Tori Carrington
Der schönste Tag meines Lebens
Seit Penelope Moon den faszinierenden Aidan Kendall kennt, sehnt sie s...
59 downloads
1041 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Tori Carrington
Der schönste Tag meines Lebens
Seit Penelope Moon den faszinierenden Aidan Kendall kennt, sehnt sie sich danach, in seinen Armen zu liegen. Er ist der erste Mann, dem ihre Herkunft vollkommen egal zu sein scheint. Nach einem romantischen Dinner zu zweit bittet Penelope ihn, bei ihr zu bleiben. Zärtlich und einfühlsam zeigt er ihr, wie schön die Leidenschaft sein kann. Der große Traum vom Glück scheint sich für Penelope zu erfüllen, bis eine Nachricht sie tief erschüttert: Aidan ist verhaftet worden…
2004 by Lori and Tony Karayianni
Originaltitel: „Where You Least Expect It“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam
Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1451 (2/2) 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Michaela Grünberg
Fotos: Corbis GmbH
1. KAPITEL Der Sommer versetzte Penelope Moon stets in eine ganz besondere Stimmung. Vielleicht lag es an der Hitze. Die schwüle Luft flirrte bereits in der Morgensonne, obwohl es noch nicht einmal acht Uhr war. Penelope zog leicht an Maximus’ Leine, um den ungestümen Mischlingshund daran zu erinnern, dass er sich an ihr Schritttempo anpassen sollte und nicht umgekehrt. Doch der Rüde machte, anstatt langsamer zu werden, einen Satz nach vorne, dessen Wucht Penelope um ein Haar aus ihren praktischen Sandalen gerissen hätte. Sie griff nach dem Halsband des Tieres, ruckte kurz aber energisch daran und entschied damit das allmorgendliche Tauziehen zu ihren Gunsten. Deutlich gemächlicher ging sie die Hauptstraße ihres Heimatortes Old Orchard hinunter und winkte dem alten Jake, der vor seinem Gemischtwarenladen den Rasen sprengte, wie üblich freundlich zu. Der quittierte ihre Geste – wie üblich – mit einem argwöhnischen Blick. Nein, es war nicht die Hitze. Jedenfalls nicht nur, dachte Penelope. Es musste noch einen anderen Grund dafür geben, dass sie sich im Sommer um so vieles lebendiger fühlte als sonst. Sie hatte ständig den unterschwelligen Drang, ihre Kleider von sich zu werfen und sich splitternackt in die Sonne zu legen. Ein Akt, der an Schamlosigkeit kaum zu überbieten wäre und an den sie zu einer anderen Jahreszeit nicht einmal zu denken gewagt hätte. „Max!“ zischte sie leise, als der junge Hund abrupt vor der von kunstvoll angelegten Blumenbeeten eingerahmten Wasserfontäne am Lucas Circle stehen blieb und ein Bein hob. Nervös blickte sie sich um und sah zu den Geschäften auf der linken Seite der Old Orchard Avenue hinüber, welche, in einer perfekten Reihe nebeneinander stehend, die kleine Einkaufsstraße des Ortes bildeten. Eddie’s Pub hatte bereits geöffnet, aber zu dieser frühen Stunde wurde dort wahrscheinlich eher Kaffee als Bier ausgeschenkt. In der Bücherei hingegen war es noch dunkel. Von der Hitze und der unerklärlichen inneren Unruhe, die Penelope empfand, einmal abgesehen, war dieser Morgen bisher genau so verlaufen, wie jeder andere auch. Sie war wie immer kurz vor Tagesanbruch aufgestanden, hatte sich eine Tasse Ginsengtee gemacht und von der Veranda des alten Hauses, in dem sie mit ihrer Großmutter Mavis wohnte, dem Sonnenaufgang zugeschaut. Dann folgte ein zwei Meilen langer Fußmarsch zu ihrem Buchladen, den sie von Mavis übernommen hatte. Nun ja, um genau zu sein, hatte sie damals eine kunterbunte Fundgrube mit dem treffenden Namen Allerlei Essenzen übernommen und lediglich das Sortiment ein wenig erweitert. Zwar verkauften sich die Esoterik Artikel nach wie vor besser, aber eine Buchhandlung wirkte von außen einfach seriöser und lockte dadurch mehr Laufkundschaft an. Ob die Leute letztendlich mit einem Tütchen Räucherstäbchen anstelle eines Romans heimgingen, spielte eigentlich keine Rolle. Hauptsache, sie kamen überhaupt. Penelope Moon hatte sich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass die restlichen Einwohner Old Orchards sie für sonderbar hielten und den Kontakt zu ihr weitestgehend vermieden. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und immer noch unverheiratet, was wohl auch so bleiben würde. Penelope wäre nicht das erste weibliche Mitglied der Moonfamilie, das keinen Mann abbekommen hatte. Ganz im Gegenteil, dieser Umstand konnte mittlerweile fast schon als Tradition bezeichnet werden. Obendrein lebte sie außerhalb der Stadt, noch dazu gemeinsam mit ihrer zugegebenermaßen etwas schrulligen Großmutter. In den Augen der anderen waren die beiden Eigenbrötlerinnen, mit denen man nichts zu tun haben wollte.
Die kleinen Messingglöckchen in der Form von Sonnenblumen bimmelten leise, als Penelope die Glastür ihres Ladens öffnete, auf der zart geschwungene violette Buchstaben und weiße Zahlen den potenziellen Besucher über die Geschäftszeiten informierten. Auch drinnen herrschten Penelopes Lieblingsfarben vor. Überall standen schneeweiße Holzregale, an deren Seiten duftende Lavendelzweige baumelten. Max, der eigentlich Maximus hieß, flitzte laut bellend an ihr vorbei, schnurstracks auf das niedrige Tischchen mit den Aromabädern zu. „Nein, nicht dahin!“ Penelope versuchte, die Hundeleine zu erwischen, aber es war zu spät. Polternd stürzte die knapp einen Meter hohe Pyramide aus weißen Plastikbehältern zusammen, für deren Aufbau Penelope eine Ewigkeit gebraucht hatte. „Oh, Max“, seufzte sie und sah kopfschüttelnd den vierbeinigen Wirbelwind an, der zufrieden mit dem Schwanz wedelnd inmitten des Durcheinanders stand, das er gerade angerichtet hatte. Wild und abenteuerlustig, eben ein typischer Skorpion, dachte Penelope. Wegen seines unbändigen Temperaments vermutete sie, dass Max im November geboren worden sein musste, aber mit Sicherheit würde sie es nie wissen. Vor zwei Jahren war sie eines Nachts plötzlich von einem Geräusch geweckt worden und hatte den jämmerlich winselnden Welpen auf der Terrasse vorgefunden. Wer ihn dorthin geschafft hatte, interessierte Penelope nicht. Alles, was zählte, war, dass er jemanden brauchte, der für ihn sorgte. Und dieser Jemand war sie. Wenn sie es doch nur fertig brächte, ihm ein bisschen mehr Disziplin beizubringen. „Du“, sagte sie streng und zupfte Max am Ohr. „Ab in den Hinterhof mit dir, aber schnell.“ „Er gehört angekettet, dieser Hund. Oder am besten gleich in einen Zwinger.“ Penelope drehte sich um und sah Elva Mollenkopf in der Tür stehen. Old Orchards Klatschbase vom Dienst. Die biedere, langweilige Kleidung, die sie trug, passte hervorragend zu ihrem mürrischen Gesichtsausdruck. Solange Penelope zurückdenken konnte, hatte sie Mrs. Mollenkopf noch nie gut gelaunt gesehen. „Er ist nicht immer so“, sagte sie und warf heimlich einen beschwörenden Seitenblick in Max’ Richtung. „Nur ein bisschen ungeschickt, das ist alles.“ „Ungeschickt? In ihm steckt ein Killer, das sieht man doch sofort.“ Penelope hob erstaunt die Augenbrauen und zwang sich zu einem Lächeln, aber Elva bemerkte es nicht. Sie war hinter einem Regal in Deckung gegangen und spähte nervös durch das Schaufenster auf die Straße, um sicherzugehen, dass niemand sie im Buchladen entdeckt hatte. „Ist meine Gesichtscreme endlich wieder da?“ fragte sie unvermittelt. „Ja, gestern kam eine Lieferung.“ „Gut, ich nehme gleich zwei.“ Penelope legte die Cremetiegel in eine neutrale braune Papiertüte und reichte sie Elva, die abermals verstohlen über ihre Schulter sah. „Das macht dann genau dreißig Dollar, bitte.“ „Was? So viel?“ „Der Preis ist derselbe wie immer, Mrs. Mollenkopf.“ „Sie müssen sich irren, könnten Sie noch mal nachschauen?“ „Natürlich, gern“, erwiderte Penelope höflich lächelnd. Aus dem Augenwinkel sah sie plötzlich einen Schatten, doch bevor sie reagieren konnte, war es schon passiert. Elva kreischte schrill und fuhr erschrocken herum. Maximus hatte sie von hinten unsanft mit der Schnauze in den Allerwertesten gestupst. „Max!“ Penelope räusperte sich laut, um ihr Kichern zu verbergen, während sie
den Übeltäter schnell von seinem Opfer fortzerrte. Mit was für einer Verschlagenheit er manchmal zu Werke ging, war wirklich verblüffend. „Es tut mir Leid, Mrs. Mollenkopf. Sie wissen ja, wie Hunde so sind“, sagte sie entschuldigend. „Ich hasse Hunde und würde mich niemals freiwillig in ihrer Nähe aufhalten. Demzufolge, Miss Moon, weiß ich nicht, wie sie so sind.“ Elva zog den hinteren Teil ihrer langen, mit einem hässlichen Muster bedruckten Bluse nach vorn und starrte angewidert den winzigen Fleck an, den Max’ feuchte Nase auf dem Stoff hinterlassen hatte. „Nur damit Sie es wissen, ich werde beim Sheriff Anzeige gegen Sie erstatten. Wegen Sachbeschädigung.“ Ich zittere vor Angst. „Wie meinen Sie?“
Penelope blinzelte. Sie hatte die Worte doch nicht laut gesagt, oder?
„Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen zehn Prozent Rabatt auf die Creme gebe,
sozusagen als Wiedergutmachung?“
„Fünfzehn.“
„In Ordnung.“
Max schnaufte missmutig, als wolle er sagen: Du Trottel.
Elva lugte durchs Schaufenster nach draußen.
„Ein komischer Kauz ist das.“
Penelope kniff die Augen zusammen, um den Mann, der in einiger Entfernung die
Hauptstraße entlangging, besser zu erkennen. Er hatte die Hände in die
Hosentaschen gesteckt, und sein kurzärmeliges weißes TShirt betonte die
sonnengebräunte Haut seiner langen, sehnigen Arme.
„Ich finde nicht, dass Mr. Kendali komisch ist.“
Elva funkelte Penelope arglistig an.
„So wie der Rest der Stadt. Aber ich sage Ihnen, mit dem stimmt was nicht.
Kommt einfach so aus heiterem Himmel hierher, ohne dass man das Geringste
über ihn oder seine Familie weiß, und nach nicht mal zwölf Monaten hat er sich
komplett in die Gemeinschaft integriert, als sei er ein Einheimischer.“
„Er stammt aus Oregon. Familie hat er keine, und er ist Lehrer an unserer High
School. Was sollte man noch über ihn wissen wollen?“
Mrs. Mollenkopf schnalzte abschätzig mit der Zunge, dann nahm sie ihr
Wechselgeld entgegen und zählte es sorgfältig nach.
„Zum Beispiel, welche Leichen er im Keller hat. Oder besser gesagt, in der
Abstellkammer. Falls Mrs. O’Malleys Zimmer so etwas haben.“ Sie hob den
Zeigefinger und hielt ihn Penelope so dicht vors Gesicht, dass sie ihr fast ein
Auge ausgestochen hätte. „Das ist auch so eine Sache. Wer wohnt schon in
einem Gästehaus? Ich meine, dort verbringt man vielleicht ein Wochenende, aber
nicht ein Jahr.“
„Ich bin mir sicher, es gibt keine Leichen.“
„Das beweist nur, wie wenig Menschenkenntnis Sie haben, meine Liebe“, sagte
Elva schnippisch.
Penelope reichte ihr die Tüte mit den Cremetiegeln, als die Glöckchen über der
Tür die Ankunft eines weiteren Kunden ankündigten.
„Guten Morgen, Miss Moon.“ Aidan Kendali, über den sich die beiden Frauen
gerade unterhalten hatten, betrat lächelnd den Buchladen, und es war, als ob die
Sonne aufging. Als er Elva bemerkte, nickte er auch ihr freundlich zu. Sie machte
ein verächtliches Geräusch, schnappte sich ihre Tüte und stolzierte
hocherhobenen Kopfes davon. Aidan hielt ihr zuvorkommend die Tür auf, und sie
schwebte förmlich hinaus, ohne auch nur danke zu sagen.
„Ein wenig gesprächiger könnten Sie schon sein“, meinte Aidan augenzwinkernd.
„Sonst komme ich noch auf die Idee, dass Sie mich nicht leiden können.“ Elva murmelte etwas Unverständliches, bevor sie eilig auf die Straße huschte, wahrscheinlich inständig hoffend, niemand möge sie in Penelope Moons Laden gesehen haben. Zumindest niemand außer Spot, der unerschrockenen herrenlosen Katze, die im selben Moment durch die Glastür schlüpfte. Max stellte erstaunt die Ohren auf, als könne er sein Glück kaum fassen, dass sich ein so appetitlicher Imbiss direkt bis vor seine Nase verirrt hatte. Doch Penelope machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem sie ihn kurzerhand in den Abstellraum schob und diesen von außen verriegelte. Dann machte sie sich wieder daran, die auf dem Boden liegenden Badeöle einzusammeln. „Hab ich etwas Falsches gesagt?“ fragte Aidan und deutete mit dem Daumen über seine Schulter in die Richtung, in der Elva soeben verschwunden war. „Ich würde das nicht persönlich nehmen“, riet Penelope, legte eine Ladung Plastikbehälter auf dem Tresen ab und ging dann zu dem Thermostat an der Wand dahinter, um die Klimaanlage einzuschalten. „Sie ist eben so.“ „Ja.“ „Sieht aus, als wird es wieder ziemlich heiß heute.“ „Ich mag heiße Tage“, sagte Aidan und schickte sich an, ebenfalls einige der Behälter aufzuheben. „Nein, nein!“ Penelope schrie fast und erschrak selber über den aufgeregten Klang ihrer Stimme. „Ich meine, das brauchen Sie nicht“, fügte sie schnell hinzu. „Ich wollte bloß helfen“, erklärte Aidan sichtlich verdutzt. Penelope sah ihm in die Augen. Tiefgründige braune Augen mit kleinen Lachfältchen, die ihnen diesen unverwechselbaren, warmherzigen Ausdruck verliehen. Sie betrachtete seinen Mund und schließlich sein markantes, männliches Kinn. Wie aus heiterem Himmel überkam sie eine innere Unruhe, die sie nicht deuten konnte. Noch weniger verstand sie, dass offenbar alles, was es brauchte, um sie in diesen Zustand zu versetzen, ein einziger Blick von Aidan Kendali war. „Kann ich…“ Sie räusperte sich. „Kann ich etwas für Sie tun, Aidan?“ Er zuckte mit den Achseln und steckte die Hände wieder in die Hosentaschen. „Vielleicht hatte ich mir einfach gedacht, ich schaue mal vorbei und sage einer Freundin guten Tag. Würde das nicht als Grund ausreichen, um hierher zu kommen?“ Freundin. Eigentlich ein simples, alltägliches Wort, aber keines, das Penelope besonders oft zu hören bekommen hätte. Jedenfalls nicht auf ihre Person bezogen. Es hatte in ihrem Leben noch nie irgendwelche nennenswerten Freundschaften gegeben. Die Einwohner Old Orchards waren für sie wie unerreichbare Fremde aus einer anderen Welt, zu denen sie keinen Zugang fand, auch wenn sie es versuchte. Ausgenommen Aidan. Unregelmäßig, aber dennoch beharrlich kam er in ihren Laden, sah sie auf diese verwirrende, charmante Weise an und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie lächelte. „Natürlich reicht das aus“, sagte sie. „Auch gut, aber es ist nicht der Grund, warum ich hier bin“, erwiderte Aidan mit einem schelmischen Grinsen. „Nun ja, nicht der einzige.“ Penelope hörte sich plötzlich kichern. Kichern? Das Geräusch war so ungewohnt für sie, dass sie automatisch zusammenzuckte und sich entsetzt umsah. War das wirklich von ihr gekommen? Aidan spürte, wie die Anspannung aus seinen Muskeln wich. Penelopes
vergnügtes Glucksen hatte das bewirkt. Es erinnerte ihn daran, was es hieß, fröhlich und unbeschwert zu sein, anstatt traurig und bedrückt, wie er sich innerlich die meiste Zeit fühlte. Obwohl er es sich nicht anmerken ließ. Aber nicht nur ihr Lachen hatte diesen Effekt auf ihn, ihre bloße Anwesenheit genügte, um ihn vergessen zu lassen, warum er überhaupt nach Old Orchard gekommen war. Sie stellte keine Fragen, bedrängte ihn nicht, mehr von sich zu erzählen, sondern nahm wie selbstverständlich nur das, was er freiwillig von sich preisgab. Und nicht zuletzt war sie mehr als hübsch, mit ihren langen, seidigen schwarzen Haaren und den großen dunklen Augen, die in einem betörenden Kontrast zu ihrem porzellanartigen Teint standen. Oh, er wusste genau, was die Ortsansässigen sich über sie erzählten. Das Netteste war, dass sie ein Sonderling sei. Ganz böse Zungen behaupteten hingegen, sie wäre eine Hexe, die jeden mit einem schrecklichen Fluch belegte, der sich nicht vor ihr in Acht nahm. Letzteres hatte Mrs. Mollenkopf erst gestern gesagt. Aidan hatte hinter ihr und ihrer Freundin in der Schlange im Postamt gestanden und gehört, was die beiden miteinander tuschelten. „Löwe.“ Er blinzelte und schaute Penelope fragend an. „Wie bitte?“ „Ihr Sternzeichen. Sie sind Löwe, stimmt’s?“ Aidan schmunzelte. Er hätte eigentlich gleich wissen sollen, was sie meinte. Seit dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal getroffen hatte, versuchte sie nun schon, sein Sternzeichen zu erraten. Er schüttelte den Kopf. „Leider wieder falsch.“ Penelope presste ihre vollen Lippen aufeinander und runzelte die Stirn. Soweit Aidan es beurteilen konnte, trug sie nicht einmal einen Hauch von Makeup, trotzdem hatte ihr weicher Mund die Farbe reifer Erdbeeren, und ihre tiefschwarzen Wimpern waren dicht und außergewöhnlich lang. Sie legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. „Wenn ich richtig liege, würden Sie es dann zugeben?“ „Nein.“ „Stier“, tippte Penelope weiter. „Auch nicht“, lachte Aidan. Er hoffte, die wahren Beweggründe für sein ausweichendes Verhalten hinter einer Maske aus Unbeschwertheit verbergen zu können. Vielleicht wäre es gar nicht so gefährlich gewesen, ihr sein wahres Geburtsdatum anzuvertrauen, aber er hatte gelernt, vorsichtig zu sein. Kein unnötiges Risiko eingehen. Niemals. Natürlich hätte er lügen können. Warum nur fiel es ihm ihr gegenüber so schwer? Er war doch inzwischen daran gewöhnt, den Menschen alles Mögliche über sich zu erzählen. Nur nicht die Wahrheit. „Na schön“, sagte Penelope leise. Sie klang enttäuscht. „Dann verraten Sie mir wenigstens, weshalb Sie hergekommen sind. Außer, um mir guten Tag zu sagen.“ Aidan sah auf. „Oh ja, richtig. Ich habe Sie gestern beim Treffen des Festausschusses vermisst und mich gefragt, warum Sie nicht dort waren.“ Penelope schlug die Augen nieder, zog einen Karton mit Büchern unter dem Tresen hervor und begann, sie auszupacken. Dann klemmte sie sich schweigend einen Stapel unter den Arm, ging damit zu einem hohen Regal und sortierte die frisch eingetroffenen Romane ins oberste Bord, wozu sie weder eine Leiter noch einen Schemel brauchte. Sie war beinahe ebenso groß wie Aidan, also mindestens einen Meter achtzig, wobei ihre langen, schlanken Beine weit über
die Hälfte ihrer gesamten Körpergröße ausmachten. Hätte sie sich etwas figurbetonter gekleidet, wäre sie wahrscheinlich für ein Model gehalten worden. Stattdessen setzte sie auf unscheinbare, viel zu weite Kleidung in blassen Erdtönen. Eines der Bücher kippte um, und Penelope musste sich ein wenig strecken, um es wieder aufzustellen, wodurch ihre Bluse für einen kurzen Moment dicht an ihrem Oberkörper anlag. In Augenblicken wie diesem wurde Aidan erst bewusst, welch wohlgeformte Rundungen sich unter dem schlabberigen Leinenstoff verbargen. Und wie lange es her war, seit er zum letzten Mal eine Frau im Arm gehalten hatte. „Ah, ich verstehe“, sagte er, als hätte er eine plötzliche Eingebung. „Sie waren zu einer Party eingeladen, richtig?“ „Nein“, erwiderte Penelope tonlos. Aidan machte ein betont nachdenkliches Gesicht. „Dann… gibt es nur noch eine Möglichkeit“, erklärte er grinsend. „Sie hatten ein Date!“ Penelope sah ihn entgeistert an und drehte schnell den Kopf weg, als sie spürte, dass sie rot wurde. „Auch nicht“, flüsterte sie. Waren das nicht exakt die gleichen Worte, die er vorhin gebraucht hatte, als sie zum zweiten Mal versucht hatte, sein Sternzeichen herauszufinden? Für ihn bedeutete seine Zurückhaltung Schutz vor… Dingen, an die er lieber gar nicht erst denken wollte. Für sie offenbar auch. Bei dieser Erkenntnis zog sich etwas in Aidans Brust schmerzlich zusammen. Er kannte dieses beklemmende Gefühl nur zu gut. Es war Traurigkeit. Während der letzten zwölf Monate, in denen er Penelope mehr oder weniger sporadisch im Buchladen besucht hatte, war er zu der festen Überzeugung gelangt, dass in dieser Frau viel mehr steckte, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Aus ihren Augen sprach Warmherzigkeit und Güte, und gelegentlich schimmerte ihr Sinn für trockenen Humor durch, doch die meiste Zeit traute sie sich nicht, der Welt zu zeigen, wer sie in ihrem Innersten wirklich war. Wenn man sie doch nur irgendwie dazu bewegen könnte, dachte Aidan. Er ertrug es nicht, sie tagein, tagaus morgens von zu Hause auf kürzestem Weg in den Buchladen und abends wieder dieselbe Strecke zurückgehen zu sehen, ohne dass sie jemals stehen blieb, um mit jemandem ein Schwätzchen zu halten. Sogar wenn die Kinder Old Orchards ihr – aus sicherer Entfernung natürlich – lauthals „Hexe, Hexe“ hinterherriefen, hielt sie ihren Blick stur auf den Boden gerichtet und ging weiter, als höre sie sie nicht. „Manchmal bin ich ein bisschen zu neugierig“, sagte Aidan entschuldigend. „Ist schon gut“, erwiderte Penelope und nahm einen weiteren Stapel Bücher entgegen, den Aidan ihr aus der Kiste reichte, die er gerade neben dem Regal abgestellt hatte. „Aber, wie auch immer, es ist nur noch eine Woche bis zum Unabhängigkeitstag, und die Damen und Herren im Festausschuss sind mit der Planung der Feier nicht viel weiter als vor drei Monaten. Ich könnte wirklich eine Verbündete brauchen, die mir hilft, Ordnung in diesen unentschlossenen Haufen zu bringen.“ Penelope murmelte etwas, aber Aidan konnte sie nicht verstehen. „Wie bitte?“ fragte er nach. „Ich habe nichts gesagt“, antwortete Penelope, ein wenig zu schnell. „Nein? Ich hätte schwören können…“ Aidan verstummte. Was auch immer ihr ungewollt herausgerutscht sein mochte, es war offensichtlich nicht für seine Ohren bestimmt gewesen. „So was“, sagte er lächelnd. „Da sieht man, wie sehr mich diese Feier zum vierten Juli beschäftigt. Dieses ewige Hin und Her bei der
Planung macht mich noch wahnsinnig.“ Er nahm Penelopes Hände in seine und zwang sie dadurch, ihn anzusehen. „Also, was meinen Sie? Wollen Sie mir nicht vielleicht doch helfen?“ Ihre Haut war überraschend weich und angenehm warm. Aidan hatte fast schon vergessen, wie es sich anfühlte, eine Frau auf diese einfache und dennoch intime Weise zu berühren. Die Glöckchen über der Tür klingelten und zerstörten die zaghafte Vertrautheit, die für einige Sekunden zwischen ihm und Penelope entstanden war. Sie drehte sich um. „Guten Morgen, Sheriff Parker.“ Obwohl er wusste, dass seine Angst unbegründet war, schrak Aidan innerlich zusammen. Er hatte von Cole Parker nichts zu befürchten. Noch nicht, meldete sich eine warnende Stimme in seinem Kopf.
2. KAPITEL Hektisch und rastlos, so war Penelope an diesem Tag aufgestanden. Doch da hatte sie nicht geglaubt, dass sich dieser Zustand von einem Moment zum anderen derart verschlimmern könnte. Seit Aidan sie berührt hatte, purzelten ihre Gefühle unkontrolliert durcheinander, und sie konnte nichts dagegen tun. Sicher, ihr war nicht erst heute aufgefallen, dass er unverschämt gut aussah und noch dazu ein ausgesprochen sympathischer Mensch war. Aber noch nie hatte sie auch nur im Entferntesten daran gedacht, wie es wohl wäre, wenn sie und er… Solche Gedanken hatte sie sich bisher erfolgreich verboten. Und nun schossen sie ihr pausenlos durch den Kopf. „Ich wollte fragen, ob ich noch mehr von dem Tee bekommen kann, den Sie mir beim letzten Mal zum Probieren gegeben haben“, sagte Sheriff Parker. „Eigentlich bin ich ja eher Kaffeetrinker, aber, was soll ich sagen, dieses Zeug war wirklich gut.“ „Sicher. Ist der Wasserkocher im Büro noch immer kaputt?“ wollte Penelope wissen. „Ja, ich müsste das verdammte Ding endlich mal reparieren, aber ich komme einfach nicht dazu“, stöhnte Parker. „Dann brühe ich Ihnen schnell eine Kanne auf.“ „Danke, das wäre sehr nett.“ Penelope verschwand in der Küche, setzte Wasser auf und ging stirnrunzelnd die verschiedenen Teemischungen durch, die auf dem Regal über dem Kühlschrank standen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Sorte der Sheriff im Sinn haben könnte. Schließlich entschied sie sich für Grüntee mit einem Hauch Ingwer und gab einige Löffel davon in eine hohe Porzellankanne. „So viel zu tun, dass keine Zeit für Instandsetzungsarbeiten bleibt?“ hörte sie Aidan witzeln. „Hat es etwa ein Verbrechen in Old Orchard gegeben?“ Kein besonders einfallsreicher Scherz, wie Penelope fand. In Old Orchard geschah nie auch nur das Geringste, geschweige denn ein Verbrechen. Umso mehr überraschte es sie, dass Parker nicht sofort antwortete. Sie spähte um die Ecke und sah, wie er Aidans Blick auswich und sich unbehaglich durchs Haar fuhr. „Komisch, dass Sie das fragen“, sagte er endlich. „Es ist tatsächlich letzte Nacht etwas Seltsames passiert.“ Aidan spürte erneut Panik in sich aufsteigen, zwang sich aber, nach außen ruhig zu bleiben. „Wirklich? Was denn?“ „Der alte Smythe ist überfallen worden. Jemand hat ihm eine Waffe vor die Nase gehalten und ihn ausgeraubt.“ Jake Smythe war der Besitzer der einzigen Tankstelle im Ort, die rund um die Uhr geöffnet hatte. „Ist er verletzt worden?“ fragte Aidan besorgt. „Nein, er war so schlau, nicht den Helden spielen zu wollen, und ist mit heiler Haut davongekommen. Und da der Täter nicht maskiert war, hat Jake uns eine sehr präzise Beschreibung geben können.“ Sheriff Parker rieb sich den Nacken und seufzte. „Nun ja, was heißt schon Beschreibung. Er schwört Stein und Bein darauf, dass dieser Lehrer, Aidan Kendali’, es war.“ Penelope fiel fast der Teller aus der Hand, den sie gerade aus dem Schrank genommen hatte, um darauf ein paar Himbeerkekse anzurichten, die sie dem Sheriff mitgeben wollte. Sie lugte abermals in den Verkaufsraum und beobachtete, wie die beiden Männer sich gegenseitig wortlos anstarrten. Es war Parker, der als Erster das Schweigen
brach. „Das ist ein Ding, was?“ grunzte er. „Wie kommt Smythe nur ausgerechnet auf Sie. Ich meine, seine Augen sind nicht mehr die jüngsten. Ohne seine Brille ist er wahrscheinlich blind wie ein Maulwurf.“ Aidan lächelte nicht. Er verzog überhaupt keine Miene. Penelope trat mit einem Tablett aus der Küche. „Sheriff? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, das hier müsste der Richtige sein. Kosten Sie doch bitte noch mal. Aidan, möchten Sie auch?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, gab sie jedem der beiden eine Tasse voll dampfendem Tee und stellte den Teller mit Keksen auf den Tresen. „Ah, herrlich“, schwärmte Parker und schnupperte genüsslich, bevor er einen Schluck trank. „Das ist genau der, den ich meinte.“ Penelopes Plan funktionierte. Die erdrückende Spannung, die in der Luft lag, verflog merklich, und bald schon unterhielt man sich über dies und jenes, als sei nichts gewesen. Nachdem er ausgetrunken hatte, nahm Sheriff Parker die Kanne mit dem restlichen Tee in Empfang, bezahlte und tippte zum Abschied mit zwei Fingern kurz und lässig an seine Hutkrempe. „Ich muss los. Vielen Dank noch mal, Penelope. Sie sind ein Schatz.“ „Keine Ursache.“ Das Läuten der Glöckchen schien eine halbe Ewigkeit an den Wänden des kleinen Ladens widerzuhallen, auch nachdem die Tür schon lange ins Schloss gefallen war. „Unglaublich. Mr. Smythe denkt, dass Sie ihn ausgeraubt haben. Das muss man sich mal vorstellen“, sagte Penelope, während sie mit einem Lappen die Kekskrümel vom Tresen wischte. Doch Aidan machte nicht den Eindruck, als ob er ihr zuhörte. Er stand einfach reglos da, sein Blick starr auf die Straße gerichtet. Plötzlich griff er in seine Tasche und holte ein paar Geldscheine heraus. „Wie viel schulde ich Ihnen für den Tee?“ „Gar nichts, Aidan. Der geht aufs Haus“, erwiderte Penelope erstaunt. Aidan nickte und drückte ihr zwei Dollarnoten in die Hand. „Bis demnächst“, sagte er abwesend, bevor er den Buchladen verließ, ohne ihr wie üblich einen schönen Tag zu wünschen. Spot, die geheimnisvolle Katze, von der niemand wusste, wo sie ursprünglich hergekommen war, huschte mit ihm zusammen hinaus. Sie sah sich noch einmal kurz um und blickte Penelope direkt in die Augen. Konnten Katzen zwinkern? Unsinn, das hatte sie sich nur eingebildet. Penelope schluckte, um ihre Enttäuschung zu unterdrücken. Hatte sie sich das, was zwischen ihr und Aidan gewesen war, bevor der Sheriff hereinplatzte, auch nur eingebildet? Natürlich hatte sie das. Was war sie nur für ein einfältiges Dummchen. Auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass ein Mann wie er Interesse an ihr haben könnte, war absolut lächerlich. Sie befreite Max aus der Abstellkammer, tätschelte ihm den Kopf und machte sich an ihre tägliche Arbeit. Dabei sagte sie sich immer wieder, sie würde gut daran tun, nicht zu vergessen, wie das gemütliche Städtchen Old Orchard aufgebaut war. Die Bevölkerung setzte sich nämlich aus zwei grundverschiedenen Fraktionen zusammen: Penelope… und die übrigen Einwohner. Am späten Nachmittag, nachdem Aidan seine Schüler mit genug Hausaufgaben heimgeschickt hatte, um die Ärmsten zum Murren zu bringen, machte er sich auf den Weg zu seiner Unterkunft in Mrs. O’Malleys Gästehaus. Niedergeschlagen trat er durch die Eingangstür, die in den Flur und zur Treppe führte, und schlich sich leise die Stufen hinauf. Wie gut, dass Mrs. O’Malley gerade in der Küche mit dem Geschirr klapperte, so bemerkte sie seine Ankunft vielleicht nicht. Jedes
Mal, wenn er von der Schule nach Hause kam, fragte sie ihn als Erstes, wie sein Tag gewesen sei, und normalerweise freute es ihn, sie lächeln zu sehen, wenn er ihr von den Eskapaden berichtete, die sich seine Schüler wieder geleistet hatten. Den schockierten Ausdruck, der auf ihrem Gesicht erscheinen würde, wenn sie erfuhr, wer er wirklich war, mochte er sich nicht einmal vorstellen. Er könnte ihn nicht ertragen. Da Aidan ein Dauerbewohner war, hatte er gleich mit Mrs. O’Malley vereinbart, sein Zimmer selbst zu reinigen. Natürlich hatte er auch zuvorkommend sein wollen, aber das war nicht der einzige Grund für diese Regelung gewesen. Er hielt es einfach für besser, dass die freundliche alte Dame nicht allzu viel von dem mitbekam, was sich in diesem Raum abspielte. Aidans Blick fiel auf die beiden Computer, die zu seiner Linken auf einem antiken Tisch standen. Einer von ihnen lief vierundzwanzig Stunden am Tag und durchsuchte permanent die wichtigsten Nachrichtendienste auf bestimmte Vorkommnisse überall im Land. Der andere diente dazu, die gesammelten Daten auszuwerten. Neben dem Tisch stapelten sich Berge von Tageszeitungen, die Aidan abonniert hatte und sich an ein anonymes Postfach im Nachbarort schicken ließ. Ein ganzes Jahr lang waren seine Nachforschungen ohne Ergebnis geblieben. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Aidan setzte sich auf sein Bett, schloss die Augen und vergrub den Kopf in den Händen. In Gedanken sah er plötzlich Penelope vor sich, die ihn schüchtern anlächelte. Penelope. Wie hatte er nur so selbstsüchtig sein können. Er war in diese ruhige Kleinstadt gekommen und brachte ihre Bewohner durch seine bloße Anwesenheit in Gefahr, nur weil er nicht mehr einsam sein wollte und sich einen Ort wünschte, an dem er als Teil einer Gemeinschaft leben konnte. Und als sei das nicht genug, hegte er Gefühle für eine Frau, die zweifelsohne Besseres verdient hatte als ihn. Aidan zog die unterste Schublade des Nachtschränkchens auf und nahm einen Bilderrahmen heraus. Das Glas war staubig. Er wischte mit dem Ärmel darüber und starrte in die Gesichter zweier Menschen, die er nie mehr wieder sehen würde. Zwei Menschen, die ebenfalls Besseres als ihn verdient gehabt hätten, denn er war nicht in der Lage gewesen, sie zu beschützen.
3. KAPITEL Penelope schloss die klapprige Gartenpforte aus Holz hinter sich, von der an einigen Stellen bereits die Farbe abblätterte, und nahm Maximus die Leine ab. Sobald er frei war, schien seine Rastlosigkeit wie weggeblasen. Gemütlich ließ er sich an Ort und Stelle nieder und sah seine Besitzerin aus treuen braunen Augen an. Sie tätschelte ihm den Kopf, fuhr dann aber erschrocken herum. Aus dem Inneren des alten Hauses drang lautes Hämmern und Klopfen. Penelope eilte möglichst lautlos in den Flur, blieb stehen und horchte angestrengt. „Großmama? Ich bin zu Hause.“ „Natürlich bist du zu Hause“, schallte es aus dem Esszimmer. „Wo solltest du um diese Zeit auch sonst sein.“ Also keine Einbrecher. Erleichtert legte Penelope ihre Tasche mit den übrig gebliebenen Keksen auf einen Stuhl in der Küche und ging auf den gegenüberliegenden Raum zu. „Hast du etwas gesagt?“ fragte sie Mavis. Die aber machte, anstatt zu antworten, nur eine unwirsche Bewegung mit dem Hammer, den sie in der Hand hielt, die wohl so viel bedeuten sollte wie: Jetzt nicht, ich bin beschäftigt. Klein und hager, wie sie war, hätte man ihr eigentlich gar nicht zugetraut, ein so schweres Objekt überhaupt heben zu können. Die lilafarbene Tunika, die ihr wie ein Zirkuszelt um die Hüften schlotterte, verstärkte diesen Eindruck noch. Penelope betrat langsam das Esszimmer und starrte entgeistert die vielen Fotos ihrer Mutter an, die wild verstreut überall an den Wänden angebracht worden waren. „Und? Wie findest du es?“ sagte Mavis mit einem scharfen Blick, der kaum hätte eindeutiger sein können. Sie würde keinen Widerspruch dulden. „Ja… nicht übel.“ Penelope griff nach einem Bilderrahmen, der ein wenig schief hing, um ihn gerade zu rücken. „Fass das nicht an. Alles ist genau so, wie ich es haben will.“ „Ich wollte nicht…“, entschuldigte sich Penelope rasch. „Ich werde dann mal Abendbrot machen gehen.“ War die ganze Welt verrückt geworden, als sie kurz nicht aufgepasst hatte? Zuerst war Aidan Kendall in den Buchladen gekommen und hatte sie angesehen, als sei sie eine begehrenswerte Frau. Dann die Sache mit Mr. Smythe, von der Sheriff Parker ihnen erzählt hatte. Und jetzt kam sie nach Hause und musste feststellen, dass ihre sonst so ruhige Großmutter in ihrer Abwesenheit offenbar beschlossen hatte, das Haus in Schutt und Asche zu legen, anstatt wie üblich in ihrer YogaPosition zu verharren, bis man sie zum Essen rief. Apropos Essen. Penelope sah sich suchend in der Küche um, und als sie nicht fand, wonach sie Ausschau hielt, schaute sie in den Backofen. Nichts. Sie öffnete den Kühlschrank – ebenfalls Fehlanzeige. Außer einer halb vollen Limonadenflasche herrschte dort drinnen gähnende Leere. Wo war der Truthahn geblieben, den sie heute Morgen zum Auftauen aus dem Gefrierfach genommen hatte? Und der vorbereitete Salat? Selbst ihr hausgemachtes JoghurtDressing war verschwunden. Penelope schwante Böses. „Was hast du mit dem Abendessen gemacht?“ stellte sie Mavis zur Rede. „Weggeworfen“, antwortete diese lapidar und ließ den Hammer mit einem dumpfen Poltern vor sich auf die obere Trittfläche der Leiter fallen, auf der sie stand. „Du hast doch nicht etwa aufgehört, deine Tabletten zu nehmen?“ „Die sind auch in den Mülleimer geflogen.“ „Hast du heute überhaupt gefrühstückt? Oder wenigstens etwas zu Mittag
gegessen?“
„Keinen Hunger.“
„Wenn das so ist, dann sollte ich wahrscheinlich im Krankenhaus anrufen und
fragen, ob sie ein Bett für dich freihaben. Da wirst du nämlich landen, wenn du
so weitermachst.“ Penelope hielt inne. „Vorausgesetzt, du hast nicht auch das
Telefonkabel aus der Wand gerissen“, sagte sie sarkastisch.
Penelope schluckte hart, als sie den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer
Großmutter bemerkte.
„Ich rede nicht von der Psychiatrie“, fügte sie beschwichtigend hinzu.
Mavis verschränkte die Arme vor der Brust.
„Habe ich das gesagt?“
„Das brauchtest du nicht. Ich kenne diesen Blick.“
„Ach, Popi.“ Mavis seufzte. „Hast du es denn nicht manchmal auch einfach satt?“
Es war lange her, seit Mavis sie das letzte Mal bei ihrem Kosenamen genannt
hatte. Penelope spürte, wie ihr Ärger verpuffte und stattdessen die Liebe, die sie
für ihre alte Großmama empfand, in ihr Herz zurückkehrte.
„Ich meine diesen ganzen ewig gleichen Trott“, fuhr Mavis fort. „Wir stehen jeden
Tag um dieselbe Zeit auf, essen um dieselbe Zeit, alles ist so öde und eintönig.“
„Dann lass uns das ändern und mal etwas Neues tun“, schlug Penelope vor.
Mavis hob den Hammer wieder auf, und für einen Moment sah es so aus, als
wäre sie in Begriff, damit auf irgendetwas einzuschlagen.
„Kann ich nicht einmal einen Nervenzusammenbruch bekommen, ohne dass du
mir mit deiner vermaledeiten Logik kommst?“
Penelope lächelte.
„Nein.“
Mavis nahm einen Nagel, schlug ihn kraftvoll in die Wand und hängte das letzte
Bild ihrer Tochter auf.
„So, geschafft“, sagte sie zufrieden.
Penelope rollte mit den Augen und überlegte, wie groß die Spur der Verwüstung
wohl noch werden würde, die sie wieder in Ordnung bringen musste, sobald
Mavis ihre Phase überwunden hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sie aus
heiterem Himmel auf eine Idee kam, die sogar Penelope seltsam erschien, und
sich bei deren Umsetzung von nichts und niemandem abhalten ließ.
Vor ungefähr einem Jahr hatte sie im Garten zwischen den Maisbeeten Marihuana
angepflanzt, fest entschlossen, den vielen chronisch Schmerzkranken im Land
das zu geben, was ihnen das Gesundheitssystem verweigerte. Dass Mavis
daraufhin in Untersuchungshaft landete, hatte Penelope nicht verhindern können,
aber zumindest wurde die nachfolgende Anklage fallen gelassen.
„Hör zu, ich werde jetzt rüber in die Stadt gehen und einkaufen. Was würdest du
gern haben?“
„Einen Mann.“
„Was?“
„Hör auf, mich hinter meinem Rücken anzustarren, Fräulein. Ich merke das.“
„Wo soll ich deiner Meinung nach dann hinschauen?“
„Vielleicht in den Spiegel“, sagte Mavis, ohne sich umzudrehen. „Du und ich, wir
werden nicht jünger. Heute Morgen habe ich ein komisches Geräusch gehört. Ich
hätte schwören können, es war die Zeit, wie sie verrinnt.“
„Wohl eher dein Herzschrittmacher.“
„Mach dich nur lustig. Ich weiß, wovon ich rede.“
„Sagst du mir jetzt endlich, was ich dir mitbringen soll?“
„Das habe ich doch schon.“
„Wenn du denkst, ich gehe in den Gemischtwarenladen und entführe den alten
Jake für dich, vergiss es. Kommt nicht in Frage.“ Natürlich hatte Penelope das scherzhaft gemeint. Umso mehr erstaunte es sie, dass Mavis ein nachdenkliches Gesicht machte, so als ob sie sich fragte, warum sie noch nicht selbst darauf gekommen war. Penelope ging ohne ein weiteres Wort in den Flur, holte Max’ Leine und marschierte in Richtung Stadt. Sie hoffte bloß, dass sie bei ihrer Rückkehr nicht nur noch einen Haufen Schutt anstatt eines Hauses vorfinden würde. Einige Zeit später, es konnten Minuten oder auch Stunden sein, stand Penelope auf der alten Holzbrücke am Ende des Waldweges, der nach Old Orchard führte, und schaute versonnen zu, wie das Wasser unter ihr vorbeirauschte. Warum gab es eigentlich immer wieder diese Momente, in denen man nicht verstehen konnte, wo der Sinn hinter all dem Ganzen steckte? Max hatte sich zu ihren Füßen zusammengerollt und die Schnauze auf eine Pfote gebettet. Fast schien es, als würde auch er über dieses Rätsel nachgrübeln. Gestern Nacht hatte Penelope die Konstellation der Sterne am Himmel studiert und versucht, daraus einen Hinweis auf die Zukunft zu entnehmen. Das tat sie immer, wenn es nicht zu bewölkt war. Aber nichts dort oben hatte darauf hingedeutet, was heute passiert war. Weder auf Mavis’ Kurzschlusshandlung noch die Auswirkungen, die Aidans flüchtige Berührung im Buchladen auf Penelopes Gefühlswelt haben würde. Nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sie in dieser Sekunde hier auf dieser Brücke stehen und sich den Kopf darüber zerbrechen würde, ob ihr Leben vielleicht anders verlaufen wäre, wenn ihre Mutter sich nicht umgebracht hätte. Wenn sie nicht von eben dieser Brücke gesprungen wäre, als Penelope gerade mal sechs Jahre alt gewesen war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie schlang unwillkürlich die Arme um ihre Schultern. „Kalt?“ Sie blickte auf. Aidan stand neben ihr. Er starrte ebenfalls gedankenverloren in den Fluss, der in der Dämmerung fast schwarz und irgendwie unheimlich aussah. „Nein, ich…“ Penelope lächelte verlegen. „Es ist nur, Sie sind wahrscheinlich die letzte Person, die ich so spät hier draußen erwartet hätte.“ Aidan zuckte mit den Achseln. Er hatte die Unterarme auf das Brückengeländer gestützt und seine großen, kräftigen Hände gefaltet. Penelope schielte aus dem Augenwinkel zu ihm hinüber. Sie dachte an damals zurück, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er war die Hauptstraße an ihrem Laden vorbeigeschlendert. So, wie er es inzwischen jeden Morgen tat. Doch an diesem Tag hatte er irgendwie bedrückt und zugleich getrieben gewirkt. Sie erinnerte sich deshalb so deutlich daran, weil es genau derselbe Ausdruck wie damals war, den sie jetzt auf seinem Gesicht wieder erkannte. „Ich habe nach dem Essen noch einen Spaziergang gemacht und wohl die Zeit vergessen“, erklärte Aidan, ohne den Kopf zu heben. Schau mich an, bat Penelope stumm. „Haben Sie etwas gesagt?“ Als Aidan sie nun tatsächlich ansah, fühlte sie bei seinem Anblick einen schmerzhaften Stich der Bestürzung in ihrem Herzen. Das fröhliche Glitzern in seinen Augen war verschwunden und an seine Stelle eine tiefe Leere getreten. „Nein, ich habe nichts gesagt“, flüsterte Penelope. Dies war bereits das zweite Mal an einem Tag gewesen, dass es so schien, als könne er ihre Gedanken hören. Sie wandte sich wieder dem tosenden Fluss zu und schob eine Strähne ihrer langen Haare hinters Ohr. „Wissen Sie, meine Mutter hat immer behauptet, es gibt zwar nur sehr wenige Menschen auf der Welt, die Gedanken lesen können,
aber es gibt sie.“
Die genauen Worte ihrer Mutter hatten etwas anders gelautet, denn in
Wirklichkeit war sie davon überzeugt gewesen, Penelope würde eines Tages
einem Mann begegnen, der ihre Gedanken lesen konnte, und er sei derjenige,
mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen solle. Aber diesen Teil verschwieg
sie Aidan gegenüber lieber. In Old Orchard hielten sie sowieso die meisten Leute
für eigenartig, wenn nicht sogar verrückt. Sie könnte es nicht ertragen, wenn er
dasselbe von ihr dachte.
„Merkwürdig“, sagte Aidan leise. „Eine andere Frau hat mir das schon einmal
gesagt.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Aber das ist lange her.“
Penelope fröstelte abermals, dann richtete sie sich auf und sah auf ihre Uhr. Es
war schon kurz nach sieben.
„Oh Gott, so spät schon“, sagte sie überrascht.
„Haben Sie eine Verabredung?“
Penelope lachte, hörte jedoch abrupt auf, als ihr klar wurde, dass seine Frage
ernst gemeint war.
„Nein, ich bin nicht verabredet. Ich… wollte bloß noch zum Gemischtwarenladen,
ein paar Sachen fürs Abendbrot holen.“ Und einen Mann für Großmama, rief sie
sich ins Gedächtnis.
„Wenn es Ihnen recht ist, begleite ich Sie“, schlug Aidan vor.
„Okay.“
Aidan beobachtete Penelope von der Seite, wie sie gemächlich und schweigend
neben ihm her ging. Seit vielen Jahren hatte er niemanden mehr getroffen, der
nicht der Ansicht war, ununterbrochen Konversation betreiben zu müssen.
„Was ist?“
Sie hatte seinen Blick also bemerkt. Und er machte sie nervös, nach der Art zu
urteilen, wie sie unbewusst mit ihrem Lederarmband spielte.
Aidan schüttelte den Kopf und lächelte.
„Nichts. Ich dachte nur gerade, dass Sie mir noch immer keine Antwort auf
meine Frage von heute früh gegeben haben.“
„Welche Frage?“
„Hm?“
„Welche Frage?“
„Oh, richtig. Ob Sie mit mir zum nächsten Treffen des Festausschusses gehen. Es
ist morgen Abend.“
Penelope schlug die Augen nieder.
„Wie ich schon sagte“, fuhr Aidan unbeirrt fort, „ich könnte ein bisschen
Rückendeckung gebrauchen. Und es würde mich außerdem sehr freuen, wenn
Sie… ist alles in Ordnung?“
Sie verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.
„Sicher, was sollte denn sein? Ich dachte nur gerade…“
Was hatte sie gedacht?
Aidan wunderte sich selbst darüber, wie brennend es ihn interessierte, was in ihr
vorging. Wie sehr er an ihr interessiert war. Er wollte alles über sie erfahren. Was
sie bewegte, was sie fühlte, was sie dachte. All die Dinge, die sie immer
zurückhielt und von denen er trotzdem spürte, dass sie da waren. Tief in ihrem
Inneren vergraben.
Inzwischen hatten sie die Hauptstraße fast erreicht, und Penelope blieb am Ende
des Waldweges stehen. Sie drehte sich zu Aidan, sah ihn an und zögerte, als ihre
Blicke sich trafen.
Was sieht sie? dachte Aidan. Was bringt sie so durcheinander?
Ohne zu überlegen, streckte er die Hände aus, umschloss sanft ihr Gesicht und
strich vorsichtig mit den Daumen über ihr Kinn. Wie weich ihre Haut war.
Sie blinzelte, scheu, aber auch gespannt und fuhr sich unwillkürlich mit der
Zunge über die trockenen Lippen.
Volle, sinnliche Lippen, die Aidan plötzlich um alles in der Welt küssen wollte.
Und im nächsten Augenblick, bevor er selbst wusste, was geschah, tat er genau
das. Wärme durchflutete ihn, ein wohliges Gefühl, das er so lange vermisst hatte.
Doch was war das? Er öffnete die Augen und sah, wie Penelope ihn durch die
halb geschlossenen Wimpern beobachtete. Er las Überraschung in ihren großen,
dunklen Augen. Aber da war noch mehr. Sehnsucht. Ein Verlangen, wie er es
schön seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte, ergriff Besitz von ihm. Es war
so stark, dass ihm ganz schwindelig wurde.
Jäh wich er zurück, obwohl eine Stimme in seinem Inneren ihn davon abzuhalten
versuchte.
Was tat er hier?
Er hatte sich geschworen, niemanden in seine Misere hineinzuziehen. Ganz
besonders jetzt nicht, wo alles, was er sich so mühsam aufgebaut hatte, wieder
einmal zusammenzubrechen drohte.
„Das war schön“, flüsterte Penelope.
Aidan zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen, so tief war er in seine
Gedanken versunken gewesen. Wie lange sie sich so reglos gegenübergestanden
hatte, konnte er nicht sagen. Es kam ihm vor wie Stunden.
Sie lächelte nervös und schaute erneut auf ihre Uhr.
„Ich gehe jetzt wohl besser. Der Laden macht gleich zu.“
Aidan lächelte ebenfalls.
„Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“
Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, hätte er sich am liebsten dafür
geohrfeigt. Warum setzte er sie so unter Druck, etwas zu tun, was sie ganz
offensichtlich nicht tun wollte?
„Ich kann nicht kommen“, erwiderte sie schlicht.
„Okay“, gab Aidan sich zufrieden. Penelope nickte und wandte sich zum Gehen,
drehte sich aber noch einmal um, als Aidan sie sanft am Arm berührte.
„Ich…“, begann er. Für einen Augenblick waren das entfernte Brummen des
Verkehrs und Max’ leises Hecheln die einzigen Geräusche, die zu hören waren.
„Ich bin nicht der, für den du mich hältst, Penelope.“
Penelope seufzte.
„Im Augenblick weiß ich weder, wer in dieser Stadt wer ist, noch sonst
irgendetwas.“
4. KAPITEL Penelope lag noch bis spät in die Nacht wach und warf sich unruhig in dem großen Doppelbett hin und her, das einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie dachte über Aidan nach und das, was er gesagt hatte. Und, sogar mehr noch, über ihre eigenen Worte. Sie wusste sowieso nicht mehr, wer in dieser Stadt wer war. Woher kam dieses Gefühl nur? Penelope drehte sich auf die linke Seite und versuchte, das unablässige Klopfen zu ignorieren, das aus der Diele in ihr Schlafzimmer drang. Sie hatte Spinat Lasagne aus Jakes Laden mitgebracht, aber Mavis hatte nicht einen Bissen davon angerührt. Zu beschäftigt mit ihren Verschönerungsarbeiten. Penelope seufzte frustriert. Das Leben in Old Orchard war noch nie leicht für sie gewesen. Aber es gab nichts, was sie daran hätte ändern können, also warum wie Don Quichotte gegen Windmühlenflügel anrennen? Ihre Mutter hatte genau denselben aussichtslosen Kampf geführt… nur um ihn schließlich auf tragische Weise zu verlieren. Schritte auf dem Flur, gefolgt von dem Knallen einer Tür, die zugeschlagen wurde, kündigten das Ende der Ruhestörung durch Mavis’ nächtliche Aktivitäten an. Penelope ließ erleichtert den Kopf in ihr Kissen sinken. Vielleicht, nur vielleicht, würde sie heute doch noch ein wenig Schlaf bekommen. Sie rollte sich auf die andere Seite und starrte durch das offene Fenster in die Dunkelheit hinaus. Die weißen Vorhänge flatterten sacht in der kühlen Brise, was eine geisterhafte Atmosphäre erzeugte. Penelope spürte, wie ein Tropfen Schweiß langsam ihr Dekollete hinabrann. Sie schluckte und erschrak in derselben Sekunde über das Geräusch, das ihre Kehle dabei machte. Hatte sie sich überhaupt schon einmal selbst schlucken hören? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Oder daran, dass sie jemals zuvor ein so geschärftes Bewusstsein für ihren eigenen Körper insgesamt gehabt hätte. Aber jetzt war es so. Seit Aidan sie vorhin geküsst hatte. Ob er wohl auch Schwierigkeiten hatte einzuschlafen? Dachte er an sie, so wie sie an ihn dachte? Nie zuvor hatte sie etwas Vergleichbares erlebt noch empfunden. Als seien all ihre Sinne geschärft, registrierte sie jede noch so winzige Emotion um ein Vielfaches stärker als gewöhnlich. Und noch dazu alle auf einmal. Ihr war benebelt zu Mute, und gleichzeitig war sie erfüllt von Glück und Ausgelassenheit und einer große Portion… Angst. Angst davor, dass die Gefühle, die sich in ihr entwickelten, sich nicht ignorieren oder wegerklären ließen. Sollte sie etwa letztlich doch noch einen Vorgeschmack darauf bekommen, was Liebe war? Nicht, dass sie und Aidan ein Liebespaar waren. Sie fragte sich ohnehin, was er ausgerechnet von ihr wollen könnte. Er, der angesehene Lehrer an einer der besten Schulen von Old Orchard und Umgebung. Warum sollte so jemand Interesse an ihr haben, der blassen, dürren Bohnenstange, die man für eine Hexe hielt, weil sie mit ihrer alten Großmutter in einem noch älteren, finsteren Haus am Waldrand wohnte? Sie war eine Außenseiterin. Und das würde sie auch für immer bleiben. Das Bettlaken raschelte leise, als Penelope sich abermals umdrehte. Sie musste aufhören, an Aidan Kendall zu denken, und endlich schlafen. Irgendetwas sagte ihr, dass sie bald sehr viel Kraft brauchen würde. Am anderen Ende der Stadt lag Aidan in seinem Bett und hing seinen Gedanken
nach. Der Raum wurde ausschließlich vom fahlen Licht des Bildschirms erhellt, welcher an den Computer angeschlossen war, der noch immer nach auffälligen Zeitungsartikeln suchte. Ein leises Piepsen. Aidan hob den Kopf, schlug die Decke beiseite, tapste barfuß über den kühlen Parkettboden zu dem flachen Tischchen, auf dem das Gerät stand, und bückte sich, um das Suchergebnis zu lesen. Eine Lokalzeitung aus dem Nachbarort hatte soeben seine neuesten Nachrichten veröffentlicht. Darunter befand sich ein Artikel über den gestrigen Vorfall in Smythes Tankstelle. Aber er lieferte nicht mehr Informationen als das, was Sheriff Parker hatte durchblicken lassen. Aidan runzelte resigniert die Stirn. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar. Dann ging er zurück zum Bett und ließ sich darauf sinken. Die alten Metallfedern quietschten leise. Natürlich konnte Aidan nicht ausschließlich die bösen Vorahnungen, die ihn quälten, für seine innere Unruhe verantwortlich machen. Penelope hatte mindestens ebenso viel damit zu tun. Er schloss die Augen und dachte an den Kuss, den sie ausgetauscht hatten, und daran, wie süß ihre Lippen geschmeckt hatten. Da war sie wieder – die Wärme, die seinen ganzen Körper durchströmte. Aidan seufzte tief und tastete im Halbdunkel nach dem Schalter der Nachttischlampe. Er sah sich in dem Zimmer um, das während der vergangenen zwölf Monate zu seinem Zuhause geworden war. Ölgemälde in goldgefassten Bilderrahmen zierten die Wände, die zarten blütenweißen Gardinen hatte Mrs. O’Malley selbst genäht. Der weiße flauschige Teppich passte hervorragend zu der PatchworkTagesdecke, die über dem Fußteil des großen Eichenbettes hing. Außer seiner Kleidung und ein paar anderen persönlichen Gegenständen gab es hier nicht viel, das Aidan sein Eigentum nennen konnte. Es machte ihn traurig, dass es nicht besonders lange dauern würde, bis er seine Sachen gepackt hatte. Obwohl er doch genau aus diesem Grund von Anfang an darauf geachtet hatte, möglichst wenige Dinge anzusammeln, die er mitnehmen wollte, falls er schnell verschwinden musste. So wie jetzt. Er stand auf, öffnete den Wandschrank und holte seinen ledernen Reisekoffer heraus. Zehn Minuten später hatte er alles Nötige darin verstaut. Er fühlte sich leer und unendlich einsam. Vielleicht lag es daran, dass die Bewohner von Old Orchard für ihn zu guten Freunden geworden waren. Und Mrs. O’Malley zu seiner Familie. Und Penelope… Aidan schob den Gedanken schnell von sich. Er hätte sie niemals küssen dürfen. Ihr keine falschen Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft machen, die nicht mehr als eine Illusion war. Wenn er nicht diesen unverzeihlichen Fehler begangen hätte, würde Penelope sein plötzliches Verschwinden wahrscheinlich so verstehen wie jeder andere hier. Als mysteriös, aber nichts, was die Gemeinschaft in ihren Grundfesten erschütterte. Aber dieser Kuss, nun ja, dieser Kuss hatte alles viel komplizierter gemacht, als es ohnehin schon war. Das erste Mal, seit Aidan Frau und Kind verloren hatte, hatte es jemand geschafft, sein Herz zu berühren. Und während er wusste, dass er dieser Person durch seine Flucht Schmerz zufügte und ihm das bitter Leid tat, so war der andere, der selbstsüchtige Teil von ihm doch froh über das flüchtige Gefühl der Verbundenheit, das er mit ihr geteilt hatte. Die endlos erscheinenden Monate des Alleinseins, die ihm von nun an bevorstehen würden, wurden auf diese Weise ein kleines bisschen erträglicher. Denn wenn ihm auch sonst nichts blieb, zumindest konnte er sich an dieses
Erlebnis erinnern und hoffen. Darauf, dass er eines fernen Tages wieder so etwas
wie ein normales Leben führen könnte.
Ein gedämpftes Geräusch entwich Penelope, halb Seufzen, halb Stöhnen. Die
Schleier, die ihre Sicht vernebelt hatten, lüfteten sich langsam, und dann sah sie
Aidan vor sich, der er ihr ein liebevolles Lächeln schenkte.
Ohne zu zögern, streckte sie die Hände aus, um ihn zu berühren, denn aus
irgendeinem Grund wusste sie, dass dies ein Traum war und sie deshalb für
diesen kurzen kostbaren Augenblick alles tun konnte, was sie wollte.
„Steh auf“, sagte eine Stimme, die wie aus weiter Ferne zu kommen schien.
Penelope versuchte, sie zu überhören.
Etwas rumpelte unter ihr.
Natürlich, sie hatte schon davon gehört, dass einige Leute das Gefühl hatten, der
Boden würde anfangen zu beben, wenn sie den Menschen küssten, den sie
liebten.
Das Rumpeln wurde stärker.
Sie fuhr hoch und erschrak fast zu Tode, als sie direkt in Mavis’ Gesicht blickte,
die sich über sie gebeugt hatte und sie mit funkelnden Augen anstarrte.
„Steh auf, hab ich gesagt!“
Penelope fiel förmlich aus dem Bett und riss dabei das Bettlaken mit sich, an
dessen anderem Ende Mavis zerrte. Die alte Frau stolperte nach vorn und wäre
um ein Haar quer über die Matratze lang hingeschlagen.
„Was soll denn das? Pass doch auf!“ schimpfte sie.
„Du fragst mich, was das soll?“ empörte Penelope sich. „Wie kommst du dazu,
mein Bett abziehen zu wollen, während ich noch schlafe. Obendrein zu einer so
unchristlichen Zeit wie…“ Sie schaute auf den Radiowecker. „Neun Uhr?“
Penelope griff nach ihrer Armbanduhr. „Ist es wirklich schon neun?“
„Warum fragst du mich das? Gibt es überhaupt so etwas wie die Zeit? Und wenn
ja, warum sollte man sie messen wollen?“
Mavis schnappte sich das Laken, klemmte es sich unter den Arm und ging auf die
Tür zu. Penelope versperrte ihr den Weg.
„Was ist los mit dir?“
„Mit mir?“ konterte Mavis und versuchte, um ihre Enkelin herumzugehen. „Ich
bin nicht diejenige, die noch nie eine Verabredung hatte.“
Penelope öffnete und schloss den Mund einige Male, bevor sie endlich ihre
Stimme wieder fand.
„Was hat das denn damit zu tun?“ fragte sie empört.
„Alles hat mit allem zu tun“, erwiderte Mavis tiefgründig und startete einen
neuen Versuch, sich an Penelope vorbeizudrücken. Doch diese stoppte sie wieder
und langte nach dem Betttuch.
„Gib mir das.“
„Das tue ich nicht.“
Minutenlang standen die beiden Frauen sich schweigend gegenüber und blickten
sich fest in die Augen, bis Penelope schließlich nachgab.
„Dann sag mir wenigstens, was du damit vorhast.“
„Waschen natürlich, was denn sonst“, erklärte Mavis achselzuckend.
Penelope glaubte ihr nicht eine Sekunde, trat aber trotzdem zur Seite.
„Reingelegt“, triumphierte Mavis, sobald sie den Flur erreicht hatte. „Ich
verbrenne den Lumpen.“
„Was?“
Penelope raste hinter ihrer für ihr Alter erstaunlich flinken Großmutter her, aber
auf halbem Weg stieß sie mit Max zusammen, der just in diesem Moment aus
dem Esszimmer gerannt kam. Du liebe Güte. Was tat der Hund im Haus? Mavis
konnte es nicht ausstehen, wenn er drinnen war. „Großmama, hast du Max…“ Penelope blieben die Worte im Hals stecken, als ihr plötzlich klar wurde, wie das Tier ins Haus gelangt war. Die Eingangstüren waren herausgerissen worden. Alle beide, sowohl Vorder als auch Hintertür. Penelope stand in der Mitte des Flures und starrte in den Garten hinaus, wo Mavis das Bettlaken in eine verbeulte, rostige Öltonne stopfte und sich dann auf die Suche nach dem Grillanzünder machte. Das hier konnte doch nur ein Traum sein. Aber wenn es einer war, dann eindeutig ein Albtraum. Penelope sah auf die Armbanduhr, die sie noch immer in der Hand hielt. Sie hatte keine Zeit für dieses Theater. Nicht jetzt. Sie marschierte in den Garten. „Großmama, hör auf damit.“ Mavis warf ihr einen verständnislosen Blick zu, der ihr deutlich signalisierte, dass sie mit Appellen an den gesunden Menschenverstand nicht weiterkommen würde. „Ach, vergiss es. Wir reden später darüber. Ich muss los.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt, riss im Vorbeigehen Max’ Leine von einem Kleiderhaken an der Wand und blieb abrupt stehen, als ihr ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf schoss. Mit fliegenden Fingern öffnete sie die Schublade des Garderobenschrankes. Zufrieden atmete sie auf, als sie das dicke Schlüsselbund ertastete, das ganz hinten zwischen allerlei Plunder lag. Sie lief damit zurück zu ihrem Schlafzimmer und stellte erleichtert fest, dass die Tür nur von innen aus den Angeln gehoben werden konnte. Eilig probierte sie alle Schlüssel aus, bis sie den richtigen gefunden hatte. In dieser Sache wollte sie kein Risiko eingehen. Am Ende kam Mavis noch auf die Idee, außer ihrem Bettlaken auch den Rest ihrer Dinge zu verbrennen. Als sie sich umdrehte, stolperte sie beinahe über Max, der mit heraushängender Zunge hinter ihr saß. „Raus!“ brüllte sie. Zu ihrer Überraschung zog Max den Schwanz ein, jaulte kurz und trollte sich dann nach draußen. Wenn es doch nur auch so leicht wäre, ihre Großmutter wieder zur Vernunft zu bringen.
5. KAPITEL An diesem Abend, gegen sieben Uhr, rief Aidan die Damen des Festausschusses zur Ruhe, indem er schlicht seine Hand hob und sich kurz, aber vernehmlich räusperte. Da er der einzige Mann in der Gruppe war, reichte diese Geste normalerweise aus. So auch dieses Mal. Diejenigen von den fünfzehn Frauen, die nicht bereits saßen, huschten schnell auf ihre Stühle, die in der Turnhalle der High School aufgestellt worden waren. Aidan warf einen Blick auf die Notizen, die vor ihm auf dem provisorischen Rednerpult lagen. Aber es waren nicht die bisher zusammengetragenen Vorschläge zur passenden Dekoration des Stadtkerns, über die er nachdachte. Vielmehr beschäftigte ihn der Gedanke an den Koffer, der fix und fertig gepackt in seinem Zimmer stand, den Busfahrplan in seiner Tasche und die Sorge darum, wie es weitergehen sollte, nachdem er Old Orchard heute Nacht verlassen haben würde. Er hatte einen langen Brief an Mrs. O’Malley geschrieben, in dem er ihr für die Herzlichkeit dankte, mit der sie ihn stets behandelt hatte, und sie für ihre hervorragenden Kochkünste lobte. Außerdem hatte er einige Geldscheine beigelegt, damit sie ihren Traum verwirklichen und nach Irland reisen konnte. „Mr. Kendall?“ sagte Mrs. Noonan zu seiner Linken. „Alles in Ordnung?“ Aidan lächelte und hoffte, niemand möge bemerken, wie schwer ihm das fiel. „Ja, natürlich“, antwortete er. Eine glatte Lüge. In Wirklichkeit zweifelte er daran, dass in seinem Leben jemals irgendetwas wieder in Ordnung sein würde. „Also dann“, begann er. „Fangen wir an. Wie Sie alle wissen, geht es immer noch darum, ob wir die rosa Girlanden verwenden, die Jeanine von der letzten Tanzveranstaltung aufgehoben hat, oder…“ Und schon ging es wieder los, das heillose Durcheinander. Wie auf Kommando setzte eine erregte Diskussion ein, und die Fronten hatten sich innerhalb von Minuten so verhärtet, dass eine Einigung unmöglich erschien. So wird das nie etwas, dachte Aidan frustriert. „Ich schlage vor, wir stimmen ab“, sagte er laut. Das Geschnatter hörte abrupt auf, und alle Anwesenden drehten die Köpfe zu ihm. Doch er hielt den verblüfften Blicken stand und fuhr unbeirrt fort. „Zuerst alle, die für die Girlanden sind.“ Im Nu Schossen acht Hände in die Höhe. „Okay.“ Aidan malte acht Striche auf ein Blatt Papier. „Und jetzt die, die dagegen sind“, sagte er und hob dabei selbst die Hand. Die restlichen sieben Frauen taten es ihm nach. Wunderbar. Ein Unentschieden. Das hatte gerade noch gefehlt. Zu allem Überfluss entbrannte die Debatte auch noch unverzüglich aufs Neue. Plötzlich wurde die Tür am anderen Ende der Halle von außen geöffnet, und gleißendes Sonnenlicht fiel in den Raum, so dass es unmöglich war, die Person zu erkennen, die gerade eingetreten war. Als die Tür wieder zufiel, verstummte die Runde. Alle starrten die junge Frau in dem matt schimmernden hellblauen Kleid an. Ihre pechschwarzen Haare waren zu einem schlichten Zopf zurückgebunden, und ihre Füße steckten in einfachen Sandalen. Penelope. „Was macht die denn hier?“ erboste sich Elva Mollenkopf, als ihr klar wurde, wer der Neuankömmling war. Penelope rührte sich nicht. Wie festgewachsen blieb sie stehen, die Augen auf den polierten Boden gerichtet. Seit ihrer eigenen grauenhaften HighSchoolZeit hatte sie keine Schule mehr betreten. Und jetzt, da jeder sie anstarrte, als sei sie ein Gespenst, wusste sie auch wieder sehr genau, warum.
Sie konnte sich selbst kaum erklären, wie sie überhaupt hierher gekommen war.
In der einen Minute war sie noch zu Hause gewesen und wickelte das Sandwich
in Frischhaltefolie, das Mavis nicht hatte essen wollen, und in der nächsten hatte
sie sich vor dem Eingang zur Turnhalle wieder gefunden.
Aidan kam auf sie zu und streckte ihr die Hand hin.
„Miss Moon, wie schön, dass Sie es doch noch geschafft haben“, begrüßte er sie
lächelnd. Sie sah ihn an, und in diesem Moment begriff sie, was sie zu diesem
Treffen getrieben hatte. Sie wollte ihn wieder sehen. Musste ihn wieder sehen.
„Kommen Sie“, sagte Aidan, bot ihr seinen Arm an und führte sie zu dem
Halbkreis aus Stühlen an der Stirnseite des Raumes. Der einzige freie Platz war
der neben Elva. „Darf ich?“ fragte Aidan und schnappte sich, ohne eine Antwort
abzuwarten, den freien Stuhl. Er stellte ihn direkt neben seinen eigenen und
bedeutete Penelope sich zu setzen. So verrückt das auch war, sie glaubte immer
mehr daran, dass er tatsächlich Gedanken lesen konnte.
„Danke“, wisperte sie und schaute ein wenig schüchtern in die Gesichter der
anderen Frauen, die sie noch immer neugierig beäugten.
„Meine Damen, Sie kennen Miss Moon bereits, nicht wahr? Ich habe sie gebeten,
an unserer Versammlung teilzunehmen, weil ich glaube, ein bisschen frischer
Wind kann uns allen nicht schaden“, eröffnete Aidan.
„Die und frischer Wind“, murmelte Elva.
„Ja, Mrs. Mollenkopf?“ fragte Aidan. „Haben Sie etwas gesagt?“
„Ich sagte, ich wüsste nicht, warum sie es besser können sollte als wir.“
Aidans Tonfall blieb unverändert freundlich, als er antwortete.
„Das hat auch niemand behauptet. Aber ich denke, wir sollten für alle Vorschläge
offen sein.“
Wie machte er das nur? Selbst in der notorischen Giftspritze Elva schien er etwas
Gutes entdecken zu können, das sonst niemand sah, und anstatt sie rigoros in
ihre Schranken zu weisen, zog er es vor, ihr auf liebenswürdige Art und Weise
den Wind aus den Segeln zu nehmen, ohne sie dabei zu verletzen.
Die Frau zu Elvas Rechten fasste sich schließlich ein Herz.
„Penelope, vielleicht erzählen Sie uns einfach Ihre Ideen?“ bat sie.
„Ja, genau“, sagte Jeanine sarkastisch. „Hören wir uns Miss Moons
bahnbrechende Ideen an, auf die wir nicht gekommen sind.“
„Jeanine, bitte“, griff Aidan ein.
„Nein, nein. Ist schon gut. Deshalb bin ich ja hier.“ Penelope schlug die Beine
übereinander und umfasste ihr Knie. „Ich habe mir überlegt, man könnte die
Fontäne am Lucas Circle im Stil von Ein Sommernachtstraum schmücken.“
Stille.
Die Anwesenden runzelten die Stirn, bis auf Mrs. Noonan, die verzückt in die
Hände klatschte.
„Oh, Shakespeare“, sagte sie. „Ich liebe Shakespeare.“
Penelope sah Aidan erstaunt an. Er zwinkerte ihr zu.
„Ich auch“, verkündete er.
„Na ja, so schlecht ist der Einfall vielleicht gar nicht“, stimmte eine weitere Frau
zu, und einige andere nickten.
„Nun“, sagte Aidan. „Es scheint mir, Sie sind also damit einverstanden, dass Miss
Moon von nun an Mitglied des Ausschusses ist, richtig?“
Das hatte Penelope nie beabsichtigt. Sie war nur Aidan zuliebe seiner Einladung
nachgekommen.
„Penelope?“ fragte er. „Wie sieht es aus? Machen Sie mit?“
Sie schaute wieder auf den Boden, dann hob sie den Kopf und lächelte.
„Sehr gern.“
Zwei Stunden später hielt Aidan Mrs. Noonan und Penelope die Tür auf. Sie
waren die Letzten, die die Halle verließen. Als Aidan abschloss, verschwand
gerade die Sonne hinter den entfernten westlichsten Gebäuden Old Orchards.
Geknickt steckte er den Schlüssel in seine Jackentasche. Morgen früh würde der
Schulleiter ihn in einem Umschlag auf seinem Schreibtisch finden, zusammen mit
Aidans Kündigung.
Mrs. Noonan atmete tief ein. Die frische, kühle Luft war herrlich, besonders nach
der drückenden Schwüle des Tages.
„Also, dann will ich mal los. Das war heute eine richtig tolle Versammlung, Aidan.
Wir sehen uns nächste Woche.“
„Kommen Sie gut nach Hause, Mrs. N“, sagte Aidan, ohne ihr ins Gesicht zu
schauen. Er konnte es nicht.
„Mrs. N“, lachte sie. „So hat mich seit Ewigkeiten niemand mehr genannt.“ Sie
winkte Penelope zu und machte sich dann auf den Weg.
Aidan sah ihr gedankenverloren nach.
„Was ist?“ fragte Penelope.
„Nichts, nichts. Soll ich dich nach Hause bringen?“
Ihr Lächeln, wenngleich ein wenig zaghaft, machte sie noch schöner, als sie es
sowieso schon war.
„Das wäre wohl zu viel verlangt. Es ist ziemlich weit.“ Sie löste Max’ Leine von
der Straßenlaterne, an den sie ihn angebunden hatte. „Aber ich würde mich
freuen, wenn du ein kleines Stück mitkämst.“
Aidan bot ihr so selbstverständlich seinen Arm an, als seien sie schon jahrelang
enge Freunde. Er ließ sich nicht anmerken, welche Wirkung ihre Berührung auf
ihn ausübte, als sie sich zögernd bei ihm unterhakte. Ihr seidiges Haar roch ganz
leicht nach Lavendel. Am liebsten hätte er das Kinn an ihre Stirn gelegt, die
Augen geschlossen und nichts weiter getan, als diesen Duft zu genießen.
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her und sahen zu, wie das fahle
Blau des Himmels langsam in ein sattes Rotviolett überging.
„Das erinnert mich an die Sommerabende auf Rhode Island“, sagte Aidan
wehmütig.
„Ich dachte, du bist aus Oregon.“
Zwölf Monate lang hatte Aidan seine wahre Herkunft geheim gehalten. Bis jetzt.
„Ja, dort bin ich aufgewachsen“, log er und hasste sich dafür.
„Ich bin nie weiter als fünf Meilen aus Old Orchard herausgekommen“, gab
Penelope zu. „Erzähl mir von Rhode Island, ja?“
Warum fragte sie nicht nach Oregon?
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Im Landesinneren ist es eigentlich genauso wie
hier.“ Aidan deutete auf die von hohen Bäumen eingefasste Straße vor ihnen.
„Außer dem Geruch des Meeres überall.“
„Es muss wunderschön sein im Herbst“, überlegte Penelope.
„Ja, stimmt.“
Max bellte laut und zerrte aufgeregt an der Leine, wodurch er Penelope ruckartig
von Aidan fortriss.
„Max“, schimpfte sie.
„Er hat Spot gewittert“, sagte Aidan. „Da hinten sitzt sie.“
Penelope schaffte es, den kläffenden Hund wieder unter Kontrolle zu bringen,
machte aber keine Anstalten, sich wieder bei Aidan einzuhaken. Er stopfte die
Hände in die Taschen seiner KhakiHose, um dem Drang zu widerstehen,
Penelope, die Max am Halsband festhielt, einfach den Arm um die Schulter zu
legen, bis sie an der reglos verharrenden Katze vorbei waren.
„Du bist viel herumgekommen?“ fragte sie dann.
„Das könnte man so sagen.“
„Und wo hat es dir am besten gefallen?“
Aidan drehte sich irritiert um und zog die Augenbrauen zusammen. Bildete er
sich das ein, oder folgte die Katze ihnen?
„Es wird gemunkelt, dass Spot immer bei den Menschen auftaucht, die Probleme
haben. Und wenn die gelöst sind, verschwindet sie wieder“, sagte Penelope
geheimnisvoll. „Wie ein Schatten.“ Sie lachte. „Außerdem heißt es, sie sei schon
hier, seit Old Orchard gegründet wurde.“
Aidan^grinste.
„Dann müsste sie aber schon steinalt sein. Du glaubst dieses Zeug doch nicht
etwa, oder?“
„Ach, die Leute in dieser Stadt reden über alles und jeden. Sogar über dich.“
Taten sie das?
„Und was sagen sie?“ wollte Aidan wissen.
„Um genau zu sein, Elva redet über dich. Sie findet es verdächtig, dass du
angeblich so wenig von dir erzählst.“
„Und du? Gibt es etwas, das du gern über mich wissen würdest?“
„Warst du schon mal verheiratet?“
Aidan war sich nicht sicher, welche Frage er erwartet hatte, aber es war ganz
bestimmt nicht diese gewesen.
„Ja.“
Sie blieben stehen, damit Max aus einer Pfütze trinken konnte, die sich in einem
Schlagloch in dem Feldweg gegenüber der Kirche gebildet hatte.
„Warum bist du es nicht mehr?“
Traurig sah Aidan zu Boden, die Hände in seinen Taschen zu Fäusten geballt. Er
schluckt hart.
„Meine Frau ist vor anderthalb Jahren ums Leben gekommen“, presste er kaum
hörbar hervor.
„Das… das tut mir Leid.“
Ein Satz, den wohl jeder andere auch gesagt hätte, wenn er von dem Tod einer
fremden Person erfuhr. Aber Penelope meinte es ernst, das spürte Aidan.
„Danke“, sagte er gerührt.
„Bist du deshalb aus Oregon fort?“
Er nickte.
„Das ist einer der Gründe.“
Der Weg machte eine Biegung und mündete bald in der zweispurigen
Schnellstraße, die aus Old Orchard hinausführte. Aidan und Penelope hielten sich
rechts und stapften durch das hohe Gras am Waldrand. Die Grillen hatten
begonnen zu zirpen, und es war inzwischen fast dunkel geworden.
„Kinder?“ fragte Penelope leise.
Aidan schwieg lange. Als sie die Brücke überquerten, auf der sie sich am Tag
zuvor getroffen hatten, seufzte er tief.
„Ein Junge. Joshua“, sagte er.
Er hatte nicht vorgehabt, ihre Frage zu beantworten. Aber dann war der Name
seines Sohnes wie ein Echo in seinem Kopf aufgetaucht, und er musste ihn
einfach aussprechen.
„Er ist auch tot, nicht währ?“ flüsterte Penelope voller Mitgefühl.
Aidan starrte in die Dunkelheit. Erst jetzt bemerkte er, dass sie vor einem
ehemals weißen Zaun zum Stehen gekommen waren.
„Ja.“
„Das tut mir so Leid“, wiederholte Penelope. Sie beugte sich vor und gab ihm
einen Kuss auf die Wange, der so zart wie ein leichter Windhauch war.
„Popi? Bist du das?“ drang plötzlich eine heisere Stimme aus dem Haus, in dem
es eben noch mucksmäuschenstill gewesen war.
Sie zuckte zusammen und wich blitzschnell von ihm zurück, als hätte man sie
dabei ertappt, wie sie etwas Verbotenes tat.
„Deine Großmutter?“
Penelope nickte und vergaß dabei, dass Aidan es in der Finsternis wohl kaum
sehen konnte.
Ein kurzes Rumpeln, gefolgt von einem leisen Fluch, dann tauchte Mavis auf dem
Treppenabsatz auf und leuchtete den beiden mit einer Taschenlampe ins Gesicht.
„Ah, du hast mir einen Mann mitgebracht“, frohlockte sie, als sie Aidan
entdeckte. „Gutes Kind.“
6. KAPITEL Penelope wünschte, die Erde möge sich unter ihr auftun und sie verschlucken.
„Großmama!“ zischte sie beschämt.
„Guten Abend, Mrs. Moon“, sagte Aidan mit einem Anflug von Belustigung in der
Stimme.
„Lassen wir die Höflichkeiten“, wehrte Mavis ab. „Komm rein und lass dich mal
anschauen, mein Junge.“
Penelope musste hilflos zusehen, wie die alte Dame Aidan am Ellbogen packte
und ihn die Stufen zum Hauseingang hochzog.
„Großmutter, Mr. Kendall wollte gerade gehen.“
„Jetzt nicht mehr“, entschied Mavis und schob Aidan kurzerhand in den Flur und
von dort aus ins Esszimmer, wo zu Penelopes Bestürzung überall kleine Kerzen
brannten. Der flackernde rötliche Schein, der von ihnen ausging, war nicht
besonders hell. Aber hell genug, um die zahllosen Bilder ihrer Mutter in ein
gespenstisches Licht zu tauchen, die noch immer sämtliche Wände pflasterten.
Außerdem lag ein beißender Geruch von Wäschebleiche in der Luft.
„Hm“, brummte Mavis mit einem prüfenden Blick auf Aidan. „Bisschen jung für
mich, findest du nicht?“
„Er ist ja auch mein Gast und nicht deiner“, sagte Penelope ärgerlich.
„Tja, daran sieht man, dass du nicht oft Gäste hast. Du könntest ihm wenigstens
etwas zu trinken anbieten. Das macht man so, weißt du.“
Mit diesen Worten ging Mavis zu dem Topf, der auf einem kleinen Campingkocher
stand und rührte eifrig in dem Gebräu herum, das darin brodelte.
„Möchten Sie einen Tee, Mr. Kendali?“
Der schockierte Ausdruck auf Penelopes Gesicht weckte in Aidan den Wunsch, sie
zu umarmen und ihr zu versichern, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab.
Er war schon ganz anderen Leuten als ihrer Großmutter begegnet. Leuten, die
ihm mit ihrem Verhalten wirklich Angst eingejagt hatten. Mavis hingegen benahm
sich zwar durchaus etwas seltsam, aber in ihren Augen funkelte dabei der Schalk,
was ihre Enkelin offensichtlich nicht zu bemerken schien.
Aidan räusperte sich.
„Nur wenn ein Schuss Drachenblut drin ist, sonst muss ich leider passen“, sagte
er achselzuckend.
Penelope starrte ihn an, als sei er genauso verrückt geworden wie Mavis.
„Das ist mir ausgegangen“, antwortete diese entschuldigend. „Alles, was ich
Ihnen anbieten kann, ist Kamillentee. Mit frischen Blüten aus unserem eigenen
Garten.“
„Wenn das so ist“, überlegte Aidan. „Dann nehme ich gern welchen.“
Die alte Dame brummte ein „Fein“ und verschwand in Richtung Küche.
Auch nachdem sie gegangen war, blieb Penelopes Körperhaltung unverändert.
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Schultern gestrafft und das
Kinn leicht angehoben. Wie jemand, der mit dem Schlimmsten rechnete. Aber sie
versuchte nicht, es abzuwenden, indem sie Entschuldigungen für Mavis’ Auftritt
erfand oder sonst irgendwelche Anstalten machte, Aidan um Verständnis zu
bitten.
„Du brauchst nicht zu bleiben“, war alles, was sie sagte.
„Ich weiß.“
Aidan seufzte innerlich. Nein, er brauchte nicht zu bleiben. Weder in diesem Haus
oder in seiner Unterkunft bei Mrs. O’Malley noch in Old Orchard.
Aber, verdammt noch mal, er wollte es.
„Ich mag deine Großmutter“, bemerkte er beiläufig, während er sich interessiert
die Fotos an den Wänden ansah. Zunächst runzelte Penelope skeptisch die Stirn, rang sich aber schließlich zu einem zaghaften Lächeln durch. „Sie ist nicht immer so. Nur manchmal hat sie diese .;. Ausfälle.“ Sie gestikulierte vage mit der Hand in der Luft. „Was ich meine, ist, hin und wieder gibt es Phasen, in denen ihr Temperament einfach mit ihr durchgeht, und dann tut sie eine Weile lang seltsame Dinge.“ Aidan verstand nur zu gut, was Penelope versuchte, ihm zu erklären. „Ich wette, der Umsatz im Buchladen steigt sprunghaft an, wenn sie so eine Phase hat, stimmt’s?“ Penelope zog eine Grimasse. „Das kann man wohl sagen. Allein heute hatte ich glatt zwanzig Kunden mehr als sonst, die irgendetwas gekauft haben und ganz nebenbei wissen wollten, was mit unserer Haustür passiert ist.“ Was hätte Aidan in diesem Moment darum gegeben, sie zu küssen. Aber er zwang sich dazu, dieser Versuchung zu widerstehen. Obgleich sie es war, deretwegen er beschlossen hatte, in Old Orchard zu bleiben, so konnte und durfte er nicht riskieren, sie in Gefahr zu bringen, nur weil er Gefühle für sie hegte und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass sie sie erwiderte. „Also dann, Kinder“, platzte Mavis herein und klapperte mit einem Tablett, auf dem drei unterschiedliche Tassen standen. „Lasst uns Tee trinken.“ Penelope ging zum Schaufenster ihres Buchladens und sah durch das Glas hinaus. Wie vertraut alles dort draußen aussah. Die Menschen, der Springbrunnen in der Mitte des Kreisverkehrs, die Geschäfte auf der anderen Straßenseite. Sie war in dieser Stadt aufgewachsen, hatte sich aber in all den Jahren nie die Zeit genommen, einfach nur in Ruhe ihre Umgebung zu betrachten. Dafür tat sie es jetzt umso intensiver. „Ein wunderbarer Tag heute, nicht wahr?“ Penelope zuckte zusammen. Sie hatte nicht gehört, dass jemand hereingekommen war, so versunken war sie in ihre Gedanken gewesen. Aidan deutete mit dem Daumen über seine Schulter. „Das Wetter ist herrlich“, sagte er. „Viel zu schön, um hier drinnen zu sein. Besonders an einem Samstag.“ „Samstags habe ich den besten Umsatz“, erwiderte Penelope nüchtern. „Hast du eigentlich schon einmal Urlaub gemacht?“ Sie sah Aidan verständnislos an. „Urlaub?“ „Ja, du weißt schon. Sich freinehmen. Die Arbeit sein lassen.“ „Und wovon sollten wir dann die Stromrechnung bezahlen?“ Vorausgesetzt, es wurde überhaupt Strom verbraucht, natürlich. Gestern Abend,
als Penelope ins Bad gegangen war, um sich die Zähne zu putzen, hatte sie mit
Schrecken feststellen müssen, dass nirgendwo im Haus auch nur ein Lichtschalter
funktionierte. Mavis hatte sämtliche Sicherungen herausgedreht. Kerzenlicht war
ja schön und gut, aber das ging entschieden zu weit.
„Jeder braucht ab und an ein bisschen Erholung“, betonte Aidan.
„Tatsächlich?“ Penelope wuchtete einen Karton auf den Tresen und fischte ein
Teppichmesser aus einer Schublade.
„Geh mit mir essen, ja?“
Sie hob sehr langsam den Kopf und sah auf.
„Wie bitte?“
Die kleinen Fältchen um seine lebhaften braunen Augen vertieften sich, als Aidan
amüsiert grinste. Sie hatte ihn sehr gut verstanden, das wusste er genau.
„Ich habe dich gebeten, mir die Ehre zu erweisen, heute Abend mit mir essen zu
gehen“, erklärte er noch einmal und deutete eine höfliche Verbeugung an.
Penelope spürte, wie ihre Wangen glühten. Es war viel zu warm hier. Sie drehte
die Klimaanlage hoch und genoss dankbar den kühlen Luftschwall, der sofort aus
dem Lüftungsschlitz über ihr kam.
„Was magst du am liebsten?“ drängte Aidan weiter. „Gegrilltes? Oder vielleicht
Fisch? Ich wäre sogar für einen Hamburger und Pommes frites zu haben. Die
Entscheidung überlasse ich dir. Welche Küche bevorzugst du?“
Welche Küche? Penelope war in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal
auswärts essen gegangen. In einem Stehcafe. Sie schluckte.
„Danke für die Einladung, aber ich kann nicht.“
„Du kannst nicht, oder du willst nicht?“
Was war das für eine Frage? Als ob es einen Unterschied machte. Es lief doch
aufs selbe hinaus, oder?
Aidan streckte die Hand aus und hob Penelopes Kinn mit dem Zeigefinger an.
„Hm?“
7. KAPITEL In dem Moment, in dem er sich entschlossen hatte, doch in Old Orchard zu bleiben – zumindest bis auf weiteres –, hatte er gleichzeitig entschieden, dass er wenigstens mit Penelope Moon befreundet sein wollte, wenn schon nicht mehr daraus werden konnte. Und als ihr Freund fühlte er sich dazu verpflichtet, sie aus ihrer Eintönigkeit zu reißen, auch wenn ihr das anfänglich vielleicht nicht gefiel. „Ich kann einfach nicht“, wiederholte sie trotzig. „Verstehe. Ich hole dich dann um fünf hier ab.“ „Was?“ Aidan grinste, drehte sich um und ging auf die Tür zu, von wo aus er der verdutzten Penelope noch einmal kurz zuwinkte, bevor er lässig auf die Straße hinausschlenderte. Nur dass er sich innerlich alles andere als lässig fühlte. In Wahrheit war er sich nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, sie so zu überrumpeln. Wenn er den Bogen überspannte, würde sie ihn am Ende gar nicht mehr an sich heranlassen. So wie sie auch sonst niemanden an sich heranließ. Dies hier passierte doch nicht wirklich, oder? Sie träumte. Ganz bestimmt. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie, Penelope Moon, tatsächlich von Aidan Kendall, dem von jedermann geschätzten, gut aussehenden Lehrer, zum Essen ausgeführt wurde. Noch dazu in eines der beliebtesten Lokale der Stadt. Wie oft war sie schon an Eddie’s Pub vorbeigegangen? Hundert Mal? Tausend Mal? Und doch hatte sie ihn noch nie von innen gesehen. Die rustikale, aber gemütliche Inneneinrichtung, der vage Geruch von Bier, gemischt mit Zigarettenrauch, und die heitere, gelöste Stimmung, die hier herrschte, all das war Penelope völlig fremd. Und sie fühlte sich wie eine Fremde. Obwohl sie die meisten der Männer und Frauen kannte, die an der Bar auf Hockern saßen, tranken und sich unterhielten. Sie und Aidan waren zwei der wenigen Gäste, die sich einen Platz an einem der Dutzend Tische im vorderen Teil des Pubs gesucht hatten. „Penelope?“ fragte Aidan. „Alles in Ordnung?“ „Ja“, stammelte sie. „Mir geht’s gut.“ Nun ja, wenn man unter gut das Gefühl, vor lauter Nervosität Knie wie Pudding zu haben, verstand, war das nicht einmal gelogen. Wie war sie überhaupt hierher gekommen? Sie hatte sich fest vorgenommen, pünktlich um fünf Uhr den Buchladen zu schließen, und sollte Aidan seine Drohung wahr machen und sie abholen wollen, seine Einladung höflich, aber bestimmt abzulehnen. Doch dann hatte er sie angelächelt, so liebenswürdig und warmherzig, und all ihre guten Vorsätze waren dahin gewesen. Von der Bar drang lautes Lachen zu ihnen hinüber. Penelope riskierte einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel und sah, wie die McCrearyBrüder sie und Aidan neugierig beobachteten. Wahrscheinlich fragten sie sich, was er mit so einem Mauerblümchen wie ihr wollte. Er könnte schließlich jede Frau haben. Warum hatte er dann sie ausgesucht? Sie schaute ihn forschend an. Ja, warum eigentlich? „Weil ich dich mag“, sagte er leise. Hatte sie die Frage etwa laut ausgesprochen? „Hast du dich schon entschieden?“ wollte er wissen. „Was?“ Aidan tippte gegen die Speisekarte, die aufgeschlagen vor ihm auf dem glänzenden Tisch aus Pinienholz lag. „Ich meine, was du gern essen würdest.“
Penelope kam sich schrecklich dumm vor. Natürlich, das Essen. Was sollte er
auch sonst gemeint haben. Sie lächelte schüchtern, nahm ihre Karte und gab
vor, sie ausgiebig zu studieren, doch keines der Worte darin machte in diesem
Moment irgendeinen Sinn für sie.
„Mir kommt es vor, als ob uns alle anstarren“, raunte sie. Was sie eigentlich
meinte, war: als ob mich alle anstarren. Aber das behielt sie für sich.
Aidan nickte in Richtung Tür. Sie folgte seinem Blick. Ein junger Mann betrat
gerade den Pub, und prompt waren die Augenpaare aller Anwesenden auf ihn
geheftet und die Gespräche für eine Sekunde verstummt. Dann klopfte Eddie ihm
zur Begrüßung auf die Schulter, und er ließ sich auf einem der Barstühle nieder.
Aidan beugte sich ein wenig vor.
„Wenn sie dir ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken, dann liegt das daran,
dass du so hübsch bist.“
„Fische“, sagte Penelope triumphierend.
Verwirrt runzelte Aidan die Stirn, dann lächelte er.
„Falsch.“
Penelope seufzte enttäuscht.
„Wirst du mir je dein Sternzeichen verraten?“ fragte sie.
Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über Aidans Gesicht, bevor er antwortete.
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Wenn ich es tue, könntest du in mir lesen wie in einem offenen Buch“, erklärte
er verschmitzt. „Ich weiß, dass du dich gut mit Astrologie auskennst.“
Die Frau, die neben ihrem Tisch stand, räusperte sich leise.
Aidan sah auf. „Hi, Frannie“, sagte er. „Wir sind ein bisschen unentschlossen.
Habt ihr heute irgendwelche leckeren Tagesgerichte?“
„Also, die Shrimps in Bierteig kann ich nur wärmstens empfehlen“, schlug die
Bedienung in dem blauen TShirt mit dem aufgestickten PubEmblem vor. „Der
Flussbarsch ist aber auch nicht schlecht. Ganz frisch.“
„Klingt gut.“
„Sie sind Penelope Moon, nicht wahr?“ fragte Frannie.
Penelope blinzelte sie verunsichert an.
„Ja, das bin ich.“
„Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Francine, aber Sie können Frannie zu
mir sagen.“ Sie nahm Penelopes Hand und schüttelte sie. „Ich wollte schon
immer mal in Ihren Buchladen reinschauen. Sie sollen ziemlich tolle Sachen
haben. Cremes und so weiter.“
„Das hat sie“, bestätigte Aidan. „Du solltest wirklich mal ein bisschen stöbern
gehen.“
„Das mache ich bestimmt“, versprach Frannie fröhlich. „Also, was kann ich euch
bringen?“
Penelope begann, hektisch in der Karte zu blättern. Sie hatte nicht die leiseste
Ahnung, was sie nehmen sollte. Es hörte sich alles gleich gut an.
„Soll ich für uns beide bestellen?“ bot Aidan an, der ihren hilflosen
Gesichtsausdruck bemerkt hatte.
„Ja, das… das wäre nett.“
„Gut. Wir hätten gern einmal den Flussbarsch und einmal die Shrimps.“
„Geht klar“, sagte Frannie, notierte die Bestellung auf ihrem Schreibblock und
machte sich auf den Weg zur Küche.
„Dann erzähl mal“, wandte sich Aidan wieder an Penelope, während er sich in
seinem Stuhl zurücklehnte. „Was ist dein Sternzeichen?“
„Hm?“
„Na, ich dachte mir, wenn, du unbedingt meins wissen willst, könnte ich dich ja
auch mal nach deinem fragen.“
„Steinbock.“
„Ah, das mit den Hörnern, stimmt’s?“
Penelope lächelte.
„Ja, das mit den Hörnern.“
„Das bedeutet dann wohl, dass du ziemlich stur sein kannst.“
„Du verwechselst Steinbock mit Stier.“
„Tue ich nicht.“
„Kennst du dich überhaupt mit Astrologie aus?“
„Ich kenne mich mit Himmelskunde aus. Und den Geschichten, die hinter den
einzelnen Sternbildern stecken.“ Aidans Grinsen wurde breiter. „Außerdem hatte
ich einmal das Vergnügen, ein paar Steinböcken zu begegnen, und ich kann dir
sagen, diese Gesellen waren sturer als jedes Rind.“
Penelope kicherte.
Die Doppelflügeltür des Pubs öffnete sich, jemand kam herein und flüsterte den
Leuten, die am Tresen saßen, etwas zu. Barhocker wurden zurückgeschoben und
machten ein scharrendes Geräusch auf den Holzdielen, als einige Gäste
aufstanden und dem Neuankömmling nach draußen folgten. Doch Penelope
bemerkte es nicht. Sie war zu vertieft in ihre Unterhaltung mit Aidan.
„Bist du schon immer Lehrer gewesen?“ fragte sie.
„Nein“, kam die zögerliche, einsilbige Antwort.
Sie wartete, dass er noch etwas sagen würde, und senkte verlegen den Blick, als
er es nicht tat.
„Tut mir Leid. Das war zu direkt, nicht wahr?“
„Jemanden zu fragen, ob er Fußpilz hat, ist zu direkt“, beruhigte Aidan sie.
„Nicht, was er tut, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich war früher im
Zimmereigewerbe.“
„Wirklich? Du hast Häuser gebaut?“
„Nein, nicht ganz“, lachte er. „Ich war eher für die Innenausstattung zuständig.
Einbauregale, Wendeltreppen, solche Dinge.“
„Kannst du auch neue Türen einsetzen?“
„Ja, sicher“, grinste Aidan. „Aber wer sagt mir dann, dass Mavis sie nicht gleich
wieder aushängt und wer weiß was damit anstellt?“
Nachdem er gestern Abend Gelegenheit gehabt hatte, Penelopes Großmutter
näher kennen zu lernen, war er zu der Überzeugung gelangt, dass sie keinesfalls
die verwirrte alte Frau war, die sie vorgab zu sein. Hinter ihren Handlungen
verbarg sich durchaus ein Sinn. Fast kam es ihm so vor, als wolle sie dadurch
eine bestimmte Reaktion hervorrufen. Aber welche? Und warum?
„Hast du je darüber nachgedacht, dir eine eigene Wohnung zu nehmen?“
Penelope sah ihn fragend an.
„Du meinst, ausziehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, noch nie.“
„Wieso nicht?“
Nachdenklich nippte Penelope an ihrer Cola. Ihren eigenen, ganz privaten Raum
beanspruchen? Eine Wohnung, nur für sie allein?
„Ja, wieso eigentlich nicht…“, murmelte sie leise.
„Miss Moon?“ rief Eddie von der geöffneten Eingangstür aus. „Sie sollten
vielleicht besser herkommen und sich das anschauen.“
Sie zog ihre dunklen, seidigen Augenbrauen zusammen, dann schob sie langsam
ihren Stuhl zurück und näherte sich mit einer sehr bösen Vorahnung der Tür.
Aidan sprang ebenfalls auf und folgte ihr nach draußen. Dort hatte sich bereits
eine beachtliche Menschenmenge rund um den Springbrunnen versammelt. Aus
dem Stimmengewirr drangen sowohl belustigte Anfeuerungsrufe als auch empörte Laute. Jemand sagte: „Unerhört. Wo gibt’s denn so was!“
8. KAPITEL Zum zweiten Mal an diesem Tag konnte Penelope einfach nicht glauben, dass
das, was geschah, wirklich passierte. Während sie das Bußgeld für „Erregung
öffentlichen Ärgernisses“ bezahlte, dessen Höhe ein empfindliches Loch in ihre
Haushaltskasse riss, wünschte Penelope sich zum ersten Mal in ihrem Leben
ernsthaft, sie würde nicht mit Mavis unter einem Dach wohnen. Egal wo, und
wenn sie einsam und verlassen irgendwo in der Wüste dahinvegetieren würde, es
wäre immer noch besser als das hier.
Sheriff Parker rieb sich den Nacken und grinste betreten.
„Sie müssen Ihrer Großmutter irgendwie klarmachen, dass sie nicht einfach auf
offener Straße nackt baden kann, Penelope.“
Als ob sie auch nur die geringste Kontrolle darüber hätte, was Mavis tat und was
nicht. Es würde ihr schon reichen, wenn sie wenigstens in der Lage wäre, deren
nächste Eskapade vorauszusehen. Aber wenn ihre Großmama eine dieser Phasen
hatte, dann war sie absolut unberechenbar.
Sie sah durch das Fenster von Cole Parkers Büro. Draußen stand Aidan, Max’
Leine in der Hand, der sich neben ihm auf dem Gehweg ausgestreckt hatte.
Penelope hörte Mavis, bevor sie sie sah.
„Ich weiß wirklich nicht, was mit euch allen los ist“, schimpfte sie und wehrte
resolut Hilfssheriff Johnson ab, der sie aus dem Nebenzimmer ins Büro führen
wollte. „Ich kann alleine gehen.“ Sie warf die Hände in die Luft. „Ich fasse es
einfach nicht. Habt ihr noch nie jemanden nackt gesehen? Eins will ich euch
sagen – der menschliche Körper ist etwas Wunderschönes, nichts, wofür man
sich zu schämen braucht.“
Penelope ging schnell auf sie zu und legte ihr einen Arm um die in einen langen
Damentrenchcoat eingehüllten Schultern.
„Danke, Sheriff. Ich bringe Dottie den Mantel gleich morgen früh zurück. Frisch
gewaschen, natürlich.“
„Kein Problem, Penelope“, winkte Parker ab.
Als sie auf die Straße hinaustraten, drehte Aidan, der mit dem Rücken zu dem
Gebäude gestanden hatte, sich um.
„Ah, du bist das“, sagte Mavis entzückt und hakte sich kurzerhand bei ihm unter.
„Kannst nicht mehr von mir lassen, was? Na, dann wollen wir mal los.“
„Großmama, nach Hause geht’s hier lang“, wies Penelope sie darauf hin, dass sie
in die falsche Richtung lief.
„Das weiß ich“, erwiderte Mavis ungeduldig. „Aber zum Wagen geht’s da lang.“
„Zum Wagen? Du bist mit dem Auto gefahren?“
Penelope hätte nicht geglaubt, dass der klapprige Ford Pickup überhaupt noch
lief, nachdem er die letzten fünf Jahre unangetastet in der Garage gestanden
hatte, weil weder Mavis noch sie selbst ihn je benutzten.
„Ich denke, es ist besser, wenn wir zu Fuß gehen“, entschied sie trocken.
„Nein, nein“, widersprach Mavis. „Wir können den guten alten Ford nicht einfach
hier stehen lassen. Am Ende klaut ihn noch jemand!“
„Ich kann ihn später zu euch bringen“, schlug Aidan vor.
„Schön. Tu das, mein Junge. Aber nicht zu spät. Ich habe heute noch etwas zu
erledigen.“
„Du wirst heute nirgendwo mehr hingehen. Geschweige denn fahren“,
protestierte Penelope.
„Das werden wir ja sehen.“
Der listige Blick in Mavis’ Augen gefiel Penelope überhaupt nicht, aber sie wusste,
es hatte keinen Sinn, mit ihr zu streiten, wenn sie so störrisch war.
Einige Stunden später saß Penelope auf ihrem Bett und ärgerte sich, dass sie
nicht einschlafen konnte. Sie sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Im Haus war es
totenstill. Viel zu still.
Sie stand auf und trat in den Flur hinaus, wobei sie, ohne hinzusehen, den
Schlüssel von ihrem dünnen Wildlederarmband zog, den sie daran festgeknotet
hatte. Vor Mavis’ Zimmer blieb sie stehen und horchte. Kein Laut drang durch die
Tür.
„Großmama?“
Keine Antwort.
Penelope klopfte, zuerst leise, dann etwas energischer. Noch immer tat sich
nichts. Sie wird doch nicht etwa…
Hastig schloss Penelope die Tür auf. Wie sie befürchtet hatte, war das Bett ihrer
Großmutter leer. Aber warum war es so kalt hier? Erschrocken stürzte Penelope
ans Fenster, das sperrangelweit offen stand. Das Ende der aus einem zerrissenen
Bettlaken zusammengebastelten Strickleiter pendelte langsam hin und her, aber
von Mavis war weit und breit nichts zu sehen. Wenigstens hatte sie sich bei ihrer
Flucht nicht den Hals gebrochen. Wie kann ein einzelner Mensch nur so
eigensinnig sein, fluchte Penelope.
Plötzlich huschte ein Lichtschein an der Wand vorbei, gefolgt von dem Brummen
eines Autos, das in die Einfahrt bog.
Aidan starrte die Gestalt an, die reglos auf dem Treppenabsatz des alten Hauses
stand. Fing er jetzt etwa an, Dinge zu sehen, die eigentlich nicht da waren? Die
wunderschöne Frau, nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, das im
Scheinwerferlicht des Pickups fast durchsichtig war, konnte einfach nicht echt
sein. Er blinzelte ein paar Mal. Doch, sie war echt. Es war Penelope. Und das,
was Aidan durch den dünnen Stoff von ihrer Figur erkennen konnte, war schlicht
atemberaubend.
Er schluckte, riss seinen Blick von ihr los und stellte den Motor ab. Dann griff er
nach der Plastiktüte, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus dem Wagen.
„Es scheint, dass Mavis das Auto heute doch nicht braucht“, seufzte Penelope.
Aidan sah sie fragend an.
„Wieso nicht? Sie ist doch nicht…“
„Abgehauen. Genau“, beendete Penelope den Satz für ihn.
„Oh.“
„Ist schon gut. Sie kann auf sich selbst aufpassen. Ich hoffe bloß, dass sie nicht
wieder irgendwelche Dummheiten anstellt.“
„Und wenn, könntest du jetzt so oder so nichts daran ändern“, versuchte Aidan
sie zu trösten. „Ich habe dir was mitgebracht.“ Er hielt ihr die Tüte hin.
„Was ist das?“
„Deine Shrimps, die du vorhin nicht essen konntest. Ich habe sie mir einpacken
lassen.“
Als Penelope keine Anstalten machte, den Plastikbeutel entgegenzunehmen, ließ
Aidan enttäuscht die Hand sinken.
„Du hast schon gegessen“, stellte er fest.
„Nein, nein“, sagte Penelope schnell. „Es ist nur, durch die ganze Aufregung
hatte ich gar nicht mehr daran gedacht.“
„Dann komme ich wohl gerade rechtzeitig.“
„ Rechtzeitig wofür?“
„Um dich vor dem sicheren Hungertod zu retten.“
Penelope lächelte gerührt. Aidan erwiderte ihr Lächeln.
Sie standen sehr lange so da, jeder von ihnen abwesend mit einer Hand die Tüte
zwischen sich haltend, versunken in die Augen des anderen, umgeben von dem
leisen Zirpen der Grillen und den kurzen aufflackernden Punkten in der Dunkelheit, wenn ein Glühwürmchen vorbeiflog. „Also“, sagte Aidan schließlich. „Ich gehe dann mal.“ „Ja“, flüsterte Penelope und hoffte, er würde den traurigen Unterton in ihrer Stimme nicht hören. „Gute Nacht.“ Er drehte sich um und ging auf die Gartenpforte zu. „Aidan?“ Er blieb stehen, sah sie aber nicht an. „Bitte bleib.“ Auf der ganzen Welt gab es wohl keinen Mann, der dieser Einladung hätte widerstehen können. Aidan wusste, dass er es tun sollte. Er rührte sich lange nicht vom Fleck, doch dann machte sein Körper wie von selbst kehrt. Penelope sagte nichts, sondern führte ihn schweigend durch den türlosen Eingang ins Haus. Doch sie brachte ihn nicht in die Küche, wie er erwartet hatte, sondern ging einfach daran vorbei und weiter den schwach beleuchteten Flur entlang. Als sie schließlich stehen blieb, hörte er das Klappern eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt und herumgedreht wurde. Bis auf das spärliche Funkeln der Sterne am klaren Nachthimmel, die man durch das geöffnete Fenster sehen konnte, war es in dem Raum stockfinster. Als Aidans Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurde ihm klar, dass dies Penelopes Schlafzimmer sein musste. Sie legte die Plastiktüte auf einen flachen Tisch, von dem Aidan nur die Umrisse erkennen konnte, entzündete eine Kerze und drehte sich dann zu ihm um. Ihre Finger glitten an ihrem dünnen Nachthemd hinunter, bis sie den Saum erreicht hatten. Kurz darauf ließ sie das Kleidungsstück neben sich auf den Boden fallen. Wie sich herausstellte, trug sie darunter… nichts. Aidan hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er schluckte und betrachtete ihre perfekt geformten Brüste, die aufgerichteten Brustwarzen, die sich mit Penelopes tiefen Atemzügen hoben und senkten. Sein Blick wanderte zu ihrem flachen Bauch. Sie trug einen kleinen silbernen Ring im Nabel. Der süße Duft von Rosenblättern kitzelte seine Sinne, und er schloss die Augen, um ihn noch intensiver in sich aufzunehmen. „Berühr mich“, hauchte Penelope. Aidan stöhnte gequält. Ich kann nicht, wollte er sagen. Ich darf nicht. Aber stattdessen streckte er die Hand aus, schob sie unter Penelopes volles Haar und bog ihren Hals leicht nach hinten. Als er sie küsste, war ihm, als könne er jeden einzelnen ihrer wilden Herzschläge nicht nur spüren, sondern auch hören. Zögerlich fuhr sie mit der Spitze ihrer Zunge über seine Zähne, dann stieß sie sie plötzlich in einer Woge von Leidenschaft tief in seinen Mund. Hatte er jemals zuvor etwas so Reizvolles erlebt? Etwas so Erotisches? Bevor er wusste, was er tat, hatte Aidan Penelope auf seine Arme gehoben und trug sie zu dem schmalen Doppelbett auf der anderen Seite des Zimmers. Sanft ließ er sie auf die Matratze sinken. Sie sah zu ihm hoch, ihr Gesicht so süß wie das eines Engels. Ja, so musste ein Engel aussehen, falls es welche gab. Und wenn er noch einen Funken Verstand hatte, würde er ihr einen Kuss auf die Stirn drücken und sich verabschieden. Sie hob eine zitternde Hand und legte sie auf seinen Bauch. Aidan seufzte wohlig auf, als er die Wärme spürte, die von ihr ausging und ihn durchflutete. Es war so lange her, dass er sich erlaubt hatte, die Bedürfnisse seines Körpers wahrzunehmen. Nur diesen einen Moment noch. Dann würde er gehen. Penelope ließ ihre Finger aufwärts gleiten und streichelte sachte über seine
muskulöse Brust. Er konnte nicht mehr denken, und er wollte es auch nicht. Nur noch fühlen, diese wenigen kostbaren Augenblicke genießen, die er mit ihr verbringen durfte, bevor seine Vergangenheit ihn endgültig einholen und alles in die Brüche gehen würde. Aidan griff nach hinten und zog sich sein TShirt über den Kopf. Achtlos warf er es neben dem Bettpfosten auf den Fußboden, dann öffnete er den Reißverschluss seiner Jeans und schlüpfte hinaus. Penelope betrachtete mit großen Augen seinen nackten Körper. Ihr Blick schweifte über seine breiten Schultern, seinen Oberkörper, seine Hüften, und blieb schließlich an seiner unübersehbaren Männlichkeit hängen. Scharf sog Aidan die Luft ein, als Penelope ihn berührte. Er griff schnell nach ihrer Hand, hielt sie fest und drückte seine Lippen auf ihre Fingerknöchel. Dann kletterte er zu ihr ins Bett. Penelope rutschte zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal so sehr hatte mit einer Frau schlafen wollen, dass es ihn beinahe zerriss. Zärtlich strich er durch ihr seidiges Haar und küsste sie. Als er begann, ihre Brust zu streicheln, bog sie die Wirbelsäule durch und presste ihren Unterleib an seinen. Sie war so vertrauensvoll. So… offen. Langsam, Zentimeter für Zentimeter ließ er seine Hand tiefer rutschen. Sie hielt den Atem an und öffnete ihre Schenkel. Unfähig, diese deutliche Einladung zu ignorieren, wagte er sich weiter vor. Penelope erschauerte und versteifte sich dann plötzlich. Verunsichert sah Aidan sie an. „Du…“, begann er, verstummte dann und versuchte dann noch einmal die Frage auszusprechen, deren Antwort er eigentlich bereits kannte. „Du bist… ich meine…“ Ja, das war sie. Die wunderschöne Frau in seinen Armen war noch unberührt. „Ich möchte das hier“, flüsterte sie. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute sie prüfend an. „Ganz sicher?“ Sie nickte. „Ich bin mir in meinem ganzen Leben noch nie einer Sache so sicher gewesen.“ Aidan biss sich auf die Lippe, als Penelopes Finger seine Männlichkeit umschlossen. „Bitte“, raunte sie. „Ich will dich, Aidan. Mehr als ich jemals irgendeinen Mann gewollt habe.“ Und, verflucht noch mal, er wollte sie. Zärtlich drehte er sie auf den Rücken. Er streichelte sie, bis sie atemlos vor Erregung war. „Oh, Aidan, bitte…“ Behutsam drang er in sie ein, zunächst nur ein kleines Stück, dann durchstieß er den Widerstand, den er überwinden musste, um ganz bei ihr zu sein. Sie erstarrte, und all ihre Muskeln verkrampften sich, als der scharfe Schmerz durch ihren Unterleib jagte. Langsam zog Aidan sich zurück und beobachtete sie aufmerksam, bis ihre Züge sich wieder entspannten. Dann war er wieder in ihr. Sie stöhnte, anscheinend unfähig, ihre stockenden Atemzüge zu beruhigen. Aidan verlor jegliches Zeitgefühl. Minuten später, es konnten genauso gut auch Stunden gewesen sein, versuchte er mit dem letzten bisschen Selbstbeherrschung, das ihm noch geblieben war, sich zurückzuhalten. Penelope schrie leise auf, doch dieses Mal nicht vor Schmerz, sondern vor purer, unbändiger Lust. Erst dann gönnte Aidan sich selbst dieselbe Erfüllung.
9. KAPITEL Es war am späten Samstagnachmittag, als Penelope die Tür des Buchladens hinter sich abschloss und zu Aidan in seinen Wagen stieg. Sie hatte ihn gefragt, ob er sie an einen Ort ein wenig außerhalb der Stadt fahren könnte, ihm aber nichts Näheres verraten. Aidan war zwar verwundert über ihre Geheimnistuerei gewesen, hatte aber zugesagt. Immerhin war diese Spazierfahrt ein guter Vorwand, um in ihrer Nähe zu sein. „Dort hinten“, sagte sie eine halbe Stunde später und zeigte auf ein leer stehendes Haus am Ende der Straße. „Da ist es.“ Nachdem Aidan in der Einfahrt geparkt hatte, sprang Penelope aus dem Auto und sah sich um. „Es ist wunderschön hier, nicht wahr?“ fragte sie, während sie um das Gebäude herumging und den dahinter liegenden großen Garten inspizierte. Alle paar Meter blieb sie stehen, schnupperte genüsslich an einer Blume oder strich mit den Fingern über die Rinde eines alten Apfelbaumes. „Aber ein bisschen zu weit für mich, um von hier aus zu Fuß zur Arbeit zu gehen“, überlegte sie. „Ich werde mir einen fahrbaren Untersatz zulegen müssen.“ Einen was? Zunächst verstand Aidan nicht, wovon sie überhaupt sprach, doch dann dämmerte es ihm. Sie dachte daran, dieses Haus zu kaufen. Er fuhr sich langsam durchs Haar, wandte sich ab und gab vor, die vereinzelten weißen Schäfchenwolken am ansonsten stahlblauen Himmel zu beobachten. Was hatte er erwartet? War er nicht derjenige gewesen, der sie gefragt hatte, warum sie nicht einfach auszog? „Aidan?“ Er versteifte die Schultern. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, Penelope anzusehen. Letzte Nacht hatte er sich vergessen, vergessen, wer er war und in welche Schwierigkeiten jeder geraten konnte, der eine engere Beziehung zu ihm aufbaute. Und nun wurde ihm schmerzhaft bewusst, was er durch seine egoistische Gedankenlosigkeit angerichtet hatte. Penelope wollte ihr Leben grundlegend ändern, endlich den Bedürfnissen gerecht werden, die für eine Frau in ihrem Alter normal waren. Dem Wunsch nach Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und wahrscheinlich auch… einer Partnerschaft. Aber das konnte er ihr nicht geben. Er spürte eine leichte Berührung an seinem Arm, als Penelope ihm eine Hand auf den Ellenbogen legte. „Aidan, geht’s dir gut?“ „Ja“, antwortete er, ein wenig zu schroff. „Ausgezeichnet. Bist du hier so weit fertig? Ich bin ein bisschen in Eile. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen.“ Der traurige Ausdruck in ihren Augen, als sie ihre Hand wegzog, zerriss ihm fast das Herz. „Natürlich“, sagte sie leise. Penelope wurde von einem lauten Klopfen aus dem Schlaf gerissen, den sie erst vor knapp einer Stunde endlich gefunden hatte. Ihre Träume waren angefüllt gewesen mit Bildern von Aidan, der ihr auswich, wann immer sie versuchte, ihn zu berühren, und nicht antwortete, wenn sie ihn ansprach. Sie fuhr hoch. „Miss Moon?“ hörte sie eine Stimme, die von draußen, von der Vorderfront des Hauses zu kommen schien. „Miss Moon, sind Sie da?“ Penelope schlug die Bettdecke zur Seite, schlüpfte in ihren Morgenmantel und rannte zum türlosen Eingang, um dort eine atemlose und wild gegen den Türrahmen hämmernde Edith O’Malley vorzufinden.
„Mrs. O’Malley“, sagte Penelope verwundert. „Was ist passiert?“
Mavis tauchte neben ihr auf, entzündete eine Kerze und sah die
Gasthausbesitzerin ebenfalls fragend an.
„Es tut mir Leid, dass ich Sie so spät noch störe“, stammelte diese. „Ich dachte
nur, da Aidan ja keine Familie hat, jedenfalls keine, von der ich wüsste, und ich
Sie beide in letzter Zeit öfter zusammen gesehen habe…“
Penelope packte die aufgelöste Frau an den Schultern.
„Mrs. O’Malley, beruhigen Sie sich. Was ist mit Aidan?“
Edith schüttelte ein paar Mal den Kopf, als suche sie nach den richtigen Worten.
„Man hat ihn festgenommen.“
Keine zehn Minuten später saß Penelope auf dem Beifahrersitz von Mrs. O’Malleys
Wagen, in ihrem Schoß ein Lederetui, in dem sich ihr Sparbuch befand. Hinter ihr
schloss Mavis, die darauf bestanden hatte mitzukommen, gerade die letzten
Knöpfe ihrer Bluse, die sie hastig übergeworfen hatte.
„Es ging alles so schnell“, erzählte Edith weiter, während sie scharf um eine
Kurve bog. „Auf einmal war da dieses Pochen an der Tür, und es klang genauso
wie in dieser Nacht damals, als Sheriff Bullworth kam, um mir zu sagen, dass
mein Harry auf dem Weg von Toledo einen Herzinfarkt erlitten hat und daran
gestorben ist.“
Mavis steckte den Kopf zwischen die beiden Vordersitze und tippte Mrs. O’Malley
auf die Schulter.
„Aidan Kendall, Edith. Wieso ist er festgenommen worden?“
„Oh, oh ja, richtig.“
Der Wagen schlingerte leicht, als sie das Gaspedal durchtrat, und Penelope war
heilfroh, dass sie die Einzigen auf der Straße waren. Um diese Uhrzeit kein
Wunder. Es war kurz nach drei Uhr morgens.
„Also“, fuhr Edith fort. „Dieses Mal war es Sheriff Parker. Ach, was rede ich,
natürlich war er es. Der alte Bullworth ist schon lange in Rente. Jedenfalls sagte
er, er wolle mit Aidan sprechen. Als ich die Treppe rauf bin, um ihn zu wecken,
stand er auf dem Gang. Angezogen. Als hätte er mit Parkers Besuch gerechnet.
Und dann hat der Sheriff ihn mitgenommen.“
„Einfach so?“ fragte Mavis ungläubig.
„Einfach so. Aidan murmelte noch etwas wie: Das wurde auch Zeit, bevor sie
wegfuhren.“
„Das wurde auch Zeit?“ wiederholten Mavis und Penelope wie aus einem Munde.
Edith drosselte das Tempo. Penelope riss ihren Blick von dem aschgrauen Gesicht
der Fahrerin und starrte durch das Seitenfenster ins hell erleuchtete Büro des
Sheriffs.
Als sie die Tür öffnete, schoss sein Kopf in die Höhe, und er blickte sie
stirnrunzelnd an.
„Penelope. Was machen Sie hier?“
„Ist es richtig, dass Sie Aidan Kendali in Gewahrsam genommen haben?“ kam
Penelope ohne Umschweife zur Sache. Hinter ihr betraten nun auch Mavis und
Mrs. O’Malley das Büro.
Sheriff Parker sah einer Frau nach der anderen fest in die Augen, dann stand er
von seinem Stuhl auf und straffte die Schultern.
„Das ist korrekt“, bestätigte er.
„Wie hoch ist die Geldstrafe?“
„Geldstrafe?“
„Für was auch immer er verbrochen haben soll.“
Cole Parker zog die Augenbrauen zusammen.
„Penelope, es gibt keine Geldstrafe. Aidan Kendall wurde wegen bewaffneten
Raubüberfalls verhaftet. In zwei Fällen.“
„Zwei?“
„Ja. Die Tankstelle und den Gemischtwarenladen.“
„Aber…“
„Ich weiß, das muss ein Schock für Sie sein. Als ich das Überwachungsvideo
gesehen habe, konnte ich es selbst zuerst nicht glauben. Aber die Aufzeichnung
zeigt ganz klar Aidan. Er war es.“
„Smythes Gemischtwarenladen? Wann soll das passiert sein?“ fragte Penelope
eindringlich.
„Das sind Informationen, die ich nicht…“
„Wann?“ beharrte sie.
Parker seufzte.
„Heute Abend. Um genau zu sein“, verbesserte er sich mit einem Blick auf die
Uhr an der seinem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand, „gestern Abend. Es
ist ja schon gleich halb vier. Das ist alles, was ich Ihnen sagen werde.“
„Der Laden war noch geöffnet, richtig?“ Penelope überlegte fieberhaft. „Ja,
bestimmt hatte er noch offen. Und das bedeutet, es muss vor neun Uhr gewesen
sein. Wenn das der Fall ist, Sheriff, dann haben Sie den falschen Mann. Aidan
war um diese Zeit bei mir.“
Aidan saß auf der Pritsche der einzigen Zelle im hinteren Teil der Polizeistation,
die Arme auf die Knie gestützt und den Kopf darauf gelegt. Man hatte ihn
beschuldigt, den alten Smythe überfallen zu haben, und niemand ahnte, dass es
in Wirklichkeit ein anderer gewesen war.
Davin.
Sein Zwillingsbruder, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, sonst aber kaum
etwas mit ihm gemeinsam hatte und dessen einziger Lebenszweck darin bestand,
seinen größten Feind, den eigenen Bruder, leiden zu sehen.
Schlüssel klirrten, und die Zellentür wurde mit einem lauten Quietschen geöffnet.
Aidan registrierte die Geräusche, aber sie schienen wie aus weiter Ferne zu
kommen.
„Sie sind frei, Mr. Kendall. Bis auf weiteres.“
Aidan sah auf und starrte Sheriff Parker an.
„Was?“
„Sie haben mich schon verstanden.“
„Warum?“ fragte Aidan verwirrt.
„Penelope Moon behauptet, Sie wären zur Tatzeit bei ihr gewesen.“ Parker kniff
die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Ich denke, sie lügt, aber
nichtsdestotrotz haben Sie jetzt ein Alibi, und ich kann Sie nicht länger
festhalten. Zumindest nicht, bis wir die Wahrheit herausgefunden haben.“
Aidan wischte sich über die feuchte Stirn. Was um alles in der Welt hatte
Penelope dazu gebracht, so etwas für ihn zu tun?
„Also, kommen Sie nun oder nicht?“ drängte der Sheriff ungeduldig.
Penelope sprang von der Bank auf, die an der Wand unter dem großen Fenster
des Büros stand.
„Aidan“, sagte Penelope leise.
Doch er würdigte sie nicht eines Blickes. Stattdessen ging er schweigend an ihr
vorbei durch die Tür.
„Aidan!“ rief sie und rannte hinter ihm her auf die Straße hinaus. Er
beschleunigte seine Schritte. Erst, als sie ihn eingeholt hatte und sich ihm in den
Weg stellte, blieb er mit gesenktem Kopf stehen.
„Warum hast du gelogen, Penelope“, presste er durch zusammengebissene
Zähne hervor.
Sie sah ihn an. Was redete er da?
„Ich verstehe nicht…“, flüsterte sie.
Als er ihr endlich ins Gesicht schaute, konnte sie für einen Sekundenbruchteil
eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen erkennen. Dann verwandelte sich diese
Traurigkeit in eine Leere, die noch erschreckender war.
„Du hast dich selbst in Gefahr gebracht, um mir damit zu helfen“, sagte er bitter.
„Mach so etwas bitte nie wieder, hast du gehört?“
„Ich würde alles für dich tun“, sagte sie.
„Und wenn ich diese Verbrechen wirklich begangen hätte? Was dann?“
„Du warst es nicht.“
„Wer sagt das?“ fragte er herausfordernd. „Du? Glaubst du allen Ernstes, du
kennst mich gut genug, um dir hundertprozentig sicher zu sein, dass ich dazu
nicht fähig wäre?“
Penelope schluckte hart.
„Ja, das glaube ich.“
Er packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie, fester, als er es beabsichtigt
hatte.
„Wach auf, Penelope. Du weißt gar nichts von mir. Niemand tut das.“
„Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist“, sagte sie fest.
Aidan streifte mit der Hand ihr Gesicht, bevor er sich abwandte, und die
Traurigkeit kehrte in seinen Blick zurück.
„Zu viel Wissen kann einen den Hals kosten. Und ich will nicht, dass dir etwas
zustößt.“
„Das würdest du niemals zulassen.“
Aidan schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Und wenn ich es nicht verhindern könnte?“
Es wäre nicht das erste Mal, dass er nicht in der Lage wäre, die Menschen, die er
liebte, zu beschützen.
„Dann müsste ich mit den Konsequenzen meiner Entscheidung zurechtkommen.
Meiner Entscheidung, Aidan, die nur ich zu treffen habe und niemand sonst. Nicht
du, nicht der Sheriff, nur ich.“
Er schnaufte resigniert. In der Befürchtung, er würde sich von ihr abwenden und
einfach gehen, streckte Penelope schnell die Hand aus und hielt ihn am Arm fest.
„Bitte, Aidan. Ich weiß nicht, was ich tun kann, um dir zu helfen. Aber lass es
mich wenigstens versuchen.“
„Mir kann niemand helfen, Penelope. Nicht einmal du.“
10. KAPITEL Wie sollte Penelope einfach so weitermachen wie bisher, wenn alles um sie
herum wie ein Kartenhaus einzustürzen drohte?
Sie saß vor einem weißen Klapptisch in dem kleinen Lagerraum ihres Buchladens
und verpackte herzförmige Lavendelseifenstücke, die sie vorige Woche selbst
gemacht hatte, in rosafarbenes Krepppapier und band blaue Schleifen darum. Es
war Montag, und sie hatte bereits seit einer Stunde geöffnet, doch es war noch
kein einziger Kunde gekommen. Zweifelsohne waren sie alle zu beschäftigt
damit, wilde Mutmaßungen darüber anzustellen, warum Aidan verhaftet worden
und wie er so schnell wieder freigekommen war.
Penelope selbst hatten die Anschuldigungen, die man ihm zur Last legte,
mindestens genauso schockiert wie die übrigen Einwohner von Old Orchard. Aber
schlimmer noch als das hatte der plötzliche Bruch in ihrer Beziehung zu Aidan sie
getroffen. Sie stand auf und rieb sich gedankenverloren den vom langen Sitzen
steifen Nacken. War es tatsächlich erst zwei Tage her, dass sie sich
leidenschaftlich geliebt hatten? Dass sie ihm vertrauensvoll nicht nur ihren
nackten Körper, sondern auch ihre Seele gezeigt und sich willig in seiner
Zärtlichkeit verloren hatte?
Und jetzt…
Jetzt behandelte er sie wie eine Fremde.
Spot sprang mit einem Satz auf den Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen
hatte, und schnurrte laut. Penelope streichelte dem Tier über den Rücken, dann
hob sie die ziemlich schwere Katze hoch und setzte sie zurück auf den Fußboden.
Max hob träge den Kopf, beäugte Spot und legte seine Schnauze mit einem
gleichgültigen Schnaufen wieder zurück auf seine Vorderpfoten.
„Was ist los mit dir, Junge?“ fragte Penelope und kniete sich hin, um ihn hinter
den Ohren zu kraulen. „Kannst dich zu nichts so recht aufraffen, heute Morgen,
was?“
Ihr selbst ging es nicht viel besser, wenn sie ehrlich war. Und das lag nicht nur
daran, dass sie letzte Nacht kein Auge zugemacht hatte.
Warum wollte Aidan plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben?
Die Glöckchen über der Tür klingelten.
Penelope ging in den Verkaufsraum, um ihren ersten Kunden zu begrüßen. Als
sie sah, wer es war, zwang sie sich dazu, ein unerschrockenes Gesicht
aufzusetzen.
„Guten Morgen, Elva“, sagte sie und nahm ihren Platz hinter der Kasse ein. „Es
überrascht mich, Sie hier zu sehen. Ist die Creme etwa schon alle, die Sie vor ein
paar Tagen gekauft haben?“
Elva funkelte sie streitlustig an.
„Natürlich nicht“, verneinte sie bissig. „Ich bin gekommen, weil mich interessiert,
inwiefern Sie in Mr. Kendalls illegale Machenschaften verwickelt sind.“
Penelope fühlte sich, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst.
„Pardon?“
Elva schien ihre Verunsicherung große Genugtuung zu verschaffen, denn sie
lächelte süffisant.
„Ich habe Ihnen ja gesagt, dass mit ihm was nicht stimmt. Diese
Geheimniskrämerei um seine Herkunft und all das. Ich wusste gleich, da ist was
im Busch.“
„Rhode Island“, rutschte es Penelope heraus.
Elva kniff die Augen zusammen.
„Letztes Mal haben Sie noch gesagt, er sei aus Oregon.“
„Mrs. Mollenkopf, könnte es sein, dass in Ihrer Familie gehäuft Fälle von depressiven Erkrankungen auftreten?“ „Was ist denn das für eine Frage?“ „Eine berechtigte, wenn man Ihre dauerhaft griesgrämige Stimmung bedenkt.“ „Griesgrämig?“ wiederholte Elva empört. „Das ist wohl das richtige Wort dafür, finde ich. Sagen Sie mir eins, ja? Liegen Sie nachts wach und hecken neue Gemeinheiten aus, mit denen Sie die Menschen verletzen können, oder fallen Ihnen diese Dinge spontan ein?“ Elvas anfängliche Verblüffung verwandelte sich in eine boshafte Hinterlistigkeit. „Sie müssen gerade reden, Süße. Ich bin nicht diejenige, die mit ihrer verrückten Großmutter in einer abgelegenen baufälligen Bruchbude irgendwelche schwarze Messen abhält. Wie ich gehört habe, sollen im Ort immer wieder Haustiere verschwinden, und eine Weile später findet man dann nur noch ihre Überreste, die im Wald verscharrt wurden.“ Die Geschichte hatte Penelope noch nie gehört, aber sie konnte nichts mehr überraschen, was von Elva kam. „Ich frage mich nur, wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat“, erwiderte sie schnippisch. Sie sah der anderen Frau unerschrocken in die Augen, dann drehte sie sich um und nahm eine Packung JohanniskrautTee von dem Regal, das in Kopfhöhe an der Wand hinter dem Tresen angebracht war. „Hier. Ich würde Ihnen dringend raten, jeden Tag eine Tasse davon zu trinken. Das wird Ihnen gut tun.“ „Ich denke gar nicht daran, etwas von Ihnen zu kaufen.“ „Es ist ein Geschenk. Ich nehme kein Geld von jemandem, der ganz offensichtlich Hilfe braucht.“ Elva presste die Lippen aufeinander, so dass von ihrem Mund nur ein schmaler Strich übrig blieb. Sie versetzte dem Teepäckchen einen Schubs. Es rutschte über die Kante des Tresens und fiel zu Penelopes Füßen zu Boden. „Behalten Sie Ihr Unkraut.“ Als die Tür hinter Elva ins Schloss gefallen war, atmete Penelope tief durch. Noch nie hatte sie jemandem so unverblümt die Meinung gesagt. Und sie war sich nicht sicher, wie sie sich jetzt, da sie es getan hatte, fühlen sollte. Ein Teil von ihr war bestürzt über die brutale Offenheit, die sie an den Tag gelegt hatte, aber ein anderer war unglaublich stolz auf sie. Penelope betrachtete die Packung auf dem Boden, überlegte, ob sie sie aufheben sollte, und zuckte dann mit den Schultern. Das konnte sie auch später noch tun. Jetzt war etwas anderes viel wichtiger. Sie rief Max, leinte ihn an, drehte das Schild in ihrer Tür um und schloss die Tür hinter sich ab. „Komm, mein Freund. Wir haben etwas zu erledigen.“ Aidan war nunmehr seit knapp dreißig Stunden wach, und die Folgen des Schlafmangels ließen sich nicht mehr leugnen. Ihm war matt und schwindelig. Er öffnete die Terrassentür seines Motelzimmers, um ein wenig frische Luft hereinzulassen, und ließ sich dann wieder auf den unbequemen, einzigen Stuhl im Raum fallen. Die Buchstaben auf dem Computerbildschirm verschwommen vor seinen Augen. Er blinzelte mehrmals und versuchte, sich auf die Resultate zu konzentrieren, die seine Internetrecherche ergeben hatte. Aber es war nichts dabei, das ihn auch nur im Geringsten weiterbrachte. Nichts, was einen Hinweis auf den eventuellen Aufenthaltsort seines Bruders gab. Natürlich kannte Davin sich ebenfalls mit den Möglichkeiten aus, die das Netz bot, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass er dort Spuren hinterließ, die man zu ihm zurückverfolgen konnte. Doch was, wenn Aidan es getan hatte? Unbeabsichtigt? Panik stieg in ihm hoch.
Er tippte seinen Decknamen in die Suchmaske ein und drückte die EnterTaste.
„Neuer Lehrer an der St. Joseph’s Universität wird von Studenten und Eltern für
seine außergewöhnlichen Lehrmethoden belobigt.“
Das Foto unter dem Text zeigte ihn, wie er gerade der Mutter von Billy Jones die
Hand schüttelte. Das war auf der Abschlussfeier vor einem Monat gewesen. Aidan
hatte nicht einmal bemerkt, dass man ihn fotografiert hatte, geschweige denn
damit gerechnet, dass das Bild im Old Orchard Chronicle veröffentlicht worden
war. So viel also zu der Frage, wie Davin ihn aufgespürt hatte. Aber warum hatte
er ihn nicht einfach auffliegen lassen? Die Behörden darüber informiert, wer
Aidan Kendali in Wirklichkeit war und dass er sich mit einer falschen Identität
einen Posten als Lehrer erschlichen hatte.
Weil er mit mir spielt, dachte Aidan düster. Wie eine Katze, die die Maus ein paar
Mal absichtlich entkommen lässt, bevor sie ihr das Genick bricht.
Aidan erstarrte plötzlich.
Er war nicht allein.
Penelope sah ihn an, dann den Bildschirm, vor dem er saß.
„Ich würde mit so einem Ding nie zurechtkommen“, stellte sie fest.
„Was machst du hier?“ fragte Aidan, ungläubig die Augenbrauen hochgezogen,
als hätte er einen Geist gesehen. „Wie hast du mich gefunden?“
„Das war nicht schwer. Du weißt doch, wie gut der Buschfunk in Old Orchard
funktioniert.“ Zögernd hielt Penelope ihm eine braune Papiertüte entgegen. „Ich
habe Trudy gebeten, ihre Prinzipien zu brechen und ausnahmsweise nach zehn
Uhr noch ein Frühstück zum Mitnehmen zu machen.“
Aidan rührte sich nicht, und so stellte Penelope die Tüte auf den Tisch neben den
Computer.
„Du siehst furchtbar aus“, sagte sie mitfühlend.
„Danke.“
„Erzähl mir, was hier vor sich geht, Aidan.“
Da war ein flüchtiger Anflug von Härte in seinem Blick, aber er schien nicht in der
Verfassung zu sein, Penelopes Beharrlichkeit großen Widerstand zu leisten.
Seufzend ging er zum Bett hinüber und setzte sich auf die^Kante. Trotz der
dunklen Schatten unter seinen Augen sah er noch immer unglaublich gut aus.
Und unglaublich müde.
„Ich kann nicht“, sagte er.
„Du kannst nicht, oder du willst nicht?“
„Beides.“
Langsam durchquerte Penelope das Zimmer und setzte sich neben ihm auf das
schmale, durchgelegene Motelbett. Er fuhr sich mehrere Male nervös durchs
Haar.
„Du würdest es nicht verstehen.“
„Glaubst du, mich so gut zu kennen?“ flüsterte sie.
Aidan drehte den Kopf. Das tiefe Bedauern, mit dem er sie ansah, traf sie wie ein
Keulenschlag. Als er den Mund öffnete, höchstwahrscheinlich um etwas zu sagen,
das sie nicht hören wollte, griff sie schnell nach der Papiertüte und begann, sie
auszupacken.
„Hier. Du musst was essen“, forderte sie ihn auf. „Na los, mach schon.“
Sein Lächeln überraschte sie. Es war kein typisches, fröhliches AidanKendall
Lächeln, aber immerhin.
„Seit wann bist du so herrisch?“
„Um ehrlich zu sein, habe ich gerade erst damit angefangen. Für einen Neuling
auf dem Gebiet mache ich meine Sache schon ganz gut, oder?“
Aidan nickte anerkennend.
„Ich würde dir eine Zwei geben.“
„Keine Eins?“ fragte sie in gespielter Enttäuschung.
„Okay, eine Zwei plus. Einsen vergebe ich so gut wie nie.“
„Warum?“
„Wofür sollte man sich noch anstrengen, wenn man schon alles erreicht hat?“
Da hatte er nicht ganz Unrecht.
Max jaulte neugierig von seinem Platz vor der offenen Tür aus. Der Geruch von
frisch gebratenem Speck hatte offenbar sein Interesse geweckt. Aidan biss ein
Stück ab und warf den Rest Max zu, der es gekonnt mit dem Maul auffing.
„Ein geschickter Hund“, lobte Aidan und sah Penelope an.
„Ja, das ist er“, stimmte sie zu.
„Du bist wunderschön, weißt du das eigentlich?“
Sie senkte den Blick, fühlte, dass sie rot wurde, und spielte mit ihrem Armband,
wie sie es immer tat, wenn sie nervös war.
„Und du brauchst Schlaf“, murmelte sie verlegen.
Aidan hob eine Hand und schob ihr sanft eine Haarsträhne hinters Ohr. Obwohl er
die Worte niemals ausgesprochen hatte, wusste Penelope in diesem Augenblick,
dass er sie liebte. Sie spürte es.
Zaghaft beugte sie sich vor und küsste seinen Mundwinkel. Dann den anderen.
„Ruh dich ein bisschen aus, Aidan. Was auch immer es ist, das dich Tag und
Nacht wach hält, du kannst es in diesem Zustand nicht lösen.“
Sie bedeutete ihm, sich zurückzulehnen, was er zu ihrem Erstaunen ohne
Widerrede tat. Fürsorglich zog sie ihm beide Socken aus, dann die Hose.
Angestrengt konzentrierte sie sich dabei auf den derben Jeansstoff, um nicht auf
Aidans muskulöse Beine zu starren. Als sie wieder aufblickte, war er bereits
eingeschlafen. Vorsichtig zog sie ihn ein Stück hoch, so dass er quer über dem
Bett lag. Sie nahm ein Kissen und eine Decke aus dem Wandschrank. Nachdem
sie ihm das Kissen unter den Kopf geschoben und die Decke über ihm
ausgebreitet hatte, hörte sie plötzlich ein lautes Piepsen.
Es kam aus der Richtung, wo der Computer stand. Penelope näherte sich dem
Gerät und riskierte einen Blick auf den Monitor.
„Zum fünfzehnten Mal trat gestern die Kommission zur Brandbekämpfung
zusammen, die ins Leben gerufen wurde, nachdem…“
Penelope hielt den Atem an.
In was war Aidan da hineingeraten?
Sie schaute über ihre Schulter. Allem Anschein nach schlief Aidan tief und fest. Er
schnarchte leise. Stirnrunzelnd wandte sie sich wieder dem unterstrichenen Satz
auf dem Bildschirm zu, fand den kleinen Pfeil daneben, über dem mehr stand,
und bewegte den Mauszeiger darüber. Ein winziger grau unterlegter Text, der
daraufhin erschien, forderte sie auf, die Tasten Alt und O zu drücken. Das tat sie.
11. KAPITEL Als die Dämmerung hereinbrach, stieg Aidan Kendall aus dem alten Chevy, den
er in Mrs. O’Malleys Garage untergestellt hatte, und nahm aufmerksam die
Umgebung in sich auf. Er befand sich an einer Tankstelle in der Nähe des
Flughafens von Toledo, ungefähr eine Autostunde von Old Orchard entfernt.
Vor nun beinahe exakt neunzig Minuten war er aufgewacht, geistig sowie auch
körperlich gestärkt, um einen Topf mit selbst gekochter Suppe vorzufinden,
direkt neben dem flimmernden Monitor, auf dem Informationen über Aidan zu
sehen waren, die er lieber geheim gehalten hätte.
Eine Stimme in seinem Inneren sagte ihm, dass Penelope den Artikel gelesen
hatte.
Aber hatte sie einen Zusammenhang herstellen können? Wahrscheinlich nicht.
Zumindest hoffte Aidan das. Um ihretwillen. Doch um ganz sicherzugehen, hatte
er beschlossen, das Motel gleich morgen in aller Herrgottsfrühe zu verlassen und
unterzutauchen. Wo wusste er noch nicht, auf jeden Fall musste es ein Ort sein,
an dem Penelope ihn nicht suchen – und finden – würde. Die Situation spitzte
sich unaufhaltsam zu, und er wollte den einzigen Menschen, der nach so langer
Zeit den Weg in sein Herz gefunden hatte, in Sicherheit wissen. Zu viel hatte er
schon verloren. Er könnte es nicht ertragen, Penelope auch noch zu verlieren.
Aidan ging zu der öffentlichen Telefonzelle auf der anderen Seite der Straße und
wählte eine Nummer, die er seit über einem Jahr nicht mehr angerufen hatte.
Seit er sich in Old Orchard niedergelassen hatte. Wobei niedergelassen wohl
nicht ganz der richtige Ausdruck war. Einen kurzen Zwischenstopp auf der Flucht
vor seiner Vergangenheit eingelegt traf es eher.
Er wartete. Es klingelte ein Mal, zwei Mal…
„Hallo?“
Es war lange her, dass Aidan diese Stimme gehört hatte. Brody Tanners Stimme,
mit dem zusammen er das College besucht hatte. Der Mann, der bei Aidans
Hochzeit sein Trauzeuge gewesen war.
Er war es auch, der ihm beigestanden hatte, nachdem seine Familie für immer
aus seinem Leben gerissen worden war.
„Der letzte Akt hat begonnen“, sagte Aidan schlicht.
Penelope lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür des Motelzimmers,
das Aidan gemietet hatte. Ein Blick durch den Spalt zwischen den zugezogenen
Vorhängen sagte ihr, dass der Computer noch immer eingeschaltet war. Also
würde Aidan zurückkommen. Die Frage war nur, wann.
Sie sah einen Schatten, nur wenige Meter entfernt, und zuckte zusammen.
Schnell duckte sie sich hinter den Pfosten der Außentreppe und atmete
erleichtert auf, als ihr klar wurde, wer sie so erschreckt hatte. Oder besser
gesagt, was.
Die furchtlose Katze ging auf Max zu, den Penelope neben der Tür angebunden
hatte, und stupste sanft ihre Nase gegen seine Brust. Entgegen jeder Erwartung
schnappte er weder nach dem vorwitzigen Neuankömmling noch bellte er. Alles,
was er tat, war, freudig mit dem Schwanz zu wedeln.
Penelope sah dem Schauspiel mit großen Augen zu.
„Schau einer an“, sagte sie. „Du und Spot, ihr seid jetzt wohl die dicksten
Freunde, was? Aus euch soll jemand schlau werden.“
Sie schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick über den leeren Parkplatz schweifen,
dann die zweispurige Straße dahinter. Plötzlich blinkten in der Ferne
Scheinwerfer auf. Ob das Aidan war? Penelopes Herz schlug wie wild.
Was sie herausgefunden hatte, war ein Schock für sie gewesen. Aber trotz allem
hatte es die Liebe, die sie für diesen Mann empfand, nur noch verstärkt, der so erfolgreich alle Barrieren niedergerissen hatte, mit denen sie seit ihrer Kindheit versuchte, sich vor allzu großer Nähe zu schützen. Und sie war ihm dankbar dafür. Ohne ihn hätte sie nicht einmal gewusst, was Liebe überhaupt bedeutete. „Was willst du hier?“ Sie schaute nach unten. Dort stand Aidan. Er wirkte verärgert und besorgt zugleich. Penelope schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Um wie viel pflegeleichter war er doch, wenn er müde und hungrig war. Aidan lief die Stufen hinauf, blieb vor ihr stehen und sah sie eindringlich an. Sie unterdrückte den Impuls, vor ihm zurückzuweichen, straffte stattdessen die Schultern und erwiderte seinen festen Blick, ohne eine Antwort zu geben. Als er begriff, dass sie nicht vorhatte zu gehen, schob er sich an ihr vorbei, öffnete die Tür und winkte sie hinter sich ins Zimmer. Dann drehte er sich um. „Also?“ fragte er barsch. , Penelope rieb ihre feuchten Handflächen gegeneinander. Innerlich zitterte sie, ließ sich ihre Aufregung aber nicht anmerken. „Wir müssen uns unterhalten, Aidan“, sagte sie. „Oder sollte ich dich lieber Allen nennen?“ Verdammt. Sie wusste es. Sein Blick fiel auf den Computerbildschirm, der die einzige Lichtquelle in dem düsteren stickigen Raum war. Die Frage, wie sie es herausgefunden hatte, erübrigte sich wohl. Penelope sah so verloren und durcheinander aus, dass er sie am liebsten umarmt und an sich gedrückt hätte. Aber das konnte er nicht tun. Nicht jetzt. Sie schwebten beide in höchster Gefahr, und er musste darüber nachdenken, wie es nun weitergehen sollte. Sie zog einige eng bedruckte Seiten aus ihrer Jackentasche, die ganz zerknittert waren, weil sie sie einfach irgendwie hineingestopft hatte, ohne sie vorher zu falten. „Ich bin in der Bücherei gewesen. Twila hat mir mit dem Computer geholfen und…“ Sie hielt inne und hielt ihm die Seiten hin. Er nahm sie. Die erste enthielt einen Zeitungsartikel, der schilderte, wie seine Eltern bei dem mysteriösen Hausbrand vor fünfzehn Jahren ums Leben gekommen waren. Auf der zweiten war ein Foto von ihm als Jungen zu sehen, das kurz vor der Katastrophe aufgenommen worden war. Dasselbe Bild, das er in dem kleinen Glasrahmen hinter dem Foto mit seiner Frau und seinem Sohn aufbewahrte. „Das bist du, stimmt’s? Du und dein Zwillingsbruder.“ Er schleuderte die Ausdrucke aufs Bett. „Ja“, sagte er. Er fühlte sich unsagbar erschöpft, aber auch, als sei mit einem Schlag eine große Last von ihm abgefallen. Wann hatte er das letzte Mal die Wahrheit gesagt? Über sich und seine Vergangenheit? Es war so lange her, dass es ihm vorkam, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Endlich wieder einem Menschen vertrauen und ihm gegenüber ehrlich sein zu können war wie Balsam für seine geschundene Seele. „Er ist derjenige, der diese Überfälle begangen hat“, überlegte Penelope. „Deshalb denkt jeder, das auf den Überwachungsvideos bist du gewesen, richtig?“ Allen sah sie sprachlos an. Das, was sie da sagte, klang wie eine Frage, aber es war keine. Es war eine Feststellung. Penelope glaubte ihm tatsächlich. Ihre Körperhaltung strahlte zwar Distanziertheit aus, sie hatte die Arme vor der
Brust verschränkt und die Hände um ihre Schultern geschlungen, als wäre ihr kalt, aber in ihren Augen lag ein Ausdruck bedingungsloser Zuversicht. So gern Allen es vor ihr versteckt hätte, dieser Ausdruck machte es ihm unmöglich, die Liebe, die er für sie empfand, noch weiter zu verheimlichen. Seine Züge wurden weich. „Ja, du hast Recht“, sagte er schwach. „Erzähl es mir“, bat sie leise. Was sollte er ihr erzählen? Dass er sie liebte? Mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag, jedem Blutstropfen, der durch seine Adern floss? Er vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Hose. Natürlich war es nicht .das, was sie von ihm hören wollte. Wahrscheinlich wäre es trotzdem richtig, sie wissen zu lassen, wie wichtig sie ihm war. Doch er konnte es nicht. Nicht jetzt. Vielleicht niemals. Aber was er tun konnte, war, ihr den Rest der Geschichte anzuvertrauen, von der sie sich das meiste bereits selbst zusammengereimt hatte. „Es stimmt. Ich heiße in Wirklichkeit Allen. Allen Dekker. Und Davin…“ Seine Stimme versagte, als er den Namen seines Bruders aussprach. Penelope wartete geduldig, gab ihm Zeit, die auf ihn einstürzenden Erinnerungen und Gefühle zu ordnen. Er wanderte durchs Zimmer, auf und ab, auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Dann spürte er Penelopes Hand auf seinem Rücken. „Was ist passiert, Allen? Du kannst es mir sagen.“ Das wollte er ja. Wirklich, er wollte es. Aber wo sollte er nur anfangen? Er räusperte sich. „Als unsere Eltern bei diesem Brand ums Leben kamen“, begann er heiser, „hat man Davin und mich zu unserem Onkel gebracht. Dem Bruder meines Vaters. Er wohnte damals in einer Kleinstadt in der Nähe von Providence.“ Allen erinnerte sich an den Tag ihres Umzuges, als sei es gestern gewesen. Er und Davin hatten noch immer die schwarzen Anzüge getragen, die ihnen ein Nachbar für die Beerdigung gekauft hatte. Und dann war es in einem alten Truck einer Ungewissen Zukunft entgegengegangen, einfach so. „Am Anfang war es sehr hart für uns. Aber nach einer Weile wurde es besser, wir fingen an, uns einzuleben, und ich dachte… ich dachte, es hätte schlimmer kommen können und dass wir eigentlich noch Glück gehabt hatten. Immerhin waren wir nicht getrennt worden und in irgendein Heim gesteckt worden. Auch wenn wir den Mann kaum kannten, bei dem wir jetzt wohnten, er gehörte zur Familie.“ Er hielt inne und versuchte, die weiteren Ereignisse in eine einigermaßen verständliche Reihenfolge zu bringen. „Viel später erst fand ich heraus, dass er Davin regelmäßig schlug, wenn ich nicht da war. Und, soweit ich weiß, nicht nur das.“ Er schüttelte den Kopf. Wie hatte er nur von all dem nichts mitbekommen können? Wie hatte er Davin die Ausreden abkaufen können, die er immer wieder wegen der unübersehbaren blauen Flecken erfunden hatte, mit denen sein Körper so oft regelrecht übersät gewesen war? Warum hatte er sich nie etwas dabei gedacht, wenn sein Bruder tagelang am Esstisch kein einziges Wort herausgebracht, sondern trotzig geschwiegen hatte? „Er war schon immer der Aufsässigere von uns beiden gewesen. Ich wusste, dass unser Onkel ihn manchmal für seinen Ungehorsam bestraft hat, aber dass er so brutal war, davon hatte ich keine Ahnung.“ Penelope nickte verständnisvoll. „Als wir dann aufs College kamen, wurde Davins Verhalten immer seltsamer. Extremer. Wenn ich ein Mädchen kennen lernte, traf er sich mit ihr und gab vor, ich zu sein, um sie ins Bett zu kriegen.“ Dass er seinen Bruder in Verdacht hatte,
noch viel weiter gegangen zu sein und mehrere Vergewaltigungen an denjenigen seiner Exfreundinnen begangen zu haben, die nicht freiwillig mit ihm hatten schlafen wollen, das behielt Allen lieber für sich. Er konnte es sowieso nicht beweisen. Irgendwann hatte er das College gewechselt, in der Hoffnung, Davin würde endlich anfangen, sein eigenes Leben zu leben, wenn eine größere Entfernung zwischen ihnen lag. Dass Davin zu diesem Zeitpunkt bereits besessen davon gewesen war, seinen Bruder, der im Gegensatz zu ihm selbst nie misshandelt wurde, zu zerstören, und ihm wie ein Schatten heimlich überallhin folgte, das hatte Allen in seiner Blauäugigkeit erst bemerkt, als es schon viel zu spät war. Ja, blauäugig, das war er gewesen. Und deshalb fühlte er sich auch verantwortlich für Davins Wahnsinn. Selbst jetzt noch. Obwohl er ihn gleichzeitig für das hasste, was er ihm angetan hatte. Mehr als er es jemals für möglich gehalten hätte, irgendein menschliches Wesen zu hassen. Allen ging zur Terrassentür, warf einen argwöhnischen Blick durch die Glasscheibe und zog dann die Vorhänge zu. „Im letzten Jahr vor meinem Abschluss traf ich Kathleen.“ Er schloss die Augen und dachte an diese scheinbar so unbeschwerte Zeit zurück, daran, wie Kathleens blondes Haar im Sonnenlicht geschimmert hatte, an ihr strahlendes Lächeln. „Ich weiß noch, dass ich geglaubt habe, mein Leben könnte gar nicht perfekter sein. Drei Monate nachdem wir uns kennen gelernt hatten, heirateten Kathleen und ich. Ich hatte einen gut bezahlten Job in Virginia in Aussicht, und als ich mit dem Studium fertig war, zogen wir dorthin, kauften ein Haus und versuchten die nächsten vier Jahre lang, ein Kind zu bekommen.“ Sein Hals fühlte sich rau an, und Allen schluckte. „Irgendwann merkten wir dann, dass etwas nicht stimmen konnte, denn es wollte einfach nicht klappen. Also beschlossen wir, zum Arzt zu gehen und uns untersuchen zu lassen. Ich kam gerade von meinem Termin dort zurück, als ich Kathleen weinend in der Küche vorfand. Sie war schwanger.“ Er senkte den Kopf und starrte zu Boden. „Ich hielt ihre Tränen für Freudentränen.“ Allen lachte bitter. „Aber dann, eine Woche später, rief die Praxis an und man sagte mir, dass ich unfruchtbar bin. Das könnte zwar durch eine Operation behoben werden, aber… verstehst du? Das Kind konnte nicht von mir sein.“ Penelope sah ihn schockiert an. „Da hat Kathleen mir gestanden, dass es von Davin ist. Er hat sogar sie getäuscht. Und als sie es merkte, war es zu spät. Sie hat sich gewehrt, aber er hat nicht aufgehört. Sie wollte nicht, dass ich es erfahre. Aus Angst, dass Davin und ich uns gegenseitig umbringen, wenn ich es weiß.“ „Oh Gott“, flüsterte Penelope bestürzt. „Es tut mir so Leid.“ Allen blinzelte verbissen die Tränen fort. „Eine Abtreibung kam für sie nicht in Frage. Ich hätte sie auch nie dazu gedrängt. Ein ungeborenes Kind zu töten, das für all das nichts kann, hätte sie nicht über sich gebracht. Und ich auch nicht. Also sind wir so weit weggegangen, wie wir konnten. Nach Mississippi.“ Penelope wusste nicht, wie sie ihr Mitgefühl ausdrücken sollte, das so überwältigend war, dass sie kaum atmen konnte. Und so hörte sie einfach weiter schweigend zu und streichelte dabei Allen Dekkers Arm, den sie als Aidan Kendall kennen und lieben gelernt hatte. „Dann kam Joshua auf die Welt, und wir versuchten zu vergessen, was geschehen war. Wir waren endlich wieder eine Familie.“ Aber für wie lange, dachte Penelope traurig, traute sich aber nicht, die Frage auszusprechen. Außerdem kannte sie die Antwort bereits. Das vorübergehende
Glück hatte viel zu kurz gedauert.
Allen verstummte. Penelope wusste nicht, was sie tun sollte. Sie fühlte sich hin
und her gerissen. Er hatte ihr schon so viel von sich preisgegeben. Dinge von
sich erzählt, die er wahrscheinlich vorher noch nie jemandem anvertraut hatte.
Und dennoch wünschte sie sich tief in ihrem Inneren, er würde ihr alles sagen.
Warum nur lag ihr so viel daran? Vielleicht, weil es bedeuten würde, dass er ihr
vollkommen vertraute, so sehr, wie sie ihm.
Erst als er sich zu ihr umdrehte, ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie im
matten Licht ansah, das der flimmernde Bildschirm verbreitete, bemerkte sie,
dass sie die Augen fest zusammengekniffen und gebetet hatte, er möge
weitersprechen. Als sie sie öffnete, rann eine Träne ihre Wange hinab.
„Ich bin so lange innerlich tot gewesen, Penelope. Mein Herz war wie versteinert.
Bis du kamst.“
Penelope wich seinem Blick aus.
„Ich habe versucht, dich auf Abstand zu halten, mich von dir fern zu halten. Aber
du hast es nicht zugelassen.“ Allen strich sanft mit den Daumen über ihre Stirn.
„Und ich bin dir dankbar dafür.“
Er beugte sich vor und gab ihr einen zärtlichen Kuss.
„Bleib heute Nacht bei mir, Penelope.“
Wie sehr sie diesen Mann begehrte. Körperlich und seelisch gleichermaßen. Sie
wollte mit ihm schlafen, mit ihm verschmelzen, bis nichts mehr einen Sinn ergab.
Bis alles einen Sinn ergab.
„Ja“, hauchte sie und erwiderte seinen Kuss.
Er zupfte an ihrem Baumwollkleid, öffnete den Reißverschluss am Rücken, und es
glitt an ihrem schlanken Körper hinab zu Boden. Sie krallte die Finger in sein
weiches TShirt und zog es ihm über den Kopf, dann presste sie ihre Hände
gegen seinen flachen, harten Bauch. Sinnlich schob er ihr eine Haarsträhne nach
hinten, um ihren Nacken mit seinen warmen Lippen liebkosen zu können.
Dann standen sie vollkommen nackt voreinander, und Penelope hielt erregt die
Luft an, als Allen ihren Busen berührte und den Daumen langsam um ihre
Brustspitze kreisen ließ. Sie spürte etwas Hartes an ihrer Hüfte und sah nach
unten, fasziniert von dem unübersehbaren Beweis seines Verlangens nach ihr.
Er warf den Kopf zurück, überrascht, wie fordernd sie ihre Hände um ihn schloss,
dann packte er sie und drängte sie zum Bett.
Während ihr erstes Mal zärtlich und ein wenig unbeholfen gewesen war, so ging
es jetzt um pure, elementare Lust, eine Sehnsucht, die befriedigt werden
musste, wollten sie nicht in der Glut ihrer Leidenschaft verbrennen.
12. KAPITEL Zwei Stunden später beugte Allen sich zu ihr hinunter, um sie abermals zu
küssen. Es war bereits stockfinster draußen, und die einzigen Geräusche, die in
den kleinen Raum drangen, waren das Rauschen der Blätter des großen Baumes
vor dem Fenster im Wind und das gelegentliche Klirren von Max’ Kette, der sich
vor der Tür zusammengerollt hatte, neben ihm Spot, die sich an seine Schulter
kuschelte.
Penelope öffnete die Augen, streichelte mit den Fingerspitzen über Aliens
Schläfe. Er fasste sie am Handgelenk, spürte das Lederarmband, das sie
anscheinend niemals ablegte, und schmiegte ihre Hand an sein Gesicht.
„Ich möchte, dass du für eine Weile die Stadt verlässt.“
„Wo sollte ich hingehen?“
„Ich weiß nicht. Kannst du nicht bei deiner Familie unterschlüpfen?“
„Abgesehen von Mavis… habe ich keine Familie mehr.“
Allen drehte den Kopf, um sie anzuschauen. Sie hatten mehr gemeinsam, als er
je gedacht hätte.
„Dann fahr so weit du kannst. Irgendwohin, Hauptsache, es ist möglichst weit
von Old Orchard weg.“
Er sah ihr fest in die Augen.
„Versprich es mir.“
Penelope antwortete nicht.
„Versprich es“, wiederholte er ernst.
„Ich kann nicht.“
Allen seufzte, rollte sich auf den Rücken und starrte schweigend an die Decke. So
lagen sie lange da, bis Penelope sich plötzlich aufsetzte. Er hörte das Rascheln
des Bettlakens, dann hielt sie ihm ihr Armband hin.
„Meine Mutter hat mir das vor vielen Jahren gegeben, als ich noch ein Kind war“,
sagte sie bedeutungsschwer. „Weißt du, was das ist?“
Er betrachtete den in Silber eingefassten Anhänger, der an dem Armband
befestigt war. Ein hellblauer Stein mit weißen Flecken, der an den Himmel an
einem Sommertag erinnerte.
„Es ist ein Larimar“, erklärte Penelope. „Er hilft dem Menschen, der ihn trägt,
durch schwierige Lebensumstände. Und er schützt vor bösen Mächten.“ Bevor
Allen widersprechen konnte, hatte sie ihm ihren Glücksbringer schon ums linke
Handgelenk gewickelt. „Versprich du mir, dass du es nicht ablegst, ehe diese
Sache vorbei ist.“
„Und was wird dich dann beschützen?“ fragte er.
„Du.“
Allen wollte sich abwenden, doch Penelope hielt ihn fest.
„Erzähl mir alles“, bat sie.
Sie wussten beide, dass seine Geschichte noch nicht zu Ende war. Doch etwas in
ihm sträubte sich dagegen, die Harmonie und Geborgenheit zu zerstören, die sich
gerade wieder zwischen ihnen eingestellt hatte, indem er seine schrecklichen
Erinnerungen heraufbeschwor und damit nicht nur sich selbst, sondern auch
Penelope traurig machte.
Aber sosehr er es auch versuchte, er konnte die Schatten der Vergangenheit
nicht für immer in sich einsperren. Jetzt, da er wieder an sie gedacht hatte,
drängten sie erbarmungslos an die Oberfläche.
„Vor vierzehn Monaten kam Davin dahinter, dass Joshua sein Sohn ist. Eines
Tages kam ich heim und fand Kathleen im Wohnzimmer. Sie war tot.“
Er spie die Worte heraus, als seien sie giftig. Und das waren sie auch. Penelope
fühlte abermals, wie ihre Augen feucht wurden. Wie sehr musste ein Mensch jemanden hassen, um ihm so etwas anzutun. Was für eine Tragödie. „Wenig später rief mein bester Freund an, ein Anwalt, um mir zu sagen, dass die Polizei auf dem Weg zu unserem Haus war, um mich festzunehmen. Davin hatte Kathleen umgebracht und versucht, mir den Mord anzuhängen. Seitdem bin ich auf der Flucht.“ Allen drehte den Anhänger zwischen seinen Fingern hin und her und betrachtete ihn gedankenverloren. „Von Stadt zu Stadt“, fuhr er fort. „Nie lange an einem Ort. Immer in der Angst, dass sie mich ausfindig machen und ins Gefängnis werfen. Wer würde mir schon glauben, wenn ich die Wahrheit sage. Mein Bruder ist verrückt und lebt nur dafür, mich kaputtzumachen? Ja, sicher.“ Er lachte sarkastisch. „Das habe ich ein Mal versucht und mich damit in Teufels Küche gebracht. Als der Beamte sich entschuldigte und ins Hinterzimmer verschwand, wusste ich, was los war. Ich konnte gerade noch entkommen.“ Penelope nickte in Richtung des Computers. „Und damit hast du dich auf dem Laufenden gehalten, ob man hinter dir her ist?“ „Nicht nur das. Ich habe versucht, Davin zu finden. Es gibt nur einen Weg, dem Ganzen ein Ende zu setzen.“ Er bemerkte den erschrockenen Ausdruck, der über ihre Züge huschte. „Nein, nicht, was du denkst. Aber wenn ich mich an die Behörden wenden will, damit er seine gerechte Strafe bekommt, muss ich ihnen Beweise liefern.“ „Aber er hat dich als Erster gefunden.“ „Ja, das hat er.“ „War es das Bild von dir im Chronicle, das ihn nach Old Orchard geführt hat?“ „Das vermute ich. Er weiß auch, wie man das Internet nach Spuren durchsucht, die eine Person hinterlässt. Manchmal, ohne es selbst zu wissen. Mir war nie in den Sinn gekommen, zu überprüfen, was dort wohl über mich steht. Und dann sah ich dieses Foto und wusste, dass er es auch entdeckt hatte.“ „Und jetzt ist er dir auf den Fersen, um… um was? Dir die Polizei auf den Hals zu hetzen?“ Allen nickte. „Er hat nicht umsonst die Tankstelle ausgeraubt. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass Jake Smythes Zeugenaussage genügt, um mich hinter Gitter zu bringen. Als das nicht passierte, hat er sich den Gemischtwarenladen vorgenommen, weil er wusste, dass der mit einer Videokamera überwacht wird und der Sheriff mich festnehmen würde, sobald er das Band gesehen hatte. Und dann…“ „Dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis rauskommt, wer du wirklich bist und dass du wegen Mordes an deiner Frau gesucht wirst.“ Allen sagte nichts. Was hätte er auch sagen sollen. Penelope hatte mit ihrer Vermutung genau ins Schwarze getroffen. Und sie wusste es. Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte. „Vielleicht will sich jemand wegen Max beschweren“, sagte Penelope. „Er hat vorhin ein paar Mal gebellt.“ Es klang nicht sehr überzeugt. „Ja, vielleicht“, erwiderte Allen resigniert. Er setzte sich auf die Bettkante und nahm den Hörer ab. „Oh, Gott sei Dank, Sie sind da“, sagte eine völlig aufgelöste Mrs. O’Malley, nachdem er sich gemeldet hatte. „Wissen Sie zufällig, wo Penelope steckt? Mavis ist niedergeschlagen worden…“ Wieder einmal saß Penelope auf dem Beifahrersitz eines Wagens und fuhr durch die verlassenen Straßen der Stadt, die sich für sie inzwischen nicht mehr wie der Ort anfühlten, in dem sie aufgewachsen war. Alles wirkte plötzlich fremd und
bedrohlich. Viel zu viele dunkle Ecken, hinter denen Gefahr lauern konnte.
Penelope lief ein kalter Schauer über den Rücken, und Allen streckte die Hand
aus, um sie ihr auf die Schulter zu legen.
„Penelope? Wie geht es dir?“
„Ist schon gut“, versicherte sie. „Um mich selbst mache ich mir im Moment die
wenigsten Sorgen.“
„Ich weiß“, sagte er nüchtern. „Hör zu, ich meine es wirklich ernst. Ich will, dass
du dir Mavis schnappst und mit ihr von hier verschwindest. Heute noch.“
Penelope starrte stur aus dem Fenster auf die von schwachen Straßenlaternen
beleuchteten Häuserfronten.
„Versprich es mir.“ Der Klang seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er
dieses Mal nicht lockerlassen würde, bis sie tat, was er von ihr verlangte.
„Also gut“, flüsterte Penelope widerwillig. „Ich verspreche es.“
Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück. Schließlich stoppte Allen den
Wagen einen Block von Mrs. O’Malleys Gästehaus entfernt.
„Steig aus“, förderte er Penelope auf.
„Du kommst nicht mit?“ fragte sie ungläubig.
„Nein, ich kann nicht.“
„Wohin gehst du dann?“
„Zurück ins Motel. Ich traue Davin mittlerweile alles zu. Jeder, der in meiner
Nähe ist, ist in Gefahr. Ich will nicht, dass jemand verletzt wird.“
„Mavis war nicht in deiner Nähe und wurde trotzdem verletzt“, gab Penelope zu
bedenken.
„Davin hat offenbar herausgefunden, wer sie ist. Und wer du bist. Deshalb müsst
ihr euch auch so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.“
„Und was ist mit Mrs. O’Malley? Sie steht auch in Verbindung zu dir.“
Allen biss sich auf die Lippe. Wie hatte er Mrs. O’Malley vergessen können? Die
Frau, die so viel für ihn getan, ihm die Stelle als Lehrer verschafft und ihn auch
sonst wie ihren eigenen Sohn behandelt hatte.
„Ja“, nickte er. „ihr solltet sie am besten mitnehmen.“
„Oh, Allen“, sagte Penelope halb flehend, halb beschwörend. Sie rutschte zu ihm
hinüber und schloss ihn fest in die Arme. „Du musst das hier nicht allein
durchstehen. Wir könnten alle zusammen die Stadt verlassen.“
„Und was dann? Uns immer genauestens an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf
der Autobahn halten, damit uns kein Polizist anhält und mich auf dem
Fahndungsfoto wieder erkennt, das sie bis dahin alle mit sich herumtragen
werden?“
Er schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, Penelope, irgendwann muss es enden. Ich bin es so leid, ich kann nicht
mehr weglaufen. Ich will es nicht mehr.“
Ihr Blick wanderte unruhig vom Armaturenbrett zu ihren Knien und wieder
zurück. Allen konnte förmlich hören, wie sie fieberhaft nachdachte, nach einer
Lösung suchte.
„Dann gehen wir zu Sheriff Parker und erklären ihm alles. Er wird uns glauben.
Ganz bestimmt.“
Sie klang so verzweifelt, und es tat Allen furchtbar weh, sie so zu sehen. Wie
gern wäre er auf ihren Vorschlag eingegangen. Aber seine Erfahrungen hatten
ihn gelehrt, dass er gar keine größere Dummheit begehen könnte, als auf die
Hilfe der Behörden zu hoffen.
„Wird er das, Penelope?“ fragte er müde.
Wenn sie ehrlich war, konnte sie es nicht mit Sicherheit sagen. Sie hoffte es
zwar, aber… es war alles so verwirrend.
„Niemand hat mir bisher geglaubt. Warum sollte ausgerechnet er es tun?“ Penelope wusste, dass er wahrscheinlich Recht hatte, und sie hasste es, das zugeben zu müssen. Noch mehr allerdings hasste sie den Gedanken, ihn womöglich nie wieder zu sehen, wenn sie ihn jetzt gehen ließ. „Penelope“, sagte er. Sie versuchte krampfhaft, ein Schluchzen zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht. „Penelope, sieh mich an.“ Er hob mit dem Zeigefinger ihr Kinn an und zwang sie so, ihm ins Gesicht zu sehen. „Ich möchte, dass du etwas weißt…“ Schnell legte sie ihm eine Hand auf den Mund. „Nein. Sag nichts. Nicht jetzt. Du kannst es mir später erzählen.“ Allen drückte sie so eng an sich, wie er nur konnte. Sie gab ihren aussichtslosen Kampf gegen die Tränen auf und weinte hemmungslos in seinen Armen. Dann schob er sie schweren Herzens von sich, lehnte sich über sie hinweg und stieß die Wagentür auf. „Geh“, sagte er mit erstickter Stimme. „Allen.“ „Verdammt, Penelope. Geh endlich. Bevor ich etwas tue, was ich später bereuen werde.“ Was er damit meinte, konnte sie nur raten. Aber es war offensichtlich, wie schwer es ihm fiel, sie so anzufahren. Wie in Zeitlupe stieg sie aus dem Auto und öffnete die hintere Tür, um Max und Spot herauszulassen. Kaum hatte sie sie wieder zufallen lassen, fuhr Allen an und jagte mit quietschenden Reifen davon. Penelope stand einfach nur da und sah ihm nach, bis er endgültig außer Sichtweite war. Dann griff sie in das Lederetui, das sie um den Hals trug. Mechanisch zog sie eine Packung Taschentücher daraus hervor und wischte sich die Tränen fort. Als sie fünf Minuten später um die Ecke zu Mrs. O’Malleys Gästehaus bog, fühlte sie sich innerlich wie erstarrt. Sie klopfte und wurde fast im selben Augenblick von Edith am Arm gepackt und in den Flur geschleift. „Gott, bin ich froh, dass Sie da sind. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte, als ich Mavis auf der Treppe gefunden habe. Sie muss sich mit letzter Kraft hierher geschleppt haben.“ „Wie geht es ihr?“ fiel Penelope ihr ins Wort. „So weit ganz gut. Ich habe sie in einem der Gästezimmer untergebracht. Sie war nur kurz bewusstlos, und als sie wieder zu sich kam, meinte sie, sie hätte ein Geräusch im Haus gehört, und als sie nachsehen gegangen ist, hat ihr jemand eine übergezogen.“ Penelope versuchte die Tragweite dessen zu begreifen, was Mrs. O’Malley ihr da erzählte. „Das waren ihre Worte, nicht meine“, erklärte Edith, die Penelopes verwirrten Blick vollkommen missverstand. „Kommen Sie. Am besten reden Sie selbst mit ihr.“ Mrs. O’Malley führte sie, noch immer pausenlos plappernd, in die kleine Empfangshalle. Penelope gefror vor Schreck das Blut in den Adern. „Hallo, Penelope. Sie wissen nicht zufällig, wo Aidan sich aufhält, oder?“ Sheriff Parker stand vor dem Tresen und drehte seinen Hut in den Händen. „Ich meine natürlich, wo Allen Dekker sich aufhält“, verbesserte er sich viel sagend.
13. KAPITEL Penelope half ihrer Großmutter, sich aufzusetzen, damit sie ihr ein zweites Kissen
hinter den Rücken schieben konnte. Dann reichte sie ihr ein Glas Wasser und
einige Aspirintabletten.
„Die bringen einen wieder auf Vordermann“, hatte Mavis gesagt.
Eine mehr als ungewöhnliche Aussage für eine Frau, die ihr Leben lang nichts von
dem Chetniezeugs gehalten hatte. Es zwickte dich irgendwo? Mavis ging in den
Garten, pflückte eine Hand voll Blätter irgendeinen Krautes, machte einen Tee
daraus und gab dir das Gebräu zu trinken. Unterschiedliche Pflanzen für
unterschiedliche Symptome. Es war schwer, sich die Mischungen zu merken, und
noch schwerer, sie nachzumachen. Aber Penelope war bei Mavis groß geworden
und hatte von ihr schon als Kind gelernt, natürliche Heilmittel herzustellen.
Später hatte sie dann begonnen, größere Mengen zu produzieren, um sie im
Laden zu verkaufen.
Bedeutete Mavis’ Sinneswandel nun etwa, sie sollte ihr Sortiment an pflanzlicher
Medizin in die Mülltonne werfen und stattdessen lieber eine Ladung Aspirin
bestellen?
Oder hatte der Schlag auf den Kopf bei ihrer Großmutter ein paar Schrauben
herausfallen lassen, die sowieso schon locker gewesen waren?
Penelope setzte sich neben Mavis auf die Bettkante.
„Erzähl mir, was geschehen ist“, bat sie.
Mavis gab ihr das Glas zurück, und Penelope stellte es auf den Nachttisch. Die
alte Frau zuckte mit ihren knochigen Schultern, die in dem weiten Bademantel,
den Mrs. O’Malley ihr geliehen hatte, sogar noch schmaler erschienen.
Edith stand mit dem Sheriff in der Tür und wollte sie hinter sich schließen, um
Mavis und Penelope allein zu lassen, doch dann drehte sie sich noch einmal um.
„Braucht ihr noch etwas?“ fragte sie.
„Nein danke, Mrs. O’Malley“, antwortete Penelope. „Würden Sie bitte…?“
„Ja“, entschuldigte sich Edith und sah Sheriff Parker nervös aus dem Augenwinkel
an. „Natürlich.“
„Ich warte unten auf Sie, Penelope“, sagte Parker.
Sollte er doch machen, was er wollte. Das interessierte Penelope herzlich wenig.
Sie kannte die Wahrheit, und es ging ihr einzig und allein darum, die beiden
Menschen zu beschützen, die ihr am meisten bedeuteten. Sie hatte weder Zeit
noch Lust, Verständnis für die Lage aufzubringen, in der der Sheriff sich befand.
Die Tür wurde mit einem leisen Klicken geschlossen, und Penelope sah ihre
Großmutter an. Sie war blass und hatte eine dicke Beule am Hinterkopf, aber
ansonsten schien es ihr den Umständen entsprechend gut zu gehen.
Mavis zog eine Grimasse.
„Was willst du hören?“ fragte sie verteidigend. „Dass es eine große Dummheit
war, alle Türen rauszureißen? Und dass ich mich nicht zu wundern brauche, wenn
dann einfach ein Einbrecher ins Haus spaziert und mir eins auf die Glocke gibt?“
„Nein, Großmama. Ich will wissen, was passiert ist.“
„Tja.“ Mavis rutschte ein wenig hin und her und versuchte, eine Position zu
finden, in der das Brummen in ihrem Schädel einigermaßen erträglich war. „Da
gibt es nicht viel zu sagen. Ich habe ein Geräusch gehört, bin aufgestanden und
in den Flur raus und dann, bum, wurde es auch schon schwarz um mich.“
„Ist irgendetwas gestohlen worden?“
„Was denn? Ich glaube kaum, dass jemand scharf auf die paar alten Möbel ist,
die bei uns herumstehen. Oder die Fotos deiner Mutter.“
„Es ist also alles noch da?“
„Ja, ich denke schon.“
Penelope schluckte. Das gefiel ihr nicht. Es gefiel ihr überhaupt nicht.
Einer der Vorteile daran, in einer Stadt wie Old Orchard zu leben, bestand darin,
dass es gewalttätige Übergriffe, egal welcher Art, praktisch nicht gab. Sie konnte
sich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal über einen Einbruch oder Mord in
der Gegend berichtet worden war. Jemand hatte die Wand der Schulturnhalle mit
Graffiti beschmiert? Höchstwahrscheinlich waren es die PolaskiZwillinge
gewesen. Der Briefkasten eines abgelegenen Hauses wurde durch einen
Silvesterknaller in die Luft gejagt? Die DunwoodyJungs hatten sich einen ihrer
Späße erlaubt.
Mavis wird niedergeschlagen? Das hieß, Davin hatte seinen nächsten Zug in dem
grausamen Spiel gemacht, das er mit seinem Bruder spielte.
Penelope rieb sich die Schläfen. Aber was hatte er vor? Was brachte es ihm, ihre
Großmutter anzugreifen? Das alles machte überhaupt keinen Sinn. Oder erkannte
sie ihn bloß nicht?
„Du weißt etwas, stimmt’s?“ sagte Mavis. „Du weißt, wer mir die Lichter
ausgepustet hat.“
„Ich glaube, das Wort, wonach du suchst, ist ausgeblasen, und da du noch am
Leben bist, ist mit deinen Lichtern alles in Ordnung.“
„Und du versuchst, vom Thema abzulenken.“
„Es gibt kein Thema“, wehrte Penelope ab, stand auf und ging zum Fenster
hinüber. Die Straße war dunkel und menschenleer. Aber war sie das wirklich?
Oder lauerte Davin dort draußen in einer finsteren Ecke und beobachtete sie?
Wartete? Auf was?
„Es hat was mit Aidan zu tun, richtig?“ bohrte die clevere alte Frau weiter.
„Irgendwelche kriminellen Freunde von ihm sind ihm auf den Fersen.“
Penelope sah über ihre Schulter zu Mavis.
„Er hat keine kriminellen Freunde.“
Das stimmte. Zu seinen Freunden zählte Allen Davin sicher nicht. Aber er war
eindeutig ein Verbrecher, der dieselben Gene mit ihm teilte und zu Gott weiß was
fähig war.
Penelope drehte sich um.
„Wie geht’s deinem Cousin eigentlich? Arbeitet er noch in Fort Wayne?“
„Was? Wie in aller Welt kommst du denn jetzt darauf?“
„Ich dachte nur, du solltest ihn vielleicht mal wieder besuchen. Ihr habt euch
lange nicht gesehen“, sagte Penelope so beiläufig sie konnte.
Mavis runzelte die Stirn. Dann stupste sie Penelope den Zeigefinger in die Brust.
„Oh nein, Fräulein. In diesem Kaff ist noch nie etwas Aufregendes passiert, und
jetzt willst du, dass ich die Stadt verlasse?“ Sie schüttelte den Kopf und bereute
es sofort, als das Pochen hinter ihrer Schädeldecke schlimmer wurde. „Kommt
gar nicht in Frage.“
„Auch nicht, wenn du das Opfer dieser ach so aufregenden Sache bist?“
„Bin ich?“
Penelope seufzte.
„Hast du eine Beule oder nicht?“
„Aber warum sollte mir überhaupt jemand…“, überlegte Mavis. „Das hier hat mit
Aidan zu tun“, erklärte sie triumphierend.
Penelope hätte am liebsten geschrien. Stattdessen ging sie leise zur Tür und
öffnete sie abrupt. Sie kam sich vor, als litte sie schon unter Verfolgungswahn,
aber man konnte nie wissen. Vielleicht stand der Sheriff draußen und lauschte. Er
tat es nicht. Erleichtert schloss Penelope die Tür wieder.
Mavis seufzte tief.
„Weißt du, das ist das Problem mit uns Moons“, sinnierte sie. „Wir mögen keine Konflikte.“ „Wovon redest du jetzt wieder?“ fragte Penelope entnervt. „Von Frieden. Gleichgewicht. Im Einklang mit der Natur leben. Das ist es, was wir uns unter einem erfüllten Dasein vorstellen. Ein Teil der Gemeinschaft, das vielleicht schon, aber nicht aktiv. Wir bleiben lieber unter uns. Und das ist ein großer Fehler. Das begreife ich jetzt.“ Penelope warf Mavis einen Blick zu, der aussah, als denke sie, der Schlag auf den Kopf hätte ihrer Großmutter doch mehr zugesetzt, als sie angenommen hatte. „Ich meine es ernst“, sagte Mavis. „Immer haben wir es so gehalten. Über Generationen hinweg. Du, ich, deine Mutter und meine Mutter und Großmutter auch.“ Sie seufzte noch einmal. „Wir haben uns mit Astrologie beschäftigt, mit Naturheilkunde, haben meditiert und Yoga gemacht. Und wofür? Für einen inneren Frieden, den wir doch nie erreichen konnten. Nicht auf diese Weise.“ „Großmama…“ Mavis machte eine abwehrende Geste mit der Hand. „Nein, bitte. Lass mich. Ich glaube, ich bin auf dem Weg zu einer Einsicht, die wichtig sein könnte. Mein Kopf brummt wie ein alter Laster, aber ich muss da jetzt durch. Sonst verliere ich es wieder.“ Penelope tat das, worum ihre Großmutter sie gebeten hatte, und wartete schweigend ab, bis die alte Frau, das, was in ihr vorging, in Worte fassen konnte. „Ohne Konflikte und Veränderung gibt es kein echtes Leben. Leben ist Veränderung. Und manchmal muss man auch ein Risiko eingehen, um zu bekommen, was man will“, sagte Mavis schließlich. Penelope schauderte und rieb sich abwesend die nackten Unterarme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte. „Wir stehen jeden Tag um dieselbe Zeit auf, frühstücken und essen zu Abend um dieselbe Zeit. Jahrein, jahraus immer das Gleiche. Wir sind genauso vorhersagbar geworden wie die Leute, denen wir uns so überlegen fühlen, weil wir anders sein wollen als sie.“ Mavis blickte Penelope zwar in die Augen, doch sie schien in Wirklichkeit durch sie hindurchzusehen, weit weg in ihren Gedanken versunken. „Wir haben überhaupt keine Freunde, ist dir das schon mal aufgefallen? Weder weibliche noch männliche. Oh nein, Kontakt zu normalen Leuten würde ja das Gleichgewicht durcheinander bringen, den Frieden stören.“ Die alte Frau lachte missbilligend. „Wir leben nicht wirklich. Die Tage und Wochen und Monate ziehen an uns vorüber, während wir auf den Tod warten. Das ist alles, was wir tun. Die Zeit irgendwie rumbringen, bis der Sensenmann kommt und uns zu sich holt. Aber eigentlich sind wir schon tot, oder? Auf eine Weise sind wir es.“ Penelope schaute auf den Boden, unfähig, dem jetzt wieder klaren und messerscharfen Blick ihrer Großmutter standzuhalten. „Popi, ich habe keine Ahnung, in was du oder Aidan da verwickelt seid. Alles, was ich dir sagen kann, ist, folge deinem Herzen. Versteck dich nicht länger. Kämpfe für das, was dir wichtig ist. Kämpfe wie eine Löwin, wenn es sein muss.“ Penelope stand schweigend da, für lange Zeit, die sich wie Stunden anfühlte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Mavis’ Worte hatten sie völlig unvorbereitet getroffen, und sie wusste nicht, wie sie nun darauf reagieren sollte. Dann endlich ging sie auf das Bett zu, in dem ihre Großmutter sich mit gekreuzten Beinen aufgesetzt hatte, und erzählte ihr alles, von Anfang an, ohne Ausnahme. Anderthalb Stunden später zog Penelope die Decke ihrer schlafenden Großmutter ein Stück höher, so dass sie ihr bis knapp unters Kinn reichte und verließ leise
das Zimmer. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, aber es musste mitten
in der Nacht sein.
Langsam ging sie die Stufen zur Empfangshalle hinunter, darauf bedacht, keinen
Lärm zu machen, um Mrs. O’Malley nicht zu stören, nur um den Sheriff mit ins
Gesicht gezogenem Hut auf einem Stuhl sitzend vorzufinden. Er war eingedöst.
Penelope hielt inne. Ihn aufwecken oder ihn nicht aufwecken, das war hier die
Frage.
Sie streckte die Hand aus und berührte Sheriff Parker an der Schulter.
Er schreckte hoch, und Penelope sprang mindestens ebenso erschrocken zurück.
„Sie, äh, müssen eingeschlafen sein“, sagte sie vorsichtig.
„Wie spät ist es?“
„Ich weiß es nicht.“ Penelope verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu,
wie er sich die müden Augen rieb.
„Wo ist er, Penelope?“ fragte der Sheriff unvermittelt.
Sie teilte ihm mit, dass Allen Dekker sich im Motel an der Autobahn am anderen
Ende der Stadt befand.
Cole Parker schüttelte den Kopf.
„Nein, da ist er nicht mehr. Meine Leute waren schon vor über einer Stunde dort,
nachdem Mrs. O’Malley schließlich nachgegeben und uns gesagt hat, was sie
weiß. Keine Spur von ihm. Nichts.“
Penelopes Herz setzte für einen Schlag aus.
„Dann weiß ich auch nicht, wo er ist“, sagte sie verzweifelt.
Der Sheriff bedachte sie mit einem argwöhnischen Blick.
„Wenn Sie es sagen“, meinte er, stand auf und wollte auf die Tür zugehen.
Penelope hielt ihn am Ellenbogen fest.
„Warten Sie. Er hat diese Dinge nicht begangen, die ihm zur Last gelegt werden,
Sheriff.“
„Darüber müssen der Richter und die Geschworenen entscheiden, Penelope.
Nicht Sie oder ich.“
Penelope zog die Ausdrucke aus der Bibliothek aus ihrer Tasche und drückte sie
dem Sheriff in die Hand.
„Lesen Sie das. Und wenn Sie dann noch Fragen haben, Sie wissen ja, wo Sie
mich finden.“
„Sie gehen nach Hause?“
„Wohin sollte ich sonst gehen?“
„Ich fahre Sie. Ich will nicht, dass Ihnen auch noch etwas zustößt. Es reicht, dass
Mavis angegriffen wurde.“
Der letzte Akt hat begonnen.
Allen versuchte, die Steifigkeit aus seinem Nacken zu vertreiben, indem er den
Hals von links nach rechts bewegte. Er hasste es, dies hier als Theaterstück zu
betrachten. Aber für Davin schien es genau das zu sein. Ein Spiel. Ein tödliches
Spiel. Doch nun würde der Jäger zum Gejagten werden, das hatte Allen sich fest
vorgenommen.
Morgengrauen. Allen hatte die Nacht auf dem zurückgeklappten Vordersitz seines
Wagens verbracht, den er hinter einer Baumgruppe am Straßenrand geparkt
hatte. Nicht weit von Penelopes und Mavis’ Haus entfernt. Er hatte beobachtet,
wie der Sheriff sie gegen zwei Uhr früh direkt vor der Tür abgesetzt hatte. Dann
hatte er ein lautes Knallen gehört. Er war aus dem Auto gesprungen und ums
Haus herumgelaufen, um zu sehen, wie Penelope den Vordereingang mit Brettern
zugenagelt und dann auf der Rückseite des Hauses dasselbe getan hatte. Nur
dass sie diesen Eingang nicht vollständig verbarrikadiert, sondern den oberen Teil
lediglich mit einer Spanplatte verdeckt hatte, so dass an der Seite ein größerer
Spalt frei blieb. Davor hatte sie eine schwere Truhe geschoben und einige andere Möbelstücke darauf gestapelt, um den Durchgang von innen zu verschließen. Allen hatte nicht gewagt einzuschlafen. Der Sheriff war ihm offensichtlich auf die Schliche gekommen und hatte die Verbindung zwischen Aidan Kendali und Allen Dekker hergestellt. Die Einsatzfahrzeuge, die er zum Motel geschickt hatte, waren der Beweis dafür. Als sie mit hoher Geschwindigkeit die Straße hinuntergejagt waren, war er schon auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung gewesen und hatte sie von weitem gesehen. Vielleicht war ja endlich das Glück auf seiner Seite. Er sah zum Himmel hinauf und fragte sich, ob dort oben jemand auf ihn aufpasste. Wahrscheinlich nicht, dachte er bitter. Das Leben, das er einmal geführt hatte, die Frau, die er geliebt hatte, all das war verloren. Für immer. Penelope hatte den Schmerz gelindert, durch ihre Fürsorglichkeit, ihre sanften Berührungen, ihr Vertrauen in ihn. Allen wusste, dass ein Teil von ihm seine tote Kathleen für immer lieben würde, dass sie für immer bei ihm sein würde. Doch das bedeutete nicht, er könne niemals mehr auch einen anderen Menschen lieben. Es war die Erinnerung an das, was er mit seiner Frau geteilt hatte, die ihn dazu brachte, sich zu wünschen, es wieder mit jemandem zu teilen. Allen lächelte schwach. Kathleen hätte Penelope bestimmt gern gehabt. Ihre Schrulligkeit hätte sie fasziniert, und sie hätte die schüchterne junge Frau dazu überredet, ihre Schönheit nicht hinter weiten schlichten Baumwollkleidern zu verbergen. Aber wenn Kathleen noch leben würde, hätte er Penelope nie kennen gelernt. Er wischte sich rastlos übers Gesicht. Das Leben ging manchmal wirklich seltsame Wege, die wohl niemals ein Mensch in der Lage sein würde, vollständig zu verstehen. Die Zukunft war eine Straße mit vielen verworrenen Kurven, die einen immer wieder zwang, sich der neuen Situation blitzschnell anzupassen, die die Wahrheit zur Lüge werden ließ und Lügen zur Wahrheit. Und was war heute die Wahrheit? Allen musste Davin finden, bevor sein Zwillingsbruder ihn aufspürte. Und bevor der Sheriff ihn hinter Gitter brachte, von wo aus er niemals würde seine Unschuld an Kathleens Tod beweisen und dafür sorgen können, dass der wirkliche Täter, der ihm alles genommen hatte, seine gerechte Strafe bekam. Allen hörte ein Poltern und fuhr herum. Penelope hatte die Möbel zur Seite geschoben und quetschte sich nun durch die entstandene Lücke im Hintereingang. Sie schlüpfte hinaus auf die Terrasse und sah noch schöner aus als das letzte Mal, als er sie gesehen hatte. Penelope blinzelte in die aufgehende Sonne und bückte sich dann, um Max zu streicheln, der ebenfalls das Haus verlassen hatte und schwanzwedelnd neben ihr stand. Aliens Herz wurde schwer, nur davon, dass er sie anschaute. Seine Hände kribbelten von dem übermächtigen Wunsch, sie zu berühren. Penelope beugte den Oberkörper vor und griff mit der Hand durch den Spalt im Eingang. Sekunden später zog sie Max’ Leine hervor, die sie von einem Kleiderhaken geangelt hatte. Dann machte sie sich auf den Weg zu – wie Allen annahm – ihrem Buchladen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie, wie an jedem Tag, zur Arbeit ging, überraschte ihn. Tief drinnen hatte er genau gewusst, dass sie nicht auf ihn hören und die Stadt verlassen würde. Auch wenn er ihr ein Versprechen abgerungen hatte. Hätten sie beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn sie blieb, hätte er ihr wahrscheinlich geraten, ganz normal weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Denn wenn Davin sie beobachtete, was er ganz sicher tat, dann würde er Ausschau nach Unregelmäßigkeiten halten und sie sich zu Nutze
machen. Einen günstigen Moment abwarten, in dem er zuschlagen konnte.
„Ganz schön clever, Penelope“, hörte Allen sich zu seinem Erstaunen sagen.
Solange sie sich an ihren üblichen Tagesablauf hielt, solange wäre sie in
Sicherheit. Trotzdem hatte ihn das nicht davon abgehalten, kurz im Büro des
Sheriffs anzurufen und ihn darum zu bitten, ein Auge auf Penelope zu haben.
Obwohl die alle halbe Stunde am Haus der Moons vorbeifahrenden Streifenwagen
ihn gefährdeten, denn schließlich suchte man ihn.
Er drehte den Zündschlüssel herum und nahm zufrieden das brummende
Geräusch des Motors wahr, als der alte Chevy zum Leben erwachte.
Jetzt war die Zeit gekommen, seine eigene Suchaktion zu starten.
14. KAPITEL So zu tun, als sei alles ganz normal, war das Schwerste, was Penelope jemals in ihrem Leben getan hatte. Sie hatte wie immer ihren Buchladen geöffnet – ein wenig früher als gewöhnlich – und dann krampfhaft versucht, sich nur auf das Einpacken von Seifenstücken, das Mischen von Potpourris und das Füllen kleiner Stoffbeutel mit Lavendelblüten zu konzentrieren. Doch die ganze Zeit über hatte sie mit einem Ohr gehorcht, ob das Telefon klingelte, und mit einem Auge hinaus auf den Gehweg vor dem Laden geschielt, falls sich dort etwas Ungewöhnliches tat. Und mit ihren Gedanken war sie nur bei Allen gewesen, wo auch immer er stecken mochte. Am späten Nachmittag, auf dem Weg zur Turnhalle der High School, wo das letzte Treffen des Festausschusses stattfinden sollte, hatte Penelope sich gefragt, ob sie die Stadt und ihre Bewohner jemals wieder so sehen würde wie früher. Alles war plötzlich so anders. Einschließlich ihr selbst. Sie konnte sich nicht einmal mehr an die Frau erinnern, die sie noch vor einer Woche gewesen war. Die Frau, die stets den Blick fest auf den Boden gerichtet hielt, aus Angst vor dem, was oder wen sie vielleicht sehen würde, wenn sie nach links oder rechts schaute. Obwohl es keine wirkliche Furcht war, die sie damals empfunden hatte. Sie hatte schon immer genau gewusst, wie unbegründet ihre frühere Scheu war. Jetzt erkannte sie, dass diese unterschwellige Gehemmtheit nichts war im Vergleich zu dem, was sie jetzt fühlte. Nun, da es eine echte Bedrohung in Form von Aliens Bruder Davin gab. Ein Mann, der Aliens Leben zerstört und ihre Großmutter angegriffen hatte und dem buchstäblich alles zuzutrauen war. Penelope stopfte den Beutel, in der die Kleider gewesen waren, die sie eben in der Wäscherei abgegeben hatte, in ihre Tasche und ruckte dann energisch an Max’ Leine. Er wollte gerade sein Bein an einem Hydranten gegenüber von Sheriff Parkers Büro heben. Penelope schaute durch die große Glasscheibe an der Vorderseite, und der Sheriff nickte ihr kurz zu. Sie nickte zurück, etwas verwundert darüber, dass er nicht sofort herausgestürmt kam, um sie wieder wegen Aliens möglichem Aufenthaltsort ins Kreuzverhör zu nehmen. Andererseits hätte er das schon viel früher tun können, wenn er es gewollt hätte. Sie war den ganzen Tag über im Buchladen gewesen, nur einen Katzensprung von seinem Büro entfernt. Außer der halben Stunde zwischen zehn und elf, als sie zu Mrs. O’Malley gegangen war, um zu sehen, wie es Mavis ging. Mavis. Penelope schüttelte den Kopf. Würde sie es noch erleben, dass die alte Dame sie einmal nicht durch ihre Unberechenbarkeit schockierte? Penelope war in Edith O’Malleys Gästehaus gegangen und hatte erwartet, dass… nun ja, eigentlich war sie sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Jedenfalls nicht, Mavis und Edith Kaffee trinkend und Cremetörtchen futternd in der Küche vorzufinden und zu hören, wie sie über etwas lachten, wovon Penelope nicht genau sagen konnte, ob es die Form der Törtchen oder ein bestimmtes Teil des männlichen Körpers betraf. Fast hätte sie sich dazu hinreißen lassen, zu meinen, dass Mavis ziemlich normal ausgesehen hatte. Aber ihre Großmutter und die Bezeichnung normal passten einfach nicht zusammen. Für Mavis wäre es allenfalls normal gewesen, Ediths Einrichtung auseinander zu nehmen, ihre Geranien in die Mülltonne zu werfen oder mit einem Hammer Löcher in die Wände zu schlagen. Stattdessen trank sie mit Mrs. O’Malley Kaffee und sah dabei… Penelope hatte Schwierigkeiten, das
richtige Wort zu finden… ja, Mavis sah glücklich aus. Penelope verlangsamte ihre Schritte. War es das? Hatte ihre Großmama tatsächlich so etwas wie Glück in ihrem sonst so tristen Leben gefunden, das sie gestern noch in Frage gestellt hatte? Und wenn dem so war, was bedeutete das für sie selbst? Sie bog um eine Ecke und rannte fast in Max hinein, der ohne Vorwarnung stehen blieb. Verwundert sah sie ihn an. „Was ist los, Max, mein Junge?“ fragte sie und kniete sich hin, um ihm den Kopf zu tätscheln. Er knurrte leise, den Blick stur geradeaus gerichtet. Ein eisiger Schauer lief Penelope den Rücken hinab. In den ganzen zwei Jahren, seit sie Max auf ihrer Veranda gefunden und zu sich genommen hatte, war es das erste Mal, dass er knurrte. Beunruhigt suchte sie mit den Augen die Straße vor ihnen ab. Vielleicht hatte Max ein Eichhörnchen oder eine Katze gesehen? Natürlich nicht Spot, mit ihr war er ja inzwischen befreundet. Nichts. Nicht einmal ein aufgewirbeltes Blatt oder ein vom Baum gefallener Tannenzapfen. Penelope schluckte. Dann richtete sie sich auf und straffte die Schultern. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Aber das besagte gar nichts. Obwohl Max wohl kaum ein ausgesprochener Jagdhund war, vertraute sie auf seine Instinkte. Wenn er sich benahm, als sei irgendeine Gefahr in Verzug, dann war auch irgendeine Gefahr in Verzug. Fragte sich nur, welche. Allerdings glaubte Penelope nicht, jeden Moment würde Davin Dekker vor ihr auftauchen und sie in aller Öffentlichkeit bedrohen. Oh nein. So dumm war er nicht. Wenn, dann würde er viel raffinierter vorgehen. Penelope wartete, bis kein Auto vorbeikam, und zog Max dann hinter sich her auf die andere Straßenseite. Sie achtete sehr genau auf die Art und Weise, wie sie sich bewegte, und bemühte sich, möglichst unauffällig zu wirken, als sie die schwarze Hundeleine am Fahrradständer vor der Turnhalle festband. Als sie eintrat, ließ sie die Tür hinter sich offen, so dass sie Max sehen oder wenigstens hören konnte. In dem großen Raum wurde es still. Die um einen in der Mitte aufgestellten Tisch versammelten Frauen drehten sich um und starrten Penelope an. Sie vergaß fast zu atmen, so nervös war sie auf einmal. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie noch immer eine Fremde unter all diesen Menschen war, die sie ihr Leben lang kannte. Dass das letzte Treffen für sie das erste Mal gewesen war, dass sie an so einer Versammlung teilnahm, und man vielleicht nicht damit gerechnet hatte, sie heute wieder hier zu sehen. Oder, wenn man bedachte, was in den letzten Tagen alles passiert war, dies wahrscheinlich der letzte Ort war, an dem die anderen sie zu treffen erwartet hätten. Eine Zusammenkunft, bei der es um die Planung eines bevorstehenden Festes ging. Ob es falsch gewesen war herzukommen? Sie hätte direkt nach Hause gehen sollen. Oder versuchen, Allen zu finden. Ein Stuhlbein quietschte auf dem glatten Boden, und plötzlich erhoben sich sämtliche um den Tisch sitzenden Personen, kamen auf Penelope zu, und die ein oder andere umarmte sie kurz. Natürlich wollten sie alle wissen, wie es Mavis ging und wo „Aidan“ war. Aber neben ihrer Neugier gab es noch einen anderen Grund für die Art, wie sie Penelope begrüßten und mit Fragen bombardierten. Sie gaben ihr dadurch das Gefühl dazuzugehören. Penelope wurde klar, dass man sie als Teil der Gemeinschaft akzeptiert hatte, dass man sie als Freundin betrachtete
und auch so behandelte. Etwas, an das sie vor einer Woche nicht einmal zu
denken gewagt hätte. Etwas, das sie noch nie erlebt hatte.
Mrs. Noonan nahm sie beim Arm und führte sie zu dem Tisch, an dem eben noch
alle gesessen hatten.
„Es tut uns so Leid, was Mavis passiert ist“, versicherte sie. „Sie wird doch wieder
gesund, nicht wahr?“
„Kommt darauf an“, erwiderte Penelope. Ganz gesund war Mavis immerhin noch
nie gewesen.
„Oh nein. Geht es ihr so schlecht?“ fragte Mrs. Noonan bestürzt.
„Nein, nein“, beschwichtigte Penelope schnell. „Keine Sorge. Sie kommt wieder in
Ordnung.“
„Haben sie ihn schon geschnappt?“ wollte jemand wissen. „Den, der das getan
hat?“
Penelope schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen der Stühle. Erst dann
bemerkte sie, dass es ausgerechnet Aliens Platz war, den sie sich da ausgesucht
hatte.
„Nein, leider noch nicht“, sagte sie vage. „Deshalb sollten wir alle ein wenig
vorsichtiger sein, bis sie ihn haben.“
„Ich wette, es war irgendein Fremder. Von uns hier in Orchard würde niemand so
etwas tun“, mutmaßte Jeanette.
Elva Mollenkopf baute sich vor der Gruppe auf und grunzte verächtlich.
„Und ich sage, Aidan Kendall ist der einzige Fremde in dieser Stadt.“
Von einer Sekunde auf die andere verstummten alle Anwesenden und sahen sie
schockiert an.
Penelope räusperte sich leise.
„Mr. Kendall hat mit dem Angriff auf meine Großmutter nichts tun, Elva“, sagte
sie bestimmt.
„Wie wollen Sie das denn wissen?“ entgegnete Elva höhnisch.
„Weil er und ich in der Zeit, als es passiert ist, zusammen waren.“
„Zusammen, wie in…“, fragte jemand.
Penelope spürte, dass sie rot wurde. Sie hob das Kinn und schaute in die Runde.
„Zusammen wie in ,dasgehtniemandenetwasan“‘, sagte sie trocken.
Wieder wurde es mucksmäuschenstill.
„Ganz genau, Penelope. Gib’s diesen neugierigen Klatschbasen“, meinte Jeanette
grinsend.
Penelope musste kichern. Etwas, das sie noch nie getan hatte, bis Allen sie
berührt und damit ihr Leben für immer verändert hatte.
Ohne den Blicken der anderen weitere Beachtung zu schenken, arbeitete sie sich
durch die Notizen, die sie seit dem Treffen letzte Woche geschrieben hatte. Als
sie die letzte las, fiel ihr auf, dass noch immer niemand etwas sagte.
Sie schaute hoch und blickte zu ihrer Überraschung in rund ein Dutzend
erwartungsvolle Augenpaare. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Penelope
begriffen hatte, dass man sie weder anstarrte, weil etwas mit ihren Haaren nicht
stimmte, noch weil ihr ein Blättchen von ihrem Ginsengtee an der Nase klebte.
„Oh“, sagte sie, als sie verstand, worum es ging. Offenbar sollte sie die Leitung
des Treffens übernehmen. Nachdem sie sich abermals kurz geräuspert hatte,
begann sie, genau das zu tun – sie hielt den Vorsitz.
Gut eineinhalb Stunden darauf waren die letzten Streitpunkte bezüglich des
Ablaufes der Feierlichkeiten geklärt. Jeder der Frauen war eine bestimmte
Aufgabe zugewiesen worden. Eine war für die Dekoration zuständig, eine andere
stellte die Musik zusammen, und die Dritte kümmerte sich um das Angebot an
Snacks und Getränken. Alle schienen zufrieden zu sein und auch Penelope spürte
einen Anflug von Befriedigung ob ihrer Leistung als Vermittlerin. Trotzdem, während der letzten neunzig Minuten war ihre Aufmerksamkeit immer wieder zu der offenen Tür abgedriftet beziehungsweise zu Max, der angeleint davor saß. Seine Ohren waren aufgestellt, und sein gesamter Körper zeugte von einer gewissen Alarmbereitschaft. Penelope sammelte ihre Notizen ein und klappte ihren Hefter zusammen. Wenn sie an den bevorstehenden Heimweg dachte, war ihr alles andere als gelassen zu Mute. Doch dann hatte sie plötzlich eine Idee. Sie sah in die Gesichter der anderen Festausschussmitglieder, nein, in die Gesichter ihrer Nachbarinnen und Freundinnen, hielt kurz inne und hüstelte dann leise. Wie sie gehofft hatte, unterbrachen die Frauen ihre Unterhaltungen. „Ich möchte euch alle um einen Gefallen bitten“, begann Penelope. Dies war das erste Mal, dass sie andere Menschen offen um Hilfe bat. Oder besser gesagt, Menschen, die nicht ihrer Familie angehörten. Allen saß in seinem Auto, das er in einer geschützten Ecke auf dem Parkplatz von Dunwoodys Gebrauchtwagencenter abgestellt hatte. Sein aufmerksamer Blick war auf die schwere Tür der Sporthalle der High School gerichtet. Er rieb sich ungeduldig den Nacken, denn seine Haut prickelte unangenehm, wie sie es schon die ganze Zeit tat, seitdem Allen Penelope hierher gefolgt war. Davin hielt sich in der Nähe auf, das wusste er, spürte seine Anwesenheit mit jeder Faser seines Körpers. Was sich noch zeigen musste, war, ob sein Zwillingsbruder ihm nachstellte oder Penelope. Max’ Gebell riss Allen aus seinen Gedanken. Er sah zu dem großen Hund hinüber, der am Fahrradständer neben dem Eingang zur Turnhalle angeleint war, sich immer wieder unruhig in alle Richtungen umsah und dabei unablässig kläffte. Allen beobachtete, wie Penelope schließlich herauskam, in Begleitung der restlichen Gruppe, die sich heute hier getroffen hatte. Jede der Frauen schien ungewöhnlich lange an Penelopes Seite zu bleiben, bevor eine nach der anderen sich umdrehte, um nach Hause zu gehen. „Bitte jemanden, dich heimzufahren“, flüsterte Allen. Er schaute zum Horizont, wo sich am Himmel ein lilafarbener Streifen gebildet hatte und die Sonne hinter einer Wand tief hängender Wolken verschwunden war. Ihm gefiel der Gedanke, dass Penelope allein in der Dunkelheit unterwegs sein könnte, überhaupt nicht. Besonders nicht unter diesen Umständen. Denn wenn ihr etwas passierte… Sie lächelte und nickte Mrs. Noonan zu, dann band sie Max los und ging mit der anderen Frau zu deren Auto. Allen schloss die Augen und seufzte erleichtert. Gott sei Dank. Den ganzen Tag über hatte er sämtliche Hotels und Motels in der Umgebung abgeklappert und versucht, mit vielen Tricks und Kniffen in Erfahrung zu bringen, ob die Portiers oder sonstigen Angestellten sich erinnerten, ihn schon einmal gesehen zu haben. Doch seine Anstrengungen, Davin auf diese Weise aufzuspüren, waren erfolglos geblieben. Vielleicht war sein Bruder nicht allein und schickte jemand anderen vor, um in einer Unterkunft einzuchecken? Allen hielt das für unwahrscheinlich. Davin hatte weder Freunde noch Bekannte. Wie auch, wenn er fortwährend nur damit beschäftigt war, das Leben seines Zwillings zu ruinieren, weil es das Einzige war, was ihn interessierte. Und er hatte es geschafft, das musste man ihm lassen. Allen fluchte leise. „Aber jetzt ist Schluss, Bruderherz. Du sollst deine Schlacht haben. Und es wird die letzte sein, das verspreche ich dir.“
Fragte sich nur, wo und wann sie stattfinden würde. Und ob Allen derjenige wäre, der Ort und Zeit bestimmte, oder Davin. Vorausgesetzt natürlich, dass Sheriff Parker Allen keinen Strich durch die Rechnung machte und ihn aufspürte, bevor es vorbei war. Er sah zu, wie Mrs. Noonans Wagen mit Penelope auf dem Beifahrersitz und Max auf der Rückbank vom Parkplatz der High School rollte. Sobald sie außer Sichtweite waren, startete Allen sein eigenes Fahrzeug und fuhr in die entgegengesetzte Richtung, ein Umweg zwar, aber er führte auch zu Penelopes Haus, nur eben nicht direkt. Penelope hatte sich von Mrs. Noonan an der alten Brücke am Old Valley River absetzen lassen, denn sie wollte den Rest laufen, weil, wie sie erklärte, es nicht schaden konnte, wenn Max sich ein wenig austobte. Sie hoffte, dass er sie dann vielleicht nicht die ganze Nacht mit seinem Gebell wach halten würde. In Wirklichkeit glaubte sie selbst nicht so recht daran, die kurze Strecke könnte für diesen Zweck ausreichen, und es war auch nicht der wahre Grund, warum sie zu Fuß gehen wollte. Penelope brauchte eine kurze Auszeit, in der sie in Ruhe über alles nachdenken konnte, bevor sie in ein leeres Haus zurückkehrte. Oder, was genauso gut möglich war, in ein Haus, in dem Mavis sie erwartete, um ihr mit einer weiteren spontanen Entsorgung irgendwelcher Bestandteile desselben den letzten Nerv zu rauben. Das schummrige Licht war gerade noch hell genug, um sich im gurgelnden Wasser des Flusses widerzuspiegeln, das unter der Brücke verschwand, über scharfe Felsen floss und auf der anderen Seite aufgewühlt und schaumig wieder herauskam. Penelope stützte sich auf das Brückengeländer und atmete tief die kühle Luft ein, die nach Wald und feuchter Erde roch. Ein vertrauter und deshalb beruhigender Geruch. Max zog ruckartig an seiner Leine. Fast wäre sie Penelope aus der Hand gerutscht. Sie verstärkte ihren Griff. „Max, gib Ruhe“, zischte sie entnervt. Sie brauchte einfach diesen kurzen Moment der Stille, um sich zu sammeln und… „Ich habe den ganzen Tag schon auf eine Gelegenheit gehofft, dich zu treffen.“ Penelope fuhr herum. „Allen“, sagte sie, als würde sie ihren Augen kaum trauen. Er stand ein paar Metern entfernt, die Hände in den Hosentaschen, ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht. Penelope stürzte auf ihn zu und umarmte ihn überschwänglich. Sie hatte solche Angst um ihn gehabt. Und auch davor, dass er einfach untertauchen und sie ihn nie wieder sehen würde. Doch plötzlich erinnerte sie sich daran, wo sie waren und dass sie jemand beobachten könnte. Sie löste sich von ihm. „Du solltest nicht hier sein. Es ist zu gefährlich.“ Er schüttelte den Kopf. „Ist schon gut. Ich habe aufgepasst, dass mir niemand folgt.“ Max zerrte abermals an seiner Leine und wich vor Allen zurück. Penelope achtete kaum auf das seltsame Verhalten des Hundes, zu groß war ihre Freude darüber, dass Allen nichts zugestoßen war, wie sie schon befürchtet hatte. Max aber wurde immer nervöser, er versuchte, sich loszureißen und sein zuerst leises Grollen verwandelte sich in ein lautes, wütendes Bellen. „Max!“ schimpfte Penelope. „Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist“, sagte sie entschuldigend. „Er benimmt sich schon seit Stunden so merkwürdig.“ Allen lächelte. „Kein Problem.“ Er streckte die Hand nach Max aus. „Hey, alter Junge, kennst du
mich nicht mehr?“
Max fletschte die Zähne und schnappte nach ihm. Allen machte einen kleinen
Schritt rückwärts.
„Wow“, keuchte er. „Ich würde meine Hand gern noch ein bisschen behalten,
wenn es dir nichts ausmacht.“
Beim Anblick dieser Szene fühlte Penelope auf einmal eine unterschwellige
Beklemmung in sich aufsteigen, aber sie versuchte, sie zu ignorieren.
„Und? Wie ist das Treffen vorhin gelaufen?“ fragte Allen.
Warum interessierte ihn das? Ausgerechnet jetzt, wo tausend andere Dinge
Penelope viel wichtiger erschienen. Ihre Schultern verkrampften sich
unbehaglich.
„Es war okay“, erwiderte sie.
„Und wie geht es deiner Großmutter?“
„Ganz gut. Ich nehme an, sie ist schon wieder zu Hause. Deshalb bin ich auch
hier, weißt du? Ich wollte ein paar Minuten für mich haben.“ Sie sah sich um.
„Wo ist dein Auto eigentlich?“
„Mein Auto? Ach so, ja, ich habe es an einem Forstweg im Wald abgestellt.“
Penelope nickte.
„Du bist wunderschön“, flüsterte er sanft, und Penelope wurde auf der Stelle rot.
Egal, wie oft er ihr das sagte, sie würde sich wahrscheinlich nie daran gewöhnen.
„Darf ich…“, begann er zögerlich. „Darf ich dich küssen?“
Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er sie jemals vorher um Erlaubnis
gebeten hatte. Für gewöhnlich redete er nicht lange, sondern küsste sie einfach.
Aber es hatte durchaus etwas Schmeichelndes, so gefragt zu werden.
Penelope lächelte verlegen.
„Ich hätte nichts dagegen“, sagte sie leise.
Er kam näher. Max knurrte ihn warnend an.
„Hund!“ schalt Penelope ihn. „Es reicht.“ Sie zog ihn mit sich zu einem
Stützpfeiler der Brücke einige Schritte entfernt und band seine Leine daran fest.
Max jaulte aufgebracht. „Beruhige dich“, sagte Penelope beschwichtigend,
während sie ihm den Kopf tätschelte. „Alles in Ordnung, okay?“
Als sie sich umdrehte, stand Allen direkt hinter ihr. Sie zuckte erschrocken
zusammen. Er hob fragend eine Augenbraue.
„Was ist los?“
Penelope atmete aus und machte dann eine wegwerfende Handbewegung.
„Ich weiß auch nicht“, sagte sie betreten. „Wahrscheinlich bin ich einfach ein
bisschen überreizt. All das nimmt mich schon ziemlich mit, wenn ich ehrlich bin.“
„Verständlich.“
Allen griff nach ihren Schultern und zog sie aus ihrer hockenden Stellung zu sich
hoch. Sie stolperte und fiel ihm förmlich in die Arme.
„Hoppla“, lachte er. „Sieht so aus, als hättest du mich wirklich vermisst.“
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr“, sagte Penelope ernst.
Er sah ihr tief in die Augen, presste sie an sich und senkte dann seine Lippen auf
ihre.
Und in diesem Moment setzte Penelopes Herzschlag für eine Sekunde aus. Der
Mann, der sie da fest umschlungen hielt, war nicht Allen.
15. KAPITEL Dabei zuzusehen, wie Davin Penelope küsste, war das mit Abstand Schlimmste, was Allen in den letzten Monaten hatte durchmachen müssen. Ein quälendes Gefühl von Verrat stieg in ihm hoch und ließ all seine Muskeln hart wie Stein werden. Das Einzige, was ihn davon abhielt, den Verstand zu verlieren, war die Art, wie Penelopes Körper sich versteifte, als ihr klar wurde, was geschah. Sie ballte die Hände zu Fäusten und stand stocksteif da, durch den Schock unfähig, sich zu bewegen. Allen verfluchte sich selbst dafür, dass er nicht früher hier gewesen war, dass er sie nicht hatte warnen können. Aber als er an der Brücke ankam, hatte Penelope ihm den Rücken zugekehrt und kettete Max gerade an einem Pfeiler am anderen Ende an, der sich außer Rufweite befand. Wäre es nach ihm gegangen, hätte sie den Hund freilassen sollen, damit er Davin anfallen konnte. Hastig griff Allen nach dem Hebel der Autotür und wollte sie aufstoßen. Doch er hielt abrupt inne, als er beobachtete, wie Davin sich von Penelope löste, offensichtlich hochzufrieden mit sich und seiner Leistung, sie hinters Licht geführt zu haben. Er schien es richtig zu genießen, wie sie ihn erschüttert anstarrte und kein Wort herausbrachte. Eine Welle heftiger Emotionen brach über Allen herein. Er hatte seinen Bruder vierzehn lange Monate nicht gesehen, und jetzt, da er es tat, schossen Hunderte von Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf. Davin und er, wie sie mit einer Steinschleuder die Fenster eines verlassenen Hauses kaputtgemacht hatten, als sie noch klein gewesen waren. Schon damals war es um mehr als nur Spaß gegangen. Immer hatten sie aus solch simplen Dingen einen Wettbewerb gemacht, und meistens hatte Allen gewonnen. Dann sah er sich selbst vor sich, vor vielen Jahren, wie er seinen wimmernden Bruder im Arm hielt, als ihr Haus in Flammen aufging, zusammen mit ihren Eltern, die im Inneren vom Feuer eingeschlossen waren. Verschwommene Bilder von Kathleen, die ihn anlächelte. Und plötzlich sah er sie in Tränen aufgelöst vor sich, stammelnd und von Schluchzern geschüttelt, während sie ihm weinend gestand, dass das Kind, das sie erwartete, nicht von ihm war, sondern von Davin und was er ihr angetan hatte. Dann die Rosen, die die Trauergäste auf ihren Sarg warfen, der in die Erde hinabgelassen wurde. Es hatte geregnet an diesem Tag… , Allen rüttelte mehrere Male an der Wagentür, ohne sie aufzubekommen, so verstört war er. Als es ihm schließlich gelang, stürmte er wie ein Wilder aus dem Auto und wäre beinahe ins Straucheln gekommen. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, während er auf die Brücke zurannte. Wie benebelt von all den schmerzhaften Erinnerungen, die noch immer auf ihn einstürzten, sah er nicht, dass Penelope sich von Davin losgerissen hatte und zu Max gelaufen war, um mit fliegenden Fingern den Knoten in seiner Leine zu öffnen. Alles, woran Allen in diesem Augenblick denken konnte, war der überwältigende Impuls, auf den Mann einzuprügeln, der ihm alles genommen hatte, bis er sich nicht mehr rührte. Eigentlich hätte dieser Gedanke ihn erschrecken müssen, ihn wieder zur Vernunft bringen und ihm klarmachen, dass brutale Gewalt keine Lösung war und es klüger wäre, die Polizei zu rufen. Aber mit dem stechenden Schmerz in seiner Brust und dem unbarmherzigen Pochen hinter seinen Schläfen rückten Logik und Urteilsvermögen völlig in den Hintergrund und alles, woran er denken konnte, war Rache. Sein ganz persönlicher Rachefeldzug gegen den Mann, der ihm so ähnlich sah, aber in Wirklichkeit nichts, gar nichts mit ihm gemeinsam hatte. Allen hörte einen wutentbrannten Schrei, doch er begriff erst, dass er selbst es war, der ihn ausgestoßen hatte, als er mit voller Kraft auf Davins Rücken
einschlug und sie beide durch die Wucht des Angriffs gegen das Brückengeländer prallten. „Allen!“ keuchte Penelope. „Lauf“, brüllte er. „Bring dich in Sicherheit!“ Er wehrte einen Fausthieb ab und versetzte seinem Bruder einen Tritt in den Magen, um ihn auf Distanz zu halten. „Hol den Sheriff her, schnell!“ Davin starrte ihn an, und die Leere in seinem Blick jagte Allen einen eiskalten Schauder über den Rücken. Da war weder Angst noch sonst etwas in diesen braunen Augen. Keine Reue für das, was er getan hatte, kein Bedauern, nicht einmal Hass. Gar nichts. Sein Bruder nutzte Aliens sekundenlange Fassungslosigkeit, stieß ihm einen Ellenbogen in die Rippen und warf sich auf ihn. „Ach“, seufzte er gekünstelt, während er Aliens Arme auf die hölzernen Planken drückte. „Du warst schon immer so schrecklich berechenbar. Ich brauche bloß ein bisschen mit deinem Mädchen rummachen, und schon kommst du aus deinem Versteck gekrochen.“ Davin hatte dies alles geplant? Natürlich hatte er das. Und Allen hätte es wissen müssen. „Wie konntest du nur all die Jahre ernsthaft glauben, du wärst der Bessere von uns beiden? Aber das ist jetzt sowieso egal. Wer zuletzt lacht, lacht ja bekanntlich am besten.“ Mit diesen Worten verpasste Davin Allen einen gewaltigen Kinnhaken. Allen blinzelte benommen, um die Lichtblitze zu vertreiben, die vor seinen Augen tanzten. Er versuchte, seinen Bruder von sich herunterzuschubsen, aber es gelang ihm nicht. Plötzlich war das erdrückende Gewicht auf seiner Brust verschwunden und er sah verwirrt nach oben, wo Davin sich vor ihm aufgebaut hatte und mit gespieltem, Mitleid auf ihn herabschaute. „Man sagt, den Schwachen wird einmal die Welt gehören“, spottete er und trat Allen brutal in die Kniekehle, als dieser sich aufrappeln wollte. „Aber ich sage, die Schwachen werden von den Starken gefressen. Das ist das Gesetz der Wildbahn.“ Allen drehte den Kopf zur Seite, wo Penelope wie angewurzelt am anderen Ende der Brücke stand, den noch immer angeleinten Max neben sich, auf ihrem aschfahlen Gesicht ein Ausdruck blanken Entsetzens. Er öffnete den Mund, um ihr etwas zuzurufen, doch ein weiterer Tritt, dieses Mal in die Magengrube, ließ alle Luft aus seinen Lungen entweichen, und das einzige Geräusch, das er zu Stande brachte, war ein Stöhnen. „Du hast das nie kapiert, nicht wahr, lieber Bruder?“ sagte Davin mit einem selbstgefälligen Grinsen, das seine Züge so sehr verzerrte, dass Allen ihn kaum wieder erkannte. „Dass ich derjenige war, der das Haus angezündet hat.“ Das Haus? In Aliens Kopf drehte sich alles. Davin konnte doch nicht ernsthaft das Haus meinen, in dem seine Eltern bei lebendigem Leib verbrannt waren? Das konnte einfach nicht sein. Es durfte nicht sein. Vor Aliens Augen verschwamm alles. Dann sah er sich selbst, wie er in jener Nacht aus dem Schlaf hochgeschreckt war. Der beißende Geruch von Qualm und verkohltem Teppich hatte ihn geweckt. Davin war nicht da gewesen. Hustend und halb blind hatte er panisch das Zimmer nach ihm abgesucht, das sie teilten. Schließlich war er röchelnd in den Flur hinausgestolpert, wo das Feuer bereits die Tapeten an den Wänden erfasst hatte und die Vorhänge vor der Dachluke gegenüber der Treppe verschlang. Allen war hastig wieder ins Zimmer zurückgerannt und hatte die Tür hinter sich zugeworfen und sich ein Bettlaken vor Mund und Nase gewickelt, um den Rauch nicht einzuatmen, der durch den Türschlitz hereinkam. Dann hatte er das Fenster aufgerissen und nach Davin und
seinen Eltern gerufen. Er erinnerte sich genau daran, wie erleichtert er gewesen war, als er seinen Bruder unten im Garten hatte stehen sehen, und an den verklärten Blick, mit dem Davin zugesehen hatte, wie ihr Zuhause niederbrannte. Damals hatte Allen geglaubt, dieser Blick sei Ausdruck purer Schockiertheit gewesen. Doch jetzt wusste er, dass er sich geirrt hatte. Es war Ehrfurcht, was Davin in dieser Nacht empfunden hatte. Ehrfurcht vor seiner eigenen, grausamen Tat. Allen stützte sich unbeholfen auf die Ellenbogen und atmete schwer. Er hatte das Gefühl, der Qualm aus seiner Erinnerung wäre wirklich geworden und drohte ihn zu ersticken. „Warum?“ fragte er tonlos. Davin zuckte mit den Schultern, als würden sie darüber reden, in welches Restaurant sie zum Essen gehen wollten. „Was meinst du, warum?“ erwiderte er nüchtern. „Weil sie niemals meine Eltern waren, sondern deine.“ Davin wischte sich ungerührt das Blut aus dem Mundwinkel, bevor er weitersprach. „Weil sie dich immer bevorzugt haben. Ich war nebensächlich. Solange ich denken kann, habe ich mich gefragt, wie es wohl wäre, ein Einzelkind zu sein. Aber so leicht ging das nicht. Wenn ich dich einfach aus dem Weg geräumt hätte, hätten sie nur um dich getrauert und mich darüber noch mehr vergessen. Also blieb nur eine Möglichkeit. Ich musste euch alle loswerden. Dann wäre ich zu einer Pflegefamilie gekommen. Eine, die mich geliebt hätte. Eine, die mich nicht ständig mit meinem ach so perfekten Bruder verglichen hätte, dem ich sowieso nie das Wasser reichen konnte, egal wie sehr ich mich angestrengt habe.“ Allen hörte die Worte, aber er konnte nicht glauben, was Davin ihm da erzählte. Sein Bruder hatte kaltblütig ihre Eltern ermordet? Und ihn wollte er eigentlich auch umbringen, aber es war ihm nicht geglückt? Dass irgendein Mensch dazu fähig sein sollte, derart abgrundtiefen Hass zu empfinden, um so etwas zu tun, sprengte die Grenzen von Aliens Vorstellungskraft. Plötzlich sah er, wie Penelope sich an Davin heranschlich, einen länglichen Gegenstand in der rechten Hand haltend. Ein Holzknüppel, den sie gefunden haben musste. Allen versuchte, sich aufzurichten, doch Davin stieß ihn mühelos wieder zu Boden. Penelope holte aus. Davin wirbelte herum, wich ihrem Hieb aus, packte sie, griff mit einem verächtlichen Lachen in ihre Haare und riss ihren Kopf nach hinten. „Das Einzige, was mir wirklich Leid tut, ist, dass du nicht dabei zusehen konntest, wie ich Kathleen das Lebenslicht ausgeblasen habe. Aber das können wir ja mit dieser reizenden Schönheit nachholen.“ Er drängte Penelope vor sich her auf die andere Seite der Brücke, wo große, scharfkantige Felsen von dem rauschenden Wasser umspült wurden. Genau die Stelle, an der Penelopes Mutter sich zwanzig Jahre zuvor in ihrer Verzweiflung in die Tiefe gestürzt und ihrem Leben auf tragische Weise ein Ende bereitet hatte. „Nein!“ schrie Allen, als Davin ihr einen Stoß versetzte und sie über das Geländer schubste. In der einen Minute war Penelope kurz davor gewesen, Allen zu retten, indem sie Davin mit einem Knüppel auf den Hinterkopf schlug, den sie am Rand der Brücke aufgelesen hatte. In der nächsten spürte sie einen heftigen Ruck und stürzte in die Tiefe. Es kam ihr vor, als würde sich alles in Zeitlupe abspielen. Sie sah den beängstigenden Ausdruck von Wahnsinn, gemischt mit einer kranken
Zufriedenheit, in Davins dunklen, weit aufgerissenen Augen, dann Aliens kreidebleiches Gesicht und die Panik, die darin stand, bevor er sich atemlos hochstemmte und taumelnd auf die Füße kam. Sie fühlte die kühle Luft, die über dem Fluss in kleinen Nebelschwaden aufstieg und ihr in jeden einzelnen Knochen zu kriechen schien. Einen Sekundenbruchteil, bevor sie auf den Felsen aufschlug, auf denen damals der Körper ihrer Mutter zerschmettert war, warf sie die Hände in die Höhe, verzweifelt nach einem Halt suchend, irgendetwas, das ihren Fall bremsen würde. Im letzten Moment fand sie ihn. Mit kaum mehr als ihren Fingerspitzen krallte sie sich in ein dickes Tau, mit dem eine Schwachstelle in der Brücke repariert worden war und das nun, von Wind und Wetter gelockert, an einer Bohle herabhing. Die Gewalt, mit der ihr Absturz plötzlich gestoppt wurde, konnten ihre Arme kaum abfangen, und ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Schultergelenke. Aber sie hielt sich trotzdem verbissen fest, denn sie wusste, dass buchstäblich ihr Leben daran hing. „Wie ist es eigentlich in Ohio?“ hörte sie Davin höhnisch sagen. „Wenn mich nicht alles täuscht, werden Mörder hier durch den elektrischen Stuhl hingerichtet, stimmt’s? Da ist es ja ein richtiger Glücksfall, dass du nicht in Rhode Island geblieben bist. Die Todesspritze wäre auch viel zu human für dich gewesen, lieber Bruder.“ Penelope begann, sich hochzuziehen. Sie schaffte es bis kurz unter die Planken der Brücke, so dass sie die beiden Männer sehen konnte. Doch weiter nach oben kam sie einfach nicht, das Holz war feucht und glitschig, und sie hatte Angst abzurutschen, wenn sie es versuchte. „Ich will dich sterben sehen, Allen“, spie Davin hasserfüllt. „Und ich will, dass sie dich nicht nur für den Tod deiner armen Kathleen grillen, sondern auch für den Mord an Miss Moon hier.“ Er sah nach unten. „Na, wie lange wird sie es wohl noch aushalten? Was meinst du?“ Penelopes Arme brannten wie Feuer, ihre Hände dagegen fingen an, taub zu werden, und sie glitt ein Stück an dem Seil hinunter. Panisch verstärkte sie ihren Griff und blickte über ihre Schulter in die Tiefe, wo die spitzen Felsen auf sie warteten. Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf, grausame Bilder der letzten Sekunden im Leben ihrer Mutter. Das Schicksal wiederholt sich immer und immer wieder, erinnerte sie sich an die Worte, die Mavis oft gebrauchte, wenn es ihr passend erschien. War dies ein passender Moment? War dies Penelopes Schicksal? Auf dieselbe Weise zu sterben wie ihre Mutter damals, als sie selbst noch nicht einmal zehn Jahre alt gewesen war? Sie musste ein Geräusch gemacht haben, als sie um ein Haar den Halt verloren hatte, denn als sie hochschaute, sah sie Davin, der mitleidslos auf sie herab blickte. Er hatte etwas vor, das war ihr sofort klar, als er seine Zähne entblößte und sie dämonisch angrinste. „Nicht!“ Penelope beobachtete, wie Dayin einen abrupten Schritt auf sie zu machte. Hatte Allen ihn von hinten angegriffen und so aus dem Gleichgewicht gebracht? Die Brücke zitterte unter der Erschütterung der heftigen Bewegung, und Penelope kam erneut ins Rutschen, fing sich aber wieder. Dann plötzlich begann das Seil zu schwingen. Davin rüttelte wie ein Wilder daran, um Penelope abzuschütteln wie eine lästige Fliege. Oh Gott. Sie würde fällen. Es war vorbei. Doch auf einmal war Davin verschwunden. Penelope hörte ein Knacken und zog sich abermals hoch, um über den Rand der
Brücke sehen zu können. Allen prügelte auf seinen Bruder ein. Ein Mal, zwei Mal. Davin brüllte, und sein Schrei klang nicht wie der eines Menschen, als er Allen wutentbrannt gegen einen Stützpfeiler schleuderte und ihn mit einer Tirade schneller Schläge in Brust und Bauch in Richtung Waldweg drängte. Doch Allen wehrte sich und begann, die Hiebe zu parieren. Die beiden Männer kämpften auf Leben und Tod, wild entschlossen, eine Entscheidung herbeizuführen, die endgültig sein würde. Penelope mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie musste über den Rand klettern, egal wie. Zentimeter für Zentimeter arbeitete sie sich vor, bis sie ein Bein auf die Planken schwingen konnte. Sie rutschte ab und versuchte es noch einmal. Max’ aufgeregtes Bellen erregte ihre Aufmerksamkeit. Penelope drehte den Kopf und sah, wie er verzweifelt an seiner Leine zerrte. Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie zusah, wie ihr Hund sich fast erwürgte, um ihr zu Hilfe zu kommen. Wenn sie doch nur auf seinen Instinkt vertraut hätte. Wenn sie ihn doch nur losgebunden hätte. Oder sich von Mrs. Noonan hätte bis vor die Tür fahren lassen, anstatt unbedingt in der Dämmerung das letzte Stück zu Fuß gehen zu wollen. Ihr Blick wanderte wieder zu den beiden Brüdern, und sie fand es erstaunlich einfach, sie auseinander zu halten, jetzt wo sie sich so dicht gegenüberstanden. Davins Gesicht war hart und kantig, sein Mund nicht mehr als ein dünner Strich, und seine schwarzen Augenbrauen waren viel dichter als Aliens. Allen… Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als er von einem gewaltigen Haken gegen seine ohnehin schon blutende Stirn umgeworfen wurde und sich benommen den Kopf hielt. Davin rannte los, um den Knüppel aufzuheben, den er Penelope aus der Hand geschlagen hatte, als sie ihn damit angreifen wollte. Was für eine Ironie, dass er ausgerechnet diese Waffe dazu benutzen würde, den Mann außer Gefecht zu setzen, den sie eigentlich hatte retten wollen. „Allen, pass auf!“ schrie Penelope aus Leibeskräften. Er öffnete die Augen und starrte zu ihr hinüber, dann auf den dicken Ast, mit dem Davin gerade ausholte. Allen duckte sich und rammte seinen Schädel in Davins Oberkörper. Der Knüppel sauste durch die Luft über Penelope hinweg und zerbarst mit einem grauenhaften splitternden Geräusch auf den Felsen direkt unter ihr. Jetzt wich auch aus ihren Armen jegliches Gefühl, und sie wusste, dass es nur noch eine Frage von Minuten war, bis sie abstürzte. „Allen“, brüllte sie wieder, dieses Mal aber nicht, um ihn zu warnen, sondern aus purer Todesangst, obwohl das natürlich mehr als unfair war, denn er hatte genug damit zu tun, Davin abzuwehren. Ihre rechte Hand glitt ab, so dass ihr gesamtes Gewicht nur noch an der linken hing. Sie rutschte. Und dann ließen die Finger ihrer linken Hand wie von alleine los. Es war aus. Irgendetwas packte sie am Oberarm. Penelope sah hoch und blickte in Aliens Gesicht, dem dicke Schweißtropfen über die blutende Stirn liefen. Er hatte sichtlich Mühe, Penelope zu halten, doch sie sah die Entschlossenheit in seinen Augen. Und Liebe. Er würde sie nicht loslassen, was auch immer geschah. Als sie an ihren in der Luft baumelnden Füßen hinabschaute, fiel ihr Blick auf die Umrisse eines unbeweglichen Körpers, der auf einem großen Stein lag, die Beine im gurgelnden Wasser des Flusses auf und nieder wippend. Penelope saß zitternd am Westufer des Old Valley Rivers und wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, dass sie nie wieder über diese Brücke gehen müsste. Die
Wolldecke, die der Sheriff ihr um die Schultern gewickelt hatte, half nur wenig gegen die Kälte, die jeden einzelnen ihrer Muskeln steif und gefühllos zu machen schien. Mitarbeiter des Sheriffs liefen überall herum, die Signalleuchten auf den Dächern der Streifenwagen durchschnitten die Dunkelheit und tauchten die bizarre Szenerie in gespenstisches rotes und blaues Licht. Ein greller Scheinwerfer strahlte die Leiche an, die sich noch immer auf den Felsen befand. Penelope schauderte und wandte sich ab. Aus der Entfernung sah der Tote Allen so furchtbar ähnlich, dass sie den Anblick nicht ertragen konnte. Sie hörte, wie der Sheriff auf Allen einredete, der auf dem hinteren Sitz eines der Polizeiautos saß, die Arme mit Handschellen auf seinen Rücken gefesselt. Selbst mit dem unübersehbaren Beweis dafür, dass Allen einen Zwillingsbruder hatte, und Penelopes Aussage, schien Parker ihnen ihre Geschichte nicht abkaufen zu wollen. Halb Old Orchard hatte sich inzwischen am Ort des Geschehens eingefunden, um vom anderen Ende der Brücke aus hinter der Absperrung aus gelben Plastikbändern das Schauspiel zu verfolgen. Ein Raunen ging durch die Menge, als der Scheinwerfer auf den grässlich zugerichteten Leichnam fiel. Es folgte ein Augenblick völliger Stille, dann schwoll das Gemurmel von neuem an, alle redeten durcheinander, und jeder gab seine Vermutung zum Besten, was sich seiner Meinung nach wohl zugetragen haben mochte. Jemand erhob seine Stimme, und die Gruppe teilte sich widerwillig, um die Person durchzulassen. Mavis schob sich durch den engen Gang vorwärts, der sich gebildet hatte, Mrs. O’Malley dicht hinter ihr. Erleichterung erfüllte Penelope, und sie wollte aufstehen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. „Lasst mich vorbei, ihr Schwachköpfe“, schimpfte Mavis, als einer der Hilfssheriffs versuchte, sie daran zu hindern, unter der Absperrung hindurchzuschlüpfen. „Das ist meine Enkelin da drüben.“ Sie versetzte dem Mann einen Knuff in die Rippen, und er machte ihr verdutzt Platz. „Meine auch“, log Mrs. O’Malley und huschte ebenfalls an dem Hilfssheriff vorbei und auf die andere Seite der Brücke. Mavis kniete sich neben Penelope hin. „Popi, was ist passiert?“ fragte sie, während sie ihr tröstend über die schweißnassen Haare strich. Penelope hatte bis zu diesem Moment gar nicht bemerkt, dass sie mit den Zähnen klapperte. Sie presste die Lippen aufeinander und bemühte sich zu lächeln. „Weißt du noch, wie du mir von diesem neuen aufregenden Leben vorgeschwärmt hast, das wir beide führen sollten? Ich würde sagen, ich hatte heute so viel Aufregung, dass es noch für meine nächsten beiden Wiedergeburten ausreicht.“ „Oh, Schätzchen“, sagte Mavis, schloss Penelope fest in die Arme und drückte sie an sich. Max zwängte seine feuchte Nase zwischen die beiden, offenbar brauchte auch er ein paar Streicheleinheiten. „Was ist hier los?“ Mrs. O’Malleys entfernte Stimme klang ungewöhnlich erbost, und Penelope sah verwundert in die Richtung, aus der das Schimpfen kam. Erst da begriff sie, dass die alte Dame den Sheriff gemeint hatte. Edith hob einen gestreckten Zeigefinger in die Luft, so wie Penelope sie es schon Hunderte Male hatte tun sehen, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und Mrs. O’Malley ungehorsame Mitschüler zur Ordnung gerufen hatte.
„Du lässt sofort die Hände von Mr. Kendali, Cole Parker. Sofort, hast du
verstanden?“ Sie wies auf die andere Seite des Flusses. „Es braucht ja wohl
keinen Sherlock Holmes, um zu sehen, dass er unschuldig ist. Um ehrlich zu sein,
habe ich schon immer den Eindruck gehabt, du bist ein wenig unterbelichtet. Es
wäre wirklich schade, wenn ich damit Recht behalten sollte.“
Parker richtete sich auf und rückte seinen Hut gerade.
„Es heißt Sheriff, Mrs. O. Ich bin nicht mehr Ihr Schüler. Und Sie dürften gar
nicht hier sein.“
„Interessiert mich nicht, welchen Titel Sie jetzt vor sich her tragen, Mr. Parker.
Dieser Mann hat nichts Unrechtes getan, und es ist einfach lächerlich, ihn noch
länger zu verdächtigen.“
Mavis sah Penelope an und hob erstaunt eine Augenbraue. Als diese ihren Blick
erwiderte, fiel ihr auf, dass ihre Großmutter geschminkt war. Und sie trug ihre
Haare offen. Nicht nur das, sie hatte Locken, die so frisch aussahen, als sei sie
gerade erst vom Friseur gekommen. Penelope schaute zurück zu Mrs. O’Malley,
um das Gleiche bei ihr festzustellen.
Wie seltsam…
„Da muss ich Edith zustimmen“, meldete sich Bürgermeister Nelson zu Wort,
während er unter der Absperrung hindurchtauchte und gleich darauf am Kragen
seiner schmucken Anzugsjacke zupfte. „Lassen Sie Mr. Kendall frei, Sheriff. Auf
der Stelle.“
Selbstverständlich wusste jeder, wie die beiden Männer zueinander standen und
welche Ereignisse in der Vergangenheit zu ihrem gespannten Verhältnis geführt
hatten. Nelsons Neffe Blakely „Bully“ Wentworth hatte bei der letzten Wahl gegen
Cole Parker verloren und damit den Posten des Sheriffs nicht erhalten, auf den er
so wild gewesen war.
Parker steckte unbeeindruckt die Daumen in den Gürtel seiner Uniformhose.
„Kann ich leider nicht machen, Bürgermeister“, bedauerte er. „Nicht, bevor der
Fall vernünftig aufgeklärt ist.“
„Aufklären können Sie später auch noch“, mischte Mrs. O’Malley sich wieder ein.
„Aidan wird wohl kaum in nächster Zeit die Stadt verlassen.“ Sie sah Allen alias
Aidan an. „Oder?“
„Nein, Ma’am“, sagte er.
Er log. Penelope wusste nicht genau, weshalb sie sich da so sicher war, aber
irgendwie spürte sie es. Er plante, Old Orchard den Rücken zu kehren – und
damit auch ihr.
Der Sheriff sah Allen prüfend an, dann seufzte er tief.
„Na schön. Raus aus dem Wagen, damit ich Ihnen die Handschellen abnehmen
kann“, befahl er unwirsch.
Die Zuschauer auf der anderen Seite der Brücke freuten sich, dass der beliebte
Lehrer ihrer Kinder allem Anschein nach doch nicht der Unhold war, für den man
ihn zeitweilig gehalten hatte. Doch Penelope fühlte sich einfach nur elend.
Trotz allem, was geschehen war, oder vielleicht gerade deshalb, würde Allen
fortgehen.
16. KAPITEL Am darauf folgenden Morgen begann Penelope den Tag so, wie sie seit Jahren
jeden anderen Tag auch begonnen hatte. Außer, dass heute jeder einzelne ihrer
Muskeln bei jeder Bewegung schmerzte und ihr Herz schwach und unruhig in
ihrer Brust pochte.
Nicht einmal die Tatsache, dass Mavis die Haustüren wieder an ihrem Platz
eingebaut und die Bilder ihrer Mutter von den Wänden abgenommen hatte,
konnte etwas an ihrer niedergeschlagenen Stimmung ändern.
Ich muss gehen, hatte Allen gestern Nacht auf dem Heimweg zu ihr gesagt,
nachdem der Sheriff ihn freigelassen hatte.
Zuerst hatten Mavis und Mrs. O’Malley die beiden begleiten wollen, sich aber
dann doch dagegen entschieden und waren stattdessen noch eine Weile bei den
anderen Einwohnern geblieben, um Allen und Penelope Gelegenheit zu geben,
ein wenig allein zu sein.
„Aber du hast Sheriff Parker versprochen…“, hatte Penelope mit erstickter
Stimme geantwortet. „Du brauchst nicht mehr wegzulaufen, Allen. Es gibt keinen
Grund mehr.“
Er hatte sie traurig angelächelt und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben.
„Doch, es gibt einen. Einen sehr wichtigen Grund.“
Noch einmal hatte er Penelope geküsst, dieses Mal auf den Mund. Tief und innig,
bis ihre Knie nachgaben. Dann war er gegangen, ohne einen Blick zurück.
Sein Verhalten ergab überhaupt keinen Sinn, ausgerechnet jetzt, wo alles in
Ordnung zu kommen schien, machte er sich aus dem Staub…
„Stell dir das vor“, hörte Penelope Mavis hinter sich sagen. „Der Bürgermeister
will mit mir ausgehen.“
Abwesend bestrich Penelope eine BagelHälfte mit kalorienreduziertem
Kräuterschmelzkäse. Irgendwo zwischen den Gedanken, die in ihrem Kopf
hämmerten, bemerkte sie, dass Max interessiert an ihrem Frühstück
schnupperte. Sie schob ihn mit dem Fuß vom Tisch fort, dann sah sie Mavis an,
die im Türrahmen stand, in der einen Hand einen Eimer Gips, in der anderen
einen Spachtel.
„Hm? Hast du etwas gesagt?“ fragte Penelope.
„Ja. Ich sagte, der Bürgermeister will mit mir ausgehen“, wiederholte ihre
Großmutter, drehte sich um und ging ins Nebenzimmer.
Penelope verfütterte den Bagel an Max – sie hatte ohnehin keinen Appetit – und
folgte Mavis.
„Er will was?“
„Na ja, um die Wahrheit zu sagen, nicht nur mit mir. Aber er hat Edith und mich
gefragt, ob wir nicht bei der Feier morgen seine Tischdamen sein wollen.“
„Das zählt nicht als Verabredung, Großmama“, erklärte Penelope trocken.
Mavis sah sie mit ihren dunklen Augen verschmitzt an.
„In meinem Alter, Popi“, sagte sie tiefsinnig, „ist es schon eine heiße Affäre,
wenn man sich gegenseitig bloß zuzwinkert.“
Penelope schüttelte den Kopf und schaute auf ihre Armbanduhr.
„Ich muss los. Die nächste Stunde werde ich im Laden sein, wenn irgendwas ist.
Danach bin ich dann mit den anderen am Lucas Circle. Wir müssen noch die
letzten Vorbereitungen für morgen treffen. Kommst du auch?“
„Das können Edith und ich uns nicht entgehen lassen.“
Penelope zog eine Grimasse. Warum enthielt eigentlich neuerdings jeder zweite
Satz aus dem Mund ihrer Großmutter ,Edith und ich’? Edith und ich dies, Edith
und ich das. Nicht zu glauben.
„Gut, bis später dann“, sagte sie leicht genervt. Sie griff nach Max’ Leine, in Gedanken schon mit der Frage beschäftigt, wie sie den Fluss überqueren sollte, ohne dazu über die Brücke zu müssen. Aber ihr würde wohl nichts anderes übrig bleiben, denn es gab keinen anderen Weg in die Stadt. Die Erinnerung an den Schmerz und die unterdrückten Tränen in Penelopes wunderschönen Augen verfolgte Allen unaufhörlich, während er auf einen weit entfernten Ort zufuhr, an dem er schon seit langer Zeit nicht mehr gewesen war. Warum er Penelope nicht einfach hatte sagen können, wohin er wollte und weshalb es so dringend war und nicht aufgeschoben werden konnte, wusste er selbst nicht so recht. Vielleicht lag es daran, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was ihn dort erwartete. Oder an der Schuld, die schwer auf ihm lastete und ihn fast erdrückte. So viel Schuld, die er auf sich geladen hatte… Allen wischte sich rastlos mit der Hand über das Gesicht und sah in den Rückspiegel. Hinter ihm am Horizont tauchte gerade die Sonne auf. Ihr noch schwaches Licht wurde von dem reflektierenden Ortsschild zurückgeworfen, auf dem stand: Sullivan, Missouri. Er war nun schon seit acht Stunden unterwegs und abgesehen von einem kurzen Zwischenstopp, um zu tanken und einen lauwarmen Kaffee hinunterzustürzen, hatte er keine Pause gemacht. Wie ein Besessener war er gefahren, gefahren, gefahren. Vorbei an unzähligen Raststätten, auf deren Parkplätzen ein schwerer Sattelschlepper neben dem anderen stand, in jedem von ihnen wahrscheinlich ein übermüdeter Kraftfahrer, der sich eine viel zu kurze Nachtruhe gönnte. Hin und wieder hatte er auch eines der Polizeiautos am Straßenrand gesehen, deren Anblick ihn noch vor ein paar Tagen in Angst und Schrecken versetzt hätte. Eine unsichtbare Macht hatte ihn unerbittlich weitergetrieben, hin zu der letzten Tür, die in seine Vergangenheit führte und die er als Einzige nicht für immer hinter sich zugeschlagen hatte. Knapp eine Stunde später steuerte er seinen Wagen in eine ruhige Seitenstraße, nicht unähnlich denen in Old Orchard, fand eine freie Parklücke und stellte den Motor ab. Schräg gegenüber jätete eine Frau in ihrem Garten Unkraut. Ein Junge kam auf seinem Fahrrad angebraust und warf mit großer Zielsicherheit zusammengerollte Zeitungen über die Zäune auf die Terrassen der gepflegten Häuser. Allen hörte das entfernte Surren eines Rasenmähers. Sein Blick jedoch haftete auf dem unscheinbaren einstöckigen Gebäude, dessen Adresse er sich gemerkt, sie allerdings niemals irgendwo aufgeschrieben hatte, aus Angst, Davin könnte durch einen Zufall an die Information gelangen. Die Eingangstür wurde geöffnet, und eine junge blonde Frau, die ein pinkfarbenes Oberteil trug, bückte sich, um die Zeitung aufzuheben. Dann ging sie zurück ins Haus. Aliens Herz pochte wie verrückt. Er hätte Brody anrufen sollen und ihn bitten, seinem Cousin Bescheid zu sagen, dass er auf dem Weg war. Aber er hatte doch nicht ahnen können, wie plötzlich und überwältigend der Wunsch, endlich seinen Sohn wieder zu sehen, in ihm aufkommen würde. Und dass er an nichts anderes mehr denken konnte, als sich gestern Nacht die Ereignisse überschlagen hatten und der Albtraum von einem Moment auf den anderen vorüber gewesen war. Ob Joshua ihn erkennen würde? Was hatte man dem kleinen Jungen von seinem Vater erzählt, der einfach so von heute auf morgen verschwunden war, ohne ihm zu erklären, warum er das hatte tun müssen? War Joshua alt genug, um zu verstehen? Wollte sein Kind ihn überhaupt sehen? Oder platzte Allen womöglich in eine heile Welt hinein, die die Familie seines Cousins mühsam wieder
aufgebaut hatte, nachdem er sie mit einem völlig verstörten Dreijährigen allein
zurückgelassen hatte?
Allen schluckte hart.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen…
Die Fliegengittertür klapperte, und als Allen aufsah, sah er, dass die Frau von
eben wieder auf der Treppe stand. Sie rief dem kleinen Jungen etwas zu, der mit
einem Baseballhandschuh bewaffnet fröhlich hinter einem Älteren her lief.
Mein Gott, er ist so groß geworden. Und er war Kathleen wie aus dem Gesicht geschnitten. Allen langte selbstvergessen nach dem Griff der Fahrertür seines Autos und war ausgestiegen, ehe er richtig mitbekam, was er tat. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt in diesem Moment Joshua, seinem Sohn, der seinem Spielkameraden einen Ball zuwarf und juchzend darauf wartete, dass dieser ihn zu ihm zurückwarf. Als die junge Frau, die sich gerade umdrehen und in den Flur gehen wollte, den Mann bemerkte, der vor seinem Wagen stand und reglos die beiden Kinder beobachtete, hielt sie skeptisch inne. Allen sah aus dem Augenwinkel, wie sie misstrauisch zu ihm hinüber spähte. Er hob die Hände und kam ein Stück dichter. Zu seiner Erleichterung schien die Blondine plötzlich zu wissen, wer er war. Sie nickte ihm aufmunternd zu und schlang die Arme um ihre Schultern. Aliens Knie fühlten sich wie Pudding an und das Gefühl wurde mit jedem Meter stärker, den er sich dem Garten näherte. Ob Joshua begriff, dass Allen ihn zu seinem eigenen Schutz weggeschickt hatte? Nicht nur vor seinem Onkel, sondern auch davor, mit ansehen zu müssen, wie sein Dad möglicherweise festgenommen und ins Gefängnis gesperrt wurde? Würde er verstehen, dass alles, was Allen getan hatte, aus Liebe zu ihm geschehen war? Würde er sich überhaupt an seinen Vater erinnern? Oder ihn für einen Fremden halten? „Joshua“, sagte er leise, als er nur noch ein paar Schritte von seinem Sohn entfernt war. Die junge Frau rief den anderen Jungen, wahrscheinlich ihr eigenes Kind, zu sich, schob ihn vor sich her in den Flur und schloss dann die Tür von innen. Joshua sah verwirrt zu, wie sein Freund im ‘Haus verschwand. Er schaute den Baseball in seiner Hand an, dann wieder zur Haustür. Schließlich drehte er sich langsam in die Richtung, aus der Aliens Stimme gekommen war, und blickte fragend an dem Mann hoch, der vor ihm stand. Allen stockte der Atem, und er glaubte, sein Herz würde stehen bleiben. Liebe, Angst, Erschütterung, eine Schwindel erregende Mischung von Emotionen jagte durch seinen Körper, als er nach all dieser Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, in die Augen seines Sohnes blickte. Er erkennt mich nicht… Verzweifelt versuchte Allen, mit Logik gegen seine Enttäuschung anzukämpfen.
Es war völlig normal, dass Joshua nicht auf ihn reagierte. Was hatte er denn
erwartet? Der Kleine war erst drei Jahre alt gewesen, viel zu jung, um ein
Gesicht einer bestimmten Person zuzuordnen.
Doch da irrte Allen.
„Dad?“
Dieses eine winzige Wort bedeutete in diesem Moment die Welt für Allen. Es war
das Schönste, was er jemals gehört hatte. Er ließ sich auf die Knie fallen und
streckte die Arme aus.
„Joshua“, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme.
Der Junge warf sich überschwänglich an’ die Brust seines Vaters. Allen drückte
ihn an sich, so fest, dass der arme Knirps kaum noch Luft bekam. Allen wehrte
sich nicht länger dagegen, vor Glück zu weinen. Seinetwegen konnten es alle sehen. Das war völlig bedeutungslos. Alles, was zählte, war dieser kleine Mensch, der Kathleen so ähnlich sah, sein Fleisch und Blut, seine Familie. Endlich waren sie wieder zusammen. Er und sein Sohn.
17. KAPITEL 4. Juli, Unabhängigkeitstag Penelope stand am äußeren Rand einer Menschenansammlung rund um den Lucas Circle. Alle Leute um sie herum waren damit beschäftigt, lustige Mannschaftsspiele auszutragen, massenhaft Punsch zu trinken, der an diesem Tag umsonst ausgeschenkt wurde, und den hervorragenden Jazzmusikern zuzuhören, die vor zwei Stunden die HighSchoolBand abgelöst hatten. Die Sonne war fast untergegangen, und bald würde das große Feuerwerk losgehen, das von einem Acker gestartet werden sollte, der zur Farm des alten McGreary gehörte. Nicht weit entfernt saßen Mavis und Edith O’Malley eine rechts, eine links von Bürgermeister Nelson an einem Biertisch, jede von ihnen darum bemüht, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der ältere Herr grinste die ganze Zeit über wie ein Honigkuchenpferd. Er fühlte sich in seiner Rolle als Hahn im Korb offensichtlich pudelwohl. Doch trotz der gemütlichen, fröhlichen Atmosphäre, die Penelope geholfen hatte zu erschaffen, fühlte sie sich innerlich so leer wie die hohle Statue von Uncle Sam, die einige kreative Geister aus Pappmache gebastelt hatten und die in der Nähe des Springbrunnens aufgestellt worden war. Rastlos wanderte Penelope über den Platz, wo an jeder Ecke Familien ihre Picknickdecken ausbreiteten, beobachtete, wie andere in den Seitenstraßen, die heute für den Verkehr gesperrt waren, Klappstühle aufstellten und ihr Bier genossen. Kinder aller Altersgruppen schrieben mit Leuchtstäben ihre Namen in die Luft oder rannten, so schnell sie nur konnten, während sie lachend bunte Papierdrachen hinter sich her zogen. Penelope blieb stehen, dann setzte sie sich lustlos auf einen Stein, der zur Einfassung des Springbrunnens gehörte. Direkt über ihr bildeten die Zweige eines der Bäume, die rechts und links vom Brunnen wuchsen, ein funkelndes Dach aus Blättern, zwischen denen überall Lichterketten mit winzigen Birnchen aufgehängt worden waren. Penelope blickte hoch und betrachtete die künstlichen Sterne, dann ließ sie ihren Blick zum Himmel schweifen, wo sich bereits die ersten echten zeigten. Sie seufzte matt und stützte das Kinn auf ihre Hände. Der Aufruhr, der in ihrem Inneren die letzten beiden Tage geherrscht hatte, legte sich nun allmählich und was übrig blieb, war nichts weiter als der Gedanke an Allen. Wo war er? Ging es ihm gut? Was tat er gerade? Ob er in diesem Augenblick ebenfalls die Sterne beobachtete und an Penelope dachte, so wie sie an ihn dachte? „Gute Arbeit, Penelope“, sagte jemand hinter ihr. „Die Dekoration ist absolut erste Klasse geworden.“ Penelope drehte sich um. Mrs. Sparks lächelte ihr anerkennend zu, dann hakte sie sich wieder bei John ein, ihrem Mann, und ermahnte ihre beiden siebenjährigen Töchter, nicht so weit wegzulaufen. „Danke“, antwortete Penelope und versuchte, das Lächeln zu erwidern. „Hey, ihr zwei, ich habe gesagt, nicht so weit!“ Mrs. Sparks rollte mit den Augen. „Entschuldige, Penelope. Sieht so aus, als müssten wir unsere Racker mal wieder einfangen, bevor sie über alle Berge sind.“ Sie und John rannten hinter den Kindern her. Penelope knetete abwesend ihren linken Zeigefinger, während sie sich wieder voll und ganz ihrer trübsinnigen Stimmung widmete. Was für eine enorme Wendung ihr Leben in nur wenigen Wochen genommen hatte, war nahezu unglaublich. Noch vor einem Jahr – und in allen Jahren davor ebenfalls – hatten sie und Mavis kaum etwas von den
Festlichkeiten zum Nationalfeiertag mitbekommen, geschweige denn daran teilgenommen. Früher konnten sie von ihrem entlegenen Haus aus im günstigsten Fall vereinzelte Lichtblitze über den Baumwipfeln aufflackern sehen, wenn das Feuerwerk stattfand. Heute dagegen wären sie dem Spektakel so nah, dass man wahrscheinlich das Gefühl haben würde, die schillernden Funken am Himmel beinahe anfassen zu können. Und Penelope hätte auf all das, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, mit Freuden verzichtet, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, es gegen nur fünf ungestörte Minuten mit Allen einzutauschen. Sie vermisste ihn so sehr, dass es förmlich körperlich wehtat. Traurig schüttelte sie den Kopf. Ausgerechnet eine Frau wie sie, die gelernt hatte, sich nur auf sich selbst zu verlassen, verzehrte sich vor Sehnsucht nach einem anderen Menschen. Sie, die niemals Freunde gehabt hatte. Nicht einmal eine Familie, abgesehen von ihrer zeitweise unzurechnungsfähigen Großmutter, die Penelope trotz allem innig liebte. Es hatte nur sie beide und Max gegeben, und die sporadischen Besuche von Spot. Doch jetzt… Nun, jetzt, da sie wusste, aus wie viel mehr ihr Leben bestehen könnte, und erfahren hatte, wie echte Liebe sich anfühlte, hatte das Wort Bescheidenheit nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Jetzt wünschte Penelope sich, endlich auch all das haben zu können, was für andere schon immer selbstverständlich gewesen war. Sie hatte sich bisher nie in der Rolle einer Ehefrau gesehen. Oder einer Mutter. Noch hatte sie darüber nachgedacht, wie es sein würde, in einem Haus zu leben, das wirklich ihr eigenes war. Penelope erinnerte sich an die qualvollen Minuten, in denen sie beinahe Bekanntschaft mit dem Tod gemacht hätte, an einem alten, verschlissenen Seil hängend, das jederzeit reißen konnte. Ihre Füße, ohne Halt zu finden, über der Stelle baumelnd, an der ihre Mutter sich in die Tiefe gestürzt hatte. Sie fröstelte. Es war ein lauer Sommerabend, doch Penelope schlang unbehaglich die Arme um ihre Schultern. Wie es für ihre Mom gewesen sein mochte, dort oben auf der Brücke zu stehen und auf die Felsen hinabzustarren, überzeugt davon, es gäbe nichts auf der Welt, wofür es sich lohnte weiterzuleben. Nicht einmal ihre Tochter. Ob es sie Überwindung gekostet hatte, über die Brüstung zu klettern und hinunterzuspringen? Was sie wohl in ihren letzten Sekunden gedacht hatte, bevor ihr Herz für immer aufhörte zu schlagen? War ihr überhaupt bewusst gewesen, was sie ihrer Familie damit antat? Oder hatte ihr letzter Gedanke dem Mann gegolten, der damals in die Stadt gekommen war, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte. Penelopes unbekannter Vater, der einfach spurlos verschwunden war, nachdem er Heather Moon geschwängert hatte. Penelope schaute nach unten, um festzustellen, dass sie unbewusst ihren Bauch streichelte. Sie würde alles darum geben, von Allen schwanger zu sein. Ein Kind von dem Mann, der innerhalb so kurzer Zeit so viel Wärme und Lebensfreude in ihr zuvor tristes Dasein gebracht hatte… „Penelope?“ Sie sah auf und schaute sich suchend um. Doch mit ihren von Tränen feucht glänzenden Augen konnte sie kaum etwas erkennen. Enttäuscht blickte sie auf ihre Füße. Da war niemand. Sie hatte sich bestimmt nur eingebildet, Aliens Stimme zu hören. Er hatte sie schließlich vor zwei Tagen verlassen und nichts davon erwähnt, jemals wieder nach Old Orchard zurückzukehren. Oder zu ihr. Aber, was war, wenn ihre Ohren sie nun doch nicht getäuscht hatten?
Penelope blinzelte heftig und starrte die Gestalt an, die einige Meter entfernt ein Stück abseits der Menschentrauben stand, die sich dort gebildet hatten, von wo aus man das Feuerwerk, das bald anfangen musste, am besten würde sehen können. Skeptisch wischte Penelope sich die Tränen von den Wangen und runzelte die Stirn. Nein, es war nicht eine Gestalt, es waren zwei. Eine von ihnen war recht hoch gewachsen, die andere reichte ihr nur knapp bis über die Knie. Die beiden näherten sich und blieben vor Penelope stehen. Das Erste, was ihr auffiel, waren die unglaublich großen und unglaublich blauen Augen des strohblonden Knirpses, aus denen er sie neugierig ansah. Vollkommen sprachlos schaute Penelope an dem Mann hoch, der hinter dem Kind die Hände auf dessen Oberarme gelegt hatte. Es war Allen. Penelopes Blick wanderte abermals zu dem kleinen Jungen, und sie verstand. Er war der Grund, warum Allen so überstürzt aufgebrochen war. Sie erhob sich von dem kühlen Stein, unsicher, was sie jetzt tun oder sagen sollte. „Hi“, stammelte sie. Der Ausdruck in Aliens tiefbraunen Augen ließ die Haut auf ihren Unterarmen kribbeln und ihre Kehle trocken werden. Es lag so viel Liebe darin. Und Glück. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie schluckte den Kloß hinunter, der ihr im Hals steckte, und hockte sich vor dem Kind nieder. „Und wer bist du?“ fragte sie, bekam als Antwort jedoch zunächst nur einen schüchternen Blick auf den Boden. „Mein Name ist Joshua“, sagte der Kleine dann leise. „Joshua Burford… äh, Dekker.“ Penelope lächelte. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als der junge sie tatsächlich schüttelte. „Na dann. Schön dich kennen zu lernen, Joshua Burford Dekker. Ich bin Penelope Moon“, stellte sie sich vor. Dann erregte plötzlich etwas an seinem Handgelenk ihre Aufmerksamkeit. Er trug das Lederarmband, das sie Allen gegeben hatte. Der blaue Stein funkelte im Schein der Lichterketten in den Bäumen, die den Springbrunnen säumten. Sie sah wieder zu Allen hoch, der sie voller Stolz anlächelte, so, wie es nur ein Vater konnte. Am liebsten hätte sie den kleinen Joshua an ihre Brust gedrückt, doch sie hielt es für besser, das vorerst nicht zu tun. Für ihn war sie ja noch eine völlig Fremde, und sie wollte ihn nicht verängstigen. „Daddy sagt, du wirst meine neue Mommy werden.“ „Was?“ wisperte Penelope und starrte zuerst Joshua, dann Allen ungläubig an. Der hob eine Augenbraue und grinste schief. „Ich habe gesagt, es würde mich freuen, wenn Penelope darüber nachdenken würde“, verbesserte er seinen Sohn. „Mich würd’s auch freuen“, meinte Joshua und schaute Penelope dabei so hoffnungsvoll an, dass sie das Gefühl hatte, ihre Beine würden unter ihr nachgeben. Überwältigt von einer Flutwelle aus Freude, Ergriffenheit und unbändiger Liebe, das beschrieb nicht einmal annähernd, was Penelope in diesem Moment empfand. Worte reichten nicht aus für das, was in ihr vorging. „Was denkst du, Penelope?“ fragte Allen. „Könntest du dich mit dem Gedanken anfreunden, ein Mitglied des berüchtigten DekkerClans zu werden?“ Er holte einen kleinen Gegenstand aus seiner Tasche. Sie erkannte nicht sofort, was es war, doch dann konnte sie kaum glauben, was da in Aliens Handfläche lag. Ein kleines Kästchen, mit rotem Samt bezogen.
Max war offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass man ihn nicht genügend beachtete, denn er quetschte sich, vollkommen unbeeindruckt von jeglicher Romantik, zwischen die Beine der beiden Erwachsenen und beschnupperte interessiert den unbekannten Zwerg, der neben ihnen stand. „Oh, wow, ein Hund“, juchzte Joshua und begann sofort, Max unterm Kinn zu kraulen, der sich die Streicheleinheiten nur zu gern gefallen ließ. „Wie heißt er denn?“ wollte der Junge wissen, doch weder Allen noch Penelope gaben ihm eine Antwort. Sie waren viel zu beschäftigt damit, sich tief in die Augen zu sehen. Davon ließen Max und Joshua sich nicht stören. Sie hatten ineinander den perfekten Gegenpart gefunden, was Energie und Ausgelassenheit anging. Übermütig hüpfte Max um seinen neuen Spielkameraden herum und stupste ihn mit der Nase an. Joshua plumpste auf den Hosenboden, lachte fröhlich, schlang seine dünnen Arme um Max’ Hals und kuschelte seine Wange in das dichte Fell des Tieres. Penelope wusste wirklich nicht, was sie sagen sollte, als die erste Rakete des Feuerwerks am Himmel explodierte und ein rotes Herz aus funkelnden kleinen Lichtern am Firmament erschien. Die Zuschauer applaudierten begeistert. Viele von ihnen drängten sich daraufhin schnell am Springbrunnen vorbei weiter nach vorn, um keine der bunten, fantasievollen Formen zu verpassen, die zwei Leute der örtlichen Feuerwehr von ihrem Standort auf McGrearys frisch umgegrabenen Feld aus in die Dunkelheit zauberten. Inmitten so vieler Menschen, die das Gleiche taten wie sie selbst, kam es Penelope in diesem Augenblick dennoch so vor, als gäbe es nur Allen und sie, Max und Joshua, die gemeinsam dem bunt schillernden Spektakel dort oben zuschauten. Jedes Mal, wenn ein weiterer Feuerwerkskörper mit einem lauten Knall eine neue Figur an den Himmel malte, erstrahlte der gesamte Festplatz einige Sekunden lang in rotem, blauem oder grünem Licht. Penelope deutete auf das Kästchen in Aliens Hand. „Soll das etwa bedeuten… du machst mir einen Heiratsantrag?“ Er grinste verschmitzt. „Das ist, soweit ich weiß, die übliche Vorgehensweise. Ein Mann schenkt einer Frau einen Ring, und dann…“ „Und dann?“ scherzte Penelope. „Du hast mich ja unterbrochen“, verteidigte Allen sich. „Ich wollte gerade zum nächsten Schritt übergehen.“ Er kniete sich vor ihr auf den Boden, schnippte mit dem Daumen den Deckel des Kästchens hoch und hielt es ihr entgegen. Im Inneren befand sich ein atemberaubend schöner Ring, in dessen Mitte ein glänzender ovaler Saphir eingearbeitet war. Er tut es wirklich. Hier, in aller Öffentlichkeit, dachte Penelope in einem Anflug von Panik. Sie wollte ihn bitten, wieder aufzustehen, bevor alle sie anstarrten. Zu spät. Die ersten Köpfe wurden bereits in ihre Richtung gedreht, und man warf ihnen neugierige Blicke zu. „Penelope Moon, willst du mit mir den Bund der Ehe eingehen? Gelobst du, mich zu lieben, so sehr wie ich die liebe? Willst du auch meinen Sohn Joshua lieben, ihm jeden Morgen sein Pausenbrot schmieren und seine ständig zerrissenen Hosen flicken? Wirst du mir stets das Frühstück machen, mein Herz mit Glück erfüllen und mein Bett mit…“ Mrs. O’Malley, die in der Nähe stand, räusperte sich laut. Joshua und Max hockten nebeneinander auf dem Boden und schienen beide gleichermaßen gespannt auf das zu warten, was Allen nun sagen würde.
„Blumen“, schloss er und zwinkerte heimlich Mrs. Noonan zu, die sich eine Hand vor den Mund hielt, um ihr amüsiertes Grinsen zu verbergen. Penelope hob in gespielter Überraschung die Augenbrauen. „Also, verstehst du das?“ murmelte Joshua an Max gewandt. „Wieso sollte irgendwer Blumen im Bett haben wollen? Ich würde Kekse viel besser finden. Aber die darf ich da drin nicht essen. Wegen der Krümel.“ Penelope lachte. Zum einen, wegen Joshuas Kommentar, zum anderen aber auch aus Unsicherheit, was sie sagen sollte. Sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt Worte gab, die ausdrücken konnten, wie unsagbar glücklich sie sich fühlte. Aber eines wusste sie. Dass sie und Allen füreinander bestimmt waren. Und dass sein kleiner Sohn die Liebe, die sie füreinander empfanden, nur noch verstärkte. „Ja, das will ich“, sagte sie schlicht. „Bis auf den Teil mit dem Frühstück. Darüber müssen wir noch verhandeln. Was würde ich denn dafür kriegen?“ Allen richtete sich auf und streifte ihr den Ring über den Finger. „Mich“, sagte er sanft. „Und ich bringe immer den Müll raus und stopfe deine Socken. Abgemacht?“ Penelope betrachtete versonnen den im Kontrast zu ihrer blassen Haut schimmernden Beweis seiner Liebe, dann sah sie Allen an und fiel ihm um den Hals. „Abgemacht“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Max sprang freudig bellend an Penelopes Bein hoch, und Joshua schlang seine Ärmchen um die beiden Erwachsenen und schmiegte seinen kleinen Kopf gegen das Knie seines Vaters. Das Feuerwerk näherte sich seinem Ende. Zum großen Finale explodierten rund zehn Raketen auf einmal am Himmel und verwandelten ihn in ein Meer aus Gold und Silberflitter. Nachdem die letzten der glitzernden Lichtfunken verglüht waren, klatschte das Publikum tosenden Beifall, der Applaus wurde von Jubelrufen und lauten Pfiffen übertönt. Einige der Zuschauer, die dichter bei dem Springbrunnen standen, schienen sich eher für das verliebte Pärchen in ihrer Nachbarschaft zu interessieren. Sie tuschelten leise miteinander und warfen immer wieder verstohlene Blicke zu den beiden hinüber. Penelope drückte die zwei Männer fest an sich, die von nun an Bestandteil ihres Lebens sein und eine wichtige Rolle in ihm spielen würden. Den großen, bei dem es ein wenig gedauert hatte, bis sie sich seine Liebe zu ihm hatte eingestehen können, und den kleinen, den sie sofort vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen hatte. Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel einen Schatten und entdeckte Spot, die gemächlich dasaß, die drei Menschen und Max beobachtete und dabei gelassen ihren Schwanz hin und her bewegte. Allem Anschein nach war sie sehr zufrieden mit dem, was sie sah. Dann drehte sie sich um, schlüpfte unter einer Hecke hindurch und war kurz darauf in der Dunkelheit verschwunden. ENDE