die Urheber der Ordonnanzen, deren Veröffentlichung den Sturz Karls X. verschuldet hatten, verhaftet worden. Während in der Kammer über die Abschaffung der Todesstrafe debattiert wurde, verlangte die öffentliche Meinung den Tod der Minister, weil sie auf das Volk hatten schießen lassen. Es herrschte eine seltsame Überreiztheit der Gemüter. Über meine Reise hatte ich General Lafayette einen Bericht eingereicht, den er zweifellos dem König übermittelt hatte, denn einige Tage nach meiner Rückkehr ließ mich Oudard zu sich bitten. Ich begab mich sofort zu ihm, denn trotz allem, was mir mein ehemaliger Abteilungschef angetan hatte, hegte ich doch eine wahrhafte Zuneigung zu ihm. Ich war überzeugt, daß er wie Deviolaine sich meinen literarischen Arbeiten nur deshalb widersetzt hatten, weil sie mich für unfähig hielten. „Wie kommt es", fragte mich Oudard, „daß wir Sie noch nicht hier gesehen haben? Sie sind doch schon seit acht Tagen von der Reise zurück?" — „Aber, mein lieber Oudard, Sie wissen doch, daß ich mich nicht mehr als Beamter betrachte." — „Dazu kann ich nur sagen, daß wir Sie immer noch als unseren Kollegen betrachten, solange Sie nicht selbst Ihre Entlassung beantragt haben." — „Wenn es nur das ist . . . das werden wir gleichen haben." Ich griff nach Feder und Papier. „Halt! Sie haben immer noch Zeit, eine Dummheit zu machen . . . Jedenfalls möchte ich
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nicht, daß Sie sie hier in meinem Büro begehen Ich legte die Feder wieder nieder und setzte mich an den Kamin. Nach einigem Stillschweigen fragte mich Oudard: „Möchten Sie nicht gern den König sehen?" - „Wozu das?" - „Nun, wenn es auch nur wäre, um ihm für die Begnadigung Ihres Falschmünzers zu danken."
„Die hat er Ihnen gewährt, nicht mir." - „Sie irren. Ihr Brief, nicht der meine, wurde ihm vorgelegt, und auf Ihrem Brief steht die Randbemerkung: .Bewilligt'." - „Na, dann danken Sie ihm in meinem Namen, lieber Freund, Sie verstehen sich besser darauf als ich, mit gekrönten Häuptern zu sprechen." - „Sie fühlten sich doch stark genug, um mit Karl X. zu sprechen!" „Ah! Das war etwas anderes! Er war ein König älteren Datums. Eine Bourbone, kein Valois." -„Pst! So etwas dürfen Sie hier nicht sagen!" - „Hört man es aus Scham oder Reue nicht gern?" - „Sie sind unverbesserlich!" Wieder längeres Stillschweigen. „Sie haben also keine Lust, den König zu sprechen?" - „Nicht die geringste." - „Aber wenn er Sie nun zu sprechen wünschte?" - „Der König? Mich? Das glaube ich nicht." -„Und wenn ich nun beauftragt wäre, Ihnen die Stunde einer Audienz anzugeben?" - „Nun, mein Lieber, dann würde ich sie nicht so unhöflich zurückweisen . . . Ich glaube aber nicht, daß Sie einen dahin lautenden Auftrag haben." - „Da irren Sie wieder: Der König erwartet Sie morgen früh um acht Uhr." - „Da wird er in mir einen recht unangenehmen Partner finden, denn wenn ich so früh aufstehen muss, bin ich stets schlechter Laune." - „Wollen Sie heute mit mir speisen?' - „Wer ist noch dabei?" „Lamy und Appert. Passt Ihnen das?" — „Sehr gut, dann also auf heute Abend."
Wir trennten uns mit warmem Händedruck. Da ich gerade im Palais-Royal war, so besuchte ich meine alten Freunde Lassagne, Ernst und de la Ponce, die mich aufs herzlichste aufnahmen; schließlich auch Vetter Deviolaine.
Wie gewöhnlich ging ich in sein Büro, ohne mich anmelden zu lassen. Kurzsichtig wie ein Maulwurf, lag er fast mit dem Gesicht auf dem Papier und löschte mit den Haaren, die aus seiner Nase herauswuchsen, die Buchstaben wieder aus, die seine Feder hingeworfen hatte. Beim Geräusch meiner Schritte hob er den Kopf, erkannte mich und sagte: „Ah! Da ist er ja, der Herr Eisenfresser!" - „Jawohl, da ist er." — „Ich rate dir, wieder nach Soissons zurückzukehren." — „Warum?" — „Da wirst du gut empfangen werden!" — „So? Sind die Leute in Soissons denn inzwischen so böse geworden?" - „Nun sage mal, schämst du dich denn nicht, in deiner eigenen Heimat einen solchen Skandal zu machen?" - „Übrigens, daß ich es nicht vergesse, ich möchte Sie um etwas bitten." - „Für dich?" - „Davor behüte mich der Himmel! Nein, für einen meiner damaligen Gefährten, für Hutin. Ich wünsche für ihn eine Stelle als berittener Forstaufseher." - „Und du glaubst, so etwas kann man aus dem Ärmel
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schütteln?" - „Sie gewiss." — „Und was hat er denn getan, um sie zu verdienen?" — „Was er getan hat? Er war mit mir in Soissons." — „Eine schöne Empfehlung!" - „Wollen Sie mit mir wetten, daß Sie ihm die Stelle verschaffen
werden?"
-
„Wetten,
daß
nicht?"
„Fünfundzwanzig Loui s ." — „Hat man jemals einen solchen unverschämten Kerl gesehen!" - „Also wetten . . . " - „Wer weiß? Vielleicht wirst du mir auch die Pistole auf die Brust setzen, wie dem Platzkommandanten von Soissons?"
- „O nein! Bei Ihnen würde ich
damit nichts erreichen." - „Ich glaube auch nicht." - „Aber ich werde Sie darum durch einen bitten lassen, dem Sie es nicht abschlagen können, durch Lafayette." - „Lafayette? Der hat mehr zu tun, als Bittgesuche zu befürworten." - „Da haben Sie recht. Na, dann werde ich den König selbst darum bitten, den ich morgen sehen werde." - „Du hast um Audienz gebeten?" — „Ganz und gar nicht; er ist es, der mich zu sprechen wünscht. Er hat es mich durch Oudard wissen lassen." - „Und was will er von dir?" - „Das weiß ich nicht, wahrscheinlich ein bisschen mit mir plaudern." - „Mit dir plaudern! Auf Ehrenwort, der Junge besitzt eine unglaubliche Unverschämtheit! . . . Und was wirst du dem König denn sagen, wenn du mit ihm plauderst?" - „Was er schon lange nicht mehr gehört hat: . . . die Wahrheit!" - „Wenn du glaubst, daß du damit deinen Weg machst, dann irrst du dich, mein Junge!" -„Mein Weg ist gemacht. . . Sie wissen besser als jeder andere, daß weder Sie noch er mir dabei geholfen haben." — „Oho! Dieser verdammte Dickkopf.' Ich meine, seinen Vater sprechen zu hören. . . . Ich dachte, dein Hutin sei reich?" - „Ah! Sie kommen darauf zurück! Gewiss, er ist reich, deshalb verlangt er eine überzählige Stelle." - Aber er soll allen Mädchen nachrennen." — „Zum Teufel, soll er etwa den Männern nachrennen?" - „Ein Wilddieb?" - „Sie haben hundertmal behauptet, Wilddiebe seien die besten Waldhüter." - Al s o sage ihm, er soll bei mir vorsprechen, wenn er wieder nach Paris kommt." - „Ich werde ihn selbst herführen." - „Nur das nicht... Hu hast eine Art, mich einzuseifen . . . " - „Ah, ja! Das habe ich bei ..Heinrich III." und „Christine" gesehen!" - „Und was treibst du letzt?" - „Nichts!" - „Du faulenzt also?" - „Aber bald werde ich wahrscheinlich etwas tun." - „Was denn?" - „Ich werde mich schlagen, kämpfen." - „Kämpfen? Gegen wen denn?" - „Gegen den, der am Ruder ist, gegen das, was besteht."
-
„Willst du augenblicklich machen, daß du
weiterkommst! Nur schnell hinaus! . . . Hat man denn so etwas schon gesehen? Und mir, mir sagt er so was ins Gesicht!" — . . A u f Wiedersehen, Vetter." - „Ich dein Vetter? Ich möchte lieber e i n Vetter des Teufels sein! . . . „Feresse! Feresse!" Feresse kam herein. „Feresse, sehen Sie diesen Herrn da? Wenn er sich jemals hier wieder sehen lässt, dann sagen Sie ihm, daß ich nicht da bin." - „Herr Feresse ist mir sehr gleichgültig. Wenn ich zu Ihnen will, werde ich nicht erst um Erlaubnis bitten!" - „So? Dann werde ich dich eigenhändig an die Luft setzen!" - „Sie?" - „Willst du es vielleicht gleich sehen?" — „Weiß Gott, das möchte ich!" — „So, das möchtest du? Na, warte ein wenig!"
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Er sprang wütend auf und stürzte auf mich los. Ich schlang ihm beide Arme um den Hals und küsste ihn auf beide Wangen. Er blieb wie versteinert stehen. Ich sah, wie seine Augen feucht wurden. „Sie können wieder gehen, Feresse", sagte er zu diesem. Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Was mich am meisten betrübt, siehst du, das ist, daß du mit diesem Charakter wie dein Vater auf dem Stroh krepieren wirst! . . . Also, die Sache mit Hutin ist in Ordnung. Jetzt geh weiter, ich habe zu tun." Ich schrieb sofort an Hutin, er solle nach Paris kommen. Drei Monate später hatte er seine Anstellung als Überzähliger, und achtzehn Monate danach wurde er mit Gehalt angestellt. Am nächsten Morgen Punkt acht Uhr war ich beim König. Ich hatte für die Feierlichkeit meine Uniform als berittener Nationalgardist angelegt. Der König empfing mich — war es Zufall oder Absicht? — in demselben Zimmer, wo er mich als Herzog von Orleans am Tage vor der Erstaufführung von „Heinrich III." empfangen hatte. Ich fand ihn in seiner Haltung und seinem Wesen unverändert; er trug dasselbe Lächeln und dieselbe Freundlichkeit zur Schau, denen man so schwer widerstehen konnte, und d i e Laffitte ein Vermögen, Casimir Perier seine Gesundheit und Thiers seinen Ruf gekostet haben. „Guten Tag, Herr Dumas!" begrüßte mich der König. Ich verneigte mich vor ihm. „Sie kommen gerade aus der Vendee zurück, wie ich höre?" — „Ja, Sire." — „Wie lange waren Sie dort?" - „Sechs Wochen, Sire." — „Man hat mir mitgeteilt, daß Sie dort sehr gründliche Studien gemacht haben, die wert wären, daß ich davon Kenntnis nähme." — „Gewiss, General Lafayette?" — „Allerdings." — „Ich war der Ansicht, daß er mehr getan habe, Sire, und daß er meinen Bericht dem König vorgelegt habe." „Das hat er auch getan... Ich finde aber in dem Rapport eine Lücke. General Lafayette hatte Sie beauftragt, die Möglichkeit zu studieren, in der Vendee eine Nationalgarde zu organisieren. Sie erwähnen aber diesen Gegenstand kaum mit einer Silbe." — „Das ist richtig, Sire. Meine Untersuchungen am Ort selbst haben mich überzeugt, daß die Errichtung einer Nationalgarde in der Vendee nur eine vorübergehende Maßregel wäre, die aber den Mittelstand, die Geschäftsleute, Handwerker und Rechtsanwälte, die keine Zeit haben, militärische Übungen mitzumachen, nur schädigen würde; gefährlich wäre sie auch, denn wir hätten dann wieder Blaue — die Uniformierten — und Chouans, die keine Uniform tragen wollen. Ich habe also diesen Plan aufgegeben und bin auf diesen gekommen, nämlich Wege zu bauen und Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen, kurz, zu handeln, wie man in der Medizin sagt, durch auflösende — nicht durch heftig ableitende Mittel. Wenn es gelingen würde, die Vendeer
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dem Einfluss des Adels und ihre Frauen dem der Geistlichkeit zu entziehen, dann gibt es keine Vendee mehr." „Nun, Herr Dumas, ich bin darüber anderer Meinung. Ich glaube, daß es überhaupt keine Vendeer mehr gibt. Wo sind denn noch Männer wie d'Elbee, Bonchamp, Lescure, Rochejaquelein und Charette?" „Sire, da, wo sie 1789 waren . . . Jedoch scheint mir morgen oder übermorgen keine Gefahr seitens der Vendee zu drohen. Ich will mich deutlicher ausdrücken: die Vendee wird sich von selbst nicht mehr erheben, es könnte sich aber jemand in der Vendee festsetzen und sie aufwiegeln!" „Wer? der Dauphin? Dazu besitzt er nicht genug Energie. Der Herzog von Bordeaux? Er ist zu jung. Und Karl X.? Unmöglich kann sich ein König an die Spitze von Rebellen stellen." „Sire, Sie kennen zu gut die Weltgeschichte, um die Geschichte Ungarns vergessen zu haben: Moriamur pro nostro rege Maria Theresia!" — „Also die Herzogin de Berry?" — „Man spricht davon." — „Sie haben nicht unrecht. Auch ich habe mehr als einmal daran gedacht. Aber eins dürfen Sie dabei nicht vergessen, Herr Dumas: Keine Vendee ohne England! Und auf England kann ich mich verlassen." „Ich will nicht behaupten, daß wir noch einmal eine so unversöhnliche, hartnäckige Vendee wie in den Jahren 1792 und 1793 erleben werden: ich sage nicht, daß Heere von 20 000, 30 000, 40 000 Mann wie damals ins Feld gegen Sie ziehen werden; auch nicht, daß furchtbare Vernichtungskämpfe wie die bei Pontes de Ce, Torfou und Antrain wieder stattfinden könnten, und endlich nicht, daß eine Erhebung des Westens durch eine solche des Südens und fremde Invasion unterstützt werden würde. Ich sage nur, daß die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, ja Sicherheit besteht, daß man sich schlagen wird, daß Menschen getötet werden, daß neues Blut neuen Hass erzeugen wird, und ich nehme an, daß der König mit französischem Blut viel zu spar sam umgeht, um nicht alles daranzusetzen, solchen Folgen vorzubeugen, solange es in seiner Macht steht." Der König lächelte. „Und ich sage Ihnen, Herr Dumas, daß auch ich den Puls der Vendee befühlt habe . . . Ich bin ja auch ein wenig Arzt, wie Sie wissen."
Ich verbeugte mich. „Glauben Sie mir, Herr Dumas, es ist nichts und es wird nichts von der Vendee zu befürchten sein." „Der König wird mir gestatten", lächelnd erwiderte ich „seiner Meinung nicht zu widersprechen und bei der meinen zu beharren.“ „Natürlich! Leider reicht mein Einfluss nicht so weit Meinungen ändern zu können, sonst hätte ich schon längst auf die Ihrige und die von einigen Ihrer Freunde einzuwirken versucht." - „Darf ich, wenn das Gespräch darauf kommt, offen sagen, was ich denke?“ –„Über die Stimmung
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in der Vendee?" - „Und über die Politik des Königs?" — „Sagen Sie ruhig, was Sie über beide denken." „Nun, ich denke, daß ein Krieg am Rhein oder in Italien zur Stunde in Frankreich sehr populär wäre; daß der König an einen solchen Krieg nicht denkt, und daß es ihm nicht unangenehm wäre, wenn er eine passende Entschuldigung finden würde, einen solchen Krieg nicht führen zu müssen." - „Aha!" - „Diese Entschuldigung bietet die Vendee." — „Wie das?" — „Sire, wie Sie vorher bemerkten, sind Sie ein wenig Arzt. Wenn man Ihnen von der belgischen, italienischen oder polnischen Nationalität sprechen würde, so würden Sie eine gute Antwort haben: .Verzeihung, meine Herren, bevor wir uns mit den Sorgen und Wünschen anderer Nationen beschäftigen können, haben wir zuerst die Pflicht, die Entzündung in den Eingeweiden Frankreichs zu heilen.' Wenn man dann nach der Vendee blickt, dort den Pulverdampf sieht und das Knattern der Gewehre hört, dann kann man darauf nichts erwidern, und der König, der mit seinem eigenen Blut sparsam umgeht, wird selbst von den eifrigsten Propagandisten nicht für fremdes Blut verantwortlich gemacht werden können." Der König biss sich auf die Lippen; ich hatte offenbar den Nagel auf den Kopf getroffen. „Herr Dumas, die Politik ist ein trauriges Handwerk . . . überlassen Sie dieses Feld lieber den Herrschern und ihren Ministern. Sie sind Dichter; dichten Sie!" „Das heißt?" „Dass Sie als Dichter die Dinge von Ihrem künstlerischen Standpunkt aus betrachten, weiter nicht." Ich verbeugte mich stumm. Dann fügte ich hinzu: „Sire, die Alten nannten die Dichter Seher!" Darauf machte der König eine Bewegung, die bedeutete, daß die Audienz beendet sei. Ich verstand und ließ es mir nicht zweimal sagen. So gut ich konnte, zog ich mich rückwärts schreitend zurück, um der Etikette zu genügen, wie sie mich der Herzog von Orleans gelehrt hatte, als Karl X. den berüchtigten Ball im Palais-Royal besuchte. Auf der Treppe kam mir Oudard entgegen. „Sie haben den König gesprochen?" fragte er mich. — „Ich komme gerade von ihm." — „Und" — „Gestern waren wir halb auseinander." — „Und heute?" — „Heute haben wir uns vollends erzürnt." — „Starrkopf!" murmelte er. Ich grüßte ihn flüchtig und ging lächelnd die Treppe hinab. Auf dem Pont des Tuileries begegnete ich Bixio. Er trug einen blauen Waffenrock mit Achselstücken, einen Tschako mit rotem Federbusch und eine Hose mit ebensolchen Streifen. „Bei welcher Truppe bist du?" fragte ich. „Bei der Artillerie der Nationalgarde." - „Wer ist da alles dabei" - „Unsere besten Freunde, lauter Republikaner: Grouville, Guinard, Cavaignac, Etienne Arago, Bastide, Thomas, meine Wenigkeit. . ." — „Da möchte ich auch dabei sein." — „Das wird schwer halten, bei deiner Stellung zum König." - „Ich? Ich habe mit dem König völlig gebrochen." - „Du bist also frei?"
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- „Frei wie der Vogel in der Luft. Und außerdem werde ich heute noch mein Entlassungsgesuch einreichen." - „Wenn es so ist, dann werde ich deine Aufnahme schon durchsetzen. Bei der vierten Batterie fehlen, soviel ich weiß, ohnedies noch ein paar Leute. Übrigens ist das die meine." — „Dann will ich unbedingt auch dazu." - „Gut, ich will gleich heute Abend noch mit Cavaignac und Bastide darüber sprechen." Ich ging nach Hause, nahm einen Bogen Papier und schrieb an den König: Sire
,
Da meine politischen Ansichten grundverschieden sind von denen, die Eure Majestät von den Beamten Ihres Hauses mit Recht verlangen und erwarten, bitte ich Eure Majestät, mich meines Amtes als Bibliothekar entheben zu wollen. Ich habe die Ehre, mit Hochachtung zu sein usw. Alexander Dumas. Folgen einer Neujahrsvisite Bixio hatte meine Aufnahme in die Artillerie der Nationalgarde erwirkt. Ich wurde der vierten Batterie des Hauptmanns Olivier zugeteilt. Die Artillerie war im allgemeinen republikanisch gesinnt, ganz besonders aber die zweite und dritte Batterie. Die erste und vierte neigten sich wohl etwas mehr zur Reaktion hin, doch fanden sich auch dort etwa fünfzig Mann, die sich im Augenblick der Gefahr sicherlich uns angeschlossen hätten. Jede Batterie hatte einen eigenen Namen. Die erste hieß die „Aristokratie", denn sie zählte in ihren Reihen den Herzog von Orleans. Die zweite hieß die „Republikanerin", die dritte die „Puritanerin" nach ihrem Hauptmann Bastide, der im „National" die religiösen Ideen zu verfechten pflegte und daher allenthalben im Geruch puritanischer Gesinnung stand. Die vierte hieß die „Mörderin", weil viele Ärzte dabei waren. Sonst gehörten dieser Batterie noch Prosper Merimee und Bocage an. Die Disziplin war sehr streng, dreimal wöchentlich wurde von sechs bis zehn Uhr vormittags im Hof des Louvre und zweimal monatlich in Vincennes exerziert. Ich
gab
öfters
Beweise
meiner
Kraft,
indem
ich
mit
nur
einem
Kameraden
Achtpfündergeschütze hob, die 300 bis 400 Kilo wogen. Am 10. Dezember 18 30 erhielten wir Befehl, uns in Uniform und Waffen am 12. an der Beerdigung des berühmten Deputierten Benjamin Constant *) zu beteiligen. Einen Augenblick waren die Boulevards *) Benjamin Constant de Rebecque (1767—1830), gebürtiger Schweizer, besuchte das Carolinum in Braunschweig und war herzoglich-braunschweigischer Staats-beamter, bis er zu Beginn der Revolution nach Frankreich ging. Sein Ideal war die konstitutionelle Monarchie, Opposition seine Überzeugung. C. war Gesinnungsgenosse der Frau von Stael, die er auf ihren Reisen begleitete. 1830 setzte er sich für die Erhebung des Herzogs von Orleans zum König ein, trat aber gegen die neue Regierung sofort in Opposition.
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von einer ungeheuren Menschenmenge erfüllt. Über diesem Meer grollte das Gewitter. Jeder fühlte, daß die Luft mit Elektrizität überladen war. Aller Augen wandten sich dem Luxembourg zu, wo der Prozess der früheren Minister stattfinden sollte. Wenn die Minister freigesprochen oder zu einer geringeren als der Todesstrafe verurteilt wurden, dann hatte der Barrikadenkönig die Julirevolution vor ganz Europa verleugnet. Am 15. Dezember begann der Prozess und dauerte bis zum 21. Während dieser sechs Tage kamen wir nicht aus der Uniform heraus. Was erwarteten wir? Wir wussten es selbst nicht. Wir kamen bald bei Cavaignac, bald bei Gronvaille zusammen und vereinbarten, daß der Louvre, wo unsere Geschütze mit der Munition standen, unseren Sammelpunkt bilden sollte und wir je nach den Umständen handeln wollten. Lafayette hatte sich entschieden ausgesprochen und dem Gerichtshof die ungestörte Durchführung des Prozesses und dem König gegenüber die Sicherheit der Minister im Fall eines Freispruches verbürgt. „General", sagte ich zu Lafayette, „wissen Sie auch, daß Sie Ihre Popularität aufs Spiel setzen, wenn Sie durchaus die Köpfe der Minister retten wollen?" — „Mein liebes Kind", entgegnete er, „niemand kennt besser als ich den Wert der Popularität. Sie ist der reichste und kostbarste Schatz, sie ist die einzige Ehre, nach der ich gestrebt habe. Aber es ist mit ihr wie mit allen anderen Schätzen; wenn es darauf ankommt, muss man für das Gemeinwohl und für die Ehre der Nation auch diesen Schatz bis zum letzten Pfennig ausgeben." Der Ministerprozess hatte eine ungeheure Menschenmenge auf die Beine gebracht, die in den zum Luxembourg führenden Straßen und Seitengässchen Aufstellung genommen hatte. Truppen und Nationalgarde war es fast unmöglich, hier durchzukommen. Linientruppen und Nationalgarde standen unter dem Oberbefehl Lafayettes. Er hatte auch die Polizeigewalt
im Palais-Royal,
Luxembourg
und
in
der
Pairskammer.
Zum
zweiten
Kommandanten im Luxembourg hatte er den Oberst Lavocat ernannt, der über die Sicherheit der Pairs wachte, derselben Pairs, die ihn einst zum Tode verurteilt hatten. Erster Kommandant war Oberst Feisthamel. Unter der Menge, die das Luxembourg belagerte, waren alle Parteien, mit Ausnahme der Orleanisten, vertreten: Republikaner, Karlisten, Bonapartisten; ein jeder wartete gespannt auf den Gang der Ereignisse, um daraus für sich, seine Ansicht oder sein Gewissen Nutzen zu ziehen. Für uns waren Plätze auf der Tribüne reserviert. Ich wohnte der vorletzten Sitzung bei und hörte die Plädoyers Martignacs und Pey-ronnets mit an. Plötzlich bemerkte ich, wie Cremieux sich unwohl fühlte. Da drang Trommelwirbel bis in die Pairskammer. Es war das Signal zum Sammeln. Ich eilte aus dem Saal. Durch den Lärm wurde die Sitzung sowieso fast unterbrochen. Angeklagte und Richter zitterten auf ihren Plätzen.
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Die Uniform öffnete mir den Weg durch die Menge. Ich ging in den Hof hinunter, der voller Menschen war. Der Pairs hatte sich eine unbeschreibliche Angst und Aufregung bemächtigt. Vergeblich schrie Oberst Lavocat ihnen zu: „Fürchten Sie nichts, ich stehe für alles. Die Nationalgarde bewacht alle Ausgänge." Pasquier sah und hörte nichts mehr und rief mit seiner kreischenden, scharfen Stimme: „Meine Herren Pairs, die Sitzung ist aufgehoben. Der Kommandant der Nationalgarde meldet mir soeben, daß es unvorsichtig wäre, eine Nachtsitzung abzuhalten." Oberst Lavocat hatte zwar gerade das Gegenteil gesagt. Da aber die Mehrzahl der erhabenen Pairs ebensoviel Angst hatte wie ihr Präsident, erhoben sie sich und stürzten zum Saal hinaus. Die Sitzung musste auf den nächsten Tag vertagt werden. Draußen stieß ich auf einen Mann mit hässlichem Mund und blutunterlaufenen Augen, der am eifrigsten das Volk aufzuwiegeln suchte; er schrie mit auffallend fremdartigem Akzent: „Tod den Ministern!" Zu Sauve, dem Chefredakteur des „Moniteur", der neben mir stand, äußerte ich: „Zum Teufel! Ich möchte fünfundzwanzig Louis wetten, daß der Kerl ein bezahlter Spitzel ist!" Ich weiß nicht, ob ich mich damals geirrt habe. Jedenfalls fand ich aber fünf Jahre später denselben Mann auf der Anklagebank der Pairskammer wieder. Es war der Korse Fieschi. Ich eilte in den Louvre, um zu hören, was vorging. Man kann sich unmöglich die Erregung vorstellen, die am Sammelpunkt der Artillerie herrschte. Unser erster Oberst Joubert war uns genommen und durch den Grafen Pernetti ersetzt worden. Er gehörte mit Haut und Haar zur Hofpartei; und der Hof misstraute uns mit Recht und wartete nur auf eine passende Gelegenheit, um unser Korps aufzulösen. Auf Schritt und Tritt wurden wir von Leuten gefragt, die wir auf den Barrikaden gesehen hatten: „Kennt ihr uns nicht mehr? Wir waren auch dabei. Hier und dort mit euch." — „Gewiss, ich erinnere mich . . . Na, was gibt's?" — „Nun, wenn gegen das Palais-Royal marschiert wird, wie früher gegen die Tuilerien, werdet ihr uns dann im Stich lassen?" Und dann drückten wir uns die Hände, die Augen blitzen und die Artilleristen sagten: „Das Volk ist im Anmarsch", und das Volk flüsterte sich zu: „Die Artillerie ist mit uns." Das Palais-Royal war kaum hundertfünfzig Schritte vom Louvre entfernt, und im Louvre standen vierundzwanzig Geschütze, die zusammen 20 000 Schüsse abgeben konnten, und 800 Artilleristen, von denen 600 Republikaner waren.Es war nichts vereinbart worden, soviel aber war klar, daß die Artillerie mitgehen würde, wenn das Volk sich erheben würde.Gegen ein Uhr ließ General Lafayette Canvaignac melden, man beabsichtige, uns die Geschütze wegzunehmen. Außerdem ging das Gerücht, die Bonapartisten hätten einen Handstreich gegen den Louvre vor, um sich unserer Geschütze zu bemächtigen. Wir wollten zwar gern mit dem Volke eine zweite Revolution wagen und uns für
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Lafayette und die Republik schlagen, für Napoleon II. aber wollten wir kein Haar krümmen. Unter uns waren natürlich auch Spione und Spitzel. Ich könnte zwei mit Namen nennen, die später für ihre ehrenwerten Dienste die Ehrenlegion bekamen. Eine Stunde später, nachdem Patronen unter uns ausgeteilt waren, war man im Palais-Royal schon über alles unterrichtet. Eine Viertelstunde später erhielt ich einen Brief von Oudard, worin er mich ersuchte, sofort auf seinem Büro vorzusprechen. Ich zeigte meinen Kameraden den Brief und fragte sie, was ich machen sollte. „Natürlich hingehen", meinte Cavaignac. — „Und wenn man mich ausfragt?" — „Die Wahrheit sagen... Wenn die Bonapartisten uns unsere Geschütze wegnehmen wollen, so werden wir sie bis zur letzten Patrone verteidigen; wenn aber das Volk gegen den Luxembourg oder irgendein anderes Palais marschiert, so gehen wir mit." — „So ist's recht", erwiderte ich, „ich liebe die Offenheit!" Ich ging ins Palais-Royal. Die Büros waren mit Menschen überfüllt; man fühlte, daß die Erregung der Spitze sich auf die einzelnen Glieder übertragen hatte. Oudard forschte mich aus, er hatte mich nur deshalb kommen lassen. Ich wiederholte ihm die Worte Cavaignacs. Das trug sich am Abend des 20. Dezember zu.
Am 21. begab ich mich wieder auf meinen Posten in der Rue de Tournon. Nie habe ich eine so dicht
gedrängte
Menschenmasse
gesehen.
Die
Straßen
wimmelten
von
bewaffneten
Nationalgardisten und Linientruppen. Man hatte den Nationalgardisten vorgeredet, das Volk wolle die Läden plündern. Dabei waren die Leute nur dort versammelt, um die Nachricht von der Verurteilung der Minister zu vernehmen. Gegen zwei Uhr hörte man, daß die Verhandlung beendet sei und der Urteilsspruch in Kürze verkündet würde. Sofort trat Totenstille ein, als ob jeder gefürchtet hätte, seine Stimme könnte die Verkündung des Urteilsspruches stören. Plötzlich stürzten einige Männer aus dem Luxembourg auf die Straße und schrieen: „Sie sind zum Tode verurteilt!" Ein ungeheures Geschrei, das von allen Strahlen des Sternes ausging, dessen Kern das Luxembourgpalais bildet, war die Antwort. Jeder suchte sich so schnell als möglich Bahn zu brechen, um als erster die Nachricht in seinem Viertel oder in seinem Haus zu verbreiten.
Bald aber staute sich die Menge, als ob sie wieder zurückgedrängt würde, und alles wälzte sich dem Luxembourg zu. Ein anderes Gerücht hatte sich unterdessen verbreitet. Es hieß, die Minister seien nur zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt worden. Die falsche Nachricht von ihrer Verurteilung zum Tode habe nur den Zweck gehabt, ihre Flucht zu begünstigen. Nun änderte sich mit einem Schlage das Bild. Drohrufe wurden laut, und die Nationalgardisten stampften den Boden mit ihren Gewehrkolben.
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Der Innenminister Montalivet hatte vom König Befehl erhalten, die Exminister mit heiler Haut nach Vincennes zu bringen. Ein Kanonenschuss sollte im Augenblick ihrer Einlieferung dem König kundtun, daß sie in Sicherheit wären. Montalivet hatte General Fabvier und Oberst Lavocat gewählt, um diese gefahrvolle Ehre mit ihm zu teilen. Als die vier Minister vor dem Urteilsspruch dem Gebrauch gemäß den Saal verließen, sagte Montalivet zu seinen Begleitern: „Achtung, meine Herren! Wir haben eine geschichtliche Mission zu erfüllen; versuchen wir, uns ihrer zur Ehre Frankreichs zu entledigen!" Eine leichte Kalesche erwartete die Gefangenen am Gitter des Luxembourg. Als sie einstiegen, schickte Montalivet die Männer auf die Straße, die rufen mussten: „Sie sind zum Tode verurteilt!"Die Gefangenen konnten gerade noch das ungeheure Triumphgeschrei hören, das die falsche Nachricht hervorrief. Dann wurde der Wagen von zweihundert Reitern umringt, und schlug im Galopp die Richtung nach den äußeren Boulevards ein. Montalivet und Lavocat ritten an den Wagentüren.Die Nacht war schnell hereingebrochen, doch damit nicht die Dunkelheit, denn die Bewohner der Häuser hatten ihre Fenster beleuchtet und das Tageslicht durch eine großartige Illumination ersetzt, die dem Vorgang eine noch größere Feierlichkeit verlieh. Plötzlich vernahmen die Pairs ein lautes Geschrei und sahen die Menge drohend gegen die mächtigen Mauern des Palais zu eilen. Die Richter begriffen, daß keine Mauer, kein Wall, kein Damm gegen die Wut dieses Meeres Schutz gewähren konnte. Jeder suchte sich unter irgendeinem oder gar keinem Vorwand in Sicherheit zu bringen. Der Präsident Pasquier allein zeigte sich tapfer; er schämte sich dieser Flucht. Er befahl, die Tore zu schließen und Lafayette zu benachrichtigen, daß das Volk im Anmarsch sei. Während Pasquier in den fast völlig leeren Sitzungssaal zurückging und beim Flackern eines halb erloschenen Kronleuchters die Verurteilung der Minister zu lebenslänglichem Gefängnis verkündete, erschien der Mann von 1789 und 18 30 auf der Straße und teilte diese Quasi freisprechung der Minister dem Volke mit, ebenso ruhig an diesem 21. Dezember, wie vor vierzig Jahren, als er den Vätern derer, die ihm heute zuhörten, die Flucht des Königs nach Varennes verkündete. Einen Augenblick konnte man fürchten, daß der edle Greis zu sehr auf die Großmut der Menge und seine eigene Popularität vertraut hatte. Die Fluten dieses Ozeans, die sich zuerst respektvoll vor ihm geöffnet hatten, schlugen grollend wieder zurück, und eine dumpfe Drohung schien von der Menge auszugehen, die sich ihrer Kraft bewusst war und nur eine Bewegung zu machen brauchte, um alles zu zermalmen und zu zerschmettern. Alles schrie: „Tod den Ministern! Tod!" Lafayette wollte sprechen, aber Flüche übertönten seine Stimme. Endlich gelang es ihm, die Worte hervorzubringen: „Bürger! Ich erkenne die Julikämpfer nicht wieder!", worauf er zur
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Antwort erhielt: „Kein Wunder, Sie sind ja auch nicht mit ihnen!" Der Augenblick war kritisch; wir standen, vier oder fünf Artilleristen, in seiner Nähe. Sarrans, der den General begleitete, winkte uns heran. Dank unserer Uniform, die vom Volk als Fahne der Opposition geachtet wurde, konnten wir zu ihm gelangen. Der General erkannte mich und nahm meinen Arm, andere gesellten sich zu uns, und endlich befand er sich inmitten von Freunden und konnte aufatmen. Aber überall verließen jetzt die wütenden Nationalgardisten ihre Posten, einige luden die Gewehre, andere warfen sie weg, alle schrieen: „Verrat." In diesem Augenblick ertönte ein Kanonenschuss: Montalivet meldete dem König, daß die Minister in Sicherheit waren. Aber wir, die davon nichts wussten, dachten, es wäre ein Signal unserer Kameraden im Louvre. Wir ließen den General los, zogen unsere Säbel und stürzten mit dem Ruf „Zu den Waffen!" nach dem Pont-Neuf. Wir erreichten den Louvre gerade, als die Wächter die Gitter schließen wollten. Wir rannten sie über den Haufen und drangen mit Gewalt ein; wir kümmerten uns nicht darum, daß hinter uns die Gitter geschlossen wurden! Ungefähr 600 Artilleristen befanden sich bereits im Louvre. Die Nachricht von der Freisprechung der Minister war schon bekannt und hatte seine Wirkung hervorgebracht; man meinte, auf glühender Lava zu stehen. Da sah ich den Adjutanten Richy sich Bastide nähern und ihm etwas ins Ohr flüstern. „Nicht möglich!" rief Bastide. — „Gut, dann überzeugen Sie sich selbst." Bastide eilte davon; fast gleichzeitig hörten wir ihn rufen: „Zu Hilfe, Artilleristen der dritten Batterie!" Während wir hinauseilten, ging Bastide auf eine Gruppe von Männern zu, die sich trotz des Verbotes in dem für die Kanonen reservierten Raum des Hofes befanden. „Hinaus! Fort von den Geschützen!" schrie Bastide ihnen zu, „oder ich renne euch einem nach dem andern meinen Säbel durch den Leib!" „Kapitän Bastide", antwortete einer auf die Drohung, „ich bin der Major Barre ..." — „Von mir aus der Teufel, das ist mir gleich! Es ist verboten, den Artilleriepark zu betreten; also raus aus dem Park!" — „Verzeihung", äußerte Barre, „ich möchte doch wissen, wer hier kommandiert? Sie oder ich?" — „Hier kommandiert der Stärkere. Sie kenne ich nicht." Wir waren unserer fünfzig, die Bastide mit gezogenem Säbel umringten. Einige hatten auch Zeit gehabt, ihre Musketen von den Ständern zu nehmen und sie zu laden. „Fahrt ein Geschütz auf!" befahl Bastide. Wir stürzten auf das nächste los und wollten es in Stellung bringen, aber schon bei der dritten Umdrehung der Räder ging eine Schraubenmutter los, und das Rad fiel zu Boden.
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„Geben Sie mir sofort die Achsennägel meiner Geschütze wieder, die Sie herausgezogen haben!" — „Aber . . . " — „Die Achsennägel, oder ich jage Ihnen den Säbel in den Leib!" Barre leerte einen Sack aus, worin sich einige zehn Nägel befanden. Wir setzten unsere Geschütze sofort wieder instand. „Gut, so weit wären wir", sagte Bastide, „nun hinaus aus dem Park!" Bastide übertrug mir und Merimee die Wache über den Park mit dem Befehl, auf jeden zu schießen, der sich ihm nähern und beim zweiten Anruf nicht stehen bleiben würde. Während ich auf Posten stand, waren fast alle Artilleristen versammelt. Einige waren in ihre Mäntel gehüllt erschienen. Man versicherte, daß unter ihnen auch der junge Herzog von Orleans gewesen sei, der mit seinem gewohnten Mut sich wahrscheinlich selbst von dem Geist überzeugen wollte, der in seinem Korps herrschte. Als ich in die Wachtstube zurückkehrte, herrschte dort die größte Erregung; man fühlte, daß innerhalb der Truppe selbst der Kampf bevorstehe und daß die ersten Schüsse unter Kameraden gewechselt werden würden.
Ein Artillerist, dessen Namen ich vergessen habe, stieg auf den Tisch und verlas einen Aufruf, den er verfasst hatte: Es war ein Ruf zu den Waffen.
Kaum hatte er einige Zeilen gelesen, als Grille de Benzelin, der zur reaktionären Partei gehörte, ihm das Papier aus der Hand riss und es zerfetzte. Der Artillerist zog seinen Säbel, und die Sache hätte wahrscheinlich ein böses Ende genommen, als einer der Unserigen in die Wachtstube stürzte und meldete: „Wir sind von Nationalgarde und Linientruppen umzingelt!" Die Antwort darauf war nur ein Schrei: „An die Geschütze!" Die Reihen der uns Einschließenden zu durchbrechen, war uns ein leichtes, denn wir hatten oft in der Geschicklichkeit im Bedienen der Geschütze mit den Artilleristen von Vincennes gewetteifert. Zudem rechneten wir damit, daß bei den ersten Kanonenschüssen das Volk sich uns anschließen würde. Wir wollten also den Tanz aufnehmen, den man uns anbot. Etwa 150 Artilleristen, die anderer Meinung waren, zogen sich nach den Tuilerien zurück. Zum Unglück oder vielmehr zum Glück bemerkten wir plötzlich, daß die Munition aus dem Keller verschwunden war. Die Regierung hatte sie in Vorahnung schlimmer Ereignisse wegschaffen lassen. Nun blieben uns zum Angriff wie zur Verteidigung nur unsere Musketen mit sechs oder acht Schuss für jeden Mann. Die Belagerer begnügten sich denn auch damit, uns nur einzuschließen. Ein Teil von uns wachte, die anderen schliefen mit dem Gewehr im Ann. Am anderen Morgen fing die Sache an, einen komischen Anstrich zu nehmen. Bäcker, Weinund Wursthändler kamen herbei, uns ihre Waren anzubieten, so daß wir nicht zu hungern brauchten.
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Wir glichen einer Menagerie wilder Tiere, die man, der öffentlichen Sicherheit halber, eingesperrt hatte. Der Vergleich war um so treffender, als das Publikum sich allmählich einstellte, um uns durch das Gitter zu begaffen. Bis gegen Mittag war die Lage für den König sehr kritisch. Dann wandte sich das Blatt zu seinen Gunsten. Die Studenten und die Schüler der Polytechnischen Schule eilten in Uniform mit Nationalgardisten der zwölften Legion durch die Straßen und mahnten das Volk zur Mäßigung. Zu gleicher Zeit ließen sie durch Maueranschläge dazu auffordern. Das genügte, um die Gemüter zu beruhigen. Auch die Abwesenheit der Artillerie, deren Ursache man nicht kannte, trug zur Herstellung der Ordnung bei. Am Abend wurde die Belagerung aufgehoben, die Gitter geöffnet, und wir konnten nach Hause gehen. Alles war — für den Augenblick — wieder in Ordnung. Wir ließen nur die nötigen Wachen bei den Geschützen zurück. Da die Ruhe wiederhergestellt war, so hatte man jetzt eines Mannes um so weniger nötig, als er bei dieser Gelegenheit seine Popularität aufs Spiel gesetzt und das Spiel verloren hatte. Von da ab war General Lafayette überflüssig geworden; warum sollte man sich gegen ihn noch länger erkenntlich zeigen? Am 24. November beantragten Dupin und Genossen in der Kammer, den Rang eines Oberkommandierenden der Nationalgarden abzuschaffen, der nur durch ein neues Gesetz wiedereingeführt werden könnte. Das war gleichbedeutend mit der Absetzung Lafayettes, und der Streich war um so perfider, als der General der Sitzung nicht beiwohnte. Als er davon hörte, kam er beim König sofort um seine Entlassung ein. Am 2 5. Dezember 1830 war die politische Karriere Lafayettes beendet. Ein anderer Rücktritt , der weniger Aufsehen hervorrief, für mich aber sehr komische Folgen hatte, war der eines unserer beiden Hauptleute der vierten Batterie. An dessen Stelle wurde ich gewählt. Am 27. Dezember kommandierte ich bereits in meiner neuen Uniform die Übungen der vierten Batterie. Lange sollte diese Herrlichkeit freilich nicht dauern.
Als der Neujahrstag näher kam, fand eine Versammlung statt, in der entschieden werden sollte, ob die Artillerie dem König am 1. Januar den üblichen Gratulationsbesuch machten sollte. Da wir uns durch Verweigerung nur unnötig in den Verdacht gebracht hätten, beschlossen wir hinzugehen. Am 1. Januar 1831, neun Uhr, wollten wir uns vor dem Palais-Royal treffen.
Ich weiß nicht mehr, was mich am 1. Januar länger im Bett hielt als gewöhnlich, kurz, als ich auf die Uhr sah, bemerkte ich, daß ich gerade noch Zeit hatte, die Uniform anzuziehen und ins Palais
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Royal zu eilen. Mit Josephs Hilfe stand ich um Punkt neun Uhr bereit und eilte nun, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe so schnell wie ich konnte hinunter. Ich brauche nicht zu betonen, daß ich, da ich es e i l i g hatte, keinen Wagen oder Droschke auftreiben konnte. Ich war daher erst um neun Uhr fünfzehn Minuten im Hof des Palais-Royal. Im Hof wimmelte es von Offizieren, die darauf warteten, dem König der Franzosen ihre Kollektivwünsche zum neuen Jahre darzubringen. Aber unter allen diesen Uniformen glänzte die Artillerie durch ihre Abwesenheit. Da ich spät daran war, musste ich annehmen, daß die Artillerie der Nationalgarde bereits vorgelassen worden sei und daß ich sie auf der Treppe oder in den Vorzimmern antreffen würde. Ich eilte daher die Ehrentreppe empor und betrat die große Halle. Auch dort keine Artillerie! Also weiter vorwärts! Hätte ich mich nur etwas umgesehen, so würde ich mehr auf die sonderbaren Blicke geachtet haben, die man mir zuwarf, so aber dachte ich nur an mein Zu spät kommen und ging weiter. Doch bemerkte ich immerhin, daß die Gruppe von Offizieren, mit denen ich schließlich das Empfangszimmer des Königs betrat, sofort eine Bewegung vom Mittelpunkt nach der Peripherie beschrieb und mich allein ließ, als hätte ich die Cholera mitgebracht, vor der man sich damals in Paris so sehr zu fürchten begann. Ich schrieb indes diese Flucht vor mir der Rolle zu, die die Artillerie bei den letzten Unruhen gespielt hatte, und da ich für meine Person jederzeit bereit war, mein Tun und Lassen zu verantworten, betrat ich hocherhobenen Hauptes das Gemach des Königs. Von allen Offizieren, die mit mir kamen, zog ich sofort die Aufmerksamkeit des Königs auf mich. Er sah mich so erstaunt und verwundert an, daß ich mich neugierig umsah, um die Ursache dieses sonderbaren Verhaltens zu erforschen. Einige der Anwesenden lächelten verächtlich, andere schienen durch ihr Mienenspiel sagen zu wollen: „Verzeih uns, Herr, daß wir mit diesem da gekommen sind." Mir war das alles unerklärlich. Ich ging am König vorüber, der die Güte hatte, mich anzusprechen. „Ah, guten Tag, Dumas. Daran erkenne ich Sie." Ich sah den König an und zerbrach mir den Kopf, woran er mich eigentlich erkennen sollte. Doch der König lachte, und da die Anwesenden als gutgeschulte Höflinge das gleiche taten, lachte auch ich mit und ging dann meines Weges. Im Vorzimmer stieß ich auf Vatout, Appert, Oudard, Tallencourt, Delavinge und meine übrigen ehemaligen Bürokollegen. Sie hatten mich durch die halb geöffnete Tür schon bemerkt und lachten ebenfalls. Diese allgemeine Heiterkeit machte mich schließlich doch stutzig. „Sie verstehen Ihre Sache, lieber Freund", meinte Vatout. „Das haben Sie jedenfalls nicht übel gemacht." — „Was denn?" — „Sie machen dem König am Neujahrstag Ihre Aufwartung in einer Uniform, die noch dem verflossenen Jahr angehört." — „Ich verstehe Sie nicht", erwiderte ich ernst. — „Ach, tun Sie bloß nicht so. Sie werden uns doch nicht etwa weismachen wollen, Sie hätten die gestrige Verordnung des Königs nicht gelesen. Unser Artilleriekorps ist aufgelöst. Das steht haargenau im
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Moniteur." — „Ich habe wirklich nichts gelesen." — „Nun, das müssen Sie jetzt wohl behaupten." — „Ich sage es, weil es die reine Wahrheit ist." — Alle lachten. Ich muss gestehen, daß die Sache mir äußerst unangenehm war. Seit man in meinem Auftreten ein trotziges Wagestück sah, musste ich darin eine Unverschämtheit gegenüber dem König erblicken, die ich mir weniger denn jeder andere erlauben durfte. Ich bat alle Anwesenden, mich beim König zu entschuldigen und ihm zu versichern, daß ich nur in völliger Unkenntnis der Verfügung so gehandelt hatte. Da aber meine Fürsprecher von der Wahrheit meiner Worte wohl selbst nicht recht überzeugt waren, so werden sie sich auch nicht sehr eindringlich für mich eingesetzt haben. Ich eilte die Treppe ebenso hastig hinab wie vorher hinauf und rannte ins Cafe du Roi, wo ich den Moniteur mit einer hastigen Ungeduld verlangte, die alle Stammgäste in Erstaunen versetzte. Gleich auf der ersten Seite stand die Verfügung. Sie war kurz gefasst, aber klar und deutlich. Bei der Lektüre dieses amtlichen Schriftstückes musste natürlich auch der letzte Zweifel schwinden. Ich glaube aber, daß der König mir diesen Streich, an dem ich vollkommen unschuldig war, mir von allen andern am meisten übelgenommen hat. Ich ging nach Hause, zog die verpönte Uniform aus und begab mich ins Odeon, um der Probe meines Napoleon beizuwohnen, der am folgenden Tag uraufgeführt werden sollte. Auf dem Heimweg von dort begegnete ich mehreren Kameraden von der Artillerie, die mich zu meiner Tat aufs wärmste beglückwünschten. Mein Abenteuer hatte bereits di e Runde durch Paris gemacht. Die einen sahen darin einen schlechten Witz, die anderen eine Heldentat. Keiner wollte glauben, daß ich nur aus Unkenntnis so gehandelt hatte. Diesem Umstand hatte ich es später zu verdanken, daß ich zum Mitglied des Ausschusses für nationale Belohnungen, des Polenklubs, der Gesellschaft der Julidekorierten und zum Leutnant der neuen Artillerie gewählt wurde, — lauter Ehrenposten, die mich mit den Vorgängen des 5. Juni 1832 in Verbindung brachten und mich schließlich zwangen, ein halbes Jahr lang in der Schweiz und in It al i e n herumzureisen. Am nächsten Abend wurde mein Napoleon gegeben*), ein literarisches Ereignis, das keineswegs geeignet war, den König in politischer Hinsicht günstiger für mich zu stimmen. Diesmal kam auch nicht der arme Herzog von Orleans zu mir, um ihm bei seinem Vater die Erlaubnis zum Besuch des Theaters zu erwirken. Napoleon erfreute sich eines ziemlich günstigen Erfolges, der jedoch lediglich den Verhältnissen zuzuschreiben war. Das Stück hatte wenig *) Es handelte sich um eines der damals beliebten revueartigen Ausstattungsstücke mit nationalistisch bonapartistischer Tendenz. Dumas hatte dieses Stück innerhalb einer Woche in Tag- und Nachtarbeit heruntergeschrieben, und zwar in einer Art Hausarrest bei Harel, der ihn solange einsperrte, bis das Manuskript beendet war. Die Premiere des Napoleon fand übrigens erst am 10. Januar 1831 statt. Unter den Zuschauern befand sich auch Ludwig Börne, der das Stück eingehend besprach und es sehr günstig beurteilte.
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oder keinen literarischen Wert. Nur die Rolle des Spions war eine etwas gelungenere Schöpfung. Einige Zischer protestierten gegen den Beifall des Publikums, und ich selbst, gewiss eine Seltenheit bei einem Dichter, gab den Gegnern recht. Da aber Frederic die Hauptrolle, Lockroy und Stockleit die Nebenrollen spielten, da 1OOOOO Franken für die Ausstattung verwendet wurden, da in dem Stück der Brand des Kreml, der Rückzug über die Beresina und die langjährige Leidensgeschichte Napoleons auf St. Helena dargestellt wurden, konnte der Erfolg nicht ausbleiben. Der Eindruck, den das Stück auf die große Menge machte, war so lebhaft, daß Delaistre, der den Hudson Löwe spielte, jeden Abend von der Theaterwache nach Hause geleitet werden musste, um nicht von den Galeriebesuchern gesteinigt zu werden*). Die Ehre des Abends gebührte jedoch nicht mir, sondern Frederic, der damals seine später so ruhmvoll fortgesetzte Laufbahn am Odeon begonnen hatte. So überschritt ich jenen unsichtbaren Abgrund, der ein Jahr vom anderen trennt, und trat vom Jahre 1830 in das Jahr 1831, das heißt, vom 28. in das 29. Jahr meines Lebens über. Dämonie und Leidenschaft als Zeitausdruck Der Zeitgeist war der Literatur nicht günstig gesinnt, denn alles beschäftigte sich nur noch mit der Politik. Aufstand und Unruhen lagen förmlich in der Luft. „Antony" hatte erreicht, was das Stück vermochte. Aber während die Künstler bereit waren, sich bis zur vollen Hingabe dafür einzusetzen, hatte Crosnier keinen Sou für die Ausstattung des Stückes ausgegeben; kein Teppich, keine Kulisse und kein Bühnenbild waren neu. Das Stück konnte ruhig vom Spielplan abgesetzt werden — die Direktion hatte es nur die auf Proben verwandte Zeit gekostet. Der Vorhang ging auf. Die Dorval als Weltdame in Gesellschaftskleidung — das war etwas ganz Neues für das Theater. Die ersten Szenen hatten nur geringen Erfolg. Ihre rauhe Stimme, ihre vertraulichen Gesten, die in leidenschaftslosen Szenen bis zum Gewöhnlichen herabsanken, erweckten weder für das Stück noch für die Darstellerin Sympathien. Aber einige Akzente von wunderbarer Realität errangen die Gunst des Publikums, das allmählich auftaute und warm zu werden begann. Bocage hatte im ersten Akt nicht viel zu tun: man trägt ihn ohnmächtig herein; als er aber beim Erwachen den Verband von der Wunde reißt und sagt: „Jetzt darf ich doch dableiben?", da begriff das Publikum allmählich, *) Georges Cain erzählte in der „Neuen Freien Presse" (Februar 1910, „Alte Geschichten zu einer neuen Komödie") einen ähnlichen F ü l l . Bei Cain war es ein Schauspieler Briant, der die Rolle des Hudson Löwe so realistisch spielte, daß er beim Verlassen des Theaters von Zuschauern verprügelt und unter tausendfachen Hochrufen auf Napoleon in das Becken des Chätuau-d'Eau-Brunnens geworfen wurde.
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dass es sich um ein intimes, ergreifendes Drama handelte, und der Vorhang fiel unter Beifall. Ich hatte auf möglichst kurzen Pausen bestanden. Ich ging auf die Bühne, um selbst die Künstler, Regisseure und Maschinisten zur Eile zu treiben. Nach fünf Minuten, bevor noch das Interesse des Publikums erkaltet war, ging der Vorhang wieder auf. Der zweite Akt war für Bocage. Er führte ihn mit gewaltiger Kraft durch und erhob sich in der Szene voll bitterer Menschenverachtung und Liebesraserei zur höchsten Höhe der Kunst. Das war mein Antony, wie ich ihn mir gedacht hatte. Nach dem Akt, und während der Saal in Beifallssalvecn ausbrachen, stieg ich auf die Bühne, um ihm zu gratulieren. Er strahlte vor Begeisterung und Hoffnung. Auch die Dorval sagte ihm, wie sehr sie mit ihm zufrieden sei. Sie fürchtete nichts mehr; sie wusste, daß der vierte und fünfte Akt von ihr abhing. Sie wartete ruhig, bis die Reihe an sie kam. Als ich zurückkam, fand ich den Saal in gespannter Erregung. Man fühlte, daß die Luft mit der Stimmung erfüllt war, die die großen Erfolge verbürgt. Ich begann zu glauben, daß ich doch gegen jedermann, selbst gegen meinen Direktor, recht haben könnte. Alfred de Vigny nehme ich aus; er hatte mir den Erfolg vorausgesagt.
Der dritte Akt ist ganz Handlung, und zwar brutale Handlung. Antony verfolgt Adele und kommt als erster in das Dorfwirtshaus, bemächtigt sich aller Postpferde, um Adele zu zwingen, hierzu bleiben. Er wählt für sich ein Zimmer, von dessen Balkon aus er in das Nebenzimmer gelangen kann, und zieht sich beim Geräusch des Wagens zurück, der Adele bringt. Adele bittet und fleht um Pferde: sie ist nur noch vier Meilen von Straßburg entfernt, wo ihr Mann auf sie wartet; aber es sind keine Pferde aufzutreiben. Adele muss die Nacht im Gasthof zubringen. Sie trifft alle Vorsichtsmaßregeln, um gegen ein Eindringen von außen sicher zu sein, aber sie achtet in ihrer Angst nicht auf den Balkon. Madame Dorval war anbetungswürdig in ihrer weiblichen Naivität und ihrem instinktiven Angstgefühl. Wie keine andere sie gesagt hätte und nach ihr sagen wird, so brachte sie die Worte heraus: „Aber die Tür schließt ja nicht!" und: „ I n Ihrem Hotel ist nie etwas passiert, Madame?" Die Wirtin entfernt sich, und Adele ent schließt sich, in ihr Zimmer zu gehen. Kaum ist sie fort, da zersplittert eine Fensterscheibe, ein Arm zeigt sich in der Öffnung, der Riegel wird zurückgeschoben, das Fenster öffnet sich, und Antony und Adele stehen sich gegenüber, der eine auf dem Balkon, die andere auf der Schwelle ihres Schlafzimmers.
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Adele stößt einen Schrei aus. Der Schluss der Szene ist von erschreckender Natürlichkeit. Um sie an einem weiteren Schrei zu verhindern, drückt Antony sein Taschentuch ihr auf den Mund und zerrt sie in ihr Zimmer. Da fällt der Vorhang.
Einen Augenblick herrschte tiefes Stillschweigen im Saal. Die Brücke Mohammeds ist nicht schmaler, als der Faden, an dem in diesem Moment der Erfolg des Stückes, hing. Der Erfolg trug den Sieg davon. Ein ungeheurer Schrei machte sich Luft, gefolgt von frenetischem Beifallsklatschen. Man schrie und brüllte fünf Minuten hindurch. Diesmal gehörte der Erfolg den beiden Schauspielern. Ich eilte auf die Bühne, um sie in meine Arme zu schließen. Keine Adele, kein Antony. Ich glaubte einen Augenblick, daß sie, fortgerissen vom Schluss des Aktes, das Stück weitergespielt hätten, aber ich täuschte mich: jeder war in seiner Loge, sie kleideten sich um für den vierten Akt. Ich rief ihnen alle Sorten von Liebenswürdigkeiten an der Tür zu. „Sind Sie jetzt zufrieden?" fragte Bocage. — „Entzückt!" — „Gut! Der Schluss gehört der Dorval." Ich lief zur Tür der Künstlerin. „Das war herrlich, großartig, erhaben, meine Liebe!" — „Du bist es, mein Hündchen? Komm nur herein, für dich ist die Tür nicht verschlossen." Sie schloss auf und warf sich halb entkleidet in meine Anne. „Bist du zufrieden, Hündchen?" — „Gewiss. Bis jetzt ist alles gut gegangen, aber . . . " — „Aber was, mein großes Hündchen? . . . Oh, wie ich dich liebe, weil du mir diese Rolle gegeben hast! . . . Hast du schon Damen der Gesellschaft gesprochen?" — „Nein." — „Du musst mir alles wiederholen, was sie sagen werden. Da ist meine neue Toilette, schön, was? Weißt du, Hündchen, wie viel du mich kostest? 800 Franken!" — „Komm her." Ich sagte ihr einige Worte ins Ohr. — „Das willst du tun? Komm, gib mir einen Kuss." — „Nein, ich will nicht." — „Wie? Du willst nicht?" — „Nein. Wenn ich jemand ein Geschenk mache, muss er mich küssen." Sie warf sich mir an den Hals. „Und nun Mut!" sagte sie. — „Ich werde mir welchen suchen, in der Bastille. Ich fürchte, daß der Anfang des vierten Aktes nicht wie auf Rädern laufen wird." — „Ach, Unsinn, Hündchen, die Zuschauer sind noch in Fahrt, alles wird gut gehen. Ich fühle es." Die Stimme des Regisseurs ließ sich vernehmen: „Madame Dorval, können wir anfangen?" — „Nein, dreimal nein, ich bin noch im Hemd! Der ist gut! Wenn ich so vors Publikum treten würde! . . . Aber du hältst mich auf, mach, daß du fortkommst!" — „Wirf mich hinaus!" — „Vorwärts, hinaus mit dir!" Und sie küsste mich hinaus. Arme Lippen, so zitternd, glühend und lächelnd, die ich so früh sich schließen und in der Umarmung des Todes erkalten sah! Ich ging fort und stieß im Gang auf Bixio. Ich hatte frische Luft nötig und bat ihn, mit mir auf die Straße zu kommen. „Zum Teufel, wohin willst du denn? Der Vorhang geht gleich auf." — „Gerade deswegen, ich bin des vierten Aktes nicht sicher. Es ist mir lieber, wenn er ohne mich
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anfängt." — „Und du bist dir über den Schluss im klaren?" — „Oh, der Schluss, das ist was anderes. Sei unbesorgt, bis dahin sind wir zurück."Wir gingen der Bastille zu. Wovon sprachen wir? Ich weiß es nicht; wir schwatzten und lachten. Wenn man den Vorübergehenden gesagt hätte: „Seht ihr den großen Narren da? Das ist der Autor des Stückes, das in diesem Augenblick im Theater der Porte-Saint-Martin gegeben wird", so wären sie wohl recht erstaunt gewesen! Wir kamen rechtzeitig zurück. Ich ging in meine Loge neben der Bühne. Die Dorval machte mir ein Zeichen, daß sie mich bemerkt habe.Nun kam die Szene zwischen Adele und der Vicomtesse, deren Höhepunkt in den Worten liegt: „Aber ich habe dieser Frau nichts angetan!" Dann die Szene zwischen Adele und Antony, wo Adele mehrmals wiederholt: „Sie ist seine Mätresse!" Nun, ich muss sagen, heute, nach zweiundzwanzig Jahren — und während dieser Zeit habe ich manches Drama spielen sehen und vielen Künstlern applaudiert — wer die Dorval nicht in diesen beiden Szenen gesehen hat, der kann sich keine Vorstellung davon machen, bis zu welcher Vollendung das Pathos getrieben werden kann.Der Akt endete damit: Die Vicomtesse tritt ein. Adele, in Antonys Armen überrascht, schreit auf und läuft hinaus. Hinter der Vicomtesse erscheint Antonys Diener, der von Straßburg geritten kommt, um seinem Herrn die Rückkehr von Adelens Gemahl zu melden. Antony stürzt davon wie ein Verzweifelter und schreit: „Ich Unglücklicher, werde ich noch rechtzeitig hinkommen?" Ich lief auf die Bühne. Man applaudierte wie wahnsinnig. „100 Franken für euch", rief ich den Maschinisten zu, „wenn ihr es fertig bringt, daß der Vorhang hochgeht, bevor der Beifall aufhört. Nach zwei Minuten war alles bereit, der Vorhang hob sich, die Maschinisten hatten ihre 100 Franken gewonnen. Der fünfte Akt begann buchstäblich, bevor der Beifall des vierten sich gelegt hatte. Einen Augenblick hatte ich Angst. Mitten in der furchtbaren Szene, wo die beiden Liebenden unschlüssig sind, ob sie weiterleben oder gemeinsam sterben sollen, hatte Bocage vergessen, den Sessel umzudrehen, auf den Adele bei der Kunde von der Ankunft ihres Mannes mit den Worten: „Ich bin verloren!" niedersinken musste. Aber die Dorval wurde so von ihrer Leidenschaft mit fortgerissen, daß sie sich durch einen so geringfügigen Umstand nicht irremachen ließ. Statt auf den Sitz niederzufallen, glitt sie an der Lehne des Sessels herunter und stieß einen schrillen Schrei des Schmerzes und tödlicher Verzweiflung aus, daß der ganze Saal sich erhob. Diesmal galt der Beifall ihr, ihr allein, der wunderbaren, großen Künstlerin! Man kennt den unerwarteten Schluss, der in einem einzigen Satz zusammengefasst ist. D'Hervey stößt die Tür in dem Augenblick ein, wo Adele von Antony erstochen, auf ein Sofa niedersinkt. „Ist sie tot?" fragt er. — „Ja, tot!" entgegnet Antony kalt. „Sie widerstand mir: deshalb habe ich sie getötet!" Und er wirft den Dolch dem Gatten vor die Füße.
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Die Wirkung war unbeschreiblich: solche Schreie voll Schmerz, Entsetzen und Schrecken gellten durch den Saal, daß vielleicht ein Drittel der Zuschauer die Schlussworte überhaupt nicht hörte, so sehr waren sie von der Handlung hingerissen. Und ohne diese Worte war das ganze Stück doch nur die einfache Entdeckung des Ehebruchs durch einen Mord. Immer wieder wurden Bocage (Antony) und die Dorval (Adele) herausgerufen. Sie erlebten einen Triumph, wie nie zuvor und nie wieder. Beide hatten an diesem Abend die höchste Stufe der Kunst erreicht. Im Foyer wurde ich erkannt. Nun kam ich an die Reihe: ein ganzer Schwärm junger Leute meines Alters — ich war achtundzwanzig Jahre alt — stürzte sich bleich, atemlos und rasend auf mich. Sie rissen mich nach rechts und links; jeder wollte midi umarmen. Dann rissen sie meinen grünen Überrock in Fetzen, und als ich endlich die Bühne erreichte, stand ich in meiner Weste da; der Rock war zu Reliquien geworden*). Auf der Bühne war alles verwirrt. Noch nie hatte man erlebt, daß ein Erfolg sich so auswirkte. Und von welchem Publikum war der Beifall ausgegangen? Von der vornehmen Welt der Dandies, die sonst nie applaudierte, diesmal aber so geklatscht hatte, daß die Handschuhe platzten. Crosnier ließ sich nicht blicken. Bocage freute sich wie ein Kind. Die Dorval war halbnärrisch! Ach, ihr guten und braven Herzen, die ihr inmitten eures eignen Triumphes euch noch mehr über den Erfolg des Dichters und seines Werkes zu freuen schient! Diesen Abend werde ich niemals vergessen; Bocage auch nicht. Erst vor acht Tagen sprachen wir miteinander darüber, als ob es gestern gewesen wäre; und wenn man sich da oben noch an etwas erinnern kann, wird die Dorval es sicherlich auch tun. Was haben wir an jenem Abend noch getan? Ich weiß es nicht mehr. Wie auf alles Helle und Strahlende senkte sich im Laufe der Nacht ein Nebel herab, den mein Gedächtnis nach zweiundzwanzig Jahren nicht mehr durchdringen kann. Gelegentlich einer späteren Aufführung des Stückes fiel irrtümlicherweise der Vorhang schon, als Antony Adele erstochen hatte. Antony konnte also nicht mehr die Hauptschlussworte sprechen: „Sie widerstand mir, deshalb tötete ich sie!" Aber gerade dieser Schluss versetzte das Publikum jeden Abend in Ekstase. Es wollte sich auch an jenem Abend nicht darum bringen lassen und schrie wütend, daß der Schluss gespielt werden sollte. Das Geschrei wurde so wild, daß der Regisseur die Künstler bat, ihre Stellungen wiedereinzunehmen, damit der Vorhang wiederaufgehen konnte. Die Dorval, stets gutherzig wie sie war, nahm ihre Pose als ermordete Frau auf dem Sofa wieder ein. Aber Bocage hatte sich, weil er um den Schlusseffekt gekommen war, als grollender Achill in sein *) Marie Catherine Lebay, die Mutter Alexander Dumas' Fils, bewahrte diesen Rock zeitlebens als Reliquie und zeigte ihn mit Stolz ihren Besuchern.
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Zelt zurückgezogen und weigerte sich hartnäckig, dem Ruf Folge zu leisten. Unterdessen schrie das Publikum weiter: Bocage! Dorval! und drohte, die Sitze zu zertrümmern. Der Regisseur ließ den Vorhang hochgehen. Er hoffte, daß Bocage, doch noch auf die Bühne gedrückt, nachgeben würde. Doch Bocage kümmerte sich nicht darum. Unterdessen
lag
die
Dorval
auf
dem
Sofa
mit
herabhängenden
Armen
und
zurückgeworfenem Kopf und wartete. Das Publikum wartete auch; tiefe Stille herrschte. Doch als Bocage nicht erschien, ging der Höllenlärm von neuem los. Plötzlich rührte sich die Dorval; sie streckte ihren Ann aus, erhob den Kopf, stand auf, trat an die Rampe und sagte inmitten tiefster Stille, die wie durch ein Wunder eingetreten war: „Messieurs, ich widerstand ihm, deshalb hat er mich getötet!" Darauf machte sie eine tiefe Verbeugung und verließ die Bühne, umbrandet von donnerndem Applaus. Der Vorhang fiel und die Zuschauer gingen entzückt und zufrieden nach Hause. Sie hatten ihren Schluss gehabt, allerdings mit einer Variante; aber diese war so geistreich, daß nur ei n ausgemachter Dummkopf ihn der Originalfassung nicht vorgezogen hätte. Antony forderte solchen Widerspruch heraus, daß ich noch ein paar Worte darüber sagen muss. Es ist zudem nicht nur mein originellstes und persönlichstes Werk, sondern auch eines der seltenen, die Einfluss auf ihre Zeit ausübten. Als ich Antony schrieb, war ich in e i n e Frau verliebt, die sich in gleicher Lage befand, wie Adele; auch i h r Mann war Offizier, auch er war fern von ihr*). Ich war furchtbar eifersüchtig auf diesen Mann. Eines Tages erhielt sie einen Brief, in dem er i h r seine bevorstehende Rückkehr ankündigte. Ich war wahnsinnig vor Wut. Ich ging ins Kriegsministerium, wo einer meiner Freunde Beamter war: dreimal ließ mein Freund den bereitliegenden Urlaubsschein des Offiziers verschwinden. Der Ehemann kam nicht. Was ich damals gelitten habe, kann man in Antony nachlesen; er erzählt es. Antony war ich bis auf den Mord; Adele war sie, mit Ausnahme der Flucht. Man hat mir vorgeworfen, daß die Tendenz des Stückes gefährlich sei, da Antony den Mord und Adele den Ehebruch entschuldigen lassen. Aber konnte ich meine Helden denn anders schildern? Ich konnte den beiden Liebenden doch keinen abstoßenden Charakter geben, ihnen auch keine hässlichen Züge und empörende Manieren andichten. Da wären wir nicht über den dritten Akt hinausgekommen.Wie macht es Moliere übrigens? Verrät Angelika nicht auch Georges Dandin auf die liebenswürdigste Weise der Welt? Bestiehlt Valerius nicht seinen Vater auf die eleganteste Weise? Betrügt Don Juan nicht Donna Elvira mit seinen verführerischen Worten? *) Es war die schon mehrfach erwähnte Melanie Waldor.
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Moliere wusste ebenso gut, .wie die Modernen, was Ehebruch war! Er ist sogar daran gestorben. Aber zu Molieres Zeit lachte man darüber; in unserer Zeit heißt es Ehebruch, und man weint dabei. Wenn ein moderner Autor kühner als andere die Sitten seiner Zeit schildert, und alles das auf der Bühne in weißer Krawatte, schwarzem Anzug, langen Hosen und Lackstiefeln darstellt, dann erkennt jeder sein Ebenbild wie in einem Spiegel, dann grinst man, statt zu lächeln, greift an, statt zu billigen und murrt, statt zu applaudieren! Hätte Adele ein historisches Kostüm getragen, dann hätte wohl niemand etwas dagegen einzuwenden gehabt. Welcher Kritiker würde es wagen, Ödipus unmoralisch zu finden, der seinen Vater erschlägt, seine Mutter heiratet und mit ihr Kinder zeugt, die zugleich seine Söhne, Enkel und Brüder sind? Denn wer würde sich im griechischen Mantel und dem thebanischen Peplon wiedererkennen? Wie Trouville entdeckt wurde Es war ein aufreibendes Leben, das wir damals führten: jeder Tag brachte neue Überraschungen und Sensationen in Politik und Literatur. Antony folgte seinem Glücksstern unbeirrbar durch alle Empörungen und Aufstände. Allabendlich rotteten sich ohne eigentlichen Anlass auf dem Boulevard zwischen Gymnase und Ambigu-Theater kleine Gruppen von fünf bis sechs Mann zusammen, die rasch Zulauf erhielten. Dann kam die Polizei und hielt sich auf dem Boulevard in Bereitschaft, die Halbstarken warfen ihnen Krautstrünke und Rüben nach, und ehe noch eine Stunde vergangen war, entstand ein ganz ansehnlicher Menschenauflauf, der gewöhnlich um fünf Uhr nachmittags begann und um Mitternacht zu Ende war. Diese täglichen Emeuten waren eine Volksbelustigung geworden, die viele Neugierige auf den Boulevard lockte, aber nur wenige ins Theater. Das Geschäftsleben stagnierte. Die gleichen Verleger, die mir für „Heinrich III." 6000 und für „Christine" 12 000 Franken geboten hatten, wollten „Antony" kaum auf halbe Kosten herausbringen, so daß ich ihn schließlich ganz auf meine Kosten drucken ließ. Ich sah keine Aussicht, länger in Paris zu bleiben. Die ewigen Aufstände kosteten mich zuviel Zeit und Geld. „Antony" brachte nicht genug ein, um seinen Autor auf dem Kriegsfuß zu halten, und außerdem trieb mich der dichterische Dämon an, wieder ein neues Werk zu schaffen. Aber woher die Mittel nehmen, um in Paris ungestört zu arbeiten? Von Cavaignac und Bastide erfuhr ich, daß im Laufe des nächsten halben oder auch ganzen Jahres sich in Paris nichts Ernsthaftes ereignen würde. Ich bekam daher Urlaub für ein Vierteljahr.
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Am 6. Juli reiste ich ab. Wohin wollte ich? Ich wusste es noch nicht. Ich hatte eine Feder in den Wind geworfen, der Wind wehte an diesem Tag von Süden: er hatte meine Feder nach Norden getrieben. Ich ging also nach dem Norden, voraussichtlich nach Le Havre. Ein unwiderstehlicher Reiz zieht uns immer wieder' an die Orte, die wir schon kennen. Man erinnert sich, daß ich bereits 1828 in Le Havre war, im Wagen von Paris nach Rouen hatte ich „Christine" entworfen. Und dann ist Rouen eine so schöne Stadt mit seiner Kathedrale, seiner Kirche Saint-Quen, seinen alten aus Holz gebauten Häusern, seinem Rathaus, seinem Hotel Bourgtheroude, daß man vor Begierde und Lust sterben könnte, es wiederzusehen. Ich blieb einen Tag in Rouen. Damals brauchte man noch vierzehn Stunden, um von Paris nach Rouen mit der Post, und zehn Stunden, um von Rouen nach Le Havre zu Schiff zu fahren. Heute schafft es der Schnellzug in dreieinhalb Stunden. In Le Havre erkundigte ich mich nach einem Ort, wo ich ein paar Wochen ungestört zubringen könnte; ich wünschte ein Dorf, eine Einöde, ein Loch, es müsse nur an der Küste liegen. Man nannte mir Sainte-Adresse und Trouville. Einen Augenblick schwankte ich zwischen den beiden Dörfern, die mir beide gleich waren. Als ich aber erfuhr, daß Trouville noch abgelegener und einsamer sei als Saint-Adresse, entschied ich mich für Trouville. Dann erinnerte ich mich, daß mein Freund Hu e t , der Landschaftsmaler, mir einmal von einem entzückenden Dorf am Meer erzählt hatte, das Trouville hieß, und wo er beinahe an einer Fischgräte erstickt wäre. Nur hatte er vergessen mir zu sagen, wie man nach Trouville kommt. Ich musste mich danach erkundigen. Man hatte aber in Le Havre viel eher Gelegenheit, nach Rio de Janeiro, nach Sydney oder nach den Inseln der Südsee zu gelangen als nach Trouville, das ebenso unbekannt war, wie die Insel Robinsons.Schiffer, die von Honfleur nach Cherbourg fuhren, hatten Trouville nur von weitem gesehen und beschrieben es als kleines Fischerdorf. Die Sprache, die diese Fischer redeten, war vö l l i g unbekannt, denn bisher hatte man sich mit ihnen nur aus der reine durch Zeichen und Signale verständigt. Ich hatte immer das Verlangen, Entdeckungs- und Forschungsreisen zu machen, und so beschloss ich, wenn auch Trouville nicht zu entdecken, so doch zu erforschen. Mit dieser Absicht fuhr ich nach Honfleur. Auf der zweistündigen Fahrt, die wir während der Flut unternahmen, bekamen alle Reisenden die Seekrankheit, mit Ausnahme einer schönen, aber schwindsüchtigen Engländerin mit langem, wallendem Haar und pfirsichroten Wangen, die die Krankheit mit zahllosen Gläsern Branntwein bekämpfte. Ich habe nie etwas Traurigeres als dieses hübsche junge Mädchen gesehen, das auf der Schiffsbrücke umherirrte, während alle anderen
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krank und elend herumlagen; sie, die dem Tod Geweihte trotz ihres scheinbar gesunden Aussehens, während, alle Passagiere, die mit dem Tod zu ringen schienen und die gleich Antäus ihre Kraft erst wiedergewannen, sobald sie die Erde berührten. Wenn es Gespenster gibt, müssen sie einherschreiten und aussehen wie diese schöne Engländerin. Als wir in Honfleur landeten, schienen sich ihre Mutter und ihr junger Bruder, der blond und rosig war wie sie, wie vom Schlachtfeld zu erheben. Während wir unser Gepäck zusammensuchten, sprang sie leicht über die Zugbrücke, die das Schiff mit dem Ufer verband, und verschwand im Winkel einer Straße von Honfleur. Ich habe sie nie wiedergesehen. Aber wenn ich sie jemals wiedersehen sollte, sei es hier auf dieser Welt, was wohl kaum möglich ist, oder in der anderen Welt, was mir wenig wahrscheinlich vorkommt, werde ich sie auf den ersten Blick wiedererkennen. In Honfleur suchten wir zu erfahren, wie wir nach Trouville gelangen könnten. Es gab einen See- und einen Landweg. Für den Landweg bot man uns einen schlechten Wagen und zwei schlechte Pferde an, die uns nach fünfstündiger Fahrt über schlechte Straßen für 20 Franken nach Trouville bringen sollten. Für den Seeweg bot man uns bei Ebbe, also in zwei Stunden, eine hübsche Barke mit vier kräftigen Ruderern, eine interessante Reise längs der Küste, wo ich Möwen, Wassertauben und Taucher finden sollte; zur Rechten den unermesslichen Ozean, zur Linken die riesenhafte Brandung. Außerdem, bei gutem Wind, nur zwei Stunden Überfahrt, die nur 12 Franken statt 20 kosten sollte. Meiner Gefährtin sagte diese Ersparnis zu, und da ich ihr aus Gefälligkeit die Wahl zwischen den beiden Transportmitteln gelassen hatte, entschied sie sich für das Schiff. Zwei Stunden später, bei Eintritt der Ebbe, verließen wir Honfleur. Das Meer war ruhig, der Wind günstig, und nach einer herrlichen Fahrt von drei Stunden, entlang der romantischen Küste, von deren Höhe aus 16 Jahre später König Louis-Philippe angstvoll Ausschau nach einer Barke halten sollte, sichteten unsere Matrosen Trouville. Trouville bestand damals aus ein paar Fischerhütten, die sich am rechten Ufer der Touque hinzogen, zwischen zwei kleinen Felsenketten, die das herrliche Tal wie ein Schmuckkästchen einen Edelstein einschlössen. Am linken Ufer erstreckten sich Weideplätze, die mir eine ergiebige Schnepfenjagd versprachen. Rittlings auf ihren Schultern trugen die Matrosen uns an den Strand, der glatt und glänzend wie ein Spiegel vor uns lag. Der Anblick des Meeres, das Einatmen der würzigen Seeluft und das ewige Murmeln der Wellen wirkt auf mich stets wie ein mächtiger Zauber. Wenn ich das Meer lange nicht gesehen habe, sehne ich mich nach ihm wie nach einer heißgeliebten Mätresse, und ich muss immer wieder an seinen Strand eilen, um seinen Atem zu fühlen und seine Küsse zu kosten. Die drei Monate, die ich während meiner Odyssee im Tyrrhenischen Meer mit meinen sizilianischen Schiffern an
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Bord eines Speronare zubrachte, waren, wenn auch nicht die glücklichsten, so doch mit die schönsten und genussreichsten Tage meines Lebens. Aber damals begann ich erst meine Laufbahn als Seemann, und dafür war es immerhin ein beachtlicher Auftakt, gleich einen Hafen wie Trouville zu entdecken. Am Strand herrschte frohes und lautes Treiben wie an einem Markttag. Zu unserer Linken sammelten Kinder Körbe voll Muscheln, zu unserer Rechten durchsuchten Frauen mit dem Spaten den Sand nach kleinen, fadendünnen Aalen, und um unsere Barke drängten sich Männer und Frauen, die kleine Krebse suchten. Das Wasser stand ihnen bis zum Gürtel, und sie schoben Netze vor sich her, in die sie ihre zappelnde Beute warfen. Bei jedem Schritt blieben wir stehen, denn alles, was wir an diesem unbekannten Strand sahen, war neu für uns. Als Cook auf den Freundschaftsinseln landete, konnte er nicht glücklicher sein als ich. Die Matrosen sagten, daß sie unsere Koffer ins Gasthaus brächten und uns dort anmeldeten. „In welches Gasthaus?" fragte ich. — „Es gibt nur das eine. Fragen Sie nur nach Mutter Oscraie. Jeder wird Ihnen das Haus zeigen." Diese Auskunft beruhigte uns. Eine Stunde später, nachdem wir die Dünen durchwandert und mehrmals auf französisch gefragt und in Trouviller Mundart Antwort erhalten hatten, fanden wir uns nach unserem Gasthaus zurecht. Eine Frau Mitte der Vierziger kam uns freundlich entgegen. Sie war kräftig gebaut, sauber und von angenehmem Wesen. Den Mund umspielte das pfiffige Lächeln des normannischen Bauern. Das war Mutter Oseraie. Wenn sie geahnt hätte, welche Berühmtheit sie eines Tages diesen Parisern zu verdanken hätte, würde sie mich gewiss aufgenommen haben, wie Plato d i e Dichter zu empfangen rät: unter der Tür, mit Blumen im Haar. Statt dessen musterte sie mich neugierig und kritisch vom Kopf bis zu den Füßen und fragte dann: „Na, das sind Sie also?" — „Wieso ich?" — ,.Ja, denn man hat doch Ihr Gepäck hergebracht und zwei Zimmer für Sie bestellt." — „Allerdings." — „Aber warum denn zwei Zimmer?" — „Nun, eins für mich und eins für Madame." — „Ach was, bei uns hier schlafen Eheleute beisammen." — „Aber wer sagt Ihnen denn, daß Madame und ich verheiratet sind? Und wenn wir es wären, so bin ich der Ansicht meines Freundes Alphonse Karr*). — „Und was sagt Ihr Freund Alphonse Karr?" — „Er behauptet, daß Mann und Frau, wenn sie nur ein Schlafzimmer haben, nach einiger Zeit aufhören ein Liebespaar zu sein und sie dann nur noch Mann und Weib sind." — „Das verstehe ich nicht. Sie wollen also zwei Zimmer? Gut, die sollen Sie haben, aber ich hätte lieber gesehen, wenn Sie nur eines genommen hätten." — „Aha, jetzt
*) Alphonse Karr (1808—1890), von deutscher Herkunft, bekannt durch seine Romane („Genevieve", 1838) und seine beißenden Bonmots („Guepes", 7 Bde., 1853/57).
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komme ich dahinter: Sie hätten es sich für zwei bezahlen lassen und dann noch ein Zimmer mehr an Gäste abgeben können." — „Richtig... Für einen Pariser sind Sie übrigens gar nicht so dumm." — „Ich bin zwar kein geborener Pariser, aber das tut schließlich nichts zur Sache." — „Also, Ihre beiden Zimmer sollen Sie haben. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß sie ineinander gehen." — „Um so besser." Sie rief ein hübsches, stattliches Mädchen mit Stupsnase, großen Augen und hochgeschürztem Rock herbei. „Führen Sie Madame in ihr Zimmer", sagte ich zu ihr. „Ich plaudere noch ein wenig mit Mutter Oseraie." — „Weshalb?" — „Weil ich Ihre Unterhaltung kurzweilig finde. Und dann möchte ich noch wissen, was Sie pro Tag verlangen." — „Und die Nächte zählen wohl nicht mit?" — „Gut, dann also für Tag und Nacht." — „Wir haben zwei Preise: Für Maler 2 Franken." Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Wofür 2 Franken?" fragte ich. — „Na, für Schlafen und Essen. Zwei, drei, vier Mahlzeiten im Tag — solange Sie Hunger haben. Sind Sie Maler?" — „Nein." — „Dann macht es 2 Franken 50. Für Sie und Ihre Frau zusammen 5 Franken. Oder ist Ihnen das zuviel?" — „Keineswegs. Aber weshalb zahlen die Maler weniger?" — „Weil es gute Menschen sind, die ich gern habe. Ihnen verdanke ich auch, daß mein Haus bekannt geworden ist." — „Kennen Sie vielleicht einen Maler namens Huet?" — „Oh, den kenne ich sogar sehr gut, denn ich habe ihm ja einmal das Leben gerettet, als er an einer Gräte fast erstickt wäre. Wie kann man aber auch so dumm sein, daß einem eine Gräte im Hals stecken bleibt!" — „Wie haben Sie das gemacht?" — „Ach, es war höchste Zeit. Er war schon ganz blaurot im Gesicht. Ich sagte zunächst zu ihm: Geduld! Ich bin gleich wieder da." — „Ein schöner Trost, wenn man am Ersticken ist!" — „Zum Teufel, was sollte ich sonst sagen? Ich lief rasch in den Garten, riss einen Lauchstängel heraus, schnitt den Bart ab, wusch ihn und steckte ihm den Lauch in den Rachen. . . . Das ist das beste Mittel gegen Gräten." — „Ganz entschieden." — „Ja, wenn er jetzt davon spricht, kommen ihm stets Tränen in die Augen." — „Das glaube ich gern. Lauch ist nicht umsonst ein Zwiebelgewächs. . . . Aber dennoch ist's mir nicht recht." — „Was ist Ihnen nicht recht? Etwa daß der arme Mann nicht erstickt ist?" — „I bewahre, ganz im Gegenteil. Ich freue mich darüber und danke Ihnen in seinem und meinem Namen. Er ist mein Freund und ein hochbegabter Künstler. . . . Aber ich ärgere mich, daß Trouville von Malern entdeckt wurde und nicht von einem Dichter." — „Ja, sind Sie denn Dichter?" — „Ich kann es nur bejahen." — „Was ist ein Dichter? Hat er Renten?" — „Nein." — „Dann ist es ein armseliger Beruf." Ich sah, daß Mutter Oseraie keine hohe Meinung von meiner Zahlungsfähigkeit hatte. Ich musste das wiedergutmachen. „Soll ich Ihnen vierzehn Tage im voraus bezahlen?" fragte ich. — „Wozu?" — „Zum Teufel, damit Sie keine Angst zu haben brauchen, daß ich als Dichter verschwinde, ohne Sie zu bezahlen." — „Wenn Sie gehen ohne zu zahlen, so ist das viel schlimmer für Sie als für mich, weil Sie dann eine ehrliche Frau um ihr Geld bringen, denn ich bin
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eine ehrliche Frau." — „Das weiß ich, Mutter Oseraie, aber Sie sollen sehen, daß auch ich ein anständiger Mensch bin." — „Das freut mich, offen gestanden. . . . Wollen Sie jetzt zu Mittag essen?" — „Das will ich meinen! Lieber zweimal als einmal. Was werden Sie uns aufwarten?" — „Das ist meine Sache. Wenn es Ihnen nicht schmeckt, können Sie ruhig wieder fortgehen." — „Aber Sie haben doch die einzige Pension im Ort." — „Allerdings. Und deshalb müssen Sie auch mit dem zufrieden sein, was ich Ihnen vorsetze. Und nun gehen Sie in Ihr Zimmer. Ich muss jetzt arbeiten, lieber Freund." Allmählich gewöhnte ich mich an diese Bauerngrobheit, die der Verkehrston der Mutter Oseraie war. Sie war nun einmal so geschaffen, und man musste sich also damit abfinden, obwohl mir die Pariser Höflichkeit lieber gewesen wäre. Ich ging in mein Zimmer. Es war ein rechteckiger Raum mit getünchten Wänden, einem Fußboden aus Fichtenbrettern, dazu ein Nussbaumtisch, ein rotgestrichenes Bett und ein Kamin mit einem halbblinden kleinen Spiegel darüber. Als Schmuck standen auf dem Kamin zwei Vasen in Gestalt von Füllhörnern und Mutter Oseraies Orangenblütenbukett, das schon zwanzig Jahre alt war, aber doch noch so frisch aussah wie am Hochzeitstag, da eine Glasglocke es gegen die Einwirkung der Luft schützte. Baumwollgardinen an den Fenstern und blendendweiße Bettwäsche vervollständigten die Einrichtung. Das Nebenzimmer war fast genau so ausgestattet, nur kam hier noch eine mit verschiedenfarbigen Holzeinlagen versehene geschweifte Kommode ä la Dubarry dazu, frisch vergoldet und aufpoliert, offenbar ein Requisit aus dem Atelier eines der Maler, die hier gewohnt hatten. Die Aussicht war herrlich. Von meinem Zimmer aus blickte man über das Tal der Touque, das bewaldete Hügel begrenzten. Das meiner Begleiterin ging auf das Meer, das weithin mit den weißen Segeln der Fischerboote bedeckt war, die zur Heimfahrt auf die Flut warteten. Der Zufall hatte es gut mit mir gemeint, indem er mir das Zimmer mit dem Blick auf das Flusstal gab. Hätte ich das Meer mit seinen Wogen, seinen Schiffen und Möwen und dem weiten Horizont vor Augen gehabt, wäre ich außerstande gewesen, zu arbeiten. Ich hatte das Mittagsmahl ganz vergessen, als ich Mutter Oseraies Stimme hörte, die uns zu Tisch rief. Ich bot meiner Freundin den Arm, und wir gingen hinunter. O du gute, würdige Mutter Oseraie, wie sehr bereute ich beim Anblick deiner Suppe, Rippchen, Seezungen, Hummern, Schnepfen und Salate, daß ich auch nur einen Augenblick an dir zweifeln konnte. Und dazu gab es Apfelwein nach Belieben. Und einen ganzen Franken für ein Diner, das in Paris 20 Franken gekostet hätte! Meine Freundin wollte mit Mutter Oseraie gleich einen Vertrag auf zehn Jahre abschließen. Nach ihrer Berechnung hätten wir in dieser Zeit mindestens 150 000 Franken sparen können. Vielleicht hatte sie recht, die Gute. Aber was wäre dann Paris mit seinem ewigen Aufruhr für mich geworden?
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Nach dem Essen gingen wir wieder an den Strand. Die Flut hatte eingesetzt, und die Fischerboote strebten dem Hafen zu wie eine Schafherde ihrem Pferch. Am Strand warteten schon die Frauen mit großen Körben, um die Fische aufzunehmen. Jede erkannte schon von weitem ihre Barke und die Mannschaft. Bevor sie noch in Hörweite waren, verständigten sie sich mit ihren Männern, Brüdern und Söhnen durch Zeichen über den Ertrag des Fischzuges. Unterdessen tauchte die glühende Julisonne am Himmelsbogen hinab, umringt von Wolkenbänken, die sie mit Purpur übergoss, und durch deren Zwischenräume sie ihre goldenen Strahlen sandte, die Pfeile Apolls, die sich in den Meereswogen brachen. Ich kenne nichts Schöneres und Erhabeneres als einen Sonnenuntergang am Meer. Wir blieben am Strand, bis die Nacht vollends hereingebrochen war . . . Unterdessen verbreitete sich in Paris das Gerücht von der Entdeckung eines neuen Hafens zwischen Honfleur und Delivrande. Das hatte zur Folge, daß hin und wieder ein Badegast aufkreuzte, der schüchtern fragte, ob das Dorf, dessen Kirchturm man sah, Trouville heiße. Ich bejahte . . . zu meinem größten Bedauern, denn ich ahnte, daß Trouville eines Tages ein zweites Dieppe, Boulogne oder Ostende würde. Ich täuschte mich nicht. Heute gibt es in Trouville zehn Hotels, und ein Quadratfuß Land kostet heute fünf Franken, während man früher für 100 Franken einen ganzen Morgen kaufen konnte. Kostümfest bei Dumas Das große Kostümfest, das König Louis Philippe gab, bildete das Tagesgespräch von Paris. Es war eine glanzvolle Veranstaltung, an der alle politischen Größen teilnahmen. Nur die Prominenten der Literatur und der Kunst fehlten, wie meist bei derartigen Festlichkeiten. „Wenn Sie dem Fest in den Tuilerien gehörig ins Gesicht schlagen wollen, geben Sie einfach auch einen Ball", meinte Bocage. — „Ich? Aber wer soll denn da schon hinkommen?" — „Erst einmal alle, die nicht zum König gehen, ferner alle, die nicht der Akademie angehören. Nun, was ich Ihnen da biete, scheint mir schon genug zu sein." — „Danke, Bocage. Ich will daran denken." Ich überlegte es mir wirklich, und zwar ganz ernsthaft. Der Karneval näherte sich, und Bocages Vorschlag hatte in den Kreisen der Künstler allmählich Eingang und Zustimmung gefunden. Ein Haupthindernis, das sich der Verwirklichung dieses Planes entgegenstellte, und das als erstes überwunden werden musste, war die Beschränktheit meiner Wohnung. Sie bestand aus Salon,
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Arbeits-, Speise- und Schlafzimmer. Sie genügte wohl für meinen Bedarf, war aber zur Abhaltung von Festen, besonders eines Balles, zu dem ich einige hundert Gäste einladen musste, entschieden viel zu klein. Wie sollte ich in den wenigen Räumen eine solche Menge Menschen unterbringen? Zum Glück stand eine Wohnung auf derselben Etage leer. Sie war noch nicht einmal fertig dekoriert, nur die Spiegel über den Kaminen waren angebracht, und eine graublaue Tapete bedeckte die Wände. Der Hauseigentümer erteilte mir die Erlaubnis, die Wohnung für meinen Hausball benutzen zu dürfen. Nun handelte es sich darum, die Wohnung auszuschmücken. Kaum hörten meine Malerfreunde, daß ich ihrer Hilfe benötigte, als sie sich mir zur Verfügung stellten. Es waren vier Zimmer mit Malereien auszustatten; sie teilten sich in die Arbeit. Meine Dekorateure waren einfach — unsere ersten Künstler: Eugene Delacroix, Louis und Clement Boulanger, Alfred und Tony Johannot, Decamps, Granville, Jadin, Barye und Nanteuil. Ciceri übernahm die Deckenmalerei. Ich stellte den Künstlern die Aufgabe, eine Szene aus den Romanen oder Stücken der Schriftsteller an die Wand zu werfen, die eingeladen wurden. Delacroix übernahm es, den König Rodrigo nach der Niederlage am Guadalquivir zu malen, eine Szene aus dem Cid, den Emile Deschamps übersetzt hatte; Louis Boulanger wählte eine Szene aus Lukretia Borgia, Clement Boulanger eine solche aus dem Sire de Giac; Tony Johannot eine aus Cinq Mars. Granville übernahm eine zwölf Fuß lange und acht Fuß breite Wandfüllung, auf der er uns alle karikieren wollte als Orchester von etwa 40 Musikern, die alle möglichen Instrumente spielen sollten. Außerdem sollte er über jeder Tür Tiertänze anbringen. Barye bemächtigte sich der Fensterbrüstungen; Löwen und Tiger in natürlicher Größe sollten die Stützen der Fenster bilden. Nanteuil hatte die Rahmen und Ausschmückungen der Türfüllungen zu besorgen. Dann wurde vereinbart, daß Ciceri vier Tage vor dem Ball die Leinwand auf die Wände zu spannen und Pinsel und Farbe zu beschaffen hatte. Wenn die Künstler einmal am Werk waren, so durften sie das angefangene Werk nur zum Schlafen verlassen, Essen und Trinken würde ihnen im Hause verabreicht werden. Eine weitere Frage von höchster Bedeutung war zu erledigen, das Souper. Ich wollte dazu in erster Linie selbsterlegtes Wildbret verwenden. Das war für mich zu gleich ein Vergnügen und eine Ersparnis. Deviolaine gab mir Erlaubnis zur Jagd im Walde von Ferte-Vidame. Das war mir um so lieber, als mein alter Freund Gondon dort Aufseher war und ich daher wusste, daß es ihm auf einen Rehbock mehr oder weniger nicht ankommen würde. Die Erlaubnis lautete übrigens auf mich und einige Freunde. Ich lud Clerjon de Champagny, Tony Johannot, Geniole und Louis Boulanger dazu ein.
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Mein Schwager und Neffe sollten ebenfalls von Chartres dazu kommen und in Ferte-Vidame sich zu uns gesellen. Ich benachrichtigte Gondon zwei Tage vorher, damit er Treiber beschaffen konnte, und ich vereinbarte mit ihm, daß wir in einem Gasthaus übernachten, den ganzen nächsten Tag jagen und abends wieder nach Paris zurückkehren würden. Wir legten den Weg dahin in einer großen Berline zurück, deren Besitzer ich, ich weiß nicht mehr wie, geworden war. Wir fuhren um neun Uhr ab und gedachten abends gegen sechs oder sieben Uhr einzutreffen. Wir hatten jedoch die Rechnung ohne ein Schneegestöber gemacht und langten erst gegen Mitternacht an der Herberge an. Unterwegs hatten wir nichts anderes, um uns zu erwärmen, als das Feuer der unversiegbaren und geistreichen Laune Champagnys, deren Sprünge er mit einer Trompete begleitete, die er Gott weiß woher hatte, und deren unglaubliche Töne uns Tränen lachen ließen. Natürlich lag alles in tiefem Schlaf, als wir endlich an Ort und Stelle waren. Wir betraten einen herrlichen Schneeteppich, der mich an die Wolfsjagden meiner Jugendzeit mit Deviolaine und seinen Waldhütern, meinen alten Freunden, erinnerte.
Unser Pochen war vergeblich; wie im Dornröschenschloss regte sich nichts im Innern der Herberge. Da wir unsere Glieder mehr und mehr erstarren fühlten, so sprach ich schon davon, das Schloss abzuschrauben, als ich an der anderen Seite der Tür die Stimme meines Neffen vernahm. Der arme Junge ist inzwischen gestorben. Damals war er gerade in demselben Alter wie ich, wenn mich früher die Aussicht auf eine Jagdpartie verhinderte, die Nacht vorher ein Auge zu schließen. Er war daher schon halb wach, als er durch unseren Lärm, unsere verzweifelten Rufe und besonders die Trompete Champagnys ganz munter wurde. Wie wir von außen, so arbeitete er jetzt von innen daran, unsere Wirte aus dem Bett zu treiben.
Endlich hörten wir ein mürrisches, grollendes, hüstelndes Etwas alle Götter anrufen und fragen, ob man zu so einer Stunde ehrliche Menschen in ihrem Schlaf störe. Die Tür ging auf, und die schlechte Laune unseres Wirtes legte sich sofort, als er sah, daß wir mit Postpferden angekommen waren. Das gab ihm ein Recht, die nächtliche Ruhestörung auf die Rechnung zu setzen; von da ab wurden wir gut aufgenommen. Mein Schwager hatte nicht kommen können. Mein Neffe Emil war allein da und hatte sich natürlich mit dem Recht des zuerst Eingetroffenen das beste Zimmer des Hauses geben lassen. Es wurde ihm sofort klargemacht, daß man in einem Alter, da man den Bürzel der Hühner und die Enden der Hammelschenkel zu essen kriegt, mit Strohsäcken und kalten Zimmern zufrieden sein muss. Das seine hatte einen großen Kamin, in dem noch Glut war, die ich geduldig mit dem Eifer einer Vestalin wieder anfachte, bis die anderen Holz gebracht hatten. Da das Zimmer sehr groß
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war, wollten wir di e Matratzen aus den kleinen Zimmern hierher schaffen und in Gesellschaft die Nacht darin zubringen. Emil verlangte zweierlei: die Ehre, bei uns zu bleiben, und das Recht, seine Matratze mit Zubehör ebenfalls auf die Erde zu legen. Er hatte in dem Bettzeug noch einige Wärme aufgespeichert, die er nicht verlieren wollte. Darauf gingen wir auf Suche nach etwas Essbarem, denn wir starben buchstäblich vor Hunger. Im ganzen Haus war aber nichts aufzutreiben als zwanzig Eier im Hühnerstall. So kamen vier Eier auf jeden und Brot und Wein nach Belieben. Ich glaube, wir haben niemals in fröhlicherer Stimmung gegessen und nie besser geschlafen. Am anderen Morgen wurden wir durch Gondon geweckt, der mit seinen Hunden und fünfzehn Treibern uns vor der Tür erwartete. Unser Jagdtoilette war bald gemacht. Da wir keine Reste vom Abend vorher zu vertilgen hatten, so begnügten wir uns damit, ein Stück Brot, in Wein getaucht, zu uns zu nehmen. Eine Viertelstunde später waren wir im vollen Jagen begriffen. Die Jagd verlief ohne Zwischenfall, nur eins ist erwähnenswert: daß ich drei Rehe mit zwei Schüssen niederstreckte. Ich stand an der Einmündung eines Fußwegs in die Hauptstraße, als drei Rehe auf dem Fußweg, von den Treibern aufgescheucht, auf midi zukamen. Ich ließ sie bis auf dreißig Schritt heran. Da blieben sie plötzlich wie angewurzelt stehen; zwei von ihnen standen in Front, das dritte dahinter. Von den vorderen drehte das eine den feinen, schlanken Hals nach rechts, das andere den seinen nach links, um zu wittern. In diesem Augenblick schoss ich auf die beiden, die sofort zusammenbrachen; das dritte sprang über den Graben, ich hatte aber noch Zeit, es mit einem zweiten Schuss zu erlegen. Unsere Jagdbeute bestand im ganzen aus neun Rehen und drei Hasen, wovon ich fünf Rehe und zwei Hasen geschossen hatte. Abends speisten wir bei Gondon; das war ein kleiner Unterschied gegen das Essen vom Abend vorher! Am anderen Morgen traten wir den Rückzug an und waren abends wieder in Paris. Ich schlug dem Feinkosthändler Chevet einen Tauschhandel vor. Ich wollte einen möglichst großen Fisch haben. Gegen drei Rehe verpflichtete sich Chevet, mir einen Lachs von dreißig Pfund oder einen Stör von fünfzig zu liefern. Ein viertes Reh musste ich für eine riesige Galantine zahlen. Zwei ganze Rehe sollten gebraten werden. Die drei Hasen wurden zu einer Pastete verarbeitet.Auf diese Weise hatte die Jagd mir Vergnügen bereitet und die Hauptbestandteile des Soupers geliefert. Für die übrigen Einzelheiten hatte die Hausfrau zu sorgen. Während unserer Abwesenheit hatte Vater Ciceri seine Aufgabe erfüllt: alles war bereit, Leinwand, Farben, Pinsel und Bürsten.Alle Zimmer wurden tüchtig geheizt und mit Stühlen, Sesseln und Fauteuils versehen; auch eine große Doppelleiter wurde angeschafft. Dann kamen meine Freunde, die Maler, und gingen an die Arbeit. Die guten, lieben, treuen Seelen. Von ihnen sind heute schon vier ins Grab gesunken, die damals mit uns lachten und
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scherzten. Wer hätte gedacht, daß ich Alfred und Tony Johannot, Clement Boulanger und Granville überleben würde. Noch ein elfter Dekorateur hatte sich gemeldet: Ziegler. Wir hatten zwar mit ihm nicht mehr gerechnet, aber wir hatten für ihn eine Wand reserviert. Drei Tage vor dem Ball waren alle auf ihrem Posten, nur Delacroix fehlte beim Appell. Wir wollten schon über seine Wand anderweitig verfügen, aber ich verbürgte mich dafür, daß er seine Arbeit ausführen würde. Es war ein sonderbares Ding um diese Steeple chase, die zehn Maler von solchem Ruf nunmehr gemeinsam begannen. Jeder folgte, scheinbar ohne sich um seinen Nachbar zu kümmern, mit den Augen der Zeichnung, dann dem Pinsel. Mit allgemeiner Spannung wurde Delacroix erwartet, dessen Gewandtheit in der Ausführung geradezu sprichwörtlich war. Nur die beiden Johannot waren noch zurück. Sie sahen aber ein, daß sie, um fertig zu werden, auch nachts weiterarbeiten mussten. Während die anderen spielten, rauchten und plauderten, setzten sie bei Lampenlicht ihre Arbeit fort und freuten sich über die vom Lampenlicht erzeugten Effekte. Um Mitternacht hatten sie die anderen überholt. Am anderen Morgen waren Alfred und Tony verzweifelt: beim Lampenlicht hatten sie Gelb für Weiß genommen, Weiß für Gelb, Grün für Blau, und Blau für Grün. Ihre beiden Bilder sahen aus wie zwei große Omeletten aus feinen Kräutern.
Doch Vater Ciceri wusste Rat. „Das macht nichts", meinte er, „wir haben da einen grünen Himmel und gelbe Wolken. Das werden wir gleich haben!" Und er nahm den Pinsel zur Hand und schaffte in kräftigen, mächtigen Strichen in wenigen Minuten Ordnung. Der Himmel beider Bilder war bald berichtigt; der eine zeigte das ruhige, heitere Blau des Paradieses Dantes; der andere war bewölkt und mit Elektrizität geladen, jeden Augenblick bereit, unter der Flamme des Blitzes aufzureißen. Nun lernten alle diese jungen Leute in einem Augenblick durch ihn die Geheimnisse der Dekorationsmalerei, wovon sie tags zuvor noch keine Ahnung hatten. Aber niemand versuchte, wieder am Abend zu arbeiten. Dank Ciceris Anweisungen machte die Arbeit jetzt Riesen fortschritte. Von Delacroix war nichts zu sehen und zu hören. Ich ließ ihn daher daran erinnern, daß der Ball am nächsten Tag stattfinden würde. Er ließ mir antworten, ich solle mich nicht beunruhigen, er würde morgen zum Frühstück da sein. Als Delacroix endlich erschien, waren alle Künstler fast fertig. „Na, wie weit sind wir?" fragte er. Jeder zeigte ihm seine Leistung. „Ah, das ist ja Miniaturarbeit, was ihr da gemacht habt! Das hätte ich wissen müssen, dann wäre ich schon vor einem Monat gekommen!"
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Darauf machte er die Runde durch alle Zimmer, besah jedes Bild und hatte für jeden seiner Kollegen ein anerkennendes Wort. Da gerade Frühstückszeit war, frühstückte er erst. Dann deutete er auf die leere Wand und fragte, was damit geschehen solle. „Das", erwiderte ich, „stellt den Zug der Juden durchs Rote Meer dar. Das Meer ist gerade zurückgetreten, die Juden sind hindurchgezogen, und die Ägypter sind noch nicht eingetroffen." „Dann will ich die Gelegenheit benutzen", meinte er, „um inzwischen etwas anderes daraus zu machen. Was soll ich darauf entwerfen?" — „Nun, Sie wissen doch, einen König Rodigro nach der Schlacht." — „Gut, den sollt ihr haben." Und ohne seinen Überrock auszuziehen, ohne seine Ärmel aufzuschlagen und ohne seine Bluse anzuziehen, nahm Delacroix seinen Kohlestift und skizzierte mit drei oder vier Strichen das Pferd, dann in einigen weiteren Reiter, Landschaft, Tote, Sterbende und Flüchtlinge; darauf ergriff er Pinsel und Palette und begann zu malen. Nun sah man, als ob er einen Schleier zerrissen hätte, unter seiner Hand einen blutigen Reiter erscheinen auf einem Pferd, das, selbst verwundet, sich kaum weiterschleppen konnte; der Reiter vermochte sich kaum noch in den Bügeln zu halten und stützte sich erschöpft auf seine Lanze. Um ihn herum und hinter ihm lagen Tote, und am Ufer des Flusses suchten Verwundete, eine blutige Spur nach sich ziehend, ihre durstigen Lippen zu laben. Am Horizont, so weit das Auge blicken konnte, ein grausenerregendes Schlachtfeld, und darüber ging eine Sonne unter, die einem glühenden Schild glich. Das Ganze war wunderbar anzusehen. Es hatte sich ein Kreis um den Meister gebildet, und jeder hatte seine Arbeit im Stich gelassen, um ohne Neid und Eifersucht diesem Rubens Beifall zu spenden, der Entwurf und Ausführung zugleich aus dem Stegreif hervorzauberte.Gegen drei Uhr war alles beendet und um fünf alles trocken, so daß die Stühle und Bänke aufgestellt werden konnten. Der Ball hatte ungeheures Aufsehen erregt. Ich hatte so ziemlich alle Pariser Künstler eingeladen; die ich vergessen hatte, brachten sich schriftlich in Erinnerung. Auch viele Damen der Gesellschaft hatten es ebenso gemacht, aber gebeten, in Maske kommen zu dürfen, was den anderen Damen gegenüber eine Unverschämtheit war, denn es war ein Kostümfest und kein Maskenball. Ich hatte strenge Anweisung gegeben, niemand ohne Kostüm einzulassen. Für alle Fälle hatte ich einige zwanzig Dominos gemietet.Um sieben Uhr kam Chevet mit einem Lachs von fünfzig Pfund, einem gebratenen Rehbock, der auf einer silbernen Riesenplatte serviert war, und mit einer den Verhältnissen entsprechenden Pastete. Dreihundert Flaschen Bordeaux standen warm, dreihundert Flaschen Burgunder kühlten, und fünfhundert Flaschen Champagner lagen auf Eis. Ich hatte in der Bibliothek in einem kleinen Buch mit Stichen von Tizians Bruder ein entzückendes Kostüm aus dem Jahre 1525 gefunden, danach hatte ich mir das meinige machen lassen. Die Dame des Hauses, eine bildschöne Erscheinung mit schwarzem Haar und blauen
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Augen, trug das Samtkleid, die steife Halskrause und den schwarzen Filzhut mit Federn der Helena Fourment, der zweiten Gattin von Rubens. Zwei Orchester waren in beiden Wohnungen so aufgestellt, daß sie auf ein Zeichen zugleich dieselbe Melodie spielten und der Galopp durch fünf Zimmer hindurchgehen konnte. Um Mitternacht bot das Fest einen wunderbaren Anblick dar. Jeder war programmmäßig erschienen und war verkleidet, mit Ausnahme der ganz Ernsten. Aber die letzteren hatten sich vergebens auf ihre Würde berufen, sie wurden unbarmherzig in einen Domino gesteckt. So bekam der ernste, aber lustige Veron einen rosa Domino; Buloz, ein ernster, aber trauriger Mann, einen himmelblauen; Odilon Barrot, ein ultraernster Mann, hatte dank seinem doppelten Titel als Advokat und Deputierter das Vorrecht erhalten, einen schwarzen anziehen zu zu dürfen. Lafayette, der liebe, elegante und vornehm höfliche Greis, hatte ohne Widerrede ein venezianisches Kostüm angelegt und lachte über all die Narrheiten froher Jugendlaune. Dieser Mann, der Washington die Hand gedrückt und Marat gezwungen hatte, sich in den Keller zu verkriechen; der mit Mirabeau gerungen und seine Popularität verloren hatte, als er das Leben der Königin retten wollte; der 1814 Napoleon vom Thron stieß und 1830 Louis Philippe half, ihn zu besteigen; der statt wie andere zu fallen, durch jede Revolution nur noch größer geworden war; dieser Mann war hier bei mir, schlicht wie die Größe, gut wie die Kraft, naiv wie das Genie! Er war der Gegenstand des Staunens und der Bewunderung für alle die begeisterten Menschen, die ihn zum erstenmal sahen, ihm näher traten und mit ihm sprachen. Er antwortete in liebenswürdiger Weise auf alle Schmeicheleien, die ihm die reizenden Theaterprinzessinnen aller Theater von Paris erwiesen. Er war einfach, freundlich, galant und kokett, geistreich und höflich wie vierzig Jahre früher auf den Bällen von Versailles und Trianon.
Die Salons boten einen farbenprächtigen Anblick dar. Die Damen Mars, Joanny, Michelot, Menjaud, Firmin und Leverd in ihren Kostümen aus „Heinrich III." verkörperten den Hofstaat der Valois. Georges, die die strahlende Schönheit ihrer besten Tage wiedergefunden hatte, war als Bäuerin aus Nettuno verkleidet, Madame Paradol als Anna von Österreich, Adele Alphonse, die gerade aus St. Petersburg gekommen war, als Griechin, Leontine Fay als Albanierin, die schöne Jüdin Falcon als Rebekka, Nourrit als Hofkaplan, Monrose als Soldat de Ruyters, Voluys als Armenier, Bocage als Didier. Rossini, der Lafayette die Popularität streitig machte, hatte das Kostüm des Figaro angelegt, Paul de Musart war als Russe erschienen, Alfred de Musset als Bajazzo, Eugen Sue, einer der Ernsten, in grünem Domino, Bard, mein Reisebegleiter nach Soissons, als Page aus der Zeit Albrecht Dürers. Da waren ferner Andalusier, Puppen, Köchinnen, Toreros, Asiaten, Tiere, Narren, Matrosen, Höflinge,
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Ritter, Bauern, Vendeer, Offiziere, Pilger und noch viele andere mehr. Eine Zeitlang waren siebenhundert Personen anwesend*). Um drei Uhr wurde soupiert. Speise und Getränke waren für alle hinreichend vorhanden. Nach dem Essen wurde weitergetanzt. Um neun Uhr morgens ging die ganze Gesellschaft mit Musik an der Spitze fort, und in der Rue des Trois-Freres wurde der letzte Galopp getanzt, dessen Spitze den Boulevard erreichte, als die letzten Paare sich noch auf dem Platz drehten. Ich habe seitdem oft daran gedacht, einen zweiten Ball wie diesen zu geben. Es schien mir aber, als sollte das ein unerfüllbarer Wunschtraum bleiben.
Die Cholera in Paris Damals verfolgte ganz Frankreich mit schwerer Besorgnis die Fortschritte, die die Cholera seit einigen Monaten machte. Von Indien ausgehend, hatte sie Persien durchzogen und St. Petersburg erreicht. Dann war sie plötzlich in London aufgetreten. Nur der Kanal trennte uns noch von ihr. Aber was bedeutete das für einen Riesen, der bereits dreitausend Meilen zurückgelegt hatte? Er machte dann auch nur einen Satz von Dover nach Calais. Ich erinnere mich noch dieses Tages wie heute. Der Himmel strahlte im herrlichsten Blau, die Sonne brannte mit glühender Hitze. Die Natur prangte im herrlichsten Grün. Im Tuileriengarten ergingen sich fröhliche Menschen Alles atmete Frieden und Ruhe, sogar von Aufruhr und Revolten hatte man schon seit längerer Zeit nichts mehr gehört. Plötzlich ertönte der Schreckensruf: „Die Cholera ist in Paris!" Es war wie ein Fluch, den der Himmel auf die Erde hinabgeschleudert hatte. Und schon hieß es: „In der Ruc Chanchart ist bereits ein Mann daran gestorben. Es war, als ob ihn der Blitz getroffen hätte." Man hatte das Gefühl, als ob sich plötzlich ein Trauerschleier zwischen den blauen Himmel, die helle Sonne und Paris gespannt hätte. Alles ergriff die Flucht und rannte nach Hause. Man schrie: „Die Cholera, die Cholera!", wie man siebzehn Jahre früher: „Die Kosaken!" geschrieen hatte. Aber so fest auch Türen und Fenster verschlossen wurden, der unheimliche Gast aus Asien drang doch durch die Ritzen der Läden und die Schlüssellöcher der Türen. Zuweilen wurden Menschen in drei Stunden dahingerafft, manchmal ging es auch noch schneller. Der Kranke spürte zuerst plötzlich ein leichtes Schaudern, dann stellten sich Kältegefühl, ununterbrochen Stuhlgang und Krämpfe ein; der Blutkreislauf wurde durch die Verdickung des Blutes erschwert und schließlich ganz unterbrochen, die Kapillargefäße verfärbten sich, der ") Nach den Berichten anderer Teilnehmer waren nicht mehr als hundert Gäste anwesend. Diese Zahl erscheint glaubhafter als Dumas' Angabe, denn es ist wohl ausgeschlossen, daß in einer Etagenwohnung siebenhundert Menschen Platz finden, zumal wenn sie auch noch tanzen wollen.
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Kranke wurde schwarz und ging zugrunde. Doch war das Krankheitsbild nicht feststehend, die einzelnen Perioden gingen, je nach dem Temperament der Kranken, durcheinander. Übrigens waren das alles nur Symptome; man starb an ihnen, aber die Krankheit selbst blieb unbekannt. Die Leiche war da, aber der Mörder blieb unsichtbar! Er führte den Todesstoß, man sah die Wunde, aber den Dolch suchte man vergebens. Man überließ dem Zufall die Wahl der Heilmittel, wie ein Mann, der im Dunkel der Nacht von einem Dieb überfallen wird, aufs Geratewohl auf ihn einhaut in der Hoffnung, ihm eins zu versetzen. So tappte auch die Wissenschaft im dunkel! In Russland wandte man Eis gegen die Cholera an. Andere Ärzte verordneten heiße Getränke, Punsch, Glühwein, warmen Bordeaux und Madeira. Man versuchte es mit Aderlass, setzte Blutegel auf Magen und Unterleib. Dann gab man Opium, Belladonna und Nieswurzel, wodurch wenigstens die Schmerzen in den Gedärmen gelindert wurden. Andere wiederum verabfolgten Dampfbäder, Massagen und heiße Eisen. In Fällen, wo es gelang, beizeiten gegen die Kälteperiode vorzugehen, war der Kranke in der Regel gerettet. Trotzdem kam aber kaum einer von zehn Kranken mit dem Leben davon. Die Cholera warf sich hauptsächlich auf Leute der ärmeren Klasse, verschonte aber durchaus nicht die Reichen. Die Krankenhäuser waren in kurzer Zeit überfüllt. Es kam vor, daß ein Mann zu Hause erkrankte. Die Nachbarn luden ihn auf eine Bahre und trugen ihn ins Krankenhaus. Unterwegs starb der Kranke, und einer der Träger, manchmal alle beide, nahmen dann seinen Platz ein. Oder verängstigte Angehörige waren um einen eben Verstorbenen versammelt; plötzlich hörte man einen Schrei und sah einen Menschen, die Hände auf dem Leib, sich in Schmerzen winden, zur Erde fallen, blau anlaufen und sterben. Die Menge war außer sich und floh vor einer Gefahr, die überall war. Was verstand sie von den Unterscheidungen der Ärzte: epidemisch — endemisch — ansteckend? Die Ärzte waren Helden! Niemals war ein Feldherr auf dem Schlachtfeld größeren Gefahren ausgesetzt als der Arzt auf seinem Posten im Krankenhaus oder in der Stadt von Krankenbett zu Krankenbett eilend. Die Krankenschwestern waren Heilige, in vielen Fällen Märtyrerinnen. Die unglaublichsten Gerüchte liefen von Mund zu Mund. Man wusste nicht, woher sie kamen, sie wurden aber unter Flüchen und Drohungen weitergegeben. So habe die Regierung, um sich von der Anhäufung der Bevölkerung in Paris zu befreien, die Brunnen vergiften und Gift in die Fässer der Weinhändler streuen lassen. Gans Paris schien vom Wahn besessen. Selbst die Behörden, die berufen waren, die Bevölkerung zu beruhigen, erschreckten sie noch mehr. Der Polizeipräfekt Gisquet erklärte, die Regierung habe nichts mit den Vergiftungen zu tun, dagegen versuchten die Republikaner die Regierung des Königs mit allen' Mitteln zu verleumden.
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Die erste Anklage hätte man noch verstehen können, ihre Quelle war die Unwissenheit; aber die zweite kam von den Behörden, die doch besser unterrichtet sein mussten . Das Volk glaubte nicht, daß man an einer Vergiftung sterben könne, die in der Luft lag, wenn der Himmel so rein war und die Sonne strahlte. Eine greifbare Ursache lag seinem Verständnis näher. Mauer anschläge mit solchen Anklagen wurden plötzlich überall verbreitet. Wer Paris zu jener Zeit gekannt hat, wird seinen Anblick nie vergessen mit seinem stets blauen Himmel, seiner strahlenden Sonne, seinen verlassenen Promenaden, seinen einsamen Boulevards, seinen von Leichenzügen überfüllten Straßen. Täglich unterlagen siebenhundert bis achthundert Menschen der Seuche! Abends verabschiedete man sich von einem Freund, man drückte ihm die Hand und sagte: „Auf Wiedersehen!" Am anderen Morgen hieß es: „Hast du schon gehört? Der Ärmste ist tot." Bald fehlte es an Särgen. Die Leichen wurden daher einfach in Tücher gehüllt und zu zehn, zwanzig in die Kirche geschafft. Die Angehörigen folgten dem gemeinsamen Leichenwagen oder gingen auch aus Angst nicht mit. Ein jeder wusste die Nummer seines Verstorbenen und beweinte diese Nummer. Dann wurde eine Gesamtmesse gelesen, und darauf ging es zum Kirchhof, wo der Inhalt der Tücher in ein Massengrab geworfen wurde. Am 18. April hatte die Epidemie ihren Höhepunkt erreicht. An diesem Tage starben fast tausend Menschen. Ich wohnte zu dieser Zeit Rue St. Lazare, am Square d'Orleans und sah von meinem Fenster aus jeden Tag fünfzig bis sechzig Leichenzüge vorbeiziehen, die nach dem Friedhof Montmartre gingen. Dieses Blickfeld vor Augen, schrieb ich eines meiner heitersten Lustspiele: „Der Gatte der Witwe", und das kam so. Mademoiselle Dupont, die fesche Soubrette der Comedie Francaise, mit ihrem steten Lächeln auf den Lippen, hatte eine Benefizvorstellung zugesagt erhalten. Eines Morgens — ich glaube, es war am 29. März, am Tage des Ausbruchs der Cholera, kam sie zu mir. Alles war schon vorbereitet, nur wünschte sie, daß ich ihr in das Stück eine Episode einlegte. Die Vorstellung sollte vier oder fünf Tage später stattfinden. Ich bin sehr ungeschickt darin, plötzlich Sachen aus dem Stegreif zu verfassen, wollte aber der liebenswürdigen Künstlerin keinen Korb geben. Ich bat sie daher, die Vorstellung verschieben zu lassen; ich würde ihr anstatt einer Szene eine ganze Komödie in einem Akt schreiben. Am folgenden Tag war ich bereits bei der dritten oder vierten Szene, als meine Wirtschafterin bleich wie der Tod und voll Entsetzen in mein Arbeitszimmer stürzte. „Mein Gott, mein Gott, Herr!" — „Was gibt es denn Katharine?" — „Die Cholera ist da, Herr! . . . Ach, ich habe schon Krämpfe! In der Rue Chanchat ist ein Mann tot umgefallen, er war gleich schwarz geworden wie ein Neger, man hat ihn noch abgerieben, aber alles vergebens!" —
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„Vielleicht hat man ihn mit einer Schuhbürste abgerieben?" — „Oh, Herr! Wie können Sie darüber noch spotten!" Die Rue Chanchat war in meiner Nähe, was konnte den unheimlichen Gast abhalten, auch an meine Tür zu klopfen? „Ich will nachsehen, Katharine, was los ist. Sollte die Cholera inzwischen bei uns anläuten, so öffne nicht." Ich ging aus und sah dann vor meinen Augen sich abspielen, was ich eben zu schildern versucht habe. Eines Abends, als ich meinen Freunden die Treppe hinunterleuchtete, fühlte ich in den Beinen ein leises Zittern und musste mich am Geländer festhalten. Als ich wieder in meinem Zimmer war, sagte Katharine: „Um Gottes willen, Herr, sehen Sie blass aus! Schauen Sie nur in den Spiegel." Ich war in der Tat totenbleich. Zugleich fühlte ich, wie mich allmählich mehr und mehr eine Kälte packte, bis mich ein Schüttelfrost ergriff. — „Wie komisch, ich friere, Katharine!" — „Ach, mein Gott, so fängt die Cholera an, Herr!" — „Sie glauben also, daß ich die Cholera habe?" — „Oh! Herr, ganz sicher . . . Ha!" — „Na, dann wollen wir keine Zeit verlieren, Katharine. Also schnell ein in Äther getauchtes Stück Zucker her und dann sofort zum Arzt!" Katharine ging hinaus, stieß gegen alle Möbel und schrie: „Ach, mein Gott, mein Gott! Der Herr hat die Cholera!" Inzwischen wurde ich immer schwächer und hatte noch gerade soviel Kraft, mich auszuziehen und ins Bett zu legen. Meine Zähne klapperten. Katharine kam zurück. Sie hatte völlig den Kopf verloren, anstatt Zucker brachte sie mir ein Malagaglas voll Äther. Zum Glück zitterte sie so, daß sie ein Drittel der Flüssigkeit vergoss. Sie reichte es mir. Da ich selbst nicht mehr recht wusste, was ich tat, auch vergessen hatte, was ich bestellt hatte, und in Unkenntnis war über die Medizin, die sie mir anbot, so führte ich das Glas an meine Lippen und goss den Inhalt in einem Zug hinunter. Ich hatte das Gefühl, als ob ich das flammende Schwert des Erzengels verschluckt hätte! Ich stieß einen Schrei aus, schloss die Augen und fiel ohnmächtig auf die Kissen. Von diesem Augenblick weiß ich nichts mehr. Als ich nach zwei Stunden wieder zu mir kam, befand ich mich wie in einem Dampfbad. Der Arzt leitete mittels eines Schlauches Dampf unter die Bettdecken und eine treue Nachbarin rieb mich über den Decken mit einem heißen Eisen. Ich weiß nicht, was mit mir in der Hölle geschehen wird, aber mehr kann man, glaube ich, auch dort nicht gebraten werden, als ich in dieser Nacht! Ich musste fünf oder sechs Tage im Bett zubringen; danach war ich buchstäblich gerädert. Jeden Tag gab Harel seine Karte bei mir ab, aber weder er noch sonst jemand durfte zu mir. Als ich das erstemal aufstand und die Tür zum Salon öffnete, war das erste, was ich erblickte, Harels kluges, lächelndes Gesicht.
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„Nun, glauben Sie jetzt an die Cholera?" fragte ich ihn. „Sie ist wieder abgereist. Bei mir ist sie nicht auf ihre Kosten gekommen . . . " Das Jahr 18 32 wurde außerdem wieder von politischen Unruhen heimgesucht. Bei der Revolte und dem Tod des Generals Lamarque floss auch in Paris wieder Bürgerblut und breitete einen Trauerschleier über ganz Frankreich. Auch ich hatte in meiner Eigenschaft als Artillerist der Nationalgarde tätigen Anteil daran genommen, soweit es meine immer noch schwache Gesundheit zuließ. Am 9. Juni las ich in einem legitimistischen Blatt, ich sei während des Aufstandes mit der Waffe in der Hand ergriffen, noch in der Nacht vor ein Kriegsgericht gestellt und um drei Uhr morgens erschossen worden. Man beklagte den frühzeitigen Tod eines jungen Schriftstellers, dessen Leistungen zu den schönsten Hoffnungen berechtigt hätten. Die Nachricht sah glaubhaft aus; die Einzelheiten der Hinrichtung, die ich übrigens mutvoll und unerschrocken überstanden hatte, waren so eingehend geschildert, der Bericht kam aus so guter Quelle, daß ich selbst einen Augenblick im Zweifel war und meinen Körper abtastete. Zum erstenmal sagte die Zeitung Gutes von mir: also hielt die Redaktion mich wirklich für tot. Ich schickte ihr mit verbindlichstem Dank meine Karte. Als mein Dienstmann damit fortging, kam ein anderer, der mir einen Brief von Charles Nodier brachte. Er schrieb mir: „Mein lieber Alexander! Ich lese soeben, daß Sie am 6. Juni, morgens drei Uhr, erschossen worden sind. Haben Sie die Güte, mir mitzuteilen, ob Sie das hindert, morgen bei mir mit Dausats, Taylor, Bixio und unseren gemeinschaftlichen Freunden zu speisen. Ihr alter Freund
Charles Nodier,
der gespannt ist, bei dieser Gelegenheit durch Sie Nachricht vom Jenseits zu erhalten." Ich antwortete meinem lieben Charles, ich wüsste zwar selber nicht genau, ob ich noch lebe, ich würde aber trotzdem, als Geist oder als Körper morgen bei ihm erscheinen. Falls ich nicht tot sei, sei ich doch sehr krank, da ich schon seit sechs Wochen nichts mehr gegessen hätte. Gleichzeitig machte mir ein Adjutant des Königs die streng vertrauliche Mitteilung, daß meine Verhaftung tatsächlich ernsthaft erwogen wurde. Man gab mir daher den wohlgemeinten Rat, für ein paar Monate ins Ausland zu gehen. Bis zu meiner Rückkehr nach Paris wäre alles längst wieder vergessen. Was mir der Adjutant vom politischen Standpunkt aus riet, das empfahl mir der Arzt auch im Interesse meiner Gesundheit. Daraufhin besorgte ich mir einen ordnungsgemäßen Pass und reiste am Abend des 21. Juli nach der Schweiz.
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Alexander Dumas pere
A N H A N G
DIE HÖHE DES LEBENS - DAS ALTER
von Friedrich Wencker-Wildberg
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Mit der Abreise in die Schweiz, d. h. mit dem Jahre 1832 enden Dumas' Lebenserinnerungen. Es ist der Roman seiner Jugend und seines Aufstiegs. Die Geschichte der eigentlichen Höhe seines Lebens, die Jahre seines Weltruhms und seines Alters hat er uns nicht geschildert. Der Tag des Rastlosen war in jenen vier Jahrzehnten, die noch folgen sollten, so erfüllt von Arbeit, Unruhe, Erfolg und dem Zwang, das Erreichte zu erhalten, und damit erfüllt auch von allen Bitternissen einer Künstlerlaufbahn, daß die Nöte der Anfangsjahre ihm im Zenit oder im Abstieg seiner Lebensbahn verklärt und liebenswerter erscheinen als das Leben des arrivierten oder alternden Dichters. So schwieg seine Feder. Zur Abrundung von Dumas' eigener Schilderung sei hier als ein kurzer Abriss dieser für die Geschichte seiner Kunst und für seine Stellung innerhalb des Lebens seiner Zeit so wichtigen Lebensepochen gegeben. Überblicken wir noch einmal kurz den Aufstieg bis 1832. Kaum zehn Jahre hatten genügt, um aus dem unbekannten kleinen Büroangestellten einen erfolgreichen Dichter zu machen. Diese Eroberung von Paris war eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, mit welch primitiven Kenntnissen der junge Mann aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen war und welch ungeheure Bildungslücken er ausfüllen musste, bevor er als gleichberechtigt und ebenbürtig in den Kreis der Dichter und Schriftsteller aufgenommen werden konnte, die — zwar ebenso unbemittelt wie er — ihm aber doch an Bildung und Kenntnissen weit überlegen waren. Zwar hatte er sich im Umgang mit seinem Freund Leuven schon einiges angeeignet und sich auch als Bühnendichter versucht, aber die von ihnen gemeinsam verfassten Schwanke — das Angebot an dieser leichten Ware überstieg bei weitem die Nachfrage — wurden nicht einmal von den kleinen Vorstadtbühnen angenommen. Und als später doch einige dieser im Kollektiv mit mehreren Mitarbeitern entstandenen Vaudevilles zur Aufführung gelangten, mussten die an sich schon sehr bescheidenen Einnahmen noch unter die Verfasser geteilt werden, so daß auf den einzelnen kaum mehr als ein geringfügiges Taschengeld fiel, von dem niemand leben konnte. Außerdem hätte diese Art von Schriftstellerei den Ehrgeiz eines Dumas nie befriedigt. Er trachtete nach höherem Ruhm. Der Lorbeerkranz des großen Dichters sollte seine Stirn schmücken. „Korinthisches Erz", wozu sein Bürokollege Lassagne ihm geraten hatte, wollte er gießen und aus diesem Stoff seine Werke schaffen. Mit wahrem Feuereifer stürzte er sich auf das Studium der gesamten Weltliteratur. Alles war ihm fremd und neu. Wie jeder Schüler musste er von vorn anfangen. Wenn seine Freunde ihm Freikarten beschafften, besuchte er das Theater und die Nächte verwandte er auf das Studium der zahllosen Memoiren, Chroniken und Biographien, deren Titel Lassagne ihm genannt hatte. Er tat dies mit solchem Eifer, daß er den Stoff für seine ersten Dramen geschichtlichen Quellen entlehnen konnte.
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Das Erstaunlichste dabei ist, daß diese an sich noch unsicheren und in bezug auf Technik, Sprache und Stil unzureichenden Erstlingsversuche vor dem aus den besten Schriftstellern und Schauspielern bestehenden Lektorat des Theatre Francais Gnade fanden und zur Aufführung an der ersten Bühne Frankreichs angenommen wurden. Und noch mehr: Die Premieren dieser Stücke (Heinrich HL, Christine und Karl VII.) waren Sensationen, die eine literarische Revolution auslösten und einer neuen Richtung zum Siege verhalfen. Als Ulrich von Winkelried hatte Victor Hugo in der berühmten Ernanischlacht der französischen Romantik eine Bahn gebrochen, auf der ihm unmittelbar und mit gleichem Erfolg Dumas nachfolgte und dem überwundenen Klassizismus endgültig den Todesstoß versetzte. Von diesem Tag an war der gestern noch völlig unbekannte Kanzleischreiber der poeta laureatus des literarischen und künstlerischen Paris, eine Persönlichkeit, die ihren Rang in der geistigen Prominenz Frankreichs einnahm. Dieser märchenhafte Aufstieg ließ Dumas auf seinen so rasch erworbenen Lorbeeren nicht ausruhen. Auf die drei großen Geschichtsdramen, deren Paten Shakespeare und Schiller waren, folgte ein bürgerliches Schauspiel, dessen Stoff er selbst erlebt hatte: Es war seine leidenschaftliche Liebe zu Melanie Waldor, die er in „Antony" auf die Bühne brachte. Der Titelheld ist Dumas selbst, Adele-Melanie ist die Frau des Oberst d'Hervey-Waldor. Nur der dramatische Ausgang — zugleich der Höhepunkt der ganzen Handlung — weicht von der nüchternen Wirklichkeit ab: Als d'Hervey seine Frau in den Armen ihres Liebhabers überrascht, tötet Antony die Geliebte, um ihre Ehre zu retten und alle Schuld auf sich zu nehmen. Die ganze Dämonie und abgründige Leidenschaft der Romantik ist in diesem Gesellschaftsstück mit realistischer Treue eingefangen. Hier ist zum erstenmal wirkliches Leben aus Alltag und Gegenwart dem Zuschauer vorgeführt worden — eine geradezu revolutionäre Tat, die rücksichtslos mit der geheiligten Tradition der klassizistischen Schule brach, deren blutleere Gestalten in einer verstandesmäßig konstruierten, wirklichkeitsfremden Scheinwelt lebten. Das Publikum stimmte dieser Abkehr von der Schablone begeistert zu. Allein in Paris ging „Antony" hundert-dreißigmal über die Bretter, stets von dem gleichen frenetischen Beifall begleitet wie bei der Premiere. Dumas hatte damit die erste Etappe seines Schaffens und zugleich seinen Höhepunkt als Dramatiker erreicht. Er hätte sich mit dem in so kurzer Zeit erreichten Erfolg zunächst begnügen und eine Atempause eintreten lassen sollen, um Muße zur Gestaltung eines neuen Stoffes zu gewinnen. Statt dessen erschöpfte er seine Kraft und zersplitterte sich, indem er in fieberhafter Hast und ohne hinreichende Vertiefung ein Stück nach dem anderen schrieb. Sein bühnensicherer Instinkt und seine unermüdliche Schaffenskraft verleiteten ihn zu einer überstürzten Massenproduktion, die auf Kosten der Qualität ging. Sein „Napoleon Bonaparte", den er in einer
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Woche herunterschrieb, war lediglich ein aus zahllosen Anekdoten zusammengeleimtes Ausstattungsstück, eine von Waffengeklirr und Kanonendonner erfüllte Apotheose der Kaiserzeit, die unter dem Julikönigtum Mode wurde. Trotzdem war Dumas' Stück, das noch 1831, also gleichzeitig mit „Antony", zur Aufführung gelangte, ein glatter Misserfolg. Wahrscheinlich hatte das Publikum von dem gefeierten Autor mehr erwartet. Aber auch seine nächsten Bühnenwerke konnten sich nicht durchsetzen. Das Jahr 1832 brachte vier Stücke, die Dumas gemeinsam mit anderen Autoren geschrieben hatte. Diese Kollektivarbeit, die sich in der französischen Literatur allmählich einbürgerte, musste zwangsläufig zu einer rein geschäftsmäßigen Industrialisierung der Dichtkunst führen. Dazu kam, daß Dumas in der Wahl seiner Mitarbeiter wenig Sorgfalt und Kritik walten ließ. Meist waren es unbedeutende Anfänger oder mittelmäßige Talente, deren bereits im Manuskript vorliegende Stücke Dumas überarbeitete und für die Aufführung zurechtfeilte, oder sie lieferten ihm den Stoff, den Dumas dann — meist unter Heranziehung eines dritten Gehilfen — nach einem gemeinsam besprochenen Plan ausarbeiten ließ. Gewöhnlich teilten sich die einzelnen Mitarbeiter die einzelnen Akte und Szenen, oder jeder übernahm die Rolle eines Helden und spielte sie durch alle Akte bis zum Schluss, während der dritte Gehilfe die Nebenszenen gestaltete. Diese nach dem Prinzip der Arbeitsteilung angefertigten Stücke wurden nun von Dumas zusammengesetzt und zu einem Ganzen verbunden. Künstlerisch individuelle Schöpfung wurde durch diese Methode rein mechanischer Herstellung zur Fabrikarbeit, die zwar den formalen Gesetzen der Dramaturgie entsprach, wie jeder maschinell erzeugte Massenartikel aber ein seelenloser Gegenstand war, der der persönlichen Note seines Schöpfers entbehrte. Kein Wunder, wenn die auf solche Weise rasch nacheinander entstandenen Bühnenwerke „Teresa", „Der Ehemann der Witwe", „Der Sohn des Emigranten" und „Der Nesle-Turm" nur kühle Achtungserfolge erzielten oder auch auf glatte Ablehnung stießen. Das durch Dumas' erste Dramen verwöhnte Publikum stellte nun auch an die weiteren Werke des Autors hohe Anforderungen. Weitaus das beste dieser vier Dramen, aus der Produktion des einen Jahres 1832, und das auch dem Geist der romantischen Schule am nächsten kam, war „La Tour de Nesle". Frederic Gaillardet, ein bis dahin unbekannter junger Autor, hatte es geschrieben und dem Odeon eingereicht. In der ursprünglichen Fassung war das Stück trotz der an sich dramatischen Handlung zur Aufführung ungeeignet. Harel gab das Manuskript Dumas zur Überarbeitung und dieser gestaltete es zu einem zugkräftigen Kassenstück um, das sich noch jahrzehntelang auf der französischen Bühne behauptete. Aber eine Originalschöpfung von Dumas war es nicht; der geistige Urheber, dem auch nach der bühnentechnischen Umarbeitung der Hauptanteil gebührte, hieß eben doch Gaillardet und nicht Dumas. Begann sein so plötzlich am Bühnenhimmel aufgetauchter Stern bereits zu verblassen? Hatte er den Zenit seines Ruhmes schon überschritten, war seine schöpferische Kraft bereits verausgabt?
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Enttäuschte Stimmen dieser Art drängten sich Publikum und Kritik auf und auch Dumas selbst bemächtigte sich eine gewisse Unsicherheit und Depression, die ihn lähmte und unsicher machte. Er befand sich in einem Zustand der Krise und des Überganges zu einer neuen Stufe seiner Entwicklung. Sie fällt zusammen mit einer nicht minder einschneidenden Phase seiner physischen Entwicklung. Dumas hatte jetzt das dritte Jahrzehnt seines Lebens abgeschlossen. Es endete mit seinem Erfolg als dramatischer Dichter. Nun tritt eine Zäsur ein, eine Periode vorübergehender Erschöpfung innerer Verzagtheit und schwankender Unschlüssigkeit, die durch Einflüsse und Einwirkungen der Außenwelt ausgelöst wird. Mit jugendlicher Begeisterung hatte er sich der Julirevolution angeschlossen, ja, selbst mit der Waffe in der Hand sich in den Straßenkämpfen in Paris beteiligt. Dann hatte er sich durch einen abenteuerlichen Handstreich der in Soissons lagernden Pulvervorräte bemächtigt. Damit konnten die Pariser Aufständischen, denen es an Munition fehlte, den letzten Widerstand der königstreuen Truppen brechen und den Sturz der älteren Linie der Bourbonen besiegeln. In seiner zwar unvorschriftsmäßigen aber dekorativen Phantasieuniform, in der er einem Negergeneral der westindischen Republik Haiti glich, fühlte sich Dumas als Retter und Held der Revolution. Plötzlich hatte er sein Interesse für die Politik entdeckt. Er wollte eine führende Rolle im öffentlichen Leben spielen, als Staatsmann, Politiker und Organisator. Das Weltgeschehen war für ihn die große Bühne geworden, auf der er nun dramatisierte Geschichte spielen wollte. Der Erfolg seiner Expedition nach Soissons verschaffte ihm durch Lafayettes Fürsprache eine Mission nach der Vendee. Die ihm übertragene Aufgabe, die Einstellung der dortigen königstreuen Bevölkerung zu der neuen Regierung zu sondieren und die Voraussetzungen für die Errichtung einer Nationalgarde zu prüfen, hat Dumas nicht erfüllt. Der Rechenschaftsbericht, den er nach seiner Rückkehr durch Lafayette dem König überreichen ließ, erging sich in altklugen Belehrungen, die er Louis Philippe erteilen wollte, und in reichlich verworrenen und phantastischen Utopien, während er einer klaren Stellungnahme zu den Haupt problemen entweder ganz auswich oder sie nur in ganz allgemeingehaltenen Phrasen oberflächlich berührte. Enttäuscht über den kühlen Empfang, den der König ihm bereitete, und aufs tiefste in seiner Eitelkeit verletzt, kündigte Dumas Louis Philippe die Freundschaft und trat ostentativ auf die Seite der republikanischen Opposition, wahrscheinlich in der stillen Hoffnung, der König würde ihn zurückzugewinnen suchen. Als dies nicht geschah, nahm Dumas an republikanischen Demonstrationen aktiven Anteil, um sich dem König in Erinnerung zu bringen. Das einzige, was er dabei erreichte, war, daß der gutmütige Louis Philippe Dumas eine längere Auslandsreise empfahl. Das geschah in der wohlwollenden Absicht, Dumas für einige Zeit aus dem unruhigen Paris zu entfernen und den unbesonnenen Dichter, den er als großes naives Kind kannte, vor weiteren kompromittierenden Handlungen zu bewahren, die ihn mit der Polizei in
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Konflikt bringen mussten. (Es erscheint sogar nicht ausgeschlossen, daß Louis Philippe ihm für diesen Zweck eine entsprechende Summe zur Verfügung gestellt hat, wenn auch Beweise dafür bisher nicht vorliegen.) Zu seinen Misserfolgen als Dichter gesellte sich nun auch noch die Enttäuschung über das Scheitern seiner hochfliegenden Ambitionen als Politiker. Paris, der Schauplatz dieser erlittenen Demütigungen, war ihm auf geraume Zeit verleidet. Er brauchte neue Anregungen, neue Eindrücke und Erlebnisse, um diesen Zustand der Lethargie und Lähmung zu überwinden. Was kannte er überhaupt von der Welt? Außer Paris doch nur die französische Provinz mit ihren Dörfern und Kleinstädten. Wie belebend, anregend und schöpferisch hatten sich seine beiden kurzen Reisen an die See nach Le Havre und Trouville ausgewirkt! Auf der Fahrt nach Le Havre hatte er den Plan zur Neufassung seiner „Christine" entworfen, in Trouville den größten Teil seines „Karl VII." geschaffen. Dumas hatte neue Menschenschicksale kennen gelernt, neue Landschaftsbilder hatten sich ihm erschlossen, eine Fülle von Eindrücken und Erlebnissen war auf ihn eingestürzt, die ihm Stoff zu neuem Schaffen liefern konnten. Nun wollte er den befruchtenden Einfluss des Reisens erneut auf seinen Geist einwirken lassen. Schon im Juli 18 30, kurz nach der Eroberung Algiers, durch das Expeditionskorps des Generals Bourmont, hatte Dumas sich ernsthaft mit dem Plan einer Reise nach Nordafrika getragen, die nur durch den Ausbruch der Revolution im letzten Augenblick verhindert wurde. Diesmal war die benachbarte Schweiz sein Reiseziel, und Dumas durchwanderte das Land Wilhelm Teils vom Genfer See bis zum Bodensee und brachte eine reiche Ausbeute an Erlebnissen, Begegnungen und Eindrücken mit nach Hause, die er zunächst in der von seinem Freund Buloz neugegründeten und angesehenen Revue des Deux Mondes veröffentlichte und die dann anschließend in einer vierbändigen Buchausgabe im Pariser Verlag Dumont erschienen sind. Diese „Schweizer Reise" eröffnet die Reihe seiner „Impressions de voyage", die in den folgenden Jahren rasch zu einer stattlichen Werkzahl anwuchs, denn das nun folgende vierte Jahrzehnt seines Lebens hat Dumas, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, fast ausschließlich auf Reisen zugebracht. Nach einer Reise durch das Rhonetal, die ihn über Avignon nach Marseille führte, wo er die Umwelt kennen lernte, in der später der erste Teil seines Monte Christo spielen sollte, hielt er sich in den Jahren 183 7/3 8 zunächst wieder in Paris auf. Sein neuerlicher Versuch, die Bühne zurückzuerobern, scheiterte. Keines seiner neuen Stücke vermochte mehr als einen bescheidenen Achtungserfolg zu erringen, einige erlebten sogar einen glatten Durchfall und wurden ausgepfiffen. Fast gänzlich unbeachtet blieb Dumas' phantastisch mystische Gestaltung des Don-Juan-Stoffes, zu der ihn wahrscheinlich Goethes Faust II angeregt hat. Die in dem gleichen Jahr 1836 entstandene Komödie Kean, deren Titelheld der große englische Schauspieler ist, der dem britischen Ensemble angehörte, das den Parisern zum
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erstenmal die Wunderwelt Shakespeares erschloss, hat sich erst viel später durchgesetzt. Am 1. August 1838 starb Dumas' Mutter. Von dem Schlaganfall, den sie am Vorabend der Uraufführung von Heinrich 111. erlitten hatte, hatte sie sich allmählich wieder erholt, bis nun, zehn Jahre später, ein zweiter ihrem Leben ein Ziel setzte. Dumas, der mit rührender Liebe an seiner Mutter gehangen und alles getan hatte, um ihren Lebensabend freundlich und sorglos zu gestalten, gab sich hemmungslos seiner Trauer um die Heimgegangene hin. Der Herzog von Orleans, der Dumas' Freund war, sprach ihm an der Bahre der Mutter persönlich sein Beileid aus und versuchte den wie ein Kind weinenden Dichter zu trösten und zu beruhigen. Auf dem Friedhof ihrer Heimatstadt Villers-Cotterets fand sie an der Seite des Generals ihre letzte Ruhestätte, und ein drittes Grab neben den Eltern hatte der Sohn für sich vorbehalten. Um seinen Schmerz zu überwinden und Kraft und Anregung zu neuem Schaffen zu gewinnen, bedurfte Dumas einer neuen Abwechslung. Diesmal wollte er auf seine Art eine Entdeckungsreise an den Rhein unternehmen und in Frankfurt mit dem jungen Dichter Gerard de Nerval zusammentreffen, der über Straßburg kam. Der Weg führte über Belgien, wo Dumas nach dem Besuch des Schlachtfeldes von Waterloo nach Laeken fuhr, um König Leopold I. seine Aufwartung zu machen. Der „Republikaner" Dumas besaß nämlich eine besondere Vorliebe für gekrönte Häupter, und er legte großen Wert auf freundschaftlichen Verkehr mit Fürsten und Königen, zumal wenn diese seine breite Brust mit einem funkelnden Ordensstern schmückten. Das hatte Leopold I. getan, und dafür pries Dumas ihn überschwänglich als „le roi le plus philosophe qui eut jamais existe sans en excepter Frederic". Dann ging es weiter über Mecheln, Gent, Löwen, Lüttich und Aachen nach Köln, und von da rheinaufwärts nach Frankfurt. Die literarische Ausbeute dieser Exkursion sur les bords du Rhin ist auffallend dürftig. Das persönliche Erleben tritt fast gänzlich in den Hintergrund. Es beschränkt sich fast ganz auf ein paar alltägliche Abenteuer und flüchtige Begegnungen in Gasthöfen. Im wesentlichen hat Dumas die Geschichte der von ihm berührten Städte und Sehenswürdigkeiten aus Reiseführern und Chroniken übernommen und in seiner Art nacherzählt. Seine nur geringen Kenntnisse der deutschen Sprache erschwerten den direkten Umgang mit der einheimischen Bevölkerung. Die vielen Sagen, die sich an Burgen, Ruinen und Berge des Rheintales knüpfen, lagen in französischen Übersetzungen vor, aus denen Dumas den Stoff entnommen und für seine Leser effektvoll ausgeschmückt hat. In Frankfurt, wo Dumas mit Nerval zusammentraf, fanden die beiden Dichter gastliche Aufnahme bei ihrem Landsmann Durand, der das in französischer Sprache erscheinende Journal de Francjort herausgab. Dumas war der Held des Tages. Die Familie Rothschild stellte ihm ihre Loge im Theater zur Verfügung, sie machten Ausflüge in die Umgebung, und während Nerval den Ehemann mit
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Sekt traktierte und ihn in ein geistvolles literarisches Palaver verwickelte, huldigte Dumas der verführerischen Schönheit der charmanten Madame Durand. Nebenbei setzte er Nervals Schauspiel Leo Burckardt die noch fehlenden dramatischen Lichter auf, dann arbeiteten sie gemeinsam an einem Schauspiel L'Aldtimiste, das reidie Tantiemen bringen sollte, in Wirklichkeit aber bei der ersten Aufführung durchfiel. Von Frankfurt reisten die beiden Freunde weiter nach Mannheim und Heidelberg. Hier konnten sie Lokalstudien für ihr Drama machen, das dem 1820 in Mannheim hingerichteten Studenten Karl Sand gewidmet war. Vor dem Heidelberger Tor zeigte man ihnen die Richtstätte, die als „Sands Himmelfahrtswiese" zum Wallfahrtsort des Volkes geworden war. Von dem in Heidelberg lebenden Dr. Wiedemann, dem Sohn des Scharfrichters, erhielt Dumas noch weitere Auskunft, denn er war als junger Mann 1820 Augenzeuge der Hinrichtung Sands gewesen. Als gewissenhafter Reporter hat Dumas alle Einzelheiten, die er ermitteln konnte, sorgfältig zusammengetragen und sie später in seinem Tatsachenbericht über Sand (in der Sammlung Les causes celebres) verwertet. Dumas hat die Rheinreise in Begleitung seiner Freundin Ida Ferrier gemacht, was er in seiner Schilderung indes mit keinem Wort erwähnt. Wahrscheinlich ist sie ihm auch nach der Schweiz und später nach Südfrankreich gefolgt. Da sie die einzige Frau ist, di e am längsten und nachhaltigsten Dumas beeinflusst und beherrscht hat, müssen wir etwas bei ihrer Person verweilen. Josephine-Marguerite Ferrand, genannt Ida Ferrier, hatte ihre Bühnenlaufbahn in der Provinz begonnen und war später in den Pariser Vorstadttheatern aufgetreten. Dort hatte der Schauspieler Bocage die mollige Naive entdeckt und sie Dumas für die Rolle der Amelie Delaunay in dessen Schauspiel Teresa vorgeschlagen. Sie spielte die reine, ob ihrer Unschuld verfolgte Jungfrau so echt und natürlich, daß Dumas ihr das Angebot machte, in allen seinen künftigen Stücken aufzutreten. Ein gutbezahltes Engagement an einer großen Pariser Bühne — ihr längst gehegter Wunschtraum — war Wirklichkeit geworden. Von freudiger Erregung überwältigt, fiel sie dem Meister um den Hals und küsste ihn. Sie tat es noch öfter, denn von Stund an wurde sie seine Geliebte. Noch war dessen Cceurdame die schlanke Jüdin Bella Krebsamer, die als Helene Fourment die Glanzrolle der Ballkönigin auf Dumas' großem Kostümfest gespielt hatte. Jetzt befand sie sich auf einer Gastspieltournee im Ausland, und da nahm Ida Ferrier vorläufig ihren Platz ein. Bella kehrte nach Paris zurück, aber das Herz des wankelmütigen Freundes gehörte der anderen. Sie trennten sich, und Bella Krebsamer verschwand fortan aus Dumas' Leben. Um so strahlender ging Idas Stern auf. Sie war das krasse Gegenteil ihrer schlanken Vorgängerin mit dem blauschwarzen Haar: mittelgroß, weizenblondes Haar, ein allerliebstes Gesicht, zart und samtweich, die Wangen mit leichtem Rosa angehaucht und dazu leuchtende
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große, dunkle Augen, umrahmt von langen, schwarzen Wimpern. Ihre schöngeformten Arme und die langen, schmalen Hände waren weiß wie Milch — jeder Zoll eine vollendete Schönheit, die jeden Mann berauschen und betören musste, so daß er darüber gern die Mängel und Schattenseiten übersah, die das harmonische Gesamtbild ihrer Erscheinung störten. Mit sicherem Instinkt hatte Ida bald die Schwächen ihres Freundes erkannt. Sie war eine unbequeme, anspruchsvolle und herrschsüchtige Frau, die das Regiment führte und dem gutmütigen Dichter das Leben oft genug zur Hölle machte. Sie bestand darauf, die Titelrollen seiner Stücke zu spielen, auch wenn sie sich dafür nicht eignete, denn sie war an sich nur eine mittelmäßige Künstlerin, deren schlechte und vulgäre Aussprache das Vorstadtpublikum nicht störte, auf die kultivierten Besucher der großen Theater aber geradezu abstoßend wirken musste. Als sie in Dumas' Drama Caligula bei der Uraufführung in der Comedie Francaise die Rolle der Vestalin verkörperte, rief ihre in der faltenreichen antiken Tracht unbeholfen wirkende Figur stürmische Lachsalven hervor, die nicht wenig zum Durchfall des Stückes beitrugen. Fast täglich kam es mehrmals zu heftigen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten, in deren Verlauf die temperamentvolle Ida auch handgreiflich wurde. Sie durchschnüffelte seine Post, spionierte ihm auf Schritt und Tritt nach, und auf seinen Reisen war sie seine ständige Begleiterin. Nachdem Ida dem Dichter das Leben acht Jahre lang zur Hölle gemacht hatte, heiratete er sie. Was bestimmte ihn zu diesem Schritt? Die wahren Beweggründe lassen sich nicht mehr feststellen. Es wird behauptet, Dumas habe seine Mätresse auf einen von dem Herzog von Orleans veranstalteten Ball mitgenommen. Als er sie dem Prinzen vorstellen wollte, sei ihm dieser mit den Worten zuvorgekommen: „Es ist selbstverständlich, mein lieber Dumas, daß Sie mir nur Ihre Gattin vorstellen konnten." Um nicht die Gunst des Thronfolgers zu verlieren, habe Dumas daraufhin die Geliebte zu seiner Frau gemacht. Diese immer wieder aufgewärmte Anekdote erscheint indes wenig glaubhaft. Nach einer anderen Version, für die ebenfalls jeder Nachweis fehlt, habe Idas geschäftstüchtiger Vormund für 40 000 Franken Schuldverschreibungen Dumas' im Nennwert von 200 000 Franken aufgekauft und diesen daraufhin vor die Wahl gestellt, di e Angelegenheit entweder durch die sofortige Heirat seines Mündels zu bereinigen oder mit dem Schuldgefängnis Bekanntschaft zu machen. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl die zynische Erklärung, die Dumas einem Freund gegeben haben soll: „Ich habe sie geheiratet, um sie endlich loszuwerden." Wie dem auch sei, am 1. Februar 1840 wurde das ungleiche Paar in der Kirche Saint-Roch getraut. Trauzeugen waren Chateaubriand und Roger de Beauvoir, Alexanders und Idas Freund. Mit der ehelichen Treue nahmen es beide Gatten nicht genau. Wie Dumas Roger in einer sehr eindeutigen Situation mit seiner Frau überraschte und wie es
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dann zu einer allgemeinen Versöhnung kam, darüber erzählten sich die Zeitgenossen schmunzelnd eine pikante Geschichte, die eines Boccaccio oder Brantöme würdig wäre. Bald nach der Hochzeit reiste das Paar nach Italien, wo Dumas in der Via Rondinelli in Florenz eine Villa mietete. Er hoffte, hier Ruhe und Anregung zu neuem Schaffen zu finden. Dumas hatte seinem Freund Buloz, der mittlerweile Kommissar des Theätre Francais geworden war, ein Lustspiel versprochen. Aber Dumas quälte sich damit herum, es fehlte ihm die Lust zur Arbeit. Es ist überhaupt erstaunlich, wie gering die literarische Produktion Dumas' während der drei Jahre ausfiel, die er, von kürzeren Abstechern nach Paris und von Reisen in Italien selbst abgesehen, fast ständig in Florenz verlebte: Ein halbes Dutzend Bühnenwerke, meist in Zusammenarbeit mit anderen Autoren, verschiedene Reisebücher und mehrere Novellen und sonstige Prosaschriften. Das Beste darunter sind die lebendigen und fesselnden Erlebnisberichte von seinen Reisen in Sizilien und LInteritalien (Corricolo und Speronare, Ein Jahr in Florenz und Villa Pahnieri). In Florenz führte Dumas einen ziemlich kostspieligen Haushalt. Die Miete für das Haus, das seinem Freund, dem britischen Botschaftsattache Cooper gehörte, betrug monatlich allein 200 Franken; die Gesamtausgaben beliefen sich im Monat auf 1260 Franken. Dumas war ständiger Gast des Königs Jeröme von Westfalen, der mit seinen beiden Söhnen seit vielen Jahren in Florenz lebte. Mit den beiden Prinzen unternahm er Ausflüge nach Livorno und der Insel Elba, wobei er auch die unbewohnte Felseninsel Monte Christo besuchte, auf der ein Teil seines großen Romans spielen sollte. Als Dumas am 13. Juli 1842 nach Quarto fuhr, erwarteten die Prinzen ihn bereits vor dem Portal. „Wir haben eine furchtbare Nachricht für Sie", begrüßten sie den ahnungslosen Gast mit ernsten Mienen, „Sie haben jemand verloren, den Sie über alles geliebt haben." Dumas' treuer Freund, der ritterliche Herzog von Orleans, war auf einer Wagenfahrt in Paris tödlich verunglückt. Es war der härteste Schlag, der Dumas seit dem Tod seiner Mutter getroffen hatte. Außer sich vor Schmerz klammerte er sich an den alten König: „Monseigneur, lassen Sie mich einen Bourbon in den Armen eines Bonaparte beweinen." Noch am gleichen Abend reiste er mit Extrapost nach Paris, um an den Beisetzungsfeierlichkeiten des Prinzen teilzunehmen. Im Laufe des Jahres 1843 kehrte Dumas endgültig nach Paris zurück — ohne seine Frau. Er hatte sich von ihr getrennt und ihr eine Jahresrente von 6000 Franken ausgesetzt. Die gerichtliche Scheidung erfolgte ein Jahr später. Ida blieb in Italien; im März 1859 ist sie in Pisa gestorben. Dumas war wieder frei. Kein Zank und Streit lähmten mehr sein Schaffen. Er war jetzt einundvierzig. Das vergangene Jahrzehnt war eine Zeit des Wartens und Tastens gewesen. Die Misserfolge seiner letzten Bühnenwerke hatten ihn unsicher gemacht und an seiner theatralischen Sendung zweifeln lassen. Er hatte sich der Prosa zugewandt und außer seinen
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Reiseschilderungen eine Reihe kleinerer Romane und Erzählungen geschrieben. Sie hatten Anklang und Beachtung gefunden, von einem wirklichen Erfolg konnte freilich noch keine Rede sein. „Korinthisches Erz" nach Lassagnes Rezept: Goethe plus Scott plus Cooper war es nicht; oder wenigstens noch nicht. Aber der Anfang war gemacht, und die kleinen historischen Romane verrieten den großen Erzähler. In dem nun beginnenden fünften Jahrzehnt seines Lebens erreicht Dumas die Gipfelhöhe seines Schaffens. Er wird diese kurz bemessene Spanne mit einer geradezu unheimlichen Produktion ausfüllen, die ohne Beispiel in der ganzen Literaturgeschichte dasteht. Jetzt hatte er auch den kongenialen Mitarbeiter gefunden, der den Meister ergänzte und dessen Schaffen verdoppelte. Es war kurz nach der Rückkehr von der Rheinreise, da machte Gerard de Nerval Dumas mit einem jungen Mann bekannt, der sich in seinen Mußestunden als Schriftsteller betätigen wollte. Er war Geschichtslehrer am College Charlemagne, hieß Auguste Maquet und war sechsundzwanzig Jahre alt. Er hatte bereits ein Erstlingswerk geschrieben, ein kleines Schauspiel: „Ein Karnevalsabend". Er hatte das Manuskript Nerval zum Lesen gegeben, und dieser hatte es Dumas zukommen lassen. Der Meister hatte es mit seinem Mitarbeiter Cordelier-Delanoue etwas umgekrempelt und bühnenfest gemacht. Unter dem neuen Titel Bathilde war es 1839 zur Aufführung gelangt. Drei Jahre später hatte Maquet einen historischen Roman geschrieben, der zur Zeit der Verschwörung des spanischen Gesandten Cellarmare gegen den Regenten Philipp von Orleans spielte. Den Stoff hatte Maquet dem (damals noch unveröffentlichten) Tagebuch des Kopisten Buvat entnommen, dessen Manuskript er in der Bibliotheque Royale entdeckt hatte. Maquet reichte das Manuskript dem Verleger Dumont ein. Er las den Roman, und er gefiel ihm auch, nur schien er ihm etwas zu kurz zu sein. Dumont zeigte den Roman seinem Autor Dumas: „Nicht übel an sich, nur etwas knapp. Könnte man den Inhalt nicht auf zwei bis drei Bände erweitern? Vielleicht ist es etwas für Sie. Lesen Sie die Geschichte mal durch und sagen Sie mir dann Bescheid." Dumas nahm das Manuskript mit. Nach ein paar Tagen brachte er es wieder. „Wie viel zahlen Sie dem Autor für dieses Werk?" fragte er Dumont. — „300 bis 400 Franken, wenn ich es annehme." — „Gut, wird der Verfasser es mir dann für 2000 Franken abtreten?" Maquet ging auf den Handel ein, und Dumas wurde Eigentümer des Romans Der Biedermann Buvat. Er konnte nun über Maquets Geistesprodukt frei verfügen und es nach Belieben umgestalten. Er ging an die Arbeit, stellte die Handlung auf eine breitere Basis, führte neue Personen ein und schuf aus dem Rohstoff einen völlig neuen Roman, dessen Umfang jetzt dem Inhalt von vier schmalen Bändchen entsprach, wie die Verleger sie damals für die vielen Lesezirkel und Leihbüchereien herstellten. Dumas brachte das fertige Manuskript aus Florenz mit, Dumont druckte den Roman, der unter dem Titel Der Chevalier d'Harmental der Auftakt zu den jetzt in kurzen Abständen folgenden großen Romanen wurde, die sich die ganze Welt eroberten.
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Um den Anteil beider Autoren feststellen zu können, müsste man Maquets Urfassung des Bonhomme Buvat mit dem Text des Romans vergleichen. Ob die Urschrift dieses Romans heute überhaupt noch vorhanden ist, geht aus der umfangreichen Dumas-Literatur nicht hervor. Soviel aber lässt sich trotzdem sagen: Der Chevalier d'Harmental ist ein Werk, das auf jeder Seite die vollendete Erzählkunst des großen Meisters verrät. Der bühnensichere Aufbau der Handlung, deren Spannung sich von Kapitel zu Kapitel steigert und die Lösung des Knotens bis zur vorletzten Seite des Buches aufspart, entspricht bis ins kleinste der Technik aller Romane Dumas', und zwar auch derer, die bereits gedruckt vorlagen, bevor er mit Maquet bekannt wurde. Für das Erstlingswerk eines fünfundzwanzigjährigen Anfängers macht der Roman einen viel zu reifen Eindruck. Das gilt aber auch für alle weiteren Romane, und vor allem für die großen Romanzyklen (Musketiere, Memoiren eines Arztes u. a.), von denen Gustave Simon behauptet, Maquet habe sie fast unabhängig und unbeeinflusst von Dumas allein geschrieben, und Dumas' Anteil beschränke sich nur auf gelegentliche geringfügige Änderungen und Umstellungen. Viel eher trifft das Gegenteil zu. womit Maquets Verdienst in keiner Weise geschmälert oder beeinträchtigt wird. 1843 erschienen außer dem Treffer Harmental noch fünf kleinere und weniger bedeutende Romane. Die Produktion hat eingesetzt: sechs kleine Romane und, diese turmhoch überragend, zwei Werke von solchem Umfang und von solch genialer Konzeption und Aus führung, daß jeder einzelne als Gesamtleistung eines Menschenlebens ausreichen würde, um seinem Verfasser die Unsterblichkeit zu sichern. Es sind die Romane Die drei Musketiere und Der Graf von Monte Christo, die seit einem Jahrhundert der Weltliteratur angehören. Die literarische Produktion wird hier zur Industrie — anders lässt sich dieses Phänomen nicht erklären. Es ist
eine Erscheinung des Frühkapitalismus, jener Übergangsperiode vom
kleinbürgerlichen Handwerksbetrieb zur maschinellen Massenproduktion. Hand in Hand damit geht die Entwicklung der Presse, deren Herstellung durch die Fortschritte der Technik (Telegraf, Eisenbahn, Schnellpresse, Setzmaschine, Rotation) erleichtert und beschleunigt wird. Politik, Wirtschaft und öffentliche Meinung bedürfen der Tagespresse, deren Auflagen ständig ansteigen, und die aus dem täglichen Leben aller Volksschichten nicht mehr wegzudenken ist. Die Tagespresse beschränkt sich nicht nur auf aktuelle Berichterstattung, sie will den Leser auch unterhalten, ihm unterwegs und bei der Arbeit das Buch ersetzen. Diesem Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnis der Massen kommt das Feuilleton entgegen. Als neueste Errungenschaft beginnen die großen Tageszeitungen damit, ihren Lesern Romane in täglichen Fortsetzungen zu liefern. Der Zeitungsroman ist eine ganz neue Literaturgattung, denn er unterscheidet sich wesentlich von bisherigen breit angelegten und langatmigen, gemächlich dahingleitenden Betrachtungen. Er verlangt statt dessen eine straffe, einprägsame Handlung, die unter Verzidit auf jede überflüssige und ermüdende Beschreibung in knappe
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Dialoge aufgelöst wird. Auf diese Technik sind die Romane von Dumas abgestimmt. Sie sind daher eine begehrte Mangelware, die mit Gold aufgewogen wird. Honorare von 5000 bis 100 000 Franken nur für den Journalabdruck eines einzigen Romans sind keine Seltenheit mehr, sondern der übliche Satz, den die großen Boulevardblätter ohne weiteres bezahlen — ein Vielfaches des Honorars, das in früheren Zeiten der bedeutendste Schriftsteller für das Gesamtwerk seines ganzen Lebens erhalten hat. Einer der ersten, der die Zeichen der Zeit verstanden hat und die Konjunktur wahrnimmt, ist Dumas. Seine Romanfabrik A. Dumas & Co. wird allen Wünschen gerecht und deckt jeden Bedarf. Da vegetiert in Paris ein kleiner Literat, der kaum das Brot für sich und seine Familie verdient. Er hat einen Memoirenroman über Ninon de Lenclos geschrieben, der, was Anlage und Stil anlangt, ähnlichen Romanen von Dumas nachgebildet ist. Der Verfasser heißt mit seinem bürgerlichen Namen Jacquot, als Autor hat er sich den klangvolleren aristokratischen Namen Eugene de Mirecourt zugelegt. Er bietet Dumas seinen Ninonroman zum Kauf an. Dumas steckt bis zu den Ohren in der Arbeit. Er hat im Augenblick keinen Bedarf, er ist auf Jahre hinaus mit Rohstoff versorgt. Er dankt für das Angebot und lehnt es ab. Der arme Mirecourt wäre mit 1000 Franken zufrieden gewesen. Dumas hätte ihm das Geld geben sollen, dann wäre ihm ein unliebsamer Skandal erspart geblieben. Denn Mirecourt schreibt eine Broschüre Fabrique de romans: Maison Alexandre Dumas & de. Darin beschuldigt er Dumas ganz offen des literarischen Diebstahls oder vielmehr der Aneignung fremden Geistesgutes: Keines der vielen Werke, die seinen Namen tragen, hat er selbst geschrieben. Es sind die Arbeiten seiner weißen Neger, die er besoldet und deren Verdienst er sich anmaßt und verprasst. Im Frühjahr 1845, also gerade zu dem Zeitpunkt, wo kurz nach dem Erscheinen der beiden Weltschlager Musketiere und Monte Christo die Dumas-Hausse einsetzt, ruft das Erscheinen dieses Pamphlets einen ungeheuren Skandal hervor. Schon einige Monate vorher hatte derselbe Jacquot-Mirecourt bei der Societe des Gens des Lettres, der führenden französischen Schriftstellerorganisation, Klage über den „Merkantilismus der Feder" erhoben. Während die Vorstandschaft über die von Jacquot erhobenen Beschuldigungen gegen Dumas debattiert, erscheint dieser mitten in der Versammlung. „Mir scheint, daß man mich hängen will. Da bin ich, meine Herren", begrüßt er lächelnd den Präsidenten Viennet, setzt sich in dessen Sessel, überschüttet die Anwesenden mit einem Feuerwerk geistvoller Aphorismen und spöttischer Bemerkungen. Schließlich gibt er ganz offen zu, daß er einen Mitarbeiter hat, nur einen, nämlich Maquet. Ist das etwa unehrenhaft? Gibt es ein Gesetz, das die Zusammenarbeit zweier Schriftsteller verbietet und unter Strafe stellt? Und den Vorwurf des Plagiats fertigt er mit der
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stolzen Tirade ab: „Shakespeare und Moliere nahmen ihr Gut, wo sie es fanden. Sie hatten recht, denn das Genie stiehlt nicht, sondern erobert!" Der Streit, der soviel Staub aufgewirbelt hat, endet damit, daß Jacquot-Mirecourt wegen Verleumdung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wird. So war Dumas Sieger geblieben. Maquet hatte gegen die Zusicherung finanzieller Beteiligung auf die Erwähnung seines Namens als Mitverfasser verzichtet. Ganz so unrecht hatte JacquotMirecourt allerdings nicht, wenn er von weißen Negern sprach, die dem „echten" Neger Handlangerdienste leisteten, und er hätte entschieden mehr erreicht, wenn er, statt Dumas persönlich anzugreifen und zu beschimpfen, sich eines sachlicheren Tones befleißigt und objektives Tatsachenmaterial als Beweisführung vorgelegt hätte. Denn man wusste nur zu gut, daß Maquet zwar der befähigste und fleißigste, aber keineswegs der einzige Mitarbeiter Dumas' war. Ein gutes Dutzend Schriftsteller außer ihm haben Dumas teils Rohstoff in Form von Exposes, Ent würfen
und
Inhaltsangaben,
teils
mehr
oder
minder
ausgearbeitete
Roman-
und
Novellenmanuskripte geliefert, denen er dann noch den letzten Schliff gegeben hat. bevor sie in die Setzerei gingen. Dass er ganze Romane seiner Mitarbeiter einfach mit seinem Autorennamen signierte und sie, ohne auch nur eine Zeile davon gelesen zu haben, drucken ließ, ist entschieden übertrieben. Keines der vielen unter seinem Namen veröffentlichten Werke — seien es Bühnenstücke, Romane, Erzählungen oder Plaudereien — lässt die charakteristische Eigenart seiner Konzeption, die Technik seines Aufbaues oder die Frische seines Dialoges vermissen — der beste Beweis dafür, daß er das Elaborat seiner Gehilfen mit seinem Geist gewürzt und zum mindesten in der äußeren Form umgestaltet hat. Dumas blieb immer der schöpferische Architekt, der die Gesamtleitung fest in der Hand behielt. Viele seiner Mitarbeiter haben Werke eigener Schöpfung veröffentlicht. Sie sind samt und sonders langweilig, schwerfällig, und keines ist darunter, das auch nur die geringste Spur der lebendigen und mitreißenden, der einmaligen Erzählerkunst des Meisters aufweisen könnte. Über Maquets Mitarbeiterverhältnis zu Dumas sind wir durch die von Gustave Simon erstmalig veröffentlichten Briefe und Notenwechsel zwischen den beiden ziemlich eingehend unterrichtet. Es geht aber doch zu weit, wenn Simon daraus den voreiligen Schluss zieht, das Hauptverdienst an den großen Romanzyklen Dumas* gebühre Maquet, und nicht dem, dessen Name zu Unrecht allein auf dem Titelblatt stehe. Die Musketiere, die Simon als nahezu alleiniges geistiges Eigentum für seinen Mandanten beansprucht, sind Dumas' ureigenste Konzeption gewesen. Bereits Ende der dreißiger Jahre hatte er gelegentlich eines längeren Aufenthaltes in Marseille von der dortigen Bibliothek, deren Direktor sein Freund Mery war, die Memoires de M. d' Artagnan von Courtiis de Sandras entliehen. Das heute noch vorhandene Exemplar ist mit zahlreichen Unterstreichungen und Randbemerkungen von
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Dumas' Hand versehen — der beste Beweis, daß er sich schon lange vor dem Zusammentreffen mit Maquet mit diesem Stoff selbständig beschäftigt hat. Kein anderer als Dumas war also der Spiritus rector dieses Werkes, dessen Gestaltung er dann mit Maquet besprochen und skizziert hat. Maquet wird auch das geschichtliche Gerippe für den weiteren Verlauf der Romanhandlung — die bei Corutils fehlt — beigesteuert haben. In der Ausarbeitung der einzelnen Kapitel haben sich beide Autoren in der Form geteilt, daß Maquet einen ersten Textentwurf vorlegte, dem Dumas dann die endgültige Fassung gab. Nach der gleichen Methode werden auch die beiden Fortsetzungen dieses Romans entstanden sein. Natürlich kann Maquet größere Abschnitte dieser Bände an Hand des mit Dumas entworfenen Exposes selbständig ausgearbeitet und der Redaktion der Presse direkt eingereicht haben, ohne daß Dumas den Text vorher gelesen und überholt hatte. So dürfte vielleicht die etwas sehr breit angelegte Liebeshandlung zwischen Raoul von Bragelonne und Luise von Lavalliere Maquets alleiniges Produkt sein. Die bei einer solchen Zusammenarbeit stets zwangsläufig gegebene Arbeitsteilung bringt es mit sich, daß der einzelne sich auf diejenigen Abschnitte und Motive konzentriert und sie herausmodelliert, die ihm am meisten zusagen. Nach Simon soll Maquet die Figur des Porthos nach seinem eigenen Onkel gezeichnet haben. Anderseits wissen wir, daß dieser hünenhafte, im Grunde seines Herzens gutmütige, wenn auch ein wenig eitle Musketier Dumas' Lieblingsheld war, von dem er sich nur schweren Herzens trennen konnte, und dessen Ende er dann besonders dramatisch geschildert hat. Der Sohn erzählt, er habe eines Tages seinen Vater, von tiefem Schmerz ergriffen, weinen sehen. Auf die Frage nach der Ursache, stammelte der Vater unter Tränen: „Porthos ist tot! Ich habe den armen Porthos getötet!" Wem eine Romanfigur so ans Herz gewachsen ist, daß er gewissermaßen mit ihr lebt und an ihren Schicksalen persönlichen Anteil nimmt, der muss sie auch geschaffen und ihr Geist von seinem Geist eingehaucht haben. Das Urbild des Porthos war der Chevalier Gauthier de Villiers (1780—18 55), ein Normanne, dessen Vorfahre einer alten Familientradition zufolge ein Musketier aus dem Koros des Herrn von Treville war, der wegen seiner zahllosen Duelle von Ludwig XVIII. nach Tonnere verbannt wurde. Der Chevalier war mit 2,10 Meter ein wahrer Hüne, der über Muskelkräfte verfügte, die seiner Körpergröße entsprachen. Als Offizier hatte er die Feldzüge des Kaiserreichs mitgemacht und nach dem Sturz Napoleons bei den Gardes du Corps Ludwigs XVIII. gedient. Er war ebenso gutmütig wie der legendäre Musketier, aber gleich diesem auch ebenso empfindlich gegen die ge ringste Beleidigung. Nach dem Tod Ludwigs XVIII. nahm Gauthier den Abschied und zog sich in seine Heimat zurück, wo er in Verson bei Caen bei seiner verwitweten Schwester, Mme. Cosnard des Closets, wohnte. Diesen Goliath und Herkules hat Dumas gekannt und ihm in der
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sympathischen Gestalt seines Lieblingshelden Unsterblichkeit verliehen*). Maquet will Anfang und Schluss der Musketiere selbständig ausgearbeitet haben. Der Vergleich des Wortlautes des Manuskripts Maquets mit dem Text der Buchausgabe — Simon gibt die beiden Fassungen der Hinrichtung der Lady Winter wieder — lässt deutlich genug die sichere Hand des Regisseurs erkennen, als der Dumas die etwas schleppende Schilderung seines Mitarbeiters durch zweckmäßige Kürzungen gestrafft und durch diese redaktionelle Revision erst diese atemberaubende, mit jedem Satz sich steigernde Spannung erzeugt hat, die gerade dieser Szene zu einem erschütternden Erlebnis für den Leser werden lässt. Dumas hat Maquets Mitarbeit gerade an diesem Roman dankbar anerkannt, indem er ihm das erste Exemplar der Buchausgabe mit der ehrenvollen Widmung überreichte: Cui pars inagna fuit. Auf dem Weg einer ähnlichen Arbeitsteilung dürften auch die übrigen großen Romane entstanden sein, an denen Maquet mitwirkte. Über Entstehung und Konzeption des Monte Christo wurde im Vorwort zu dem Roman bereits alles Wesentliche gesagt. Auch hier sind Idee und Plan der Handlung Dumas' eigenes Werk. Auf seinen Reisen hatte er die verschiedenen Schauplätze besucht, auf denen die Romanhandlung spielt. Er war also mit den Örtlichkeiten vertraut und brauchte später nur zu beschreiben, was er gesehen und sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Den Hafen von Marseille mit dem Haus des Reeders Morrel, die Allees de Mcillan, wo Dantes' Vater wohnte, die Kataloniersiedlung, wo Mercedes und Fernand beheimatet waren, das Chateau d'If, in dessen düsteren Gewölben seine Phantasie Edmond Dantes schmachten ließ, die Felseninsel Monte Christo, in dessen Grotten Dantes den sagenhaften Schatz des Kardinals Spada finden sollte. Auch Schiffer und Schmuggler sind nach dem Leben gezeichnet, denn Dumas hat während seines Aufenthaltes in Sizilien an ihren Fahrten teilgenommen. Im Hotel des Maestro Pastrini pflegte Dumas abzusteigen, sooft er nach Rom kam. Also bringt er in diesem ihm vertrauten Haus auch Albert von Morceef und Franz von Epinay unter. Die Geschichte des Räubers Luigi Vampa und das romantische Leben der Banditen in den Sabiner Bergen hat der in Paris lebende italienische Schriftsteller Fiorentino als Kenner dieses Milieus beigesteuert. Seine Kenntnisse der verschiedenen Gifte und deren Wirkung, die er sich im Umgang mit Ärzten erworben hatte, konnte er im Rahmen des Romans bei der sehr eingehenden Schilderung der Giftmorde in der Familie des Staatsanwalts Villefort verwerten, was allein schon beweist, daß diese Kapitel ausschließlich Dumas' eigene Schöpfung sind. Wenn er Maquet nach Marseille schickte, so geschah das, damit dieser ein möglichst wirklichkeitsnahes Bild der dort spielenden Szenen
*)
Andre de Maricourt, Le virilable Porthos. Figaro (La vie litteraire) Samedi 8. 8. 1931. Maricourts
Mitteilungen stützen sich auf eigene archivarische Forschungen sowie auf dokumentarische Unterlagen..
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entwerfen konnte. Die auch für Monte Christo charakteristische Technik, der gleichzeitigen Verwendung der Gattung des Kriminal-, Abenteuer- und Liebesromans, die eine für al l e größeren Werke Dumas' typisches Kennzeichen ist, verrät seine Regie. Eine monumentale Schöpfung ist die unmittelbar im Anschluss an Monte Christo in Angriff genommene Konzeption der Memoiren eines Arztes. Wenn man bedenkt, daß zur gleichen Zeit d ie beiden großen Zyklen über die Religionskriege (Königin Margot und Dante von Monsorecut) und aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. (3. Teil der Musketiertrilogie) noch nicht zum Abschluss gebracht waren und Dumas mit Maquet bereits wieder eine neue, noch umfassendere Romanreihe starteten, dann weiß man wirklich nicht, was man mehr bewundern muss, die ungeheure Leistung, die allein in der rein technischen Bewältigung der mechanischen Schreibarbeit innerhalb kürzester Zeit beruht, oder die geistige Spannkraft, die sich gleichzeitig auf drei grundverschiedene, zeitlich weit auseinanderliegende Geschichtsepochen konzentrieren und die in ihnen spielenden Handlungen auseinanderhalten, gestalten und weiterspinnen musste, ohne die einzelnen Gestalten und Begebenheiten untereinander zu verwechseln, und damit den Zusammenhang zu verlieren. Auch durfte er das Tempo nicht erlahmen und kraftstrotzende, leidenschaftsdurchglühte Helden zu blut leeren, müden Schatten herabsinken lassen, an deren Schicksal der enttäuschte Leser kein Anteil mehr nimmt. Keines dieser drei Werke durfte zugunsten des anderen vernachlässigt oder nur für kurze Zeit zurückgestellt werden, um die Handlung des anderen vorwärts zutreiben. Die Arbeit musste sich also gleichmäßig auf alle drei erstrecken und ein tägliches Leistungssoll unter allen Umständen erfüllt werden. Dass zwei an Raum, Zeit und Physis die Kraft gebundene Menschen eine solche Herkulesarbeit vollbringen konnten, erscheint uns geradezu unfassbar. Dabei wohnten Dumas und Maquet in zwei verschieden weit voneinander getrennten Pariser Stadtteilen. Da es weder Telefon, noch Auto, Straßen- oder U-Bahn gab, konnten sie sich über den Fortgang der Arbeit nur durch berittene Boten verständigen. Technische Hilfsmittel wie Tonband und Schreibmaschine waren noch völlig unbekannt. Unermüdlich, von morgens bis abends und meist auch noch die halbe Nacht hindurch, kratzten und knirschten die Gänsekiele über rauhes Hadernpapier. Dumas hatte zwar eine wundervoll deutliche Handschrift, gleichmäßig haarscharf wie gestochen standen die Buchstaben auf dem Papier, nie war ein Wort ausgestrichen, verbessert oder radiert, Seite für Seite konnte man mühelos ablesen. Und doch mussten seine Manuskripte, bevor sie in die schon auf neuen Stoff wartende Setzerei gehen konnten, erst von einem Sekretär korrigiert oder neugeschrieben werden, denn Dumas achtete bei der Hast, mit der er die Schöpfungen seiner Phantasie zu Papier brachte, nicht auf di e Regeln der Rechtschreibung, und Satzzeichen pflegte er grundsätzlich überhaupt wegzulassen. Maquets weniger deutliche Manuskripte, die mit der Post kamen oder von Boten ins Haus gebracht wurden, mussten,
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nachdem Dumas sie überarbeitet hatte, ebenfalls in Reinschrift gebracht werden. Schon diese rein mechanische Anfertigung der Urschrift erforderte erheblichen Aufwand an Zeit und Kraft. Und wie viel kostete ihm nun erst die schöpferische Kraft des Gehirns, die Planung, den Aufbau und das Schema eines Werkes zu entwickeln und zu durchdenken, die zahllosen Einzelszenen durch den roten Faden der Handlung zusammenzuhalten und zu einem riesenhaften Gemälde zu verschmelzen! Eine Analyse dieser gewaltigen Arbeit zu geben, und in diesem Zusammenhang Dichtung und Wahrheit voneinander zu scheiden, wäre eine ebenso reizvolle wie dankbare Aufgabe. Sie würde indes den Rahmen der vorstehenden Betrachtung sprengen, die dem Leser nur einen allgemeinen Überblick über Dumas' Schaffen und Leben geben soll. Mit Josef Balsamo, dem Hellseher und Hypnotiseur, dem Alchimisten und Revolutionär, hat Dumas die Riesenfigur eines Übermenschen geschaffen, in dem sich Genius und Dämon überschneiden. Als Oberhaupt und Organisator einer die ganze Welt umfassenden revolutionären Untergrundbewegung, deren Ziel die Befreiung der Menschheit aus staatlicher und geistiger Versklavung ist, verkörpert Balsamo den von Philosophen, Freimaurern, Illuminaten, Rosen kreuzern und anderen Geheimgesellschaften und Sekten verkündeten Kampf der Aufklärung und des Fortschritts gegen die bankrotte Gesellschaftsordnung des Absolutismus. So wenig diese wahrhaft faustische Idealgestalt des Großkophta dem geschichtlichen Abenteurer und Scharlatan Balsamo-Cagliostro entspricht, so faszinierend wirkt doch dieser vom Zauber des Übersinnlichen und Gespenstigen umflossene, mit überirdischen Kräften begabte Zauberer, der durch die magnetische Kraft seines Willens die Menschen beherrscht und zu seinen Werkzeugen macht. Während der künftige Arzt und Philosoph Gilbert und der skrupellose Baron von Taverncy, als Vertreter des durch Verschwendung und Ausschweifung veramten Schwertadels, frei erfundene, als typische Zeiterscheinungen lebenswahr gezeichnete Romangestalten sind, gehören die weitherzige und wenig spröde Kammerzofe Nicole und ihr galanter Freund Beausire der Geschichte an, denn sie haben in dem grotesken Kriminalfilm der Halsbandaffäre eine, wenn auch nur bescheidene Komparsenrolle gespielt. Maris Nicole Leguay, deren Ähnlichkeit mit der Königin Marie-Antoinette der gerissenen Gräfin La Motte ein geradezu ideales Double der Königin lieferte, war 1761 in Paris als Tochter eines pensionierten Offiziers geboren. Früh verwaist, wuchs Nicole ohne Aufsicht und Erziehung heran. Ihren erlernten Beruf als Putzmacherin hat sie nicht lange ausgeübt, denn unter dem Decknamen einer Madame Signy gehörte sie zu den von der Jeunesse doree umschwärmten Kokotten des Palais Royal. Dort wurde sie von der Gräfin La Motte, der sie durch ihr aschblondes Haar und ihren schönen Körperbau auffiel, entdeckt.
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Ihr Freund, der sie häufig in ihrem Zimmer besuchte, das sie in dem kleinen Hotel Lambesc, Ecke Rue du Jour und Rue du Montmartre bewohnte, war Jean-Baptiste-Toussaint de Beausire. Er gehörte dem unteren Adel an, war Sohn eines Leutnants und lebte als Nichtstuer und Schürzenjäger von dem zur Neige gehenden Vermögen, das seine Eltern hinterlassen hatten. Dumas verpflanzt Nicole aus Paris in die Provinz, wo sie als Waisenkind und Gespielin der Baronesse Andrea heranwächst, deren Zofe sie später wird. Da der ehrgeizige Gilbert, der ihr erster Freund war, sie nicht heiraten will, wird sie die Geliebte des „Gefreiten" Beausire, der den Wagen begleitet, der den Baron und seine Tochter im Auftrag der Dauphine nach Versailles bringt, wo Andrea deren Hofdame wird.*)Wie Monte Christo über unbegrenzten Reichtum zu verfügen, um sich jeden Luxus erlauben und so recht die Macht des Geldes auskosten zu können, das war der Wunschtraum, den Dumas seinen Romanhelden verwirklichen ließ. Der glänzende Erfolg der industriellen Ausbeutung seiner literarischen Massenproduktion, die ihm Jahreseinkommen von 200 000 Franken und darüber verschaffte, versetzte ihn in einen wahren Rauschzustand, der ihn zu sinnloser Verschwendung fortriss. Auch er wollte jetzt die Allmacht des Geldes genießen, die ihm die Erfüllung eines jeden Wunsches und die Befriedigung jeder Laune gestattete. Nach seiner Rückkehr aus Florenz hatte Dumas in Paris in kurzen Abständen in der knappen Zeit von zwei Jahren viermal die Wohnung gewechselt, bis er 184 5 nach Saint-Germain-en-Laye zog, wo er die Villa Medici mietete, die nun der Schauplatz üppiger Gelage und prunkvoller Feste wurde, die Unsummen verschlangen, und an denen der Gastgeber aber selbst den geringsten Anteil nahm, denn er zog sich meist schon nach dem Essen in sein dem frohen Treiben entrücktes Arbeitszimmer zurück, um mit unermüdlichem Fleiß das Geld zu verdienen, das er zur Befriedigung seines Geltungsbedürfnisses mit offenen Händen zum Fenster hinauswarf. Bald erwies sich die geräumige Villa als zu klein, um die ständig wachsende Schar der Gäste und Schmarotzer aufzunehmen, die zum Wochenende nach Saint-Germain fuhren, um auf Kosten ihres freigebigen Wirtes zwei Festtage zu feiern. Auf einer Jagdpartie nach den Höhen von Marky hatte ihn der Blick auf das zu seinen Füßen liegende Seinetal so entzückt, daß er sich entschloss, sich inmitten dieser Gartenlandschaft ein Eigen *) Frantz Funck-Bientano, Le Collier de la Reine, Paris 1S35. Der französische Historiker gibt eine zuverlässige Darstellung dieser Tragikomödie, deren Opfer die an der ganzen Intrige unschuldige und unbeteiligte Königin wurde. Ihre Doppelgängerin Nicole flüchtete mit Beausire nach Brüssel, wurde aber auf Betreiben Rohans dort verhaftet und ausgeliefert. In der B a s t i l i e gebar sie einen Sohn, dessen Vater Beausire war. Vor dem Parlament erschien sie in Tränen aufgelöst und war außerstande, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten. Die Richter ließen sich durch den Schmerz der unglücklichen jungen Muller rühren und sprachen Nicole frei, da sie nur das ahnungslose Werkzeug der La Motte gewesen war. Das war nicht zuletzt das Verdienst ihres Anwalts Blondel, der die durch die Aufregungen der letzten Monate völlig erschöpfte und abgemagerte Frau in seinem Landhaus aufnahm. Aus Dankbarkeit wurde sie Blondels Geliebte, und nachdem s i e sich erholt hatte, heiratete sie schließlich den Vater ihres Kindes, Jean-Baptiste de Beausire .
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heim zu errichten. Der Architekt Durand erhielt den Auftrag, nach Dumas' Entwürfen ein von zwei Pavillons flankiertes Schloß im Renaissancestil zu erbauen, dessen Front mit Türmchen, Giebeln, Veduten, Erkern und Baikonen überladen war. Am 24. Juli 1844 fand die feierliche Grundsteinlegung statt, bei der der Schauspieler Melingue das künftige Schloss des Meisters auf den Namen Monte Christo taufte. Drei Jahre dauerte der Bau dieses Feenschlosses. Die Wartezeit verkürzte sich Dumas, indem er einer Einladung zur Hochzeit des Herzogs von Montpensier mit der Infantin Marie Luise Ferdinande nach Madrid folgte. Begleitet von seinem zweiundzwanzig-jährigen Sohn, dem getreuen Maquet, dem Maler Louis Boulanger und seinem sprachenkundigen Kammerdiener Paul, einem Äthiopier, reiste Dumas wie ein indischer Nabob. Auf dem Rückweg charterte er in Cadix die französische Fregatte „Le Veloce", die ihn nach Nordafrika brachte. Endlich konnte er diese bereits 18 30 geplante Reise unternehmen, die damals der Ausbruch der Julirevolution verhindert hatte. Dumas kam nicht als Privatmann, sondern in halboffiziöser Eigenschaft als Beauftragter der französischen Regierung, um Algerien zu bereisen und über die Fortschritte der wirtschaftlichen und kulturellen Erschließung des in langjährigem erbitterten Ringen endlich eroberten ehemaligen Seeräuberstaates zu berichten. Auf dieser Propagandareise, die er gleichzeitig zu einem im offiziellen Programm nicht vorgesehenen Abstecher nach Tunis benutzte, wo er sich vom Bey wie ein regierender Fürst behandeln ließ, standen Dumas außer der freien Benutzung der Verkehrsmittel 15 000 Franken aus Staatsmitteln zur Verfügung, während er selbst noch weitere 30 000 Franken verbrauchte. Im Januar 1847 kehrte Dumas mit seinem Gefolge nach Frankreich zurück. Zwei große Ereignisse, in deren Mittelpunkt er stehen sollte, warteten hier auf Dumas. Bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft, am 20. Februar, öffnete das neue Theatre Historique zum erstenmal seine Pforten. Es war ein künstlerisches Ereignis, das ganz Paris mitfeierte. Der Herzog von Montpensier hatte seinem Freund Dumas eine auf zwölf Jahre befristete Konzession für einen Theaterbetrieb verschafft. So konnte Dumas einen längst gehegten Plan verwirklichen und nun auch seine Bühnenwerke in eigener Regie geschäftlich auswerten — das Theater war für ihn ebenfalls ein Industrieunternehmen geworden. Das Theatre Historique sollte ausschließlich Dumas' Stücke zur Aufführung bringen. Reichen Stoff lieferten di e großen historischen Romane, mit deren Dramatisierung Maquet und die übrigen Gehilfen beauftragt wurden. Binnen Jahresfrist hatte der Architekt de Dreux nach Abbruch des Hotels Foulon mit einem Gesamtaufwand von 800 000 Franken einen prunkvollen Theaterneubau errichtet, der jetzt im Lichterglanz erstrahlte und die schaulustigen Pariser in solchen Scharen herbeilockte, daß die trotz der scharfen Kälte sich geduldig vor dem Eingang drängende Menge die Straße blockierte und den Verkehr hemmte. Die gesamte Provinz der Literatur, Kunst und Gesellschaft hatte sich zur Eröffnungsfeier eingefunden. Auch der Herzog von Montpensier hatte sich als
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Vertreter des Königshauses eingefunden. Der mit der Leitung des Theaters beauftragte tüchtige Direktor Hippolyte Hostein, ein langjähriger Freund Dumas', hatte die besten Kräfte engagiert, die unter dem donnernden Beifall des ausverkauften Hauses das nach dem gleichnamigen Roman bearbeitete geschichtliche Ausstattungsstück „Königin Margot" spielten. Der Premierenabend klang mit einer Apotheose des großen Meisters aus, den die ganze Welt bewunderte. Kritik und Publikum priesen einstimmig das geniale Unternehmen, und ein Jahr lang gingen vor dem ständig ausverkauften Haus die Bühnenbearbeitungen des Monte Christo, der Musketiere, des Chevalier de Maison-Rouge und auch das Repertoire seiner früheren Werke über die Bretter. Dumas konnte zufrieden sein: Wenn der Anfangserfolg ihm weiterhin treu blieb, musste auch die Theaterindustrie zur Goldmine werden. Am 7. März 1847 feierte Saint-Germain mit der Aufführung eines eigens für diesen Zweck geschriebenen Einakters „Shakespeare und Dumas" den Afrikareisenden wie einen aus dem Feld heimkehrenden siegreichen Feldherrn. Und wenige Monate später, am 27. Juli, übersiedelte Dumas in sein inzwischen mit einem Gesamtaufwand von mehr als 300 000 Franken fertiggestelltes Märchenschloss Monte Christo, was natürlich abermals Anlass zu rauschenden Festen bot. Über dem Portal prangte das Wappen der Pailleterie mit der Marquiskrone, und die Aufmachung im Innern entsprach ganz dem Lebensstil seiner Lieblingshelden Monte Christo und Porthos. Eine zahlreiche Dienerschaft unterstand dem Haushofmeister Rusconi, der das Amt des Intendanten Bertucci bekleidete. Der aus Mantua gebürtige Italiener hatte es schon in allen Berufen versucht und in keinem ausgehalten. Auf Elba hatte er dem verbannten Napoleon als Polizeikommissar gedient und sich während der Restauration als bonapartistischer Agent be tätigt. Garten und Park hielt der brave Michel in Ordnung, ein schlichter, redlicher Landmann. Da waren Neger, Türken und Araber in orientalischem Aufputz, die den von Geiern, Affen, Goldfasanen und anderen Tieren bevölkerten Privatzoo bewachten. Für das leibliche Wohl ihres Herrn und seiner Gäste war Madame Lamarque als resolute Chefköchin verantwortlich. Die Rolle der Dame des Hauses spielte augenblicklich Maitresse-en-titre, Mmc. Srivanneck, eine zweitrangige Komödiantin flämischer Herkunft, habgierig, schmuddelig, zänkisch, ohne charmant oder hübsch zu sein. Unbekümmert um die Zukunft lebte man in Monte Christo fröhlich und wohlgemut in den Tag hinein. Immer drehte am Herd sich der Spieß. Solange das Theatre Historique ausverkaufte Häuser und volle Kassen brachte, ging alles gut. Dann aber brach über Nacht die Februarrevolution aus. Wieder einmal verlor ein französischer König seinen Thron und musste der Republik weichen. Das Lied Mourir pour la patrie aus dem Chevalier von Maitison-Rouge wurde die Nationalhymne der Republik. Dem alten Republikaner Dumas lachte das Herz im Leib, wenn er an seine Heldentaten dachte, die er damals vollbracht hatte: Die Erstürmung des Louvre, die Eroberung von Soissons und die Mission nach der
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Vendee. Damals hatte nur ein König den anderen abgelöst. Jetzt aber war die Republik Wirklichkeit geworden. An ihrer Spitze stand als Präsident ein Dichter, Alphonse de Lamartine, der mit seiner Geschichte der Girondisten die „Guillotine vergoldet" hatte, wie der alte Chateaubriand treffend bemerkt hatte, im übrigen ebenso eitel, verschwenderisch und als Staatsmann nicht minder unfähig und ungeeignet wie sein Kollege Dumas, der jetzt in bombastischen Proklamationen um die Stimmen aller Parteien warb, ohne Gehör zu finden. Am Abend des 23. März 1848 ließ er nach Schluss der Vorstellung von seinem Theater einen mächtigen Freiheitsbaum aufpflanzen, die ganze Front des Hauses war hell erleuchtet, auf dem Balkon spielte das Orchester abwechselnd das Lied der Girondisten und die Marseillaise, auf der Straße tanzte und jubelte das Volk bis vier Uhr morgens und Dumas zeigte sich in phantastischer Uniform, die breite Brust geschmückt mit den glitzernden Orden, die ihm die Monarchen Europas verliehen hatten, Arm in Arm mit besoffenen Blusenmännern, die ihn duzten und Citoyen Alexandre nannten. Ach, es war kein Grund zum Feiern, und die Musiker hätten lieber den Kehraus spielen sollen. Die Revolution hatte nicht nur die Republik, sondern auch eine allgemeine Wirtschaftskrise gebracht. Die Politik war wieder einmal das Schicksal und die Straße zum Theater geworden. Die Besucherzahl des Historique wurde von Tag zu Tag weniger, und an manchen Abenden wurde vor fast leerem Haus gespielt. Das Defizit wuchs ständig an, um es zu decken, reichten Dumas' Einnahmen nicht mehr aus. Er musste Geld zu Wucherzinsen aufnehmen und Monte Christo mit Hypotheken belasten. Am 15. Oktober 18 50 musste das Theatre Historique seine Pforten schließen, um sie nicht mehr zu öffnen. Der Zusammenbruch war nicht mehr aufzuhalten, die Literaturfabrik Dumas & Co. stand vor der Pleite. Vergebens bemühte sich Dumas um einen Staatskredit zur Bezahlung der dringendsten Schulden. Monte Christo wurde bereits 1849 gepfändet. Die Gerichtskosten beliefen sich bereits auf über 30 000 Franken. Das Schloss mit der gesamten Einrichtung kam unter den Hammer. Meistbietender blieb mit 30 100 Franken — dem zehnten Teil des tatsächlichen Wertes — der amerikanische Zahnarzt Mr. Fowler, der es seiner Mätresse schenkte. Der lächerliche Erlös reichte kaum für die Bezahlung der Kosten. Die Gläubiger hatten noch offene Forderungen, die sich auf mehrere 100 000 Franken beliefen. Maquet, der vergebens auf seine Honorare wartete, verlor die Geduld und streikte. Dumas saß auf dem trockenen. Die Gläubiger drohten mit dem Schuldgefängnis. Keine Bank und kein Kapitalist wollten das Theatre Historique finanzieren, obwohl die Einnahmen des ersten Jahres über 700 000 Franken betragen hatten.
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Am 2. Dezember 1851 stürzte der Prinz-Präsident Louis Napoleon die Republik. Linksradikale Politiker wurden verhaftet. Die übrigen flohen ins Ausland. Wenn sie in Frankreich geblieben wären, wäre ihnen kein Haar gekrümmt worden. Aber sie wollten die tragische Rolle der politisch verfolgten Emigranten spielen — voran Victor Hugo, der große Dichter und zugleich größte Schaumschläger seiner Zeit. Er hatte mit einem Ministersessel gerechnet. Da er ihn nicht erhielt, wurde er zum radikalen Republikaner und goss die Schale seines gerechten Zorns über „Napoleon le Petit" aus. Dumas ahmte Hugos Beispiel nach. Er war zwar politisch nicht verdächtig und hatte von der kaiserlichen Polizei nichts zu befürchten. Unbehelligt und von keiner Polizei verfolgt, fuhr der „politische Flüchtling" im Schnellzug nach Brüssel, wo er zuerst im Hotel de l'Europe abstieg. Dann sah er sich nach einer geräumigen Privatwohnung um, da er offenbar mit einem längeren Aufenthalt in der belgischen Hauptstadt rechnete, die er von seiner Reise im Sommer 183 8 her kannte. Am Boulevard de Waterloo mietete er zwei aneinandergrenzende Häuser, die einem Herrn de Meeus gehörten. Dumas ließ die Räume von Grund aus herrichten, Verbindungstüren durch brechen und andere seinem Geschmack und seinen Zwecken entsprechende bauliche Veränderungen vornehmen, ohne den Hauswirt zu fragen. Nicht genug damit, kaufte er bei den Brüsseler Antiquitätenhändlern Stilmöbel und Gemälde und richtete sich allmählich ein kleines Palais ein, das ihm das für ein Butterbrot verschleuderte Schloss Monte Christo ersetzte. Demnach muss Dumas im freiwilligen Exil über beträchtliche Geldmittel verfügt haben, di e er aus der Pariser Pleite gerettet hatte. Seine Tochter Marie, di e dem Vater gefolgt war, leitete das Hauswesen, während der ehemalige Volksbeauftragte und republikanische Publizist Noel Parfait mit Frau und Tochter ebenfalls im Hause untergebracht wurden. Parfait versah den Posten des Intendanten und diente Dumas auch als Sekretär, der die Manuskripte des Meisters korrigierte und kopierte, wobei ihm noch die Frau eines anderen Emigranten half, da er allein nicht alles schaffen konnte. Parfait war ein äußerst gewissenhafter und sparsamer Wirtschafter, der mit der pedantischen Genauigkeit eines Bürokraten Einnahmen und Ausgaben kontrollierte und Dumas' Finanzen in Ordnung hielt. Auf seine Anregung wurde eine Art Privatmittagstisch eingerichtet, an dem die meisten der in Brüssel anwesenden Emigranten teilnahmen. Der großmütige Wirt hätte seine Gäste kostenlos bewirtet, wie er das von Paris her gewohnt war, aber Parfait sorgte dafür, daß jeder für die Mahlzeit wenigstens 1 Franken 50 bezahlen und Dumas' Kammerdiener, der die Speisen auftrug, ein Trinkgeld zahlen musste. Bald wurde Dumas' Salon der regelmäßige Treffpunkt der Brüsseler Intelligenz. Politiker, Schriftsteller, Journalisten, Maler und Schauspieler fanden sich ein. Dumas beschäftigte sich mit den Phänomenen der Hypnose und des Magnetismus, und es wurde eifrig experimentiert und diskutiert. Als Medium bei den Seancen diente eine junge, sehr hübsche Frau, die nach ihrem Beruf als Pastetenverkäuferin la belle
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petissiere genannt wurde, und die im übrigen die Coeurdame des Meisters war, der durch seinen Sohn Hüte und andere modische Artikel für sie aus Paris kommen ließ. Gespann und Wagen fehlten natürlich auch nicht, und oft unternahm Dumas mit seinen Freunden Spazierfahrten in di e Umgebung, wie er stets für den nötigen „Betrieb" um sich sorgte. Trotzdem fand er noch Zeit zur Arbeit. Die Romanproduktion wurde unentwegt fortgesetzt, wenn er dabei auch seinen Mitarbeiter Maquet sehr vermisste. Dieser war in Paris geblieben, da Dumas mit den vereinbarten Honorarzahlungen im Rückstand war, und vielleicht zürnte er auch dem Meister, weil dieser ihn so plötzlich im Stich gelassen hatte, Dumas musste die bereits angefangenen Romane, deren Journalabdrucke an die großen Tageszeitungen verkauft waren, allein fortsetzen. Da ihm vor allem die quellengeschichtlichen Unterlagen fehlten, suchte Dumas sich dadurch zu helfen, daß er die Handlung des dritten Teils der Memoiren eines Arztes in der ihm vertrauten Umgebung von Villers-Cotterets spielen und den Bauernburschen Ange Pitou seine eigenen Jugendabenteuer erleben ließ. Diese erzählte er dann noch ausführlicher in seinen gleichzeitig entstandenen Memoiren. Auf diese Weise konnte er den dritten Teil des Revolutionszyklus zu Ende führen und gleichzeitig den Schlussteil Die Gräfin von Charny beginnen, so daß die Zeitungen ihre Bezieher ohne Unterbrechung laufend mit Lesestoff versorgen konnten. Parfait setzte sich mit Dumas' Pariser Sekretär und Vertrauensmann Hirschler in Verbindung, um unter Mitwirkung des Verlags Michel Levy ein Agreement mit den Gläubigern zu treffen. Die Gefahr einer Schuldhaft war damit gebannt, und Dumas konnte nach einjähriger Abwesenheit im November 18 53 nach Paris zurückkehren. Auf einem Bankett verabschiedete er sich von seinen Brüsseler Freunden, die den geist- und temperamentvollen Autor nur ungern scheiden sahen. Als Parfait ihm sein Rechnungsbuch mit allen Rechnungen und Quittungen zur Prüfung vorlegte, warf er die Papiere unbesehen ins Feuer. Sein Pariser come back wurde ebenfalls gebührend gefeiert. Der wackere Hirschler, ehemaliger Geschäftsführer des Theatre Historique, der Dumas wie einen Halbgott verehrte, hatte inzwischen die letzten Hindernisse aus dem Weg geräumt, so daß der Meister Ruhe vor seinen alten Gläubigern hatte. Der dritte Abschnitt in Dumas' Schaffen hatte mit dem Zusammenbruch seines Theaters seinen Abschluss gefunden. Es war di e Epoche der Industrialisierung seiner literarischen Produktion, der seine besten und reifsten Werke angehören. Der Höhepunkt war damit erreicht und auch schon überschritten. Noch ist seine Schaffenskraft trotz des Raubbaues, den er in den Jahren der Massenproduktion mit ihr getrieben hat, weder aufgezehrt noch gelähmt. Voll Zuversicht geht er von neuem an seine Arbeit. Mit dem schmollenden Maquet kommt allmählich eine Verständigung zustande, und die bewährte frühere Zusammenarbeit wird wiederaufgenommen, wenn auch nicht mehr in dem alten Umfang.
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Die dramatischsten Epochen der französischen Geschichte sind bereits ausgebeutet und in den drei großen Romanserien verarbeitet worden. Was noch übrig ist, kann den Leser längst nicht mehr so fesseln, wie etwa die Bartholomäusnacht mit den Religionskriegen, das Jahrhundert Ludwigs XIV. und das Zeitalter der Revolution. Dumas muss sich nach einem neuen Stoffgebiet umsehen. Schon einmal hatte er sich — und zwar nicht ohne Erfolg — als Journalist betätigt, indem er bei Ausbruch der Februarrevolution die Zeitschrift Le Mois gründete. Sie war eine Art Tageschronik des politischen Zeitgeschehens, eine knappe und übersichtliche Zusammenfassung der Tagesereignisse unter Verzicht auf jede subjektive oder parteipolitische Stellungnahme. Mit dem Abflauen der Revolution und der Wiederkehr normaler Verhältnisse in ganz Europa, verlor das Blatt an Interesse und ging nach 1849 im Chaos des wirtschaftlichen Zusammenbruchs seines Herausgebers wieder ein. Jetzt wollte Dumas als Zeitschriftenherausgeber erneut sein Glück versuchen. Wahrscheinlich hat ihn das Beispiel La Martines, der mit seinen Cours de Familie immerhin einen beachtlichen Erfolg erzielte, dazu angeregt, ebenfalls durch ein eigenes Organ in unmittelbarer Fühlungnahme mit der großen, alle Schichten und Stände umfassenden Leserschaft seiner Romane zu bleiben. Wahrscheinlich hätte ein solches Unternehmen zumal bei Dumas' ungeheurer Popularität sich behaupten können, wenn es auf solider kaufmännischer Praxis aufgebaut worden wäre. Der Zeitpunkt war vielleicht nicht gerade günstig gewählt, da die Zensur des neuen Kaiserreichs die Pressefreiheit ziemlich eingeschränkt hatte. Kurz nach
seiner
Rückkehr
kündigte
Dumas
die
bevorstehende
Herausgabe
einer
belletristischen Tageszeitung Le Mousquetaire an, die ab Mitte November 1853 zu erscheinen begann und sich immerhin fast vier Jahre lang bei einer Durchschnittsauflage von 10 000 verkauften Exemplaren halten konnte. Sie wäre auch weiterhin lebensfähig gewesen, wenn Verlag und Vertrieb nicht in Dumas' Händen gelegen hätten. Redaktion und Verlag befanden sich in der Maison d'Or in der Rue Laffitte, Kassier, Buchhalter, Geschäftsführer und Chef vom Dienst war der redliche Michel, der ehemalige Gärtner von Monte Christo. Er war seinem Herrn treu ergeben, aber diese Tugend allein reichte nicht aus, um gleichzeitig Funktionen zu versehen, die Sach- und Fachkenntnis voraussetzten. Und diese fehlten dem braven Michel vollkommen, denn er war — Analphabet. Da kann man sich ungefähr vorstellen, welches Chaos in diesem Betrieb herrschte. Nicht viel besser sah es in der Redaktion aus. Die besten und namhaftesten Schriftsteller und Publizisten hatten Dumas sofort ihre Mitarbeit angeboten. In der Redaktion wimmelte es aber von unbekannten jungen Anfängern und Nichtskönnern, deren ganze Tätigkeit darin bestand, Honorare für nichtgeleistete Mitarbeit herauszuschinden. Die Auslieferung erfolgte unpünktlich, die Boten waren nachlässig, rechneten nicht oder nur sehr oberflächlich und ungenau ab, jeder tat, was er wollte, und niemand wurde regelmäßig bezahlt. Mit der Technik der Redaktion und der Herstellung war niemand vertraut. In
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allen Abteilungen herrschte ein geradezu grotesker Bohemebetrieb, der unerbittlich den Ruin des Unternehmens herbeiführen musste. Der einzige, der wirklich arbeitete, war Dumas selbst. Er saß in seinem im dritten Stock gelegenen Gemach, wo er von der ganzen Misswirtschaft nichts sah und hörte, und sich auch um nichts kümmern konnte, da er, seiner Gewohnheit gemäß, unermüdlich drauflos schrieb. Dumas geriet sehr bald unter den Einfluss eines überspannten Blaustrumpfs, der ihn beherrschte. Sie hieß Clemence Bader und war die Tochter eines Mützenmachers aus Vendome. Sie schrieb verrückte Novellen, die sie für Meisterwerke hielt und die Dumas in den Spalten des Mousquetaire veröffentlichen musste. Clemence war alles andere als eine hübsche und charmante junge Frau, die Dumas als solche fesseln konnte. Sie war hager, hatte ein knochiges, hässliches Gesicht. Als Weib konnte diese spröde Virago den lebensfrohen Dumas nicht fesseln, der sich vielmehr für eine niedliche junge Blondine interessierte, die der jetzt Fünfzigjährige mit der gleichen Leidenschaft liebte wie einst Melanie Waldor, die Adele des „Antony". Dumas veröffentlichte im Mousquetaire einen großen Teil seiner Memoiren, verschiedene kleinere Romane, Novellen und Plaudereien. Er war sogar ein gewandter Journalist, der ausgezeichnete Interviews mit berühmten Zeitgenossen und die ersten Reportagen schrieb. Dazu kamen Beiträge der besten und bekanntesten Schriftsteller der Zeit, wie Nerval, George Sand, Theophile Gautier, Octave Feuillet, Henri Conscience und viele andere. Aber das Unternehmen krankte von Anfang an, an der lässigen Geschäftsführung. Als Redaktionssekretär hatte Dumas einen angeblich ungarischen Grafen Goritz eingestellt, dessen Frau sich als Tochter Ludwigs XVII. (!) ausgab. In Wirklichkeit hieß der Mann Mayer und war ein Abenteurer und Betrüger, den eines Tages die Polizei abholte. Die Büroangestellten machten sich kaum die Mühe, die eingelaufene Post zu öffnen und zu beantworten. Haufenweise wanderten die Briefe in den Papierkorb, obwohl sich darunter viele Bestellungen auf die Zeitung befanden, die einfach unerledigt blieben. Kein Wunder, wenn die Zeitung trotz ihres interessanten und vielseitigen Inhalts sich nicht durchsetzen konnte. 18 57 stellte der Mousquetaire sein Erscheinen ein. Trotz dieses Misserfolges hat Dumas später immer wieder versucht, ein eigenes lebensfähiges Organ ins Leben zu rufen, selbst noch zu einer Zeit, als sein Stern bereits im Verblassen war. So ging seine Frauke nouvelle bereits nach dem ersten Monat ein, die Wochenzeitung Monte Christo brachte es nur auf drei Nummern, ein zweites Blatt unter demselben Titel konnte sich von Januar bis Oktober 1862 behaupten, ein neuer Mousquetaire erlosch 1866 nach fünf Monaten und auch Dumas' letzter Gründung, der 1868 gestartete D'Artagnan war keine längere Lebensdauer beschieden. Auch in der vierten Periode seines Schaffens hat Dumas noch eine rege Produktion entwickelt. So schrieb er gemeinsam mit Paul Bocage
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den bändereichen Kriminalroman Les Mohicans de Paris, eine lebendige Schilderung der Pariser Unterwelt während der Restauration und des Bürgerkönigtums, also gewissermaßen ein Gegenstück zu Eugene Sues Mysteres de Paris. Neben mehreren Kurzromanen und Dorfgeschichten, deren Schauplatz zumeist die Dumas vertraute Umgebung seiner Vaterstadt ist, wäre hier besonders der Anlauf zu einem breitangelegten Roman zu erwähnen, dessen tragende Figur der Ewige Jude sein sollte. Nach seinem eigenen Bekenntnis sollte das sein Lebenswerk werden. Leider ist dieser Roman, der unter dem Titel Isaak Laquedem bereits 18 53 im Constitutionnel zu erscheinen begann, nicht über den Anfang hinausgekommen, da die Zensur die romanhafte Verarbeitung der Passionsgeschichte als Profanierung ansah und daher die weitere Veröffentlichung des Romans verbot. Der schottische Hellseher, Spiritist und Magnetopath Daniel Home, der in den Jahren 1857/58 die Sensation der Pariser Salons war und der auch von Napoleon III. und der Kaiserin Eugenie empfangen wurde, fesselte natürlich auch Dumas, der sich sein Leben lang ein gehend mit diesen Phänomenen beschäftigte. In Homes Quartier im „Hotel des Trois Empereurs" lernte Dumas jenen russischen Grafen Kucheleff kennen, dessen Schwester sich mit Home verlobt hatte. In Russland, wohin Home sich begeben wollte, sollte die Hochzeit stattfinden. Kucheleff lud Dumas ein, als sein Gast an der Reise teilzunehmen. Dumas, der in seinem Roman über den Fechtmeister Grisier (Metnoires d'un Mäitre d'armes) russische Menschen und Verhältnisse geschildert hatte, ohne sie zu kennen, nahm die Einladung mit Freuden an. Über Petersburg und Moskau fuhr Dumas mit seinen russischen Freunden wolgaabwärts bis Astrachan und unternahm Fahrten in den Kaukasus bis Baku und Tiflis. Am 17. Januar 18 59 trat er von Poli am Schwarzen Meer aus die Rückfahrt über Konstantinopel nach Marseille an. Fünf Monate lang war er unterwegs gewesen. Seine Rückkehr wurde für die Pariser eine Sensation, und auf den Boulevards bewunderten alle den Helden des Tages, der in der malerischen Tracht eines georgischen Kosakenhetmans, die weiße Lammfellmütze keck auf dem Wuschelkopf, einen mit Edelsteinen besetzten Krummsäbel an der Seite und ein halbes Dutzend Dolche und kunstvoll eingelegte Pistolen im Gürtel, jeder Zoll ein Operettenfürst, mit einem beglückten Lächeln des Stolzes und der Genugtuung die Huldigungen der Pariser Gaffer entgegennahm. Chateaubriand und Lamartine, die beiden großen Schriftsteller der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatten Griechenland und den Vorderen Orient bereist. Warum sollte da ihr jüngerer, nicht minder berühmter Zeitgenosse Dumas nicht auch einen Itineraire oder eine Voyage en Orient erleben und beschreiben dürfen wie jene? Und schon entwarf er den Plan einer großartigen Expedition an die Küsten des östlichen Mittelmeers, von wo aus er das Heilige Land, die Türkei und Ägypten besuchen wollte. Auf der Werft in Marseille ließ er für diese Fahrt eine
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eigene Jacht bauen, die zu Ehren seiner derzeitigen Coeurdame, Emilie Cordier, auf den Namen „Emma" getauft wurde. Von Marseille aus machte Dumas einen Abstecher nach Genua und Turin, wo er den italienischen Freiheitskämpfer Garibaldi besuchte. Die abenteuerliche Gestalt des von Legende und Romantik umwitterten Republikaners war so recht ein Mann nach dem Herzen Dumas'. Beide waren wesensverwandte Naturen, die sich aufs beste verstanden. Dumas blieb ein paar Tage in Turin, um sich Garibaldis abenteuerliche Vergangenheit erzählen zu lassen. Sofort schrieb er danach die Memoiren seines Helden. Garibaldi weiht Dumas in seinen Plan ein, im Frühjahr 1861 mit seinen Rothemden auf eigene Faust Sizilien zu erobern, die Bourbonen aus Neapel zu vertreiben und so die Einheit Italiens herzustellen, ohne König Victor Emanuel, dessen Handlungsfreiheit durch Verträge und Verpflichtungen eingeschränkt sei. Dumas ist begeistert von dem Plan des Revolutionärs. Garibaldis Ziel ist nur die Befreiung ganz Italiens von der Fremdherrschaft bourbonischer und habsburgischer Sekundogenituren, aber Dumas' glühende Einbildungskraft entzündet sich an dem ihm wesensverwandten Temperament des Freischärlers. Er ergeht sich in phantastischen Zukunftsträumen: Von Italien aus wird die Einigung Italiens das Fanal für die Erhebung und Umgestaltung ganz Europas sein. Im Zeichen einer alle Nationen mitreißenden Revolution wird sich die Alte Welt verjüngen. Frankreich und Italien, die beiden lateinischen Schwestern, werden sich zu einer Republik zusammenschließen, deren Präsident Garibaldi sein wird. Spanien, Deutschland werden diesem Beispiel folgen und ihre Fürsten verjagen, die Zukunft gehört den Vereinigten Nationen Europas im Zeichen der Republik und Demokratie. An diesen Phantasmagorien berauscht sich Dumas. Garibaldi ist der Held des Jahrhunderts, er wird ihn auf seinem Siegeszug durch Sizilien begleiten, er wird Rache nehmen an dem Enkel jenes Ferdinand, der seinen Vater in jahrelanger Gefangenschaft schmachten ließ. An der Schwelle des Alters, als er sich enttäuscht und entmutigt durch die Wechselfälle des Lebens seinen Wunschträumen entsagen wollte, schlägt endlich seine große Stunde, erschließt das Schicksal ihm den Weg zu einer späten, glanzvollen Zukunft, die ihm Ruhm und Unsterblichkeit verleihen wird, denn Garibaldis Schwert und Dumas' Feder sind berufen, der Welt ein neues Gesicht zu geben. Nicht Griechenland und den Orient wird er durchwandern, sondern mit Garibaldi Italien befreien. Begeistert von seinen kühnen Zukunftsträumen kehrt er nach Paris zurück, um die letzten Vorbereitungen für die Expedition nach Neapel zu treffen. Am 16. Mai 1861 ist er wieder in Genua, wo die inzwischen fertiggestellte Jacht „Emma" — sie hat beiläufig 50 000 Franken ge kostet — fahrbereit vor Anker liegt. Zehn Tage vorher ist Garibaldi bereits an der Küste Siziliens gelandet. Am 11. Juni landet Dumas in Palermo, wo die Rothemden ihm einen großartigen Empfang bereiten. Er wohnt im Palast des Bourbonenkönigs — welch stolze Genugtuung für den Sohn des Mulattengenerals! Dann begleitet er Garibaldi auf dessen Siegeszug durch Sizilien. Es
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fehlt an Waffen und Munition — Dumas wird beides beschaffen. Mit 100 000 Franken in der Tasche fährt er nach Marseille, kauft in aller Eile zusammen, was Schleichhändler ihm an mehr oder minder veraltetem Kriegsmaterial anbieten. Als alles an Bord verladen ist, sticht die „Emma" in See. Inzwischen hat Garibaldi bereits Neapel erobert .. . auch ohne Dumas' Waffen hilfe. Dumas hat sich jetzt im Palazzo Chaatamonte niedergelassen, von Garibaldi zum Generalkonservator der Museen und zum Leiter der Ausgrabungen von Pompeji ernannt. Seine überspannten Ideen und sein anmaßendes, selbstherrliches Auftreten fällt Garibaldi bald auf die Nerven, und so weist er ihm ein Amt an, das im Augenblick völlig nebensächlich und ohne jede Bedeutung ist. Aber so hat Dumas wenigstens eine Beschäftigung. Doch gleichzeitig betätigt er sich auch als publizistischer Propagandist und gründet zu diesem Zweck eine Tageszeitung, L'lndipendente, die er als offizielles Organ der neuen Regierung sehr geschickt redigiert und mit seinen stets fesselnden und immer geistvoll-lebendigen Glossen, politischen Leitartikeln, kul turellen Betrachtungen und seinen neuesten Romanen füllt. Denn auch in Neapel legt Dumas keineswegs die Hände müßig in den Schoß. Obwohl fast 60, stürzt er sich doch mit Feuereifer und jugendlicher Begeisterung in die Arbeit. Gerade die Vielseitigkeit der ihm gestellten Aufgaben entspricht der bildungshungrigen Universalität eines schöpferischen Geistes, der sich mit allen Problemen befasst und sie auf seine Art zu lösen und zu meistern sucht. Seiner Gewohnheit ent sprechend, arbeitet er stets gleichzeitig an mehreren Werken. In Neapel beendet er die aus Gesprächen mit dem Freund hervorgegangenen Memoiren Garibaldis, eine romanhaft-romantische Biographie des Revolutionärs, die durch den Erlebnisbericht Garibaldis „les garibadiens" ergänzt und bis zur Gegenwart fortgeführt wird. Die seiner Obhut als Generalkonservator anvertrauten Archive liefern ihm reiches Quellenmaterial für eine sehr lebendige Großreportage über die Geschichte der Bourbonen von Neapel sowie für seinen großangelegten, ebenfalls im bourbonischen Neapel der Restauration spielenden Roman La San Felice. Sein rastloser Feuergeist will alles umgestalten, verbessern und beschleunigen. Wiederholte Besuche in dem freigelegten Teil von Pompeji haben ihm gezeigt, daß die Ausgrabungen willkürlich, nachlässig und ohne Methode durchgeführt wurden. Dumas plante eine völlige Neu organisation der archäologischen Arbeiten unter der Leitung französischer Gelehrter und Ingenieure. Er beabsichtigte sogar, französische Sappeure anzufordern, die die verschütteten Städte freilegen sollten. Das Ganze war weiter nichts als einer der vielen phantastischen Wunschträume, in denen seine Phantasie sich hingab und an deren Verwirklichung er vielleicht gar nicht dachte. Dumas beging den Fehler, seinen Plan im Indipendente zu veröffentlichen. Der überempfindliche Lokalpatriotismus der Neapolitaner lehnte sich gegen diese Bevorzugung der Ausländer vor den Einheimischen auf: Dieser Dumas tut gerade so, als hätten die Franzosen Neapel erobert und ihn als Gouverneur eingesetzt. Gegen eine solche Herausforderung musste die Straße mobilisiert werden. Die Regierung erhielt Kenntnis von der geplanten Demonstration
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und verstärkte die Wache des Palazzo Chiatamonte durch eine Kompanie ungarischer Freiwilliger. Patrioten und Lazzaroni rotteten sich zusammen und zogen mit lautem Geschrei am Palazzo vorüber. „Dumas raus; Ins Meer mit Dumas!" brüllten sie. Es war mehr eine Volksbelustigung als eine ernstgemeinte Aktion. Dumas aber dachte sogleich an das Schicksal des Masaniello. „An den Undank Frankreichs war ich gewöhnt, aber ich hätte ihn nicht auch von Italien erwartet, dem ich Zeit, Geld und Arbeit geopfert habe", klagte er, zutiefst empört und entmutigt. Um den Freund zu beruhigen und ihm eine ,Genugtuung zu geben, veranstaltete Garibaldi mit seinem Stab ein Festessen zu Ehren Dumas', dem sich eine Besichtigung der Aus grabungen anschloss, und erteilte Dumas Jagderlaubnis im Wildpark von Capo di Monte. Er gab sich damit zufrieden, aber sein Lieblingsplan, auf den er soviel Liebe und Mühe verwandt hatte, war ihm verleidet worden, und er ließ ihn daher fallen. Um so eifriger beschäftigte er sich jetzt mit außenpolitischen Problemen. Eine griechisch albanische Exilregierung, die sich in London gebildet hatte, wandte sich an Dumas, um mit ihm wie mit einem Staatsoberhaupt einen Bündnisvertrag abzuschließen. Fürst Georgios Castriota, ein Nachkomme des albanischen Nationalhelden Skanderbeg, plante eine Erhebung der christlichen Balkanvölker gegen die Türken mit dem Endziel der Vertreibung der Ungläubigen aus Europa. „Eine nationale Erhebung, an deren Spitze nicht ein Genie wie das Ihre steht, um die Massen zu lenken, gleicht einer ohne Führung losgelassenen Lokomotive", schrieb die griechisch-albanische Junta an Dumas, mit der Bitte, für Athen und Konstantinopel das gleiche zu tun wie für Palermo und Neapel. Dumas stellte sogleich seine Jacht zur Verfügung und erklärte sich zur Beschaffung des benötigten Kriegsmaterials bereit, wenn sie für die Kosten aufkommen. Für seine Ein satzbereitschaft wurde er zum Generalintendanten der christlichen Orientarmee ernannt. Dumas sieht sich bereits als Oberhaupt und Führer des 9. Kreuzzuges. Durchdrungen von dem stolzen Machtbewusstsein, das ihm sein Rang als künftiger Feldherr, Staatsmann und Organisator verleiht, schrieb er seinem Sohn nach Paris: „Hast Du nicht Lust, den Feldzug in Albanien mitzumachen? Ich kann Dir den Posten meines Feldadjutanten anbieten . . . Ende März (1862) wird in Albanien, Thessalien, Epirus und Mazedonien der Aufstand ausbrechen. Zuerst werden die Türken aus diesen vier Provinzen vertrieben, dann bis nach Konstantinopel zurückgedrängt und dort vielleicht in den Bosporus gestoßen . . . Wenn alles so verläuft, wie ich glaube, dann wirst Du mich bald in Konstantinopel statt in Neapel suchen müssen." Abermals erlebte Dumas eine bittere Enttäuschung: Der „Fürst" Castriota war ein Hochstapler, der Dumme suchte und auch fand. Mit diesen und anderen Torheiten und Tollheiten hatte Dumas sich in Neapel allmählich lächerlich und durch seine im Indipendente nur allzu eifrig propagierte republikanische Propaganda bei der italienischen
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Regierung verdächtig und unmöglich gemacht. Ob sie von Garibaldi die Entfernung Dumas' aus Neapel verlangt und dieser dem Ersuchen Victor Emanuels um so bereitwilliger Folge geleistet hat, weil es ihm einen willkommenen Vorwand verschaffte, den unbesonnenen Phantasten loszuwerden, Dumas sah jedenfalls selbst ein, daß seine Stellung in Neapel unhaltbar geworden war. Vier Jahre lang hatte er auf der Bühne des Welttheaters Komödie spielen und sich an seinem Abenteuer berauschen können. Jetzt war das Spiel zu Ende, und er kehrte halb befriedigt, halb enttäuscht nach Paris zurück. Als derzeitige Herzdame brachte er eine Vollreife Südländerin mit, Fanny Gordosa, die eine ziemlich stürmische Vergangenheit hatte. Sie war ihrem Mann, einem österreichischen Aristokraten, sagte sie, weggelaufen und bildete sich ein, die Stimme einer großen Sängerin zu besitzen. Nicht ihre künstlerische Begabung, sondern ihre weiblichen Reize hatten Dumas' Interesse geweckt und ihr die Pforten des Palazzo Chiatamonte geöffnet, in dem sie nun als ungekrönte Königin von Neapel residierte. Diesen Rang hatte zuerst die Patin der Jacht „Emma" bekleidet, Emilie Cordier, die ihre Laufbahn beim Theätre Historique begonnen hatte und dann an der Prote Saint-Martin aufgetreten war, bis sie um 18 59 Dumas' Freundin geworden und ihm nach Italien gefolgt war. Emilie war schlank und zierlich, und die schmucke Uniform eines Schiffsfähnrichs, die sie mit Vorliebe trug, hatte ihr den Beinamen „l'amiral" eingetragen. Dumas gab si e gern als seinen Sohn oder Neffen aus. Der Admiral kehrte im Herbst 1 8 60 nach Paris zurück, um dort im Dezember Mutter einer Tochter zu werden, deren Vater Dumas war. Die kleine Michaelle Clelie-Cecilia war ein hässliches, schwächliches und anfälliges Kind, dessen lebhafte dunkle Augen allein an den großen Vater erinnerten, der mit großer Liebe an seinem Spätling hing, wie der nachstehende Brief zeigt, den Dumas wenige Tage nach ihrer Geburt an die Mutter richtete:
Neapel, 1. Januar 1861. Freude und Glück für Dich, meine teure Liebe, die Du mir zu Neujahr die frohe Botschaft sandtest, daß meine kleine Michaelle glücklich zur Welt gekommen ist und ihre Mutter sich wohlauf befindet. Du weißt ja, mein liebes Kind, daß ich mir eine Tochter wünschte. Ich will Dir auch sagen, warum. Ich liebe Alexander mehr als Marie. Ich sehe Marie kaum einmal im Jahr, während ich Alexander um mich haben kann, sooft ich will. Meine ganze Liebe, die ich für Marie übrig hatte, wird also meiner kleinen Michaelle gehören, die ich an der Seite ihres Mütterchens liegen sehe, das erst aufstehen darf, wenn ich selbst komme . . . Ich werde es so einrichten, daß ich bis zum 12. in Paris sein kann. Früher dorthin zu kommen, wäre mir trotz meines sehnlichsten Wunsches leider nicht möglich. Wenn ich Dir das sage, meine teure Liebe, so
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glaube an die Wahrheit meiner Worte. Seit einer Stunde ist mein Merz größer geworden, um meiner neuen Liebe Platz zu innehat. Ich muss, wie Du weißt, vor meiner Abreise noch eine bestimmte Anzahl Artikel fertig stellen. Wir haben hier für die Wahlen einen Ausschuss gegründet, an dem ich wöchentlich zweimal teilnehmen muss. Für die Dauer meiner Abwesenheit werde ich einige meiner fähigsten Kollegen mit der Leitung meines Blattes (L'Indipendente) betrauen. Wenn Du Dich während der ersten Monate nicht von unserem Kind trennen willst, werden wir in Ischia, in der reinsten Luft und auf der schönsten Insel vor Neapel, ein kleines Haus mieten, und ich werde dann im Frühjahr zwei oder drei Tage in der Woche bei Euch verbringen. Auf Wiedersehen, mein liebes Kind, umarme auch Donna Michaella, die nicht größer ist als ein Zoll, wie Mme. de C. mir sagte. Ich werde ihr mit der nächsten Post antworten, ebenso auch Deiner Mutter, die ich umarme. Für Dich und das Kind. Ich liebe Dich." Mutter und Kind kamen aber nicht nach Neapel. Die Trennung führte schließlich zum Bruch, den Emilie, ihrem eigenen Geständnis zufolge, selbst verschuldet hatte. Sie scheint ihm untreu geworden zu sein, wie aus einer Stelle aus einem späteren Brief Dumas' hervorgeht: „Ich verzeihe Dir, da Du nicht die Absicht hattest, mir wehzutun. Ich werde Dich immer lieben, aber wie jemand, den man verloren hat oder der gestorben ist, wie einen Schatten . . . " Dumas hatte sich über Emilies Verlust mit Fanny Gordosa getröstet. Sie verschönte ihm die letzten Spätsommertage, deren sich Dumas noch einmal erfreuen durfte, bevor es Abend um ihn wurde. Die vier Jahre, die er als Garibaldis Gast in Neapel verlebt hatte, hatten ihm so viel eingebracht, daß er wieder einen gewissen Luxus entfalten konnte. Er beeilte sich, seine Ersparnisse in möglichst kurzer Zeit zu vergeuden. In dem an der Peripherie von Paris gelegenen Badeort Enghien-les Bains mietete er für den Sommer 18 64 die vornehme und geräumige Villa Catinat, in der es nun ebenso geräuschvoll und üppig zuging wie vordem in Monte Christo. Als Dame des Hauses waltete die Gordosa nicht gerade mit Takt und Würde ihres Amtes. Geistig unbedeutend und unwissend, widmete sie sich ausschließlich ihrem Gesangsstudium. Zu den alten Freunden wie Noel.Parfait, Yriartc, Nestor Roqueplan, Roger de Beauvoir, dem geistvollen Karikaturisten Cham (Comte de Noe), der Romanschriftstellerin Gräfin Dash und Mathilde Shaw, der Tochter des Orientalisten Charles Schoebel gesellte sich ein Schwärm junger Dichter, Künstler und Musiker, die sich jeden Donnerstag zum Essen einfanden und mit der Herrin des Hauses musizierten und scharmunierten. Fanny hatte ein allzu großes Herz, das so manchen ihrer jugendlichen Liebhaber erhörte. Darüber gab es manche heftige Auseinandersetzung mit Dumas, und im Verlauf einer solchen häuslichen Szene zerschmetterte Dumas einmal in seiner Verzweiflung und Wut eine Kristallkaraffe auf der Schulter seiner Freundin.
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Im Winter bezog Dumas eine möblierte Wohnung in der Rue Saint-Lazaire, wo Fanny ihren Gesang- und Musikunterricht fortsetzte, nicht gerade zur Freude des Meisters, den der Lärm bei seiner Arbeit störte. Er vollendete hier den bereits in Neapel begonnenen Roman La San Felice, der das Intrigenspiel am neapolitanischen Königshof unter Maria Carolina und deren Freundin Lady Hamilton, die französische Invasion und die Verschwörungen der Carbonari während der Restauration mit der gleichen hinreißenden Realistik schildert, die wir an seinen übrigen großen Romanen bewundern. Nirgends lässt sich ein Nachlassen seiner Erfindungsgabe, seiner Bühnensicherheit und seiner flüssigen Erzählkunst feststellen, obwohl ihm diesmal nicht der fleißige Mitarbeiter Maquet zur Seite stand. Im Sommer 1865 übersiedelte er nicht mehr nach Enghien. Er hatte jetzt am Boulevard Malesherbes im vierten Stock eine Wohnung bezogen, deren Aufmachung noch immer einen Schein von Wohlstand verriet. Das Personal bestand aus der Kammerfrau Armande, dem Kammerdiener Thomaso, den er aus Florenz, dem Diener Vasili, den er aus dem Kaukasus mitgebracht hatte, und aus der Köchin Humbert, zu denen sich noch der Sekretär Victor Leclerc gesellte. Im Sommer machte Dumas eine Rheinreise, die ihn wieder in das jetzt von den Preußen besetzte Frankfurt führte. Hier sammelte er Unterlagen für eine letzte Großreportage, die den Krieg des Jahres 1866behandelte. Sie führt den Titel La Terreur prussienne, und Bismarck tritt darin unter dem Decknamen „Boesewerck" auf. Aber Dumas hatte sich überlebt. Die Zeiten, da die großen Tageszeitungen ihm Spitzenhonorare für den Abdruck seiner Romane boten, waren vorüber. Seine letzten Bücher wurden kaum noch verlangt, und die Nachfrage ließ derart nach, daß sein Verleger Michel Levy sich zu einer erheblichen Kürzung der laufenden Honorarrente entschließen musste. Der bisherige Jahresbetrag von 10 000 Franken wurde von 1867 an um mehr als die Hälfte auf 4000 Franken herabgesetzt. Für Dmas bedeutete das eine Katastrophe, die ihn zu einer radikalen Einschränkung seiner gewohnten Lebensführung zwang. Der Haushalt musste aufs äußerste eingeschränkt werden. Auch die Rente, die er seiner verwitweten Schwester zahlte, musste wegfallen. Obwohl die Zensur die Aufführung seiner letzten nach Romanen gestalteten Dramen verbot, ließ sich Dumas nicht von seinem Wunsch nach einem eigenen Theater abbringen. Vergebens bemühte er sich, das erforderliche Betriebskapital durch eine allgemeine Beteiligung seiner Leser zu beschaffen, und ebenso erfolglos war ein Appell, den er an Napoleon III. richtete. Gastspielreisen mit einem eigenen Ensemble warfen auch kaum mehr ab als die Unkosten. Eine letzte Auslandsreise führte ihn nach Budapest und Wien. Die Magyaren feierten ihn, Kaiser Franz Joseph stellte ihm einen Saal der Hofburg für seine Vorträge zur Verfügung. Das Ausland hatte den Autor der Musketiere und des Monte Christo noch nicht vergessen.
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Er hatte jetzt eine bescheidene Wohnung in der Rue d´Ámsterdam. Der Schwärm beutegieriger Parasiten hatte ihn verlassen, seitdem er die Schnorrer nicht mehr ernähren konnte. Er war jetzt siebenundsechzig, und nach einem langen, verschwenderischen Leben stellten sich allmählich die Gebrechen und Mühen des Alters ein. Zeitlebens hatte er mit seinen Kräften Raubbau getrieben. Die Folgen äußerten sich jetzt in zunehmender Erschöpfung. Er arbeitete noch an einem letzten geschichtlichen Roman, Les Blaues et les Bleus (Weiß und Blau), der die Revolutionskriege im Elsaß und die Kämpfe der königstreuen Vendeer Bauern (der Weißen) gegen die Republikaner (die Blauen) behandelte. Die Romanhandlung bearbeitete er auch für die Bühne. Als der Schauspieler Taillade mit ihm die Inszenierung des Stückes besprach, schlief Dumas mitten im Gespräch ein. Das Feuer war niedergebrannt, die Flamme flackerte nur noch, bevor sie langsam erlosch. Einen letzten Triumph durfte er während der Weltausstellung von 1867 feiern. Die amerikanische Tänzerin und Schauspielerin — nebenbei dichtete sie auch und war viermal geschieden — Adah-Isaac Menken, die in dem Wildwest-Ausstattungstück „Die Piraten der Prärie" als verwegene Reiterin allabendlich stürmischen Applaus erntete, brachte dem verehrten Meister Dumas auf ihre burschikose Art ihre Huldigung dar. Als sie sich nach Schluss der Vorstellung in ihr Ankleidezimmer begeben wollte, entdeckte sie unter den Zu schauern die herkulische Gestalt des alten Dumas. Sie bahnte sich den Weg zu ihm, warf sich dem Ahnungslosen an den Hals und küsste ihn vor aller Öffentlichkeit. Ein andermal ließ sie sich aufnehmen, wie sie auf dem Schoß des Meisters saß. Sie ließ die Aufnahme in ganz Paris verbreiten und sorgte so für die nötige publicity. Dumas selbst war stolz auf diese letzte Eroberung, die er gemacht hatte und mit der er Abschied von den Freuden des Lebens nahm. Ein Jahr später starb Miß Adah an den Folgen eines Sturzes vom Pferd. Als im Juli 1870 der Krieg gegen Deutschland ausbrach, nahm der Sohn den Vater nach Dieppe mit, wo er ein Landhaus besaß. So blieb er vor den Schrecken und Aufregungen der Belagerung bewahrt. Marie Dumas pflegte den Vater, der still und gleichgültig im Garten saß und langsam dahindämmerte. Bisweilen erwachte er und spielte dann mit seinen Enkelkindern. Am Weltgeschehen nahm er keinen Anteil mehr, daß der Krieg sich seinem friedlichen Ruhesitz näherte, wusste er nicht . Im November verließ er das Bett nicht mehr. Er fror beständig, seine Glieder begannen langsam abzusterben. Am 5. Dezember, während der Abbe Andrieu ihm die Sterbesakramente reichte, verlor er plötzlich das Bewusstsein. Wenige Stunden später entschlief er in den Armen seiner Tochter, die er im Leben so wenig geliebt hatte. Am 8. Dezember wurde er auf dem Friedhof von Dieppe beigesetzt. Erst im April 1870, nach Beendigung der deutschen Okkupation, wurde der Sarg nach Villers-Cotterets übergeführt, wo der Sohn neben den Eltern seine letzte Ruhestätte fand. Mit Alexander Dumas hatte die Weltliteratur einen ihrer eigenartigsten Vertreter verloren. Er war ein wahres
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und seltsamsten
Wunder an Geisteskraft, Vielseitigkeit, Fleiß und unerschöpflicher Phantasie. Une des forces de la nature — eine Naturkraft — hat der Geschichtsschreiber Jules Michelet seinen Zeitgenossen genannt und damit wohl am treffendsten dieses Phänomen gedeutet. Er hätte Größeres schaffen können, wenn er sich auf einen engeren Kreis beschränkt hätte, statt seine Kraft zu zersplittern und sich in einer kaum übersehbaren Menge oft nur flüchtig hingeworfener Werke von grundverschiedenem Inhalt und Wert zu verausgaben. In seinem Sohn sollte sich seine schriftstellerische Begabung und der Ruhm des Namens Dumas in eine zweite Generation forterben und auch dieser Dumas der Jüngere, wenn auch nur mit einem Werk, „Die Kameliendame", in die Weltliteratur eingehen. In den hundert Jahren, die seit dem Erscheinen der Werke Dumas des Älteren vergangen sind, haben sich allmählich die Goldkörner herausgesondert. Was heute noch ebenso frisch und neuwertig ist wie damals, bleibt im wesentlichen auf die großen Romanserien aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. und der Revolution beschränkt, umfasst also ungefähr diejenigen seiner mehr als dreihundert Romane, Erzählungen, Plaudereien, Memoiren, Biographien, Reisebeschreibungen und geschichtlichen Tatsachenberichte, die sein Gesamtschaffen ausmachen, wozu noch nahezu hundert Bühnenwerke zu rechnen wären, von denen sich allerdings, bis auf Kean, keines in der Gunst der Nachwelt behaupten konnte, die wir in unserer vorliegenden Ausgabe dem deutschen Leser in einer neuen zeitgemäßen Fassung zugänglich gemacht haben.
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