Rüdiger Schäfer
Das Sphärenrad
Zweiter Band der Rudyn-Trilogie
DAS BUCH August 3102 alte Terranische Zeitrechnung: ...
33 downloads
691 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Rüdiger Schäfer
Das Sphärenrad
Zweiter Band der Rudyn-Trilogie
DAS BUCH August 3102 alte Terranische Zeitrechnung: Die Milchstraße ist ein gefährlicher Ort. Verschiedene Organisationen kämp fen gegen das Solare Imperium der Menschheit. Sternenreiche entstehen neu, und überall ringen kleine Machtgruppen um mehr Einfluss. In dieser Zeit geht die United Stars Organisation – kurz USO genannt – gegen das organisierte Verbrechen vor. An ihrer Spitze steht kein Geringerer als Atlan: Perry Rhodans bester Freund. Der ca 9000 Jahre v. Chr. geborene Arkonide ist dank eines Zellaktivators re lativ unsterblich. Als junger Kristallprinz erkämpft er sich die rechtmäßige Nachfolge und besteigt als Imperator Arkons Thron, bis er im Jahr 2115 ab dankt und die Leitung der neu gegründeten USO übernimmt. Signale eines Zellaktivators, der dem Träger die Unsterblichkeit garantiert, werden empfangen. Auf der Jagd nach diesem Gerät verfolgen Atlan und die Psi-Kämpferin Trilith Ork Agenten der Zentralgalaktischen Union. Ihr Weg führt sie ins Ephelegon-System, an Bord des Sphärenrads ZUIM, auf dem sich Ponter Nastase aufhällt. Der Kalfaktor für Wissenschaften hat ehrgeizige Pläne, die er eiskalt und ohne Rücksicht umsetzen will. Atlan gerät zwischen die Fronten, als es zu einer richtungsentscheidenden Auseinandersetzung an Bord der ZUIM kommt … DER AUTOR Rüdiger Schäfer, Jahrgang 1965, lebt in Leverkusen. Seinen ersten PERRY RHODAN-Roman las er mit zehn und kam so zur Science Fiction. Seitdem hat ihn die Serie nicht mehr losgelassen. Schon früh fing er an, selbst zu schreiben und publizierte zunächst in Fanzines. Bis heute verfasste Rüdiger Schäfer zwei ATLAN-Heftromane, herausgegeben in der Pabel-Moewig Verlag KG, und di verse Veröffentlichungen in Anthologien und bei Kleinverlagen. Neben der Schriftstellerei interessiert sich der Autor für die Naturwissenschaften, allen voran die theoretische Physik. Er ist leidenschaftlicher Filmfan und ein mit Jah reskarte ausgestatteter Anhänger des »ewigen Zweiten« Bayer 04 Leverkusen.
Danksagung Danke an … Sabine und Klaus, für einen Megatrip mit dem alten Arkoniden. … Michael, für Lob, Kritik, Motivation und so viel mehr. … Schwesterherz, für die wissenschaftliche Beratung. … Rainer, für all die detaillierten Auskünfte und das umfangreiche Datenmaterial. … Gaby und Peter, für die Freundschaft und die großartige Verpfle gung. … Angelika, fürs Testlesen – und das Futter für meinen DVDPlayer. … Colin, fürs Testlesen – und ein Zwei-Stunden-Telefonat über Beinamputationen. … Helmut, für das Abschleifen der letzten Ecken und Kanten. … den vielen fleißigen Mitarbeitern der Perrypedia für ihre großarti ge Arbeit. Rüdiger Schäfer
Kleines Who is Who Atlan – der Lordadmiral der USO auf der Jagd nach der Unsterb lichkeit. Trilith Okt – die rätselhafte Psi-Kämpferin weiß was sie will – und wie sie es bekommt. Lalia Bir – nicht nur ihr Leben hängt an einem hauchdünnen Faden. Ponter Nastase – der Kalfaktor für Wissenschaften probt den »Kri senfall Sturmwind«. Neife Varidis – die Geheimdienstchefin spielt mit hohem Risiko. Morchete – die Springerpatriarchin hört schlecht, merkt aber viel. Mimarche – Morchetes erste Tochter. Druchima – Morchetes zweite Tochter. Dorchante – Morchetes dritte Tochter. Kaltechte – Morchetes vierte Tochter. Archimpe – Morchetes fünfte Tochter. Rucharda – Morchetes sechste Tochter. Jesper Gablenz – sein Pflichtbewusstsein wird ihm zum Verhäng nis. Cole Wagman – der Erste Offizier der TRADIUM hat Gewichtspro bleme. Ernesta Gori – der ZGU-Agentin liegt das Wohl der Union am Her zen. Holzer M. Buchard – ein Techniker Klasse 2 mit philosophischen Anwandlungen. Fresko Balibari – Holzers bester Freund und Arbeitskollege. Sente Maluba – der Kapitän der KAPIUR hält die USO für eine Ver
brecherorganisation. Balton Wyt – die spätere Mutantenlegende als junger Offizier. Kikomo Akubari – persönlicher Adjutant von Ponter Nastase. Anjelka Ziemann – persönliche Referentin der Kalfaktorin für Wirt schaft und Entwicklung. Karaia Cortez – die Wartungsspezialistin auf der ZUIM bricht Hol zers Herz. Melvin Alachaim – der Oberst der ZGU ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Saul Puskasz – der Techniker Klasse 4 hat seine Stiefel verloren. Oderich Musek – der persönliche Berater von Neife Varidis hasst Waffen. Marco Fau – Kalfaktor für Kriegswesen und Verbündeter Ponter Nastases. Ermid Güc – Kalfaktor für Flottenaufbau und Verbündeter Ponter Nastases.
Morchete Vergangenheit »Reparieren?« Dorchante sprang so heftig von ihrem Sessel auf, dass die vier lan gen roten Zöpfe wie aus dem Schlaf geschreckte Targos-Schlangen um ihren Kopf wirbelten. »Da ist nichts mehr zu reparieren, Mutter! Der Strukturfeld-Konverter besteht nur noch aus notdürftig geflick ten Ersatzteilen und mindestens zwei Tonnen Mehrkomponenten kleber. Ab einer Sprungweite von mehr als hundert Lichtjahren kann ich für nichts mehr garantieren.« »Dir ist offenbar nicht bewusst, was so ein Konverter kostet.« Mor chete hatte die Arme vor ihrem ausladenden Brustkorb verschränkt und starrte ihre drittälteste Tochter missmutig an. »Selbst gebraucht reden wir hier von einer sechsstelligen Summe. Und wie bescheiden die Geschäfte derzeit laufen, muss ich dir wohl nicht erklären, oder?« »Derzeit?« Dorchante, die mit ihrer Leibesfülle ihrer Mutter in nichts nachstand, schnaubte verächtlich. »Seit mehr als einem Jahr fliegen wir in unseren Laderäumen kaum mehr als Gulmendreck spazieren. Selbst die Transporte für die GCC spielen gerade einmal die Betriebskosten ein.« »Hüte deine Zunge!« Die aufgeblasenen Wangen Morchetes wie sen auf einmal die gleiche Tönung wie ihre für Springer untypisch kurz geschnittenen roten Haare auf. »Wir leben in schwierigen Zei ten. Viele Sippen kämpfen derzeit um ihre wirtschaftliche Existenz. Und die MORCH I …« »… ist ein Wrack«, unterbrach Dorchante respektlos. »Das alles än dert nichts an den Tatsachen, Mutter. Wenn wir nicht bald zumin
dest die notwendigsten Wartungsarbeiten durchführen, wird dieser Raumer …« Ein dumpfes Krachen aus den Tiefen des Schiffsrumpfes brachte die schwergewichtige Springerin vorübergehend zum Schweigen. Dorchante packte unwillkürlich die Lehne des Sessels, als die MORCH I von einem Zittern durchlaufen wurde. Der Boden bebte, und auf dem wuchtigen Tisch, der den kleinen Konferenzraum fast vollständig ausfüllte, klirrten Flaschen und Gläser aneinander. Eine Sirene heulte ohrenbetäubend, kam ins Stottern und brach dann ganz ab. »Was war das?«, brüllte die Patriarchin. Ihre Tochter machte eine ratlose Geste, drehte sich um und schlug auf den Öffnungsmechanismus des Schotts. Es dauerte ungewöhn lich lange, bis die beiden Schotthälften auseinanderfuhren. Morchete stemmte sich jetzt ächzend aus ihrem Sitz und folgte Dorchante in die Zentrale. In dem gut sechs Meter durchmessenden Rund hockte ein gutes Dutzend Spinger an ihren Pulten und Steuerkonsolen. Es war viel zu warm und roch nach Schweiß und ungewaschenen Fü ßen. Die Luftumwälzung arbeitete schon seit Wochen nur noch spo radisch. »Kriege ich wohl eine Meldung!«, donnerte die Patriarchin zornig. Sie war in die Mitte der Zentrale gewalzt und hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt. Ihre hinter Fettwülsten verborgenen Augen blitzten mindestens so gefährlich wie die zahlreichen Warnlichter an den Instrumentenpaneelen. »Jetzt nicht, Mutter!« Die tiefe Stimme gehörte Rucharda, der jüngsten ihrer sechs Töchter. Mit ihren 150 Kilogramm Lebendge wicht wirkte sie neben ihren Schwestern stets ein wenig schmächtig. Als Pilotin der MORCH I war sie dagegen unersetzlich. »Wir sind hier ziemlich beschäftigt«, rief sie und legte eine Reihe von Schaltern auf einem der Kontrollpulte um. Zwei von den roten Lichtern wurden grün, vier grüne dafür rot. Rucharda stieß einen Fluch aus, der ihr selbst in der verrufensten Raumhafenspelunke
Lepsos höchsten Respekt eingebracht hätte, und schlug einem neben ihr sitzenden Springer die Faust auf den Schädel. Der Mann, ein bär tiger Kerl mit verfilztem Haupthaar und fleischiger Knubbelnase, grunzte unwillig, schüttelte sich und wandte sich wieder seiner Ar beit zu. Offenbar war er solche Ausbrüche der Pilotin gewöhnt. Währenddessen hatte Dorchante die Anzeigen studiert und beugte sich zu ihrer Mutter hinüber. »Es scheint Probleme mit dem Hauptreaktor zu geben«, sagte sie. »Probleme!« Rucharda lachte höhnisch. »Das vermaledeite Ding fliegt uns gleich um die Ohren. Eigentlich müssten wir den rostigen Kahn evakuieren – das heißt, wenn wir die drei letzten flugfähigen Beiboote nicht auf Rarschaf IV gegen eine angeblich voll funktions tüchtige Transformkanone eingetauscht hätten.« »Halt die Klappe«, giftete Dorchante. »Im Gegensatz zu dir, versu che ich wenigstens, Profit zu machen. Dieser stinkende Terraner machte einen absolut seriösen Eindruck. Was kann ich dafür, dass er in Wahrheit ein …« »Schöne Augen hat er dir gemacht«, ließ die Schwester sie nicht ausreden. »Und du bist wie ein verliebtes Mädchen darauf reingefal len. Glaubst du wirklich, dass …« »Schluss jetzt!« Die Stimme der Patriarchin zitterte vor mühsam unterdrückter Wut. »Alle beide.« Die MORCH I wurde von einem harten Schlag erschüttert, und die Mägen der Anwesenden rebellier ten, als für den Bruchteil einer Sekunde die künstliche Schwerkraft ausfiel. Zwei Bildschirme implodierten und die schon zuvor gehörte Sirene unternahm einen neuen Anlauf, ihren vorbestimmten Zweck zu erfüllen. Sie scheiterte kläglich. Das Hauptschott der Zentrale öffnete sich mit lautem Quietschen. Mimarche, Morchetes Erstgeborene, hatte anscheinend geschlafen. Ihre mächtigen nackten Füße ragten wie die Säulen eines antiken Tempels aus dem weit fallenden Nachthemd. Sie warf einen ange widerten Blick in den überfüllten Kommandoraum, kratzte sich un geniert unter der linken Achsel und enteilte wieder.
»Abschalten!« Rucharda stand vor einer Reihe Monitore und stu dierte die dort abgebildeten Daten. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. »Und dann alles auf die Impulstriebwerke 2 und 4. Neuer Kurs. Fünfzehn Lichtjahre voraus gibt es ein unbewohntes Sonnen system. Zwei Planeten liegen innerhalb der Biosphäre. Mit etwas Glück schaffen wir noch eine Transition ohne auseinanderzubre chen.« Die Patriarchin trat neben ihre jüngste Tochter. »Du willst doch nicht etwa eine Notlandung versuchen?«, fragte sie. Aus ihrer Miene war jeglicher Groll verschwunden. Rucharda sah sie ernst an. »Nein, Mutter«, sagte sie leise. »Von Wollen kann keine Rede sein. Aber ich fürchte, ich werde es versu chen müssen, wenn wir überleben wollen.«
Die MORCH I stöhnte und ächzte, wie sie es in den 171 Jahren In dienststellung noch nie zuvor getan hatte. Morchete saß in ihrem Kontursessel in der Mitte der Zentrale und lauschte dem Todes kampf jenes Schiffes, das sie ihrem ersten Ehemann vor fast fünf Jahrzehnten am Spieltisch abgenommen hatte. Aus der GAR I war die MORCH I geworden; Gartak hatte sich in das Unvermeidliche gefügt und Morchete geheiratet. Sie hatte ihm zwei Töchter – Mi marche und Druchima – sowie einen gnädigen Tod in der Reaktor kammer geschenkt, als sie ihn gemeinsam mit einer ihrer Cousinen beim Liebesspiel erwischte. Dorchante, die dritte Tochter, war das Ergebnis einer Affäre mit ei nem ebenso nichtsnutzigen, dafür aber gut aussehenden Techniker auf Archetz, der Hauptwelt ihres Volkes. Während seine Kollegen die MORCH I in der Montagewerft überholten, vergnügten sich Morchete und er im Vorratsraum der Werkskantine. Neben einer völlig überzogenen Rechnung bekam sie als Zugabe ein Kind. Den Vater ihres Kindes sah sie nie mehr wieder. Anfang September 2437, kurz nach der verheerenden Raum
schlacht zwischen den Dolans, der Zeitpolizei und den durch Posbis und Halutern unterstützten Terranern, hatte sie auf einer Handels konferenz schließlich jenen Mann kennen gelernt, von dem sie über zeugt gewesen war, er sei der Richtige. Fauron sah gut aus, war charmant und gab ihr das Gefühl, die Galaxis gehöre nur ihnen bei den. Außerdem liebte er die drei Mädchen – und die Mädchen lieb ten ihn. Sie heirateten, Kaltechte, Archimpe und Rucharda wurden geboren; die Geschäfte gingen gut wie nie, und Morchete spielte be reits mit dem Gedanken, ein zweites Schiff anzuschaffen. Patriar chinnen waren bei den Springern ohnehin eine Seltenheit und wur den eher belächelt, aber erfolgreiche Patriarchinnen zählten zu den kleinen Wundern ihres Volkes. Oh ja, sie hatten ein schönes Leben geführt. Damals. Doch dann hatte auch Morchete lernen müssen, dass nichts vergänglicher war als das Glück. Bis heute wusste sie nicht, wer oder was für den schrecklichen Unfall im Maschinenraum verantwortlich gewesen war. Eine schadhafte Speicherzelle. Ein Bedienungsfehler. Der – wenn auch unwahrscheinliche – Sabotageakt eines neiderfüllten Konkurrenten. Alles war möglich. Sie kam davon, auch wenn sie bei der Explosion das Gehör verlor und fortan ein Hörgerät tragen musste. Fauron hatte weniger Glück. Er trug so schwere Verbren nungen davon, dass ihn auch ein Aufenthalt in einer Spezialklinik auf Aralon nicht retten konnte. Sie opferte einen Großteil ihres Ver mögens, und als das Geld aufgebraucht war, gestanden die Galakti schen Mediziner ihre Niederlage ein. Fauron starb am 6. April 2457, und an diesem Tag starb auch etwas in ihr. Sie fing an, sich zu betrinken und die Geschäfte zu vernachlässi gen. Innerhalb nur eines Jahres nahm sie fast sechzig Kilogramm zu. Die Aufträge kamen spärlicher, es fehlte das Geld für die Instand haltung der MORCH I, und so war der Abstieg nicht mehr aufzuhal ten. Ihre Töchter, vor allem die junge Rucharda, versuchten anfangs noch, sie aufzurütteln, ihr den verlorenen Lebensmut zurückzuge ben, doch irgendwann mussten auch sie einsehen, dass es die Mor chete, die sie einst gekannt hatten, nicht mehr gab. Eine nach der an
deren folgte dem Beispiel der Mutter, verlor den Glauben an die großen Ziele und die Kontrolle über die kleinen. Sie ließen sich ge hen und sprachen den leiblichen Genüssen dieses Universums im Übermaß zu. Ein neuer Ruck, heftiger als alle anderen zuvor, hätte Morchete beinahe aus ihrem Kontursessel geschleudert. Die Patriarchin regel te die Lautstärke ihres Hörgeräts herunter, und das Geräuschinferno um sie herum erstarb zu einem entspannten Flüstern. Auf dem von Schleiern überzogenen Panoramaschirm wanderte eine grüne Kugel ins Zentrum der Bilderfassung. Das musste einer der beiden Plane ten sein, die Rucharda erwähnt hatte. Die MORCH I schüttelte sich. Morchete spürte, wie selbst die al tersschwache Verankerung ihres Sessels unter der wachsenden Be lastung nachzugeben drohte. Der stechende Geruch verschmoren den Isoliermaterials stieg in ihre Nase. Sie musste husten. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie wischte sie ärgerlich zur Seite. Auf gewisse Weise war sie sogar froh, dass es endlich vorbei war. Wenn sie sich mit ihren hundertvier Jahren in einem Spiegel betrachtete, ekelte sie sich vor sich selbst. Sie war eine fette, verbitterte Frau ge worden mit sechs fetten, verbitterten Töchtern und einem Raum schiff, das diese Bezeichnung nicht verdiente. Jetzt war es zu spät. Statt zu begreifen, dass sich das Leben nicht um persönliche Schick sale scherte, statt sich nach dem schweren Sturz wieder aufzurap peln und zu kämpfen, war sie liegen geblieben, hatte nicht einmal so viel Würde zurückbehalten, um sich einen Strahler an die Schläfe zu setzen und abzudrücken. Wieder diese lästige Hand auf der Schulter. Diesmal ließ sie sich nicht abschütteln. Jemand griff nach den Kontrollen ihres Hörgeräts. Sekunden später drang die hektische Stimme Dorchantes an ihr Ohr. »Mutter! Steh auf. Ich bringe dich in deine Kabine. Hier ist es nicht mehr sicher.« Morchete wollte protestieren. Als Patriarchin war ihr Platz in der Zentrale. Sie musste den anderen als leuchtendes Beispiel vorange
hen. 167 Männer und Frauen der Besatzung zählten auf sie. Doch dann erfasste sie, dass das Gedanken aus einer anderen Zeit waren, Prinzipien, denen sie einmal gefolgt war und die längst keine Be deutung mehr hatten. Willenlos ließ sie sich auf die Beine ziehen. Die Luft war erfüllt von lauten Flüchen. Ab und zu knallte es, als würde jemand eine an tike Projektilwaffe abfeuern. Das waren die platzenden Schweißnäh te der hundertfach geflickten Konsolenverkleidungen. Unter ihren Füßen knirschte gesplittertes Glas. Jemand schrie etwas, doch sie verstand kein Wort. Aus den Augenwinkeln sah sie Rucharda im Pilotensessel. Ihr breiter Hintern hing rechts und links über die mit Stahlstreben ver stärkte Sitzschale. Es war ein göttlicher Anblick, über den sich Mor chete in jeder anderen Situation köstlich amüsiert hätte. Aber jetzt stand ihr Leben und das aller anderen an Bord auf dem Spiel, und die Flugkünste Ruchardas waren der entscheidende Faktor. Sie wollte sich aus dem Griff Dorchantes befreien und zu ihrer jüngsten Tochter hinübergehen. Sie wollte ihr sagen, dass sie stolz auf sie war und fest an sie glaubte. Doch sie kam nicht mehr dazu. Mit einem mörderischen Ruck traf die MORCH I auf die äußere Lufthülle des Planeten. Das vierhundert Meter lange Walzenschiff war viel zu schnell, der Aufprallwinkel zu steil. Rucharda schaltete die Impulstriebwerke auf Gegenschub. Stotternd kamen die Kern prozesse in Gang. Hochverdichtetes Plasma wurde auf Lichtge schwindigkeit beschleunigt und durch die bugseitigen Düsenfelder gepresst. Die Patriarchin desaktivierte ihr Hörgerät, und dennoch war der Lärm so gewaltig, dass sie ihn als leises Rauschen wahrneh men konnte. Die Oberfläche der fremden Welt kam rasend schnell näher. Morchete erkannte dichten Dschungel und irgendwo in der Ferne den blauen Streifen eines Ozeans. Warum wurden sie nicht langsamer? Warum bremste Rucharda das Schiff nicht stärker ab? Im selben Moment wurde die MORCH I von einer gewaltigen Ex plosion erschüttert und zerbrach in zwei Teile.
Atlan Gegenwart Die Stille in der engen Kabine war bedrückend. Ich hatte mich auf die kurze, kaum gepolsterte Liege gelegt, die Beine angezogen und die Augen geschlossen. Wenn ich den Atem anhielt und mich konzentrierte, vernahm ich ein leises Summen, als wäre irgendwo hinter den tristen graublauen Stahlplastwänden der GAHENTEPE ein Bienenstock versteckt. Meine Gastgeberin hatte mir schnell und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie derzeit nicht an einem Dialog interes siert sei. Der Blick ihrer hellroten, wässrig schimmernden Augen hatte nichts Unangenehmes an sich gehabt, und doch empfand ich die eingehende Musterung, der sie mich unterzogen hatte als … be unruhigend. Es fiel mir kein besseres Wort ein, um meine Gefühle zu beschreiben. In den knappen, kontrollierten Bewegungen dieser Frau lag eine unterschwellige Aggressivität, eine nur mühsam un terdrückte Gereiztheit, die jeden Augenblick hervorbrechen konnte. »Du solltest dich von den Strapazen der letzten Stunden erholen«, hatte sie in holprigem Interkosmo zu mir gesagt, kurz nachdem wir den diskusförmigen Raumer betreten hatten. Für einen kurzen Mo ment erinnerte ich mich an die Blues mit ihren diskusförmigen Raumschiffen. Dabei zeigte sie auf eine offene Kabinentür, die von einem in sanftem Bogen verlaufenden Gang abzweigte. »Ich werde die Verfolgung unserer Freunde von der ZGU aufnehmen. Wir re den später.« Ich wollte zunächst protestieren, hatte es aber dann doch sein las sen. Die Frau, die sich Trilith Okt nannte, wusste offenbar sehr ge nau, was sie wollte. Zudem war es wahrscheinlich, dass sie über meine Identität informiert war. Der unsterbliche Lordadmiral der
USO und ehemalige Imperator des Arkonidischen Imperiums war in der Milchstraße alles andere als unbekannt. Mein Gesicht flim merte sozusagen stündlich über die diversen TriVid-Kanäle, und mein Name fiel in mindestens jeder zweiten Nachrichtensendung. Also hatte ich nur genickt und dabei mein Gegenüber genau beob achtet. Doch Trilith Okt ließ durch keine Reaktion erkennen, ob sie mit dieser terranischen Geste etwas anfangen konnte. Die Kabinen tür schloss sich mit einem leisen Zischen hinter mir, und als ich eine Minute später probehalber den Versuch unternahm, meine Unter kunft zu verlassen, öffnete sich das Schott anstandslos. Die Frau war verschwunden, und ich wusste immerhin, dass ich kein Gefangener war. Dennoch verzichtete ich vorerst auf einen Erkundungsgang, auch und vor allem, um den Vertrauensbeweis Triliths zu erwidern. Seitdem war ungefähr eine Stunde vergangen. Ich hatte mich in der Kabine umgesehen. Die eher spartanische Einrichtung war ein deutig auf Humanoide zugeschnitten. Neben dem unbequemen La ger gab es eine Toilette, eine Nasszelle und einen Hocker. Der Tisch war versenkbar in der Wand, genauso der Bildschirm neben der Tür, der sich jedoch nicht aktivieren ließ. Alles wirkte auf seltsame Art und Weise primitiv und unfertig, so als hätte der unbekannte In nenausstatter verzweifelt nach einem Mittelweg aus Funktionalität und Bequemlichkeit gesucht. Natürlich hielt ich auch gezielt Ausschau nach Überwachungs technik – Fehlanzeige. Falls es hier doch Kameras und Mikrofone gab, waren sie gut verborgen und ohne entsprechende Suchgeräte nicht aufzuspüren. Bis auf meine Kabine machte die GAHENTEPE einen überaus modernen Eindruck. Das wenige, was ich bisher von ihr gesehen hatte, war mir in Bauweise und Anordnung unbekannt gewesen. Der Diskus gehörte zu keiner der in der Galaxis gängigen Raum schiffklassen. Ich entdeckte am Fußende des Bettes eine Art Klappe, deren Zweck sich mir nicht erschloss. Ich schlug mit der Faust fest neben
die etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter große Fläche – und tat sächlich bewegte sich diese. Die Klappe schwang nach innen und gab einen transparenten Beutel mit grünlichgrauem Inhalt frei. Der Brei – so unappetitlich er auch aussehen mochte – schmeckte er staunlich gut, und ich war bereit, einen Leichten Kreuzer aus USOBeständen darauf zu verwetten, dass er sämtliche Nährstoffe ent hielt, die ein Humanoider benötigte. Ohne es bewusst zu registrieren, zog ich den taubeneigroßen Zel laktivator unter dem Schutzanzug hervor und nahm ihn gedanken verloren in die rechte Hand. Wie viele Male hatte ich wohl schon darüber nachgedacht, ob ich dieses durch die Superintelligenz ES verliehene Objekt, jenes unscheinbare Ellipsoid, das ich an einer dünnen Kette um den Hals trug, als Fluch oder als Segen zu betrach ten hatte. Für die meisten Menschen, deren Leben hundert bis maxi mal hundertfünfzig Jahre währte, war die Unsterblichkeit etwas Er strebenswertes. Sie erachteten das ewige Leben als eine natürliche Quelle immerwährender Zufriedenheit oder als Garantie für anhal tendes Glück. Ich wäre sicher nicht so weit gegangen, das Gegenteil zu behaupten, doch die Aufwertung der Unsterblichkeit erfüllte mich immer wieder mit Unverständnis. War es für Außenstehende tatsächlich so schwer zu erkennen, was die Jahrtausende aus Männern wie Perry Rhodan, Reginald Bull, Homer G. Adams, Julian Tifflor und den anderen Aktivatorträgern gemacht hatten? War die Ehrfurcht vor den Unsterblichen so gewal tig, dass man die Last nicht bemerkte, die sie auf ihren Schultern trugen? Oh ja, der Aktivator entledigte mich aller Sorgen um meine Gesundheit. Er half mir dabei, dass sich meine Kräfte auch nach großen Anstrengungen schnell regenerierten und ich schon nach wenigen Stunden Schlaf frisch und ausgeruht erwachte. Doch er tat noch viel mehr, viel Gravierenderes als das: Er machte mich zu ei nem Relikt. Er verwandelte die Welt um mich herum in ein Kaleido skop sich ständig wandelnder Bilder und Ereignisse, während ich selbst unbeweglich auf der Stelle stand. Der griechische Philosoph Heraklit hatte einst festgestellt, dass das
einzig Konstante im Universum die permanente Veränderung war. Ich war von dieser Veränderung ausgenommen. Meine biologische Uhr tickte nicht mehr. Seit damals betrog ich die Zeit und verleug nete damit den natürlichen Lauf der Dinge, den beständigen Kreis lauf aus Geburt und Tod, aus Werden und Vergehen: Der Aktivator sparte mich aus, entfernte mich aus dem für den Rest der Welt gel tenden Ablaufplan. Diese Erkenntnis mussten alle relativ Unsterblichen früher oder später akzeptieren. Die Einsicht, dass man anders war, dass man mit dem Zellaktivator das Recht verwirkt hatte, sich mit seinen Mit menschen gleichzustellen und ihre Sorgen und Ängste zu teilen, traf manchen wie ein Schock – und sie reifte nur langsam und bis zu ei nem Punkt, an dem es für eine Umkehr längst zu spät war. Es erschien mir manchmal wie eine gnädige Laune des Schicksals, dass mir mein Leben nur selten die Muße gönnte, um mich solchen Überlegungen länger als ein paar Minuten hinzugeben. Ich war nie als Grübler oder Zauderer bekannt gewesen. Ob als Admiral der Ar konidischen Flotte, als Gestrandeter in meiner Unterwasserkuppel auf der Erde oder als Lordadmiral der USO – ich hatte meistens lie ber gehandelt als geredet, lieber den Vorteil in einem gewagten Ma növer gesucht als Stunde um Stunde mit Analysen und Simulatio nen vergeudet. Vielleicht war das der Grund, warum ich ausgewählt worden war. Vielleicht brauchte das Universum eine Prise mehr Wagemut, einen Hauch mehr Tatkraft und eine Winzigkeit mehr Leichtsinn. Ich er achtete es nicht als vermessen, davon auszugehen, dass ich etwas Besonderes war. Im Gegensatz zu so vielen anderen versperrte mir diese Überzeugung jedoch nicht den Blick auf meine Fehler und Schwächen. Sich ihrer bewusst zu sein und jeden Tag an ihnen zu arbeiten, so hatte es mich einst mein Ziehvater Fartuloon auf oft schmerzhafte Weise gelehrt, war das Fundament eines ausgegliche nen und entwicklungsfähigen Charakters. An dieser Stelle meiner Gedankenkette musste ich lächeln. Ich ver
schränkte die Arme hinter dem Kopf. Auch zehntausend Jahre hat ten nicht ausgereicht, um die Evolution meiner Persönlichkeit zum Abschluss zu bringen. Möglicherweise ließ die Fügung hier eine skurrile Form von Gerechtigkeit walten. Da mir der Bezug zu einem sich in unablässigem Fluss befindlichen Universum abhanden ge kommen war, war ich dazu verdammt, den Fluss in mir selbst zäh men zu müssen. Ebenso wie Sisyphos seinen Felsen immer und im mer wieder den Hang hinauf rollte, wo er ihm jedes Mal entglitt und zu Tal donnerte, so würde auch meine Aufgabe niemals beendet sein. Es war der Preis, den ich für meinen Aktivator bezahlte. Fluch oder Segen? Die Frage ließ sich nicht beantworten, denn sie zielte am Kern des Problems vorbei. Der Aktivator war nur ein Werkzeug, und ebenso wie man mit einem Hammer eine vor Wind und Wetter schützende Hütte bauen oder seinem Gegenüber den Schädel einschlagen konnte, so ließen sich auch die geschenkten Jahrtausende zum Guten oder zum Schlechten nutzen. Ich erinnerte mich noch sehr genau an das Jahr 2326. Damals hatte die Superintelligenz ES erklärt, dass sie die Milchstraße aufgrund ei ner gewaltigen, in naher Zukunft heraufdämmernden Gefahr verlas sen müsse und sich nicht mehr in der Lage sehe, die lebensverlän gernden Zellduschen zu gewähren. Diese hatten praktisch dieselbe Wirkung wie die späteren Aktivatoren, mussten jedoch alle 62 Jahre wiederholt werden. Es entsprach dem sprichwörtlichen schwarzen Humor des Überwesens, dass es 25 der wertvollen Geräte quer über die Galaxis verteilt hatte. Jeder Aktivator emittierte ein unverwech selbares Signal, das in einem Umkreis von drei Lichtjahren zu emp fangen gewesen war. Das alles wäre noch akzeptabel gewesen, doch ES sorgte zudem dafür, dass so gut wie jeder in der Milchstraße über die zurückgelassenen »Geschenke« Bescheid wusste. Bis heute waren sich die Historiker nicht vollständig sicher, wie viele To desopfer dieser grausame Scherz der Superintelligenz in letzter Konsequenz gefordert hatte. Natürlich erkannte ich die herbe Ironie der Geschichte. Im un barmherzigen Kampf um die Unsterblichkeit hatten sich die Betei
ligten gegenseitig zu Hunderten umgebracht. Viele der Tragödien waren vermutlich niemals bekannt geworden. Statt des ewigen Le bens hatten die meisten Glücksritter und Abenteurer nur den Tod gefunden. Doch auch wenn ES den Bewohnern der Milchstraße eine Lehre hatte erteilen wollen, so konnte ich die Wahl der Mittel nicht gutheißen. Gier und die damit einhergehende Unvernunft waren elementare Charakterzüge fast aller intelligenten Lebewesen. Um eine Selbstverständlichkeit zu bekräftigen, hätte es nicht dieser bar barischen Posse bedurft, die das Überwesen vor knapp achthundert Jahren inszeniert hatte. Was gab der Superintelligenz das Recht, das Leben unzähliger Individuen zu riskieren, nur um ihre so genannten »Schutzbefohlenen« für etwas zurechtzuweisen, das im Kern ihres Wesens begründet lag? Deine Gedanken drehen sich wieder einmal im Kreis, wisperte der Lo giksektor in meinem Kopf. Seit ich mit Trilith Okt an Bord der GA HENTEPE gegangen war, hatte er sich auffällig zurückgehalten. Wird dir schwindlig?, gab ich trocken zurück. Nein, lautete die nicht minder launige Entgegnung. Ich halte mich an deinem übergroßen Ego fest. Es ist müßig, über die Beweggründe einer Entität wie ES zu spekulieren. Du wirst niemals zu einem befriedigenden Ergebnis kommen. Der Umstand, dass es auf eine Frage scheinbar keine Antwort gibt, ist kein Grund, sie nicht zu stellen, widersprach ich. Wären Männer wie Isaac Newton, Albert Einstein oder Perry Rhodan dieser Philosophie gefolgt, säße die Menschheit heute noch immer auf ihrem kleinen, unbedeutenden Heimatplaneten fest oder hätte sich womöglich längst selbst von seiner Oberfläche getilgt. Der Extrasinn schwieg für ein paar Sekunden. Ich gebe zu, kam es schließlich zögerlich, dass die reine Logik nicht immer der beste Ratgeber ist. Dennoch hilft sie, die Dinge in die richtigen Verhältnisse zueinander zu setzen. Ich seufzte leise. Es geschah nicht oft, dass mir mein zweites Ich recht gab. An den Tatsachen änderte das wenig. 21 von den 25 aus
gestreuten Zellaktivatoren waren einst gefunden worden, vier bis heute verschollen geblieben. Einem dieser vier Geräte war ich nun auf der Spur, und ich hatte mich in den vergangenen Tagen oft selbst gefragt, was ich im Ernstfall bereit war zu tun, um in seinen Besitz zu gelangen. Wie weit würde ich gehen, um Lemy Danger, ei nem sterbenden Freund, zu helfen, einem Freund, der sein Leben gelebt hatte und diese Hilfe womöglich gar nicht wollte? So weit wie Reuben Timbuna und Saul Ratcliffe, die erst zu Mördern und dann zu erbitterten Gegnern geworden waren? Oder sogar noch weiter? Ich schüttelte den Kopf. Es wurde Zeit, die Grübeleien zu been den. Ich hatte meinen guten Willen lange genug demonstriert. Mit Trilith Okt war eine neue Protagonistin in diesem kosmischen Dra ma aufgetaucht, und ich wusste fast nichts über sie. Ich schätzte die junge Frau auf ungefähr Mitte dreißig und war nicht in der Lage, sie einem bekannten Volk zuzuordnen. Woher kam sie? War sie eben falls auf den Zellaktivator aus? Warum hatte sie mich mitgenom men? Ich musste mehr herausfinden. Und ich musste es tun, bevor wir unser Ziel – wo immer dieses auch liegen mochte – erreichten.
In einem Raumschiff mit gerade einmal vierzig Metern Durchmesser war eine optimale Ausnutzung des verfügbaren Volumens oberstes Gebot. Die Architektur der GAHENTEPE schien dieser simplen Lo gik, derer sich Konstrukteure und Techniker schon zu Zeiten des Großen Imperiums bedient hatten, nicht einmal ansatzweise folgen zu wollen. Der Kreisgang, den ich bereits kannte, umlief zwar den gesamten Diskuskörper als geschlossener Ring, doch er wurde im mer wieder von Nischen, vollverkleideten Aggregaten und anderen Hindernissen unterbrochen. Dabei wirkte alles wie zufällig, ohne Ordnung und Struktur. Ich vermutete, dass man Energieerzeuger, Antriebsaggregate, Schutzschirmprojektoren, Lebenserhaltung und andere wichtige Systeme im Zentrum des Diskus untergebracht hat
te, wo sie im Falle eines Angriffs am besten vor Beschädigung oder Zerstörung geschützt waren. Doch je länger ich mich umsah, desto unsicherer wurde ich. Ich versuchte probeweise einige der in die Wände eingelassenen Schotte zu öffnen. Kontaktflächen oder Sensorfelder gab es nicht, und auch als ich das Material rings um die Durchgänge mit Faust schlägen und Fußtritten malträtierte, erreichte ich nichts, außer ei nem heftigen Schmerz im rechten großen Zeh. Vermutlich waren die meisten Bereiche der GAHENTEPE für Besucher tabu. Erst als ich etwa zwei Drittel des Kreisgangs abgeschritten hatte und ein rund zweieinhalb Meter breites Doppelschott erreichte, än derte sich etwas. Die Torhälften glitten automatisch auseinander und gaben den Weg in einen domartigen Raum frei, der mit zwei Personen schon beinahe überfüllt war. Ich hatte wahrlich schon viele Raumschiffzentralen gesehen, doch das, was sich meinen Augen darbot, übertraf an Skurrilität alles Bisherige. Trilith Okt stand breitbeinig an einer ovalen Befehlskonsole. Vor ihr hingen etwa zwanzig dünne Seile von der gut drei Meter hohen Decke, an deren Enden Quasten in allen möglichen Farben befestigt waren. Sie erinnerten ein wenig an Gardinenschnüre, wie ich sie un ter anderem am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV kennen gelernt hatte. Die Frau musste meine Ankunft fraglos mitbekommen haben, doch sie machte keine Anstalten, sich umzudrehen. Fasziniert beob achtete ich, wie sie in schneller Folge an den Schnüren zog, sie mal leicht berührte, dann wieder ruckartig daran riss, sie in Schwingun gen versetzte und wieder abbremste. Ihre Füße standen dabei wie festgewachsen auf dem Boden; nur der Oberkörper neigte sich nach vorn, nach hinten, nach rechts und nach links, so als würde sie sich im Reigen einer unhörbaren Melodie wiegen. In Wahrheit herrschte jedoch eine beinahe gespenstische Stille. Der Anblick hielt mich dermaßen in seinem Bann, dass ich den nicht minder exotischen Sichtschirm zuerst gar nicht bewusst wahr
nahm. Er schwebte als etwa zwei mal drei Meter großes Nebelgebil de über der Konsole und vermittelte eine an den Seiten leicht milchi ge, dreidimensionale Darstellung des vor der GAHENTEPE liegen den Weltraums. Eine leuchtend gelbe Linie eilte dem Kurs des Schif fes voraus und verschwand in der vor uns liegenden Sternenfülle des galaktischen Zentrumssektors; ein Umstand, der mich nicht überraschte, schließlich folgten wir einem Raumer der Zentralgalak tischen Union. Das Ephelegon-System mit seiner Hauptwelt Rudyn und dem dortigen Regierungssitz der ZGU lag rund 18.400 Lichtjah re von Terra in Richtung des Milchstraßenzentrums und nur rund 13.000 Lichtjahre vom astronomischen Mittelpunkt der Galaxis ent fernt. Der Rest der Zentrale wurde von anscheinend wahllos über das verfügbare Areal verteilten Aggregatblöcken beherrscht. Wie an je nen, die mir bereits auf meinem Weg hierher aufgefallen waren, lie ßen sich an ihnen keinerlei Schalter, Öffnungen oder andere Be dienelemente erkennen. Im Grunde genommen hätte es sich auch um die Skulpturen eines besonders einfallslosen Künstlers handeln können, der größere Mengen Metall oder ähnliche Materialien ge schmolzen und in willkürliche Formen gegossen hatte. Immerhin gab es nun endgültig keinen Zweifel mehr: Ich befand mich an Bord eines Schiffes, das von keinem mir bekannten Volk der Milchstraße erbaut worden war! »Du kommst spät«, sagte Trilith Okt. Sie hatte mir ausreichend Zeit gegeben, den ungewöhnlichen Ort zu mustern. »Wie gefällt dir die GAHENTEPE?« »Diese Frage könnte ich beantworten, wenn ich nicht permanent vor verschlossenen Türen stehen würde«, gab ich zurück. Trilith lachte leise, doch es klang nicht amüsiert, eher … gefährlich. »Du musst meine Zurückhaltung entschuldigen. Euch Unsterblichen eilt ein gewisser Ruf voraus.« Ich hatte also richtig vermutet. Trilith Okt wusste sehr genau, wer ich war.
»Ich hoffe, du glaubst nicht alles, was du im TriVid siehst und hörst«, sagte ich. Mein Gegenüber hatte von Beginn an die vertrauli che Anrede benutzt und auf das normalerweise übliche »Sie« ver zichtet. Dennoch hatte ich nicht das Gefühl, dass das aus bewusster Unhöflichkeit oder gar Respektlosigkeit geschah. Trilith Okt scherte sich einfach nicht um so etwas wie Umgangsformen. »Ich nehme an, du hast eine Menge Fragen, Lordadmiral«, ging sie über meine spöttische Bemerkung hinweg. Mit zwei letzten Zügen an den Steuerschnüren wandte sie sich um und taxierte mich unver hohlen. Auf ihren vollen Lippen lag ein hellgrüner Schimmer. Der um die Mitte des Kopfes verlaufende Knochenwulst wirkte in der düsterroten Beleuchtung wie ein Fremdkörper. Gleiches galt für den stark ausgeprägten Kehlkopf, der die Makellosigkeit des langen, schlanken Halses empfindlich störte. »Nenn mich Atlan«, bat ich. »Zweifellos habe ich einige Fragen. Darf ich davon ausgehen, dass du mir die entsprechenden Antwor ten gibst?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte sie und machte zwei Schritte auf mich zu. Fasziniert betrachtete ich die schwarz-bläuliche Verfärbung um ihr rechtes Auge, die mich spontan an einen neunarmigen Kraken den ken ließ. Sie kontrastierte stark mit der hellen, von Muttermalen übersäten Gesichtshaut. »Du wirst rechtzeitig erfahren, was du wis sen musst.« Ein scharfer Geruch stach mir plötzlich und unvermittelt in die Nase. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. Trilith Okt er laubte sich ein kurzes Lächeln, und zum ersten Mal glaubte ich tat sächlich so etwas wie Heiterkeit in ihren Gesichtszügen zu erken nen. »Der Sphärendreher hat seinen Kurs korrigiert und auf Höchstge schwindigkeit beschleunigt«, informierte mich meine Gastgeberin. »Man will wohl sichergehen, dass etwaige Verfolger das Nachsehen haben.«
Es brauchte lange Sekunden und einen tadelnden Impuls meines Extrasinns, bis ich begriff, dass es nicht Trilith Okt und deren Aus dünstungen waren, die ich wahrgenommen hatte. Der Bordrechner der GAHENTEPE arbeitete offenkundig weniger mit akustischen oder optischen, als vielmehr mit olfaktorischen Reizen, um be stimmte Botschaften zu vermitteln. Damit erklärte sich auch die in der Zentrale herrschende Geräuschlosigkeit. Das Stechen in meiner Nase war also keineswegs die Auswirkung mangelnder Körperhy giene gewesen, sondern das, was man auf terranischen und arkoni dischen Raumschiffen gemeinhin als »Ortungsmeldung« bezeichne te. »Selbstverständlich macht man sich diese Mühe vergebens«, ver mutete ich. »Selbstverständlich«, bekräftigte sie. »Das Schiff, das sich der GA HENTEPE durch Flucht entzieht, muss erst noch gebaut werden.« Ich verzichtete auf einen Kommentar. Stattdessen fragte ich: »Konntest du aus den Kursvektoren Rückschlüsse auf das Ziel unse res Fluges ziehen?« »Ich nehme an, dass du längst ahnst, wohin die Reise geht.« »Rudyn«, sagte ich. »Rudyn«, bestätigte Trilith Okt.
Der 11. September 3102 neigte sich dem Ende zu. Trilith Okt hatte mich in einen kleinen Raum direkt rechts neben der Zentrale ge führt. Es gab nur eine halbwegs bequeme Sitzgruppe, die locker um einen schmucklosen Tisch gruppiert war, auf der wir uns niederlie ßen. Wohin ich auch sah – die GAHENTEPE erweckte in mir zum wiederholten Mal den Eindruck der Unvollständigkeit. Die Einrich tung genügte zwar den notwendigsten Ansprüchen, ließ jedoch je den Anflug von Stilgefühl oder gar Gemütlichkeit vermissen. Trilith hatte aus einem Wandfach, das dem in meiner Kabine zum
Verwechseln ähnlich sah, zwei Becher mit einem heißen, schneewei ßen Getränk besorgt. Als ich die dampfende Flüssigkeit stirnrun zelnd betrachtete, nahm sie einen kräftigen Schluck aus ihrem Be cher und sah mich ernst an. »Keine Sorge, ich will dich nicht vergiften«, versicherte sie mir. »Das glaube ich dir«, lächelte ich süffisant und trank ebenfalls. Das Gebräu schmeckte ebenso köstlich wie der unansehnliche Brei, den ich kurz zuvor in meiner Unterkunft genossen hatte. »Schließlich weißt du, dass ich einen Zellaktivator trage, der jedes Gift in mei nem Körper augenblicklich neutralisieren würde.« »Womit wir beim Thema wären.« Trilith kratzte sich unterhalb des linken Knies. »Du fragst dich natürlich, warum ich dich mitgenom men habe, welche Interessen ich verfolge und ob ich ebenfalls hinter dem Aktivator her bin, den du an die ZGU-Soldaten verloren hast.« »Man kann nicht verlieren, was man nicht besitzt«, protestierte ich. »Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann hast auch du dich bei dem Versuch, die Männer aufzuhalten, nicht gerade mit Ruhm bekleckert.« »Woher willst du wissen, dass es mir auf den Aktivator ankam?« fragte Trilith Okt. »Vielleicht wollte ich dir lediglich das Leben ret ten. Du bist eine einflussreiche Persönlichkeit, die man besser nicht zum Feind hat.« »Warum beenden wir nicht diese albernen Spielchen«, sagte ich ruhig. »Ich garantiere dir hier und jetzt – wenn du willst auch schriftlich – die Summe von hundert Millionen Solar, wenn du mir dabei hilfst, den Zellaktivator zu finden.« »Und was würde geschehen, wenn ich ablehne?« Die Frau legte den Kopf zur Seite und suchte meinen Blick. Ich wich nicht aus. »Würdest du mich dann töten, um den Aktivator zu bekommen? War es nicht die Intention von ES, dass die Unsterblichkeit nur jenen zusteht, die die ausgestreuten Geräte aufspüren und an sich bringen können?« »Du bist hervorragend informiert«, sagte ich. »Und deshalb weißt
du sicher auch, dass es die Superintelligenz selbst war, die gesagt hat, es sei schwer, einen der Aktivatoren zu erobern, doch noch viel schwerer, ihn danach länger als ein paar Stunden zu behalten.« »Du traust es mir also nicht zu? Du glaubst, ich bin zu schwach, um den Aktivator zu verteidigen?« »Das ist doch gar nicht die Frage«, erwiderte ich. »Ich will ledig lich damit sagen, dass …« Trilith Okt ließ mich nicht ausreden. Mit einem Mal trat der bis lang hinter der Fassade verborgene Zorn offen hervor, verzerrte die glatten Gesichtszüge zu einer Fratze, und eine Sekunde lang glaubte ich, sie würde auf mich losgehen. Ihre Lippen leuchteten für einen Atemzug in grellem Rot, nahmen dann eine fast schwarze Färbung an, um kurz darauf in ein helles Gelb überzugehen. Ich nahm an, dass es sich um eine natürlich Reaktion ihres Körpers auf die starke emotionale Erregung handelte. »Ich weiß genau, was du sagen willst, Atlan!« Trilith Okt spuckte meinen Namen wie ein Schimpfwort aus. Sie war hochgesprungen und hatte sich mit in die Hüften gestemmten Armen vor mir aufge baut. »Du bist nicht anders als dein sauberer Freund Perry Rhodan und seine terranischen Kumpane. Ihr glaubt, nur ihr seid moralisch kompetent genug und somit befugt, über das Geschenk des ewigen Lebens zu entscheiden. Ihr habt damals eure militärischen Macht mittel, eure Mutanten und Geheimagenten eingesetzt, um der Akti vatoren habhaft zu werden. Was macht euch besser als all die ande ren? Was macht dich besser als mich?« Sie sprach kein weiteres Wort, Stille kehrte ein. Ich verstand die Argumentation Trilith Okts, denn sie war beileibe nicht die einzige Person, die sie in der Zeit nach jenem schicksalhaften Jahr 2326 vor gebracht hatte. Wir hatten es uns damals alles andere als leicht ge macht, und versucht, den Betroffenen einen möglichst vollständigen Eindruck dessen zu vermitteln, was der Besitz eines Zellaktivators bedeutete. Am Ende hatten alle das angebotene Geld genommen, denn die Alternative wäre eine ständige Flucht gewesen, ein Weg
laufen vor jenen, die bei der großen Jagd keinen Erfolg gehabt hat ten und sich nun an die Verfolgung der neuen Unsterblichen mach ten, um ihnen das Gerät, das sie selbst nicht erbeuten konnten, wie der abzunehmen. »Setz dich«, forderte ich sie leise auf und strich mir eine Strähne meines langen Haares aus der Stirn. Trilith Okt zögerte. »Bitte«, fügte ich hinzu. Sie tat mir den Gefallen. »Ich werde mich nicht vor dir rechtfertigen, Trilith«, begann ich langsam. »Aber ich möchte, dass du das Bild, das die Medien von mir und den anderen Unsterblichen verbreiten, für ein paar Minuten vergisst. Mach dich von allem frei, was du von mir und meinem Le ben zu wissen glaubst und höre nur auf deinen Verstand und deine Intuition.« Mit den letzten Worten zog ich meinen Zellaktivator un ter meinem Schutzanzug hervor und hielt ihn ihr entgegen. »Nimm ihn«, forderte ich sie sanft auf. »Ich möchte, dass du ihn in deinen Händen hältst.« Die Frau griff zu, vorsichtig, beinahe ehr fürchtig. Sie sog die Luft in schnellen, hastigen Zügen ein; ihre Lip pen färbten sich dunkelgrün. »Und nun sag mir, was du fühlst. Jetzt, in diesem Moment.« »Ich …«, flüsterte sie. »Er … ist warm. Und so … glatt.« Ich umschloss ihre Hände mit den meinen. Sie ließ es geschehen. »Und er ist real«, sagte ich. »Ein Stück Technik, das man anfassen kann, dessen man sich in jeder Sekunde seines Lebens bewusst ist. Ohne diese Maschine wäre ich in 62 Stunden tot, zu Staub zerfallen.« »Und davor«, erwiderte die Frau ohne mich anzusehen, »hast du Angst.« Ich nickte. »Mehr als vor allem anderen. Für einen relativ Unsterb lichen ist es leicht zu sagen, dass es nicht auf die Anzahl der geleb ten Jahre ankommt, sondern darauf, was man aus ihnen macht. Wir
alle wollen die Zeit, die uns zur Verfügung steht, so weit wie mög lich verlängern, und je älter wir werden, desto stärker wird dieser Drang. Du darfst mir glauben, dass ich weiß, wovon ich rede. Da mals, vor mehr als 10.000 Jahren, war ich nicht besser oder klüger oder für das ewige Leben geeigneter als du. Und doch musste ich eine Entscheidung treffen. Ich weiß bis heute nicht, ob es die richtige war.« »Du willst mir also sagen, dass die Unsterblichkeit mehr Nachteile als Vorzüge hat?« fragte Trilith Okt. »Keineswegs«, antwortete ich. »Man kann sich durchaus mit ihr arrangieren. Ich würde mich lediglich freuen, wenn du deine Wahl nicht unbedacht triffst. Du hast mich an Bord gebracht, weil du hoffst, mit meiner Hilfe leichter an den Aktivator heranzukommen, habe ich recht?« »Und wenn es so wäre?« wollte sie wissen. »Dann überschätzt du dich entweder maßlos«, antwortete ich, »oder du hast ein paar Trümpfe im Ärmel, von denen ich noch nichts weiß.« Trilith Okt lachte und entblößte zwei Reihen makellos weißer Zäh ne. »Ich glaube, wir werden gemeinsam eine Menge Spaß haben«, sag te sie dann. »Das ist durchaus möglich«, gab ich trocken zurück. Nach unserem kurzen Gespräch hatten wir einen Abstecher in die Zentrale gemacht. Trilith Okt stellte sich wieder vor die Steuerkon sole und begann scheinbar wahllos an den Schnüren zu ziehen. Trotz meines fotografischen Gedächtnisses und des Logiksektors ge lang es mir nicht, ein System hinter den Aktionen zu erkennen. Falls meine Pilotin also einmal ausfallen sollte, wäre ich nicht in der Lage gewesen, die GAHENTEPE zu fliegen. Du solltest Ken Jinkers nicht unterschätzen, wisperte der Extrasinn. Die STABILO wird sicher versuchen, uns zu folgen.
»Der Sphärendreher hält jetzt direkten Kurs auf das EphelegonSystem«, riss mich Trilith Okt aus meinen Gedanken. »Wenn er mit der derzeitigen Geschwindigkeit weiterfliegt, dürfte er sein Ziel in knapp acht Stunden erreichen.« »Und die Besatzung hat keine Ahnung, dass wir ihr auf den Fer sen sind?« wollte ich wissen. »So ist es«, bestätigte die Frau. »Wir werden nicht einfach in das Hauptsystem der ZGU einflie gen können«, gab ich zu bedenken. »Die Kalfaktoren verfolgen seit Jahrhunderten einen Kurs der politischen und ökonomischen Unab hängigkeit. Man ist dort weder auf das Solare Imperium noch auf die USO sonderlich gut zu sprechen. Es wäre einfacher, wenn wir den Sphärendreher vorher abfangen.« »Niemand wird uns bemerken«, sagte Trilith Okt. Es klang irgend wie trotzig. »Also ist die GAHENTEPE nicht schnell genug, um das ZGUSchiff einzuholen«, stellte ich fest. »Das habe ich nicht gesagt.« »Doch, das hast du.« Ich wartete auf eine Erwiderung von ihr, doch es kam keine. Sie stand vor ihrer Konsole, wandte mir den Rücken zu und tat so, als wäre ich gar nicht da. »Na schön«, seufzte ich. »Wenn du nicht reden willst, mache ich einen Spaziergang. Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich mich umsehe. Vielleicht finde ich ja ein paar offene Türen.« Trilith Okt schwieg weiterhin. Deshalb drehte ich mich um und ging davon. Ich folgte dem Kreis gang in Richtung meiner Kabine, wich den an den unmöglichsten Stellen installierten Aggregaten aus, untersuchte einige der größeren Nischen und erreichte schließlich die kleine Schleuse, durch die ich die GAHENTEPE zum ersten Mal betreten hatte. Mir war längst klar, dass das Diskusschiff der jungen Frau ledig lich zur Verfügung gestellt worden war. Die Technik und ihre An
ordnung an Bord sowie ihre Reaktion auf meinen Vorschlag, den Sphärendreher vor Erreichen des Ephelegon-Systems aufzubringen, waren eindeutige Indizien dafür, dass Trilith Okt den Raumer zwar in seinen Grundfunktionen bedienen konnte, jedoch von seinen wahren Möglichkeiten keine Ahnung hatte. Ich hielt es plötzlich durchaus für möglich, dass auch ihr keineswegs alle Bereiche der GAHENTEPE offen standen. Ich durchsuchte den Schleusenraum ebenso gewissenhaft wie er folglos. Es gab weder Waffen noch Schutzanzüge, weder Bedienfel der noch Anzeigen. Dafür ragte ein annähernd würfelförmiger, me tallisch glänzender Block aus einer der Seitenwände. In der Eile auf Finkarm hatte ich ihn gar nicht bemerkt. Ich strich mit der Hand über die kühle Oberfläche, die keine Unebenheit aufwies. Ich legte mein Ohr auf die Verkleidung. Nichts. Auch das Summen, das ich in meiner Unterkunft wahrgenommen hatte, war nicht mehr zu hören. Ohne Trilith Okt kommst du hier nicht weiter, wisperte der Extrasinn. Du musst sie stärker unter Druck setzen. Sie benötigt deine Unterstüt zung. Du müsst ihr klarmachen, dass sie die nicht umsonst bekommt. Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen?, fragte ich men tal. Ihr mit Hungerstreik drohen? Ich kann dieses Schiff weder verlassen noch übernehmen. Und selbst wenn die STABILO nach uns sucht: Wie soll ich Kontakt mit ihr aufnehmen? Ich weiß ja nicht einmal, ob dieses bi zarre Raumschiff überhaupt so etwas wie eine Funkanlage besitzt. Als erstes könntest du damit aufhören, in Selbstmitleid zu baden, wies mich der Logiksektor zurecht. Ködere die Frau mit dem, was du als Chef der größten Polizeiorganisation der Galaxis im Überfluss besitzt: Informa tionen!
Eine heiße Dusche und eine weitere Mahlzeit verbesserten meine Laune deutlich, zumal ich herausfand, dass man mittels heftigen Aufstampfens eine Massageeinheit aktivierte. Die Strapazen auf Ce bus und Finkarm hatten ihre Spuren hinterlassen, und ich genoss
die Möglichkeit, den fast leeren Akku wieder aufzuladen. Als ich mir eine großzügige Portion des grünen Nährbreis in den Mund schob, machte ich die nächste Entdeckung. Er schmeckte völ lig anders als beim ersten Mal. Ich schlug mir drei weitere Beutel aus der Wandklappe und stellte mit Entzücken fest, dass auch diese je weils unterschiedliche Geschmacksrichtungen offenbarten; eine deli kater als die andere. Was der GAHENTEPE an Wohnlichkeit fehlte, machte sie mit ihrem Nahrungsangebot wieder wett. Trilith Okt hatte die Zentrale entweder nicht verlassen oder war wieder dorthin zurückgekehrt, denn ich traf sie in der mir bekann ten Position vor der Steuerkonsole an. Ich stellte mich wortlos neben sie und beobachtete eine Weile ihr Zupfen und Ziehen an den Quas tenschnüren. Die Konsole selbst beherbergte nicht etwa Datenanzei gen oder Bildschirme, sondern lediglich eine Batterie von mit Farben gekennzeichneten Öffnungen, aus denen mal mehr und mal weni ger angenehme Gerüche strömten. Selbst wenn ich das System der Steuerschnüre irgendwann durchschaut hätte – die Interpretation der vielfältigen Düfte wäre ein weiteres, so gut wie unüberwindli ches Hindernis gewesen. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte ich. Sie sah mich kurz an und wandte sich wieder den Schnüren zu. »Nein«, antwortete sie. »Der Sphärendreher hat zwischenzeitlich erneut die Richtung geändert, doch jetzt weist der Kursvektor wie der ins Ephelegon-System.« »Man ist also nach wie vor misstrauisch«, überlegte ich laut. »Mit einer so wertvollen Fracht an Bord wäre ich das auch. Den Berichten meiner Agenten zufolge finden innerhalb der Zentralgalaktischen Union einige bedeutsame Umwälzungen statt.« Trilith Okt hielt in ihren Bewegungen inne und hob beide Arme. »Einverstanden«, sagte sie. »Einverstanden womit?«, heuchelte ich Unverständnis, wobei es mir schwer fiel, ein Grinsen zu unterdrücken. »Du erzählst mir deine Geschichte und ich erzähle dir meine.«
Drei Stunden später hatte Trilith Okt den ersten Teil ihrer Geschich te beendet und ich musste zugeben, dass die Zeit wie im Flug ver gangen war. Diese Frau hatte eine bemerkenswerte Odyssee hinter sich – und trug ein düsteres Geheimnis mit sich herum. Die kurze Kindheit in Dachaya-Daya, die entbehrungsreichen Jah re als Schiffsmädchen an Bord der PIRATENBRAUT, die Zeit im Dienst von Madame Batida, der mysteriöse und stets maskierte In sektoide, dessen Identität sie nie erfahren und unter dessen Obhut sie neben einigen anderen Dingen offenbar auch den Umgang mit der GAHENTEPE gelernt hatte, die Ausbildung durch den legen dären Assassinen Romeus Abrom, von dem die junge Frau in der Kunst des All-Kampfs, offenbar identisch mit der arkonidischen Da gor-Technik, unterrichtet worden war und schließlich der mysteri öse Bote, der sich ebenfalls als Insektoide entpuppt und ihr den Dis kusraumer überlassen hatte. – All das machte nur zu deutlich, dass man Trilith Okt von Kindesbeinen an gegängelt hatte. Ihre Herkunft blieb ein Rätsel, und ich wusste sehr gut, wie quälend die Ungewiss heit über die eigene Vergangenheit sein konnte. »Was geschah, nachdem du deine Welt mit der GAHENTEPE ver lassen hattest?«, fragte ich. Wir saßen wieder in dem kleinen Raum neben der Zentrale. Ich hatte mir während Triliths Erzählung min destens zwei Liter jenes weißen Gebräus einverleibt, das laut der jungen Frau Hanjak hieß und von dem ich einfach nicht genug be kommen konnte. Jetzt holte sich auch meine Gastgeberin einen Be cher, setzte sich wieder, kratzte sich mit versteinerter Miene an der linken Wade und stürzte die Flüssigkeit sodann in einem Zug hin unter. »Du bist dran«, sagte sie. »Unsere Abmachung beruht auf Gegen seitigkeit.« »Was willst du wissen?« Ich überlegte, ob ich mich erneut an der Wandklappe bedienen sollte, entschied mich dann aber dagegen.
Hanjak konnte süchtig machen. »Du sprachst von bedeutsamen Umwälzungen innerhalb der ZGU«, sagte Trilith Okt. »Ich hoffe, das war nicht nur so dahergere det.« »Keineswegs«, antwortete ich. »Wie dir sicher bekannt ist, besteht die Regierung der ZGU aus einundzwanzig sogenannten Kalfakto ren, von denen jeder einem bestimmten Arbeitsbereich vorsteht. Ei nes der wichtigsten Ressorts ist der Geheimdienst, den man auch als Kalkulationskommando bezeichnet. Die amtierende Chefin ist Neife Varidis: eine resolute Frau, die sich den Idealen der ZGU zwar be dingungslos verpflichtet fühlt, aber durchaus offen für die Aufnah me diplomatischer Beziehungen zu anderen galaktischen Blöcken ist. Der USO liegen bereits seit einigen Jahren Berichte vor, nach de nen die ZGU einen neuen Typ von Raumschiff entwickelt hat. Die so genannten Sphärenräder stellen einen erheblichen militärischen Machtfaktor dar. Ihre Existenz war bis vor kurzem das am besten gehütete Geheimnis der Kalfaktoren. Es gibt nun deutliche Anzeichen dafür, dass es Neife Varidis war, die diese Geheimhaltung durchbrochen und damit ihre politische Position erheblich geschwächt hat. Wenn diese Entwicklung eska liert, stehen wir möglicherweise vor einer ernsthaften intergalakti schen Krise. Die ZGU kann aktuell auf die Ressourcen von 288 asso ziierten Planeten zurückgreifen, und es gibt Strömungen innerhalb der Regierung, die einem freien Kräftemessen nicht abgeneigt sind.« Trilith Okt lachte verächtlich. »Selbst die ZGU kann nicht so dumm sein und einen offenen Konflikt riskieren. Das Solare Imperi um würde …« »… sich nur im äußersten Notfall gegen Terraner oder Terranerab kömmlinge stellen«, brachte ich ihren Satz zu Ende. »Du irrst dich, wenn du glaubst, dass Perry Rhodan auf seine eigenen Leute schie ßen lässt. Die Politik Terras ist einzig und allein auf Ausgleich und Verständigung ausgerichtet.« »Spar dir deine Phrasen für die TriVid-Reporter auf«, sagte Trilith
Okt. »Oder willst du mir ernsthaft weismachen, dass sämtliche Aut arkiebestrebungen der Kolonien, die Bildung der freien Blöcke und die allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik des Solaren Imperi ums nur die Auswirkungen eines Missverständnisses sind?« »Es wurden Fehler gemacht«, gab ich zu. »Auf beiden Seiten. Mit einem Bruderkrieg ist jedoch niemandem geholfen. Nach der Aus einandersetzung mit der Zeitpolizei war das Solare Imperium prak tisch nicht mehr existent. Der Angriff der Dolans auf die Erde be deutete für zwei Milliarden Menschen den Tod. Glaubst du, dass Perry Rhodan den Kolonien nicht helfen wollte? Er konnte es nicht, denn die Mittel reichten kaum für das eigene Überleben.« Du darfst Trilith kleinen Vorwurf machen, wisperte der Extrasinn. Sie, ebenso wie die meisten anderen Menschen, die heute leben, kennen die Vergangenheit nur aus Informationsholos und historischen Berichten. Ge schichte war schon immer nur das, was ein Zeitalter an einem anderen in teressiert. In der Rückschau geht es nicht um die Geschehnisse an sich, sondern um deren Interpretation. »Fakt ist«, fuhr ich wesentlich ruhiger fort, »dass die ZGU das zer brechliche Gleichgewicht der Kräfte in der Milchstraße empfindlich stört. Wenn der Zellaktivator in falsche Hände gerät, könnte das un absehbare Folgen haben.« »Was weißt du über die Sphärenräder?«, fragte sie. »Das Sphärenrad«, korrigierte ich. »Im Moment existiert nur ein Prototyp, der allerdings so gut wie komplett ist. Ich vermute, dass die Serienfertigung bereits vorbereitet wird. Wenn alle Tests zur Zu friedenheit der Kalfaktoren verlaufen, dürfte die Massenproduktion nur eine Frage von Monaten sein.« »Und eine Flotte dieser Dinger würde nicht nur die USO in arge Bedrängnis bringen, nicht wahr?« Trilith Okt sah mich herausfor dernd an. »Du verstehst immer noch nicht«, schüttelte ich den Kopf »Es geht hier nicht um militärische Kräfteverhältnisse, um so profane Dinge wie Feuerkraft oder die Leistungsdaten von Schutzschirmen. Hier
stehen Menschen anderen Menschen gegenüber. Ein Krieg würde diese Galaxis um Jahrhunderte zurückwerfen. Das kann niemand ernsthaft wollen; auch du nicht.« Die junge Frau betrachtete geistesabwesend ihre langen, feinglied rigen Finger. Man sah, dass es in ihr arbeitete. Sie mochte mir viel leicht nicht vertrauen, doch meine Worte hatten Wirkung gezeigt. »Aber spielt sich der von dir befürchtete Machtkampf nicht haupt sächlich innerhalb der ZGU ab?«, fragte Trilith schließlich. »Noch«, stimmte ich zu. »Aber niemand weiß, wie lange sich Neife Varidis halten kann. Wenn die Betonköpfe unter den Kalfaktoren die Oberhand gewinnen, wird es auch für die Geheimdienstchefin gefährlich. Falls ich den Einschätzungen meiner Spezialisten glau ben darf, ist sie es, die die progressiven Kräfte im Regierungslager zusammenhält.« Erneut entstand eine längere Pause. Ich ließ Trilith Okt Zeit, über alles, was ich gesagt hatte, nachzudenken und betrachtete fasziniert das bunte Farbenspiel ihrer Lippen. Nahezu fünf Minuten verstri chen. »Wir haben noch zwei Stunden Zeit, bevor wir das Ephelegon-Sys tem erreichen«, sagte Trilith Okt endlich. »Ich werde dir den Rest meiner Geschichte erzählen.«
Trilith Okt Vergangenheit Zorn. Angst. Befriedigung. Der Gefühlsorkan drohte ihr klares Denken hinwegzuspülen. Sie hatte den Kreis aus Bevormundung und Verführung, aus Demüti gung und Gängelei durchbrochen. Der Bote war tot, und auch wenn es nicht ihre Absicht gewesen war, den Insektoiden zu ermorden, so empfand sie ob ihrer Tat eine tiefe Genugtuung. Die Planetenoberfläche war rasend schnell unter der GAHENTE PE zurückgeblieben, hatte sich in eine konturlose, blaubraune Fläche verwandelt und war schließlich zu einer fleckigen Kugel geworden. Trilith hatte lange auf das dampfige Bild gestarrt, das das unge wöhnliche Fenster in der Steuerzentrale lieferte. Die Welt, auf der sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte, wurde von Sekunde zu Sekun de kleiner, und je weiter sich der Diskusraumer von ihr entfernte, desto intensiver spürte sie die Furcht, die sich kalt und gnadenlos in ihre Eingeweide fraß. Die Schwärze, die den Planeten umgab und ihn mit wachsender Distanz zu verschlucken schien, war das All, das sie nur aus den Vorträgen ihrer Ausbilder kannte. Das eisige Nichts, so gewaltig und eindrucksvoll, dass der Verstand seinen Gehorsam verweigerte, wenn sie versuchte, sich die endlosen Weiten vorzustellen. Die klei nen Lichtpunkte in der Dunkelheit. Jeder einzelne eine Sonne wie jene, die ihren Heimatplaneten beschien. Und sie, Trilith Okt, war ein Teil dieser Unendlichkeit. Eingesperrt in einen winzigen Diskus aus Metall. Was hatte sie hier verloren? Warum sagte ihr nicht end lich jemand, wer sie war und was man von ihr erwartete? Es war der Zorn, der die Angst schließlich vertrieb. Trilith Okt hieß ihn willkommen wie einen alten Freund, und wenn man es
recht betrachtete, war er das auch. All ihre Lehrer, die so oft auch ihre Peiniger gewesen waren, hatten versucht, ihr die Wut auszu treiben, sie dazu angehalten, ihre Emotionen zu kontrollieren, doch die Frau wusste, dass sie sich selbst verleugnete, wenn sie das Feuer in ihrem Körper zum Erlöschen brachte. Die Wut hatte sie niemals im Stich gelassen, war ihr immer treu gewesen, hatte die Schmerzen erträglich gemacht. Sie war am Abend mit ihr eingeschlafen und am nächsten Morgen mit ihr aufgewacht. Und war es nicht die Wut ge wesen, die den Boten das Leben gekostet und es ihr ermöglicht hat te, aus dem Schatten ins Licht zu treten? Trilith Okt gab dem Verlangen nach. Sie ließ die Flammen auflo dern, sie das Blut zum Kochen bringen. Sie gab sich dem Spiel ihrer Muskeln hin, bewegte sich im Rhythmus ihres Atems, zuerst lang sam, dann immer schneller. Das Vibro-Messer glitt aus der Leder scheide wie von selbst in ihre Hand und die hellroten Augen verlo ren jene feine Spur von Duldsamkeit, die sie sich all die Jahre wie einen Zufluchtsort bewahrt hatte. Trilith Okt verwandelte sich in nerhalb von Sekunden zu einer tödlichen Kampfmaschine, und wenn es in diesem Moment einen Gegner an Bord der GAHENTEPE gegeben hätte, hätte er nicht den Hauch einer Chance besessen. Doch da war niemand. Niemand außer Lalia Bir, die sie vor weni gen Stunden beinahe getötet hatte, und die jetzt in der winzigen Me dostation im Außenbereich des Diskusraumers lag. Also trat Trilith Okt gegen sich selbst an. Gegen ihre Unzufriedenheit. Gegen ihre Zweifel. Wie von Sinnen hetzte sie durch das Schiff, stieß mit dem Messer nach unsichtbaren Feinden, nach den Schatten, die ihre Phantasie ihr vorgaukelte. Sie vergoss imaginäres Blut, fügte im Geist anderen jene Schmerzen zu, die sie selbst hatte erdulden müs sen. Ihre Klinge traf funkensprühend auf Wände, die sich nicht um ihre Raserei scherten. Ihre Fäuste traktierten Aggregatverkleidun gen, die ihrer Verbitterung nur Gleichgültigkeit entgegenbrachten. Und als sie sich schließlich schluchzend in einer Nische zusammen kauerte, die geschundenen Hände um die an den Leib gezogenen Knie geschlungen, da war nur die Stille um sie herum. Niemand
kam, um sie in die Arme zu nehmen. Niemand kam, um sie zu trös ten. Und diesmal konnte ihr nicht einmal ihre Wut helfen, denn die war irgendwo in den kahlen Gängen und verwinkelten Räumen ver raucht.
Die Stimme meldete sich, als Trilith Okt die Zentrale zum zweiten Mal betrat. Sie bezeichnete sich als »Positronik«, doch das erschien Trilith kein richtiger Name zu sein. Die Positronik erklärte ihr, dass sich die GAHENTEPE auf dem Weg zu einer Welt namens Fauron befand. Dort solle sie ihre finale Prüfungsaufgabe erhalten. Fragen, was nach Abschluss der Prüfung geschehen würde, ignorierte die Stimme. »Du bist eine Maschine, nicht wahr?« fragte die Frau. Sie erinnerte sich nur zu gut an Libertin, mit dem sie ihr Lager viele Nächte ge teilt und der sich am Ende als ein künstliches Geschöpf aus allerlei geheimnisvollen Materialien entpuppt hatte. »Ich bin der Bordrechner dieses Raumschiffs«, lautete die Ant wort, »und man könnte mich durchaus als Maschine bezeichnen.« »Hast du keinen Körper?« Man hatte Trilith zwar während ihrer Ausbildung auch eine Reihe technischer Konzepte vermittelt, die über rein mechanische Strukturen hinausgingen, doch wirklich be griffen hatte sie sie nicht. Der Anblick des toten … des zerstörten Li bertin, verfolgte sie noch immer in ihren Träumen. »Mein Körper ist die GAHENTEPE«, sagte die Positronik. »Ich bin mit sämtlichen Funktionsmodulen vernetzt und werde dich nach Bedarf bei der Bedienung der Instrumente unterstützen und unter weisen.« Trilith Okt verstand kein Wort. »Ist Fauron weit von meiner Heimatwelt entfernt?«, forschte sie weiter. Es erschien ihr mit einem Mal seltsam, dass der Planet, auf dem sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, keinen Na men trug, doch für seine Bewohner war es der einzige Planet gewe sen, den es gab. Wozu ihn also mit einem Namen von anderen un
terscheiden? »22.455 Lichtjahre«, antwortete die Stimme. Die junge Frau forsch te in ihrem Gedächtnis. Ein Lichtjahr. Das war die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegte. Und das Licht war sehr schnell, so viel hatte sie aus ihren Schulungen behalten. »Dann werden wir sicher lange brauchen«, sagte sie resigniert. Die Aussicht, Jahre in dieser fremden und kalten Umgebung zu verbrin gen, erfüllte sie nicht gerade mit Vorfreude. »Das hängt von dir ab«, sprach die Positronik. »Theoretisch kann ich Fauron in wenigen Stunden erreichen, doch du wirst dich zuvor einigen Hypnoschulungen unterziehen müssen.« »Einigen … was …?« »Hypnoschulungen«, wiederholte der Bordrechner. »Das sind pa ramechanische Indoktrinationen, während derer Datenströme direkt in das neuronale Netzwerk deines Gehirns eingespeist und dort mo lekular verankert werden.« »Das … verstehe ich nicht.« »Du wirst es verstehen. Bald.« Trilith hatte wohl mindestens zwei Stunden weitergefragt, und die Positronik war nicht müde gewor den, ihre Fragen zu beantworten. Als die Frau Hunger bekam, er klärte ihr der Bordrechner, wie sie an Beutel mit einem unansehnli chen grüngrauen Inhalt herankam. Nachdem sie ihren ersten Wider willen überwunden hatte, musste sie feststellen, dass der Brei nicht nur unglaublich köstlich, sondern auch jedes Mal anders schmeckte. Sie aß, bis sie Bauchschmerzen bekam. Mittels eines Lichtpunkts führte sie der Bordrechner dann in einen engen Raum mit einem zu kleinen Bett und erläuterte geduldig die Funktionsweise der »sanitären Einrichtungen«. Trilith fand, dass die Positronik viel zu oft komplizierte Worte für einfache Dinge benutz te. Die sanitären Einrichtungen waren nichts weiter als die Stellen, an denen man seine Notdurft verrichten und sich säubern konnte. Erschöpft ließ sie sich auf das halbwegs bequeme Lager sinken und schlief augenblicklich ein.
Als die Positronik sie schließlich weckte, hatte Trilith keine Ah nung, wie spät es war. Sie fühlte sich frisch und ausgeruht, doch als sie sich aus der Wandklappe ihrer Unterkunft ein paar Breibeutel besorgen wollte, hielt sie die Stimme zurück. »Du solltest dich in die Krankenstation begeben«, sagte der Bordrechner. »Ich fürchte, dass Lalia Bir im Sterben liegt.«
Während der Suche nach dem »Ort der Wahrheit«, der sich am Ende als die GAHENTEPE herausgestellt hatte, waren Lalia und Trilith so etwas wie Freundinnen geworden. Zwischen ihnen war ein unsicht bares Band entstanden, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das die junge Frau in dieser Form zuvor noch nie verspürt hatte. Lalia und sie teilten ein gemeinsames Schicksal. Sie wussten beide nicht, wo her sie kamen und hatten einen ähnlichen Lebensweg hinter sich ge bracht. Nachdem ihr Gefährte Andemir Pes gestorben war, hatte sich ihre Freundschaft sogar noch vertieft. Lalia war für Trilith so et was wie eine Schwester geworden. Als der Bote die beiden Frauen zum tödlichen Duell aufforderte, gehorchten sie, weil Gehorsam einer der wenigen Fixpunkte in ih rem Dasein gewesen war. Sie hatten lernen müssen, dass man in diesem Universum nichts geschenkt bekam, dass man sich das, was man haben wollte, erkämpfen musste, und dass es immer andere ge ben würde, die versuchten, einem das Erreichte wieder abspenstig zu machen. Trilith Okt stand vor der in der Mitte der Krankenstation auf ei nem Podest verankerten Liege und kämpfte mit dem dicken Kloß in ihrem Hals. Lalia Bir hatte die Augen geschlossen, doch hinter der feinen Haut ihrer Lider waren die jäh hin- und herhüpfenden Pupil len deutlich zu erkennen. Die Frau träumte und Trilith fragte sich, welche Bilder es wohl waren, die das Unterbewusstsein ihrer Freun din produzierte. Beängstigender als die bleiche Gesichtshaut und die schweißver
klebten Haare war der Anblick, den der Rest des Körpers bot. Lalia war nackt und von einer in mattem Blau glänzenden Blase umge ben. Trilith spürte ein kaum merkliches Kitzeln an ihren Fingerspit zen, als sie die Oberfläche des durchsichtigen Gebildes berührte. Sie hatte der Leidensgenossin eine Reihe von hässlichen Wunden beige bracht. Würde ihr Lalia jemals verzeihen? Wenn sie der Positronik glaubte, war das eine Frage, um die sie sich schon bald keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Angeekelt betrachtete sie die zwei Dutzend winziger Insekten, die über Lalia Birs schlanke Gestalt wimmelten. Sie drangen in die letz ten kleinen Schnitte ein, vernähten die Haut mit ihren kaum erkenn baren Ärmchen und besprühten die Narben mit einer farblosen Flüssigkeit. Der Bordrechner hatte sie als »Medobots« bezeichnet. Auch sie gehörten zu den Maschinen und lebten nicht wirklich, wie Trilith überhaupt alles in der GAHENTEPE fremd und künstlich vorkam. Mit jeder verstreichenden Minute vermisste sie die Wiesen und Wälder ihres Heimatplaneten mehr. Selbst die deprimierende Weite des Ozeans, die sie so oft verflucht hatte, erschien ihr ange sichts der Monotonie ihrer aktuellen Umgebung wie eine Verlo ckung. »Warum kannst du ihr nicht helfen?« fragte sie die Positronik. »Weil sich ihr Körper nicht helfen lassen will«, kam die Antwort. »Wie meinst du das?« Lalia sah keineswegs wie eine todkranke Frau aus. Die schlimms ten Verletzungen waren längst versorgt; der Brustkorb der Freundin hob und senkte sich unter gleichmäßigen Atemzügen. »Etwas verhindert, dass ihr natürliches Immunsystem anspricht«, erläuterte der Bordrechner. »Die Proliferationsrate liegt bei nahezu Null. Es bildet sich so gut wie kein neues Gewebe. Die Blutgerin nung funktioniert nicht, fast alle Organe arbeiten mit reduzierter Leistung. Ohne medizinische Unterstützung wäre die Patientin längst tot.« »Ich verstehe zwar nur die Hälfte von dem was du sagst, aber du
darfst sie nicht sterben lassen, hörst du? Du darfst sie auf gar keinen Fall sterben lassen. Sie ist …« Die junge Frau war nicht in der Lage, den Satz zu beenden. Sie spürte, wie die Wut zurückkehrte, der Hass auf den oder die, die sich von Anfang an in ihr Leben einge mischt hatten. Lalia war nicht schwer genug verletzt, um einfach so zu sterben. Sie war stark und widerstandsfähig. Sie war – ebenso wie Trilith selbst – eine Kämpferin, für die aufgeben nicht in Frage kam. Wenn sie jetzt und hier dennoch mit dem Tode rang, dann musste es einen Grund dafür geben. »Kannst du sie aufwecken?«, wollte Trilith Okt wissen. »Nur für eine Minute?« »Das wäre gefährlich und würde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Stelle töten«, antwortete der Bordrechner der GAHENTEPE. »Ihr Zustand ist ohnehin schon kritisch. Jede zusätzliche Belastung würde einen Großteil der Körperfunktionen zum Erliegen bringen. Es tut mir leid, aber ich sehe nur eine einzige Möglichkeit.« »Welche?« Trilith hatte so leise gesprochen, dass sie sich selbst kaum verstand. Die Positronik hörte sie trotzdem. »Ich muss sie in ein künstliches Koma versetzen«, erklärte sie emo tionslos. »Das ist zwar keine Garantie, dass sie überlebt, aber wenn ich nichts tue, dann ist es in spätestens ein bis zwei Tagen vorbei.« Trilith Okt verzichtete darauf, ihre Zustimmung laut zu äußern. Zum einen hätte sie die Maschine nicht benötigt, zum anderen gab es ohnehin nur diese eine Möglichkeit. Es blieb nur das Spiel auf Zeit – und die Hoffnung, dass sich irgendwann eine Chance ergab, Lalia ins Leben zurück zu holen. Mit einem Mal begriff Trilith Okt, dass sich nichts geändert hatte. Sowohl ihre Freundin als auch sie selbst befanden sich nach wie vor unter der Kontrolle einer unbekannten Macht. Sie waren nichts wei ter als Figuren in einem perfiden Spiel, und nach dessen ungeschrie benen Regeln musste Lalia als im Duell Unterlegene sterben. Sie hat te versagt. »Halte durch«, flüsterte Trilith mit bebenden Lippen. »Ich werde
einen Weg finden. Das schwöre ich dir.« Der Zorn brandete als alles verschlingende Flutwelle heran. Die junge Frau drehte sich um, ballte ihre Faust und schmetterte sie mit ungestümer Wucht gegen eine Aggregatverkleidung. Der Schmerz explodierte in ihren Fingern, zuckte grell durch ihren Arm, doch Tri lith Okt spürte ihn nicht, denn in diesen Sekunden fasste sie einen Entschluss: Was immer an Entbehrungen noch auf sie zukommen sollte, sie würde sie ertragen. Was immer der oder die Unbekannten noch an Prüfungen für sie bereithielten, sie würde sie meistern. Und dann, eines Tages, würde sie ihnen gegenüberstehen. Dann war die Zeit des Versteckens und der Masken vorbei. Für diesen Tag war sie bereit, alles zu tun, denn es würde der Tag sein, an dem sie die Rech nung präsentierte. Der Tag ihres größten Triumphs!
Ponter Nastase Gegenwart »Es ist gut. Sie können gehen.« Ponter Nastase sah nicht auf, als sein Adjutant vorschriftsmäßig salutierte und die Hacken so heftig zusammenschlug, dass auf dem Platz der Großen Einheit in Genzez vermutlich sämtliche Frieden stauben aufflogen. Im Grunde seines Herzens hasste der Kalfaktor für Wissenschaften alles Militärische. Das mochte daran liegen, dass man ihn einst wegen eines unbedeutenden körperlichen Defekts an der Wirbelsäule nicht zum Dienst an der Waffe zugelassen hatte. Nun, es gab andere Möglichkeiten, Karriere zu machen, und die hat te er mit der ihm eigenen Beharrlichkeit genutzt. Als sich das Schott hinter dem Adjutanten geschlossen hatte, warf Nastase den dünnen Folienhefter mit einem leisen Seufzer auf den Schreibtisch und erhob sich aus dem riesigen Sessel mit der hohen Lehne. Seine Mitarbeiter nannten das Möbelstück hinter vorgehalte ner Hand nur den Thron, aber das störte ihn nicht. Er wertete das als Zeichen von Respekt. Der Kalfaktor hatte den Koloss vor einer halben Ewigkeit auf einer Auktion in Brihan, einer kleinen Küstenstadt am Südmeer, erstan den und ihn vor einem knappen Jahr aus seinem Büro im OPRAL auf die ZUIM bringen lassen. Dort stand er nun auf einem kostba ren, handgewebten Teppich, den ihm irgendein Botschafter oder Bittsteller oder anderweitig bedeutungsloser Kriecher einmal ge schenkt hatte. Inzwischen hielt sich der Kalfaktor ohnehin mehr an Bord des Sphärenrads als im Regierungssitz der Hauptstadt auf. Langsam und in gekrümmter Haltung ging Ponter Nastase zur Bildschirmgalerie hinüber. Zwar lagen die von ihm genutzten Räumlichkeiten im inneren Rad der ZUIM, der so genannten Sphäre
1, doch einen direkten Ausblick auf den freien Weltraum hatte er trotzdem nicht. Das kleinste der vier Bauelemente des Sphärenrads durchmaß noch immer hundert Meter und war stattliche 33 Meter breit. Die acht nebeneinander angeordneten Bildschirme boten ein ein drucksvolles Panorama. Im oberen Drittel des Sichtbereichs schim merte ein Viertel der blassen Scheibe Rudyns. Die ZUIM war in ei nem geostationären Orbit über der Hauptstadt Genzez verankert. Wenn man von dort unten in einer wolkenlosen Nacht nach oben schaute, konnte man das Sphärenrad deutlich erkennen. Es leuchtete heller als jeder Stern, und seit man seine Existenz öffentlich gemacht hatte, war es unter den Bürgern der Union das häufigste Ge sprächsthema. Ponter Nastase erinnerte sich noch gut an jenen Tag vor fast vier zehn Jahren, als er die ZUIM zum ersten Mal betreten hatte. Damals war der Gigant noch nicht einmal zur Hälfte fertig gestellt, und doch hatte ihm die gewaltige Konstruktion bereits größte Ehrfurcht abgerungen. Von diesem Zeitpunkt an war er dem Sphärenrad ver fallen gewesen. Sein Vorgänger im Amt hatte sich kaum um dieses vor über drei Jahrzehnten aus der Taufe gehobene Langzeitprojekt gekümmert und sich lieber Banalitäten wie der Nanomedizin oder der Nutzpflanzengenetik gewidmet. Nastase dagegen hatte sofort erkannt, dass die Zukunft der Union in der Entwicklung konkur renzfähiger Waffensysteme lag. Nur so konnte man verhindern, dass eines Tages die Schlachtschiffe des Solaren Imperiums den Himmel über Rudyn verdunkelten. In Genzez herrschte derzeit tiefste Nacht. Der Kalfaktor starrte versonnen auf das Muster aus winzigen Lichtpünktchen, die das komplexe System aus Gleitertrassen, Wohngebieten, Geschäftsvier teln und Grünanlagen nachzeichneten. Ponter Nastase liebte diese Stadt, zu deren Ausbau und Modernisierung zahllose Generationen ihren Beitrag geleistet hatten. Nun waren er und die anderen zwan zig Kalfaktoren an der Reihe. Das Sphärenrad war sein ganz persön liches Geschenk, um den Bürgern der Union auch in Zukunft Wohl
stand und Frieden zu sichern. In wenigen Monaten war die ZUIM voll einsatzbereit und mit Beginn des Jahres 3103 würden die Pro duktionsstraßen auf 22 ZGU-Planeten anlaufen, um die ersten Bau teile für weitere fünf Sphärenräder herzustellen. Im Wissenschaftli chen Kalfaktorat arbeitete man zudem bereits an den Plänen soge nannter Sechsläufer, die nicht wie die ZUIM und ihre Brüder aus vier, sondern aus sechs Sphären bestehen würden und es mit einem Gesamtdurchmesser von dann viertausend Metern sogar mit den gefürchteten terranischen Ultraschlachtschiffen aufnehmen konnten. Nastases Blick fixierte die Reihe von Ortungsechos, die die Haupt positronik optisch aufbereitet auf die Schirme projizierte. Die wach sende Zahl Schaulustiger war ihm schon länger ein Dorn im Auge. Derzeit kreuzten 41 Raumer fremder Interessengemeinschaften im System der gelben Normalsonne Ephelegon. Seiner Meinung nach waren das 41 zuviel. Der Kalfaktor ging zum Schreibtisch zurück und nahm den Folien hefter wieder auf. Er enthielt den zweimal täglich aktualisierten Be richt über die diversen Besucher, den er sich durch das Wissen schaftliche Überwachungskorps erstellen und persönlich liefern ließ. Wenn es um solche hochbrisanten Informationen ging, traute er dem Geheimdienst schon lange nicht mehr. Natürlich hätte er sich die entsprechenden Daten auch jederzeit per Funk über seinen Om niport besorgen können, der als feines Metallgespinst seinen gesam ten Schädel umhüllte, doch aus Gründen, die er selbst nicht genau hätte erläutern können, bevorzugte er in diesem Fall die gedruckte Form. Mit wachsendem Unmut blätterte er durch die zwölf eng beschrif teten Seiten. Da waren die PEK TARN, ein altersschwacher Handels raumer der Topsider, die MAGANON, eine 400 Meter lange Sprin gerwalze, die KULETATS, ein Medoschiff der Aras, die KAPIUR, ein terranischer Kugelraumer von Olymp, die BOX-3113, das Bot schafterschiff der Hundertsonnenwelt. Wütend schmetterte Ponter Nastase den Hefter wieder auf die blankpolierte Tischplatte zurück. Dieser Aufmarsch war inakzeptabel. Diese Leute gaben sich als
Händler und Diplomaten, als Touristen und Durchreisende aus, doch in Wirklichkeit ging es ihnen nur darum, die Geheimnisse der Union auszuspähen. Wie viele Kameras, Sensoren und Messgeräte mochten wohl in diesem Moment auf die ZUIM gerichtet sein? Und Neife Varidis, diese naive Stümperin, begrüßte diese Parade auch noch! Ponter Nastase ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. Er hatte die Geheimdienstchefin nie gemocht, doch das war bislang kein Pro blem gewesen. Persönliche Zu- oder Abneigungen spielten im politi schen Tagesgeschäft keine Rolle – zumindest dann nicht, wenn man die Leiter nach oben klettern wollte. Der Wert einer Person bemaß sich nach den Kontakten, die sie besaß, nach dem Nutzen, den sie ei nem brachte und ihrem Willen, sich für einen einzusetzen. Sympa thien oder Antipathien waren ein Luxus, den man sich ab einer be stimmten Position nicht mehr leisten konnte. Bei Neife Varidis drohte Nastase seinen Grundsätzen erstmals un treu zu werden. Die Frau verursachte ihm körperliches Unbehagen. Ihre selbstsichere Art, mit der sie ihre Inkompetenz übertünchte und der rechthaberische Tonfall, der die für ihre massige Statur viel zu hohe Stimme noch lächerlicher klingen ließ, machten ihn jedes Mal halb wahnsinnig. Dennoch hatte sie es bis zur Ersten Kalfaktorin des Geheimen Kalkulationskommandos gebracht, die in der Hierarchie der ZGU einflussreichste und begehrteste Position, und wenn er sich die wenigen existierenden Aufzeichnungen aus früheren Tagen an sah, dann hatte sie ihren Aufstieg ganz bestimmt nicht ihren körper lichen Reizen zu verdanken. Insofern hütete sich Nastase davor, die von Neife Varidis ausge hende Gefahr für seine Pläne zu unterschätzen. Die Kalfaktorin war nicht dumm und hatte sich fraglos gegen mögliche Angriffe aus ih rem Umfeld abgesichert. Ihre neuerdings so gern gespielte Rolle als Visionärin konnte sich allerdings als Bumerang erweisen. Im OPRAL hatte sie bereits unverhohlen von einer notwendigen Öff nung der Union nach außen gesprochen und damit eine Reihe von Kalfaktoren gegen sich aufgebracht. Nastase war zudem sicher, dass
das frühzeitige Bekanntwerden der Existenz des Sphärenrads auf Varidis' Konto ging. Innerhalb der Regierung hatte Einigkeit bestan den, diese Information erst nach der Fertigstellung der ZUIM durch sickern zu lassen. Das Summen des Interkoms unterbrach die Überlegungen des Kal faktors für Wissenschaften. Sein Adjutant meldete die Ankunft der Geheimdienstchefin in Sphäre 1. Ponter Nastase befahl, die Besuche rin in die Konferenzetage zu geleiten und ihr mitzuteilen, dass er ebenfalls in Kürze dort eintreffen werde. Dann schlüpfte er in seine Amtsrobe, die er sonst nur zu offiziellen Anlässen trug, schloss die goldene Brustspange und verließ seinen Arbeitsraum. Wenn es nach ihm ginge, würde sich Neife Varidis ihrer exponierten Stellung nicht mehr lange erfreuen können. Dennoch war sie nach wie vor eine Frau, die Macht und Einfluss besaß – und eine solche Frau ließ man nicht warten.
»Ponter Nastase!« Neife Varidis bemühte sich, soviel Freundlichkeit wie möglich in ihre Stimme zu legen. »Es ist wie immer ein Vergnü gen, Sie zu sehen.« »Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit, Neife Varidis«, erwiderte der Kalfaktor für Wissenschaften artig und bewies damit, dass er sich in der Kunst der Heuchelei mindestens ebenso gut verstand wie sein Gegenüber. »Ich gehe davon aus, dass man für Ihr leibliches Wohl gesorgt hat?« »Die Bewirtung an Bord der ZUIM war wie immer vorbildlich«, antwortete sie lächelnd. Mit einer knappen Geste bat Nastase seinen Gast zu dem wuchti gen Konferenztisch, der fast den gesamten Raum einnahm. Er hatte bewusst darauf verzichtet, die Geheimdienstchefin in seinen priva ten Räumen zu empfangen. Nachdem sie sich mit Getränken ver sorgt und gesetzt hatten, übernahm Neife Varidis sofort die Initiati ve.
»Ich war von Ihrer Einladung einigermaßen überrascht«, sagte sie. »Nichtsdestotrotz habe ich die Gelegenheit gerne genutzt und mich vom zügigen Fortgang der Arbeiten an unserem Prunkstück über zeugt. Sie haben hier wirklich beachtliches geleistet.« »Der Sphärendreher ist zu 95 Prozent fertig gestellt«, ging der Kal faktor über das Kompliment hinweg, das in Wahrheit nichts weiter als eine Provokation darstellte. Dieses verfluchte Weib wusste ge nau, dass er es hasste, wenn die ZUIM als »Prunkstück«, »Juwel« oder »Meisterwerk« bezeichnet wurde. Während einer schon länger zurückliegenden Sitzung im OPRAL hatte die Frau sogar einmal den Begriff »Schätzchen« benutzt. »Trotz der zunehmenden Störungen von außen liegen meine Leute über dem Soll«, fuhr Ponter Nastase fort. »Seit das Ephelegon-Sys tem zu einem der beliebtesten Ausflugsziele des Zentrumssektors geworden ist, hat sich meine Arbeit nicht unbedingt vereinfacht.« »Sie übertreiben schamlos, mein Lieber«, wiegelte Neife Varidis ab. »Die sensiblen Komponenten des Sphärenrads sind längst instal liert und selbst mit modernsten Ortungsgeräten nicht mehr nachzu weisen. Außerdem sind diese Bereiche der ZUIM für den Publi kumsverkehr gesperrt. Und was bedeutet Stärke, wenn man sie nicht zur Schau stellt? Indem wir der Galaxis zeigen, was wir haben, schaffen wir neue Verhältnisse. Die ZGU ist ein friedliebender und politisch verlässlicher Partner im Konzert der galaktischen Mächte, aber auch fähig und bereit, sich im Ernstfall mit allen Mitteln zu ver teidigen.« »Die Versammlung war sich einig, dass wir erst in die Offensive gehen, wenn das Sphärenrad komplett ist«, sagte Nastase. »Die Si tuation in der Milchstraße ist kompliziert. Männer wie Imperator Dabrifa oder Perry Rhodan warten nur auf unsere Fehler. Die ZUIM war unser größter Trumpf – und wir ha ben ihn ausgespielt, ohne wirklich in Bedrängnis zu sein.« »Glauben Sie tatsächlich, dass wir die überall schwelenden Kon flikte mit einem Rüstungswettlauf lösen können?« Die Geheim
dienstchefin schlug die Beine übereinander und lehnte sich in ihrem schweren Sessel zurück. »Der Verteidigungshaushalt wurde seit der letzten Wahl fünfmal aufgedockt. Er macht inzwischen 17 Prozent des Staatsbudgets aus. Und glauben Sie mir: Das wurde von unse ren Nachbarn sehr aufmerksam registriert. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, wird eine bewaffnete Auseinandersetzung bald nicht mehr zu vermeiden sein.« »Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter«, stieß Ponter Nastase mür risch hervor. »Aber er stirbt«, sagte Neife Varidis. »Ich weiß, dass Sie die Terra ner nicht sonderlich mögen, aber ihre – und damit auch unsere – Ge schichte ist eine Ansammlung von Beispielen dafür, dass Imperien, die mit Waffengewalt errichtet werden, selten von Dauer sind. Und da Sie Sinnsprüche so sehr mögen, wie wäre es mit diesem: Wer mit den Fäusten redet, spricht zu Muskeln.« »Die Sphärenräder sind keine Angriffswaffen«, begehrte der Kal faktor für Wissenschaften auf. »Wollen Sie etwa tatenlos zusehen, wie der Carsualsche Bund oder das Imperium Dabrifa immer weite re Kolonien annektieren und uns dadurch die Luft zum Atmen neh men? Jeden Monat verlassen fünf Leichte und zwei Schwere Kreu zer die terranischen Werften. Alle sechs Wochen werden zwei Su perschlachtschiffe und einer der 2500-Meter-Riesen in Dienst ge stellt. Allein die lunaren Hochleistungsfabriken im Solsystem pro duzieren jeden Tag sechs neue Korvetten und mehr als ein Dutzend Space-Jets. Das ist die Realität, Ms. Varidis!« »Eine Realität, die ich nicht leugne«, lenkte sie ein. »Natürlich muss sich die Union schützen, um auf mögliche Übergriffe anderer Machtblöcke reagieren zu können. Deshalb habe auch ich mich stets für die Entwicklung der Sphärenräder stark gemacht. Wir dürfen aber nicht den Eindruck erwecken, dass der militärische Standpunkt der einzige ist, den unsere Gesellschaft in der Lage einzunehmen ist.« »Und stattdessen eine Invasion riskieren?«, rief Nastase. »Perry
Rhodan und sein Solares Imperium wären sofort zur Stelle, um die aus ihrer Sicht abtrünnigen Kolonien beim ersten Zeichen der Schwäche unter den ach so fürsorglichen Schutz des Solaren Imperi ums zu stellen. Ihnen sind die Ereignisse aus dem Jahr 2840 ebenso bekannt wie mir. Seinerzeit hätte nicht viel gefehlt, und die Terraner und ihre USO hätten Rudyn erobert.« »Zum einen ist die USO eine unabhängige Organisation, die ledig lich von Terra finanziert wird«, erläuterte die Geheimdienstchefin geduldig. »Zum anderen war die innenpolitische Krise 2840 hausge macht. Die USO respektive die Unabhängige Hilfsorganisation für Be drängte griff lediglich als Vermittler ein und zog sich gemeinsam mit den zur Unterstützung gerufenen Einheiten der Solaren Flotte zu rück, nachdem sich die Lage beruhigt hatte.« »Nachdem Agenten den damaligen Geheimdienstchef ermordet hatten!« giftete Ponter Nastase. »Irger Manyteyl war der Drahtzieher der Revolte auf Rudyn.« Nun sprach auch Neife Varidis mit deutlich mehr Schärfe in der Stimme. »Er hätte unsere noch junge Nation in den Untergang ge führt. Ohne die Hilfe der Terraner würde die ZGU vielleicht schon gar nicht mehr existieren.« »Das ist …«, der Kalfaktor für Wissenschaften rang sichtlich nach Worten, »… das ist Ihre ganz persönliche Interpretation.« Die Frau entspannte sich wieder, atmete zweimal tief ein und wie der aus. »Nein«, sagte sie leise. »Das ist Vergangenheit, Mr. Nastase. Seit mehr als 160 Jahren. Unsere Aufgabe ist es, die Zukunft zu gestal ten. Dafür hat man uns gewählt. Ist es wirklich so schwer zu begrei fen, dass eine Zukunft ohne die gemeinsamen Anstrengungen aller Völker dieser Galaxis nur ins Chaos fuhren kann?« »Ich bin nicht gegen eine politische Öffnung der Union«, fuhr nun auch Nastase wieder gelassener fort. »Ich halte lediglich den Zeit punkt für falsch. Es ist stets der Starke, der dem Schwachen die Hand reicht.«
»Dann haben wir unterschiedliche Definitionen von Stärke«, ent gegnete die Geheimdienstchefin. »Nur wer stark ist, gesteht sich auch seine Schwächen ein. Warum glauben Sie, nimmt der Schwa che Ihre ausgestreckte Hand, wenn Sie in der anderen ein Schwert halten? Weil er Ihnen vertraut, oder weil er Angst hat, dass Sie ihm die Hand sonst abhacken?« »Er nimmt sie«, sagte er und lachte grimmig. »Reicht das nicht?« »Nein«, sagte Neife Varidis fest. »Denn das würde bedeuten, dass das Ziel die Mittel rechtfertigt. Vertrauen aber heißt, dass man Vor teile bewusst aufgibt. Und wenn Sie der Stärkere sind, dann ist es an Ihnen, den ersten Schritt zu tun.« »Ich reiche also – um bei Ihrer hübschen Metapher zu bleiben – meinem Gegenüber das Schwert, damit er es mir in die Brust stoßen kann?« Nastase knirschte unbewusst mit den Zähnen. »Sie sind naiv, meine Liebe! Für eine Erste Kalfaktorin des Geheimen Kalkula tionskommandos eine mehr als gefährliche Charaktereigenschaft.« »Dann haben Sie ja das, was Sie sich erhofft hatten«, sagte sie lä chelnd. Der Kalfaktor für Wissenschaften legte die Stirn in Falten und schien für einen Augenblick verwirrt. »Was meinen Sie?«, wollte er wissen. »Ich bin vielleicht naiv«, sagte die Geheimdienstchefin und behielt ihr verbindliches Lächeln bei, »aber nicht dumm. Sie haben mich nur aus einem einzigen Grund an Bord der ZUIM gebeten. Sie woll ten sich vergewissern, dass ich meine Haltung bezüglich der Grund sätze der Unionspolitik nicht geändert habe. Wie viele Kalfaktoren haben Sie bereits auf Ihrer Seite?« Ponter Nastase fühlte sich ertappt. Es ärgerte ihn maßlos, dass sei ne Gesprächspartnerin ihn durchschaut hatte, doch er ließ sich sei nen Zorn nicht anmerken. »Sie glauben, dass ich gegen Sie opponiere?«, fragte er arglistig. »Ich weiß es.« »Warum sind Sie dann gekommen?«, erkundigte er sich.
»Aus Neugier.« Neife Varidis erhob sich von ihrem Platz. »Ich un terschätze meine Gegner niemals, Mr. Nastase. Deshalb habe ich mein Amt auch schon so lange inne. Wahre Stärke erwächst aus Wissen, und ich weiß viel. Ich weiß, dass Sie etwas planen. Ich weiß, dass Sie seit langem Vorbereitungen treffen. Und ich weiß, dass Sie auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen lauern. Was ich nicht weiß, ist, warum Sie diese Gelegenheit nun offenbar für gekommen hal ten.« Sie machte zwei Schritte nach vorn und beugte sich zu dem Kal faktor hinunter, brachte ihren Mund dicht an sein Ohr. »Was verber gen Sie vor mir, Mr. Nastase?«, flüsterte sie. Ponter Nastase ließ sich nicht beeindrucken. Regungslos wartete er, bis sich die Frau wieder zurückzog, suchte bewusst ihren Blick. »Sie sind wirklich schon lange im Amt, Neife Varidis. So lange, dass Sie hinter jeder dunklen Ecke einen Feind vermuten. Dabei will ich nichts weiter, als Ihnen helfen. Wenn ich sonst nichts mehr für Sie tun kann, wird Sie mein Adjutant zur nächsten Schleuse bringen. Eine Fähre steht für Sie bereit.« Die Erste Kalfaktorin des Geheimen Kalkulationskommandos senkte kurz den Kopf. Dann drehte sie sich wortlos um und verließ den Konferenzraum. Zurück blieb ein nachdenklicher Ponter Nasta se, der wusste, dass er von nun an noch vorsichtiger sein musste.
Atlan Gegenwart Trilith Okt hatte ihre Erzählung kurzzeitig unterbrochen, als ein leicht fauliger Geruch durch den kleinen Nebenraum zog. Sie ließ mich wortlos stehen und eilte in die Zentrale. Ich folgte ihr. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte ich. Die Frau stand wie gewohnt vor der Steuerkonsole und bediente die Quastenschnüre in schneller Folge. »Der Sphärendreher hat angehalten«, sagte sie verwundert. »Wo sind wir?«, wollte ich wissen. »Im Nordostquadranten des Zentrumssektors, rund dreitausend Lichtjahre von Rudyn entfernt.« »Könnte es sich um einen Orientierungsaustritt handeln?« Ich trat unmittelbar hinter Trilith Okt. Ein süßlicher Duft nach exotischen Blüten und Gräsern stieg in meine Nase. »Die Navigation in der Nähe des galaktischen Zentrums hat ihre Tücken.« »Möglich.« Sie zog an einer blauen Quaste, versetzte eine rote in Drehung und hielt sie sofort wieder an. Für das Wissen um die Her kunft des Diskusraumers und seiner eigenwilligen Technik hätte ich einiges gegeben. »Vielleicht haben sie uns entdeckt«, überlegte ich laut. Trilith wandte kurz den Kopf, und ich spürte ihren warmen Atem auf meiner Wange. Meine Nähe schien sie nicht zu irritieren. »Hatten wir das nicht schon?«, bemerkte sie spitz. »Und davon ab gesehen: Warum sollten die ZGU-Leute stoppen, wenn sie wissen, dass sie verfolgt werden?« »Was schlägst du vor?«
»Wir warten ab und beobachten.« Die Frau widmete sich wieder den ungewöhnlichen Kontrollen. »Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Warum bringen wir den Sphärendreher nicht auf? Der Zellaktivator befindet sich an Bord. Wir könnten das Schiff mit ein paar gezielten Salven …« »Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen«, unterbrach Tri lith Okt. »Die Antwort lautet nach wie vor Nein!« »Verrätst du mir auch den Grund für deine Weigerung?«, erkun digte ich mich. »Das Risiko ist zu hoch«, antwortete Trilith Okt. »Was ist, wenn der Sphärendreher fliehen kann? Oder wenn ich ihn aus Versehen in Stücke schieße? Oder wenn die ZGU-Soldaten den Aktivator lieber zerstören, als ihn in die Hände der Feinde fallen zu lassen? Oder …« »Schon gut, schon gut«, lag es jetzt an mir, ihren Wortschwall zu stoppen. Ich hob abwehrend beide Arme. »Ich habe verstanden, gebe jedoch zu bedenken, dass es im Wirkungsbereich der Union nicht unbedingt leichter wird, das Gerät in Besitz zu nehmen.« »Leichter nicht«, stimmte Trilith Okt zu, »aber womöglich siche rer.« Sie hat recht, wisperte der Extrasinn. Ich bin davon überzeugt, dass du noch ausreichend Gelegenheit erhalten wirst, deine überschüssige Energie loszuwerden. Manchmal ist die einfachste Lösung die beste, gab ich trotzig zurück. Mit den Transformkanonen der STABILO könnte ich … … einem Ertruser das Ochsenviertelchen aus den Pranken schießen, ich weiß, ließ mich der Logiksektor nicht ausreden. Erspar mir bitte deine Schlachtfeld-Schwärmereien. Ich kenne sie alle. »Du sprichst mit deinem Extrasinn, richtig?« Die Stimme Trilith Okts brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Sie sah mich an, als hätte sie einen seltenen Käfer vor sich. »Eigentlich versuche ich meistens ihn zu ignorieren«, sagte ich grinsend.
Die Frau kratzte sich am linken Oberschenkel. Es war bereits das dritte Mal, dass ich diese Angewohnheit bei ihr beobachtete. Sie be merkte meinen Blick und trat zwei Schritte von der Steuerkonsole zurück. Im ersten Moment glaubte ich, sie mit meinem Verhalten be leidigt oder erschreckt zu haben, dann jedoch ging sie in die Knie, öffnete den Magnetverschluss ihres Stiefels und zog ihn aus. Fasziniert musterte ich die langen schlanken Zehen mit den fast weißen Zehennägeln. Trilith schob kommentarlos ihr Hosenbein bis weit über das Knie und entblößte ihr linkes Bein. Die mit Mutterma len übersäte Haut war stark behaart und an vielen Stellen von klei nen und größeren Narben verunstaltet. Der Unterschenkel dagegen war makellos, wenn auch bis auf die Narben nicht vom Rest des Beins zu unterscheiden. Vermutlich ein künstliches Gliedmaß, wisperte der Extrasinn. Ich nickte unweigerlich. »Willst du wissen, wie das hier passiert ist?«, fragte Trilith Okt. Ihre Stimme schien mit einem Mal zwei Oktaven tiefer zu klingen. Erneut nickte ich. »Gut. Aber ich muss dich warnen. Es ist keine besonders schöne Geschichte …«
Trilith Okt Vergangenheit Monate vergingen. Trilith Okt aß, schlief, absolvierte ein von der Po sitronik auf sie zugeschnittenes, körperliches Trainingsprogramm, perfektionierte ihre Fertigkeiten als Pilotin der GAHENTEPE – und bekam ihre Hypnoschulungen. Zu Beginn waren diese eine einzige Tortur. Die Frau musste sich auf eine kalte, metallische Liege legen. Automatisch ausfahrende Bänder fixierten Kopf und Oberkörper; dann senkte sich eine flache Haube von der Decke herab und legte sich eng um Triliths Schädel. Der Bordrechner redete ihr zu, sie solle sich entspannen, doch das war ihr nicht möglich. Das helle Sum men, das die Apparatur erzeugte, schien sich geradewegs in ihr Ge hirn zu fressen. Es wurde lauter und lauter, brachte jede Zelle ihres Körpers zum Vibrieren und ließ sie schließlich in nackter Panik un kontrolliert um sich treten. Erst als die Positronik ihr ein mildes Se dativum injizierte, beruhigte sie sich und fiel in eine Art Dämmer schlaf. Sie erwachte mit rasenden Kopfschmerzen und benötigte eine wei tere Injektion, um überhaupt klar denken zu können. Der Bordrech ner versuchte sie erneut mit Worten zu beruhigen und behauptete, dass es bei jeder neuen Schulung besser werden würde, dass sich ihr Verstand an die konzentrierte Zufuhr von Wissen gewöhnen müsse, doch Trilith wollte keine weiteren Schulungen, wollte dieses Marty rium nicht noch ein zweites oder drittes Mal durchleiden. Einige Stunden später sprach sie die Positronik in einer fremden Sprache an – und sie verstand jedes Wort. Es war eine der bislang unglaublichsten Erfahrungen ihres Lebens. Sie war sich sicher, dass sie die ungewöhnlichen Lautfolgen nie zuvor gehört hatte, und doch war sie in der Lage, sie sofort nachzuahmen und weiterzuentwi
ckeln. Ihr Klang war ihr gleichzeitig fremd und vertraut. Die Stim me der GAHENTEPE verriet ihr, dass man diese Sprache als Altar konidisch bezeichnete, die Lingua franca des Großen Imperiums, und Trilith war hingerissen von der ihm innewohnenden phonetischen Wucht, der Ausdruckskraft und der inneren Logik. Sie konnte gar nicht genug bekommen, forderte die Positronik zum Rezitieren im mer neuer Texte auf und redete danach stundenlang mit sich selbst. Als ihr der Bordrechner am kommenden Tag das Erlernen einer weiteren Sprache in Aussicht stellte, überlegte sie nicht lange. Was waren ein paar Kopfschmerzen im Vergleich zu einem ganzen Uni versum neuer Begriffe und Formulierungen? Außerdem behielt die Positronik recht. Mit jeder zusätzlichen Sitzung wurden die Schmer zen erträglicher, und schon bald waren sie kaum mehr als ein etwas unangenehmes Druckgefühl irgendwo im hintersten Bereich ihres Schädels. Lemurisch, Tefroda, Interandro, Englisch, Akonisch – es war über wältigend, auf wie viele verschiedene Arten sich die Bewohner der Milchstraße und anderer benachbarter Galaxien verständigten oder einst verständigt hatten, und jede Sprache war ein einzigartiges Er lebnis. Das galt insbesondere für das Jülziish, die Sprache der Blues, deren Töne teilweise im Ultraschallbereich lagen. Zu Triliths Über raschung war sie nicht nur fähig, Jülziish zu verstehen, sondern auch selbst zu sprechen. Sie lernte die feinen Unterschiede zwischen den einzelnen arkonidischen Dialekten, den Varianten des gewöhn lichen Satron und den blumigen Übertreibungen des Arkona-I, der Hofsprache der Adligen. Sie verinnerlichte das auf den ersten Blick triviale Torguisch, die Sprache der Galaktischen Mediziner, die scheinbar schnell zu erlernen, doch nur mit viel Übung wirklich zu beherrschen war. Sie meisterte das vokalreiche Ferrol, eine aus dem Lemurischen entstandene Variante, die im Lauf der Geschichte im mer wieder massiven Veränderungen unterworfen gewesen war. Kurz: Sie absolvierte eine beispiellose Reise durch die Welt der ga laktischen Sprachen. Lediglich mit dem Interkosmo, der auf dem Arkonidischen basierenden Verkehrssprache der Milchstraße, hatte
sie ihre Probleme. Weder die Positronik, noch sie selbst konnten sich erklären, woran das lag. Fakt war, dass sie das Interkosmo zwar sprach und verstand, damit jedoch deutlich mehr Schwierigkeiten hatte, als mit allen anderen Lerninhalten. Der Bordrechner hielt sie beständig auf Trab. Auch wenn es bei ei nem Großteil der Hypnoschulungen um den Ausbau ihrer sprachli chen Begabungen ging, so wurden ihr auch immer wieder Kenntnis se aus der Physik, der Astronomie, der Philosophie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen vermittelt. Dabei ließ ihr der eng ge steckte Terminplan kaum Zeit zum Verarbeiten der eingetrichterten Informationen. Dennoch besuchte Trilith Okt ihre Freundin Lalia so oft sie konnte in der Krankenstation. Der Anblick des im Tiefschlaf liegenden Kör pers machte sie traurig und wütend zugleich, denn er demonstrierte ihr deutlicher als alles andere, dass sie eine Gefangene war, dass man sie nach wie vor manipulierte und für etwas vorbereitete, von dem sie keine Ahnung hatte. Sie fügte sich dem täglichen Drill, weil ihr keine Wahl blieb – und weil er sie stärker und klüger machte. Lalia Bir träumte, das zeigten die medizinischen Geräte, an die sie angeschlossen war. Trotz der Hypnoschulungen hatte Trilith Okt kein richtiges Verständnis für Technik entwickelt. Das Künstliche war nicht ihre Welt und würde es auch niemals werden. Sie akzep tierte die Maschinen als etwas Nützliches; schließlich hielten sie die beiden Frauen am Leben. Sie sorgten dafür, dass sie in der Welt raumkälte nicht erfroren oder erstickten, dass sie ausreichend Nah rung bekamen und vor allem – in Triliths Fall – neues Wissen. Doch all dieser geradezu magisch anmutenden Welt um sie herum wohn te der Geist des Unnatürlichen inne. Sie war hässlich und seelenlos. Sie erdrückte die Erinnerungen an das Helle und Warme, an bunte Blüten, blauen Himmel und grünes Gras. Und so oft sie die GA HENTEPE auch darum bat, auf einem der zahlreichen Planeten der Milchstraße landen zu dürfen – ihr Wunsch wurde immer abge lehnt.
Manchmal, wenn sie allein in ihrer Kabine lag und nicht einschla fen konnte, fragte sie sich, ob es Lalia nicht besser getroffen hatte. Sie musste sich um nichts Sorgen machen, wurde nicht von düsteren Visionen einer möglichen Zukunft als Leibeigene oder Söldnerin ge plagt. In solchen Stunden kamen ihr schwarze Gedanken. Was wür de die Positronik wohl tun, wenn sie sich mit ihrem Vibro-Messer die Kehle durchschnitt? Würde sie den ihr anvertrauten Prüfling einfach verbluten lassen, weil ein Selbstmordversuch dessen man gelnde Eignung bewies? Oder würde sie sein Leben retten und ihm eine zweite Chance gewähren? Trilith Okt würde die Antworten auf diese Fragen niemals erfah ren, denn eines stand für sie unverrückbar fest: Aufgeben kam nicht in Frage. Niemals! Und vielleicht wusste das auch der Bordrechner der GAHENTEPE.
»Begib dich bitte in die Krankenstation.« Die laute Stimme der Po sitronik ließ Trilith Okt aus tiefem Schlummer schrecken. Sie ver suchte die letzten Erinnerungsfetzen an den Traum festzuhalten, den sie gehabt hatte, doch die flüchtigen Eindrücke verwehten schneller, als sie sie speichern konnte. »Warum?«, fragte sie mit belegter Stimme. Sie räusperte sich und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sofort war die Angst wieder da. »Ist etwas mit Lalia?« »Der Zustand deiner Freundin ist unverändert«, antwortete der Bordrechner. »Aber in einer knappen Stunde erreichen wir Fauron. Ich muss dich auf deine Abschlussprüfung vorbereiten.« »In der Krankenstation?«, wunderte sie sich. »Ich werde dir ein Breitband-Antibiotikum sowie eine Kombinati on verschiedener Proteine injizieren, die deine körpereigene Ab wehr stimulieren und dich vor Infektionen schützen«, erklärte die Positronik mit dem ihr eigenen Gleichmut. »Außerdem möchte ich einen Ganzkörperscan durchführen und deine Vitaldaten überprü
fen.« »Deine Auftraggeber sind also um meine Gesundheit besorgt«, be merkte Trilith spitz. Sie stand auf, zog das kurze Top über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen. Sie stieg aus dem Slip und in die Duschkabine. »Ich bin gerührt.« »Falls das ein weiterer Versuch ist, mir Auskünfte über die Her kunft der GAHENTEPE und deine eigene Vergangenheit zu entlo cken, wird er ebenso erfolglos verlaufen wie die 137 Anläufe davor.« »Du hast mitgezählt?« fragte sie entgeistert. Sie ließ abwechselnd heißes und kaltes Wasser aus den Massagedüsen schießen. »Natürlich«, gab der Bordrechner freimütig zu. »Ich protokolliere alles, was du an Bord machst oder nicht machst.« »Für wen?« »Das weiß ich nicht«, behauptete die Positronik. »Warum tust du es dann?« Trilith Okt verließ die Duschkabine und zog sich an. »Weil es meine Programmierung erfordert. Ich folge einer festge legten Reihenfolge von Anweisungen. Deine Ausbildung wurde mit den letzten Hypnoschulungen abgeschlossen. Nun musst du bewei sen, dass die Mühe, die man in dich investiert hat, nicht umsonst ge wesen ist.« »Was geschieht, wenn ich versage?«, wollte Trilith wissen. Sie be festigte die Scheide mit dem Vibro-Messer an ihrem Gürtel und schlüpfte in die dunkelblauen Stiefel, die ihr bis knapp unter die Knie reichten. Die Positronik schwieg. »Dann wird ein anderer meinen Platz einnehmen, nicht wahr? Je mand wie Andemir oder Lalia. Wie viele von uns gibt es? Wofür werden wir trainiert?« »Selbst wenn ich die Antworten auf deine Fragen kennen würde«, sagte der Bordrechner, »dürfte ich sie dir nicht geben. Du bist zu klug, um das nicht selbst zu wissen.«
»Kannst du mir wenigstens sagen, was passiert, wenn ich den letz ten Test bestehe?« »Du erhältst eine Belohnung.« Trilith Okt wartete einige Sekunden, doch der Bordrechner der GAHENTEPE fügte dem nichts mehr hinzu. »Und dann?« »Dann geben meine Speicher die nächste Anweisung frei, und ich führe sie aus.« »Na schön«, seufzte die Frau und schloss den Magnetsaum ihrer Jacke. »Dann lass es uns hinter uns bringen.«
Trilith Okt verfolgte den letzten Teil des Fluges auf dem Nebel schirm in der Zentrale. Die Positronik hatte das Diskusschiff über nommen. Im Zentrum der Darstellung wurde eine grüne Planeten kugel schnell größer. Aus den Öffnungen der Steuerkonsole ström ten Aromen, die die Frau an die Wälder ihrer Heimat erinnerten. Fauron war eine Dschungelwelt, die bislang kein intelligentes Leben hervorgebracht hatte. Ihren Namen verdankte sie einer Expedition der Springer, die vor mehr als fünfhundert Jahren nach einer Hava rie auf dem einzigen Kontinent Lakatar notgelandet war. Die Galak tischen Händler waren in Küstennähe niedergegangen, hatten dort ein provisorisches Lager errichtet und mehrere Monate lang an der Reparatur ihres Schiffes, einer der typischen, vierhundert Meter lan gen Walzen, gearbeitet. Mehr erfuhr Trilith Okt nicht. Fauron durchmaß 8652 Kilometer, drehte sich in 31,6 Normstun den einmal um die eigene Achse und in 3,2 Jahren einmal um seine Sonne, der die Springer erstaunlicherweise keinen Namen gegeben hatten. In den Sternkatalogen war sie lediglich als PFX-2635 ver zeichnet. Die Jahreszeiten waren ausgeprägt, vor allem in Äqua tornähe. Lakatar war größtenteils von Urwaldgebieten überzogen und wies ein feuchtheißes Klima auf. Über dem von bis zu vierzig Meter hohen Mammutbäumen beherrschten Dschungel tobten im mer wieder gewaltige Stürme mit sturzbachartigen Regenfällen.
»Ein echtes Paradies«, bemerkte Trilith Okt spöttisch, als die GA HENTEPE durch die dichte Wolkenschicht stieß und sich in einigen Kilometern Höhe parallel zur Küstenlinie des Riesenkontinents be wegte. »Wirst du mir verraten, was ich hier tun soll?« »Ich werde dich an einer bestimmten Stelle absetzen«, sagte die Positronik. »Du wirst nur das mit dir nehmen, was du am Leib trägst. Deine Aufgabe ist es, rund zwanzig Kilometer durch den Dschungel in Richtung Ozean zu gehen und das verlassene Lager der Springer aufzusuchen. Dort werde ich auf dich warten.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« Irrte sich Trilith, oder hatte der Bordrechner tat sächlich kurz gezögert? Es hätte sie gewundert, wenn ihre finale Prüfung nichts weiter als ein anstrengender Marsch durch unwegsa mes Gelände gewesen wäre. Sie durfte wohl als sicher annehmen, dass ihr die GAHENTEPE nicht alles sagte, was es zu sagen gab. »Du machst dir doch keine Vorwürfe, oder? Ich bin es nämlich ge wohnt, dass man mich belügt.« Trilith Okt lächelte humorlos. »Ich belüge dich nicht«, gab die Positronik zurück. »Dann enthältst du mir eben Informationen vor. Das kommt aufs gleiche heraus.« »Welchen Sinn ergibt eine Prüfung, wenn man dem Prüfling die Aufgaben zuvor in allen Details offenbart?« Der Diskusraumer verlor schnell an Höhe. Trilith erkannte einen breiten Fluss, der sich durch das Gelände zog und an einer Stelle als Serie von Wasserfällen treppenartig in die Tiefe stürzte. »Ist das etwa eine Rechtfertigung?« wollte sie wissen. »Ich muss mich nicht vor dir rechtfertigen«, sagte der Bordrechner. »Nein, das musst du nicht«, ließ Trilith Okt nicht locker. »Viel leicht willst du es aber. Hast du ein schlechtes Gewissen?« »Diese Diskussion ist albern und fruchtlos. Warum führen wir sie?« »Zu einer Diskussion gehören immer zwei.«
Die GAHENTEPE flog mit kaum mehr als ein paar hundert Stun denkilometern über das lückenlose Blätterdach des Urwalds. In der Ferne kreiste ein gewaltiger Vogelschwarm über dem offenen Meer. »Du könntest unseren Disput beenden und einfach schweigen.« »Das widerspricht meiner Programmierung«, erwiderte die Po sitronik. »Zu meinen Pflichten gehört auch das Erstellen eines psy chologischen Profils. Ich werde mich schon deshalb keiner Debatte entziehen, weil sie mir wertvolle Einblicke in deinen Gemütszu stand erlaubt.« »Und wie würdest du meinen derzeitigen Gemütszustand beurtei len?«, erkundigte sich Trilith. »Du bist aufgeregt und ein wenig ängstlich. Aber das musst du nicht sein. Du besitzt sämtliche Qualifikationen, um den Test zu be stehen.« »Das beruhigt mich ungemein«, bemerkte sie trocken. »Dein Puls und deine Herzfrequenz sagen etwas anderes«, stellte die Positronik fest. Trilith Okt lachte erneut humorlos. »Dann solltest du das in deinen Speichern notieren. Es wird dir beim Erstellen meines psychologischen Profils sicher helfen.«
Die Schleuse öffnete sich, und zum ersten Mal seit Trilith Okt die GAHENTEPE vor mehr als sechs Monaten betreten hatte, setzte sie ihre Füße wieder auf die Oberfläche eines Planeten. Die warme, feuchte Luft, die plötzlich in ihre Lunge strömte war so ungewohnt, dass sie husten musste. Der Diskus war auf einer Art Lichtung nie dergegangen, was nichts weiter bedeutete, als dass die Vegetation hier weniger undurchdringlich war als überall sonst. Die Frau schritt langsam die Rampe hinunter und sah sich dabei um. Geradeaus, in etwa hundert Metern Entfernung, ragte der Dschun gel wie eine grüne Wand auf. Eine leichte Brise bewegte die Blätter
der Bäume. Wenn sie den Kopf nach links wandte, sah sie einen mächtigen Urwaldriesen, der vermutlich von einem der letzten Stür me gefällt worden war. Sein Stamm wies zahllose Risse auf und war von Moos und Schlingpflanzen überwuchert. Myriaden von Käfern aller Größen, Formen und Farben hatten den gestürzten Giganten als neue Heimat entdeckt. Links der GAHENTEPE plätscherte ein schmaler Wasserlauf. Auch dort lieferte sich vielfältiges Getier, allen voran Wolken von bunten Schmetterlingen und anderen Fluginsekten, einen fortwäh renden Kampf um die besten Plätze. Der Himmel war bewölkt und ließ die Strahlen der Sonne nur zögerlich durch. Der Bordrechner hatte Trilith während der Landung die zu bewäl tigende Strecke auf einer Reliefkarte aufgezeigt. Das verlassene La ger der Galaktischen Händler lag auf einem sanft zum Ozean hin abfallenden Hügel, knapp zwanzig Kilometer Luftlinie von ihrer ak tuellen Position entfernt. Der Weg führte größtenteils durch dichten Urwald. Sie würde den schon zuvor entdeckten Fluss überqueren müssen und in der Nähe der Wasserfälle vorbeikommen. Die letzten zwei Kilometer konnte sie dann über eine mit hüfthohem Gras be wachsene Ebene zurücklegen. Alles in allem ein zwar nicht einfa ches, aber auch nicht übermäßig anspruchsvolles Gelände. »Gibt es eine zeitliche Einschränkung?«, fragte sie. »Nein«, erklang die Stimme der Positronik aus der offenen Schleu se. »Du hast so viel Zeit, wie du willst. Allerdings werde ich an kei nem Punkt deines Marsches eingreifen. Du bist völlig auf dich allein gestellt. Erst wenn du dein Ziel erreicht hast, bist du berechtigt, wie der an Bord zu kommen.« »Ich habe verstanden«, bestätigte Trilith Okt. Sie trat vom Ende der Rampe auf den weichen, mit Moos bewachsenen Boden und nahm Kurs auf den Waldrand. Der Schweiß rann ihr in dicken Trop fen von der Stirn in den Kragen ihrer Kombination. Erst jetzt nahm sie die umgebende Geräuschkulisse richtig war. Das Zirpen, Zwit schern und Pfeifen war allgegenwärtig. Immer wieder raschelte es
im Unterholz oder in den Wipfeln der Bäume. Dann ertönte ein fer nes Brüllen, gefolgt von aufgeregtem Gekreische. Instinktiv über prüfte Trilith den Sitz ihres Vibro-Messers am Gürtel. Es war der einzige Ausrüstungsgegenstand, den ihr die Positronik zugestanden hatte. Trilith Okt drehte sich ein letztes Mal um. Die GAHENTEPE hatte die Schleuse längst wieder geschlossen. Ihre von Wassertropfen übersäte Außenhaut reflektierte das spärliche Sonnenlicht und sah aus wie eine von glitzernden Perlen bedeckte Riesenmuschel. Zum ersten Mal dämmerte es ihr, dass Technik nicht zwangsläufig steril und leidenschaftslos sein musste. Der Diskusraumer bot einen maje stätischen Anblick, als er auf seinen Prallfeldern lautlos abhob, eini ge Meter nach oben schwebte und dabei die Landestützen einzog. Er neigte sich leicht nach vorn und wieder zurück, so als wolle er Tri lith zuwinken. Und dann ging alles furchtbar schnell. Die blassrote Linie stand mit einem Mal fingerdick und flirrend in der Luft. Gleichzeitig zuck te der Schmerz durch das linke Bein der Frau, so glühend und all umfassend, dass sie nur mit weit aufgerissenem Mund stumm zur Seite kippte, fassungslos, verwirrt, enttäuscht. Der Strahl aus Licht und Hitze verschwand, und für einen Lidschlag zog sich ein schma ler Korridor aus Wasserdampf durch die schwüle Atmosphäre. Dann war auch der nichts weiter als eine schnell verblassende Erin nerung, so seltsam irreal in diesem Meer aus Qual und Unverständ nis, in dem Trilith gegen das Ertrinken kämpfte. Ihre Atemzüge kamen schwer und keuchend. Sie hatte das Gefühl, beim Luftholen einen ständig stärker werdenden Druck überwinden zu müssen, spürte das rasende Hämmern ihres Herzens, das ihr die Brust sprengen wollte. Ihren von einem der Bordgeschütze der GA HENTEPE mit chirurgischer Präzision kurz unter dem Knie abge trennten Unterschenkel sah sie durch einen Tränenschleier. Er kam ihr seltsam unwirklich vor, als hätte er von Anfang an nicht zu ihr gehört.
Irgendwann wurde Trilith Okt ohnmächtig. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war jener fast vergessene Tag, an dem Kapitän Orin Wark und die Männer der PIRATENBRAUT einen Zweimaster ge entert hatten. Die TANITA III. Während des kurzen Kampfes war einer der Freibeuter verletzt worden, und der Bordarzt hatte ihm das Bein absägen müssen. Seine furchtbaren Schreie hatte das Mäd chen noch Monate später in ihren Träumen gehört. Als Trilith Okt auf den Boden schlug, hatte sie nur noch einen einzigen Wunsch: nie wieder aufzuwachen.
Mit ihrem aus tiefer Agonie heraufdämmernden Bewusstsein er wachte auch ihr Überlebenswille. Der Schmerz hatte sich auf ein dumpfes, pulsierendes Pochen reduziert, das in monotonem Rhyth mus durch ihren Körper schwang. Erst jetzt begriff Trilith Okt, was die Injektion in der Krankenstation des Diskusraumers tatsächlich gewesen war. Ohne die entsprechenden Medikamente hätte sie die Amputation eines halben Beins nicht lange überlebt. Der Energiestrahl war heiß genug gewesen, um die Gefäße sofort zu verschließen und damit einen übermäßigen Blutverlust zu ver hindern. Vermutlich wären wohl die meisten anderen Intelligenzen an dem durch die Schmerzen verursachten Schock gestorben. Jetzt zahlten sich die Jahre der Entbehrungen und körperlichen Anstren gungen aus; Schritt für Schritt hatte sie ihren Organismus in einen hochbelastbaren und perfekt funktionierenden biologischen Mecha nismus verwandelt. Und je nachdrücklicher ihr das bewusst wurde, desto besser war sie in der Lage, ihre Talente für sich zu nutzen. Du besitzt sämtliche Qualifikationen, um den Test zu bestehen. Auch wenn die Worte der Positronik in der Rückschau wie Hohn in ihren Ohren klangen, so hatte die verdammte Maschine recht gehabt. Nicht die Schmerzen kontrollierten sie, sie kontrollierte die Schmer zen. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass dieser Test alle vorange gangenen übertreffen würde, denn es war der letzte in einer langen
Reihe. Stöhnend stemmte sich Trilith Okt in eine sitzende Position. Ihre Kehle brannte wie Feuer, und die Zunge lag wie ein trockener, fla cher Stein im Mund. Als erstes musste sie sich um die Wunde küm mern. Antibiotika hin oder her – wenn sie die Verletzung nicht säu berte und verband, riskierte sie eine Infektion. Hinzu kam der Um stand, dass sie sich auf einem fremden Planeten aufhielt. Sie hatte keine Ahnung, welche Arten von Erregern es hier gab, und ob ihr Immunsystem mit ihnen fertig wurde. Die Hitze des Strahlschusses hatte Haut, Sehnen und Muskeln mit dem Stoff der Kombination verschmolzen. Das Entfernen der Stoff reste mit Hilfe des Vibro-Messers war eine ebenso schmerzhafte wie notwendige Aufgabe. Es gelang ihr nicht, alle Fremdkörper aus dem schwarzen Stumpf zu schneiden, der einmal ihr Bein gewesen war. Dazu waren die Kunstfasern teilweise viel zu tief ins Fleisch einge drungen. Schließlich quälte sie sich zu dem Bach hinüber, stillte den brennenden Durst und wusch die blutige Messerklinge ab. Es kostete Trilith einige Überwindung, ihren abgetrennten Unter schenkel zu berühren. Das feuchte Klima zeigte bereits Wirkung; die Haut hatte eine ungesunde, braune Farbe angenommen. Erste Para siten hatten sich auch schon eingenistet. Trilith schluckte ihren Ekel hinunter und befreite den Überrest ihres Beins von Stiefel und Ho senbein. Letzteres schnitt sie – erneut mit Hilfe des Messers – in Streifen und benutzte diese, um einen einigermaßen festen Verband anzulegen. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Sie musste so schnell wie möglich aufbrechen. Ihre Kräfte würden kontinuierlich schwinden, und je länger sie unterwegs war, desto mehr schrumpften ihre Aus sichten, das Springerlager und damit die GAHENTEPE rechtzeitig zu erreichen. Der Urwald würde ihr ausreichend Nahrung und Wasser liefern, doch irgendwann würde das nicht mehr ausreichen. Ohne medizinische Versorgung musste sich ihr Bein früher oder später entzünden, der Blutkreislauf würde die zerstörerischen Kei
me durch den Körper schwemmen, sie würde Fieber bekommen, Schüttelfrost, Halluzinationen und schließlich würde sie sterben. Trilith Okt zwang sich, dieses Szenario aus ihrem Denken zu ver bannen. Zwanzig Kilometer durch einen unbekannten Dschungel mit lediglich einem Messer am Gürtel waren schon für eine gesunde Person mit zwei unversehrten Beinen eine Tortur. Ihre Situation er laubte keine Planung, die sich über einen längeren Zeitraum als ein paar Stunden erstreckte. Sie musste das tun, was sie schon so oft ge tan hatte, um zu überleben: Das Geschehene akzeptieren, die vor handenen Möglichkeiten nutzen und auf sich selbst vertrauen! Trilith Okt holte tief Luft und tauchte ihren Kopf in das kühle Wasser des Baches. Die plötzlich einsetzende Stille hatte etwas Trös tendes. Dann strich sich die Frau die nassen Haare nach hinten und sah sich um. Etwa fünfzig Meter entfernt erspähte sie, was sie ge sucht hatte. Die kräftigen Äste eines buschartigen Gewächses mit großen, roten Blüten setzten dem Vibro-Messer so gut wie keinen Widerstand entgegen. Trilith schnitt sich einen passenden Gehstock zurecht und entfernte Knospen und abstehende Zweige. Auch das flexible Material ihres linken Stiefels ließ sich mit der vibrierenden Klinge mühelos bearbeiten. Sie benutze es, um einen provisorischen Knauf zu formen, den sie auf den Ast stecken und sich unter die Achsel schieben konnte. Es bedurfte einiger Übung, doch nach einer Weile war sie mit Hilfe der primitiven Krücke in der Lage, sich mit passablem Tempo fortzubewegen. Der Himmel hatte sich weiter zugezogen. Trilith schätzte, dass ihr bis zum Einbruch der Dunkelheit rund zehn Stunden blieben. Mit etwas Glück konnte sie bis dahin die ersten fünf oder sechs Kilome ter hinter sich bringen. Als die junge Frau die grüne Wand durchbrach und in den Dschungel eindrang, kam es ihr vor, als betrete sie eine neue Welt. Es dauerte einige Zeit, bis sich ihre Augen an das herrschende Däm merlicht gewöhnt hatten. Neben den Lichtverhältnissen veränderte sich auch die Geräuschkulisse. Das Rascheln zu ihren Füßen kam ihr
plötzlich lauter vor. Aus der Höhe drang ein lang gezogenes Zi schen an ihre Ohren. Trilith fuhr herum, als sie direkt neben sich eine Bewegung wahrzunehmen glaubte, doch da war nichts, außer den schwankenden Halmen einer Staudenpflanze mit riesigen, si chelförmigen Blättern. »Beruhige dich, Mädchen«, sagte Trilith Okt laut. Es tat gut, den Klang der eigenen Stimme zu hören. Er machte die ungewohnte Umgebung irgendwie ein Stück realer. Die Frau hob den Kopf und sah hinauf in die hoch über ihr liegen den Wipfel der Urwaldriesen. Die bis zu mehrere Meter durchmes senden Stämme wurden nach oben hin schnell schmaler. Zwischen den ausladenden Kronen pendelten Dutzende von Lianen, die wie derum von anderen Pflanzen als Ankerplatz genutzt wurden. Da zwischen flatterten gelb gefiederte Vögel hin und her, stießen im Sturzflug hinab, um ein unvorsichtiges Insekt zu fangen, oder lande ten auf dem schwankenden Netzwerk, um für einen Moment auszu ruhen. Mit Befriedigung registrierte Trilith Okt, dass sie den Stand der Sonne durch die Lücken in der grünen Decke einigermaßen ausma chen konnte. Er war ihre einzige Möglichkeit, sich zu orientieren. Schon während des Anflugs mit der GAHENTEPE war ihr aufgefal len, dass die Küste in Richtung des untergehenden Zentralgestirns lag. Sie musste also lediglich dem Lauf der Sonne folgen. Der Marsch gestaltete sich zu Beginn als außerordentlich mühsam. Das Dickicht bestand aus miteinander verfilztem, teilweise mit Dor nen und Widerhaken besetztem Gestrüpp. Immer wieder blieb sie mit der Kleidung an nadelspitzen Stacheln hängen, die sie übersehen oder die das Vibro-Messer nicht vollstän dig durchtrennt hatte. Oft sank sie mit dem Fuß bis über den Knö chel im weichen Grund ein oder blieb mit der behelfsmäßigen Krücke in einer Spalte stecken. Die Folge waren Stürze und eine Rei he neuer Schrammen. Doch nach und nach fand sie ihren Rhythmus, die richtige Kombi
nation aus Belastung und Entspannung. Wenn die Schmerzen zu schlimm wurden, gönnte sie sich ein paar Minuten Pause. Seltsa merweise konzentrierte sich ein Großteil der Qual ausgerechnet in jenem Teil ihres linken Beines, den sie gar nicht mehr besaß. Wenn sie die Augen schloss und für einen Moment verdrängte, wo sie sich befand, hätte sie schwören können, dass sich ihr Unterschenkel nach wie vor an der Stelle befand, an die er gehörte. Wie konnte etwas, das nicht da war, so teuflisch weh tun? Die Minuten schleppten sich mindestens ebenso schwerfällig da hin, wie Trilith selbst. Für eine Weile versuchte die Frau ihre Schritte zu zählen, um sich abzulenken, aber das machte ihr nur um so be wusster, wie langsam sie voran kam. Schon bald hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Ihr Marsch durch den Dschungel geriet zu einer endlosen Sequenz immer gleicher Bewegungen. Selbst das Pochen in ihrem Bein passte sich dieser Abfolge an, klopfte im Takt einer Gleichförmigkeit, die sie in ihren unerbittlichen Klauen hielt und nie mehr loslassen wollte. Trilith ertappte sich dabei, wie sie zusammenhanglose Worte vor sich hin stammelte, Begriffe aus den zahlreichen Sprachen, die sie während der Hypnoschulungen der GAHENTEPE wie ein Schwamm in sich aufgesogen hatte. Sie gaben ihr neue Kraft und lie ßen sie glauben, dass sie bis ans Ende aller Tage so weiterlaufen konnte. Sie bahnte sich eine Schneise durch die wuchernde Vegetati on, und nichts konnte sie aufhalten. Immer schneller wirbelte der Arm mit dem Vibro-Messer. Ob der Diskusraumer seine Sensoren auf sie gerichtet hatte? Trilith Okt lachte befreit und lauschte fasziniert dem Echo ihrer Stimme. Behände folgte sie dem taumelnden Flug eines bunt ge fleckten Schmetterlings. Bald darauf waren es zwei, dann drei, vier. Immer mehr der Insekten versammelten sich vor ihr und wiesen ihr den Weg. Eine Wolke aus durcheinanderwirbelnden Farben und Mustern, die an ihren Rändern zerfaserte und sich wieder zusam menfügte, die hoch in die Lüfte stieg und bis fast außer Sichtweite tanzte, um dann abzustürzen, sich Zentimeter über dem Erdboden
zu fangen und das gleiche Spiel von vorn zu beginnen. Sie fühlte sich leicht. So leicht wie die Schmetterlinge. Konnte es sein, dass …? Triliths Herz schien ein paar Schläge auszusetzen, als sie ihre Gehhilfe zur Seite warf, sich mit dem Fuß abstieß – und flog! Tatsächlich! Ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen. Sie konnte flie gen. Wie war so etwas möglich? Ihre neuen Freunde umkreisten sie aufgeregt, ermunterten sie, freuten sich mit ihr über die unverhofft gewonnene Freiheit. Sie hat te den Test bestanden. Sie würde sich hoch über den Dschungel er heben und innerhalb kürzester Zeit zu ihrem Ziel fliegen. Glücklich streckte sie die Arme aus, spürte den Lufthauch, den die Flügel der zur Seite ausweichenden Tiere auf ihrer Haut erzeugten. Die Schmerzen waren wie weggeblasen. Die Kämpferin machte die Au gen zu und gab sich ganz dem Gefühl des Schwebens hin. Bis sie den Stich in ihrer rechten Wange spürte. Einen zweiten in der Hüfte. Einen dritten im Rücken. Trilith Okt schlug die Augen auf … … und schrie!
Das heißt, sie wollte schreien, doch wie schon vor einigen Stunden, als ihr die GAHENTEPE per Strahlschuss das wahre Ausmaß ihrer Abschlussprüfung auf so drastische Weise demonstriert hatte, versag ten ihre Stimmbänder. Die gerade noch vorhanden gewesene Eu phorie war wie weggeblasen. Sie versuchte sich zu bewegen, ihren Kopf zu drehen, doch ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Der gesamte Körper war taub, die Glieder bleischwer. Sie konnte nicht einmal die Lider schließen und musste wehrlos miterleben, wie Hunderte von Schmetterlingen mit ihren winzigen Beinchen über ihr Gesicht tänzelten, sie mit langen, zarten Fühlern betasteten und sich in ihren schwarzen Haaren verfingen. Du hast dich ablenkten lassen, schoss es Trilith Okt durch den Schä del. Du warst unvorsichtig und hast die Warnzeichen missachtet.
Die plötzliche Hochstimmung, die nachlassenden Schmerzen, das Gefühl, fliegen zu können. Vermutlich produzierten die bunten Fal ter bestimmte halluzinogene Stoffe, mit denen sie ihre potentiellen Opfer in einen milden Rausch versetzte, um ihnen dann ein betäu bendes Gift zu injizieren. Eine nie zuvor gekannte Panik überfiel sie. Waren die Schmetter linge womöglich schon dabei, sie bei lebendigem Leib aufzufressen? Die fortwährend über ihr Gesicht eilenden Insekten besaßen zierli che Saugrüssel, die sich wie Würmer unablässig drehten und bogen. Trilith zwang sich mit aller Willenskraft zur Ruhe. Dann konzen trierte sie sich gezielt darauf, einen Finger zu rühren. Nichts. Das Krümmen eines Zehs? Keine Reaktion! Selbst eine Beschleunigung der Atmung misslang; die Lähmung ließ sie gerade genug Luft ho len, um nicht zu ersticken. Die Angst kehrte zurück, drohte erneut die Oberhand über ihren Verstand zu gewinnen, doch zum zweiten Mal kämpfte sie ihre In stinkte nieder. Ihr Körper brauchte Zeit. Mit jeder verstreichenden Minute verteilte sich das Gift in ihr auf ein größeres Volumen und verringerte dadurch seine Konzentration. Außerdem würde sich ihr Organismus dagegen wehren und versuchen, die schädliche Sub stanz abzubauen. Was, wenn die Biester für Nachschub sorgen?, kroch die erste von vie len quälenden Fragen hoch. Du spürst die Einstiche nur nicht mehr, ebenso wie du die Schmerzen der Amputation nicht mehr spürst! Es gibt keinen Strohhalm, an den du dich klammern könntest. Du hast versagt, und nun wird jemand anderes deinen Platz einnehmen. Nein! Alles in ihr sträubte sich gegen eine Kapitulation. Sie war so weit gekommen, hatte so viele Hindernisse umschifft. Diese ver fluchte Prüfung war einfach nicht fair. Sie hatte von Anfang an kei ne Chance gehabt. Ja, lachte eine hämische innere Stimme. So ist es gut, Trilith. Bedauer dich selbst. Vergieß ein paar letzte Tränen, bevor dich die ewige Dunkelheit einholt. Offenbar hat dich der Luxus auf der GAHENTEPE weich ge
macht. Ein bequemes Bett, regelmäßige Mahlzeiten, eine warme Dusche, wann immer du willst. Du bist schwach geworden. Schwach und schwer fällig. Selbst mit zwei Beinen und in voller Kampfausrüstung hättest du diesen Test nicht bestanden! Triliths Lippen bebten. Der Zorn, ihr alter Freund, der schon so lange nicht mehr zu Gast gewesen war, kehrte blitzartig und über mächtig zurück, übernahm die Kontrolle und spülte Eiswasser durch ihre Adern. Sie spürte ein Stechen in Armen und Beinen, so als hätte sie in der Nacht falsch gelegen und sich das Blut abge schnürt. Ihr Kopf fiel nach vorn und sie konnte ihren Körper sehen, über und über von zappelnden Faltern bedeckt. Die Unruhe der Tie re war deutlich zu erkennen. Sie schlugen hektisch mit den dünnen Flügeln und krochen ungeordnet übereinander. Irgendwie merkten die Tiere, dass etwas nicht in Ordnung war, dass sich ihr sicher ge glaubtes Opfer zu befreien drohte. Trilith war klar, dass ihr keine Zeit zum Nachdenken blieb. Die ersten Schmetterlinge fuhren bereits einen zentimeterlangen Stachel aus, der sich feucht glänzend aus ihrem Hinterleib schob. Eine zwei te Dosis des lähmenden Gifts würde ihr wohl den Rest geben. Doch so sehr sie sich auch anstrengte – sie konnte sich nach wie vor nicht bewegen. Es reichte zum Zucken eines Mundwinkels oder zu einem flüchtigen Muskelreflex, doch es war unmöglich, sich von den sie fast vollständig bedeckenden Insekten zu befreien. Du besitzt sämtliche Qualifikationen, um den Test zu bestehen. Hatte sich die GAHENTEPE über sie lustig gemacht? Trilith wollte das nicht glauben. Die Positronik folgte einem Programm, das hatte die Frau in den Monaten an Bord des Diskusschiffes gelernt. Eine Maschine tat nichts einfach so und ohne Grund. Sie führte in ihren Speichern abgelegte Anweisungen aus. Sie traf ihre Entscheidungen auf der Basis fester Vorgaben und eindeutig definierter Regeln. Von welchen Qualifikationen hatte der Rechner also gesprochen? Ein kaum merkliches Zwicken an ihrer rechten Schulter ließ sie zu sammenzucken. Das Drehen des Kopfes löste einen Krampf im
Nacken aus, ihre Muskeln verhärteten. Einer der Schmetterlinge hat te seinen Stachel durch den Stoff der Kombination in ihre Haut ge stoßen und injizierte sein lähmendes Gift. Zwei weitere folgten. Die Frau spürte die schwachen Einstiche an Ellbogen und Bauch. Aus! Vorbei! Die GAHENTEPE hat dieses Sonnensystem wahrschein lich längst verlassen. Was soll sie hier noch ihre Zeit verschwenden. Oh Trilith! Du hast nicht einmal den ersten Tag überlebt. Das ist so erbärm lich, so beschämend, so … Der Ton kam hell und klar, und als Trilith bemerkte, dass sie es war, die ihn erzeugte, erfüllte er bereits jeden Winkel des Dschun gels, brachte die Luft zum Schwingen. Ihre Stimme und ihre Fähig keit, Töne im Ultraschallbereich zu erzeugen, hatte Trilith schon ei nige Male zuvor als Waffe eingesetzt, doch diesmal war etwas ande res als sonst. Es kam ihr beinahe so vor, als wäre ihr Kehlkopf ein ei genes Wesen, eines, das neben ihr oder in ihr existierte und nicht von der Paralyse des übrigen Körpers beeinflusst wurde. Immer reiner und makelloser entfaltete sich der Klang und verur teilte die Kakophonie des Dschungels zur Bedeutungslosigkeit. Da war nur noch Trilith Okt und die aus ihr herausbrechende Vollkom menheit, an der sie sich berauschte und neben der nichts anderes Be stand hatte. Die Schmetterlinge fielen von ihr ab und zu Boden, wo sich ihre filigranen Leiber zu einem bunten Teppich vereinigten. Ei nige wenige schlugen noch einmal kraftlos mit den Flügeln, doch die meisten waren schon tot, bevor sie den Untergrund berührten. Von oben stürzten weitere Insekten herab wie ein sich mit jeder Se kunde verdichtender Wolkenbruch aus chitingepanzerten Gliedern. Fingerlange Libellen mit im Todeskampf gekrümmten Hinterlei bern, kaum mehr als ein paar Millimeter große Mücken mit gelb leuchtenden Köpfen, Käfer, Spinnen und zahllose ähnliche Tiere taumelten in einem stetigen Exodus an ihr vorbei und gesellten sich zu der wachsenden Masse ihrer Artgenossen. Selbst nachdem die Kämpferin verstummt war, hielt der Insektenregen noch einige Zeit an, bevor er schließlich schwächer wurde und dann ganz aufhörte.
Eine Stunde später kehrte das Gefühl in Trilith Okts Körper zu rück, und damit auch die Schmerzen. Trilith hieß sie mit Tränen in den Augen willkommen.
Neife Varidis Gegenwart Neife Varidis hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sie stand an einem der hohen Fenster ihres Hauptbüros im OPRAL, dem Re gierungszentrum der Zentralgalaktischen Union auf Rudyn. Der mit gut hundert Quadratmetern mehr als großzügig bemessene Raum lag im südlichsten der sechs muschelförmigen Trichterbauten, die die zentrale Pyramide mit den Sitzungssälen und Geschäftsstellen der Abgeordneten umgaben. Die Metropole Ephelegon versank hin ter dem Horizont. Über den Tag war es heiß gewesen; teilweise hatten die Thermo meter mehr als 40 Grad Celsius angezeigt, was für diese Jahreszeit sehr ungewöhnlich war. Viele Bürger hatten deshalb ihre Ar beitsplätze früher als sonst verlassen und die rund um das Stadtzen trum liegenden Parks und Grünanlagen aufgesucht. Mit dem Einset zen der Dämmerung strebten sie nun in ihre Wohnungen zurück, um den Abend mit einer schmackhaften Mahlzeit, ein paar Stunden vor den TriVid-Geräten oder bei einem Glas Wein und einer Lese spule ausklingen zu lassen. Die Geheimdienstchefin seufzte leise. Solcherlei Normalität war ihr schon seit langem verwehrt. Sie beschwerte sich nicht darüber, denn ihren Beruf, der sie zwischen 15 und 17 Stunden des knapp 23stündigen Rudyn-Tages kostete, empfand sie als Berufung. Sie hatte ihm ihre Jugend, ihre Ehe und einiges andere geopfert, über das sie nicht gerne nachdachte. Neife Varidis sagte sich oft, dass das ein ge ringer Preis für die Sicherheit und das Wohlergehen der Milliarden Unionsbürger war, aber letztlich wusste sie, dass sie sich damit nur selbst belog. In Wahrheit gab es nichts aufzurechnen oder zu ver gleichen. Es gab nur Entscheidungen, die man traf und mit denen
man zu leben hatte. Neife Varidis kehrte an ihren Schreibtisch zurück und blätterte lustlos in einigen Unterlagen. Berichte über die Situation im Ca ranakk-System, wo eine Gruppe Separatisten die Gäste eines Restau rants als Geiseln genommen hatte und die sofortige Unabhängigkeit von der ZGU forderte. Ein Dossier über Widor Kask, einen Pau schalkonsul auf Testos II, der gute Chancen hatte, zum neuen Präsi denten gewählt zu werden und der Union eher kritisch gegenüber stand. Eine Reihe von Förderstatistiken und Wirtschaftsgutachten, die auf neue Rohstoffquellen – und somit auch auf potentielle Unru heherde – hinwiesen. Kurzum: das übliche Tagesgeschäft. Ihre Gedanken kreisten nach wie vor um das Gespräch mit Ponter Nastase an Bord der ZUIM. Ihr war schon länger klar, dass er ihren Bestrebungen, die ZGU stärker mit den übrigen politischen Grup pierungen der Milchstraße zu vernetzen, ablehnend gegenüber stand. Natürlich hielt sie ihn unter Beobachtung, ebenso wie die an deren Kalfaktoren. Das gehörte zum Spiel und wurde erwartet. Na stases Motive waren sogar durchaus ehrenhaft. Es ging ihm weniger um den persönlichen Aufstieg, als vielmehr um die Stärkung der Union. Allerdings wusste sie besser als jeder andere, was eine plötz liche Zurschaustellung militärischer Macht auslösen konnte. Wenn es nach dem Kalfaktor für Wissenschaften gegangen wäre, hätte man die Existenz der Sphärenräder erst nach dem Bau einer ganzen Flotte publik gemacht. Im Zusammenspiel mit der jahrhundertelan gen, von der ZGU gepflegten Isolation wäre dadurch eine fatale Bot schaft nach außen geschickt worden. Die Milchstraße war mehr denn je ein Pulverfass – und Ponter Nastase schien bereit zu sein, mit einer brennenden Fackel danach zu werfen. Neife Varidis hatte mit hohem Risiko agiert. Die Informationen, die sie einigen USO-Agenten auf Rudyn zuspielte, waren innenpoli tischer Sprengstoff gewesen. Wenn jemals herauskam, dass sie die Information bezüglich der Sphärenräder gestreut hatte, war ihre Karriere beendet. Nastase ahnte etwas, aber er konnte nichts bewei sen. Sie hatte alle Spuren sorgfältig beseitigt. Dennoch hatte der Kal
faktor für Wissenschaften damit begonnen, einige Getreue um sich zu scharen und eine Opposition aufzubauen. Er war behutsam vor gegangen, beinahe ängstlich, doch dann, vor etwa zwei Wochen, hatte sich sein Verhalten geändert. Die Nachforschungen der Geheimdienstchefin waren allesamt im Sande verlaufen. Etwas war geschehen, etwas, das Ponter Nastase offenbar davon überzeugt hatte, dass der Zeitpunkt nun gekommen war, aktiv zu werden. Nicht zu wissen, was das war, bereitete ihr schlaflose Nächte, weshalb sie der Einladung Nastases nur zu gern gefolgt war. Nun war sie sicher, dass der Kalfaktor etwas plante. Deshalb hatte sie auch kurz nach ihrer Rückkehr ins OPRAL stillen Alarm ausgelöst. Mehr als 30.000 Mitarbeiter im Außendienst, wie die Agenten des Geheimen Kalkulationskommandos intern genannt wurden, standen gewissermaßen Gewehr bei Fuß. Damit verbunden waren eine allgemeine Urlaubssperre sowie die Pflicht zu regelmä ßiger Berichterstattung sofern es die Situation erlaubte. In den kom menden Stunden würde die Datenzentrale viel Arbeit bekommen. Doppel- und Dreifachbesetzungen der Netzpulte waren bereits an geordnet. Als der Interkom summte, zuckte Neife Varidis unwillkürlich zu sammen. Sie war nervös, und das ärgerte sie mehr als alles andere. Sie hatte nie viel von der oft zitierten weiblichen Intuition gehalten, sondern sich stets auf harte Fakten und die Einschätzungen ihrer Be rater verlassen. Diesmal jedoch spürte sie, dass sich etwas zusam menbraute, sich wie eine dunkle Wand heran schob. »Kapitän Sente Maluba ist wieder hier«, meldete einer ihrer Assis tenten, als sie die Sprechverbindung aktivierte. »Er lässt sich nicht abwimmeln. Soll ich ihn entfernen lassen, Erste Kalfaktorin?« »Nein«, entschied Neife Varidis nach kurzem Nachdenken. »Füh ren Sie ihn in mein Büro. Ich kann ein wenig Abwechslung gebrau chen.«
Trilith Okt Vergangenheit Die Lähmung war nach und nach von ihr abgefallen. Irgendwann konnte sie sich aufsetzen und ihre tauben Glieder massieren. Er staunlicherweise tat ihr Beinstumpf kaum noch weh. Der Schmerz war einem unangenehmen Jucken gewichen. Sie verzichtete darauf, den Verband abzunehmen und nachzusehen. Es hätte nichts geän dert. Ihre Krücke fand Trilith einige Meter entfernt auf dem Boden lie gend. Der Vorfall mit den Schmetterlingen hatte sie Zeit gekostet. Zu viel Zeit. Aber sie lebte und konnte ihren Weg fortsetzen. Wenn sie richtig schätzte, blieben ihr noch einige Stunden Tageslicht, dann musste sie sich einen halbwegs sicheren Platz für die Nacht suchen. Im Dunklen durch den Urwald zu laufen, wäre Selbstmord gewe sen. Obwohl sie keinen Durst verspürte, zwang sie sich, einige Schlu cke Wasser zu trinken, das sich in einem großen Blatt gesammelt hatte. Sie probierte einige Wurzeln, die jedoch bitter schmeckten. Auch ein paar rote Beeren, die sie von einem dornenbewehrten Strauch pflückte, erwiesen sich als untauglich. Ihr Saft brannte wie Feuer auf der Zunge. Kurz darauf lichtete sich der Dschungel ein wenig. Der Unter grund wurde steinig, die großen Bäume spärlicher. Trilith beobach tete einen Schwarm papageienartiger Vögel, deren Schreie auf un heimliche Weise menschlich klangen. Die Tiere hatten eine einsam stehende Baumgruppe mit kuppelförmigen Wipfeln besetzt und dort ihre Nester gebaut. Vor einem flachen, wie eine Rampe in die Höhe führenden Fels plateau machte die Frau Halt, um sich auszuruhen. Aus einer Spalte
plätscherte kühles Wasser. Sie ließ es sich über die Handgelenke lau fen, wusch sich das Gesicht. Trilith Okt war müde, doch sie durfte jetzt nicht schlafen, noch nicht. So viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Warum hatte das Diskusschiff geschossen und sie verstümmelt? Wenn man sie als Kämpferin ausgebildet hatte, war es dann nicht töricht, sie derart zu schwächen, ihr ein bleibendes Han dikap zuzufügen? Auch wenn sie die Prüfung bestand – ihr Bein war für immer verloren. Über die Identität desjenigen, der hinter allen Dingen steckte, hatte sie schon so oft gegrübelt. Natürlich konnte sie nicht sicher sein, dass es eine einzelne Person war, die sie von Kindesbeinen an über wacht und gelenkt hatte, aber das Bild des großen Unbekannten, der grauen Eminenz im Hintergrund, hatte sich in ihrem Verstand fest gesetzt und war nicht mehr zu entfernen. Wer waren ihre Eltern? Lebten sie noch? Gab es noch andere wie sie, von Andemir Pes und Lalia Bir abgesehen? Doch vor allem quälte sie die eine entscheiden de Frage nach dem Warum. Warum trieb jemand einen derart im mensen Aufwand über einen so langen Zeitraum hinweg? Ein Klappern, einige Meter weiter, wo der Fels in eine schmale Ge röllhalde überging, ließ Trilith hochfahren. Beinahe wäre sie einge nickt. Stöhnend stand sie auf und zog das Vibro-Messer aus dem Gürtel. Bislang waren ihr noch keine größeren Tiere begegnet, doch das, was sich da gerade unüberhörbar auf sie zu bewegte, klang ziemlich groß. Es schob sich schnaufend und prustend den Abhang hinauf und musste jeden Augenblick in ihrem Blickfeld auftauchen. Trilith Okt humpelte einige Schritte rückwärts. Je mehr Distanz sie zwischen sich und den Gegner brachte, desto mehr Zeit blieb ihr, auf dessen möglichen Angriff zu reagieren. Das, was sich dann jedoch schwerfällig über die Kuppe schob, sah auf den ersten Blick alles andere als gefährlich aus. Es erinnerte Tri lith ein wenig an einen überdimensionierten, feisten Wurm. Der in schwabbeligen Speckfalten liegende Körper war fast zwei Meter lang und endete in einem dünnen, beweglichen Schwanz. Der Kopf war eine behaarte Kugel mit zwei winzigen Knopfaugen und einem
von zahlreichen weißlich glänzenden Warzen umringten Maul. Er pendelte aufgeregt hin und her und schleuderte dabei Schleim- und Speichelfetzen in alle Richtungen. Trilith hob ihr Messer und schaltete vorsichtshalber die VibroFunktion ein. Sie würde sich nicht noch einmal von einem harmlo sen Äußeren täuschen lassen. Die Erfahrung mit den Schmetterlin gen hatte gereicht, um ihr bewusst zu machen, dass der Dschungel kein Ort war, an dem man unachtsam sein durfte. Das Tier schob sich auf sechs kurzen Beinchen vorwärts, die fast komplett in seiner Körpermasse verschwanden. Sein Kopf hielt jetzt in der Pendelbewegung inne, und die Knopfaugen fixierten die jun ge Frau neugierig. Dann riss der Riesenwurm das Maul auf und stieß ein dröhnendes »Pööör! Pööör!« hervor. Trilith war so über rascht, dass sie zurückwich, das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Auch in die umliegenden Baumkronen kam Bewegung, als ein paar Vögel mit empörtem Kreischen das Weite suchten. Der Wurm hatte alles interessiert beobachtet, schnaufte geräuschvoll und kroch weiter auf Trilith zu. Sie rappelte sich wieder hoch. Der Wurm stoppte. »Bleib mir vom Leib«, sagte sie laut. Das Tier hob den Oberkörper, bis sich der haarige Schädel auf einer Ebene mit Triliths Kopf be fand. Die fülligen Lippen schmatzten und schlürften. Tief aus den Eingeweiden des Wurms drang ein lang gezogenes Knurren. »Wenn du Hunger hast«, rief Trilith und hob ihr Messer ein Stück höher, »bist du bei mir an der falschen Adresse. Verschwinde! Hier gibt es für dich nichts zu holen.« Das Jucken in ihrem Beinstumpf wurde unerträglich, und fast wünschte sie sich die Schmerzen zu rück. »Pör?« Sie hätte wetten können, dass die seltsame Lautäußerung des Wurms wie eine Frage klang. Trilith schob ihr Messer in die Scheide, drehte sich um und begann, das Felsplateau entlangzugehen. Als sie über die Schulter zurückblickte, hatte sich der Riesenwurm nicht
von der Stelle gerührt. Vermutlich hatte er eingesehen, dass sie we der Nahrung noch Feind war. Es wurde nun rasch dunkel, und der Dschungel wich weiter zu rück. Ein schwacher Wind trieb feine Regenschleier über die nur spärlich mit Büschen und Bäumen bestandene Landschaft. Es war an der Zeit, einen Unterschlupf zu finden. Mit der hereinbrechenden Nacht veränderten sich auch die Ge räusche um sie herum. Viele der tagaktiven Tiere zogen sich in ihre Höhlen, Löcher, Nester und sonstigen Behausungen zurück. Dafür kamen nun die Spezies zum Zuge, deren Leben sich in der Dunkel heit abspielte. Trilith nahm bald schon ein fernes Rauschen wahr, das mit jedem Schritt deutlicher wurde. Es gab ihr neuen Mut, denn das mussten der Fluss und die Wasserfälle sein, die sie mit der GA HENTEPE überflogen hatte. Sie war also auf dem richtigen Weg. Wenn sie den Fluss überquerte, hatte sie beinahe die Hälfte der Stre cke geschafft. Der Regen wurde dichter, und vor die untergehende Sonne scho ben sich pechschwarze Wolken. Trilith fand es erstaunlich, wie schnell sich das Wetter änderte. Sie war längst bis auf die Knochen durchnässt. Der auffrischende Wind ließ sie frösteln, zumal auch die Temperatur um mindestens zehn Grad Celsius gefallen war. Am liebsten hätte sie sich in eine schützende Felsnische gekauert. Doch sie kämpfte, wie sie bereits viele Male zuvor gekämpft hatte. Gegen die Kälte, den Hunger, die Schmerzen und die Hoffnungslosigkeit. Es war ein einsamer Kampf, ein Kampf, der sie innerlich auszehrte, denn ihr war klar, dass sie ihn eines Tages verlieren würde. Schließlich hatte sie Glück. Sie stieß auf einen Felsvorsprung, der ihr einigermaßen Deckung bot. In den folgenden beiden Stunden schleppte sie kleinere Felsbrocken und abgebrochene Äste heran, verklebte sie mit feuchtem Erdreich und schuf so eine schützende Mauer. Den Versuch, durch das Aufeinanderschlagen zweier Steine ein Feuer zu entzünden, gab Trilith schnell wieder auf. Zum einen fand sie kein trockenes Holz, zum anderen pfiff der Wind trotz Fels
vorsprung und Schutzmauer immer wieder mit scharfen Böen in ihre Notunterkunft hinein. Die Träume in dieser Nacht waren wirr und beklemmend. Zwei mal wachte Trilith zitternd auf, lauschte dem Pfeifen des um die Fel sen fegenden Sturms und dachte an die wenigen glücklichen Tage in ihrem Leben. Einmal glaubte sie ein undeutliches »Pööör!« zu ver nehmen, aber das konnte auch nur Einbildung gewesen sein.
Am nächsten Morgen hingen Nebelschleier über der Landschaft. Die erwachende Fauna des nahen Dschungels veranstaltete einen Hei denlärm. Trilith streckte die steifen Glieder. Ihr Rücken schmerzte ob der harten Unterlage, und das Jucken des Beinstumpfs hatte sich noch einmal verstärkt. Das Knurren ihres Magens ignorierend, schöpfte sie Wasser aus einer Mulde im felsigen Boden. Verdursten würde sie auf diesem Planeten garantiert nicht, denn wenn es hier etwas im Überfluss gab, dann Wasser. Nach einer flüchtigen Morgentoilette nahm sie ihren Marsch von neuem auf, überquerte die Ebene und erreichte schon bald wieder den Rand des Dschungels. Sie wollte gerade in das Unterholz ein dringen, da bemerkte sie aus den Augenwinkeln etwas Ungewöhn liches. Ohne ihre erstaunliche Sehfähigkeit wäre ihr die seltsame Ste information wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Die sechs Haufen aus aufgeschichteten Felsbrocken waren offensichtlich uralt, von Pflanzen überwuchert und teilweise eingefallen, doch in einem war sich Trilith absolut sicher: Sie konnten unmöglich auf natürliche Weise entstanden sein! Je mehr sich Trilith den Hügeln näherte, desto offenkundiger wur de es, dass es das Werk eines intelligentes Lebewesen sein musste. Ein Areal von etwa zehn mal zehn Metern war mit mehreren Reihen Steinen abgesteckt. Teilweise hatte man die Brocken tief in den Un tergrund eingegraben, um ihnen Halt zu geben. Wind und Regen hatte ihnen zwar im Lauf der Jahre zugesetzt, doch die einstmals be
absichtigte Ordnung war trotzdem erhalten geblieben. Die sechs Haufen waren im exakten Abstand zueinander errichtet. Drei im oberen und drei im unteren Abschnitt des Feldes. Trilith ging in die Hocke und verlagerte das Gewicht ihres Körpers auf das rechte Knie. Ihre Finger strichen beinahe zärtlich über die raue Oberfläche der Felsbrocken. Mit zitternden Fingern schob Trilith einige Steine beiseite und leg te so eine flache Felsplatte frei, in die jemand einen Namen geritzt hatte. Die Buchstaben waren verwittert und kaum noch zu entzif fern. Dennoch erkannte sie die Schrift sofort. Sie gehörte zu einer der vielen Sprachen, die sie im Rahmen ihrer Hypnoschulungen ge lernt hatte. Es war ein auf Basis des Arkonidischen abgeleitetes Idi om, das die Mehandor, auch Springer oder Galaktische Händler ge nannt, benutzten. Trilith Okt hob die Felsplatte hoch und wischte sie mit dem Ärmel ihrer Kombination sauber. »D … o …«, las sie leise. »Dor … Dorch … Dorchante.« Und darunter in kleinerer Schrift: »Geliebte Tochter und Schwester.« An zwei der Grabstellen waren die Inschriften so stark beschädigt, dass Trilith sie nicht mehr lesen konnte. Die übri gen drei lauteten Kaltechte, Archimpe und Druchima – mit jeweils der gleichen Unterzeile. Was war hier einst geschehen? Die GAHENTEPE hatte während des Anflugs die Havarie eines Springerschiffes erwähnt. Waren das die Überreste der Besatzung? Nein. Die Positronik hatte unter ande rem auch gesagt, dass der Raumer der Galaktischen Händler eine ty pische Springerwalze von vierhundert Metern Länge gewesen war. Diese hatten üblicherweise mindestens zweihundert Besatzungsmit glieder. Die junge Kämpferin atmete tief durch. Welche Tragödien sich auf dieser Welt auch immer abgespielt haben mochten – sie waren ein halbes Jahrtausend alt und würden ihr beim Erreichen ihres Ziels nicht helfen können. Sie musste weiter. Und wenn es über Dorchan te, Kaltechte, Archimpe, Druchima und die beiden namenlosen Grä
ber eine erzählenswerte Geschichte gab, dann würde sie die GA HENTEPE ganz sicher erzählen. Sobald Trilith wieder an Bord war!
Das Rauschen übertönte bereits alle anderen Geräusche des Dschun gels. Noch war der Fluss nicht zu sehen, doch er konnte nicht mehr weit entfernt sein. Die Luft war von Milliarden winziger Tröpfchen geschwängert, und Trilith musste höllisch aufpassen, um auf dem schlüpfrigen Untergrund nicht auszurutschen. Auf ihrem Weg durch den Urwald hatte sie mehrfach die Früchte einiger Bäume und Sträucher probiert, doch es war nichts Genießbares dabei gewe sen. Im Gegenteil. Bei einem dieser Versuche hatte sie offenbar eine für ihren Organismus ungeeignete Substanz zu sich genommen, denn kurze Zeit später bekam sie furchtbare Magenschmerzen und musste sich übergeben. Dann waren die Muskelkrämpfe gekom men. Fast zwei Stunden hatte sie am Boden gelegen und mit knir schenden Zähnen darauf gewartet, dass sie vorübergingen. Der Gedanke an den Fluss hielt sie aufrecht. Er war ein konkretes Ziel, ein Markstein, an den sie sich klammern konnte. Was danach kam, daran dachte sie nicht. Daran durfte sie nicht denken. Und so bahnte sie sich ihren Weg, mal mit bloßen Händen, mal mit Hilfe ihres Vibro-Messers. Eine Bewegung folgte der nächsten, mechanisch, gleichförmig, die Zukunft nie mehr als einen Atemzug entfernt. Trilith Okt wusste, was ein trainierter Körper wie der ihre zu ertragen imstande war, was er leisten konnte. Schmerzen waren irrelevant! Erschöpfung war bedeutungslos. Der wühlende Hunger hatte keine Macht über sie. Sie versetzte ihren Geist in einen Zu stand innerer Isolation, so wie es ihr Romeus Abrom während des All-Kampf-Trainings beigebracht hatte. Ihr Körper existierte nur noch als Anhängsel. Er empfing Befehle in Form von Nervenimpul sen und führte sie aus. Der reißende Strom tauchte so plötzlich vor ihr auf, dass sie beina he hineingestürzt wäre. Sie erwachte wie aus einem tiefen Traum.
Das Donnern der gewaltigen Wassermassen schmerzte in den Oh ren, und der Fluss schoss in einem solchen Tempo vorbei, dass die Frau sogar einen leichten Sog verspürte. Trilith beeilte sich, einige Meter landeinwärts zu humpeln. Dann erst fand sie Zeit, sich zu fra gen, wie sie dieses Hindernis überwinden sollte. Schwimmen war unmöglich. Auch der Bau eines Floßes schied aus. Ihre vage Hoff nung, den Ozean auf diese Weise erreichen zu können, hatte sich längst zerschlagen. Selbst ein modernes Boot wäre in den tobenden Fluten rettungslos verloren gewesen. Sie konnte dem Fluss stromabwärts folgen und hoffen, irgendwo eine Möglichkeit zum Übersetzen zu finden, doch auch das war kaum mehr als ein frommer Wunsch. Der Strom war mindestens fünfzig Meter breit. Es erschien ihr höchst unwahrscheinlich, dass er seine Dimension in erreichbarer Entfernung nennenswert verringer te. Es blieb also nur der Wasserfall. Er war die einzige logische Lö sung des Problems. Die GAHENTEPE hätte sie nicht auf die Reise geschickt, wenn es nicht eine Möglichkeit gab, den vereinbarten Treffpunkt zu erreichen. Trilith Okt benötigte kaum mehr als eine halbe Stunde, um die ers ten Ausläufer des Wasserfalls zu erreichen. Der Fluss schwoll zu ei nem kochenden Moloch an. Stromschnellen brachen sich an einigen aus dem tosenden Wasser ragenden Klippen und stürzten sich dann über die Kante eines Felsabbruchs mehrere hundert Meter in die Tiefe. Unter anderen Umständen hätte die Frau dieses phantastische Schauspiel genossen, doch in ihrer Lage stellten die ungebändigten Naturgewalten nichts weiter als eine zusätzliche Hürde dar, die sie überwinden musste. Ein lautes Krachen hinter ihr ließ sie herumfahren. Angestrengt spähte sie in den Dschungel hinein, konnte jedoch nichts erkennen. Trilith schloss für ein paar Sekunden die Augen. Nichts. Nur das Rauschen des Flusses. Als sie die Augen wieder öffnete, erfasste sie ein heftiges Schwindelgefühl. Schwer atmend ließ sie sich zu Boden sinken. Vielleicht waren das die Nachwirkungen der zuvor genosse nen Früchte. Vielleicht forderten aber auch die Anstrengungen des
vergangenen Tages ihren Tribut. Vorsichtig arbeitete sich Trilith bis unmittelbar an die Stelle heran, an der das Wasser über die Kante des Flussbetts brandete. Von dort stürzte es etwa fünf Meter tief und traf dann auf eine Felsstufe. Die Felsen standen relativ dicht beieinander, und normalerweise hätte es sich die junge Frau durchaus zugetraut, das andere Ufer kletternd zu erreichen. In ihrem gegenwärtigen Zustand war sie sich da nicht mehr so sicher. Es war voraussichtlich einfacher, wenn sie nach ei nem halbwegs gangbaren Abstieg suchte und den Fluss am Fuß des Wasserfalls überquerte. Erneut ertönte ein Krachen aus dem Dschungel hinter ihr. Es klang wie das Brechen von Ästen – ziemlich kräftigen Ästen. Trilith kroch von der Abbruchkante weg und duckte sich hinter eine von Moos überwucherte Baumwurzel. Ein handlanges Reptil mit spitzer Schnauze, grün gemustertem Stirnkamm und langer, roter Zunge starrte sie aus großen, runden Augen an und nahm dann Reißaus. Trilith konnte ungefähr zehn Meter in den Urwald hineinsehen, danach wurde die Vegetation zu einer grünen Wand. In diese kam jetzt heftige Bewegung. Blätter und Zweige wurden zerfetzt. Kleine re Bäume brachen knackend und wurden zur Seite gedrückt. Etwas rückte aus dem Dschungel auf sie zu – und Trilith wollte eigentlich nicht wissen, was es war. In diesem Moment hetzte ein Geschöpf aus dem Unterholz, das sie nur zu gut kannte. Der Riesenwurm, der ihr auf dem Felsplateau be gegnet war, entwickelte eine erstaunliche Geschwindigkeit, als er seinen fetten Leib über den Waldboden schob. Trotzdem war er nicht schnell genug. »Pööör! Pööör!«, schrie er klagend. Dann brach das Verhängnis mit der Wucht einer Flutwelle über ihn herein.
Morchete Vergangenheit 84 Tote! Von fünfzehn weiteren Besatzungsmitgliedern fehlte jede Spur. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren sie in der Reaktorexplosi on gestorben, und die ungeheure Hitze hatte ihre Körper einfach aufgelöst. Fünf der 41 Verletzten lagen im Sterben. Wenn Karsul, der einzige überlebende Springer mit zumindest rudimentären medizinischen Kenntnissen Recht behielt, würden es weitere acht Männer nicht schaffen. Kurz: Die Notlandung auf der Dschungelwelt war zu ei nem Desaster geworden! Rund um die Absturzstelle herrschte auch zwei Tage nach der Ka tastrophe noch immer das Chaos. Die Löscharbeiten waren nach wie vor nicht abgeschlossen; es fehlte an Personal und entsprechendem Gerät. Die meisten Männer hatten bis jetzt ohne Schlaf durchgear beitet, um unersetzliche Ausrüstung und Vorräte in Sicherheit zu bringen. Sie konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Zu al lem Überfluss hatte man mitten in der ersten Nacht plötzlich Klopf zeichen gehört. Sie kamen aus einem schwer zugänglichen Bereich der vorderen Laderäume. Die MORCH I hatte eine breite Schneise durch den Dschungel gepflügt und dabei eine Menge Erdreich mit sich gerissen. Ihr Bug – und damit auch die vorderen Laderäume – steckten tief in jenem tonnenschweren Erdhügel, den die 400-MeterWalze auf ihrem Höllenritt vor sich aufgetürmt hatte. Morchete hatte vier ihrer Leute für die Rettungsexpedition abge stellt, trotz der wenigen Überlebenschancen. Jede andere Entschei dung hätte zu einer Meuterei geführt. Die Patriarchin wusste, dass jeder einzelne ihr die Schuld für die Havarie gab, und wenn sie ehr lich war, dann konnte sie das gut verstehen. Eine Patriarchin war
nicht nur für das Wohl und Wehe ihrer Familie, sondern auch für das ihrer Crew verantwortlich. Die Erfolge fielen ebenso auf sie zu rück wie die Fehlschläge. Als die Klopfzeichen am folgenden Tag verstummten, arbeiteten die Springer dennoch weiter. Immer tiefer trieben sie einen Tunnel in die Erde, bis sie auf die Außenhülle der MORCH I trafen. Sie ver geudeten wertvolle Energie, um sich durch die zentimeterdicken Ar konstahlplatten zu schweißen, und als sie endlich am Ziel waren, konnten sie nur noch die Leichen ihrer Kameraden bergen. Die Männer waren qualvoll erstickt, und die Angst, die sie in den letzten Stunden ihres Lebens empfunden hatten, hatte sich unauslöschlich in ihre Gesichter gebrannt. Mit der Zeit entstand ein primitives Lager. Man errichtete proviso rische Hütten, baute einen Trinkwasserspeicher, der sich hauptsäch lich von aufgefangenem Regen speiste und organisierte Teams, die die Umgebung erforschten, nach alternativen Nahrungsquellen und möglichen Gefahren absuchten. In einem vom Feuer fast völlig zer störten Magazin wurden ein paar Säcke Getreide sichergestellt. Eini ge Männer versuchten daraufhin, die Körner auszusäen, doch die Saat wuchs nicht an. Die Samen verfaulten in der viel zu feuchten Erde. Auch ansonsten rissen die Hiobsbotschaften nicht ab. Fast täglich starb einer der Verletzten. Es gab keine Medikamente; zumindest kam man nicht an sie heran. An eine Reparatur der MORCH I war nicht zu denken. Ein kurzer Blick auf das Konglomerat aus ge schmolzenem Metall und ineinander verkeilten Trümmerstücken genügte, um zu begreifen, dass sich dieses Schiff nie mehr von der Oberfläche der Dschungelwelt erheben würde – zumindest nicht aus eigener Kraft. Es gelang, zwei halbwegs intakte Fluggleiter aus den kläglichen Überresten der Hecksektion zu bergen, doch eine In standsetzung würde Monate in Anspruch nehmen, sofern sie über haupt möglich war. Was die Kommunikation anging, funktionierte wenigstens noch
der Normalfunk. Die Hyperfunkanlage war allerdings vollständig zerstört. Da Fauron – Morchete hatte den Planeten in einem Moment sentimentaler Resignation nach ihrem letzten Ehemann getauft – weit abseits der üblichen Handelsrouten lag, würde ihr Notruf wohl erst in ein paar Jahrhunderten aufgefangen werden. Wer an Wunder glauben wollte, der mochte sich an die Möglichkeit klammern, dass jemand den Strukturschock anmaß, den die MORCH I bei ihrer letz ten Transition erzeugt hatte. Doch selbst wenn das geschah, war das noch lange keine Garantie dafür, dass sie gefunden wurden. Zwar setzte sich der Linearantrieb in der Milchstraße mehr und mehr durch, doch noch immer gab es Zehntausende von Raumschiffen, die sich der bewährten Sprungtechnik bedienten. Strukturschocks gehörten zu den Alltäglichkeiten, die man registrierte und dann in irgend einer Datenbank ablegte. In der vierten Woche nach dem Absturz kamen bei einem Angriff saurierähnlicher Tiere vier Männer ums Leben. Morchete sah sich gezwungen, die Wachen zu verdoppeln und so noch mehr der ohne hin schon knappen Arbeitskräfte von anderen Projekten abzuziehen. Eine Woche später waren einige völlig übermüdete Männer beim Abklemmen eines Notreaktors unvorsichtig. Der entstehende Über schlagblitz tötete einen weiteren Springer. Doch der Funke, der das Pulverfass schlussendlich zum Explodieren brachte, war ein eher ne bensächliches Ereignis. In der 51. Nacht der Havarie schlug einer der Wachposten Alarm. Grund war die ziemlich kleinlaute Druchima, die man vor einer mit Holzbrettern abgedeckten Grube abseits des Lagers vorfand. Dort hatte sie eine erkleckliche Anzahl Konzentratriegel, sich beim Öff nen selbst erhitzende Konservendosen, Trockenfleisch und andere Kleinigkeiten gehortet. Morchete hatte alle geborgenen Nahrungs mittelvorräte direkt nach dem Absturz in einer ausgebauten Kabine deponieren lassen. Den Kodeschlüssel trug sie an einer Kette um den Hals. Druchima musste ihn ihr gestohlen und sich heimlich be dient haben. Die restliche Besatzung stellte die Frauen mit gezoge nen Energiewaffen vor die Wahl, das Lager für immer zu verlassen
oder sofort zu sterben. Da die Patriarchin längst die Autorität bei den Besatzungsmitgliedern verloren hatte, versuchte sie erst gar nicht, zu protestieren. Sie bat um eine minimale Ausrüstung, eine Bitte, die ihr gewährt wurde. Am 52. Tag der Havarie verließen Morchete und ihre sechs Töch ter das Wrack der MORCH I. Die 37 verbliebenen Besatzungsmit glieder blickten der kleinen Gruppe nach, als sie in den nahen Ur wald eindrang. Sie alle hätten ihr Leben darauf verwettet, dass sie ihre Patriarchin nie mehr wiedersehen würden – und sie alle hätten diese Wette verloren.
Es dauerte nicht lange, da waren die verfügbaren Vorräte aufge braucht. Durst litten die sieben Frauen keinen, doch der Hunger raubte ihnen schier den Verstand. Schließlich waren sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit ihm konfrontiert. Morchete hörte sich das Jammern und Wehklagen ihrer Töchter einige Stunden lang an, bis ihre Geduld am Ende war. Sie drehte sie sich um, lächelte kühl, hob beide Arme und sprach: »Die nächste von euch, die mir sagt, dass sie Hunger hat oder friert oder dass ihr der Rücken weh tut, werde ich eigenhändig an den nächsten Baum binden und zurücklassen.« Kaltechte wollte aufbegehren, doch Mimarche legte ihr warnend eine Hand auf die Schulter. Von da an herrschte Ruhe. Irgendwann erreichten sie einen Fluss, den sie am Fuß eines kas kadenartigen Wasserfalls überquerten. Am Rand einer felsigen Ebe ne schlugen sie ihr Camp auf, das aus ein paar notdürftig befestig ten Plastikplanen und aufgetürmten Felsbrocken bestand. Keine von ihnen hatte jemals in freier Natur überleben müssen. Niemand wusste, was zu tun war, und so drängten sie sich eng aneinander und ließen ihrem Selbstmitleid und den Tränen freien Lauf. Ledig lich Morchete hockte ein wenig abseits auf dem harten Untergrund und starrte ins Leere.
Druchima war die erste. Vier Tage nach der Vertreibung aus dem Lager, das ihnen trotz der dortigen Verhältnisse inzwischen wie das verlorene Paradies erschien, hörte das Herz der 240 Kilogramm schweren Frau auf zu schlagen. Sie fiel einfach um. Archimpe und Rucharda begannen mit ein paar halbherzigen Wiederbelebungsver suchen, gaben aber schnell auf. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätten sie die Schwester an Ort und Stelle liegen gelassen. Insgeheim machten sie ihr Vorwürfe, denn schließlich war sie es gewesen, die die Vorräte gestohlen und sie dadurch in diese missliche Lage ge bracht hatte. Die Patriarchin bestand jedoch darauf, dass sie Druchi ma ins Camp brachten. Dort hoben sie eine Grube aus, legten sie hinein und bedeckten sie mit Steinen. Gewöhnlich vertrauten die Springer ihre Verstorbenen den Kon vertern ihrer Raumschiffe an. Auf diese Weise wurden sie zu einem Teil des Energiekreislaufs und gaben der Gemeinschaft im Tod et was von dem zurück, was sie zuvor am Leben erhalten hatte. Den Brauch, Tote in der Erde zu vergraben und sie dort verfaulen zu las sen, wie es beispielsweise die Terraner taten, sahen viele Galaktische Händler als etwas Barbarisches an. Doch hier auf Fauron blieb Mor chete keine Wahl. Auf keinen Fall sollte der Leib ihrer Tochter von Raubtieren geschändet werden. Unter ihrem Felsenhügel war Dru chima vor den Nachstellungen der beutegierigen Planetenbewohner geschützt. Mimarche und Dorchante blieben die meiste Zeit im Lager. Sie hatten jeglichen Antrieb verloren und verfielen oft in stundenlanges dumpfes Brüten. Kaltechte, Archimpe und Rucharda bewahrten sich wenigstens einen Rest von Lebenswillen. Sie bauten die bescheidene Unterkunft nach besten Kräften aus, sammelten Feuerholz und durchstreiften die nähere Umgebung auf der Suche nach Essbarem. Viel fanden sie nicht, doch es reichte, um zumindest nicht zu ver hungern. Morchete dagegen war nur selten anwesend. Sie durchstreifte die Gegend, manchmal war sie tagelang verschwunden. Ihren Töchtern gab sie keinerlei Auskunft darüber. Um Energie zu sparen, hatte sie
die Leistung ihres Hörgeräts auf ein Minimum heruntergeregelt. Auch wenn sie nicht annahm, dass sie Fauron noch einmal lebend verließ, so mochten ihr durchaus noch ein paar Monate, vielleicht sogar Jahre bleiben. Die Patriarchin wusste selbst nicht genau zu sa gen warum, doch seit ihrer Verbannung fühlte sie sich auf seltsame Weise frei. Bei ihren Ausflügen in den Dschungel spürte sie unge ahnte Kräfte durch ihren Körper fließen, und mit jedem Kilo Ge wicht, das sie verlor, gewann sie ein Stück ihrer einstigen Ent schlusskraft zurück. Um ihre Töchter kümmerte sie sich nicht mehr. Natürlich war es zum Teil ihre Schuld, dass die Mädchen nie erwachsen geworden waren. Die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, sich von den Eltern abzunabeln und eine Existenz aufzubauen, war in der Regel ein schmerzhafter Prozess, doch er war notwendig, um eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Bei den Springern galt die Familie viel, doch jeder Patriarch achtete darauf, dass seine Nach kommen die Gelegenheit erhielten, sich zu beweisen. Im Idealfall gründeten sie irgendwann eine eigene Sippe, erbten vom Vater ein paar Raumschiffe und waren dann auf sich allein gestellt. Auch Morchete hatte einmal derlei Pläne geschmiedet und davon geträumt, dass eine oder zwei ihrer Töchter die Tradition der weibli chen Patriarchen fortführen würden. Der Traum war – wie so vieles andere – mit Faurons Tod geplatzt. Sie hatte nie darüber nachge dacht, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn es die Explosion im Maschinenraum der MORCH I nicht gegeben hätte. Damals hatte sie vergessen wollen, und der Alkohol hatte das übrige getan. Die Kara wane war ohne sie weitergezogen. Nun, da sie neben ihrem geliebten Mann auch eine Tochter verlo ren hatte, ließ sie ihr Leben Revue passieren. Was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Sie hatte den Zeitpunkt zur Kursänderung ver passt, war an sämtlichen Funkbojen vorbeigerast. Was ihr jetzt noch blieb, war die Reue und der bittere Geschmack der Erkenntnis, dass sie ihre Chancen vertan hatte. Sie würde nichts zurücklassen als die schale Erinnerung an bessere Tage. Ihr Name würde in hundert Jah
ren bestenfalls noch in einigen Archiven auf ein paar alten Fracht manifesten zu lesen sein. Die Zeit war eine heimtückische Freundin. War man jung, gaukelte sie einem die Unsterblichkeit vor, doch wenn man älter wurde, ließ sie keinen Zweifel daran, dass man ei ner Betrügerin auf den Leim gegangen war. Morchete nahm der Zeit nichts übel. Schließlich hatte sie sich nur zu gerne auf ihre süßen Schmeicheleien eingelassen. Erst als sie Fau ron kennen lernte, war das anders geworden. »Wenn du in den Tag hineinlebst«, hatte er immer gesagt, »wirst du die Zeit nicht bemer ken. Doch eines Tages wird sie alles sein, was du noch hast.« Sie hat te diese Sätze nie wirklich verstanden. Vielleicht war sie zu jung, zu verliebt oder zu glücklich gewesen. Statt dessen war sie ihm um den Hals gefallen, hatte ihn mit ihren Küssen erstickt und ihn ihren klei nen Philosophen genannt. Jetzt, da sie sich allein durch den Dschun gel kämpfte, die Nächte im Freien verbrachte und sich von Beeren und Wurzeln ernährte, begriff sie, was Fauron gemeint hatte. Zeit war neutral. Sie bewertete oder kritisierte nicht, gab kein Urteil ab. Sie war einfach da, und es war ihr egal, was man mit ihr anstellte. Auf ihren Streifzügen hatte sich Morchete teilweise viele Kilome ter vom Camp am Rand der Felsebene entfernt. Sie war dem Fluss stromaufwärts gefolgt und auf ein Gebiet gestoßen, in dem die Bäu me besonders dicht standen und kaum Licht zum Boden durchdrin gen ließen. Je weiter sie vorankam, desto häufiger traf sie auf eine schwarze, handtellergroße Käferart, die sie entfernt an arkonidische Asseln erinnerte. Der Körper bestand größtenteils aus einer ovalen, fein gefurchten Chitinschale, unter der sechs Beinpaare hervorlug ten. Zwei kurze und zwei lange Fühler am Kopfende befanden sich in ständiger Bewegung. Die Patriarchin taufte die Tiere auf den Namen Tix, nicht zuletzt aufgrund der klickenden Geräusche, die sie während des Laufens erzeugten. Wenn sie ihre Hörhilfe, deren Energiezelle beinahe er schöpft war, auf volle Leistung stellte, klang es fast so, als befände sie sich in einer riesigen Halle voller antiker Uhren. Dann glaubte sie im Hintergrund ein leises Singen zu vernehmen, eine geheimnisvol
le Melodie, schöner als alles, was sie jemals zuvor gehört hatte, doch das Kratzen und Knacken, das die fast leeren Batterien schon nach kurzer Zeit in den Empfängern erzeugten, ließ sie das Gerät schnell wieder runterregeln. Dennoch fiel ihr auf, dass es in diesem Teil des Dschungels erstaunlich still war. Das gewohnte Geräuschinferno des Urwalds war hier auf ein gelegentliches Zwitschern oder ein einsames Pfeifen reduziert. Die Tix faszinierten Morchete über alle Maßen. Zu vielen Tausen den lebten die Tiere in großen Nestern, die sie unter Baumwurzeln oder in Erdhöhlen bauten. Die Weibchen trugen ihr Gelege unter ei ner Ausbuchtung des Panzers nahe der Körpermitte. Kam es zu ei ner Befruchtung, töteten sie das Männchen und fraßen es mit Aus nahme der Panzerschale auf. In den kommenden Wochen produ zierten sie dann eine weißliche, sirupartige Flüssigkeit, die sie in ei ner Blase am Hinterleib speicherten und an den geschlüpften Nach wuchs verfütterten. Als die Patriarchin von dem nahrhaften Saft kostete, war sie überrascht, wie herrlich süß dieser schmeckte. Von da an trank sie jeden Tag davon, sorgsam darauf bedacht, den Tix nur soviel ihrer Vorräte zu nehmen, dass die Brut nicht in Gefahr ge riet. Ihren Töchtern erzählte sie nichts von ihren Entdeckungen. Sie war ohnehin immer seltener im Camp, verbrachte mehr und mehr Zeit mit dem Studieren der Tix. Als Archimpe und Kaltechte eines Abends nicht von einer ihrer Expeditionen heimkehrten, beteiligte sie sich nur widerwillig an der von Rucharda angeführten Suche. Sie wäre viel lieber zu ihren Tix gegangen. Selbst Mimarche und Dor chante erwachten kurzzeitig aus ihrer Lethargie, als ihnen die Schwester offen Prügel androhte. Stundenlang durchkämmten sie den Dschungel und verschwendeten wertvolle Energie für die Handlampen. Die beiden verschollenen Frauen, besser gesagt, das, was noch von ihnen übrig war, fanden sie am darauffolgenden Mor gen. Das Tier, das Archimpe und Kaltechte angefallen hatte, musste ziemlich groß gewesen sein. Es hatte die Springerinnen buchstäblich
in Stücke gerissen. Während sich Dorchante würgend übergab und Mimarche mit kalkweißem Gesicht zur Salzsäule erstarrte, sammelte Rucharda das ein, was einmal ihre Schwestern gewesen waren. Mor chete horchte indes in sich hinein, doch da war keine Trauer. Wenn sie an ihre toten Töchter dachte, fühlte sie nur eine eigenartige Gleichgültigkeit, ja beinahe Erleichterung, als wäre etwas lange Er wartetes endlich geschehen. Sie sah in Ruchardas verzerrte Züge, die ihre frühere Weichheit fast gänzlich verloren hatten und ausge zehrt wirkten. Das Mädchen hatte, wie sie alle, mindestens fünfzig Kilo verloren, und wären nicht die schmutzigen und zerrissenen Kleider, das unordentliche Haar und die Verzweiflung in ihren Au gen gewesen, hätte man sie beinahe als eine attraktive Frau bezeich nen können. Als die beiden Grabhügel fertig waren, stand Morchete auf und machte sich auf den Weg zu den Tix. Mimarche und Dorchante hat ten sich wieder in die Teilnahmslosigkeit geflüchtet, und Rucharda machte keine Anstalten, ihre Mutter aufzuhalten. Als die Patriarchin die felsige Ebene entlangschritt, überlegte sie, ob sie überhaupt noch einmal zurückkommen sollte. Hier gab es nichts mehr, das sie inter essierte. Morchete hatte Glück gehabt, doch das sollte ihr erst viele Wochen später bewusst werden. Die Tix waren Fleischfresser und ernährten sich vor allem von anderen Insekten. Auch Artgenossen, die alt oder krank waren respektive ihren Zweck als Sexualpartner erfüllt und somit für die Gemeinschaft ihren Nutzen verloren hatten, wurden verspeist. Dennoch hätte das niemals ausgereicht, um die vorhande ne Menge an Tieren über längere Zeit hinweg mit ausreichend Nah rung zu versorgen. Die Patriarchin fragte sich immer wieder, warum es dennoch so viele Tix gab. Hätte das knappe Futterangebot die Population nicht unweigerlich dezimieren müssen? Eines Morgens erwachte Morchete früher als sonst. Sie hatte sich mit ihrem Schlafsack, einer hauchdünnen Folienversion, die zusam mengefaltet in jede Hosentasche passte, jedoch für Temperaturen von bis zu zwanzig Minusgraden geeignet war, ein gemütliches Ru
helager in einer moosgepolsterten Senke errichtet. Seit sie regelmä ßig den Saft der Tix-Weibchen zu sich nahm, kam sie mit nur weni gen Stunden Schlaf pro Nacht aus. Überhaupt schien der weiße Si rup ein wahres Wundermittel zu sein. Ihre Haut, die spätestens mit dem Erreichen des hundertsten Lebensjahres trotz teurer Pflegepro dukte aus den Hexenküchen der Aras deutliche Anzeichen der Alte rung zeigte, war merklich straffer geworden. Kleinere Pigmentstö rungen hatten sich zurückgebildet oder waren ganz verschwunden. Auch die in letzter Zeit häufiger gewordenen Gichtanfälle, fraglos eine Folge ihres übermäßigen Alkoholkonsums, gingen zurück und hörten schließlich ganz auf. Morchete fühlte sich allgemein jünger und vitaler, und das hing nicht nur mit dem anhaltenden Gewichts verlust zusammen. Sogar ihre Libido, in den vergangenen Jahrzehn ten eher ein vernachlässigbarer Aspekt ihres Lebens, erwachte aus tiefstem Phlegma und ließ sie wehmütig an die langen und leiden schaftlichen Nächte mit Fauron denken. Mit dem Drüsensekret der Tix hätte sie ein Vermögen verdienen können. Auch wenn die Lebenserwartung in den zivilisatorischen Zentren der Milchstraße dank des medizinischen Fortschritts nach wie vor anstieg, gaben die, die es sich leisten konnten, viel Geld für alles aus, was Jugend, Gesundheit und reuelosen Genuss versprach. Ein paar Tropfen des Safts in aufwendiger Verpackung und entspre chend präsentiert, hätten Morchete im Handumdrehen eine kleine Raumschiffflotte eingebracht. Lange hing die Patriarchin solcherlei Überlegungen allerdings nicht nach. Ihr neues Leben ließ ihr keine Zeit dafür. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum sie an diesem Morgen wach wurde. In der Nacht war Regen gefallen. Vielleicht hatte ein vorwitziger Tropfen seinen Weg durch das Blätterdach über ihrem Schlafplatz gefunden und sie geweckt. Dann bemerkte sie den Vo gel, der vor ihr, kaum mehr als ein paar Armlängen entfernt, auf ei nem Ast hockte. Das kleine Köpfchen wippte träge vor und zurück. Instinktiv aktivierte Morchete ihr Hörgerät und drehte am Leis tungsregler. Einen Vogel hatte sie hier schon lange nicht mehr gese
hen. Überhaupt gab es in diesem Teil des Dschungels außer den Tix so gut wie keine anderen Tiere. Der Vogel hielt in seinen Bewegungen inne und schien sie anzu starren. In ihren Ohren knackte und knisterte es. Und dann hörte sie wieder die wunderbare Melodie, die sie schon einmal vernommen hatte. Es waren sanfte, getragene Töne, die sich zu einem einzigarti gen Klangteppich verwoben, sie wie lange Bahnen Mehinda-Seide umschmeichelten und ihr wohlige Schauer verursachten. Fast war ihr so, als würden Faurons kundige Finger ihren vor Erregung zit ternden Körper erforschen. Sie spürte die Anspannung seiner von ungezählten Stunden in den Trainingsräumen der MORCH I ge stählten Muskeln, hörte sein ekstatisches Keuchen, spürte sein Ge wicht auf ihr … Die Tix waren plötzlich überall und das Klicken ihrer aneinander schlagenden Beinchen verscheuchte die Melodie wie eine Flasche Vurguzz einst Morchetes trübe Gedanken. Im Gegensatz zu ihren trüben Gedanken kam die Melodie jedoch nicht mehr zurück, und die Trauer, die die Patriarchin darüber empfand, war so tiefgreifend, dass der Kloß in ihrer Kehle zur Größe einer Vurga-Frucht an schwoll. Der Vogel, der gerade noch so teilnahmslos auf seinem Ast geses sen hatte, riss den Schnabel auf und stieß einen schrillen Pfiff aus. Seine Flügel zuckten einmal, zweimal, so als wolle er davon fliegen, doch irgend etwas bannte ihn auf der Stelle. Sekunden später war das Tier unter einer wimmelnden Traube von Tix begraben. Der Ast bog sich unter dem Gewicht nach unten, als sich immer mehr der In sekten auf den hilflosen Vogel stürzten und ihn schließlich mit sich zu Boden rissen. Als sie einen Atemzug später wieder von ihm abließen, war außer ein paar Federn und einer Handvoll Knochen nichts mehr von ihm übrig. In den Wochen danach erweiterte Morchete systematisch den Um kreis ihrer täglichen Exkursionen. Nun, da sie wusste, worauf sie zu achten hatte, waren die Zeichen fast überall zu erkennen. Die Tix
waren in der Lage, einen Gesang anzustimmen, der auf organische Gehirne hypnotisch wirkte. Auf diese Weise fingen sie nicht nur Vö gel, sondern auch wesentlich größere Tiere. Tief im Urwald stieß die Patriarchin auf Nester mit abertausend Tix. Dort herrschte eine gera dezu unheimliche Stille, da die Insekten so gut wie alle anderen Le bewesen ausgerottet hatten. Und mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie ihr Leben lediglich der Tatsache zu verdanken hatte, dass sie praktisch taub war. Das erklärte allerdings nicht, warum die Tix nicht einfach über sie herfielen. Die Käfer beherrschten den Dschungel, waren überall um sie herum; bei einem Angriff hätte die Patriarchin keine Chance ge habt. Doch die Tiere ließen sie in Ruhe. Mehr noch: Sie wichen zur Seite, wenn sie auf sie zuging, machten ihr den Weg frei. Sie um ringten sie zu Tausenden, wenn sie schlief, gerade so, als wollten sie sie bewachen. Und wenn Morchete die Körper der schwangeren Weibchen anhob, um einige Tropfen des weißen Sekrets aus der ge schwollenen Hinterleibsblase herauszudrücken, ließen sie es willig geschehen. Ja, sie drängten sich geradezu, um von ihr gemolken zu werden. Die Tage reihten sich zu Wochen. Morchete verlor jegliches Zeitge fühl. Mittlerweile ernährte sie sich fast ausschließlich vom Saft der Tix – und sie fühlte sich großartig. Ihr Hörgerät hatte sie längst weg geworfen. Zum einen waren die Energiereserven ohnehin so gut wie erschöpft, zum anderen brauchte sie es nicht mehr. Das Lied der Tix entstand inzwischen direkt in ihrem Kopf. Es füllte sie aus, und zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit war sie wieder glücklich. Zu Anfang hatte sie das in Panik versetzt, hatte sie glauben lassen, dass die Tix sie beeinflussten, um sie am Ende doch noch zu fressen. Doch die Tiere hatten sie längst als eine der ihren akzeptiert. Sie san gen für sie, weil sie wussten, dass es ihr Freude bereitete, und darin sah die Patriarchin nichts Unnatürliches. Es dauerte lange, bis sich ihr Gewissen meldete, doch als es schließlich soweit war, schlug das Schuldbewusstsein umso härter
zu. Wann war sie das letzte Mal im Camp ihrer Töchter gewesen? Hätte sie nicht schon längst zurückkehren und ihre drei überleben den Kinder in das Geheimnis der Tix einweihen müssen? Mimarche, Dorchante und Rucharda hatten das gleiche Anrecht auf den weißen Saft wie sie, möglicherweise sogar noch ein weit größeres. Sie war die Patriarchin, und die Havarie auf Fauron war zum Großteil ihre Schuld. Sie gab es zwar nicht gerne zu, doch sie trug nach wie vor die Verantwortung für die Mädchen und den Rest ihrer Besatzung. Andererseits hatten sie die Überlebenden der MORCH I ausgesto ßen und sich selbst überlassen. Der Tod von Druchima, Kaltechte und Archimpe ging auf das Konto der Meuterer. Mehrere Wochen lang sammelte Morchete den größten Teil des gewonnenen Sekrets der Tix in zwei Trinkflaschen aus Plastik. Ja, sie fühlte sich schuldig, aber noch konnte sie ihren Fehler wieder gut machen. Sie würde Mimarche, Dorchante und Rucharda alles erzäh len und ihnen von dem Saft zu trinken geben. Die Mädchen würden wieder zu Kräften kommen, und dann konnte man die nächsten Schritte besprechen. Dabei half ihr der plötzlich auflodernde Zorn, den sie auf ihre ehemalige Crew hatte, über die Selbstvorwürfe hin weg. Druchima hatte einen Fehler gemacht und gegen die unge schriebenen Gesetze der Gruppe verstoßen, doch es war nicht die Aufgabe der Mannschaft eines Springerschiffes, über die Verfehlun gen ihrer Kameraden zu richten. Diese Befugnis besaß ausschließlich die Patriarchin. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass nicht sie es war, die Abbitte zu leisten hatte. Springer an Bord eines Handelsschiffes waren eine Schicksalsgemeinschaft. Das galt für gute wie für schlechte Zeiten. Wenn man mit der Arbeit einer Patri archin nicht zufrieden war oder Probleme mit deren Führungsstil hatte, dann gab es Möglichkeiten, diese Unzufriedenheit zu äußern. Man setzte sie nicht auf einem gottverlassenen Planeten im Dschun gel aus und überließ sie ihrem Schicksal. Zwei Tage später erreichte Morchete das Camp. Es war verlassen und sie vermutete, dass ihre Töchter wieder auf der Suche nach
Nahrung, Brennholz und ähnlichen Dingen waren. Nun, das würde bald nicht mehr nötig sein. Der Saft der Tix war alles, was sie brauchten. Die Mädchen würden sich wundern. Dann fiel ihr Blick auf das Feld mit den Grabhügeln, und die Patri archin glaubte den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie schwankte, suchte nach Halt, stolperte. Unwillkürlich fing sie ihren Sturz mit den Händen ab. Scharfkantiger Fels drang in das weiche Fleisch ihrer Handflächen, doch sie spürte keinen Schmerz. Sie nahm auch nicht bewusst wahr, dass die Schnitte kaum bluteten und sich innerhalb von wenigen Sekunden wie von Zauberhand wieder schlossen. Sie starrte nur auf die Felshügel vor sich. Es waren fünf. »Mutter?« Diese Stimme. So kraftlos. So gleichgültig. So … alt. Morchete drehte sich um. Sie hatte Rucharda nicht kommen hören. Der Anblick ihrer Tochter ließ sie schaudern. Das Mädchen war kaum mehr als ein Schatten ihres früheren Selbst. Die wenigen Klei der hingen als schmutzige Lumpen an Ruchardas ausgemergeltem, vor Dreck starrenden Körper. Überall entdeckte die Patriarchin klei nere und größere Verletzungen, die sich teilweise entzündet hatten und eiterten. Der rechte Arm der Springerin war in unnatürlichem Winkel nach hinten gebogen. Vermutlich hatte ihn sich Rucharda ir gendwann gebrochen, und die Knochen waren mangels medizini scher Versorgung schief zusammengewachsen. Der Blick der tief in den Höhlen liegenden Augen wirkte stumpf. Zwar hatte sie ihre Mutter erkannt, doch da war keine Reaktion. Keine Überraschung, keine Wut, keine Freude. Warum weinte Rucharda nicht? Warum schlug sie nicht wie von Sinnen auf ihre Mutter ein und überschüttete sie mit Vorwürfen? Stattdessen sah sie Morchete nur an, als würde sie auf etwas warten, als hätte sie nicht die Kraft, auch nur eine weitere Bewegung zu machen. Die Patriar chin öffnete den Mund, wollte ihrer Tochter sagen, wie unendlich leid es ihr tat, dass sie sie im Stich gelassen hatte und dass jetzt alles gut werden würde, doch sie konnte es nicht. Ihre Gedanken kreisten immer nur um die gleichen Fragen: Wie lange war sie weg gewesen?
Hatte sie tatsächlich nur ein paar Wochen bei den Tix verbracht? Morchete machte einen Schritt nach vorn, streckte ihre Arme aus. In diesem Moment wich die Teilnahmslosigkeit aus den verhärmten Zügen Ruchardas und machte nacktem Grauen Platz. Das Mädchen stieß einen markerschütternden Schrei aus, wandte sich um und rannte wie von Furien gehetzt auf den nahen Waldrand zu.
Trilith Okt Vergangenheit Das Vieh war riesig. Und es bestand zu zwei Dritteln aus Maul. Der Dschungel spuckte den vier Meter hohen Koloss aus Muskeln und Zähnen wie einen Bissen verdorbenes Fleisch aus. Mit weit geöffne tem Rachen und einem Gebrüll, das selbst das Rauschen des Was serfalls übertönte, stürzte sich das Tier auf den Wurm, schlug die zentimeterlangen Hauer in den fetten, schleimigen Körper und biss zu. Das Geräusch, mit dem der Wurm wie ein mit Wasser gefüllter Ballon zerplatzte, ließ der jungen Frau das Blut in den Adern gefrie ren. Das echsenartige Ungeheuer stellte sich auf die beiden kräftigen Hinterbeine, reckte den Oberkörper mit den schmaleren Vorderläu fen respektheischend in die Luft und stieß erneut ein gereiztes Brül len aus. Auf der Vorderseite seiner riesigen Schnauze, direkt zwi schen den beiden Telleraugen, saß ein faustgroßer, grüner Gewebe klumpen. Trilith konnte deutlich die dicken, pulsierenden Adern er kennen, die sich über die schuppige Haut zogen. Welchen Zweck das hässliche, tumorartige Geschwür erfüllte, wusste sie freilich nicht. Trilith Okt kroch so schnell es ihr möglich war in Richtung Fluss. Es erschien ihr nicht ratsam, sich in den Urwald zurückzuziehen. Die Bestie war das Jagen ohne Frage gewohnt und hätte sie in sei nem natürlichen Revier womöglich sofort gewittert. In der Nähe des Wasserfalls hingegen bestand auch für das Tier Gefahr. Wenn Trilith Glück hatte, tat es sich an dem erlegten Wurm gütlich und zog dann gesättigt seines Weges. Zum zweiten Mal an diesem Tag schob sich die Frau bis unmittel bar an das Flussufer heran. Kurzzeitig rissen die Wolken auf, und
die Strahlen der im Mittag stehenden Sonne erzeugten im von den Stromschnellen aufgewirbelten Tröpfchennebel ein schillerndes Far benspiel. Triliths Finger umschlossen harten, klammen Fels. Das Wasser des vor ihr dahinbrausenden Stroms war eiskalt. Sie wischte sich mit der freien Hand die Haare aus dem Gesicht und blickte über die Schulter zurück. Nichts zu sehen. Ihr spezieller Freund war offenbar noch immer mit seiner Beute beschäftigt. Vorsichtig rollte sie sich auf den Bauch und ließ sich auf einen schmalen Felsvor sprung hinunter sinken. Früher oder später musste sie mit dem Ab stieg zum Fuß des Wasserfalls beginnen. Warum also nicht sofort? Das urwelthafte Brüllen explodierte regelrecht in ihren Ohren. Tri lith Okts Kopf ruckte nach oben. Ein grauenhafter Gestank nach Tod und Verwesung stieg ihr in die Nase und ließ ihren Magen rebellie ren. Zwei Reihen nadelspitzer Zähne schlugen Zentimeter von ihrer linken Schulter entfernt aufeinander. Der Gigant musste sich von der Flussseite her genähert haben, auch wenn die Frau nicht die ge ringste Ahnung hatte, wie er dorthin gekommen war. Sie warf sich zur Seite, spürte, dass sie den Halt verlor und in die Tiefe zu stürzen drohte. Mit dem Fuß traf sie auf Widerstand. Ihre tastenden, vom kalten Wasser gefühllos gewordenen Finger krallten sich in eine Felsspalte. Die Krücke, die sie bislang unter der Armbeuge einge klemmt hatte, rutschte heraus, schlug gegen die Felsen und blieb dann auf dem Vorsprung liegen. Über ihr war nervöse Bewegung. Eine Lawine aus kleinen Steinen, Staub und Pflanzenresten prasselte auf sie nieder. Trilith presste sich hart gegen die Steilwand. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihr Messer ziehen sollte, doch sie konnte sich schon so kaum halten. Ihre einzige Chance bestand darin, schneller zu sein als ihr Verfol ger, und der war offenbar nicht nur ein erstaunlich gewandter Klet terer, sondern schien auch nach wie vor Hunger zu haben. Als die Frau nach rechts schaute, sah sie das Tier, das auf den ersten Blick so plump und schwerfällig gewirkt hatte, geschickt über die Felsen klettern. Die gebogenen Krallen der Hinterbeine schlug es dabei wie Enterhaken in den Stein, während die längeren und nicht ganz so
ausgeprägten Vorderläufe nach Brüchen und Spalten griffen. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, wenn sie sich außer Reichweite der mäch tigen Kiefer bringen wollte. Trilith verfluchte ihr Pech. Die Steilwand machte von hier oben einen durchaus bezwingbaren Eindruck – sofern man sich jeden ein zelnen Schritt sorgfältig überlegen und den Weg auf Trittfestigkeit überprüfen konnte. Mit einem fressgierigen Monster auf den Fersen sah das schon anders aus. Sie zog die Krücke zu sich heran und benutzte sie als Kletterhilfe, indem sie sie in Risse und kleine Hohlräume klemmte und sich dann daran festhielt. Dennoch kam sie viel zu langsam voran. Die Riesenechse schien sich nicht im geringsten vor der Steilwand zu fürchten und holte beunruhigend schnell auf. Täuschte sich Trilith, oder war das Geschwür auf dem Maul des Tieres tatsächlich ge wachsen? Die Frau hatte ungefähr ein Drittel des Abstiegs hinter sich ge bracht, als ihr Verfolger den entscheidenden Angriff startete. Die letzten beiden Meter legte der Gigant mit einem einzigen Sprung zu rück. Trilith stieß instinktiv mit der Krücke zu, als das Tier direkt neben ihr auf den Felsen prallte und triumphierend den Rachen öff nete. Wirkung erzielte sie damit keine, wenn man einmal davon ab sah, dass der Gegner noch ein Stück aggressiver wurde. Einer der Vorderläufe der Echse schoss nach vorn, und ein scharfer Schmerz zuckte durch Triliths rechte Schulter. Sie ließ die Krücke los, verlor den Halt und rutschte in die Tiefe. Dürres Gestrüpp, das in den Schründen der Steilwand ein karges Dasein fristete, peitschte ihr ins Gesicht. Sie wollte sich festhalten, die immer rasender werdende Fahrt irgendwie stoppen, doch sie war bereits zu schnell. Wie weit war der Boden noch entfernt? Fünfzig Meter? Hundert? Es machte keinen Unterschied. Der Aufprall würde sie auf jeden Fall töten. Das Gesträuch wurde kurzzeitig dichter, bremste ihren Sturz zu mindest teilweise. Triliths Hände krallten sich verzweifelt in den kargen Bewuchs, die dünnen, blattlosen Zweige rissen ihr blutige
Striemen, doch das Wunder geschah: Sie wurde langsamer! Weiter! Von oben hörte die Frau bereits wieder die Riesenechse, die nicht bereit war, ihre schon sicher geglaubte Mahlzeit aufzuge ben. Die Rutschpartie hatte ihr eine Reihe von Schrammen und Ab schürfungen eingebracht, die sie beim weiteren Abstieg behinder ten. Es gab fast keine Stelle mehr an ihrem Körper, die nicht schmerzte. An der rechten Schulter war der Stoff der Kombination zerfetzt und blutgetränkt. Erneut drohte sie die Erschöpfung zu übermannen. Nach fast zwei Tagen ohne Essen und den Strapazen eines anstrengenden Marsches ausgesetzt, schrie ihr Organismus nach Nahrung und einer Erholungspause. Ein mörderischer Schlag auf den Hinterkopf ließ sie vornüberkip pen. Die Bestie war da – und ihre Laune hatte sich nicht gebessert. Im buchstäblich letzten Moment bekam Trilith einen Felsvorsprung zu fassen, doch der Schwung des eigenen Gewichts schleuderte sie zur Seite. Für einen Moment glaubte sie, ihre Arme würden aus den Schultergelenken springen, dann schlug sie mit dem Rücken gegen den Fels und kam einmal mehr ins Rutschen. Trilith Okt nahm die Welt nur noch wie durch einen rosaroten Schleier wahr. Die Steilwand verwandelte sich allmählich in einen flacher werdenden Abhang. Rechts und links drängten sich Bäume mit schmalen, braunen Stämmen zu einem kleinen Wäldchen zu sammen; vor ihr ragte einer der gewaltigen Urwaldriesen in die Hö he. Seine Rinde war an vielen Stellen aufgeplatzt, und in den so ent standenen Lücken hatten sich andere Pflanzen eingenistet. Als Trilith beinahe zu spät begriff, dass sie dem Baum nicht würde ausweichen können, riss sie die Arme schützend vors Gesicht. Der furchtbare Ruck trieb ihr sämtliche Luft aus den Lungen. Etwas knackte unnatürlich laut, und sie betete zu allen Sternengöttern, dass es nicht ihr Rückgrat war. Die Tatsache, dass sie sich kaum be wegen konnte, war kein besonders gutes Zeichen. Immerhin war sie zum Stillstand gekommen. Behutsam hob sie den rechten Arm, dann den linken. Auch ihr
Bein gehorchte den Befehlen des Gehirns. Ihr Oberkörper jedoch war durch die Wucht des Aufpralls zwischen zwei Rindenstücke ka tapultiert worden und steckte fest. Wenn sie tief Atem holte, spürte sie ein Stechen in der Brust, und in ihrem Schädel schienen alle Ha fenglocken von Rubahar zu läuten. Mit einer Hand tastete sie nach ihrem Hinterkopf. Schon die erste Berührung schmerzte teuflisch, frisches Blut klebte an ihren Fingern. Der Schlag der Riesenechse war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Das neuerliche Brüllen des Tieres erinnerte Trilith daran, dass ihr der Verfolger nach wie vor im Nacken saß. Die Kämpferin wollte den Kopf drehen, um nachzusehen, ob die Bestie bereits heran war, doch sie hatte sich derart fest in der Borke verkeilt, dass sie sich kaum zu drehen vermochte. Wenigstens kam sie an ihr Messer her an. Sie zog die Klinge aus der Scheide, aktivierte die Vibro-Funktion und begann, ihr unnachgiebiges Gefängnis damit zu bearbeiten. Lei der erwies sich das Holz als erstaunlich widerstandsfähig. Schnell war abzusehen, dass sie geraume Zeit benötigen würde, um sich zu befreien. Soviel Zeit hatte sie aber nicht! Hinter ihr polterten Steine. Sie glaubte die Erschütterungen zu spüren, die die Schritte der Echse auslösten. Das Tier musste jeden Moment hier sein. Trilith nahm all ihre verbliebene Kraft zusammen und warf ihren Körper zurück. Nichts! Sie saß fest wie ein Korken in der Flasche. Wenn die Situation nicht so verfahren gewesen wäre, hätte sie vermutlich laut gelacht. Sie konnte nicht einmal ihre Stim me einsetzen, da ihr gerade genug Luft zum Atmen blieb. Ihre Faust umklammerte den Griff des Messers wie einen Ret tungsanker. Die Kopfschmerzen waren kaum noch zu ertragen. Je mand schien ihren Schädel abwechselnd mit weißglühenden Nadeln und Schmiedehämmern zu bearbeiten. Wenn sie sich doch wenigs tens ein bisschen hätte drehen können, nur ein paar Zentimeter. Dann wäre es ihr möglich gewesen, das Messer als Wurfgeschoss einzusetzen. Mit etwas Glück hätte sich die Waffe tief genug in den Angreifer gebohrt, um ihn außer Gefecht zu setzen.
Das Grollen klang wie ein heraufziehendes Unwetter – und es war direkt hinter ihr. Die Bestie schien genau zu wissen, dass ihr die Beute nicht mehr entkommen konnte. Sie riss das gewaltige Maul auf und schrie ihren Triumph in den Dschungel hinein. Trilith Okt dagegen stemmte sich ein letztes Mal gegen das Unaus weichliche, ignorierte die Schmerzen, die Enttäuschung, die Angst, wand sich in der tödlichen Umklammerung, doch vergeblich. Oft genug war sie dem sicheren Tod entkommen, hatte in letzter Sekun de einen Ausweg gefunden oder war von einem Gefährten gerettet worden. Diesmal gab es diesen Ausweg nicht. Niemand würde kommen, um ihr zu helfen. Sie würde nie erfahren, wer sie war, wo her sie kam und wer ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte. Trilith Okt schloss die Augen – und als sie sie wieder öffnete, war nichts mehr wie zuvor …
Das Universum war ein in sich geschlossener Ort und doch unend lich. Wenn man von einer beliebigen Stelle im Raum startete und stets geradeaus flog, erreichte man irgendwann wieder seinen Aus gangspunkt, ohne auch nur im geringsten vom Kurs abgekommen zu sein. Warum das so war, hatte Trilith Okt nie begriffen, und das, obwohl sich die GAHENTEPE wahrhaft Mühe gegeben hatte, es ihr zu erklären. Das Diskusschiff hatte ihr deshalb des öfteren mangeln den intellektuellen Ehrgeiz unterstellt, aber das störte sie nicht. Das Universum tat, was es tat, und es war ihm herzlich egal, ob seine Be wohner das nun verstanden oder nicht. Als Trilith die Augen öffnete, kam es ihr vor, als hätte sie das Uni versum in einen tiefen See geworfen, um sie das Schwimmen zu leh ren. Und wie zu erwarten, schluckte sie zunächst einmal ein paar Li ter Wasser. Sie sah die braune, von Moosflecken bedeckte Rinde des Baums vor sich. Einen Lidschlag zuvor hatte sie sich noch beinahe den Hals ausgerenkt, um zumindest aus den Augenwinkeln einen Blick auf
die hinter ihr brüllende Riesenechse zu erhaschen. Doch jetzt war da kein Augenwinkel mehr. Da war kein hinter ihr mehr! Das Tier stand vor ihr. Der Baum stand vor ihr. Und ihr Verstand paddelte mit allem, was er hatte, um nicht zu er trinken. Trilith drehte den Kopf. Sie spürte die Bewegung, doch ihr Sicht feld veränderte sich nicht. Lediglich die ihr in die Augen hängenden Haare machten ihr klar, dass etwas Unglaubliches geschehen war. Et was, das sie bis in die Grundfesten ihrer Persönlichkeit erschütterte und ihr einen Schock versetzte, der weit über die Bestürzung hin ausging, die sie beim Verlust ihres Unterschenkels empfunden hatte. Das hier war schlimmer. Heimtückischer. Diabolischer, denn es ver änderte nicht nur ihre Wahrnehmung, sondern machte sie zum Monster. All ihre mühsam errichteten Mauern, das ob ihrer geheim nisvollen Vergangenheit ohnehin brüchige Fundament ihrer Indivi dualität, ihr Selbstbild, ihr Stolz, das alles war urplötzlich in Frage gestellt. Als die Riesenechse auf sie zustürmte, reagierte sie dennoch. Sie tat es, ohne nachzudenken. Der Arm mit dem Messer zuckte nach oben. Trotz der prekären Situation nahm sie sich Zeit. Sie hatte nur diese eine Chance. Diesen einen Wurf. Die Waffe verließ ihre Hand, traf ihr Ziel und drang bis zum Heft in die pulsierende Geschwulst auf der Schnauze des Tieres ein. Die Bestie stoppte abrupt, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen. Ihre Vorderläufe zuckten unkontrolliert, das Maul öffnete und schloss sich. Dann kippte sie zur Seite und sackte zu Boden. Ein-, zweimal versuchte der Gigant wieder auf die Beine zu kommen, doch schließlich gab er auf und verendete mit einem letzten, in Triliths Ohren irgendwie verächtlich klingenden Schnaufen. Für lange Minuten war die Frau nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr war schwindlig, und die Kopfschmerzen ta ten das Übrige. Die Tatsache, dass sie am Hinterkopf ein zweites
Augenpaar besaß, ein Augenpaar, das anscheinend durch den Schlag der Riesenechse aufgebrochen war, und sich angesichts der akuten Lebensgefahr, in der Trilith schwebte, aktiviert hatte, lastete wie ein Tonnengewicht auf ihrer Psyche. Die Frage, wer sie eigent lich war, quälte sie mehr denn je. Welche Überraschungen warteten noch auf sie? Wenn sie zwei zusätzliche Augen in ihrem Schädel über Jahrzehnte hinweg nicht bemerkte, welche Monstrositäten mochte ihr Körper dann wohl noch bereithalten? Vielleicht würden ihr eines Tages Flügel aus dem Rücken wachsen und sie würde sich in die Lüfte erheben. Oder wie wäre es mit zwei weiteren Armen? Möglicherweise deutete das Jucken in ihrem Beinstumpf darauf hin, dass ihr Unterschenkel bereits wieder nachwuchs. Sie war ein Freak! Eine biologische Abscheulichkeit, etwas, das eigentlich nicht existie ren durfte, auf das man mit dem Finger zeigte, bevor man es in einen Käfig sperrte oder aus der Stadt jagte – aber auf Fauron gab es keine Stadt … Ganz langsam kam sie wieder zu sich, wurde ruhiger. Jetzt, da ihr genügend Zeit zur Verfügung stand, befreite sie sich fast mühelos aus ihrer misslichen Lage. Sie zog ihr Messer aus dem Kadaver der Riesenechse und reinigte es mit einigen Blättern. Ihre neuen Augen hatte sie wieder geschlossen. Es bereitete ihr große Mühe, sich mit ihrem erweiterten Blickfeld zu orientieren. Oft überlagerten sich die Eindrücke, wechselten die Farbe, wirkten gestaucht oder in die Län ge gezogen. Vermutlich musste sich ihr Gehirn erst auf die Verarbei tung der ungewohnten Reize einstellen. Die tote Echse hatte bereits neue Freunde gefunden. Rund zwei Dutzend handtellergroße Käfer – offensichtlich Aasfresser – waren damit beschäftigt, sich durch die schuppige Haut zu nagen. Zu Tri liths Erstaunen hielten sich andere Tiere auffällig zurück. Außer den Insekten schien es keine weiteren Bewerber um den so üppig ge deckten Mittagstisch zu geben. Die junge Frau fand ihre unversehrte Krücke hinter einem Busch in der Nähe der Steilwand und setzte ihren Marsch fort. Der Was serfall ergoss sich in ein breites Felsenbecken, das sich einige hun
dert Meter flussabwärts problemlos durchqueren ließ. Schon bald stieß Trilith auf einen kleinen Tümpel, in dessen spiegelnder Ober fläche sie sich betrachten konnte. Sie schob ihre schwarzen, vom ge trockneten Blut hart und strähnig gewordenen Haare zur Seite und machte die Hinteraugen auf. Es war ein gespenstischer, ja geradezu furchterregender Anblick. Die Pranke der Riesenechse hatte einen Teil der Kopfhaut weggerissen. Knapp unter dem Knochenwulst, der sich um ihren Schädel zog, hatte der Hieb des Tieres eine unge fähr fünfzehn Zentimeter lange Furche geschlagen. Zwei rötliche, wässrig schimmernde Augen starrten daraus hervor. Erneut wurde die Frau vom Schwindel erfasst, fiel auf ihr Knie und unterdrückte nur mühsam das Würgen in ihrem Hals. Hatte die GAHENTEPE von all dem gewusst? Natürlich hatte sie das! Es gab nur eine Person in diesem verwünschten Spiel, die die Regeln nicht kannte, und das war sie selbst. Nachdem sie sich gesäubert hatte, löste sie zum ersten Mal den Verband an ihrem linken Bein. Der Stumpf war überraschend gut verheilt. Von einer Infektion war nichts zu sehen. Trilith wusch auch die Stoffstreifen sorgfältig aus und verband die Wunde neu. Es fiel ihr nicht leicht, die Müdigkeit zu ignorieren, doch ihr war klar, dass sie das Tageslicht ausnutzen musste. Wenigstens noch ein paar Kilo meter. Sie hatte den Fluss hinter sich gelassen und damit schon die Hälfte der Strecke geschafft. Wenn sie nun noch etwas Essbares auf trieb, bestand eine realistische Chance, diesen Test zu bestehen. Die neu erwachte Zuversicht gab ihr Kraft. Der Urwald wurde mit jedem Schritt undurchdringlicher. Zu Be ginn kam Trilith mit Hilfe der Vibro-Klinge noch einigermaßen gut voran, doch die in den Schaft integrierte Energieanzeige brannte düsterrot und signalisierte damit, dass ihre Waffe bald nichts weiter sein würde als ein gewöhnliches Messer. Mit Hereinbrechen der Dunkelheit war ihr klar, dass sie einen Umweg würde laufen müs sen. Der Dschungel stellte sich ihr wie eine Mauer entgegen, und sich durch den grünen Wall hindurchzukämpfen würde zu viel Zeit und Kraft kosten.
Ihr zweites Nachtlager schlug sie am Fuß eines umgestürzten Baums auf, dessen Wurzelwerk einen guten Schutz vor eventuellen Angreifern bot. Als sie die nähere Umgebung erkundete, um ein paar Moosballen für die Polsterung der primitiven Lagerstatt zu sammeln, glaubte sie ein leises Singen zu vernehmen. Sie hielt inne und versuchte die Geräusche des Dschungels auszublenden, sich nur auf die ferne Melodie zu konzentrieren, die so betörend in ihr nachhallte, doch da war nichts mehr. Erzeugten Hunger und Über müdung jetzt schon akustische Halluzinationen? Trilith Okt kroch zwischen die Wurzeln ihres Baumes und schob die ausgelegten Mooskissen zurecht. Sie hatte sich kaum auf dem weichen Untergrund ausgestreckt, da fielen ihr auch schon sämtli che Augen zu.
Morchete Vergangenheit »Rucharda! Warte doch! Wo willst du denn hin?« Die Patriarchin verstand nicht, warum ihre Tochter so unvermit telt vor ihr davonrannte. Sie eilte ihr hinterher, forderte sie auf, ste hen zu bleiben, doch die Springerin konnte oder wollte nicht auf sie hören. Morchete holte schnell auf. Rucharda stolperte mehr, als dass sie lief. Mehrfach stürzte sie zu Boden, rappelte sich wieder auf und hastete weiter. Schließlich hatte die Patriarchin sie eingeholt, packte sie an den abgemagerten Armen und zog sie zu sich heran. »Rucharda!« schrie sie ihr ins Gesicht. »Was bei allen Handelsmo nopolen der Galaxis ist los mit dir? Erkennst du mich nicht? Ich bin es – deine Mutter!« Das Mädchen wollte sich losreißen, hatte der Kraft Morchetes jedoch nichts entgegenzusetzen. Es war, als hätten sie die Rollen getauscht. Aus der betagten Patriarchin war eine jun ge, agile Frau geworden, während sich die gerade einmal vierzig Jahre alte Rucharda in eine blasse, vertrocknete Blume verwandelt hatte. War es das, was der Springerin solche Angst einjagte? »Du bist …«, tropften die Worte zögerlich zwischen den aufge sprungenen Lippen des Mädchens hervor, »… du bist … am Leben …« Morchete sagte nichts. Stattdessen schloss sie ihre Tochter in die Arme, dieses abgezehrte Stück Elend, das nur noch aus Haut und Knochen bestand. Rucharda zeigte keine Reaktion, erwiderte die Umarmung nicht, und das war vielleicht das Schlimmste an dieser bizarren Situation. »Es wird alles gut, Rucha«, flüsterte Morchete mit tränenerstickter Stimme und nannte das Mädchen bei ihrem Kosenamen, so wie sie
es in den ersten Jahren nach ihrer Geburt und seitdem nie mehr ge tan hatte. »Ich habe dich doch nicht vergessen. Ich war nur … abge lenkt.« Rucharda wehrte sich nicht, als Morchete sie langsam zum Camp zurückführte. Sie hockte sich mit ihrer Tochter auf einen Felsen und gab ihr aus einer der Plastikflaschen mit dem Saft der Tix zu trinken. Das Mädchen schluckte die breiige Flüssigkeit teilnahmslos und blickte starr geradeaus. »Bald geht es dir besser, Rucha«, lächelte die Patriarchin und strich der Frau zärtlich über die verfilzten Haare. »Du wirst sehen. In ein paar Tagen kommt dir das alles hier nur noch wie ein böser Traum vor.« Ihr Blick irrte immer wieder hinüber zu den fünf Grabhügeln. Erst jetzt fiel ihr auf, dass dort jemand ein sechstes Feld bereitet, die Stei ne jedoch nicht zu einem Haufen geschichtet, sondern fein säuber lich in Reihen zu jeweils 36 Stück ausgelegt hatte. Morchete zählte neun solcher Reihen. Acht waren vollständig, an der letzten fehlten noch fünf Steine. Dann dämmerte ihr, was dieses Mosaik zu bedeu ten hatte. »Oh, Rucha«, flüsterte sie fassungslos. »Ich hatte ja keine Ahnung.« Die Zeitrechnung der Springer war praktisch identisch mit der ihres Stammvolkes, der Arkoniden. Das Jahr teilte sich in zehn Perioden mit je 36 Tagen, so genannten Pragos. Rucharda hatte einen Kalender geführt, und wenn dieser korrekt war, woran Mor chete nicht zweifelte, dann war die Patriarchin fast neun Perioden weg gewesen. Über dreihundert Tage!
Der schleichende Verfall Ruchardas ließ Morchete langsam aber si cher verzweifeln. Obwohl sie ihrer Tochter in regelmäßigen Abstän den das Tix-Sekret einflößte, wurde das Mädchen immer schwächer. Die schwärenden Wunden, die sie am ganzen Körper trug, breiteten sich aus, schwollen teilweise an und platzten auf, um übel riechen
den Eiter frei zu geben. Morchete verbrachte die meiste Zeit am La ger der Kranken, und wenn sie nachts aufwachte und ihr ihre Qua len entgegen schrie, dann rief die Patriarchin ihre Heerscharen und befahl ihnen, zu singen. Das Lied der Tix nahm Rucharda die Schmerzen, machte ihre Züge weich und gab ihr ein Stück dessen zurück, was ihr dieser Planet genommen hatte. Morchete hingegen fand keinen Trost in jenen Klängen, denen sie so oft gelauscht und die sie so oft verzaubert hatten. Sie sah ihrer letzten Tochter beim Sterben zu, und in ihr wuchs der Hass auf die, die ihrer Meinung nach verantwortlich waren. Mit jedem Tag schrumpfte ihr eigener Anteil an der Verantwortung für das Gesche hene, und es steigerte sich die Schuld derer, die sie und die Ihren ausgestoßen hatten. Ihre Verbindung zu den Insekten hatte inzwischen eine Intensität erreicht, die sie selbst verblüffte. Sie dirigierte die Tix nach Belieben, und die Tiere gaben sich ihrer Führung bereitwillig hin, denn es war eine Partnerschaft zu beiderseitigem Nutzen. Die Tix versorgten Morchete mit ihrem Sekret und hielten ihre neue Herrin dadurch am Leben. Die Patriarchin hingegen lenkte die Schwärme in neue Jagd gebiete, wählte die besten Standorte für die Nester, organisierte die Aufzucht des Nachwuchses und schickte einzelne Tix auf Erkun dung in die weitere Umgebung. Morchete hielt Ruchardas Hand, als das Mädchen starb. Ihre Toch ter wog kaum noch 30 Kilogramm und hatte sämtliche Haare verlo ren. Ihr einst so volles Gesicht glich einem Totenschädel. Blasse, wunde Haut spannte sich wie Pergament über kantig hervortreten de Knochen, und die Venen zogen ein Muster aus knotigen, grün blauen Linien über den Körper. Die Krankheit, die selbst der himm lische Saft der Tix nicht besiegen konnte, hatte aus der Springerin eine leblose Hülle gemacht, ihren Verstand aufgefressen und jede Erinnerung an ihr früheres Leben getilgt. In den kurzen Wachpha sen erkannte sie ihre Mutter nicht und reagierte auch sonst auf keine Ansprache. Der stumpfe Blick ihrer leblosen Augen stach Morchete mitten ins Herz, und die Patriarchin verstand, dass sie endlich Ab
schied nehmen musste. Ein letztes Mal ließ sie die Tix für ihre Tochter singen. Sie rief sie alle zu sich. Tausende. Zehntausende. Der Urwald vibrierte auf ein mal von feucht glänzenden Panzerschalen, und das Klicken der an einanderreihenden Beinchen war nur der Auftakt zu etwas ungleich Größerem. Ruchardas Totenlied ließ den Dschungel erbeben und die Vögel vom Himmel fallen. Niemals zuvor hatte diese Welt eine sol che Sinfonie gehört. Sie begann als leises Murmeln, wurde lauter, schwoll zum alles übertönenden Sturm, schäumte durch das Unter holz und stieg als eruptierender Klangorkan über die Baumwipfel hinauf. Alles Leben im Umkreis von vielen hundert Metern erlosch, und eine bleierne Stille senkte sich über das Land. Selbst der sonst allgegenwärtige Wind schien innezuhalten; das stetige Rascheln der Blätter erstarb, und inmitten dieser geisterhaften Oase der Schwer mut stand Morchete mit unbewegter Miene und wachte wie eine Hohepriesterin über den perfekten Ablauf einer uralten Zeremonie. Nichts durfte die ewige Ruhe ihrer Tochter stören. Als es vorbei war, beugte sich die Patriarchin zu dem Mädchen hinab und küsste es zärtlich auf die Stirn. Sie hob den federleichten Körper von seinem Lager und bettete ihn sich auf die Arme. Zwei Tage lang ging sie die Strecke zurück zum Camp, und die Tix be gleiteten sie als eine stumme Prozession. Sie marschierte ohne Pau se, langsam, Schritt für Schritt. Die Zeit stand still. Ihr Geist war ein dunkler, leerer Ort, in dem nur das Singen der Tix als kaum hörba res Echo widerhallte. Es war der schwerste Weg, den sie jemals ge gangen war, und doch wünschte sie sich, er würde niemals enden. Sie bestattete Rucharda neben ihren fünf Schwestern. Erst als sie den letzten Stein auf den Grabhügel legte, weinte Morchete um ihre Töchter. Sie schwor sich, dass es das letzte Mal war. Ihre Tränen wa ren aufgebraucht. Für immer. Von nun an würde sie nie wieder wei nen, denn es war an der Zeit, Rache zu nehmen. Und ihre Rache würde furchtbar sein. Der Saft der Tix zeigte erste Nebenwirkungen. Morchete spürte
die ersten Folgen Monate später, doch sie war weit davon entfernt, deshalb unruhig zu werden. Angst und Zweifel gehörten nicht mehr zu ihrem emotionalen Repertoire. Ihr Körper holte lediglich die Ent wicklung nach, die ihr Verstand längst abgeschlossen hatte. Die Ge schwüre schmerzten nicht, doch sie wucherten mit erstaunlichem Tempo und behinderten sie schon bald in ihren Bewegungen. Schließlich musste sie die Hilfe der Insekten in Anspruch nehmen. Die Tiere fraßen das überschüssige Gewebe einfach ab. Fortan war die Patriarchin permanent von einem Teppich wimmelnder Tix be deckt und fand das nicht im Geringsten ungewöhnlich oder gar ab stoßend. An jenem Morgen, an dem sie beschloss, dass sie lange genug ge wartet hatte, regnete es. Das Klicken der Tix klang anders als sonst. Aufgeregter. Ungeduldiger. Natürlich wussten die Insekten, dass et was Entscheidendes geschehen würde. Morchete und die Tix waren endgültig Eins geworden. Die ehemalige Patriarchin war das Ge hirn, der Lotse, die leitende Hand. Die Käfer waren der Körper, die Arme und Beine, das Instrument der Vollstreckung. Sie erreichten die Stelle, an der die MORCH I vor fast zwei Jahren notgelandet war, am späten Nachmittag. Die Überlebenden hatten Beachtliches vollbracht und die Springerwalze nach und nach aus geschlachtet. Innerhalb einer fast drei Meter hohen Umzäunung aus Wrackteilen war eine kleine Siedlung entstanden. Zwischen den ein fachen, aber zweckmäßigen Hütten wuchsen Obst und Gemüse in sorgfältig gepflegten Gartenparzellen. Sogar einer der Hilfsgenerato ren war repariert worden und lieferte Strom für eine karge nächtli che Beleuchtung: zwei Wasserpumpen, eine Ladestation für die Energiemagazine der verfügbaren Strahlwaffen und einige Dinge mehr. Eine Weile stand Morchete einfach nur da und beobachtete das Treiben aus der Deckung des Dschungels heraus, genoss das ange nehme Prickeln, das die Tix auf ihrer nackten Haut erzeugten und freute sich auf das, was vor ihr lag. Die Springer hatten offenbar ak zeptiert, dass sie Fauron nicht mehr verlassen würden und sich ent
sprechend arrangiert. Die ehemalige Patriarchin lachte verächtlich – und die Tix stimm ten mit ein. Die Melodie legte sich wie ein warmes, weiches Tuch über die Siedlung, hüllte sie ein, durchdrang sie. Einige Männer, die mit Handstrahlern im Gürtel Wache standen, und sich – lässig ge gen die Umzäunung gelehnt – unterhielten, hoben die Köpfe und starrten verwundert in Richtung Waldrand. Morchete konnte ihre Verzückung spüren und befahl ihrer Armee, die Intensität des Ge sangs ein wenig zu verringern. Die Springer sollten erkennen, was auf sie zukam. Nach und nach traten weitere Überlebende aus den Häusern oder krochen aus dem Wrack der MORCHI. Vermutlich suchte man dort noch immer nach Brauchbarem und arbeitete daran, in die unzu gänglich gewordenen Schiffsbereiche vorzudringen. Morchete schritt wie eine Feldherrin auf die Siedlung zu, und genau das war sie letztendlich auch. Die lebende Rüstung aus Tix ließ nur ihr Ge sicht frei. Um sie herum schien die Erde aufgebrochen zu sein, doch anstelle von Magma spie sie gewaltige Mengen von Insekten aus. Sie schwärmten klickend zur Seite, folgten den lenkenden Impulsen ih rer Königin und bildeten innerhalb kürzester Zeit einen lückenlosen Ring um die Galaktischen Händler. Dann ließ Morchete das Lied der Tix verstummen – und gab den Befehl zum Angriff. Das Heer der Käfer ergoss sich wie eine Spring flut über die Siedlung. Die ersten Schreie, schrill und durchdrin gend, trafen auf die einst tauben Ohren der Frau, die jetzt so viel mehr hörten als jemals zuvor. Sie fühlte jede Bewegung ihrer kleinen Diener, die grobkörnigen Krumen unter den zappelnden Beinchen, die Gier der vorauseilenden Vorhut, die Wucht der von hinten nach drängenden Massen. Sie roch die Panik ihrer ehemaligen Untergebe nen, die Angst um ihr erbärmliches Leben, das sie auf einer gottver lassenen Welt wie Fauron fristen mussten. So fühlte sich Macht an, wahre, grenzenlose Macht. Sie hatten es gewagt, sich gegen ihre Pa triarchin zu stellen. Sie hatten ihre sechs Töchter auf dem Gewissen. Nun bezahlten sie den Preis dafür.
Es dauerte nicht länger als ein paar Minuten, dann war niemand mehr am Leben. Morchete hatte beschlossen, nicht mehr in den ur sprünglichen Lebensraum der Tix zurückzukehren. Das Nahrungs angebot war dort so gut wie erschöpft. Stattdessen würde sie ihr neues Domizil in der MORCH I aufschlagen. Dort, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Die Springerin ahnte, dass die Veränderungen gerade erst begon nen hatten. In ihr arbeitete es. Die Käfer wichen kaum noch von ih rer Seite, umtanzten sie mit lautem Klicken und kämpften um einen Platz auf ihrem mit Geschwüren übersäten Körper. Morchete öffnete den Mund, und die Tix fütterten sie mit ihrem süßen Saft. Auch die Tiere spürten, dass hier und heute etwas Neues geboren wurde. Draußen in der Galaxis schrieb man das Jahr 2566. Zumindest nach der Zeitrechnung der verhassten Terraner, jener Emporkömm linge, die den Mehandor einst ihr vertraglich garantiertes Handels monopol gestohlen hatten und sich nun als Herren der Milchstraße aufspielten. Aber das war alles nicht mehr von Bedeutung. Morchete war jetzt Teil von etwas Größerem, und als die Tix sie in dieser Nacht leise in den Schlaf sangen, da waren ihre Töchter, Fauron, die MORCH I und all die anderen Namen und Dinge, die einmal ihr Le ben bestimmt hatten, nur noch schnell verblassende Bilder aus einer unsagbar fernen Welt.
Trilith Okt Vergangenheit Etwas stimmte nicht. Trilith Okt war nicht sicher, was es war, aber das Gefühl der Bedrohung ließ sich nicht verscheuchen. Die junge Frau hatte an diesem Morgen gut und gern zwei Kilometer zurück gelegt, und obwohl Oberschenkel und Rücken schmerzten und der Hunger ihr Übelkeit verursachte, war sie zuversichtlich. Sie musste immer wieder an Romeus Abrom denken, und an das, was er ein mal während eines Trainingsmarsches durch die Berge zu ihr gesagt hatte. »Die Drei ist eine magische Zahl, Trilith«, rief sie sich seine Stim me ins Gedächtnis. »Du kannst drei Minuten ohne Atemluft überle ben. Drei Tage dauert es, bis der Durst deinen Willen gebrochen hat. Und drei Wochen zehrt dein Körper von seinen Reserven, wenn es dir an Nahrung mangelt. Doch um ein guter Kämpfer zu werden, um die Kunst des All-Kampfs in höchster Perfektion zu erlernen, be nötigst du drei Ewigkeiten.« Trilith Okt gehörte schon damals nicht zu den geduldigen Vertre tern ihrer Art. Und drei Ewigkeiten warten wollte sie schon gar nicht. Also hatte sie Romeus bereits vorher getötet, und mit ihm sei ne klugen Sprüche. Phrasendrescherei war ihr zuwider, und wenn es jemals einen Meister in dieser Disziplin gegeben hatte, dann war es der prominente Assassine gewesen, auch wenn sie ihn zunächst für einen großen Kämpfer gehalten hatte. Einer der schwarzen Käfer, dessen Artgenossen sie bereits als Feinschmecker, was tote Riesenechsen betraf, kennen gelernt hatte, krabbelte über eine mächtige Luftwurzel. Sekunden später folgten zwei weitere. Die Burschen begegneten ihr in letzter Zeit häufiger. Offenbar befand sich hier irgendwo in der Nähe eine größere Popu
lation. Trilith kam weiter gut voran. Der Urwald wurde lichter und lich ter, und sie konnte sogar auf den Einsatz ihres Vibro-Messers ver zichten. Sie lauschte auf das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, auf das dumpfe Pochen des Herzens in ihren Schläfen, auf den Rhyth mus ihres Atems. Und dann wusste sie plötzlich, was sie die ganze Zeit gestört hatte. Es war viel zu still! Die Geräusche des Dschun gels, seit Tagen ihr ständiger Begleiter, nahm sie nur noch unbe wusst wahr. Deshalb hatte es auch so lange gedauert, bis sie ihr Feh len bemerkte. Ab und zu zirpte noch ein Insekt. Hoch über den Baumwipfeln kreischte manchmal ein Vogel. Doch ansonsten bekam sie nur immer wieder die schwarzen Käfer zu sehen, die beim Lau fen ein leises Klicken erzeugten. Ein weiterer Umweg kam für sie nicht in Frage. Wenn sie ihr Ori entierungssinn nicht trog, hatte sie noch drei oder vier Kilometer bis zum Treffpunkt vor sich – und das war alles, was sie ihrem ge schundenen Körper noch zumuten konnte. Auch wenn die vor ihr liegende Zone der Stille eine Gefahr bedeutete, musste sie sich wohl oder übel darauf einstellen. Gegen Abend erreichte Trilith die Grasebene, und als in der Ferne das schmale blaue Band des Ozeans auftauchte, konnte sie die Trä nen nicht zurückhalten. Ohne die Krücke unter ihrer Armbeuge wäre sie vermutlich zu Boden gesunken, denn ihr Knie schien mit einem Mal aus Gummi zu bestehen. Doch sie hielt sich schon allein deshalb aufrecht, weil sie befürchtete, nach einem Sturz nicht mehr die Kraft zum Weiterlaufen aufbringen zu können. Die Ebene würde ihr Fortkommen erheblich erleichtern, und wenn sie Glück hatte, würde sie noch vor Einbruch der Dunkelheit am Treffpunkt, dem ehemaligen Lager der Springer, ankommen. Über das hüfthohe Gras wehte eine leichte Brise. Der Wind wech selte immer wieder die Richtung und versetzte die Halme in sanfte Wellenbewegungen. Trilith öffnete probeweise ihre Hinteraugen. In den vergangenen Stunden hatte sie das immer wieder getan, wenn
auch nur für kurze Zeit. Die Eindrücke, die sie durch ihr erweitertes Sichtfeld erhielt, waren nach wie vor verwirrend, doch mit jedem neuen Versuch wurde es besser. Das Schwindelgefühl empfand sie nur noch während der ersten paar Sekunden, danach war es, als würde jemand einen Vorhang beiseite ziehen und ihr den Blick auf eine Bühne ermöglichen, von der sie bislang nur einen kleinen Aus schnitt hatte sehen können. Natürlich hatte die Frau die Affinität zu den Jülziish sofort er kannt. Die in der Eastside der Milchstraße heimischen Humanoiden, aufgrund ihres blauen Körperflaums auch oft als Blues bezeichnet, besaßen ebenfalls vier Augen: zwei an der Vorderseite und zwei an der Rückseite ihres tellerförmigen Kopfes. Hinzu kam, dass ihre Sprache weitgehend im Ultraschallbereich lag. Trilith hatte sie wäh rend der Hypnoschulungen an Bord der GAHENTEPE nicht nur problemlos verstanden, sondern nach einiger Übung auch sehr gut gesprochen. War das ein erster Hinweis auf ihre wahre Identität? Hatte ihre Herkunft irgendetwas mit den Blues zu tun? Sie würde der Positronik des Diskusschiffes fragen, auch auf die Gefahr hin, dass sie keine Antworten erhalten würde. Die Überquerung der Ebene verlief ohne Zwischenfälle. Triliths Beinstumpf juckte fürchterlich, doch erst, als der Grasbewuchs zu rückwich und das Gelände wieder in Dschungel überging, gestattete sie sich eine Pause und wechselte noch einmal den Verband. Beim Anblick der Amputationswunde gab es diesmal keine Zweifel mehr. Die Injektion, die die Positronik ihr vor Beginn ihrer Prüfung verab reicht hatte, musste hochwirksame Medikamente enthalten haben, die die Regeneration förderten und eine Infektion verhinderten. An ders war der fortgeschrittene Heilungsprozess nicht zu erklären. Auch in diesem Teil des Dschungels blieb es zunächst totenstill. Nur das nervtötende Klicken der Käfer war lauter geworden. Trilith zog unbewusst ihr Marschtempo an. Je näher sie dem Treffpunkt mit der GAHENTEPE kam, desto mehr Insekten tauchten auf. Sie waren überall, bedeckten die Stämme der Bäume, hockten auf Blät tern und Ästen, krochen über den Boden. Die junge Frau schalt sich
selbst eine Närrin, aber sie konnte sich des Eindrucks nicht erweh ren, dass die Tiere sie beobachteten. Dann setzte übergangslos ein wundervoller Gesang ein, und alle ihre Bedenken waren mit einem Mal wie weggeblasen. Die Melodie füllte sie vollkommen aus, nahm ihr alle Ängste und ließ sie die Erschöpfung vergessen. In gewisser Weise fühlte sie sich an ihre Begegnung mit den Schmetterlingen zu Beginn ihres Marsches erinnert – und das rettete ihr das Leben. Trilith Okt erwachte wie aus einem schönen Traum. Die Enttäu schung darüber, dass er zu Ende war und sie nicht weiterschlafen konnte, wich jedoch schnell einer lähmenden Furcht. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weitergehumpelt war. Vor ihr ragte eine grü ne Mauer in den Himmel, mindestens fünfzig Meter hoch und von unzähligen schwarzen Käfern bevölkert. Erst bei näherem Hinsehen fielen der Frau die zwischen den Pflanzen und den durch- und über einander krabbelnden Insekten sichtbaren graubraunen Flächen auf. Metall! Metall, das seit Jahrhunderten der Witterung ausgesetzt war. Selbst die Außenhülle eines Raumschiffs war einer solchen Belas tung auf Dauer nicht gewachsen. Du hast es geschafft! Triliths Herz setzte einige Schläge aus; zumindest fühlte es sich so an. Das musste die havarierte Springerwalze sein. Der mit der GA HENTEPE vereinbarte Treffpunkt. Sie hob den Kopf, suchte am grauen Himmel nach der Silhouette des Diskusschiffs, doch da wa ren nur vom Wind getriebene Regenwolken. War sie zu spät gekom men? Oder zu früh? Nein, der Bordrechner hatte klargestellt, dass es kein Zeitlimit gab. Trilith musste die vorgegebene Strecke lediglich bewältigen, und genau das hatte sie getan.
Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er in einer sich langsam schließen den Schraubzwinge stecken. Die Melodie, die sie gerade noch in höchste Verzückung versetzt hatte, bohrte sich nun wie mit tausend winzigen Nadeln in ihr Hirn. Ein stechender Schmerz an der linken
Hand ließ die Frau zusammenzucken. Einer der Käfer hatte sich in ihre Haut verbissen. Sie packte ihn, riss ihn ab und schleuderte ihn wütend zu Boden. Die wimmelnde Insektenschar geriet nun in fie berhafte Bewegung. Trilith wich instinktiv zurück, doch auch hinter ihrem Rücken hatten sich die Tiere inzwischen formiert. Sie öffnete die Hinteraugen, versuchte den rapide anwachsenden Druck in ih rem Geist zu ignorieren. Die Käfer rollten von allen Seiten auf sie zu, drohten sie durch ihre schiere Menge unter sich zu begraben. Es mussten Millionen sein, und die Kämpferin fühlte sich unwillkür lich an den Angriff der Schnacksen während ihrer Zeit an Bord der PIRATENBRAUT erinnert. Trilith holte tief Luft und schrie. Der Ton übertönte laut und klar das Klicken der Tiere und verschaffte ihr für ein paar Augenblicke Luft. Die Insekten schienen einen Moment zu zögern, ließen sich von der Schallattacke jedoch nicht aufhalten, sondern setzten ihren Vormarsch kurz darauf unbeeindruckt fort. Die Frau steigerte ihre Anstrengungen; Triliths Stimme glitt in den Ultraschallbereich. Sie variierte Frequenz und Rhythmus und hatte schlagartig abermals das Gefühl, ihr Kehlkopf entwickle ein geheim nisvolles Eigenleben, als wäre er ein von ihr unabhängiges Individu um. Zum zweiten Mal geriet die Front der schwarzen Käfer ins Sto cken, doch diesmal behielten die Tiere den Abstand bei, wichen an einigen Stellen sogar zurück. Wer bist du? Die Frage materialisierte sich direkt in Triliths Gedanken und hät te sie beinahe aus der Konzentration gebracht. Ihre Stimme rutschte für einen Atemzug in den für normale Ohren hörbaren Bereich. So fort rückten die Käfer wieder heran. Dann hatte sich die Frau wieder unter Kontrolle. Allerdings war absehbar, dass sie den Ton nicht mehr lange würde halten können. Die verfluchten Insekten brauch ten nur zu warten. Ich bin Trilith Okt, dachte Trilith so intensiv, wie es ihr unter den Umständen möglich war. Und wer bist du?
Ich bin Tix, kam die Antwort mental. Warum wehrst du dich gegen mein Lied? Gib dich ihm hin und du wirst nichts spüren. Der Druck im Schädel der jungen Frau steigerte sich noch einmal. Trilith wusste, dass ihr nur noch Sekunden blieben. Einem solchen Ansturm mentaler Gewalt konnte sie nicht lange standhalten. In ih rem Geist erschienen unbekannte Bilder. Sie sah ein Raumschiff, eine riesige Springerwalze, durch die Atmosphäre eines Dschungel planeten rasen. Auf der rotglühenden Außenhülle stand der Name MORCH I geschrieben. Das Schiff schlug in schrägem Winkel und mit viel zu hohem Tempo in den Urwald ein, pflügte eine breite Schneise in die grüne Hölle und kam erst nach mehreren Kilometern zum Stillstand. Die nächsten Bilder zeigten eine unglaublich dicke Frau und ihre sechs Töchter. Gleichzeitig flossen Trilith Namen und Daten zu. Sie wusste plötzlich, dass die Springerin Morchete hieß und die Patriar chin des notgelandeten Raumers war. Sie begleitete die sieben Frau en auf ihrem Weg in die Verbannung, erlebte den Tod Ruchardas und deren Schwestern. Und sie wurde Zeugin der immer enger wer denden Symbiose zwischen Morchete und den Tix, die schließlich mit dem Tod der überlebenden Besatzungsmitglieder der MORCH I ihren vorläufigen Höhepunkt fand. All das war vor mehr als einem halben Jahrtausend gewesen. Mit dieser Erkenntnis brach Triliths Verteidigung endgültig zu sammen. Ihre Stimme erstarb, und der unsichtbare Damm, der die Tix bislang zurück gehalten hatte, löste sich in Nichts auf. So ist es gut, hörte sie Morchetes zufriedenes Wispern. Lass es ein fach geschehen. Mit den Tix kamen neue Bilder. Die Insekten stürzten sich auf Tri lith, schlugen ihre winzigen Kiefer in ihr Fleisch. Nahrung war knapp. In den vergangenen Jahrhunderten hatten die Käfer mehrfach die natürlichen Grenzen ihrer Ausbreitung er reicht. Morchete musste die Expansion immer wieder begrenzen, um dem übrigen Tierbestand Gelegenheit zu geben, sich zu erneu
ern. Trilith wollte sich wehren, wollte die sich in sie hineinwühlenden Insektenleiber abstreifen, doch ihre Arme gehorchten ihr nicht mehr. Die Traube der sie einhüllenden Tiere wurde so schwer, dass die Frau sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Ihr Sturz kostete eine Reihe von Tix das Leben und das Brechen der Panzerschalen ließ sie eine groteske Art von Befriedigung empfinden. Doch was waren hundert oder tausend Käfer im Vergleich mit den Heerscharen, die Morchete zur Verfügung standen? Der bohrende Schmerz, den die Bisse der ausgehungerten Tiere er zeugten, brachte die Wut zurück. Sollte es das gewesen sein? Hatte sie sich fast drei Tage durch den Urwald gekämpft, Hunger, Er schöpfung und Riesenechsen getrotzt, nur um jetzt von Käfern ge fressen zu werden? Alles in ihr sträubte sich dagegen. Sie wand sich in den psionischen Ketten, in die sie Morchete gelegt hatte, versuch te sie zu zerreißen. Die einstige Patriarchin lähmte Trilith, indem sie mit Hilfe des Gesangs der Tix einen gewaltigen geistigen Block er zeugte. Aber auch die Springerin verfügte nicht über unbegrenzte Macht. Seit ihrer Racheaktion an der Besatzung der MORCH I hatte sie es ausschließlich mit Tieren zu tun gehabt. Sie hatte Vögel, Säu ger und Echsen angelockt, um den Tix Futter zu besorgen. So etwas war keine Herausforderung. Trilith dagegen war kein Tier. Sie war eine ausgebildete Kämpferin. Sie würde es nicht einfach geschehen lassen. Die junge Frau stemmte sich gegen den auf ihr lastenden Druck. In ihrer Vorstellung blähte sich ein hell leuchtender Ballon, der immer größer wurde, weil sie ihn mit ihrer psionischen Energie füllte. Un geheure Kräfte strömten mit einem Mal durch ihren Körper, Kräfte, von denen sie bis jetzt nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß. Der Ballon dehnte sich ruckartig aus, drängte Morchetes Aura fast mü helos zur Seite und schleuderte ihre Angriffswellen auf die Patriar chin zurück. Ein wütender Schrei explodierte in Triliths Kopf. Vor ihr teilte sich
die schwarze Wand der Tix und gab den Blick auf das Wrack der Springerwalze frei. Dort wälzte sich aus den Tiefen des Schiffs rumpfs ein monströses Wesen hervor, ein unförmiger tonnenschwe rer Koloss, über und über mit nässenden Geschwüren und Wuche rungen bedeckt. Der kugelförmige Fleischberg rollte wie eine Lawi ne auf Trilith zu, machte auch vor den hastig zur Seite weichenden Käfern nicht Halt. Der Anblick dessen, was einmal die Springerpatriarchin Morchete gewesen war, versetzte Trilith einen Schock. Das Sekret der Käfer hatte aus der Frau ein Monster gemacht, das seit über fünfhundert Jahren als eine Art lebender Tumor existierte, umhegt und versorgt von den Tix, die die gefährlichen Wucherungen kaum so schnell vertilgen konnten wie sie nachwuchsen. Wie ertrug man ein solches Schicksal? Musste man dabei nicht zwangsläufig den Verstand ver lieren? Erspare mir dein Mitleid! Ich brauche es nicht! Der scharfe Protest Morchetes brachte Trilith in die Realität zu rück. Sie ließ den imaginären Ballon noch einmal sprunghaft an schwellen und empfand dabei eine unbeschreibliche Leichtigkeit. All ihre Sinne schienen auf das Äußerste geschärft zu sein. Sie nahm jedes noch so unscheinbare Detail ihrer Umgebung wahr. Morchete dagegen hatte ihren Ausfall abgebrochen. Trilith fühlte, wie sie unter der Last ihrer eigenen psionischen Im pulse erstickte. Sie wollte sich zurückziehen, den Ballon verkleinern, denn es hatte nie in ihrer Absicht gelegen, die ehemalige Patriarchin zu töten, doch es war längst zu spät. Die Tix kannten keine Trauer. Für sie war Morchete nutzlos geworden, und deshalb taten sie das, was schon immer in ihrer Natur gelegen hatte. Sie fraßen. Vermut lich würde es das letzte Festmahl vor dem großen Hunger sein, denn ohne den lenkenden Einfluss Morchetes würde die Nahrungs versorgung zum beherrschenden Problem werden. Diesmal konnte sich Trilith Okt nicht mehr gegen die Müdigkeit wehren. Die Erschöpfung war vollkommen, und sie fühlte sich aus
gebrannt wie niemals zuvor in ihrem Leben. Das Letzte, was sie empfand, bevor sie in eine tiefe Ohnmacht sank, war Schwerelosig keit.
Jesper Gablenz Gegenwart »Keine besonderen Vorkommnisse, Kommandant! Bitte um Erlaub nis, meine Freischicht antreten zu dürfen!« Jesper Gablenz nickte seinem Ersten Offizier zu, der es danach auffällig eilig hatte, die Zentrale der TRADIUM zu verlassen. Wäh rend Jesper hinüber zu seinem Sessel vor der Panoramagalerie ging, setzte er ein zufriedenes Grinsen auf. Cole Wagman, sein Stellvertre ter, hatte in den letzten Monaten ein paar Pfunde zugelegt, was ein strengerer Vorgesetzter durchaus als grobes Dienstvergehen angese hen und entsprechend geahndet hätte. Jesper dagegen hatte den Mann in seine Kabine bestellt und ihn ohne jede Vorrede aufgefor dert, hundert Liegestütze zu machen. Cole hatte 82 geschafft, eine beachtliche Leistung, für einen Ersten Offizier der Unionsflotte aller dings bei weitem nicht ausreichend. »In einer Woche treffen wir uns wieder hier, Mr. Wagman«, hatte Jesper gesagt, und dem hastig atmenden Mann freundschaftlich eine Hand auf die Schulter gelegt. »Dann werden wir diese kleine Übung wiederholen, und Sie wissen sicher, welches Ergebnis ich erwarte.« Wortmans »Jawohl, Kommandant« klang wie die letzten Worte ei nes Sterbenden. Der Gewichtsverlust war schon nach ein paar Tagen deutlich sichtbar gewesen, und den Logs der Schiffsüberwachung entnahm der Kommandant, dass sein Erster einen Gutteil seiner knappen Freizeit in den Fitnessräumen verbrachte. Am nächsten Tag war es soweit, dann war die Frist abgelaufen. Jesper Gablenz überflog die elektronischen Aufzeichnungen der vergangenen vier Stunden. Die TRADIUM flog mit konstanter Ge schwindigkeit in Richtung Ephelegon-System. Der dreifach besetzte Orterstand registrierte anhand der Daten nach wie vor keinerlei Ver
folger. Dennoch war der Kommandant des Sphärendrehers weit da von entfernt, sich sicher zu fühlen. Die Existenz eines Zellaktivators auf Finkarm hatte sich viel zu schnell herumgesprochen, und es stand zu erwarten, dass sich die Nachricht in Windeseile weiterver breitete. Andererseits gehörte die TRADIUM zum Modernsten, das die ZGU derzeit zu bieten hatte. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen Kommandant.« Jesper Gablenz zuckte unwillkürlich zusammen und verfluchte sich im sel ben Augenblick für diese Unkonzentriertheit. Er hasste es, sich eine Blöße zu geben. Vor allem aber hasste er es, sich vor dieser Frau eine Blöße zu geben. Ernesta Gori hatte sich herangeschlichen wie eine der in den Grau bergen auf Rudyn heimischen Kantori-Katzen auf Beutefang. Das tat sie immer, und deshalb ärgerte sich Jesper um so mehr, diesmal nicht darauf vorbereitet gewesen zu sein. Er hatte die Agentin des Geheimen Kalkulationskommandos beim Betreten der Zentrale nicht bemerkt. Ihre Fähigkeit, sich praktisch unsichtbar zu machen, war eine ihrer zahlreichen unangenehmen Eigenschaften, und auch wenn der Kommandant zugeben musste, dass eine solche Begabung für eine Mitarbeiterin im Außendienst durchaus von Vorteil sein konn te, hinderte ihn das nicht daran, sein Gegenüber dafür zu hassen. Die große, hagere Frau mit den kurzen, blau gefärbten Haaren war in ihrer Funktion als Beraterin an Bord gekommen. Die Überstel lungspapiere waren von Neife Varidis persönlich zertifiziert wor den. Was hätte Jesper also tun können? Nichts! Immerhin hatte sich Ernesta Gori gar nicht erst bemüht, ihre Rolle als Geheimdienstspitzel zu verbergen. Sie hatte von Beginn an kei nen Zweifel daran gelassen, dass es ihr Verpflichtung und Vergnü gen zugleich sein würde, jedwede Verfehlung des Kommandanten und seiner Elitebesatzung aufzuzeigen und nötigenfalls mit entspre chenden Maßnahmen zu korrigieren. Seit der Sicherstellung des Zel laktivators war sie ihm praktisch nicht mehr von der Seite gewichen. »Danke, Ms. Gori«, sagte Jesper Gablenz mit vollendeter Selbstbe
herrschung, ohne sich dabei umzudrehen. »Ich habe ausgezeichnet geschlafen. Sie in meiner Abwesenheit in der Zentrale zu wissen ist alles, was ich als Ruhekissen brauche.« Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war an Bord des Sphärendre hers bereits Legende, und der Mann spürte es sogar in seinem Rücken. Niemals in seinen 27 Dienstjahren in der Unionsflotte hatte Jesper Gablenz jemanden kennen gelernt, der so herablassend und unheilschwanger lächeln konnte wie Ernesta Gori. »Ich habe mir erlaubt, die aktuellen Orterdaten auf meine Konsole zu überspielen«, ging die Frau kommentarlos über den Spott des Mannes hinweg. Jesper schätzte sie auf etwa Mitte vierzig. Für eine Agentin der ZGU in wichtiger Mission ein erstaunlich geringes Alter, zumal Nei fe Varidis ganz sicher keine Anfängerin geschickt hatte. Die TRADIUM war erst vor acht Monaten in Dienst gestellt wor den, und die technischen Daten waren beeindruckend. Das Sphären rad mit seiner sechzig Meter durchmessenden und fünf Meter ho hen Scheibe, samt dickem Außenwulst war eine völlige Neukon struktion der Ingenieure. In den vergangenen Jahrhunderten hatte sich die Raumschiffforschung innerhalb der Union fast ausschließ lich am Beispiel der Terraner orientiert. Die Kugelriesen des Solaren Imperiums galten als das Vorbild in Sachen Kampfkraft, Schirmund Triebwerksleistung. Doch dann hatte man begriffen, dass man niemals zu Perry Rhodan und seinen Verbündeten würde aufschlie ßen können, wenn man immer nur die Brotkrumen aufsammelte, die diese auf dem Weg in die Zukunft fallen ließen. Also hatte man das Projekt ZUIM aus der Taufe gehoben und mit erheblichen finan ziellen Mitteln ausgestattet. Jesper Gablenz war stolz, dass auch er seinen Teil dazu beitragen durfte, der Union eine günstige Aus gangsposition im Wettrennen der politischen Blöcke zu verschaffen. Der Kommandant der TRADIUM war alles andere als ein Eiferer. In gewissem Sinn bewunderte er die Terraner sogar, denn sie hatten sich innerhalb kürzester Zeit und mit großem diplomatischen und
militärischen Geschick an die Spitze der galaktischen Gemeinschaft gesetzt. Auch seine eigenen Vorfahren waren einst von der Erde aus aufgebrochen, um ihre Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestim mung zu verwirklichen. Doch der Verfall des Solaren Imperiums war längst nicht mehr zu übersehen. Immer mehr Kolonien kündig ten die Bündnisse mit den Terranern und stellten das überholte Aut arkiegesetz von 2435 in Frage. Irgendjemand hatte schließlich den Begriff des Sterbenden Imperiums geprägt, der von den Medien dank bar aufgenommen und kolportiert worden war. Es war auf vielen Welten der allgemeine Tenor, dass der Zusammenbruch des eng mit dem Namen Perry Rhodan verknüpften Sternenreichs der Mensch heit nur noch eine Frage der Zeit war. Jesper Gablenz drehte sich nun doch um und stellte sich dem Lä cheln Goris. Einmal mehr hatte er das unangenehme Gefühl, dass diese Frau in seinem Gesicht las wie in einem offenen Buch. Gerüch te über parapsychisch begabte Bürger im Dienst des Kalkulations kommandos gab es seit Langem. Der Kommandant wollte nicht aus schließen, dass die Frau eine solche Mutantin war und womöglich seine Gedanken las. »Das ist Ihr Privileg«, sagte Jesper und lächelte ebenfalls, wenn auch lange nicht so gekonnt wie Ernesta Gori. »Möchten Sie nicht wissen, was ich entdeckt habe?«, fragte die Agentin. »Nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich weiß, dass es nichts zu ent decken gibt. Wenn es anders wäre, hätten mir das meine Mitarbeiter bereits mitgeteilt.« »Sie sind von der Qualifizierung der Frauen und Männer an Bord Ihres Schiffes überzeugt«, nickte Ernesta Gori nachdenklich. Es war keine Frage, aber Jesper Gablenz wäre auf der Stelle geplatzt, wenn er diese Bemerkung unkommentiert im Raum hätte stehen lassen müssen. »Ich habe jedes einzelne Mitglied meiner Besatzung persönlich ausgewählt«, gab er zurück und hoffte, dass seine Stimme gelasse
ner klang, als sie sich für ihn anhörte. »Falls Sie an der Eignung ir gendeiner Person – mich selbst eingeschlossen – zweifeln, dann sa gen Sie es offen und direkt.« Ernesta Gori legte die Stirn in Falten und zupfte sich mit Zeigefin ger und Daumen der rechten Hand ein imaginäres Stäubchen von ihrer mausgrauen Uniform. Der dünne, atmungsaktive Stoff um schloss ihre knochige Gestalt wie eine zweite Haut und wies nicht eine einzige Falte auf. »Meine Bemerkung war keineswegs als Vorwurf gemeint, Kom mandant«, gab sich die Agentin versöhnlich. »Ganz im Gegenteil. Sie sehen mich offenbar immer noch als jemanden an, der Ihnen Bö ses will. Das Gegenteil ist der Fall. Ich will Ihnen helfen – sofern Sie mich helfen lassen.« »Na schön«, nickte Jesper nicht im Mindesten überzeugt. »Wie würden Sie mir also helfen, wenn ich Sie denn ließe?« »Ich würde Ihnen zunächst raten, die TRADIUM zu stoppen.« »Warum?« »Weil wir verfolgt werden.« »Die Ortungsdaten sagen etwas anderes.« Jesper Gablenz erhob sich aus seinem Sessel und machte zwei Schritte in Richtung Piloten pult. Die Nähe zu der Agentin war ihm unangenehm. Diese Frau saugte den Sauerstoff aus der Luft. »Das ist genau der Punkt«, stimmte Ernesta Gori zu. »Die USO weiß von dem Aktivator. Es wäre vermessen zu glauben, dass sie nicht alle Hebel in Bewegung setzt, um das Gerät in ihren Besitz zu bringen. Glauben Sie mir, Kommandant: Wir werden verfolgt! Dar auf würde ich mein Leben verwetten.« »Bringen Sie mich nicht in Versuchung«, seufzte Jesper Gablenz. »Aber selbst wenn Sie recht hätten: Warum sollten wir dann stop pen? Würden wir den Gegner damit nicht einladen, sich zu … oh …« Der Mann unterbrach sich selbst, als ihm bewusst wurde, was im Kopf der Agentin vorging.
»Es wäre ein verdammt großes Risiko«, sprach der Kommandant des Sphärendrehers schließlich weiter. »Nicht unbedingt«, widersprach Ernesta Gori. »Die TRADIUM kann es mit jedem USO-Raumschiff aufnehmen. Zudem dürfen wir davon ausgehen, dass wir es keineswegs mit einem der großen Schlachtkreuzer zu tun haben, denn den hätten wir geortet.« »Warum fliegen wir nicht einfach weiter ins Ephelegon-System?«, fragte Jesper. »Selbst der beste USO-Spezialist kann uns dort nichts mehr anhaben.« Die Frau ging zu ihm hinüber und brachte ihr Gesicht ganz nah an seines. Jegliches Lächeln war daraus verschwunden, und ein kaum merklicher Duft nach Rudyn-Orchideen stieg dem Mann in die Na se. »Dieser Aktivator«, sagte sie leise, »könnte zu einem Politikum ersten Ranges werden, ja sogar einen Krieg auslösen. Wir müssen wissen, was uns erwartet. Möglicherweise ist das Ephelegon-System längst nicht mehr sicher für uns.« Jesper Gablenz sah seinem Gegenüber in die wasserblauen Augen. Gori wich dem Blick nicht aus. »Na schön«, sagte der Kommandant der TRADIUM. »Halten wir an und sehen, ob etwas passiert.«
Atlan Gegenwart »Du hast ein bewegtes Leben hinter dir«, sagte ich. Es klang ein we nig einfältig, aber angesichts dessen, was ich in den letzten beiden Stunden von Trilith Okt erfahren hatte, wäre wohl jeder Kommentar mehr oder weniger unpassend gewesen. Diese Frau faszinierte mich auf ungewöhnliche Weise – und dabei spielte das Körperliche nicht die geringste Rolle. Trilith Okt schleppte ein dunkles Geheimnis mit sich herum, und die Last auf ihren Schultern machte ihr sichtlich zu schaffen. Seit sie denken konnte, hatte man sie ausgenutzt, ver sklavt, ja sogar verstümmelt und tödlichen Gefahren ausgesetzt. Wer tat so etwas? Und aus welchem Grund? »Willst du sie sehen?«, fragte Trilith Okt. Im ersten Moment wuss te ich nicht, was sie meinte, doch dann wandte sie sich mit dem Rücken zu mir und teilte ihre schwarzen Haare am Hinterkopf. Die beiden Augen, die sich direkt unter einem etwa um die Mitte des Schädels verlaufenden Knochenwulst befanden, waren geschlossen und lagen tief in ihre Höhlen eingebettet. Als Trilith sie öffnete, wich ich unwillkürlich einen Schritt zurück. Es war ein beklemmender Anblick. »Ich benutze sie nicht oft«, erklärte sie freimütig, ließ ihr Haar wie der fallen und drehte sich um. »Aber in manchen Situationen sind sie äußerst nützlich.« Ihr breites Grinsen bewies, dass sie genau wusste, welche Wirkung ihr zweites Augenpaar auf Außenstehende hatte. »Das glaube ich gern«, sagte ich. »Ich nehme an, dass dein Aben teuer auf Fauron nach dem Tod Morchetes beendet war und die GA HENTEPE dich erneut an Bord genommen hat.« »So ist es«, bestätigte Trilith Okt. »Als ich erwachte, befand ich
mich in meiner Kabine. Meine Wunden waren versorgt und die Po sitronik setzte mich in Kenntnis, dass ich fünfzehn Stunden geschla fen hatte. Der Beinstumpf war fast vollständig ausgeheilt. Die vor Testbeginn verabreichte Injektion, so erfuhr ich, enthielt so genannte Nanoroboter. Das sind winzige …« Ich hob beide Hände und lächelte. »Ich kenne Nanoroboter.« »Der Bordrechner eröffnete mir weiterhin, dass der Test auf Fau ron auch dazu gedient hätte, meine latent vorhandene Fähigkeit der Psi-Reflektion anzuregen. In den folgenden Wochen musste ich ge zielt Trainingseinheiten absolvieren, um dieses Talent weiter zu ent wickeln und zu verfeinern.« »Du sprichst von deiner Befähigung, psionische Angriffe abzu wehren und auf den Gegner zurückwirken zu lassen, wie du es bei Morchete gemacht hast«, erkundigte ich mich. »Genau.« Sie holte sich einen neuen Becher aus dem Wandfach und trank ihn in einem Zug leer. »Jeder Einsatz meiner Gabe führt zu einem extremen Erschöp fungszustand«, fuhr sie fort, »und ich muss für ungefähr zehn Stun den regenerieren. Während dieser Phase bin ich zudem extrem emp findlich, was Geräusche, Gerüche und harte Lichtkontraste angeht.« »Wie ich sehe, hat man dir einen neuen Unterschenkel verpasst«, sagte ich. »Und ich darf wohl annehmen, dass er mit einigen techni schen Spielereien ausgestattet ist.« »Du darfst annehmen, was du willst«, entgegnete die Kämpferin. Mit einem Mal klang sie kalt und abweisend. »Du weißt bereits mehr über mich, als es mir recht ist.« »Ja.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Und ich frage mich, warum du mir das alles erzählst. Willst du, dass ich dir bei der Suche nach deiner Herkunft helfe? Der USO stehen Mittel und Wege offen, die einem Normalsterblichen verwehrt sind. Als Lor dadmiral könnte ich …« »Nein!« Trilith Okt hatte so heftig mit der Faust auf den Tisch ge
schlagen, dass der darauf abgestellte Becher umkippte und sich eini ge Tropfen Flüssigkeit auf der Platte verteilten. »Du wirst nichts der gleichen tun! Meine Angelegenheiten regele ich ganz allein!« »Schon gut, schon gut«, beschwichtigte ich sie. »Das war lediglich ein Angebot.« Wie auch immer, wisperte der Extrasinn. Du wirst dich um Trilith Okt kümmern müssen, wenn du wieder in Quinto Center bist. Hinter die ser Frau steckt vermutlich viel mehr, als wir derzeit auch nur ahnen kön nen. Woran denkst du?, wollte ich wissen. Das zweite Augenpaar, die Fähigkeit, ihre Stimme als Waffe einzusetzen, die Psi-Reflektion. Mein zweites Ich machte eine kurze Pause und sprach dann weiter. Ich bezweifle, dass eine solche Konstellation auf na türlichem Wege entstanden ist. Du glaubst also, dass Trilith Okt das Produkt genetischer Manipulation ist, stellte ich fest. Ich hatte längst ähnliche Überlegungen angestellt. Nicht die abwegigste Theorie, meinte der Logiksektor. Gezüchtet oder biologisch verändert und minutiös ausgebildet für einen ganz bestimmten Zweck. Du solltest vorsichtig sein. Bin ich das nicht immer?, dachte ich amüsiert. Das wüsste ich aber, wisperte der Extrasinn.
Holzer M. Buchard Gegenwart Offenbarung 54: Je mehr man über eine Frau weiß, um so mehr Rätsel tun sich auf. Holzer Mikele Buchard warf einen letzten Blick auf den soeben niedergeschriebenen Satz, nickte zufrieden und klappte das altmo dische Notizbuch zu. Dann ging er in die enge Hygienezelle hinüber und betrachtete sich selbst im Spiegel. Nein, er war alles andere als ein hässlicher Mann. Die schwarzen, lockigen Haare passten ausge zeichnet zu dem etwas rundlichen Gesicht mit der breiten Stirn und der gebräunten Haut. Ein schmaler Oberlippenbart verlieh ihm eine abenteuerliche Note, und die schwarzen Kontaktlinsen sorgten für einen geheimnisvollen Blick. Das alles kontrastierte perfekt mit der mausgrauen Kombination und dem in dunklem Rot abgesetzten Technikeremblem auf der Brust. Dennoch hatte ihm Tasja Benoit einen Korb gegeben. Genauso wie drei Tage zuvor Mirelle Kuramar. Wahrscheinlich hatten sie sich ab gesprochen. So etwas taten Frauen, und wenn es um Frauen ging, kannte Holzer sich aus. Soeben hatte er seine 54. Offenbarung for muliert und für die Nachwelt festgehalten. Wenn er hundert zusam men hatte, würde er sie als Lesespule veröffentlichen und damit Tausenden von Männern über die täglichen Enttäuschungen beim Umgang mit dem weiblichen Geschlecht hinweghelfen. Der Mann befeuchtete seine Zeigefinger mit der Zunge und strich sich über die auf den Millimeter exakt gestutzten Augenbrauen. In Situationen wie dieser geriet er tatsächlich ab und zu in Gefahr, an sich selbst zu zweifeln. Doch nur für kurze Zeit, dann rief er sich wieder zur Ordnung. Der Markt war hart umkämpft, und als Mann konnte man sich keine Unsicherheit leisten. Als Techniker der Klas
se 2 gehörte er vielleicht nicht zu den Großverdienern an Bord der ZUIM, allerdings musste er sich aber auch nicht hinter seinen Kolle gen verstecken. Wer die Ehre hatte, Dienst auf dem Sphärenrad aus zuüben, der zählte zu den absoluten Könnern seines Fachs, und wenn es um Biopositronische Grundprogrammierung ging machte ihm niemand etwas vor. Holzer M. Buchard überprüfte ein letztes Mal den korrekten Sitz seiner Kombination. Dann verließ er seine Kabine im Mannschaft strakt der C-Sektion von Sphäre 4 und schlug den Weg zum nächs ten Antigravlift ein. Elegant schwang er sich in den Einstieg von Schacht C-21, ließ sich acht Decks nach oben tragen und betrat we nig später die gut besuchte Kantine. Der rund fünfzig Quadratmeter große Raum war zum Großteil mit langen Tischen und Bänken aus gestattet. An der Stirnwand gab es sechs Speiseautomaten mit den entsprechenden Bedienfeldern. Ihnen gegenüber rollten zwei Fließ bänder, auf die man nach Beendigung der Mahlzeit das Tablett mit dem benutzten Geschirr stellen konnte. Es verschwand irgendwo in den unergründlichen Tiefen des äußeren Rings. »Micky! Hey, Micky!« Die Stimme von Fresko Balibari war so laut und schrill, dass sämtliche Flaschen und Gläser im näheren Umkreis hätten zerspringen müssen. Leider taten sie das nicht, was Holzer zutiefst bedauerte. Mit hochrotem Kopf ging er zu dem Tisch, an dem ihn Fresko mit einem breitem Grinsen erwartete. Er hockte vor einer bis zum Rand gefüllten Schüssel mit irgendeinem Fleischge richt, bereit, sich dieses in Rekordtempo einzuverleiben. Holzer ließ sich ihm gegenüber auf die Bank fallen und beugte sich zu dem pausbackigen Blondschopf hinüber. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst mich nicht Micky nen nen!«, zischte er wütend. »Vor allem nicht, wenn andere Leute in der Nähe sind!« »Du meinst, wenn Mädchen in der Nähe sind«, grinste Fresko und schaufelte sich einen gehäuften Löffel Fleischbrocken in den Mund. Braune Soße tropfte rechts und links aus den Mundwinkeln und in
die Schüssel zurück. »Du frisst wieder wie ein Schwein«, erboste sich Holzer M. Buchard. Manchmal ging ihm sein bester Freund einfach nur auf die Nerven. »Schweine fressen«, quetschte Fresko Balibari mit vollem Mund hervor. »Menschen essen.« »Dann iss gefälligst!«, rief der Techniker eine Spur zu laut. Sein Gegenüber zuckte ergeben mit den Schultern und schob die nächste Fuhre in seine weit geöffnete Ladeluke. »Meine Güte«, schmatzte er. »Welcher Siganese ist dir denn in die Suppe gefallen?« Holzer wandte sich angeekelt ab. Fresko Balibari war an sich ein prima Kerl. Er arbeitete als Lademeister in Sphäre 4. Dort kam der Großteil der Frachtcontainer von Rudyn an, vor allem aber das Er satzpersonal. Die meisten Techniker der Klassen 3 und 4 waren nur wenige Monate an Bord der ZUIM und wurden dann ausgewech selt. Das war insofern kein Problem, als dass sie lediglich Routinear beiten erledigten und zu vielen Bereichen des Sphärenrads ohnehin keinen Zutritt hatten. Die ZUIM unterlag noch immer der zweiten Geheimhaltungsstufe, auch wenn ihre Existenz inzwischen galaxis weit bekannt war. Holzer hielt sich oft im Bereich der Güterhallen auf, vor allem, wenn ein Schichtwechsel bevorstand. Dann verschaffte er sich gern einen Überblick über die Neuankömmlinge, insbesondere über die weiblichen, und bot sich diesen bei Bedarf als galanter Führer durch die verwirrenden Weiten des Sphärenrads an. Vor etwa zwei Jahren hatte eine dieser Führungen mit einem heim tückischen Tritt dorthin geendet, wo jeder Mann am verwundbars ten war. Der Vorfall hatte ihm immerhin Offenbarung 22 einge bracht: Auch die schönste Frau ist an den Füßen zu Ende. Und einen neuen Freund: Fresko Balibari. Der Lademeister hatte die peinliche Szene beobachtet und war in lautes Lachen ausgebrochen. Nicht unbedingt die idealen Vorausset
zungen für den Beginn einer wunderbaren Freundschaft, doch Hol zer M. Buchard war damals nicht in der Lage gewesen, die seiner Meinung nach angemessene Reaktion zu zeigen und den Mann zu verprügeln. Schließlich hatte Fresko ihm auf die Beine geholfen, in seine Kabine geschleppt und ihm dort eine hochprozentige Therapie in Form einer Flasche Rudyn-Whiskey angedeihen lassen. Es war eine lange und letztlich lustige Nacht geworden. »Was ist jetzt?«, wandte sich Holzer M. Buchard zwei Minuten später an seinen Freund. Fresko Balibari leckte gerade die Schüssel aus, ein Anblick, der dem Techniker endgültig die Lust auf ein eigenes Mittagessen nahm. Er hatte noch nie einen Menschen mit einer derart riesigen Zunge gesehen. Das Ding glich einem Wischlappen – und genauso sauber war auch die Schüssel, nachdem Fresko sie endlich absetzte. »Nur keine Hast«, sagte der Lademeister und begann, mit seinen Fingernägeln in den Zähnen herumzustochern. Holzer stand kurz vor der Explosion, und das merkte nun auch sein Kumpel, denn er hielt in seiner Mundhygiene inne, wischte sich die Hände an seiner Kombination sauber und stieß einen tiefen Seufzer aus. »53 neue Technikerinnen Klasse 3«, verkündete er leise. »135 Tech nikerinnen Klasse 4. Darunter ein paar echte Juwelen. Du hast die Daten bereits auf deinem Terminal. Darf ich trotzdem die obligatori sche Frage stellen, warum du dir das immer wieder antust?« »Du kannst dich ruhig über mich lustig machen«, zischte Holzer eingeschnappt, »aber eines Tages ist die Richtige dabei.« »Ich mache mich nicht über dich lustig«, schüttelte Fresko den Kopf »Ich glaube lediglich, dass du dich viel zu sehr unter Druck setzt. Warum lässt du es nicht einfach geschehen? Wirf dich in Scha le und dann ab ins Zotta oder ins Zentral-G. Da findest du die einsa men Hühner wie in einer Legebatterie.« »Was glaubst du, was ich jahrelang getan habe?«, brachte der Techniker zwischen zusammengepressten Lippen hervor. »Schieb mir einfach die Belegungsdatei rüber. Auf deine Ratschläge was
Frauen angeht, kann ich gut verzichten.« »Okay, okay, Casanova«, winkte Fresko ab. »Was meinst du? Soll ich mir noch einen Schokotraum genehmigen? Willst du auch einen? Ich lade dich ein.« »Nein, danke«, lehnte Holzer M. Buchard ab. »Ich habe zu tun.« Mit diesen Worten stand er auf und ging. Fresko Balibari war bereits auf halbem Weg zu den Speiseautoma ten.
Atlan Gegenwart »Ephelegon«, sagte Trilith Okt und deutete auf den Nebelschirm. Im Zentrum der Bilderfassung stand als apfelsinengroße Kugel die gel be Sonne. Die Positronik projizierte die elf Planeten und ihre Um laufbahnen als Punkte und Linien in die dreidimensionale Darstel lung. Rudyn war der vierte Trabant, eine erdähnliche Welt mit einer Schwerkraft, die nur knapp über der Terras lag. Obwohl die erste Kolonisierung bereits vor beinahe 500 Jahren erfolgt war, wurde der Planet nach wie vor von weitläufigen Waldgebieten, Steppen und Gebirgszügen beherrscht. Die Besiedlung konzentrierte sich auf die Küstengebiete und eine Reihe von Inseln auf der Südhalbkugel des Globus. Genzez, die Hauptstadt mit ihren 16 Millionen Einwohnern, erstreckte sich mehr als zwanzig Kilometer ins Landesinnere. Trilith Okt zog an einigen Quastenschnüren, und auf dem Schirm erschienen mehrere Dutzend farbig markierter Punkte. Die meisten davon konzentrierten sich in unmittelbarer Nähe Rudyns. »Da drüben herrscht Hochbetrieb«, stellte Trilith fest. »Ein gewis ser Jesper Gablenz an Bord unseres Sphärendrehers, hat gerade Kontakt mit dem Sphärenrad ZUIM aufgenommen und bittet um eine Andockerlaubnis an Sphäre 1.« »Die anderen Schiffe?«, erkundigte ich mich knapp. »In der Hauptsache Frachtraumer von diversen mit der ZGU asso ziierten Welten. Dazu Topsider, Springer, Posbis, Aras, ein Kugel raumer von Olymp …« »Olymp?«, unterbrach ich. »Ja«, sagte Trilith Okt. »Die KAPIUR. 200 Meter Durchmesser. Ihr Kommandant ist ein Terraner namens Sente Maluba. Er koordiniert
gerade einige Termine zwecks Aushandlung eines Liefervertrags über Hyperkristalle.« »Wo sollen diese Verhandlungen stattfinden?«, wollte ich wissen. »In Sphäre 4«, lautete die Antwort. »Das ist das äußerste Rad der ZUIM.« Die optische Bilderfassung hatte das Sphärenrad unterdessen ge stochen scharf auf den Nebelschirm projiziert, und auch wenn ich auf Quinto Center bereits Aufnahmen des Giganten gesehen hatte, musste ich doch zugeben, dass ich fasziniert war. Die ZUIM bestand aus vier Rädern, Sphären genannt, die ineinander gelagert waren und sich gegenläufig zueinander drehten. Auf den ersten Blick ent stand ein eher verwirrender Eindruck. Die zentrale Sphäre wies einen Innendurchmesser von 100 Metern auf und war gut 30 Meter dick, die vierte und größte Sphäre brachte es auf einen Durchmesser von beeindruckenden 800 Metern und eine Dicke von 200 Metern. Trotz aller Bemühungen war es mir bislang noch nicht gelungen, einen Agenten ins Innere dieses technischen Meisterwerks einzu schleusen. Bei den entsprechenden Versuchen waren drei USO-Spe zialisten auf Rudyn enttarnt worden. Es war viel Geld und einiges an diplomatischem Geschick nötig gewesen, um die Männer freizu kaufen und so vor langen Haftstrafen in den berüchtigten rudyn schen Gefängnissen zu bewahren. Mit der sich seit Monaten ab zeichnenden und von Neife Varidis vorangetriebenen Entspan nungspolitik hatte sich die Lage deutlich entkrampft. Offenbar wur den inzwischen sogar Vertragsverhandlungen auf der ZUIM ge führt, etwas, das vor kurzem noch völlig undenkbar gewesen wäre. Dir ist hoffentlich klar, dass du Kopf und Kragen riskierst, wisperte der Extrasinn. Schon das Bekanntwerden der heimlichen Anwesenheit des Lordadmirals der USO im Ephelegon-System kann der Funke sein, der das Pulverfass zur Explosion bringt. Wenn man dich zudem noch an Bord des Sphärenrads enttarnt, ist der außenpolitische Schaden nicht mehr zu bezif fern. Was soll ich deiner Meinung nach machen?, fragte ich. Den Aktivator
abschreiben? Lemy seiner letzten Chance berauben? Wir wissen nicht, wer alles über die Existenz des Geräts informiert ist. Wenn es unter den Kal faktoren zum Streit darüber kommt, wem der Zellaktivator zusteht, ist das Risiko ungleich größer. Die ZGU ist einer der zentralen Machtblöcke in der Milchstraße. Wenn sie zerfällt, könnte das geschehen, was Perry Rho dan seit langem befürchtet. Ein Bruderkrieg unter Terranern, sprach der Logiksektor die bittere Wahrheit aus. So ist es, bestätigte ich. Auf dem Nebelschirm geriet jetzt der Sphärendreher ins Blickfeld. Auf seiner Außenhülle leuchtete der Name TRADIUM in großen, gelben Lettern. Der Diskus mit dem breiten Außenwulst glitt ge schickt zwischen den drehenden Rädern hindurch und steuerte auf die innere Sphäre zu. Ich nickte anerkennend. Der Pilot verstand sein Handwerk. Das Andocken an das riesige Außenrad, das eine Reihe von entsprechen den Schleusen aufwies, war kein großes Problem. Bei den inneren Rädern sah das schon anders aus. Die TRADIUM lavierte mit oft nur wenigen Metern Abstand zur Außenhülle der ZUIM zwischen den Ringen hindurch und setzte sich passgenau ins Zentrum von Sphäre 1. »Was nun, Lordadmiral?«, erkundigte sich Trilith Okt. »Hast du eine Idee?« »Ist es dir möglich, Kontakt mit der KAPIUR aufzunehmen, ohne dass es die Überwachung der Unionstruppen bemerkt?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Die Frau musterte mich durchdringend. »Das ließe sich machen. Der Terraner hat seine Position gerade noch innerhalb der Grenzen des Ephelegon-Systems bezogen, dürfte also außerhalb des Erfas sungsbereichs etwaiger Lauscher liegen. Was soll ich Sente Maluba ausrichten?« Ich grinste. Natürlich hatte Trilith Okt sofort begriffen, dass meine Gegenwart im Herzen der ZGU unter allen Umständen unbemerkt
bleiben musste – zumindest so lange, bis ich wusste, woran ich mit der KAPIUR und Maluba war. Zum jetzigen Zeitpunkt wusste ich noch nicht, ob ich dem Mann vertrauen konnte. »Das Frachtschiff ist ein umgebauter Schwerer Kreuzer«, erklärte ich. »Der Zentralhangar sollte groß genug sein, um die GAHENTE PE aufzunehmen. Bitte um eine Audienz und lass dich einschleu sen.« »Warum sollte Maluba das tun?«, wollte Trilith Okt berechtigter weise wissen. »Weil du ihm lukrative Schürfrechte auf deiner Heimatwelt anbie ten wirst«, sagte ich. »Dein Erscheinungsbild entspricht keinem be kannten Volk der Milchstraße. Dein Raumschiff ist ein Bautyp, den er noch nie gesehen hat. Wenn Maluba wirklich ein echter Olymper ist, wird er der Versuchung nicht widerstehen können.« »Wenn ich den Ortungsschutz abschalte, kann uns nicht nur die KAPIUR erfassen«, wandte die junge Frau ein. »Dieses Risiko müssen wir eingehen«, entgegnete ich. »Sobald wir eingeschleust sind, sind wir vorerst in Sicherheit und können die nächsten Schritte in Ruhe planen.« »Du willst in das Sphärenrad eindringen, habe ich recht?«, fragte Trilith Okt. »Dort ist – nach allem, was wir derzeit wissen – der Zellaktivator«, schlussfolgerte ich. Kurz darauf schwenkten wir bereits in die Rand bereiche des Ephelegon-Systems ein.
Sente Maluba Gegenwart Ein kurzes Piepsen signalisierte, dass die Permitdatei vollständig empfangen und in den Speichern des Bordrechners abgelegt worden war. Sente Maluba zwirbelte zufrieden die Enden seines Schnurr barts und gratulierte sich selbst zu jener ausgefeilten Verhandlungs taktik, die ihm letztlich offizielle Vertragsgespräche mit führenden Vertretern des Ökonomischen Kalfaktorats eingebracht hatte. Bis zu Neife Varidis persönlich war er vorgelassen worden, und nun besaß er eine Permitdatei, die ihm und seinen Unterhändlern für die nächsten fünf Rudyn-Tage freien Zutritt zum Sphärenrad gewährte. Der Kapitän der KAPIUR hatte von Anfang an gewusst, dass sich der Flug ins Ephelegon-System lohnen würde. Auf Olymp machten seit längerem Gerüchte die Runde, dass sich die Union zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht liberalisierte und ihre Märkte auch für nicht assoziierte Handelspartner öffnete. Ein Grund dafür war frag los der gestiegene Bedarf an qualitativ erstklassigen Hyperkristallen, unabdingbare Voraussetzung für jede Form von höherdimensiona ler Technik. Nachdem Sente Maluba das Sphärenrad von innen ge sehen hatte, verstand er auch, warum die Mittelsmänner und Ver triebsagenten der ZGU an den Handelsplätzen der Galaxis hinter den Kristallen her waren wie der Teufel hinter einer armen Seele. Das Pfeifen des Interkoms riss den dunkelhäutigen Terraner aus seinen Gedanken. Auf seiner Kommandokonsole blinkte ein einsa mes grünes Licht. Er aktivierte die Verbindung. »Kapitän«, hörte er die helle Stimme von Muria Kalveda, Chefin der Funk- und Ortungszentrale. »Ich habe hier eine Trilith Okt, die Sie zu sprechen wünscht. Es geht um angeblich sehr gewinnbringen de Schürfrechte auf einer Welt namens Fauron.«
»Fauron?«, echote Maluba und runzelte die Stirn. »Nie gehört. Wo soll das sein?« »Irgendwo in der Eastside«, lautete die Antwort. »Und weshalb sollte ich mit dieser Trilith …«, der Mann zögerte. »… Okt«, half Muria Kalveda aus. »Genau. Weshalb also sollte ich mit der Dame reden?« Sente Ma luba war klar, dass ihn Muria nicht belästigt hätte, wenn da nicht noch etwas gewesen wäre. »Ich kann sie keinem bekannten Volk der Milchstraße zuordnen«, bestätigte die Frau seine Einschätzung. »Ebenso wie ihr Raumschiff in keinem der offiziellen Kataloge verzeichnet ist.« »Interessant«, sagte der Terraner. »Dann schalten Sie das Gespräch auf meinen Schirm und stellen Sie durch.« Der in der Konsole ver senkbare Monitor fuhr aus und erhellte sich. Einen Sekundenbruch teil später erschien darauf das Gesicht einer fremden Humanoiden. Das exotische Antlitz mit der zierlichen Nase, den vollen Lippen und den rötlich schimmernden Augen zog ihn sofort in seinen Bann. Um das rechte Auge herum trug die Fremde ein schwarzblaues Feu ermal in Form eines neunarmigen Kraken; vielleicht war es aber auch nur eine Tätowierung. »Mein Name ist Trilith Okt«, sagte die Frau mit angenehmer Stim me, die der Kapitän der KAPIUR auf Mitte Dreißig schätzte. »Ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten.« Sente Maluba lachte laut. »Sie halten offenbar nicht viel von Förm lichkeiten, Ms. Okt. Das gefällt mir. Darf ich fragen, wie ausgerech net ich zu der Ehre komme?« »Man hat mir erzählt, dass Terraner ehrliche und faire Handels partner seien«, sagte die Unbekannte ohne eine Miene zu verziehen. »Ist diese Information korrekt?« »In den meisten Fällen schon«, lächelte der Mann. »Natürlich gibt es in jeder Herde auch schwarze Schafe.« Am fragenden Ausdruck in ihrem Gesicht erkannte Maluba, dass sie mit terranischen Rede
wendungen nicht vertraut war. »Was ich damit sagen will«, präzisierte er, »ist, dass man nie sicher sein kann, mit wem man sich einlässt. Sie verstehen?« »Vollkommen«, kam die Erwiderung. Trilith Okt legte den Kopf zur Seite, bei ihrem Volk womöglich eine Geste der Zustimmung. »Deshalb schlage ich vor, dass ich mit meiner GAHENTEPE ein schleuse und wir uns persönlich unterhalten. Falls Sie irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen treffen möchten, bin ich selbstverständlich einverstanden.« »Sind Sie allein?«, wollte Sente Maluba wissen. »Nein«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Ich bringe noch einen Geschäftspartner mit. Er freut sich schon darauf, Sie kennen zu ler nen.« Der Kommandant betrachtete sinnend das etwa vierzig Meter durchmessende und an der dicksten Stelle acht Meter hohe Diskus schiff auf dem Panoramaschirm. Yolkan Bent, sein Erster Offizier, schaute ihn an und schüttelte den Kopf. Keine Gefahr sollte das hei ßen. Er hatte den Raumer Trilith Okts in den letzten Minuten mit al len zur Verfügung stehenden Mitteln durchleuchtet. »Gut«, traf Maluba schließlich seine Entscheidung. »Wir sehen uns in fünfzehn Minuten im Hangar.« Nachdem er die Verbindung unterbrochen hatte, wandte er sich an seinen Stellvertreter. »Mr. Bent, Sie bleiben hier und beobachten alles. Sobald Sie auch nur die geringste Unregelmäßigkeit bemerken, verfahren Sie nach dem allgemeinen Notfallplan.« »Verstanden, Sir«, rief der Erste Offizier. »Gehen Sie allein?« Der Kapitän der KAPIUR zögerte einen Moment, dann glitt ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Nein«, sagte der Mann. »Ich wer de unseren Benjamin mitnehmen. Es wird Zeit, dass sich der Junge seine Sporen verdient.« Das Lachen der Zentralebesatzung hörte er noch, als sich das Schott hinter ihm längst geschlossen hatte.
Atlan Gegenwart Eine Viertelstunde später glitt das Außenschott der GAHENTEPE zur Seite und gab den Weg in den Zentralhangar der KAPIUR frei. Der Kreuzer war erstaunlich gut in Schuss, obwohl er sicher schon achtzig oder hundert Jahre auf dem metallenen Buckel hatte. Viele terranische Frachtschiffe stammten aus ehemaligen Beständen der Solaren Flotte. Die außer Dienst gestellten Raumer wurden abgerüs tet, generalüberholt und über ein Konsortium der GCC auf dem frei en Markt angeboten. Sofern der Kalup-Konverter in Ordnung war und die übrige Technik regelmäßig gewartet wurde, konnte ein Schiff wie die KAPIUR noch gut und gerne weitere hundert Jahre durchhalten, zumal ein Frachter weit weniger Belastungen ausge setzt war als ein Kampfraumer. Die natürliche Materialermüdung schritt viel langsamer voran. Trilith Okt verließ den Diskus als erste. Vor der schmalen Rampe, die aus der Schleusenkammer der GAHENTEPE hinaus führte, hat ten sich zwei höchst unterschiedliche Männer aufgebaut. Sente Ma luba, den ich bereits auf dem Nebelschirm in der Zentrale des Dis kusschiffes gesehen hatte, trug eine schmucklose Kombination in Blau sowie schwarze Stiefel mit silbernen Schnallen an den Schäften. Im Gürtelholster steckte ein Standard-Kombistrahler. Ich registrierte beruhigt, dass er auf Betäubung geschaltet und gesichert war. Der Kapitän der KAPIUR war ein eher kleiner Mann und reichte Trilith Okt nur knapp bis zur Stirn. Der graue Schnurrbart wirkte unter der fleischigen Nase etwas verloren, zumal er die einzige Be haarung war, die Maluba an seinem Kopf hatte. Selbst die Augen brauen waren abrasiert. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte die Frau aus kleinen, schwarzen Augen.
Neben ihm stand ein über 1,90 Meter großer Hüne mit langen, rostroten Haaren, die er im Rücken zu einem Pferdeschwanz zusam mengebunden hatte. Das jugendliche Gesicht wirkte seltsam unfer tig und ausdruckslos, so als wäre es mit einer hauchdünnen Wachs schicht überzogen. Der junge Mann war im Gegensatz zu Maluba nicht bewaffnet und vermittelte insgesamt eher den Eindruck, dass er im Moment so ziemlich überall lieber gewesen wäre als im Zen tralhangar des Schweren Kreuzers. Als Trilith fast die Mitte der Rampe erreicht hatte, trat auch ich aus dem Schatten der Schleusenkammer. Ganz bewusst hatte ich auf jeg liche Maskerade verzichtet. Ich war einfach zu bekannt, als dass ein solches Unterfangen mit den beschränkten Mitteln der GAHENTE PE zu realisieren gewesen wäre. Zudem wollte ich Maluba um einen nicht gerade kleinen Gefallen bitten. Wenn er Trilith und mich in das Sphärenrad einschmuggelte und man ihn dabei erwischte, brachte ihn das in Teufels Küche. Das Mindeste, was ich ihm schul dig war, war Offenheit und Aufrichtigkeit. Der Mann, der bislang nur Augen für Trilith Okt gehabt hatte, starrte mich an wie einen Geist. Sein muskulöser Begleiter wich so gar zwei Schritte zurück. Ich kannte solche und ähnliche Reaktionen zur Genüge. Die meisten so genannten Normalsterblichen entwickel ten in Gegenwart von Aktivatorträgern eine unbewusste Scheu, oft sogar regelrechte Ehrfurcht. Ich hatte es schon lange aufgegeben, mich über solche Dinge zu wundern. Stattdessen ergriff ich die In itiative. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Kapitän Maluba«, sagte ich, schritt an Trilith Okt vorbei auf den Terraner zu und streckte ihm die Hand entgegen. Er ergriff sie ohne zu zögern; sein Hände druck war fest. »Es ist sonst nicht meine Art, mich unter Vorspiege lung falscher Tatsachen an Bord von Frachtschiffen zu schleichen, aber die Umstände ließen mir leider keine andere Wahl.« »So, so«, erwiderte mein Gegenüber, der die Überraschung er staunlich schnell überwunden hatte – ganz im Gegensatz zu dem
jungen Burschen an seiner Seite. Der Rotschopf schien noch immer nicht glauben zu können, dass der Lordadmiral der USO, einer der prominentesten und einflussreichsten Männer der Galaxis leibhaftig vor ihm stand. »Wenn es einen Ort gibt, an dem wir uns ungestört unterhalten können«, sprach ich weiter, »würde ich Sie gern aufsuchen und Ih nen alles erklären.« »Ich kann es kaum erwarten«, sagte Sente Maluba. Er bedeutete uns zu folgen. Dabei warf er einen indignierten Blick auf das dreißig Zentimeter lange Vibro-Messer, das in einer Lederscheide am Gürtel der Frau hing. Ich hatte sie zwar gebeten, die Waffe an Bord der GA HENTEPE zurückzulassen, doch dieser Bitte war sie nicht nachge kommen. »Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen«, wandte ich mich lächelnd an den jungen Terraner, der puterrot anlief und wohl am liebsten im Arkonstahl des Hangarbodens versunken wäre. »Mein Name ist Atlan«, gab ich mich betont locker und bot auch ihm die Hand. Er nahm sie so vorsichtig in die seine, als hätte er Angst, sie zu zerbrechen. »Und wie darf ich Sie nennen?«, fragte ich, als der Jüngling keiner lei Anstalten machte, etwas zu erwidern. »W… Wyt«, brachte er nach mehreren Versuchen endlich mühsam hervor. »Zwei … Zweiter Offizier Balton Wyt, Mr. Atlan … äh, Sir …«
Balton Wyt Vergangenheit Wie hatte er nur so blöd sein können. Das ganze war von Anfang an eine Schnapsidee gewesen. Sente Maluba, dieser elende Heuchler, war nur zu gerne bereit gewesen, ihn mitzunehmen, damit er jeman den hatte, an dem er seine Launen abreagieren konnte. Vermutlich war er sogar großzügig dafür entlohnt worden. In ein paar Monaten feierte Balton Wyt seinen 25. Geburtstag! Seine Altersgenossen zo gen jede Nacht durch die Clubs und Nacktbars von Trade City. Und was machte er? Er dümpelte mit einem zweitklassigen Lastkahn durch die Galaxis und gab den Sandsack für eine Horde sadistischer Halbaffen. Natürlich hatte er unter Druck gestanden. Nachdem sein Vater ihm sämtliche Kreditchips hatte sperren lassen, war auch die Anzahl seiner Freunde – und vor allem Freundinnen – drastisch gesunken. Trotzdem war es nicht richtig gewesen, ihn derart in die Enge zu treiben. Ihn vor die Wahl zu stellen, entweder eine Ausbildung an einer der Solaren Flottenakademien zu beginnen oder mindestens zwölf Monate Dienst auf einem Frachtschiff zu schieben. Das war Nötigung. Wo, bitte schön, stand geschrieben, dass mit 24 Jahren der Spaß vorbei sein musste und der Ernst des Lebens begann? Noch dazu, wenn man einen Vater hatte, der vor Geld geradezu stank! Das eigentlich Verrückte an der Sache war, dass sein Vater offen bar auch noch davon überzeugt war, ihm einen Gefallen zu tun. Wie konnte man als erfolgreicher Geschäftsmann nur so verbohrt sein? Du musst lernen, selbständig zu werden, mein Sohn! Du musst deinen eigenen Weg im Leben gehen, mein Sohn! Eines Tages wirst du mir dankbar sein, mein Sohn!
Alles dummes Geschwätz! Wie konnte man einen eigenen Weg ge hen, wenn man ständig in eine bestimmte Richtung gestoßen wur de? Letztlich hatte er sich gefügt. Er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass der seine Drohungen wahr machen würde. Von seiner Mutter konnte er keine Hilfe erwarten. Sie gehörte der offen bar niemals aussterbenden Tu-was-dein-Vater-sagt-Generation an und erlaubte sich nur dann eine eigene Meinung, wenn es um aktuelle Mode und die neusten Skandale aus der Welt der Reichen und Schö nen ging. Sie hatte ihrem Gatten einen Stammhalter geboren und sah damit ihre ehelichen Pflichten als erfüllt an. Der kleine Balton hatte sie nie besonders interessiert. Wozu gab es Erzieherinnen und Privatlehrer? Sie hatte eine Dienstleistung erbracht – und diese ließ sie sich seit fast 25 Jahren fürstlich vergüten. Balton Wyt brachte nicht einmal die Überwindung auf, sich von ihr zu verabschieden, als er an Bord der KAPIUR ging. Sein Vater dagegen hatte darauf bestanden, ihn persönlich zum Raumhafen zu fahren. Vermutlich wollte er sichergehen, dass sein Sprössling nicht im letzten Moment einen Rückzieher und sich aus dem Staub mach te. Zugegeben: Balton hatte entsprechende Überlegungen angestellt. In Trade City war sein Name nach wie vor für ein paar Kredite gut. Ein oder zwei Wochen hätte das Geld ganz ohne Frage gereicht, und er hätte die Party seines Lebens feiern können. Vielleicht hätte er so gar eine Passage nach Lepso aufgetrieben, wie er es schon lange plante. Im Vergleich zu Orbana, der Hauptstadt der Freihandels welt, war Trade City ein Nonnenkloster. Auf der anderen Seite besaß sein Vater eine gewisse Skrupellosig keit, vor allem wenn es um die Familie ging. Einmal hatte er dem damals acht Jahre alten Jungen die Erlaubnis zum Besuch des Kon zerts von Trade Log Holiday, einer zu diesem Zeitpunkt auf Olymp überaus populären Musikgruppe, verweigert. Daraufhin war Balton zornig davongelaufen und per Anhalter nach Trade City gefahren.
Das Anwesen der Wyts lag etwa zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und war von einer hohen Mauer gesichert. Ein Energie schirm machte das Überklettern unmöglich. Für auserwählte Besu cher existierte ein Gleiterlandeplatz vor dem Haus. Alle anderen Gäste mussten durch das einzige, streng überwachte Tor. Balton Wyt war am späten Abend reumütig nach Hause zurückge kehrt und hatte sich auf ein mächtiges Donnerwetter eingestellt. Doch niemand antwortete, als er die an der Pforte angebrachte Mel detaste drückte. Seine Eltern mussten wissen, dass er da war. Er hatte oft genug mitbekommen, wenn das Sicherheitssystem einen Ge schäftspartner seines Vaters oder eine der aufgetakelten Freundin nen seiner Mutter meldete. Als auch nach einer halben Stunde nie mand öffnete, hatte er sich neben das Tor auf den kalten Boden ge setzt und den Rücken gegen die Mauer gelehnt. In den ersten Stunden hielt ihn sein Trotz einigermaßen warm. Er malte sich aus, was sein Vater wohl sagen würde, wenn er den Sohn am Morgen erfroren vorfand. Alle würden mit den Fingern auf ihn zeigen und wahrscheinlich musste er sogar ins Gefängnis. Dem klei nen Balton gefiel dieser Gedanke so sehr, dass er ihn sich in allen Details ausmalte. Am Ende zerbrach gar das kleine Handelsimperi um, das die Wyts sich aufgebaut hatten, und alles nur, weil Thomrat Wyt seinem achtjährigen Sohn eine Lektion erteilen wollte, und ihn dabei zu Tode brachte. Mit der Nacht kamen die Kälte und der Hunger, und Baltons Wut wich der Verzweiflung und dem Selbstmitleid. Warum behandelte ihn sein Vater auf derart grausame Weise? War es ihm egal, was sei nem Sohn widerfuhr? Was war das nur für ein Mensch, der ein Kind allein und hungrig in der Dunkelheit hocken ließ, während er selbst mit vollem Bauch in einem großen, warmen Bett schlief? Als Boscyks Stern mit seinen ersten Strahlen die Finsternis ver trieb, öffnete sich das Tor endlich. Balton Wyt wurde durch das Summen des ausfahrenden Gleiters geweckt. Es war ihm nicht mög lich, durch die getönten Scheiben der Fahrerkabine zu sehen, aber
wer anderes als sein Vater konnte das Fahrzeug steuern? Der Junge huschte so schnell er es mit seinen steifen Gliedern vermochte durch die sich bereits schließende Pforte, ging auf sein Zimmer und mach te sich für den täglichen Unterricht fertig. Am folgenden Abend ver lor Thomrat Wyt kein einziges Wort über diesen Vorfall, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Es war also keineswegs auszuschließen, dass der Vater sich wei gerte, für die Schulden seines Sohnes gerade zu stehen, auch wenn das bedeutete, dass er ihn damit einer möglichen Verurteilung durch die Behörden auslieferte. Er würde Balton – wie so oft – ein fach vor dem Tor sitzen lassen. Balton Wyt wusste selbst nicht genau, was er sich von dem Trip mit der KAPIUR erwartet hatte. Schon nach einer Woche war ihm allerdings klar geworden, dass der Frachter seine ganz persönliche Hölle war. Sente Maluba entpuppte sich als despotischer Peiniger, dem es ein diebisches Vergnügen bereitete, seinen Zweiten Offizier – eine modernere Bezeichnung für Prügelknabe – mit ebenso demüti genden wie unlösbaren Aufgaben vor der gesamten Mannschaft bloßzustellen. Zu Beginn war alles noch eher harmlos gewesen. So hatte bei spielsweise das technische Personal während eines Wachdienstes im Maschinenraum einen Reaktorunfall nebst Austritt radioaktiven Ga ses simuliert. Balton hatte tatsächlich geglaubt, sterben zu müssen. Brillant war auch die Idee gewesen, Amanda McAllistor auf ihn zu hetzen. Die Funkerin hatte ihm erst den Kopf verdreht und ihn dann nackt, mit verbundenen Augen und auf den Rücken gefesselten Händen, vor allem aber mit der Zusicherung ultimativer sexueller Genüsse, in die Mannschaftsmesse geführt. Dort wartete nicht nur der Großteil der Besatzung, sondern auch eine hochauflösende Ho lokamera. Balton Wyts Auftritt stand wochenlang auf Platz 1 des bordinternen TriVid-Programms. Ja, Daddy wäre sicher stolz auf ihn gewesen. Er hatte ernsthaft überlegt, seinem Vater eine Kopie des Holovideos zu schicken, aber das hatte Sente Maluba wahr scheinlich schon längst für ihn erledigt.
Später waren die Streiche handfester – und schmerzhafter – ge worden. Er hatte versucht, den Kapitän darauf anzusprechen, doch der lachte nur, bezeichnete die derben Scherze seiner Untergebenen als Initiationsriten und riet ihm, sich nicht so anzustellen. Also begann Balton Wyt, die Tage bis zur Rückkehr nach Olymp zu zählen und verbrachte ansonsten die meiste Zeit seiner Freischichten in der klei nen Kabine, die man ihm zugewiesen hatte. Die nächste Landung auf Tercho, dem wichtigsten Raumhafen Olymps, war für den 12. August 3102 terminiert, und spätestens dann würde Balton die KA PIUR verlassen, um nie mehr zurückzukehren. Die Aussicht auf die Auseinandersetzung mit seinem Vater schreckte ihn nicht halb so sehr, wie der Gedanke, weitere sechs Monate an Bord dieses Teu felsschiffs verbringen zu müssen. Notfalls würde er nach Terra aus wandern. Er hatte gehört, dass man dort nicht arbeiten musste, wenn man nicht wollte. Der Staat sorgte dann für einen, und da er auf der Erde geboren war, konnte man ihn nicht abweisen. Die verfügbaren Unterhaltungsprogramme an Bord hatte Balton schon früh als untauglich identifiziert. Also suchte er nach Möglich keiten, sich Zerstreuung auf einem genehmen Niveau zu beschaffen. Die dazu notwendigen Fertigkeiten hatte er bereits vor langer Zeit entwickelt. Wenn es um Computer ging, war Balton Wyt von jeher ein äußerst kreativer Zeitgenosse gewesen. Wenig später hatte Sente Maluba, dieser charakterlose Bastard, verkündet, dass er seine Pläne geändert habe und man einen Abste cher ins Ephelegon-System, dem Machtzentrum der Zentralgalakti schen Union machen würde. Angeblich böte sich dort die Möglich keit, einige gewinnbringende Kontrakte über die Lieferung von Hy perkristallen abzuschließen. Der Heimaturlaub auf Olymp war da mit gestrichen – und Balton Wyt am Boden zerstört. Das war nun zwei Wochen her, und der Frachterkapitän hatte es tatsächlich geschafft, sich einen Termin bei Neife Varidis, der Chefin des ZGU-Geheimdienstes, zu erschleichen. Diese hatte der Aufnah me von Vertragsverhandlungen zugestimmt, und so war Maluba zum strahlenden Helden aufgestiegen. Balton Wyt hatte die Nach
richten der diversen TriVid-Sender aufmerksam verfolgt. Viel mehr konnte er in seiner Kabine ja nicht tun. Dabei war ihm schnell be wusst geworden, dass Sente Maluba einfach Glück gehabt hatte. Die ZGU kaufte Hyperkristalle in rauen Mengen, was fraglos dem Sphärenrad ZUIM und dessen in Planung befindlichen Schwester schiffen geschuldet war. Die Union war ein schlafender Riese – und der schickte sich nun an, aufzuwachen. Die neue Situation entpuppte sich für Balton Wyt als Glücksfall. Plötzlich gab es zu viel zu tun, als dass sich die Männer und Frauen der KAPIUR noch mit der gewohnten Aufmerksamkeit um ihre Lieblings-Zielscheibe hätten kümmern können. Sogar Balton selbst musste mit anpacken und bekam anstelle jener Jobs, die sonst keiner haben wollte, echte Arbeit, die ihn forderte und die ihm erstaunli cherweise Spaß machte. Maluba hatte ihn damit beauftragt, auf Basis der Förderquoten und Frachtkapazitäten einen Lieferplan zu erstellen, den man den Verhandlungsführern der Union vorlegen konnte. Balton Wyt hatte weit mehr getan und besagten Plan in drei Szenarien gegliedert. Das erste gestaltete er äußerst konservativ, legte lange Transportzeiten zugrunde und kalkulierte Verzögerungen ein. Das zweite rechnete er anspruchsvoller, verkürzte die Dispositionsspannen und ließ die KAPIUR die Hälfte der Strecke mit maximalem Überlichtfaktor flie gen. Das dritte Szenario schließlich lieferte Termine, die bei optima lem Einsatz der Ressourcen und maximalen Anstrengungen aller be teiligten Personen gerade noch einzuhalten waren. Als Bonus be wertete Balton die drei Alternativen mit ihren jeweiligen Kosten und legte das Ergebnis seiner Berechnungen Sente Maluba vor. Es war das erste Mal, seit er an Bord des Frachters gegangen war, dass ihn der glatzköpfige Terraner nicht mit einer abfälligen Bemerkung be dachte. Am folgenden Tag verbrachte er die Freischicht wie üblich in sei ner Kabine. Als der Interkom summte und das Rufsignal Malubas zeigte, dachte Balton Wyt zunächst, der Kapitän hätte die Szenarien
ausgiebig studiert und wolle sich nun mit ihm darüber unterhalten. Dem war jedoch nicht so. Der Terraner beorderte ihn in den Zentral hangar. Dort sei Besuch eingetroffen und er brauche einen Adjutan ten. Balton Wyt machte sich umgehend auf den Weg. Wenn Sente Ma luba etwas hasste, dann war es Unpünktlichkeit.
Atlan Gegenwart Sente Maluba führte uns in einen Konferenzraum in der Nähe der Zentrale. Ich nutzte die Gelegenheit, um mir am Getränkespender einen kochend heißen terranischen Kaffee zu besorgen, ein Getränk, das ich während meiner langen Odyssee auf der Erde kennen und lieben gelernt hatte. Einen zweiten Becher stellte ich vor Trilith Okt ab und nickte ihr aufmunternd zu. Die junge Frau nahm einen Schluck von der schwarzen Brühe und verzog angewidert das Ge sicht. Ich zuckte mit den Schultern, ließ mich neben ihr in einen der bequemen Sessel fallen. Für einige Sekunden gab ich mich ganz dem Aroma des dampfenden Gebräus hin. Zum ersten Mal war ich Ende des 15. Jahrhunderts während einer Reise durch Arabien auf Kaffee gestoßen. In einem Gasthaus nahe der Pilgerstadt Wadial-Taqa hatte die Frau des Wirts die kleinen Bohnen in einer großen Eisenpfanne geröstet und danach in einem Mörser zerstampft. Das grobe Pulver wurde dann mit Wasser und Zucker in einem Tonkrug aufgekocht und in kleinen Schälchen ge reicht. Ich war … Warum gibst du deine unterhaltsamen Reiseanekdoten nicht laut zum besten?, wisperte der Extrasinn. Dann haben alle etwas davon. Die Si cherstellung des Zellaktivators kann bestimmt noch ein paar Tage warten. Ich seufzte ergeben, was mir zwei verwunderte Blicke von Maluba und Balton Wyt einbrachte. Bisweilen wünschte ich, du würdest einfach mal ein paar Wochen Urlaub machen. Da bist du nicht der Einzige, kommentierte mein zweites Ich lau nisch.
Ich trank noch einmal aus meinem Becher, stellte ihn dann zur Sei te und lehnte mich über die wuchtige Platte des Konferenztisches nach vorn. Der Kapitän der KAPIUR sah mich erwartungsvoll an. Sein Zwei ter Offizier dagegen wusste weder wohin mit seinen Blicken noch mit seinen Händen. Mit knappen Worten schilderte ich die aktuelle Situation, berichte te von den aufgefangenen Impulsen eines Zellaktivators, den Bemü hungen, das Gerät in meinen Besitz zu bringen, der Begegnung mit Trilith Okt und der anschließenden Verfolgung des Sphärendrehers. Zum Abschluss wies ich auf die gefährliche galaktopolitische Kon stellation mit dem Solaren Imperium und der USO auf der einen, so wie den großen Blöcken des Carsualschen Bundes, des Imperiums Dabrifa und der Zentralgalaktischen Union auf der anderen Seite hin. »Es ist deshalb unbedingt zu verhindern«, schloss ich meinen Vor trag nach einer knappen Viertelstunde, »dass der Aktivator in die Hände eines der unabhängigen Kolonialreiche fällt. Die Konsequen zen könnten verheerend sein und in einen Bruderkrieg münden, der die gesamte Milchstraße in Mitleidenschaft zieht.« Sente Maluba hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Balton Wyt ebenso, wenn auch im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten mit weit geöffnetem Mund und einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen beginnendem Wahnsinn und völliger Verständnislosigkeit lag. Ich wartete geduldig. Der Kapitän der KAPIUR zwirbelte seinen Schnurrbart, fuhr sich mit der rechten Hand über die spiegelblanke Glatze und zwirbelte seinen Schnurrbart noch ein bisschen mehr. Ich spürte die Unruhe Trilith Okts neben mir und berührte sie wie zufällig am Arm. Als sie zu mir hinübersah, schüttelte ich kaum merklich den Kopf. »Ein Zellaktivator also, wie?«, brach Maluba nach einer scheinba ren Ewigkeit das Schweigen.
»So ist es.« »Und ich soll meine Crew, mein Schiff und meinen Ruf als ehrli cher Geschäftsmann riskieren, um Ihnen und Ihrer Begleiterin zu helfen.« Ich wollte etwas sagen, aber der Terraner hob beide Arme. Er stand auf, ging zum Getränkespender hinüber und orderte einen Orangensaft. Nachdem er mehrmals an dem Becher genippt hatte, kehrte er zum Tisch zurück und setzte sich wieder. Ich hatte in mei nem langen Leben zu viele ähnliche Diskussionen geführt, um mich von seiner absichtlich zur Schau getragenen Trägheit provozieren zu lassen. »Ich möchte ganz ehrlich zu Ihnen sein, Lordadmiral«, fuhr Sente Maluba schließlich fort. »Ich würde mich nicht unbedingt als ein Freund des Solaren Imperiums oder der USO bezeichnen. Die GCC nutzt ihre ökonomische Vormachtstellung in der Galaxis oft in schamloser Weise aus. Sie wissen sicher besser als ich, dass fast die Hälfte aller Profite, die Terra Jahr für Jahr verbucht, aus Rüstungs geschäften stammen.« Ich schloss für einen Moment die Augen. Wollte mich Maluba tat sächlich in eine Debatte über das Wirtschaftsgebaren der General Cosmic Company, dem größten Handelskonzern der Milchstraße verwickeln? »Ist es etwa nicht richtig, dass sich Ihr geschätzter Genosse Homer G. Adams, Träger eines Zellaktivators, immer wieder über Handels embargos hinweggesetzt, den freien Güterverkehr durch Importzöl le behindert und unzählige Kleinunternehmen durch Dumpingprei se in den Ruin getrieben hat? Wurden Kolonien, die sich nicht im Sinne der GCC verhielten, nicht immer wieder mehr oder weniger offen mit Boykotten bedroht? Ist die von Ihnen hier so überaus dra matisch dargestellte galaktopolitische Konstellation in Wahrheit nicht das Produkt einer über Jahrhunderte hinweg praktizierten Unter drückung und Monopolisierung des interstellaren Geschäftsver kehrs durch das Adamssche Firmenimperium?«
Maluba hatte sich jetzt in Rage geredet. Ihm war anzusehen, dass er diesen inneren Groll gegen die seit über tausend Jahren bestehen de Führungsrolle der GCC in der Milchstraße schon lange in sich trug. Mit mir hatte er endlich jemanden gefunden, bei dem er seinen Zorn entladen konnte. »Sie befürchten einen Bruderkrieg, Lordadmiral?« Der Kapitän der KAPIUR lachte humorlos. »Meines Wissens war es schon erwähnter Homer G. Adams, der einmal gesagt hat, dass eine Flotte meutern kann, Geld jedoch nie. Wenn Sie mich also um Hilfe bitten, appellie ren Sie dann an meine Loyalität als Terraner oder an meine Nase für gute Geschäfte?« »Ich appelliere an Ihren gesunden Menschenverstand«, sagte ich ruhig. »Niemand behauptet, dass die GCC eine Wohltätigkeitsorga nisation ist. Sie will Geld verdienen, so wie alle anderen auch. Dass dabei ab und zu mit harten Bandagen und am Rand der Legalität gekämpft wird, muss ich Ihnen sicher nicht sagen. Wo also liegt Ihr Problem?« »Mein Problem ist«, konterte Maluba, dem anzusehen war, dass er sich nur mühsam unter Kontrolle hielt, »dass die GCC ein ver dammtes Staatsunternehmen ist, und dass Ihr Busenfreund Perry Rhodan Milliarden Solar in Infrastrukturmaßnahmen investiert, die ausschließlich jenen Planeten zugute kommen, die sich an das Solare Imperium binden. Das ist Protektionismus in Reinkultur.« »Hören Sie, Kapitän Maluba«, sagte ich. »Mir sind Ihre Argumente alles andere als fremd, denn ich höre sie seit Jahrhunderten. Ich bin auch gerne bereit, mich mit Ihnen über all diese Themen ausführlich auszutauschen, doch im Moment brennt mir die Zeit unter den Nä geln. Noch ist der Zellaktivator an Bord des Sphärenrads, doch das kann sich jede Sekunde ändern. Ich darf die Spur nicht verlieren.« »Und wie soll ich Ihnen behilflich sein?«, fragte der Terraner knapp. »Bringen Sie mich und Trilith Okt als Mitglieder Ihrer Delegation an Bord der ZUIM«, sprach ich das aus, was Maluba längst ahnte.
»Das ist alles, was ich verlange.« »Das ist eine ganze Menge. Wenn die Sache auffliegt, verliere ich womöglich nicht nur meine Handelslizenz, sondern auch mein Le ben.« »Lassen Sie die Spielchen, Kapitän Maluba«, winkte ich ab. »Sie wissen, dass Sie am längeren Hebel sitzen und jeden Preis verlangen können. Also, was wollen Sie? Geld? Ein paar exklusive Kontrakte mit der GCC? Ein neues Raumschiff? Wie immer Sie zum Solaren Imperium oder zur USO stehen, mein Freund: Sie halten die Chance Ihres Lebens in den Händen. Werfen Sie sie nicht weg.« »Was ich will?« Von einer Sekunde auf die andere gefroren die Züge des Mannes zu einer starren Maske. Er erhob sich ruckartig von seinem Sessel. »Geben Sie mir das zurück, was man mir vor vier Jahren im Talipura-System genommen hat. Wenn Sie das schaffen, Lordadmiral, bringe ich Sie an jeden beliebigen Ort des Universums!« Sente Maluba hatte den Konferenzraum eilig verlassen, bevor ich etwas sagen konnte. Sein Zweiter Offizier wollte es ihm klamm heimlich gleichtun, doch ich hielt ihn zurück. »Mr. Wyt!«, rief ich. »Haben Sie noch einen Augenblick Zeit für mich?« Der bullige junge Mann drehte sich um. Auf seiner Stirn glänzte ein feiner Schweißfilm. »Äh … ja, Sir … Selbstverständlich …«, brachte er unbeholfen her aus. »Nennen Sie mich einfach Atlan«, lächelte ich. »Und entspannen Sie sich. Möchten Sie auch einen Kaffee?« Ich ging hinüber zum Ge tränkespender, um mir einen weiteren Becher zu besorgen. »Nein … vielen Dank, Sir … Atlan«, schüttelte Balton Wyt den Kopf. »Ich … ich trinke keinen Kaffee.« »Ach, tatsächlich?«, sagte ich überrascht. »Darf ich fragen, woher Sie kommen, Mr. Wyt? Sie sehen nicht wie ein typischer Olymper
aus.« »Terra«, kam die Antwort. Langsam schien sich der Junge zu beru higen. »Ich bin auf Terra geboren. Meine Familie lebt allerdings auf Olymp. Meinem Vater gehört ein kleines Transportunternehmen in Trade City. Die Wyts entstammen einer alten Freihändlerfamilie, die ihre Geschäfte schon zu Zeiten von Kaiser Lovely Boscyk abgewi ckelt hat.« »Aha«, nickte ich, setzte mich an den Tisch zurück und bedeutete ihm, mir gegenüber Platz zu nehmen. »Mr. Wyt«, kam ich zur Sache. »Haben Sie irgendeine Ahnung, was Ihr Kapitän vor vier Jahren im Talipura-System verloren hat?« »Äh … nein … Atlan. Kapitän Maluba und ich sind … also, wie soll ich sagen … wir sind nicht unbedingt die besten Freunde. Ich weiß nicht viel über ihn. Tut mir leid.« »Das muss es nicht«, sagte ich. »Eine andere Frage: Teilen Sie die Ansichten Malubas in Bezug auf das Solare Imperium und die USO?« »Na ja … wissen Sie …« Balton Wyt zuckte die Schultern. »Für Po litik habe ich mich nie besonders interessiert. Das alles war immer … so weit weg.« »Tja«, sagte ich und erlaubte mir ein kurzes Grinsen, »inzwischen hat sie sie eingeholt. Sie sind der Zweite Offizier der KAPIUR, rich tig?« »Richtig …« »Ihr Spezialgebiet?« »Spezialgebiet?« »Ja. Spreche ich Jülziish?« Langsam bekam ich das Gefühl, es hier nicht gerade mit dem intelligentesten Vertreter der Spezies Mensch zu tun zu haben. »Als Offizier müssen Sie ein technisches oder stra tegisches Spezialgebiet haben. So lange kann Ihre Abschlussprüfung doch noch nicht her sein.« »Äh … Atlan … Sir … ich fürchte, hier liegt ein gewaltiges Miss
verständnis vor.« Ich sah, wie dem Jungen das Blut ins Gesicht schoss. Schweißtropfen liefen links und rechts an seinen Schläfen herunter. »Also, ich bin … nicht ganz … sagen wir … freiwillig hier.« Balton Wyt wischte sich mit dem Ärmel seiner hellbraunen Uniform über das Gesicht. »Mein Vater dachte, es wäre … eine gute Idee, wenn ich … also, er meinte, ich müsse meinen eigenen Weg finden und so … Sie verstehen?« Ich verstand. Mit Balton Wyt hatte ich offenbar den einzigen Men schen an Bord der KAPIUR erwischt, der mir nicht helfen konnte. Der Bursche war nichts weiter als ein verwöhntes Söhnchen aus bes seren Kreisen, das sich noch nicht entschieden hatte, was es mit sei nem Leben anzufangen gedachte und dessen Vater der Ansicht war, es könne nicht schaden, wenn er diesem Entscheidungsprozess ein wenig nachhelfe. »Können wir jetzt gehen?« Trilith Okt war der Unterhaltung stumm gefolgt. Jetzt meldete sie sich zu Wort. »Wir werden einen anderen Weg in das Sphärenrad finden.« »Warum rufen Sie nicht einfach Ihre Leute von der USO zu Hilfe?«, erkundigte sich Balton Wyt zaghaft. Ich seufzte. »Weil der Funkverkehr im Ephelegon-System streng überwacht wird. Schon die Kontaktaufnahme mit der KAPIUR war ein kaum kalkulierbares Risiko. Ich habe es nur gewagt, weil das Schiff weit von Rudyn entfernt parkt und die GAHENTEPE mit mi nimaler Sendeleistung gefunkt hat. Eine Kontaktaufnahme mit Quinto Center oder einem anderen USO-Stützpunkt ist unmöglich. Und mir läuft die Zeit davon!« »Würde es helfen, wenn die Signale nicht als Funkwellen zu er kennen wären?« fragte Wyt. Ich stutzte und musterte ihn eingehend. Seine Gesichtsfarbe wurde noch eine Spur röter. »Wie meinen Sie das?«, wollte ich wissen. »Ich … ich bin … ich habe ziemlich viel Zeit, weil … also, ich ken ne hier ja eigentlich niemanden. Ich … halte mich meistens in mei
ner Kabine auf und das TriVid-Programm … na ja, das ist nicht be sonders toll … also, da kann man schon mal …« »Mr. Wyt«, unterbrach ich den jungen Mann scharf. »Kommen Sie zur Sache!« »Entschuldigen Sie, Sir«, würgte der Zweite Offizier heraus. »Also ich habe meinen TriVid-Decoder derart … modifiziert, dass ich mich damit in die laufenden Programme aller Sendequellen im Umkreis von rund hundert Lichtjahren schalten kann. Das funktioniert zwangsläufig in beide Richtungen, da ja die Steuerimpulse des Emp fängers entsprechend transformiert werden müssen und …« »Ausgezeichnet«, unterbrach ich ihn erneut. »Das heißt, ich könnte über ein Relais innerhalb des Sendegebiets Verbindung mit der STABILO aufnehmen, und die Systemüberwachung würde das als eine Übertragung gewöhnlicher TriVid-Steuerimpulse verzeichnen.« »Sofern Ihre Sendung kurz genug und entsprechend verschlüsselt ist«, fügte Balton Wyt hinzu. »Längere Impulsfolgen würden als An omalien registriert und näher untersucht.« »Sie würden uns Ihren kleinen … Piratensender zur Verfügung stel len, Mr. Wyt?« Ich sah ihn ernst an. »Es wäre mir eine Ehre, Sir!«
Jesper Gablenz Gegenwart Der Kommandant der TRADIUM wurde bereits in der Han garschleuse von zwei Angehörigen der Inneren Sicherheit und ei nem schlanken Mann mit den Rangabzeichen eines Wissenschaftli chen Beraters empfangen. Während die beiden Wachleute aufmerk sam die Umgebung prüften, stellte sich der Wissenschaftler als Ki komo Akubari, persönlicher Adjutant des Kalfaktors Ponter Nastase vor. »Sie haben das Objekt bei sich?«, fragte er knapp. Jesper klopfte wortlos auf den kleinen, silbernen Metallkoffer, den er bei sich trug. Er war mit einem Kodeschloss ausgerüstet, das auf seine Zellkern strahlung geeicht war. Wurde der Koffer von jemand anderem als ihm selbst geöffnet oder geriet er mehr als fünfundzwanzig Meter außer Reichweite, würde eine Mikrofusionsladung nicht nur den Kofferinhalt, sondern im Umkreis von mindestens fünfzehn Metern alles zu einem Häufchen Asche verbrennen. »Folgen Sie mir«, forderte ihn Akubari auf und ging voran. Jesper Gablenz warf einen letzten Blick auf den angedockten Sphärendre her. Lediglich ein schwach glimmender Energieschirm trennte die Hangarschleuse vom freien Weltraum. Auf der ZUIM kam die mod ernste Technik zum Einsatz, die diese Galaxis zu bieten hatte. Wenn die Sphärenräder erst einmal in Serienfertigung gegangen waren, würden sich Perry Rhodan und seine Terraner nicht mehr so ohne Weiteres als die Herrscher der Milchstraße aufspielen können. Es war ein wunderbares, ja ein erhabenes Gefühl, Teil einer solchen Entwicklung zu sein. Die Besatzung der TRADIUM hatte strikte Anweisung erhalten, bis auf Weiteres an Bord zu bleiben. Niemand durfte den Sphären
dreher verlassen. Lediglich der Kommandant war zu einem direkten Gespräch in die Privaträume des Kalfaktors für Wissenschaften ge beten worden, eine hohe Auszeichnung, deren Bedeutung sich Jes per Gablenz durchaus bewusst war. Über einen Antigravschacht, den Akubari mittels einer Kodekarte aktivierte, schwebte er einige Decks nach oben. Ein schmaler Gang führte vom einzigen Ausstieg zu einem Schott, das der Adjutant er neut mit seiner Karte öffnen musste. Die beiden Wachen blieben zu rück. Akubari schloss das Schott, nachdem Jesper Gablenz den da hinterliegenden Raum betreten hatte. »Bedienen Sie sich, Kommandant«, sagte er und deutete auf die Bar. Sie war in die Wand des luxuriös ausgestatteten Arbeitsraums integriert. Auch wenn sich Jesper nicht viel aus alkoholischen Ge tränken machte, erkannte er dennoch, dass er mindestens einen Mo natssold hätte aufbringen müssen, um die dort aufgereihten Fla schen zu kaufen. Da er nicht unhöflich wirken wollte, trat er an die Bar heran und goss Wasser aus einer Karaffe in eines der Gläser aus geschliffenem Kristall. Akubari nickte ihm zu und verließ den Raum durch ein zweites, sich automatisch öffnendes Schott. Der Kommandant der TRADI UM brauchte nicht lange warten. Er hatte die Kalfaktoren bislang stets nur in den TriVid-Programmen gesehen. Auch die Anweisung, ins Xanthab-System zu fliegen und dort nach einem möglicherweise existierenden Zellaktivator zu forschen, war ihm auf einem ver schlüsselten Hochrangkanal übermittelt worden. Die Datei hatte sich fünf Minuten nach dem Öffnen automatisch gelöscht. Ponter Nastase trug eine der üblichen grauen Kombinationen, die an Bord der ZUIM zum Standard gehörten. Lediglich der breite Gürtel mit dem roten Logo der ZGU und das Metallgespinst um sei nen Kopf, im Volksmund auch als Hefien bezeichnet, unterschieden ihn von einem gewöhnlichen Techniker oder Unionsoffizier. Der fast zwei Meter große Mann füllte den Raum sofort vollstän dig aus, und der gekrümmte Gang nahm ihm dabei nicht das Min
deste von seiner Präsenz. Fasziniert betrachtete Jesper Gablenz das knochige Gesicht mit den blauroten Wangenflecken. Aus den Medi en wusste er, dass es sich dabei um Erfrierungen handelte, doch wie sich der Kalfaktor diese zugezogen hatte, blieb ein Geheimnis. Das Hefien schmiegte sich eng an den Schädel und hüllte diesen fast vollständig ein. Winzig kleine Kameras und Speichermodule umschwirrten das Gespinst wie ein Insektenschwarm, dockten in re gelmäßigen Abständen an schmalen Schlitzen an und lösten sich wieder. Dazwischen erzeugten unsichtbare Holoprojektoren Bilder und Datentabellen, die in verwirrender Folge vor Nastases Augen auftauchten, kurz verharrten und dann wieder erloschen. Gerüchte besagten, dass der Kalfaktor für Wissenschaften über das Hefien In formationen direkt in sein Gehirn importierte, doch eine gesicherte Bestätigung dafür gab es nicht. »Ich freue mich, Sie gesund und wohlbehalten zu sehen, Komman dant Gablenz.« Als Jesper vorschriftsmäßig salutierte, winkte Ponter Nastase ab, kam die wenigen Schritte auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Ersparen wir uns diese Förmlichkeiten«, sagte er. »Ich darf an nehmen, dass die Operation im Xanthab-System ohne größere Kom plikationen verlaufen ist?« »Nun, Sir«, erwiderte Jesper. »Leider haben wir zwei Verluste zu beklagen. Dennoch konnten meine Leute den Aktivator wie befoh len sicherstellen.« Er hob kurz den Metallkoffer. »Gute Arbeit, Kommandant«, zeigte sich Nastase zufrieden. Über die beiden Toten verlor er kein weiteres Wort. »Sie haben die ganze Sache doch hoffentlich mit größtmöglicher Diskretion behandelt?« »Selbstverständlich, Sir«, antwortete Jesper Gablenz. »Außer mir selbst kennen nur vier Personen die wahren Hintergründe des Ein satzes auf Finkarm. Mein Erster Offizier Cole Wagman, die Agentin des Geheimen Kalkulationskommandos Ernesta Gori sowie Reg Bo vida und Jamain Kalakas, die beiden Männer, die das Gerät schließ lich an Bord der TRADIUM brachten.«
Der Kommandant würde den Moment, als ihm die beiden Männer den Aktivator ausgehändigt hatten, wohl niemals vergessen. Das an einer dünnen Kette befestigte eiförmige Gebilde hatte so unschein bar und harmlos ausgesehen, und doch wusste er, dass einige Jahr hunderte zuvor ungezählte Bewohner der Milchstraße ihr Leben verloren hatten, um in den Besitz eines solchen Zellaktivators zu ge langen. Selbst Jesper Gablenz hatte lange Minuten in seiner Kabine gesessen, das Gerät betrachtet und sich vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn er ihn sich umlegte. Doch er hatte es nicht getan. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, sich mit dem Gerät abzusetzen und unterzutauchen, wäre er für den Rest seines zwar immerhin ewig währenden Lebens ein Gejagter geblieben. Ihm standen nicht einmal ansatzweise die Mittel zur Verfügung, einen Zellaktivator gegen die Begehrlichkeiten seiner Mitmenschen zu verteidigen. Die Unsterblichkeit war anderen vorbehalten, Persönlichkeiten wie Pon ter Nastase zum Beispiel, die etwas damit anzufangen wussten. Er dagegen würde seinen verdienten Lohn für seine Loyalität ganz si cher erhalten. »Gut«, lächelte der Kalfaktor. »Dann lassen Sie mal sehen.« Jesper trug den Koffer zu dem riesigen, vollkommen leeren Schreibtisch hinüber und legte ihn flach auf die Tischplatte. Dann presste er beide Daumen in entsprechende Vertiefungen rechts und links des Kodeschlosses. Ein leises Zischen ertönte. Zwei Leuchtfel der erstrahlten in hellem Grün und signalisierten, dass die Sprengla dung entschärft worden war. Der Kommandant des Sphärendrehers trat zur Seite und nickte Ponter Nastase auffordernd zu. Das geordnete Chaos um den Kopf des Kalfaktors für Wissen schaften erlosch augenblicklich. Offenbar hatte er das Hefien abge schaltet. Nichts sollte diesen feierlichen Moment stören, den Mo ment, in dem er den ersten Blick auf die Unsterblichkeit warf. Jesper Gablenz war klar, dass Nastase den Aktivator für sich selbst bean spruchte. Die Fragen, die er gestellt hatte, der Ablauf des Einsatzes und nicht zuletzt die Tatsache, dass der Kommandant auf dem Weg hierher keiner Menschenseele begegnet war, ließen nicht den ge
ringsten Zweifel aufkommen. Jesper glaubte fest daran, dass Ponter Nastase der richtige Mann für eine so schwere Bürde war. Er kannte die Ansichten des Kalfak tors aus seinen Reden und Medienauftritten. Die meisten Beratun gen im OPRAL wurden in das planetare TriVid-Netz eingespeist, so dass jeder interessierte Bürger sie verfolgen konnte. Zudem unter hielten alle 21 Kalfaktoren so genannte Orientierungsdepots, die man Tag und Nacht erreichen und in denen man sich in allen Details über Werdegang, Erfolge und politische Ziele des betreffenden Kal faktors informieren konnte. Ponter Nastase stand in Jespers Augen für die neue, die selbstbe wusste Union. Beendigung der Isolation ja, jedoch nur auf einem Fundament militärischer Stärke. Akzeptanz kultureller Vielfalt, je doch nur unter Beibehaltung moralischer Grundsätze und tradierter klassischer Werte. Das war die Gesellschaft, in der Jesper Gablenz leben wollte, und für die er bereit war zu kämpfen. Vor über tausend Jahren hatte ein gewisser Perry Rhodan seine Vi sion zum Leben erweckt, die Menschheit geeint und zu den Sternen geführt. Ohne die zunächst von der Superintelligenz ES gewährten Zellduschen und die spätere Verleihung eines Zellaktivators wäre ihm das nicht möglich gewesen. Nun sollte Ponter Nastase seine Chance bekommen, und möglicherweise machte er es besser als der legendäre Terraner. Der Kalfaktor für Wissenschaften hatte inzwischen die obere Kof ferschale zurückgeklappt. Sein Atem ging hörbar schneller. Das Zit tern seiner Hände war nicht zu übersehen. In der Mitte des mit schwarzem Tuch ausgeschlagenen Koffers und von einem Prallfeld fixiert lag der Zellaktivator. Nastase streck te die rechte Hand aus, zögernd, beinahe ängstlich, und berührte das bläulichrot schimmernde Material, ließ die dünne, angeblich un zerreißbare Kette durch seine Finger gleiten. »Er ist so … klein«, flüsterte er. Jesper Gablenz schwieg. Was immer er in diesem Moment gesagt
hätte, es wäre der Bedeutung des Augenblick nicht gerecht gewor den. Hier empfing ein Mann das ewige Leben, ein Mann, der der Galaxis womöglich ein neues Gesicht geben würde. Ponter Nastase nahm den Zellaktivator aus dem Koffer und legte ihn an. Er ließ das nur wenige Zentimeter durchmessende Ei im Ausschnitt seiner Kombination verschwinden und atmete tief durch. Der Blick seiner grauen Augen schien in unendliche Fernen zu schweifen. Woran mochte der Kalfaktor in diesem Moment wohl denken? An die Jahrtausende, die vor ihm lagen? An die großen Dinge, die er zu vollbringen gedachte? »Sir?«, sagte der Kommandant der TRADIUM leise. »Wenn Sie er lauben, würde ich gerne zu meinen Leuten zurückkehren und …« Die letzten Worte blieben Jesper Gablenz buchstäblich im Halse stecken. Entgeistert starrte er in die Mündung des kleinen Nadel strahlers, den Ponter Nastase aus einer seiner zahlreichen Gürtelta schen hervorgezogen hatte. Der kaum sichtbare Energiestrahl drang knapp unterhalb des Herzens in seinen Körper ein. Der Komman dant fühlte keinen Schmerz, nur ein großes Bedauern. Nun würde er den Triumph des Kalfaktors nicht mehr erleben. Jesper Gablenz war tot, noch bevor sein Körper den Boden berühr te.
Atlan Gegenwart Balton Wyts Kabine klein zu nennen, wäre eine Übertreibung gewe sen. Die bessere Abstellkammer maß kaum mehr als neun Quadrat meter und war mit einer schmalen Koje, einem Klapptisch, einem Stuhl und einem Terminal nebst versenkbarem Bildschirm ausge stattet. Die sich anschließende Hygienezelle war ebenfalls sehr klein. Der Unordnung zufolge schien der junge Terraner alles andere als ein ordnungsliebender Mensch zu sein. Überall lagen getragene Kleidungsstücke herum, auf dem Tisch standen Teller mit verkrus teten Speiseresten, und das Bett war vermutlich zu Zeiten der Me thankriege das letzte Mal gemacht worden. Ich fragte mich, ob ihm kein Reinigungsroboter zur Verfügung stand. »Ich … also …«, startete Wyt mit einer Rechtfertigung und schob mit dem rechten Fuß eine fleckige Uniform zur Seite. Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter. »Aufräumen können Sie später, Mr. Wyt«, sagte ich. »Wir haben Wichtigeres zu tun.« »Ja, natürlich, Sir … Atlan.« Er lächelte gequält, quetschte sich an mir vorbei und aktivierte mit einem Tastendruck das Terminal. Der Bildschirm leuchtete kurz auf und zeigte dann das Auswahlmenü des bordinternen Netzwerks. Die Finger des jungen Mannes flogen mit beachtlichem Tempo über die Tastatur. Ich hatte Mühe, dem Weg, den er sich in Rekordzeit durch den elektronischen Datend schungel bahnte, zu folgen. Balton Wyt umging die von der Bordpo sitronik der KAPIUR überwachten Kanäle, wählte sich in die gesi cherten Kommandofrequenzen ein und identifizierte seinen Zugriff mit einer Hochrangbevollmächtigung. Ich starrte ungläubig auf die neue Menüstruktur, die es ihm offen
sichtlich erlaubte, jede Information abzurufen, die in den Speichern des Frachters abgelegt war. Angefangen von den Logbucheinträgen des Kapitäns bis hin zu den Konstruktionsplänen des Kreuzers. »Bei allen Göttern Arkons«, rief ich. »Wie haben Sie das gemacht?« »Es ist … ganz einfach, Sir«, erklärte der Terraner. »Zunächst müs sen Sie Ihre persönliche Identifikationskennung mit Hilfe eines Rucksacks, das ist ein harmloses kleines Transportprogramm, in der Datenbank der Hauptpositronik hinterlegen. Dann aktivieren Sie einen virtuellen Nanoscanner, den Sie …« »Okay«, stoppte ich ihn. »Details können Sie mir später erzählen. Wie lang darf ein Text höchstens sein, wenn ich ihn als TriVidSteuerimpuls getarnt zur STABILO schicken will?« »Sie sind sicher, dass sich Ihr Schiff nicht weiter als hundert Licht jahre entfernt befindet?« erkundigte sich Balton Wyt. »Ich hoffe es«, lautete meine Antwort. »Ken Jinkers kann zwei und zwei zusammenzählen – und er weiß, dass der Aktivator von Ange hörigen der ZGU erbeutet wurde.« Kurz nachdem ich an Bord der GAHENTEPE gegangen war, hatte ich den Kommandanten des Leichten Kreuzers noch darüber infor miert, dass ich die Verfolgung des Sphärendrehers allein aufnehmen wollte. Jinkers hatte inzwischen mit Sicherheit die USO über den Stand der Dinge unterrichtet. Da mir die Funkfrequenz der STABI LO bekannt war, konnte ich also mit hoher Wahrscheinlichkeit da von ausgehen, dass der Mann Anweisung erhalten hatte, in sicherer Entfernung zum Ephelegon-System zu patrouillieren und auf eine mögliche Kontaktaufnahme zu warten. »Zweihundert Wörter«, sagte Balton Wyt. »Auf keinen Fall mehr.« Ich nickte. Das sollte reichen. »Was hast du vor?«, meldete sich nun auch Trilith Okt zu Wort. »Du willst doch nicht etwa ein paar USO-Schiffe anfordern und dir den Aktivator mit Gewalt holen?« »Natürlich nicht. Jede Einmischung von offizieller Seite verbietet
sich von selbst. Der Zellaktivator befindet sich im Hoheitsgebiet der Union, und es gibt keine rechtliche Handhabe, ihn für das Solare Im perium oder einen anderen Machtblock einzufordern. Der unerlaub te Einflug eines Schiffes ins Ephelegon-System könnte als feindlicher Akt interpretiert werden und eine Kettenreaktion …« »Details kannst du mir später erzählen«, äffte sie mich nach. Ich lächelte unmerklich. Fünf Minuten später hatte ich einen Text abgefasst, der alle wesentlichen Fakten zur aktuellen Situation und eine Reihe von spezifischen Anweisungen für Ken Jinkers enthielt. Unter anderem sollte er die USO-Datenbanken anzapfen und nach den Begriffen Sente Maluba und Talipura forschen. Zum Schluss in struierte ich ihn bezüglich des Formats der Antwort, die keinesfalls länger als zweihundert Wörter sein durfte und als TriVid-Steuersi gnal gesendet werden musste. »Und jetzt?«, fragte Balton Wyt, nachdem er die Datei gesendet hatte. »Jetzt warten wir«, antwortete ich.
Ponter Nastase Gegenwart Es war … unbeschreiblich! Ponter Nastase spürte, wie der Aktivator auf seiner Brust belebende Impulse durch seinen Körper schickte. Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug floss ihm neue Kraft zu, ba dete jede Zelle seines Körpers in einem Meer aus Energie. Die Schmerzen im Rücken, die seit Jahren ein fester Bestandteil seines Alltags und einer operativ nicht korrigierbaren Verwachsung im Be reich des Rückenmarks geschuldet waren, verschwanden bereits, kurz nachdem er das eiförmige Gerät angelegt hatte. Seit einer Ewigkeit war er zum ersten Mal wieder in der Lage, aufrecht und gerade zu gehen. Der Kalfaktor für Wissenschaften versuchte, sich von der ihn erfül lenden Euphorie nicht überwältigen zu lassen, doch das war fast un möglich. Er hätte nie geglaubt, dass sich die Wirkung des Zellaktiva tors so schnell bemerkbar machte. Von nun an gehörte er zu einer Gruppe von Lebewesen, die über allen anderen stand. Er war ein Unsterblicher! Der Aktivator sorgte allerdings nicht nur für sein physisches Wohlbefinden. Auch geistig fühlte er sich erfrischt und leistungsfä hig wie niemals zuvor. Die über seinen Omniport eingehenden Nachrichten erfasste er nahezu doppelt so schnell wie früher, und selbst nachdem er die Übertragungsgeschwindigkeit auf den maxi malen Wert gesetzt hatte, bereitete es ihm nicht die geringste Mühe, die beachtlichen Datenmengen zu verarbeiten. Doch mit der Hochstimmung kam auch die Angst – eine Angst, die er zunächst nicht verstand und verdrängen wollte. Ponter Nasta se wies Kikomo Akubari an, die Leiche von Jesper Gablenz unauffäl lig zu beseitigen und die Logdateien der TRADIUM so zu manipu
lieren, dass sie eine Rückkehr des Mannes an Bord seines Schiffes auswiesen. Dann zog er sich in seine Privaträume zurück. Er musste für ein paar Stunden allein sein, auch wenn es in den kommenden Tagen und Wochen viel zu erledigen galt. Er befand sich wie in ei nem Rausch, nur dass er am nächsten Tag nicht mit dröhnendem Kopf und trockener Kehle aufwachen würde, sondern gut erholt und bestens gelaunt. Trotz dieses Hochgefühls war da noch etwas: eine bohrende Unsicherheit, die ihn in einen Zwiespalt zu stürzen drohte. Wenn der Kalfaktor ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass er bis zuletzt am Erfolg seiner Bemühungen gezweifelt hatte. Als er von den mysteriösen, im Xanthab-System aufgefangenen Fun kimpulsen erfuhr, reagierte er instinktiv. Er hatte sich schon immer für terranische Geschichte interessiert, insbesondere für die Jahrhun derte, in denen das Solare Imperium zur führenden Macht in der Milchstraße aufgestiegen war. Perry Rhodan und seine Terraner hat ten oft mit hohem Risiko gespielt und noch öfter einfach nur Glück gehabt. Doch der entscheidende Faktor war stets die Zeit gewesen. Die Gedanken eines Aktivatorträgers bewegten sich in gänzlich an deren Bahnen als die eines Normalsterblichen, dem im besten Fall hundertfünfzig Jahre zur Verfügung standen. Nastase hatte die Lebensläufe aller Unsterblichen detailliert nach vollzogen. Diese Männer und Frauen standen nicht nur außerhalb jeglicher Norm, sie dachten auch so. Für sie war die Zeit kein knap pes Gut, zumindest wenn es um den Aufbau von Sternenreichen ging. Sie legten den Keim für Entwicklungen, die erst Generationen später die gewünschten Ergebnisse brachten. Ihre Entscheidungen orientierten sich nicht an den Erfordernissen der Gegenwart, son dern reichten weit in die Zukunft. Und so war Ponter Nastase schließlich klar geworden, dass die Union nur dann in der Lage war, dem Solaren Imperium eines Tages Paroli zu bieten, wenn ihre Füh rungskräfte unter den gleichen Bedingungen arbeiten konnten, wie die Gruppe um Perry Rhodan. Er, Ponter Nastase, sollte der Erste sein. Draußen in den Tiefen der
Galaxis gab es nach wie vor drei weitere Aktivatoren, die noch ihrer Entdeckung harrten. Mit der hochmodernen Technik der Sphärenrä der in der Hinterhand würde er Expeditionen ausrüsten und nach den Geräten suchen lassen. Er würde einen Stab fähiger Mitarbeiter um sich scharen und die besten von ihnen mit dem ewigen Leben belohnen. Gemeinsam mit ihnen würde er die Union zu nie gekann ter Blüte führen, und während die Erde mehr und mehr in Verges senheit geriet, würde Rudyn als heller Stern am Himmel eines neu en Zeitalters erstrahlen. Ja, er hatte die Chance ergriffen, die sich ihm bot. Eine sofortige Nachrichtensperre verhinderte, dass andere Kalfaktoren von der Existenz des Aktivators erfuhren. Die TRADIUM war das Schiff ge wesen, das das Xanthab-System am schnellsten erreichen konnte, also hatte er dessen Kommandanten entsprechende Befehle zukom men lassen. Und während Jesper Gablenz und seine Männer ihr Le ben riskierten, um das seine auf unbestimmte Zeit zu verlängern, hatte er die Fäden im Hintergrund gesponnen und zu einem soliden Tau verflochten. Doch nun, da es soweit war, die Früchte seiner Arbeit zu ernten, zögerte er. Er nahm den Aktivator in die Hand und zog die Kette über den Kopf. Täuschte er sich, oder strahlte das unbekannte Mate rial Wärme aus? Hatten Perry Rhodan und die anderen Unsterbli chen auch jene Unsicherheit verspürt, die ihn mit einem Mal erfüll te? Man ging davon aus, dass sich der Aktivator auf seinen Träger kalibrierte, sobald dieser das Gerät mindestens acht Tage ununter brochen getragen hatte. Danach gab es kein Zurück mehr, und der Körper war ohne die stimulierenden Impulse nicht mehr lebensfä hig. Ging man des Aktivators nach dieser Zeitspanne verlustig, blieb eine Frist von 62 Stunden. Dann setzte ein explosiver Zellverfall ein, der unweigerlich zum Tod führte. All das waren zwar keine gesicherten Erkenntnisse, doch Ponter Nastase hatte viel Geld für die Besorgung einiger streng geheimer Berichte aus dem Jahr 2409 bezahlt, die sich mit den Ereignissen auf dem Planeten Khaza im Ratos-Ebor-System befassten. Dort hatte der
Terraner Ronald Tekener einst einen weiteren der von ES ausge streuten 25 Zellaktivatoren gefunden, ihn jedoch nicht – wie es unter USO-Spezialisten üblich war – abgegeben, sondern für sich behalten und sich so lange versteckt, bis sich das Gerät auf ihn einjustiert hat te. Damals war Lordadmiral Atlan persönlich vor Ort gewesen, hat te letztendlich jedoch darauf verzichtet, Tekener den Aktivator wie der abzunehmen, weil er ihn dadurch getötet hätte. Ponter Nastase betrachtete das nur wenige Zentimeter durchmes sende unscheinbare Ei in seiner Handfläche. Was würde es aus ihm machen, wenn er es während der nächsten Tage trug und sich da durch für immer an dieses Objekt kettete? Würde er seine Entschei dung irgendwann bereuen? Konnte er überhaupt nur ansatzweise abschätzen, was ewiges Leben wirklich bedeutete? Schluss jetzt!, rief er sich selbst zur Ordnung. Du hast gerade einmal den ersten Schritt gemacht. Konzentriere dich auf die nächsten oder du wirst stolpern und alles verlieren, wofür du so lange und so hart gearbeitet hast! Ponter Nastase streckte seinen Körper. Er war nie ein Zweifler ge wesen und würde jetzt nicht zu einem werden. Entschlossen legte er den Zellaktivator zum zweiten Mal an diesem Tag an – und von nun an würde er ihn freiwillig nicht mehr ablegen. Er trat an den Inter kom und aktivierte die Ruftaste. Sofort meldete sich einer seiner Ad jutanten. »Kontaktieren Sie Meheme Polt«, sagte er laut. »Sagen Sie ihm, dass ich den Gefallen einfordere, den er mir schuldet. Und sagen Sie ihm, der Name des Schiffes ist TRADIUM.« »Verstanden, Kalfaktor«, ertönte es aus dem Akustikfeld. Ein wei terer Tastendruck, und er hatte die diensthabende Koordinatorin der Forschungsflotte in der Leitung. Die Union unterhielt einen Ver band aus insgesamt 42 Raumern, die in der Milchstraße unterwegs waren und in der Hauptsache Daten sammelten. Es handelte sich um ausgediente Militärkreuzer, die man überholt und zu mobilen Messstationen umgerüstet hatte.
»Wann startet die nächste Expedition in die Außensektoren?«, fragte Nastase grußlos. »Die ASKRONIA startet in vier Stunden in den Torikapi-Sektor, Kalfaktor«, lautete die Antwort. »Kommandant Lasalle soll hyper strukturelle Anomalien im Kernbereich von …« »Informieren Sie den Mann, dass der Auftrag von der TRADIUM übernommen wird. Die Schiffskennung erhalten Sie von meinem Büro. Marschbefehl und Flugroute gehen außerdem in Kopie an Me heme Polt vom Kalfaktat für Kriegswesen.« »Verstanden, Kalfaktor.« Der Mann nickte zufrieden. Sein Gegen über stellte keine Fragen. Wenn sich die Frau diese Tugend bewahr te, hatte sie eine glänzende Karriere vor sich. Ponter Nastase unterbrach die Verbindung, wandte sich der Bild schirmgalerie zu und vertiefte sich in den Anblick der blaugrünen Planetenkugel. Auf der Südhälfte Rudyns ging gerade die Sonne auf, und er stellte sich vor, wie sich ihr Licht in den glänzenden Hül len der auf Genzez Port gelandeten Raumschiffe brach. Über Doro lem, dem vierten der acht Kontinente, lagen breite Wolkenfelder. In den dort vorherrschenden Laubwäldern hatte der Kalfaktor oft Töl ken gejagt, eine Spezies, deren Vertreter entfernt an terranische Waschbären erinnerten, jedoch deutlich schlanker und schneller wa ren. Wenn Nastase die Augen zusammenkniff, konnte er im oberen Be reich der Schirme eine matte Sichel erkennen. Auf Rudyn selbst war sie in sternklaren Nächten gut zu sehen. Ephang, der zweite Planet des Ephelegon-Systems, war ein unbewohnbarer Gasriese von gut 150.000 Kilometern Durchmesser. Seine Hülle bestand aus einem Gemisch aus Ammoniak, Wasserstoff und Methan. Als kleiner Jun ge hatte ihn sein Vater oft zu den Wettbewerben der Nebelreiter mit genommen. Wenn die Athleten, lediglich in leichte Schutzanzüge gehüllt, auf ihren raketengetriebenen Flugbrettern durch die äuße ren Schichten der Atmosphäre gerast waren, hatte der kleine Ponter davon geträumt, es ihnen gleichzutun. Aus der Karriere als Nebel
reiter war nichts geworden. Statt dessen hatte ihn sein Vater auf die Wissenschaftliche Akademie von Leskyt geschickt, der zweitgrößten Stadt Rudyns. Ponter Nastase riss sich gewaltsam von dem majestätischen An blick seiner Heimat los. Ja, er liebte Rudyn. Und vor allem liebte er die Union. Jetzt endlich war er in der Lage, ihr all das zurückzuzah len, was sie ihm ein Leben lang gegeben hatte.
Atlan Gegenwart Ken Jinkers hatte schnell reagiert. Bereits zwei Stunden, nachdem ich meine Nachricht abgeschickt hatte, traf die Antwort ein, und noch bevor ich etwas sagen konnte, holte sie Balton Wyt in Klartext auf den Bildschirm. Ich spürte den warmen Atem Trilith Okts in meinem Nacken, als sie gemeinsam mit mir die Botschaft las. »Offenbar haben deine Leute den Ernst der Lage erfasst«, sagte sie. »Sie lassen die Waffen stecken und warten ab.« Ich lachte trocken. »Welches Bild du auch immer von der USO hast, es hängt eindeutig schief« »Zumindest wissen wir jetzt, was damals im Talipura-System ge schehen ist«, mischte sich der junge Terraner ins Gespräch. Seine Stimme klang belegt. Offensichtlich ging ihm die Nachricht nahe. Talipura und seine vierzehn Planeten gehörten zu den am weites ten von Terra entfernten Sonnensystemen. Ihre Loyalität zum Sola ren Imperium war bekannt. Aufgrund der räumlichen Isolation wa ren die Talipa immer wieder Ziel von Abwerbeversuchen anderer Machtblöcke. Vor allem die so genannte Ross-Koalition, eine der zahlreichen Splittergruppen, die sich in den vergangenen Jahrhun derten vom Solaren Imperium abgespalten hatten und ihr Seelenheil in politischer und ökonomischer Autarkie suchten, ließ nicht locker. Nicht zuletzt deshalb hatte Homer G. Adams auf Talip, dem sechs ten und einzig bewohnten Planeten des Systems eine Handelsvertre tung der GCC errichtet und dafür gesorgt, dass ein regelmäßiger Geld- und Güterstrom floss, der den dortigen Bewohnern bescheide nen Wohlstand garantierte. Am 13. September 3098 war ein Frachtschiff von Olymp, die TRU
PAT, in eine Kontrolle durch Einheiten der Solaren Flotte geraten. Die Regierung auf Talip hatte Terra einen der fünf Monde des äuße ren, vierzehnten Planeten als exterritoriales Gebiet abgetreten und durfte im Gegenzug auf militärischen Beistand zählen, wenn dieser erforderlich sein sollte. Diese Vereinbarung schloss auch die Kon trolle von Handelsschiffen ein, sofern ein Verdacht auf Einfuhr ille galer Waren, wie beispielsweise Waffen oder Drogen bestand. Der Tipp war direkt aus der GCC-Vertretung gekommen. Danach hatte die TRUPAT größere Mengen eines neuen Rauschgifts an Bord, das in seiner Wirkungsweise an Liquitiv erinnerte. Dieser erst mals Ende des 21. Jahrhunderts in der Milchstraße bekannt gewor dene Likör war von Antis und Aras mit dem Ziel entwickelt wor den, das Solare sowie das Große Imperium ins Chaos zu stürzen. Ein Plan, der um ein Haar erfolgreich gewesen wäre. Was an jenem 13. September wirklich geschehen war, wurde nie vollständig geklärt. Ein angeblicher Ausfall der Funkanlage sei der Grund gewesen, dass der Frachter alle Aufforderungen zu stoppen ignorierte, so stand es zumindest im Protokoll. Einer der terrani schen Wachraumer hatte mehrere Warnschüsse abgefeuert. Eine der Salven schlug nur wenige hundert Meter neben der sich nach wie vor mit zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit bewegenden TRU PAT ein. Der Pilot des Raumschiffs initiierte daraufhin eine sponta ne Kursänderung – und raste mitten in den letzten Schuss hinein. Ich erinnerte mich dunkel, eine entsprechende Meldung im Rah men der täglichen Briefings auf Quinto Center gelesen zu haben. Der Vorfall hatte 21 Tote gefordert. Als man die schwer beschädigte TRUPAT durchsuchte, fand man nichts. Keine Drogen, keine Schmuggelware, nicht einmal eine Flasche schwarz gebrannten Vur guzz. Auch der anonyme Informant, der den Behörden den Tipp ge geben hatte, war nicht zu ermitteln, und so war die ganze Sache schließlich als bedauerlicher Unfall zu den Akten gelegt worden. Jinkers hatte herausgefunden, dass auch eine gewisse Arlene Ma luba als Passagier auf der TRUPAT registriert gewesen war – die
hochschwangere Ehefrau Sente Malubas. Der Kapitän, dessen Fami lie auf Talip ansässig war, hatte gemeinsam mit seiner Frau entschie den, dass das Kind dort zur Welt kommen sollte. Arlene Maluba hatte sich in ihrer Kabine aufgehalten, als der Frachter getroffen wurde. Als zwei Decks unter ihr ein Meiler explodierte, war es zu einem Hitzestau gekommen. Die Ermittler fanden später lediglich einige Zellreste, aus denen sich das genetische Profil herauslesen ließ. Es bestand kein Zweifel, es handelte sich um Arlene Maluba. Eine Tragödie, wisperte der Extrasinn. Natürlich gibt er der GCC und dem Solaren Imperium die Schuld. Einschließlich der USO, die er als verlängerten Arm Terras sieht, führte ich weiter aus. In gewisser Weise kann ich seine Haltung sogar nachvoll ziehen. Sie basiert auf Unlogik und falschen Schlussfolgerungen, widersprach der Logiksektor. Sie basiert auf anhaltendem emotionalem Stress und dem Gefühl von Hilflosigkeit, erwiderte ich. Aus seiner Sicht haben die Soldaten und Schlachtschiffe Terras seine Frau ermordet. Was immer ich dem Mann auch als Gegenleistung für seine Hilfe anbiete, er wird es ablehnen. Er würde es als Preis für das Leben seiner geliebten Frau interpretieren. »Was machen wir jetzt?«, wollte Trilith Okt wissen. »Mr. Wyt«, sprach ich den jungen Terraner an, der nach wie vor den Text auf dem Bildschirm fixierte. Er zuckte zusammen. »Sind Sie in die anstehenden Verhandlungen an Bord des Sphä renrads involviert?« »Ich … glaube nicht«, kam es zögerlich. »Ich habe mit Kapitän Ma luba noch nicht darüber gesprochen.« »Aber Sie sind mit der Materie vertraut?«, hakte ich nach. »Oh ja«, nickte er eifrig. »Ich habe die möglichen Lieferpläne er stellt und könnte jederzeit …« »Großartig«, unterbrach ich Balton Wyt. »Dann werde ich mit Sen
te Maluba reden. Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich kann es nicht zu lassen, dass uns die Bitterkeit eines einzelnen Mannes davon abhält, einen Krieg zu verhindern.« »Du meinst, einen Zellaktivator zu erbeuten«, warf Trilith spöt tisch ein. »Wie immer du es nennen willst.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Was wollen Sie, Lordadmiral?« Die Stimme Sente Malubas klang über die Außenlautsprecher seiner Kabine seltsam blechern. Ich war in der Zentrale der KAPIUR gewesen, um nach dem Mann zu su chen, habe dort jedoch erfahren, dass er sich in seine Unterkunft zu rückgezogen hatte. »Mit Ihnen reden«, antwortete ich. »Tun Sie uns beide einen Gefal len, und machen Sie auf. Ich würde ungern betteln.« Ich wartete fast eine halbe Minute, dann schob sich das Schott mit leisem Zischen in die Wand. »Danke«, sagte ich knapp und trat ein. Malubas Kabine unterschied sich von der Balton Wyts, von der Geräumigkeit einmal abgesehen, vor allem dadurch, dass sie pein lich sauber, ja geradezu steril war. Auf dem schmalen Regal über dem faltenfrei bezogenen Bett standen ein paar Lesespulen, haupt sächlich Fachliteratur zum Thema Galaktischer Handel. Schreibfoli en lagen auf einem kleinen Schreibtisch und eine Handvoll verschie denfarbiger Stifte. Daneben glomm das Holobild einer hübschen, dunkelhäutigen Frau. Ihr Lächeln war betörend, und die Grübchen in den Mundwinkeln ließen ahnen, dass sie wohl gerne gelacht hat te. Sente Maluba war sehr zugeknöpft und hatte eine abwehrende Haltung eingenommen. An den leicht geröteten Augen erkannte ich sofort, dass er geweint hatte, auch wenn er das wahrscheinlich selbst unter Folter nie zugegeben hätte.
Das machte meine Aufgabe ganz sicher nicht leichter. Unsere Un terhaltung im Konferenzraum musste Erinnerungen freigelegt ha ben, Wunden, die wohl niemals heilen würden. »Sie vermissen sie sehr, nicht wahr?«, fragte ich leise, nachdem sich das Schott hinter mir wieder geschlossen hatte. Mein Blick ging in Richtung des Holos. In das starre Gesicht des Mannes stahl sich erst Verwunderung, dann Zorn. »Woher wissen Sie …?«, begann er, brach aber ab. Ich sah, wie er mit dem Kloß in seinem Hals kämpfte. »MorahtThem, einer der größten arkonidischen Philosophen, hat einmal ge sagt, dass man nur das verlieren kann, was man aufgibt.« Ich ließ mich auf einen der zwei vorhandenen Stühle sinken und lud Ma luba mit einer Geste ein, das Gleiche zu tun. Er bewegte sich nicht. »Ich bin anderer Meinung«, fuhr ich ungerührt fort, »und Sie se hen hier einen Unsterblichen vor sich, der schon sehr viele Verluste erleiden musste.« »Was soll das werden, Lordadmiral«, stieß Maluba hervor. »Glau ben Sie, meine Sympathie gewinnen zu können, wenn Sie mir Ihr Herz ausschütten?« »Keiner von uns hat hier etwas zu gewinnen«, sagte ich. »Aber viel zu verlieren.« »Ich habe bereits alles verloren«, kam es trotzig. »Ach ja?«, fragte ich verwundert. »Warum beeindrucken Sie mich dann nicht mit jener unerschütterlichen Charakterstärke, die Sie doch offenbar zu Ihrem Lebensmotto erhoben haben? Nehmen Sie Ihre Strahlwaffe, setzen Sie sie an Ihre Schläfe und drücken Sie ab. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht aufhalten werde.« »Wie können Sie es wagen …«, rief Maluba, und für einen Mo ment schien es so, als wolle er sich auf mich stürzen. Dann überlegte er es sich anders und schüttelte nur den Kopf »Ihre Psychospielchen wirken bei mir nicht, Lordadmiral«, sagte er. »Sehen Sie mein Ver halten auch bitte nicht als so etwas Billiges wie Rache an, denn
nichts liegt mir ferner. Ich hatte in den letzten vier Jahren lediglich viel Zeit zum Nachdenken.« »Verraten Sie mir, welche Erkenntnisse Sie dabei gewonnen ha ben?« »Eigentlich ist es nur eine einzige.« Nun setzte sich Maluba doch. Er verschränkte die Finger ineinander, stützte sich mit den Unterar men auf die Oberschenkel und starrte auf den grauen Bodenbelag der Kabine. »Egal, was man tut«, sprach er weiter, »egal, wie sehr man sich an strengt und welche Opfer man bringt – dem Universum ist es egal. Auch Arlene war dem Universum egal.« »Sie denken in großen Maßstäben, Mr. Maluba«, entgegnete ich. »Aber das Universum existiert nicht einfach so. Der Mensch ist ein Teil davon und nicht etwas, das im Widerspruch zu ihm steht. Ohne den Tod ist das Leben sinnlos, und wenn ein Mensch etwas nicht er tragen kann, dann ist es die Sinnlosigkeit.« »Was wollen Sie mir damit zu verstehen geben?«, fragte Sente Ma luba wütend. »Dass ich den Tod Arlenes und meines ungeborenen Sohnes als Notwendigkeit akzeptieren muss? Soll ich den Rest mei nes Lebens damit verbringen, einen Sinn darin zu suchen, dass ein paar schießwütige Elitesoldaten des Solaren Imperiums ausgerech net jene beiden Menschen ermordet haben, die mir alles bedeuteten? Selbst ein Unsterblicher wie Sie, Lordadmiral, hätte nicht genug Zeit zur Verfügung, um eine solche Herkulesaufgabe zu bewältigen!« »Da haben Sie recht«, sagte ich. »Vor fast siebenhundert Jahren, am 24. Februar 2406 starb Mirona Thetin. Sie haben sicherlich von ihr gehört; es ging durch alle Medien.« Ich lachte wehmütig. »Seit damals ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich mich nicht gefragt habe, wie mein Dasein mit ihr an meiner Seite verlaufen wäre. Ich hatte in meinem Leben viele Frauen, Kapitän Maluba. Nicht so viele, wie in diversen TriVid-Berichten behauptet wird, aber genug, um zu wissen, dass ein einziger Blick in die Augen der Richtigen genügt, um für den Rest der Ewigkeit gefangen zu sein. Sie werden Arlene
niemals vergessen. Sie wird immer ein Teil von Ihnen sein, und der Gedanke an sie wird jedes Mal aufs Neue weh tun. Die Frage ist, wie Sie sie in Erinnerung behalten wollen.« »Was meinen Sie?«, fragte der Terraner. »Ich habe viel Zeit gebraucht, um es zu begreifen«, antwortete ich. »Sinnlos ist ein Tod nur dann, wenn sich die von ihm verursachte Trauer in Wut verwandelt. Die Schuld am Tod Mironas konnte ich nur mir selbst geben, denn ich habe sie auf Tamanium umgebracht. Also habe ich mich gehasst. Viele Jahrzehnte lang. Für das, was ich getan hatte. Für meine Unfähigkeit, sie so zu akzeptieren wie sie ge wesen war. Und mit jedem Tag wurde mein Hass größer und das Bild von ihr, das ich in mir trug, blasser. Bis ich erkannte, dass ich sie mit meiner Engstirnigkeit ein zweites Mal ermordete. Nicht mit einem Holzspeer, den ich ihr in die Brust schleuderte, sondern in meiner Erinnerung – und diesmal würde ihr Tod endgültig und un wiederbringlich sein.« Sente Maluba sah mich nur an. Sein Atem ging schwer. Ich konnte erkennen, dass ihn meine Worte nicht kalt ließen. »Machen Sie nicht denselben Fehler wie ich, Mr. Maluba«, redete ich weiter. »Bewahren Sie Arlene so in Ihrem Herzen, wie sie war. Andernfalls laufen Sie Gefahr, sie für immer zu verlieren.« »Ich …« Die Stimme des Terraners brach, und ich hob beide Hän de. »Ich bin nicht gekommen, um Sie umzustimmen, Kapitän«, sagte ich. »Aber ich verspreche Ihnen, dass ich mich persönlich für eine umfassende Untersuchung des Vorfalls im Talipura-System durch Spezialisten der USO kümmern werde, sobald ich wieder in Quinto Center bin. Ich werde Ihnen Einblick in sämtliche Berichte des ersten Ermittlungsteams gewähren. Nicht, weil ich hier und jetzt Ihre Hilfe brauche, sondern weil ich will, dass Sie eines verstehen: Weder die GCC noch das Solare Imperium oder die USO machen es sich leicht, wenn es um Entscheidungen geht, die das Wohl der Milchstraßen bewohner betreffen. Der Zweck mag manchmal die Mittel heiligen,
aber die Vision, der wir alle folgen, seit Perry Rhodan damals seinen Fuß auf den Erdmond setzte, ist nicht an Namen geknüpft. Im Ge gensatz zu Ihnen, Mr. Maluba, werde ich in ein paar hundert Jahren lesen können, was die Historiker über mich schreiben. Das ist eine weit größere Belastung, als Sie es sich auch nur vorstellen können.« Der Terraner sah mich lange und mit unbewegter Miene an. Dann stand er auf, trat an den Schreibtisch und nahm das Holobild seiner Frau in die Hände. »Sie sind ein sehr überzeugender Redner, Lordadmiral«, sagte er nach einer Weile. »Wer selbst nicht brennt, kann andere nicht entflammen«, gab ich launig zurück. Maluba lächelte. »Wollen Sie immer noch an Bord des Sphären rads?«, fragte er. »Mehr als jemals zuvor.« »Dann folgen Sie mir.« Er stellte das Bild Arlene Malubas zurück an seinen Platz und verließ die Kabine in Richtung Zentrale.
Ernesta Gori Gegenwart Es war, wie sie vermutet hatte. Jesper Gablenz hatte die TRADIUM vor über einer Stunde verlassen und den Aktivator mitgenommen. Das war nicht zu verhindern gewesen, ohne ihre Tarnung zu gefähr den, und ein solcher Schritt empfahl sich nicht, solange sie sich noch innerhalb des Sphärendrehers aufhielt. Außerdem versagte der win zige implantierte Funkchip in ihrem Ohr seinen Dienst. Ernesta Gori hatte mehrfach die Position gewechselt, doch das mikroskopisch kleine Gerät produzierte nur ein gleichmäßiges Rauschen. Der Agentin war klar, dass das kein gutes Zeichen sein konnte. Die Besatzungsmitglieder der TRADIUM waren angewiesen wor den, auf ihren Posten zu verharren. Eine Kontaktaufnahme mit Part nern, anderen Familienangehörigen oder Freunden war streng un tersagt. Und jetzt das! Der Chip war eine Eigenentwicklung der fä higsten Techniker des Geheimen Kalkulationskommandos. Wenn er ausfiel, deutete das auf den Einsatz eines Störfelds von immenser Stärke hin. Jemand war sehr daran interessiert, dass es zu keinerlei Kommunikation zwischen den Männern und Frauen des Sphären drehers und der Außenwelt kam. Ernesta hegte keinen Zweifel dar an, dass es sich bei diesem jemand nur um Ponter Nastase handeln konnte. Der Kalfaktor für Wissenschaften hatte dafür gesorgt, dass der Kreis der Mitwisser klein blieb. Nun, da er im Besitz eines Zellakti vators war, wurde dieser Umstand wichtiger denn je, denn noch war seine Position nicht genug gefestigt, um das ewige Leben gegen die eventuellen Begehrlichkeiten seiner Kollegen zu verteidigen. Neife Varidis hatte recht gehabt. Sie ahnte seit langem, dass Nastase etwas im Schilde führte, doch der Mann ging sehr geschickt vor und
hinterließ so gut wie keine Spuren. Die Abstellung von Agenten für alle Sphärendreher war deshalb unvermeidlich gewesen, weshalb die Geheimdienstchefin auch gar nicht erst versucht hatte, diese Maßnahme zu verschweigen. Die Be rater waren den Kommandanten der neuen Schiffe mit Billigung al ler 21 Kalfaktoren zur Seite gestellt worden. Bei einer solch wichti gen technologischen Innovation, wie sie die Sphärendreher reprä sentierten, hatte Neife Varidis argumentiert, durfte man kein Risiko eingehen. Und auch wenn für die Besatzungen nur dutzendfach ge testetes und bewährtes Personal eingesetzt wurde, war ein mögli cher Geheimnisverrat nicht auszuschließen. Also hatte man be schlossen, jedem Kommandanten einen Außendienstmitarbeiter des Geheimen Kalkulationskommandos zur Seite zu stellen, der im Ernstfall mit seiner Erfahrung und seinen Fähigkeiten eingreifen konnte. Ernesta Gori musste dringend Kontakt zu Neife Varidis aufneh men. Die Geheimdienstchefin musste unbedingt erfahren, dass es Ponter Nastase gelungen war, einen Zellaktivator an sich zu brin gen. Während des Fluges ins Ephelegon-System war es ihr nicht möglich gewesen, den Kontakt herzustellen. Ihr Funkchip reichte nicht weit genug, und eine Manipulation des Bordfunks hatte sich als zu riskant erwiesen. Zwar war es ihr gelungen, den Komman danten der TRADIUM zu einem mehrstündigen Stopp zu überre den, doch die so gewonnene Zeit hatte nicht ausgereicht, um die komplizierte Technik des Sphärendrehers adäquat zu modifizieren. Zum wiederholten Mal drückte die Frau ihr Ohrläppchen. Ein kur zes Rauschen, dann wieder Stille. Ernesta wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief. Sie spürte, dass sich ein Unheil zusammenbraute. Wie weit würde Nastase ge hen, um sein Geheimnis zu schützen? Und warum war Jesper Gablenz noch nicht zurückgekehrt? Ein kurzer Piepston informierte die Agentin darüber, dass eine Durchsage per Interkom bevorstand. Sie schwang ihre langen Beine
aus dem Bett, auf dem sie die letzten zehn Minuten gelegen hatte, und aktivierte den Bildschirm in ihrer Kabine. Die feste Stimme von Cole Wagman, dem Ersten Offizier der TRADIUM, erfüllte den Raum. »Ich habe soeben neue Direktiven aus der Leitstelle empfangen«, sagte er. »Die TRADIUM wird in fünfzehn Minuten in den TorikapiSektor aufbrechen und dort einige wichtige Messungen vornehmen. Es gilt nach wie vor Funksperre. Einzelheiten werden mir erst nach dem Start übermittelt. Sobald ich mehr weiß, werde ich Sie informie ren. Im übrigen wurde Kommandant Gablenz zu einem geheimen Sonderauftrag abberufen und wird nicht zu uns zurückkehren. Ich werde seine Position und die entsprechenden Aufgaben mit soforti ger Wirkung übernehmen.« Ernesta glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Ihre Ahnung war zur Gewissheit geworden. Nastase schickte die TRADIUM, und da mit alle, die über den Zellaktivator Bescheid wussten, in eines der entlegensten Gebiete der Galaxis. Jesper Gablenz erging es vermut lich ähnlich. Wie immer sein geheimer Sonderauftrag auch aussah, er würde ihn irgendwohin führen, wo er Ponter Nastase nicht ins Handwerk pfuschen konnte. Für Ernesta Gori war damit klar, dass sie den Sphärendreher so schnell wie möglich verlassen musste. Wenn die TRADIUM erst ge startet war und Kurs auf die Außenbereiche der Milchstraße setzte, hatte sie keine Chance mehr, Verbindung mit Neife Varidis aufzu nehmen. Es dauerte nicht einmal eine halbe Minute, dann war die Agentin reisefertig. Als geschulte Agentin war sie jederzeit auf solch einen Moment vorbereitet. Sie verriegelte die Kabinentür und sorgte dafür, dass die Überwa chungsautomatik sie nach wie vor als anwesend registrierte. Diese Tricks gehörten zur Grundausbildung eines jeden Agenten. Über einen Antigravschacht erreichte sie das unterste Deck der TRADI UM. Niemand begegnete ihr, als sie den engen Rundgang zum Pol hangar entlang lief. Die meisten Besatzungsmitglieder hielten sich
an ihren Arbeitsplätzen auf. Ernesta spürte ein kaum merkliches Zit tern im Boden, als die Reaktoren probeweise auf halbe Leistung ge fahren wurden. Ihr blieben höchstens noch zehn Minuten. Kurz vor dem Doppelschott, das über eine Schleusenkammer in den Hangar führte, ging sie in die Knie und zog einen Ma gnetschlüssel aus dem Schaft ihres linken Stiefels. Mit wenigen, hundertfach geübten Handgriffen entfernte sie ein Stück der Wand verkleidung. Dahinter lag eine knapp vierzig Zentimeter durchmes sende Wartungsröhre, die für spezielle Reparaturroboter konstruiert war. Ernesta wand ihren hageren Körper schlangengleich durch die Öffnung und in die Röhre hinein, eine Nummer, mit der sie auf Ru dyn in jedem Zirkus hätte auftreten können. Ruckartig schob sie sich so weit nach vorn, dass sie die Verkleidung wieder anbringen konn te. Dann begann der mühevolle Weg durch die Röhre. Die Luft schien zum Schneiden dick zu sein, und die Agentin hatte das Gefühl, nur zentimeterweise voranzukommen. Wie viel Zeit hatte sie noch? Ruhig bleiben, Mädchen, mahnte sie sich selbst. Gleichmäßig atmen. Denk daran, was man dir an der Akademie beigebracht hat. Wer den zwei ten Schritt vor dem ersten tut, macht bald seinen letzten. Als Ernestas Füße plötzlich ins Leere stießen, hätte sie vor Erleich terung beinahe geschrien. Die Wartungsröhre mündete in einen ku gelförmigen Verteiler, der sich unmittelbar über einer Mannschleuse befand. Die Agentin drehte sich ächzend in eine halbwegs aufrechte Position und fingerte erneut am Schaft ihres linken Stiefels. Das Multifunktionswerkzeug, das sie daraus hervor zog, war aus einem polymeren Keramikverbundwerkstoff gefertigt und wurde von kei nem der üblichen Materialdetektoren registriert. Sie arbeitete schnell und konzentriert. Unter einer leicht zu lösen den Plastikabdeckung fand sie die Sperrschaltung für das Riegelsys tem der Mannschleuse. Ernesta überbrückte die Impulsleitung, setz te zwei Schweißpunkte, um die Sicherheitsautomatik zu umgehen, und brachte die Abdeckung wieder an. Außenschleusen aller Art
und Größe waren grundsätzlich mit primitiven, wenn auch robusten Verschlusskonstruktionen ausgestattet, damit sie im Ernstfall, wie bei einer notwendigen Evakuierung, auch dann funktionierten, wenn alle anderen Systeme eines Raumschiffs bereits ausgefallen waren. Über eine Platte im Boden gelangte die Agentin bis unmittelbar vor das Schleusenschott. Es öffnete sich anstandslos und ohne Alarm in der Zentrale auszulösen. Die TRADIUM war mit einem schlauchähnlichen Verbindungstunnel an der ZUIM vertäut. Ernes ta Gori beeilte sich, das gegenüberliegende Schott zu erreichen. In diesem Moment zischte es hinter ihr. Der Frau fuhr der Schreck in alle Glieder, und für einen Augenblick war sie nicht in der Lage, sich zu bewegen. Dann jedoch siegte ihr auf solche Situationen trai nierter Verstand über die Instinkte und übernahm wieder die Kon trolle. Den letzten Meter zum Schott legte sie mit einem Hechtsprung zu rück. In ihrem Rücken spürte sie einen schnell stärker werdenden Sog. Die TRADIUM hatte Startbereitschaft gemeldet und die Ma gnethalterungen des Verbindungstunnels gelöst. Wenn die Agentin nicht innerhalb der nächsten Sekunden ins Innere des Sphärenrads gelangte, würde sie der Druckabfall und die entweichende Atemluft ins Weltall und damit in den sicheren Tod reißen. Ihre linke Hand umklammerte den breiten Metallgriff des Schotts, während die rechte auf die Sensorfläche der Öffnungskontrolle schlug. Ein Warnton, der in der schnell dünner werden Atmosphäre seltsam unwirklich klang, und eine rot blinkende Signallampe machten ihr klar, dass sie zu langsam gewesen war. Die Druckwerte im Verbindungstunnel und innerhalb der ZUIM klafften bereits zu weit auseinander, als dass die Steuerpositronik noch ein Öffnen des Schotts zugelassen hätte. Ernesta Gori hatte versagt.
Atlan Gegenwart Ein wenig fühlte ich mich in alte Zeiten zurückversetzt, in jene Jah re, in denen das junge Solare Imperium um sein Überleben kämpfte, und ich an der Seite Perry Rhodans so manches Abenteuer überstan den hatte. Auch damals hatten wir oft Maske gemacht und waren mit einer Handvoll entschlossener Männer und Frauen in Risikoeinsätze gegangen, um das Unmögliche möglich zu machen. Wir … Könnten wir uns deine erbaulichen Histörchen für das nächste Vetera nentreffen aufsparen und uns auf die Dinge konzentrieren, die vor uns lie gen?, wisperte der Extrasinn. Deine heiter-beschwingte Art lässt mich vermuten, dass du unserem klei nen Ausflug keine besonders großen Erfolgschancen zugestehst, gab ich nicht weniger spöttisch zurück. Meine Einschätzung ist irrelevant, klagte der Logiksektor. Wie immer sie auch ausfällt, sie hält dich nicht davon ab, deinen Kopf in die Schlinge zu legen. Wenn du eine bessere Lösung weißt, höre ich gerne zu. Wir müssen da von ausgehen, dass der Zellaktivator inzwischen seinen Empfänger erreicht hat. Damit bleiben mir nur noch ein paar Tage, um dem Betreffenden das Gerät wieder abzunehmen. Sofern du deine moralischen Prinzipien nicht über Bord wirfst und das tust, was notwendig ist, wisperte es in meinem Kopf. Lemy würde niemals akzeptieren, dass sein Leben mit dem Leben eines anderen Menschen erkauft wurde, widersprach ich. Hör auf, dich selbst zu belügen, Arkonide. Mein zweites Ich klang un geduldig. Lemy Danger hat oft genug klargestellt, dass er nicht an einem Zellaktivator interessiert ist – ganz abgesehen davon, dass er das Ding in
einem Rucksack, mit sich schleppen müsste. Die Milchstraße befindet sich politisch in einem äußerst labilen Zustand. Mit dem Carsualschen Bund und dem Imperium Dabrifa existieren bereits zwei Machtblöcke, deren Führer Aktivatoren besitzen. Würde mit der ZGU eine weitere Fraktion hinzukommen, könnte die Situation außer Kontrolle geraten. Die Unsterb lichkeit ist eine Droge, von der es kleine Entwöhnung gibt. Die drei Parteien könnten sich zusammenschließen und gemeinsam ge gen Terra vorgehen. Das wurde bereits seit einigen Jahrzehnten von den Experten in Quinto Center und auf der Erde erwartet. Unge zählte Simulationen und Hochrechnungen in den Speichern der Po sitroniken legten beredtes Zeugnis von den Befürchtungen ab, die die Verantwortlichen hegten. Richtig, bestätigte der Extrasinn. Noch reicht selbst die kombinierte militärische Stärkte der Kolonialreiche nicht aus, um gegen die Solaren Streitkräfte zu bestehen, doch mit den Sphärenrädern und vor allem mit ei nem unsterblichen Kalfaktor an der Spitze der Union könnte das Gleichge wicht der Kräfte kippen. Die Folge wäre ein Blutbad, wie es diese Galaxis noch nicht gesehen hat. Dann werde ich, seufzte ich stumm, wie du es so lebendig ausgedrückt hast, meinen Kopf wohl oder übel in die Schlinge legen müssen. Dieser Zellaktivator ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte. Der Logiksektor schwieg, und so wandte ich meine Aufmerksam keit wieder dem Panoramabildschirm zu. Der Kalender zeigte den 13. September 3102. In Terrania, mehr als 18.000 Lichtjahre entfernt, brachen gerade die frühen Abendstunden an. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich in diesen Minuten hätte dort sein können. Meine Rolle als USO-Chef ließ mir kaum Zeit für Besuche der irdischen Metropole, wo ich nach wie vor einen Bungalow am Goshun-See be saß. Wann hatte ich dort das letzte Mal mit den alten Freunden auf der Terrasse bei einem Glas Wein gesessen? Das einzige Beiboot der KAPIUR befand sich im Anflug auf das Sphärenrad. Der dreißig Meter durchmessende Space-Jet hatte so eben die Koordinaten einer Besucherschleuse in Sphäre 4 empfan
gen. Sente Maluba, Balton Wyt und vierzehn weitere Männer und Frauen bildeten zwei Verhandlungsdelegationen, die in ersten Ge sprächen die Eckpunkte eines Lieferkontrakts aushandeln sollten. Trilith und ich hatten uns dem zweiten Team um den jungen Terra ner angeschlossen. Wyt oblag die Aufgabe, einige wesentliche De tails der Vereinbarung zu besprechen, Termine festzulegen und Mengen abzustimmen. Die Ärzte in der Medostation der KAPIUR hatten ganze Arbeit ge leistet und mir zunächst ein Exotoxin gespritzt, das fast sämtliche Falten aus meinem Gesicht verschwinden ließ. Meine einstmals wei ßen Haare waren mittels eines Farbgels deutlich dunkler geworden. Rosa Haftschalen milderten den Rotton meiner Augen, und ein halbstündiger kosmetischer Eingriff hatte meine markante Nase er heblich verkleinert. Laut Aussage des Chefmedikers war diese Ver änderung reversibel; ich hoffte für den Mann, dass er sich nicht irrte. Von Anfang an hatte ich darauf verzichtet, mich als Terraner aus zugeben. Schon ein oberflächlicher Körperscan hätte mich als Betrü ger entlarvt, allem voran die Knochenplatte, die ich anstelle terrani scher Rippen in der Brust trug. Also behielt ich meine arkonidischen Attribute bei und variierte lediglich deren Ausprägung, soweit es die bescheidenen Mittel des Frachters zuließen. Eine Injektion hatte die Zusammensetzung meines Blutes verändert, eine weitere die Tö nung meiner Haut. Leider gab es keine Möglichkeit, meine spezifi schen Biodaten wie Individualimpulse und Zellkernstrahlung zu be einflussen. Dazu wären teure Spezialgeräte nötig gewesen, über die die KAPIUR natürlich nicht verfügte. Insofern blieb mir nichts wei ter übrig, als zu hoffen, dass sich die Kontrollen innerhalb der ZUIM in Grenzen hielten und ich als Delegationsmitglied akzeptiert wur de. Sente Maluba hatte sich nach unserem Gespräch mehr als koopera tiv gezeigt. Gemeinsam hatten wir sogar eine Tarnidentität für mich ausgearbeitet und in die Datenstrukturen der Bordpositronik inte griert. Die Manipulation hielt zwar keiner ernsthaften Überprüfung stand, einem oberflächlichen Beobachter würde jedoch nichts auffal
len. Aus Lordadmiral Atlan war somit Logistikexperte Koramal ge worden. Ich tat seit zwei Jahren auf der KAPIUR Dienst und war zu vor bei mehreren kleineren Transportunternehmen im Kugelstern haufen M13 tätig gewesen. Bei Trilith Okt hatten wir auf jegliche Maskerade verzichtet, da sie ohnehin niemand kannte. Sie trug lediglich – wie ich auch – eine Borduniform und war als Spezialistin für Erztransporte ausgewie sen. Als Heimatplanet gab sie einmal mehr Fauron an, jene Dschun gelwelt, auf der die Frau die drei schlimmsten Tage ihres Lebens verbracht hatte. Natürlich hatte sie erneut darauf bestanden, ihr Vi bro-Messer mitzunehmen, von dem ich wusste, dass sie eine innige Beziehung zu ihm pflegte. Nach kurzem Überlegen war ich einver standen gewesen, denn mit der Waffe würde sie garantiert auffallen und damit alle Blicke auf sich lenken. Als wir auf zehn Kilometer an das Sphärenrad herangekommen waren, strahlte Sente Maluba die aus seiner Permitdatei ausgelese nen Kodes ab. Wir wurden anstandslos per Leitstrahl auf einen An dockkurs gesetzt. Es herrschte reger Betrieb. Von allen Seiten flogen Sphärendreher, Fähren und Versorgungsschiffe heran oder legten gerade ab. Ein plumpes, kastenförmiges Fahrzeug mit einem Contai ner von mindestens hundert Metern Kantenlänge im Schlepptau zog in geringer Entfernung an uns vorbei und nahm Kurs auf Rudyn. Ich fragte mich, was es wohl transportierte. Neben der KAPIUR hat ten noch eine Reihe anderer Schiffe Einladungen zu Vertragsgesprä chen erhalten. Ich fand es erstaunlich, dass diese ausgerechnet auf der ZUIM stattfanden. Vielleicht wollten die Unionsvertreter auf diese Weise ein bisschen Eindruck schinden. Das Andockmanöver gestaltete sich problemlos. Die äußere Sphä re drehte sich nicht besonders schnell; zudem halfen positronisch koordinierte Zugstrahlen bei den minimalen Korrekturen. Fünf Mi nuten später war das Beiboot der KAPIUR mit Magnetfeldern an Sphäre 4 verankert. Ein breiter Verbindungstunnel ermöglichte uns das Übersetzen.
Mit der ZUIM hatte die Union ohne Frage eine außergewöhnliche Mischung aus Raumschiff und Raumstation geschaffen. Auch wenn es meinen Agenten bislang nicht gelungen war, aussagekräftige Konstruktionspläne in die Finger zu bekommen, war erkennbar, dass hier einige völlig neue technische Konzepte zum Tragen ka men. Falls sich während unseres Einsatzes die Gelegenheit ergab, ein paar entsprechende Daten zu erbeuten, würde ich sie nutzen. Wir wurden in einem Hangar empfangen, der groß genug gewe sen wäre, um einen Leichten Kreuzer aufzunehmen. Eine ältere Frau, die sich als Anjelka Ziemann, persönliche Referentin von Aka die Holeste, der Kalfaktorin für Wirtschaft und Entwicklung vor stellte, führte uns über eine breite Rampe ein Deck höher. Wir betra ten einen Konferenzraum, in dem eine reichhaltige Auswahl an Ge tränken sowie ein kleiner Imbiss bereitstanden. »Bitte machen Sie es sich bequem und bedienen Sie sich«, forderte uns die in das übliche Einheitsgrau gekleidete Frau auf. »Leider kann sich Kalfaktorin Holeste nicht persönlich um Sie kümmern, da sie sich derzeit nicht im Ephelegon-System aufhält. Wie Sie vielleicht wissen, ging die aktuelle ökonomische Initiative von Neife Varidis, der Kalfaktorin des Geheimen Kalkulationskommandos, aus und kam ziemlich plötzlich.« Für einen Moment war der Dame der Un mut ob solcher Kompetenzüberschreitung deutlich anzusehen, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Die Verhandlungsführung übernimmt deshalb Limar Ostrau«, fuhr sie fort, »einer der engsten Vertrauten von Akadie Holeste. Er ist verantwortlich für den Ankauf von Mineralen aller Art sowie de ren Folgeprodukten. Neben diesem Konferenzraum stehen fünf wei tere Räume für Einzelgespräche zur Verfügung. Außerdem gibt es eine Ruhezone für jede Delegation sowie einen Bereich, in dem Sie ungestört Kontakt mit Ihrem Schiff aufnehmen können. Falls eine Hyperfunkverbindung benötigt wird, bitte ich Sie, diese bei mir an zumelden. Mr. Ostrau wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Im Namen der Zentralgalaktischen Union darf ich Ihnen einen ange nehmen Aufenthalt auf der ZUIM sowie viel Glück bei Ihren Ver
handlungen wünschen.« Bevor jemand noch eine Frage stellen konnte, war Anjelka Ziemann durch ein Schott verschwunden. Ich hatte die Räumlichkeiten inzwischen so unauffällig wie mög lich inspiziert und konnte keinerlei Anzeichen dafür entdecken, dass wir überwacht wurden. Das hatte allerdings nicht viel zu sagen. Mo derne Spionageausrüstung war mit bloßem Auge nicht zu entde cken. Wir sind nicht einmal oberflächlich kontrolliert worden, wisperte der Extrasinn. Du weißt, was das bedeutet. Ja, dachte ich. Wir befinden uns in einem unkritischen Sektor des Sphä renrads. Besucher sind hier an der Tagesordnung. Wenn wir den Zellakti vator aufspüren wollen, müssen wir allerdings in die tieferen Regionen der ZUIM vordringen. Kurz darauf betraten Limar Ostrau und sechs weitere Männer den Konferenzraum. Nach der üblichen Vorstellung und dem Austausch belangloser Höflichkeiten teilte man sich in zwei Gruppen und be gann die ersten Beratungen. Trilith und ich schlossen uns Balton Wyt an. Während Sente Maluba sich mit Limar Ostrau beschäftigte, wandte sich dem jungen Terraner ein schmächtiger Unterhändler namens Rory Lonaski zu. Die folgenden Stunden zogen sich endlos dahin. Zwischenzeitlich konnte ich meine Ungeduld nur noch schwer bezähmen. Es war bereits der 14. September angebrochen, und ich war dem Aktivator noch keinen Schritt näher gekommen. Möglicherweise be fand er sich längst nicht mehr auf dem Sphärenrad. Die meisten Kal faktoren – und nur ein Kalfaktor konnte die TRADIUM beauftragt haben, das Gerät auf Finkarm zu bergen und ins Ephelegon-System zu bringen – hielten sich auf Rudyn auf. Die Tatsache, dass der Sphärendreher die ZUIM angesteuert hatte, besagte in diesem Zu sammenhang gar nichts. Die TRADIUM war bereits zwei Stunden nach ihrem Andocken wieder mit unbekanntem Ziel gestartet. Auf eine Verfolgung mit der GAHENTEPE hatte ich verzichtet. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Aktivator nach wie vor an Bord
des Sphärendrehers befand, war sehr gering. Die erste Verhandlungspause nutzten Trilith und ich, um uns die Beine zu vertreten. Die Konferenzräume lagen über dem Hangar, in dem wir angekommen waren. Von hier oben existierte keine Mög lichkeit, in andere Bereiche des Sphärenrads zu gelangen. Das war auch der Grund, weshalb wir keinerlei Wachposten sahen. Allerdings änderte sich dieser Zustand, als wir den Hangar selbst erkundeten. Eine breite Nische im hinteren Teil der Halle führte zu einem Doppelschott. Davor hatten zwei Soldaten der ZGU in rüs tungsähnlichen Kampfmonturen inklusive Helm und schwerem Strahlgewehr Stellung bezogen. Um den Hangar herum zog sich in etwa zehn Metern Höhe eine Art Balkon, der lediglich über drei primitive Leitern erreichbar war. Er bildete den einzigen Zugang zu einigen hinter einer Fensterfront gelegenen Örtlichkeiten. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Leitstelle. Zwei weitere Posten standen an den jeweiligen Enden der Galerie und beobachteten das bunte Treiben unter ihnen. Es war eine ganze Menge los; niemand schenkte uns besondere Beachtung. Wir waren einfach zwei neugierige Besucher, die sich auf der ZUIM, dem neuen Stolz der Zentralgalaktischen Union, ein wenig umsehen wollten. »Beeindruckend, nicht wahr? Schon bald wird man überall in der Milchstraße von den Sphärenrädern und der Union sprechen. Es wird eine neue Zeit anbrechen.« Anjelka Ziemann war überraschend neben uns aufgetaucht. Zu einem Lächeln schien sie nach wie vor nicht fähig zu sein. Bereits während der Begrüßung im Konferenz raum hatte sie kaum eine Miene verzogen. Ich schätzte die Frau auf Ende siebzig, und ihre etwas zu knapp sitzende Uniform verriet, dass sie einen ständigen Kampf gegen die überschüssigen Pfunde führte. »Zweifellos«, stimmte ich zu und musste dabei nicht einmal lügen. »Die ZUIM ist ein imponierendes Stück Technik. Als Arkonide weiß ich, wovon ich rede.«
»Oh, natürlich.« Mit einemmal wirkte Anjelka Ziemann erschro cken. »Ich wollte Sie auf keinen Fall beleidigen, Koramal.« Es bedurfte eines Impulses des Extrasinns, bevor ich begriff, was die Frau meinte. »Ich bitte Sie, Ms. Ziemann«, sagte ich lächelnd. »Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssten. Imperien entstehen, Imperien zerfallen. Ich bin sicher, dass eines Tages auch mein Volk wieder einen wichtigen Beitrag für Frieden und Freiheit in dieser Galaxis leisten wird.« Sie wirkte sichtlich erleichtert. Offenbar hatte sie geglaubt, durch ihren Hinweis auf die aufstrebende Union meine arkonidische Seele zu verletzten. Seit der offiziellen Auflösung des Vereinten Imperi ums im Jahr 2329 war das ehemals stolze Sternenreich der Arkoni den in viele kleine und kleinste Baronien, Grafschaften und Fürsten tümer zerfallen. Zwar hatte es immer wieder Versuche gegeben, die rivalisierenden Kashurns unter einem gemeinsamen Herrscher zu vereinen, doch keiner der selbst ernannten Imperatoren war stark genug gewesen, sich durchzusetzen. Ronald Tekener hatte einmal zu mir gesagt, dass ich mich wohl nur deshalb so tief in Quinto Cen ter verkroch, damit ich nicht mit ansehen musste, was aus dem Reich meiner einstigen Ahnen geworden war. Der Mann hatte schon immer ein Talent dafür besessen, die Dinge auf den Punkt zu brin gen. »Ganz sicher«, nickte Anjelka Ziemann eifrig. Sie meinte es nicht so, aber wer wollte ihr das verdenken. »Gibt es hier so etwas wie einen Übersichtsplan?« Trilith Okt hatte sich bislang verdächtig still verhalten, wohl auch, weil ich sie schon während unserer Vorbereitungen auf der KAPIUR mehrfach er mahnt hatte, ihr Temperament zu zügeln und mir das Reden zu überlassen. Ich wünschte, sie hätte sich noch ein wenig länger beherrscht, denn mit ihrer Frage wurde sie zum sprichwörtlichen Haluter im Kristallpalast.
»Aber ja«, sagte Anjelka Ziemann zu meiner Überraschung. »Wenn Sie wollen, übermittle ich Ihnen gerne eine entsprechend kommentierte Risszeichnung auf Ihre Konsole im Konferenzzim mer. Sie enthält natürlich nur Beschreibungen der frei zugänglichen Sektoren.« »Das wäre geradezu entzückend«, erwiderte Trilith. Nicht schlecht, ließ sich der Extrasinn vernehmen. Sie hat den Um stand ausgenutzt, dass sich Anjelka Ziemann schuldig fühlt. Dieses Schuldgefühl kann sie kompensieren, indem sie euch einen Gefallen tut. Du solltest aufpassen, Arkonide. Vielleicht kannst du hier noch etwas ler nen. »Vielen Dank«, sagte ich und ignorierte mein zweites Ich. »Ich nehme nicht an, dass es hier so etwas wie eine Führung für Touris ten gibt? Ich interessiere mich sehr für Technik, müssen Sie wissen.« »Nein, leider nicht.« Anjelka Ziemann zeigte ehrliches Bedauern. »Die ZUIM ist noch immer ein Geheimprojekt. Aus diesem Grund sind die meisten Sektoren selbst für das Personal nur mit speziell kodierten Ausweisen zu erreichen. Selbst ich muss nach Dienstende nach Rudyn zurückkehren und für die nächste Schicht die Fähre nehmen, obwohl es ausreichend Quartiere gibt.« Wir wechselten noch ein paar Sätze mit ihr, bis sie uns mahnte, dass es an der Zeit sei, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Mein Stimmungsbarometer sank sofort um einige Grad, als ich dar an erinnert wurde, dass mir eben jene Zeit wie Sand durch die Fin ger rann. Trilith und ich mussten uns von der Gruppe absetzen und in das Sphärenrad eindringen, bevor die erste Gesprächsrunde zu Ende ging und das Beiboot KAP-1 wieder ablegte. Im Moment wusste ich bloß noch nicht, wie wir das anstellen sollten.
Holzer M. Buchard Gegenwart Holzer M. Buchard hasste Transmitter. Insofern hatte ihn der Repa raturauftrag für Sphäre 1 nicht unbedingt mit Vorfreude erfüllt, denn um den inneren Ring des Sphärenrads zu erreichen, würde er zwangsläufig eine der Transmitterstrecken benutzen müssen. »Transmitter sind seit Jahrhunderten das sicherste Transportmittel in der Galaxis«, dozierte Fresko Balibari. Sein Freund begleitete ihn ein Stück des Weges zum Verteilerknoten Delta-14, den Holzers Ar beitsauftrag als erste Meldestelle vorsah. Fresko hatte soeben einen großen Schokoriegel aus seiner silberschwarzen Folie genommen und schob ihn sich ganz in den Mund. Zu Holzers Erstaunen passte er hinein. »Nimm nur mal die Fähren, die täglich zwischen der ZUIM und Rudyn pendeln«, sprach er ungerührt – wenn auch wesentlich un deutlicher als zuvor – weiter. »Letztes Jahr wäre eine fast gegen Sphäre 2 geknallt, weil der Pilot …« »Ich weiß«, unterbrach Holzer den anderen genervt. »Du hast mir diese Geschichte schon hundert Mal erzählt, und der einzige Effekt war, dass ich seit damals neben meiner Phobie gegen Transmitter auch noch eine gegen Planetenfähren habe.« »Du solltest etwas essen«, schlug Fresko vor und hielt dem Techni ker einen zweiten, noch eingeschweißten Schokoriegel hin. Holzer schüttelte den Kopf »Ich kann jetzt nichts essen«, wehrte er ab. »Sonst muss ich mich in der Empfangsstation garantiert überge ben.« Fresko Balibari zuckte mit den Schultern, riss den zweiten Riegel aus der Verpackung und schob ihn dem ersten hinterher.
»Meine Güte«, stöhnte Holzer M. Buchard. »Schluckst du die Din ger etwa am Stück? Du wirst eines Tages beim Essen ersticken, weil dir ein halbes Rudyn-Hähnchen im Hals stecken bleibt.« »Besser, als wenn eine Transmitterpositronik Kopf und Arsch ver wechselt.« Fresko prustete los und Holzer konnte sich nur knapp vor einem Sprühregen aus Speichel und geschmolzener Schokolade in Sicherheit bringen. »Sehr witzig«, stieß er wütend hervor und beschleunigte seine Schritte. »Warum lässt du mich nicht in Ruhe und nimmst in der Kantine ein zweites Frühstück zu dir. Du siehst abgemagert aus.« »Echt?« Fresko Balibari hielt tatsächlich an, sah an sich hinab und streichelte über seinen sanft gerundeten Bauch. Er schien mit einem Mal ernsthaft besorgt zu sein. Holzer schüttelte erneut den Kopf und bog dann um die Ecke des Ganges. Sein Freund blieb hinter ihm zurück. Manchmal fragte sich der Techniker, ob Fresko tatsächlich so beschränkt war, wie er sich gab. Verteilerknoten Delta-14 war eine geräumige Rundhalle, an deren Wand sich insgesamt fünfzehn Transmittertore aneinanderreihten. Grelle Lampen an der Decke sorgten dafür, dass es keinerlei Schat ten gab; ein Umstand, der Holzer M. Buchard noch nervöser machte, als er ohnehin schon war. Im Zentrum des Raums hockte ein Techniker der Klasse 4 hinter einem Kontrollpult und sah ihm missmutig entgegen. Seine braunen Haare standen wirr nach allen Seiten ab, auf seiner Nase war ein großes Muttermal. Schließlich ging es hier um Leben und Tod. Ein winziger Fehler, und seine Atome würden für immer und ewig in den Weiten des Hyperraums verwehen. Verdammt, warum hatte man für den Dienst am Verteilerknoten nicht mindestens einen Techniker zweiter Klasse abgestellt? Oder noch besser einen ausge bildeten Transmitterexperten. »Beleg?« Die gelangweilte Stimme des Kerls am Kontrollpult machte Holzer M. Buchard bewusst, dass er eine ganze Weile reglos
auf der Stelle gestanden hatte. Er fasste in die Brusttasche seiner Uniform, zog die schmale Folie mit seinem Arbeitsauftrag hervor und reichte sie ihm. Der Mann mit dem Muttermal auf der Nase warf einen flüchtigen Blick darauf und reichte sie ihm sogleich zu rück. »Tor 13. Freischaltung in sechzig Sekunden.« Er drückte ein paar Knöpfe auf einer Konsole und legte einen Hebel um. Hinter ihm ak tivierte sich mit leisem Klicken eines der Tore. Mehrere grüne Lich ter blinkten hektisch und gingen dann in ein mattes, stetiges Glühen über. »Tor 13?«, fragte Holzer M. Buchard. »Ja.« »Das …«, der Techniker zögerte. »Das … halte ich für keine gute Idee.« »Wie bitte?« Zum ersten Mal zeigte der Mann am Kontrollpult so etwas wie Interesse. »Was meinen Sie damit?« »Ich will hier ganz sicher niemandem Schwierigkeiten machen«, erklärte Holzer gefasst, »aber ich bin in solchen Sachen ein bisschen abergläubisch. Wäre es möglich, dass ich einen anderen Transmitter benutze?« Der Techniker glotzte ihn an, als hätte er sich gerade in eine Tauris-Kröte verwandelt. Sein Blick blieb auf dem silbernen sti lisierten Schraubenschlüssel am Kragen von Holzers Uniform hän gen, und ihm wurde klar, dass er einen Ranghöheren vor sich hatte. »Wie … wie Sie wünschen, Sir«, sagte er langsam und bearbeitete die Konsole. Das Tor hinter ihm schaltete sich mit einem Klicken ab. »Darf es eine bestimmte Nummer sein?« Holzer M. Buchard war sich nicht sicher, ob sich der Bursche über ihn lustig machte, aber er hatte die Sache angefangen, jetzt musste er sie auch zu Ende brin gen. »Warum nehmen wir nicht die 1«, sagte er mit einem gequälten Lächeln. »Die 1 war mir schon immer sympathisch.« »Sehr gern, Sir.«
Holzer M. Buchard ging die wenigen Schritte zum betreffenden Transmittertor hinüber und versuchte, das Ziehen in seinen Gedär men zu ignorieren. Als Techniker wusste er so gut wie alles über Transmitter. Das eigentlich Verrückte an dieser Technik war, dass man die zu ihrer Umsetzung genutzten Phänomene des Hyper raums bis heute nicht in letzter Konsequenz verstanden hatte. Kein noch so genialer Wissenschaftler konnte schlüssig erklären, warum ein Transmitter funktionierte. Eigentlich müsste das von ihm erzeugte Hyperfeld aufgrund der induzierten Quanteneffekte und dem in allen höherdimensionalen Räumen vorherrschenden Fre quenzflimmern in der ersten Nanosekunde seines Entstehens wie der zusammenbrechen, doch das tat es nicht. Transmitter wider sprachen jeder physikalischen Logik, dennoch waren sie seit vielen Jahrhunderten das wichtigste Transportmittel der Milchstraße. »Wenn Sie dann soweit wären, Sir …« Holzer M. Buchard sah über die Schulter. Der Mann hinter der Konsole nickte ihm aufmunternd zu. Wahrscheinlich hatte er öfter mit Leuten zu tun, die eine Ortsversetzung in Nullzeit nervös mach te. Das leise Summen, mit dem sich der Transportbogen zwischen den Torholmen aufbaute, ließ ihn zusammenzucken. Vor ihm wogte ein See aus Milch, der von innen heraus zu leuchten schien, und durch den man wie durch einen dünnen Schleier die Rückwand der Halle erkennen konnte. Holzer M. Buchard schloss die Augen, nahm all seinen Mut zusammen und trat durch das Tor. Für einen Atem zug hatte er das Gefühl, in einen tiefen Abgrund zu stürzen. Er stol perte und spürte eine Berührung am rechten Arm, verkrampfte, wollte sich losreißen … Jemand lachte glockenhell. »Hoppla«, hörte Holzer die Stimme ei nes Engels. »Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.« Der Techniker öffnete die Augen – und sah sich der schönsten Frau gegenüber, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Sie trug das lange, grüne Haar offen, und ihre sanft geschwungenen, pastell
grün geschminkten Lippen waren zu einem spöttischen Lächeln ver zogen. Auch Augen und Lidschatten waren grün. Um die kleine Stupsnase war eine Schar Sommersprossen verteilt. Ihre Hand, die seinen Arm nun viel zu früh losließ, bestand aus langen, schlanken Fingern mit grün lackierten Nägeln. Holzer M. Buchard trat einen Schritt zurück. Er musste träumen. Oder der Transmitter hatte ihn geradewegs in den Himmel abge strahlt: Vor ihm stand eine Göttin, für die er ohne nachzudenken auf der Stelle alle seine 54 Offenbarungen verleugnet hätte – und die 46 fehlenden gleich noch dazu. »Ich hoffe, Ihnen gefällt, was Sie sehen.« Die Rangabzeichen auf der grauen Uniform wiesen die Frau als Angehörige des Wartungs personals aus. Ein Symbol aus vier gegeneinander versetzten Krei sen identifizierte sie als zur Stammbesatzung der ZUIM gehörend. Darunter erkannte Holzer ein mattsilbernes Namensschild. Karaia Cortez las der Techniker, bis er sich bewusst wurde, dass er seit min destens zwanzig Sekunden auf den wohlgeformten Busen seines Ge genübers starrte. Hastig senkte er den Blick. »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht … ich meine, es tut mir leid«, stammelte er und verfluchte sich für seine Unbeholfenheit. Da stand es nun vor ihm; das lebende Abbild all seiner Wünsche und Sehn süchte, und er stierte ihr erst auf die Brust und brachte dann kaum einen zusammenhängenden Satz heraus. »Schon gut«, grinste die Frau. »Sie mögen Transmitter wohl nicht besonders.« »Sieht man mir das so deutlich an?« Holzer versuchte ein zaghaf tes Lächeln und hoffte inständig, dass es ihm einigermaßen glückte. »Keine Sorge«, beruhigte sie ihn. »Das geht vielen Leuten so. Ich benutze die Dinger auch nicht unbedingt gern, aber sie sind nun mal statistisch gesehen das sicherste Transportmittel in der Milchstraße.« »Ja«, nickte der Techniker. »Statistiken sind wie ein Puff auf Lepso. Jeder findet darin, was er sucht.« Im nächsten Moment hätte er sich
am liebsten die Zunge abgebissen. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Wahrscheinlich würde sie ihm eine runterhauen und dem nächsten Vorgesetzten Meldung machen. Statt dessen lachte Karaia Cortez erneut, und Holzer betete zu allen Mächten des Universums, dass sie nie mehr aufhören möge. »Na, dann zeigen Sie mir mal Ihren Auftrag«, sagte sie und ging zwei Schritte auf ihn zu. Holzer M. Buchard verspürte einen leichten Schwindel. Wenn man den zarten Duft, der von dieser Frau ausging, in Flaschen füllen und verkaufen könnte, würde er schon bald jedes Rauschmittel der Milchstraße vom Markt verdrängt haben. Er fum melte umständlich die Folie aus der Uniformtasche und reichte sie ihr. »Außensektor«, sagte Karaia Cortez. »Finden Sie den Weg allein, Mr. Buchard?« Woher kannte sie seinen Namen? Ach ja, der Repara turauftrag. »Ich … denke schon«, erwiderte er. Jetzt, feuerte er sich selbst an. Frag sie, ob sie in ihrer nächsten Freischicht mit dir essen geht! Los, du elender Feigling! Sei ein Mann! Er drehte sich um und nahm Kurs auf den Ausgang der Emp fangsstation, die genauso aussah wie Verteilerknoten Delta-14. Ja, er war ein Feigling. Ein erbärmlicher Windbeutel, der Belegungsdatei en durchforstete, um an Frauen heranzukommen. Kein Wunder, dass er ständig abblitzte. Wenn er eine Frau gewesen wäre, würde er um sich selbst auch einen großen Bogen machen. »Mr. Buchard …?« War das ein Echo von vorhin? Hörte er seinen Namen aus dem Mund der Göttin zwischen den brüchigen Steil wänden seiner Seele nachhallen? Er stoppte, wandte sich um. Karaia Cortez lächelte ihn an, und wenn die Zeit in diesem Augen blick stehen geblieben wäre, wäre Holzer M. Buchard für den Rest der Ewigkeit der glücklichste Mensch des Universums gewesen. »Ja?« Was konnte sie noch von ihm wollen?
»Hätten Sie Lust, in meiner nächsten Freischicht mit mir essen zu gehen?«, fragte sie.
Atlan Gegenwart Anjelka Ziemann hatte ihr Versprechen gehalten, auch wenn uns der Plan, den sie uns eine halbe Stunde nach Wiederaufnahme der Verhandlungen schickte, nicht besonders weiterhalf. Immerhin er fuhren wir, dass die vier Sphären durch Traktorfelder und Trans mitterstrecken miteinander verbunden waren. Direkte Übergänge gab es nicht. Ich fragte mich deshalb, ob es möglich war, die vier Rä der während eines Kampfeinsatzes zu trennen und als separate Raumschiffe einzusetzen. In Gefechtssituationen, in denen es auf Be weglichkeit und Tempo ankam, wäre das ein nicht zu unterschät zender Vorteil. Die beiden inneren Ringe durften ausschließlich von autorisiertem Personal betreten werden, was mich nicht gerade mit neuer Hoff nung erfüllte. Immerhin hatte das Beiboot der TRADIUM an Sphäre 1 angedockt. Die meisten Sektoren sparte der Plan aus. Ich nahm an, dass dort technische Einrichtungen wie Schutzschirmgeneratoren, Waffen- und Antriebssysteme und sonstige sensible Anlagen instal liert waren. Jeder Ring war in seinem Außenbereich mit einer Reihe von Schleusen ausgestattet, was meine These einer möglichen Separie rung des Sphärenrads in vier autarke Einheiten erhärtete. »Sie sehen nicht besonders glücklich aus, Sir … Koramal.« Balton Wyt fuhr sich fahrig durch die Haare. Ich hatte ihn während der Gespräche mit den Männern der ZGU beobachtet und meine Meinung über ihn revidieren müssen. So un sicher und verkrampft er in meiner Gegenwart wirkte, so sicher und zielbewusst gab er sich in den Verhandlungen. Der Mann hatte seine Talente – wenn er es richtig anstellte, würde er seinen Weg machen.
»Das bin ich auch nicht, Mr. Wyt«, gab ich zu. »Ich stecke in einer Sackgasse. Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als zur KAPIUR zurückzukehren und die Lage neu zu überdenken.« »Ich könnte mir vorstellen«, sagte der Terraner leise, »dass sich diese Lage erheblich zu Ihren Gunsten veränderte, wenn es zu ei nem … Zwischenfall auf dem Ladedeck käme.« Ich sah ihn an, und sofort schoss ihm die Röte ins Gesicht. »Ich höre …«, nickte ich ihm auffordernd zu. »Also ich … Sie haben Kapitän Maluba so etwas wie eine Beloh nung in Aussicht gestellt, wenn er …« Ich legte meine Hand auf die Schulter des Mannes und beugte mich zu ihm hinüber. »Wenn Sie mir helfen können, Mr. Wyt«, sagte ich bestimmt, »spiele ich gerne die gute Fee und Sie haben einen Wunsch frei. Al lerdings sollten Sie nicht meine ohnehin knappe Zeit verschwenden. Falls Sie also einen Weg ins Innere des Sphärenrads kennen, dann spucken Sie ihn aus.« Ich senkte meine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Und wenn Sie mich noch einmalt mit Sir anreden, werfe ich Sie auf der Stelle aus der nächsten Luftschleuse.« »Ich … also … gut.« Der junge Mann atmete einmal tief ein und wieder aus. Dann bedeutete er mir, ihm in eines der kleineren Kon ferenzzimmer zu folgen. Trilith Okt schloss sich uns ungefragt an. »Hier können wir uns ungestört unterhalten«, erklärte Balton Wyt. Auf meinen fragenden Blick hin zog er ein flaches, schwarzes Käst chen aus seiner Brusttasche. Auf der Oberseite glomm ein winziges grünes Licht. »Selbstgebaut«, sagte er. »Ein Störsender auf Basis modulierter Hyperpulse. Die Wellen interferieren mit nahezu jeder bekannten Frequenz, und die Feldstärke ist so justiert, dass sich die Wirkung auf die unmittelbare Umgebung beschränkt.« Er zögerte kurz und fügte dann mit einem scheuen Lächeln hinzu: »Schließlich muss ich
dafür sorgen, dass die technischen Veränderungen, die ich in meiner Kabine vorgenommen habe, unbemerkt bleiben.« Ich nickte anerkennend. Dieser Junge steckte wirklich voller Über raschungen. »Haben Sie schon einmal an eine Karriere als USO-Spezialist ge dacht?«, fragte ich. »Die Ausbildung ist hart, die Bezahlung lausig, aber man kommt in der Galaxis herum.« Offenbar war dem Terraner nicht klar, ob ich meine Frage ernst meinte. Er warf mir ein paar unsichere Blicke zu und schwieg. »Was haben Sie noch für uns, Mr. Wyt?« lenkte ich die Unterhal tung wieder auf das Wesentliche. »Ich konnte mich während der Verhandlungspausen in das po sitronische Netz des Sphärenrads einklinken. Keine Sorge, das wird niemand bemerken, da ich keine speziell gesicherten Daten abgeru fen habe. Die Systemsperren waren nicht der Rede wert. Fakt ist: Die einzigen beiden Verbindungen zwischen Besucherbereich und den angrenzenden Sektoren von Sphäre 1 sind eine Ladeluke in der De cke und das Doppelschott, das den Hangar in zwei Hälften teilt.« »Das Schott haben wir bereits gesehen«, meldete sich Trilith Okt zu Wort. »Es ist streng gesichert.« »Richtig«, entgegnete Balton Wyt. »Und die Ladeluke wird mit Vi talscannern überwacht, um eine Kontamination der oftmals sensi blen Ladung zu verhindern. Das dürfte sich jedoch ändern, wenn es im Hangar zu einem Unfall kommt, vor allem, wenn der Einsatz von Rettungskräften notwendig ist. Diese müssen nämlich aus einem der inneren Sektoren ausrücken; das zentrale Hangarschott muss also geöffnet werden, und die Wachen dürften abgelenkt sein.« »Ich würde es ungern sehen, wenn bei dieser Aktion Unschuldige zu Schaden kommen«, warf ich ein. »Keine Sorge«, beruhigte mich der Terraner. »Das sollte nach menschlichem Ermessen nicht passieren. In einer knappen Stunde trifft hier ein Transport mit 15.000 Litern STOG-Säure ein. Ich muss
Ihnen nicht sagen, wie gefährlich dieses Teufelszeug ist.« »Nein«, bestätigte ich. Trilith Okt sah mich auffordernd an. »STOG-Säure wird aus den Druckbeuteln einiger Tierarten des Planeten Fargone gewonnen. Sie löst so gut wie alles auf. Selbst ge härtetes Terkonit kann ihr nicht widerstehen. Für den Transport wurde deshalb eine sprühfähige Keramikmasse entwickelt, die der aggressiven Substanz widerstehen kann. STOG-Säure wird in der Industrie unter anderem zur Herstellung supraleitender Lösungen eingesetzt.« Dass die Säure im 25. Jahrhundert auch mehrfach als Waffe Ver wendung gefunden hatte, behielt ich für mich, fragte mich aller dings, was die Union wohl mit derartigen Mengen dieser gefährli chen Substanz plante. »Löschung und Einlagerung der Tanks ist üblicherweise kein Pro blem«, übernahm Balton Wyt wieder die Gesprächsführung. »Ein reiner Routinevorgang. Nicht jedoch, wenn jemand die Logdateien der Tankpositronik manipuliert hat. Auf halbem Weg zur Ladeluke wird sich eines der Druckventile öffnen, und 200 Milliliter hochakti ve STOG-Säure ergießen sich auf den Hangarboden und beginnen ihr zerstörerisches Werk. Nicht genug, um einen Hüllenbruch her beizuführen, aber mehr als genug, um eine Menge Leute in Panik zu versetzen. Vor allem, wenn die Logdateien das Entstehen eines großen Lecks voraussagen und zwei Handelsdelegationen von der KAPIUR in Todesangst zu ihrer Space-Jet rennen.« »Und dadurch niemandem auffällt, dass zwei Personen fehlen«, fügte ich hinzu. Ich schüttelte den Kopf. »Mr. Wyt«, grinste ich, »langsam machen Sie mir Angst. Kapitän Maluba ist eingeweiht?« »Und einverstanden.« Balton Wyt erwiderte mein Grinsen – und diesmal wurde er nicht einmal rot dabei. »Na, dann«, sagte ich und schlug dem Hünen vor mir auf die brei ten Schultern, »lassen Sie uns loslegen.«
Holzer M. Buchard Gegenwart Er konnte sein Glück nicht fassen. Während er durch die Gänge im Außenbereich von Sphäre 1 ging, fragte er sich immer wieder, ob er das alles vielleicht nur geträumt hatte. Doch dann zog er die Folie seines Reparaturauftrags hervor und betrachtete die achtstellige In terkomnummer, die Karaia Cortez darauf notiert hatte. Kein Traum. Die Frau war echt – und sie würde in wenigen Stunden mit ihm es sen gehen. Holzer M. Buchard war so in Gedanken versunken, dass er schnurstracks an dem Schott vorbei lief, welches in den gewünsch ten Schleusenbereich führte. Dort hatte der Überwachungssensor ei ner Schalttafel für die Signalbeleuchtung angesprochen und den Ausfall eines Relais gemeldet. Eigentlich ein Routineauftrag für einen Techniker der Klasse 3. Dass dieser Auftrag weit unter seinem Niveau war, kümmerte den Mann in diesem Augenblick jedoch nicht. Er hätte sich auch dann nicht beschwert, wenn man ihn zur Beseitigung einer Rohrverstopfung in die Latrinen der Ladearbeiter befohlen hätte. Das plötzlich an seine Ohren dringende Summen riss ihn abrupt aus seiner Hochstimmung. Kopfschüttelnd realisierte er, dass er viel zu weit gegangen war. Einige Meter weiter blinkte ein rotes Warn licht über dem Zugang zu einer Luftschleuse. Holzer legte die kurze Strecke zurück und schaute neugierig durch die Scheibe aus dickem Panzerplast – was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Auf der anderen Seite des Schotts klammerte sich eine unbekannte hagere Frau am Haltegriff der Sicherheitsverriegelung fest. Der Ver bindungstunnel zwischen der Luftschleuse und einem Sphärendre her, der im Begriff war, abzulegen, stand kurz davor, die Magnet
kontakte zum Schiff zu lösen und in die vorgesehenen Haltebuchten zu fahren. So etwas war im Grunde völlig unmöglich, da die überall vorhandenen Sensoren die Anwesenheit einer Person im Schleusen innern registrierten und den Vorgang auf der Stelle hätten unterbre chen müssen. Der Techniker überwand seine Verblüffung und zog sein Multi funktionswerkzeug aus dem Gürtel. Viel Zeit blieb ihm nicht, doch er musste es zumindest versuchen. Mit fliegenden Fingern riss er die Abdeckplatte neben dem Schott aus der Wand und studierte die da hinterliegenden Bauelemente. Es dauerte fünf Sekunden, dann hatte er das Modul identifiziert, das die Verriegelung des Schleusen schotts steuerte. Er hielt sich gar nicht erst lange damit auf, die Au tomatik zu überlisten, sondern trennte hastig die Verbindungen zur Energieversorgung sowie zur Notbatterie. Dann sprang er auf und schlug mit aller Kraft auf die Kontaktfläche für die Öffnungskontrol le. Ein heftiges Fauchen fuhr in den Gang hinein, als das Schott nach innen schlug. Sofort spürte Holzer den Sog, der ihn aus der entstan denen Öffnung zu saugen drohte. Er schaffte es, mit beiden Füßen rechts und links des Zugangs Halt zu finden. »Geben Sie mir Ihre Hand!« schrie er der Frau entgegen. Diese hing inzwischen fast waagrecht in der Luft. Ihr verzerrtes Gesicht ließ darauf schließen, dass sie sich nicht mehr allzu lange würde hal ten können. »Kommen Sie schon!«, brüllte er gegen das Brausen der entwei chenden Luft an. »Wenn sich der Verbindungstunnel vollständig löst, sind wir geliefert.« Er wunderte sich darüber, dass er noch im mer keine Alarmsirenen hörte. Normalerweise hätte die Leitstelle längst reagieren müssen. Die Frau zog sich unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte näher an den Durchgang heran. Holzer bekam ihren Arm zu fassen und zerr te, so gut er konnte. Zweimal wäre er beinahe abgerutscht und hätte sich selbst in die Schleuse hinein katapultiert, doch dann war sein
völlig erschöpftes Gegenüber nahe genug, dass er es unter den Ar men packen und endgültig in Sicherheit bringen konnte. Ein erneu ter Schlag auf die Öffnungskontrolle, und das Schott schloss sich. Mindestens eine Minute lang sprach niemand ein Wort. Der Tech niker lehnte mit dem Rücken an der Wand und wartete darauf, dass sich sein im Stakkato hämmernder Herzschlag beruhigte. Die Frau lag keuchend auf dem Boden und tat vermutlich dasselbe. Holzer versuchte sich darüber klar zu werden, was gerade passiert war. Er war kein Held. Ehrlich gesagt war er sogar ein Hasenfuß. Selbst sei nen engsten Freunden hatte er nie erzählt, dass nachts in seiner Ka bine immer eine kleine Lampe brennen musste. Und nun das! Es gab nur eine logische Erklärung, und die hieß Karaia Cortez. Holzer M. Buchard fühlte sich so gut wie nie zuvor in seinem Le ben. Wenn Karaia erfuhr, dass er eine Frau vor dem sicheren Tod gerettet, dass er todesmutig und doch besonnen gehandelt hatte, würde sie nicht mehr nur mit ihm essen wollen. Wenn er es richtig anstellte, wurde er vielleicht sogar befördert. Techniker Klasse 1. Das hörte sich gut an. Das passte zu ihm. »Sind Sie in Ordnung?«, fragte er. Besorgt wandte er den Kopf zur Seite. »Ich hoffe, Sie wissen, dass Sie unglaubliches Glück …« Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken. Dort, wo die fremde Frau gerade noch gelegen hatte, herrschte gähnende Leere: Die Ge rettete war spurlos verschwunden – und sie hatte sich nicht einmal bei ihm bedankt.
Atlan Gegenwart Die Transportcontainer schwebten auf ihren Prallfeldern durch den Hangar. Es waren drei wuchtige 5000-Liter-Behälter, eingehängt in flexible Terkonitgerüste, die die Hüllen zusätzlich gegen Stöße absi chern sollten. Trilith und ich beobachteten die kurze Prozession ge meinsam mit rund zwei Dutzend anderen Anwesenden. Mehrere Männer in grauen Uniformen gingen neben den Containern her und kontrollierten immer wieder die Skalen von Messgeräten, die sie an Gurten um den Hals trugen. Wir hatten uns in der Nähe des großen Schotts aufgestellt und warteten. Sente Maluba und Balton Wyt hatten uns zum Abschied die Hände geschüttelt und viel Glück gewünscht. Wenn alles glatt ging, würden wir uns vermutlich vorerst nicht wiedersehen, aber ich hatte versprochen, mich nach Abschluss der Mission zu melden – schon allein aus Neugier, welche Belohnung der junge Terraner verlangen würde. Einer der ZGU-Leute hob plötzlich den Arm, deutete zunächst auf sein Messgerät und dann auf den mittleren der drei Container. Er rief irgendetwas, doch aus der Entfernung konnte ich es nicht ver stehen. Der ihm am nächsten stehende Kollege ging zu ihm hinüber. Gemeinsam starrten sie auf das Messgerät. Ein lauter Knall ertönte in mehreren Echos durch die Halle. Etwas zischte. Mehrere Schau lustige schrien. Das Ventil befand sich auf der Oberseite des Containers. Norma lerweise wurde es mit einer Absaugvorrichtung verbunden und dann geöffnet, doch nun schoss scheinbar unmotiviert eine geringe Menge einer glasklaren Flüssigkeit daraus hervor, beschrieb eine fla che Parabel durch die Luft und klatschte auf den Boden. Glückli
cherweise stand niemand in der Nähe, der durch etwaige Spritzer verletzt oder gar getötet werden konnte. Dennoch reagierten die Menschen, als wäre eine Bombe explodiert. Dort, wo die STOG-Säure den Hangarboden getroffen hatte, ent stand dichter Qualm. Die Substanz begann augenblicklich mit ihrem zerstörerischen Werk und fraß sich durch die molekularen Struktu ren des Terkonits, eines Materials, dessen Schmelzpunkt bei immer hin 35.000 Grad Celsius lag und das eine Dichte von unglaublichen 26 Gramm pro Kubikzentimeter besaß. Ein schriller Alarmton fuhr durch die Halle und sorgte dafür, dass nun endgültig Panik ausbrach. Ich sah die Mitglieder der Handels delegation, die wild gestikulierend zwischen den anderen Besu chern der ZUIM herumrannten und mit lautem Rufen für zusätzli che Verwirrung sorgten. Sekunden später öffnete sich das große Schott. Die beiden Bewaffneten traten zur Seite, als zwei Schwebe plattformen mit hohem Tempo in den Hangar einflogen. Es handelte sich offenbar um robotisch gesteuerte Fahrzeuge, an deren Bug mannslange Saugrüssel installiert waren. Eine Lautsprecherdurchsa ge informierte darüber, dass kein Grund zur Besorgnis bestünde. Die Besucher wurden aufgefordert, Ruhe zu bewahren und sich den Anweisungen des Personals zu fügen. »Jetzt oder nie«, raunte ich Trilith Okt zu und setzte mich in Bewe gung. Die Wachen hatten ihre Posten verlassen und beobachteten das Chaos im Hangar. Vermutlich überlegten sie, ob sie eingreifen oder sich lieber zurückhalten sollten. Ich hatte nicht vor, länger zu war ten. Wir traten in einen breiten Gang, der im Halbrund nach links und rechts führte. Ich überlegte nicht lange und wählte die Abzweigung nach rechts. In unregelmäßigen Abständen passierten wir Durch gänge, die jedoch allesamt verschlossen waren. Mir war klar, dass wir so schnell wie möglich ein Versteck benötigten, denn mit jeder verstreichenden Sekunde stieg die Gefahr, dass wir auf jemanden
trafen, der uns als Eindringlinge identifizierte und Alarm schlug. Links! Der intensive Impuls des Extrasinns ließ mich instinktiv handeln. Er hatte den Mann einen Sekundenbruchteil früher wahr genommen als ich. Der Umstand, dass der Logiksektor sämtliche Sinneseindrücke, die ich empfing, unabhängig von meinem eigentli chen Bewusstsein verarbeitete, hatte mir schon einige Male das Le ben gerettet. Eine Bewegung im Randbereich meines Sichtfelds, auf die ich normalerweise nur mit Verzögerung reagieren konnte, analy sierte mein zweites Ich deutlich schneller und war so in der Lage, mich vor einer potentiellen Gefahr zu warnen. Ich hatte gelernt, auf solcherlei Hinweise des Extrasinns ohne Verzögerung einzugehen und nicht darüber nachzudenken. Mit drei schnellen Schritten war ich neben dem Mann, dessen graue Uniform von einem silbernen Brustemblem verziert wurde. Es zeigte vier gegeneinander versetzte Kreise und darunter drei waag rechte Balken. Ich kannte mich mit den Rangabzeichen der ZGU nicht besonders aus, wusste jedoch, dass die Union die terranischen Dienstgrade weitgehend übernommen hatte. Der Mann vor mir war allem Anschein nach ein höherrangiger Of fizier. Bevor mein Gegenüber auch nur an Gegenwehr denken konn te, hatte ich die kompakte Strahlwaffe, die er in einem Gürtelholster trug, an mich genommen und auf ihn gerichtet. Der Mann schien keinerlei Angst zu haben. Seine kleinen, stechen den Augen huschten mehrmals zwischen Trilith und mir hin und her, bis sie schließlich zur Ruhe kamen und nur noch mich fixierten. Das schmale Gesicht mit dem angedeuteten Oberlippenbart drückte Verachtung aus. »Was soll das?«, fragte er mit befehlsgewohnter Stimme. »Ist das ein Scherz?« »Ich fürchte nein«, erwiderte ich. »Wir sind fremd hier und benöti gen Ihre Hilfe.« Er starrte mich an, als hätte ich ihm gerade einen unsittlichen An trag gemacht.
»Es gibt sicher Magazine und Lagerräume in der Nähe. Ich möch te, dass Sie uns dorthin führen. Sofort!« »Sie müssen vollkommen verrückt sein, wenn Sie glauben, dass Sie sich in diesem Sektor auch nur zehn Minuten unentdeckt bewe gen können.« Er schüttelte den von schütterem, schwarzem Haar bedeckten Schädel. »Wenn Sie sich mir jetzt ergeben, werde ich da für sorgen, dass Sie nicht auf der Stelle hingerichtet werden, son dern eine faire Verhandlung auf Rudyn bekommen.« »Ein verlockendes Angebot«, gab ich zurück. »Aber ich muss ab lehnen. Mein Vertrauen in das Justizsystem der Union ist nicht be sonders groß. Können wir dann?« »Nein!« Der Mann trat einen Schritt zurück und straffte sich. Für einen Augenblick glaubte ich, er würde salutieren. Stattdessen ver schränkte er die Arme vor der Brust. »Wenn Sie mich erschießen wollen, dann tun Sie es«, stieß er trot zig hervor. »Aber ich werde auf keinen Fall zum Verräter an …« Trilith Okt huschte so schnell an mir vorbei, dass ich keine Gele genheit zum Eingreifen bekam. Ich sah das kunstvoll verzierte Vi bro-Messer in ihrer Faust, wollte ihr in den Arm fallen, doch es war zu spät. Während sie mit der linken Hand den Mund des Offiziers umschloss, stieß sie die Klinge mit der Rechten in den Oberschenkel des Mannes. Ich sah, wie er die Augen weit aufriss und verzweifelt mit den Händen um sich schlug, doch der Griff der Frau war eisern. Das Messer war gut zehn Zentimeter in das Bein eingedrungen. Ein schnell größer werdender dunkler Fleck auf dem grauen Stoff der Uniformhose zeugte davon, dass der Offizier viel Blut verlor. »Niemand wird dich erschießen«, flüsterte Trilith dem Mann ins Ohr. Dabei klang ihre Stimme kälter als die Eiswinde von Greenish7. »Aber ich werde dich ganz langsam in Scheiben schneiden, wenn du nicht auf der Stelle tust, was mein Freund sagt. Hast du das ver standen?« »Was machst du da?«, fragte ich wütend. »Du wirst sofort …«
»Ich werde gar nichts!«, unterbrach mich Trilith respektlos. »Ich habe lange genug stillgehalten. Von nun an machen wir es auf mei ne Art. Also …«, sie wandte sich wieder dem Offizier zu und drück te das Messer ein Stück tiefer ins Fleisch. Der Mann wollte schreien, konnte es jedoch nicht. Dicke Schweiß perlen standen auf seiner Stirn. Er musste furchtbare Schmerzen ha ben. »Hast du mich verstanden?«, fragte die Frau noch einmal. Er nickte hastig. »Ausgezeichnet. Dann werde ich dich jetzt loslassen und dein Bein notdürftig versorgen. Und wenn ich etwas anderes als deinen Na men von dir höre, schneide ich dir die Zunge ab.« Sie nahm die Hand vom Mund des Mannes, der mit einem Mal gar nicht mehr so furchtlos und heroisch wirkte wie noch wenige Minuten zuvor. Sein Atem ging stoßweise, und als Trilith ihn zu Boden gleiten ließ und das Messer aus der klaffenden Wunde zog, stöhnte er laut. »Schschsch …«, machte sie und es klang beinahe zärtlich. »Sag mir wie du heißt.« »O … Oberst … M … Melvin … Alachaim«, quetschte der Verletz te zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Trilith Okt lächelte, schnitt mit ihrer Klinge das Hosenbein des Of fiziers ab und knotete es stramm, um die Blutung am Oberschenkel zu stillen. Lange würde diese Notlösung allerdings nicht halten. Der Mann brauchte dringend medizinische Versorgung. Ich hatte die ganze Szene ohnmächtig verfolgen müssen. In mir brodelte es, aber im Moment konnte ich wenig tun. Der Vorfall hatte mir allerdings gezeigt, dass mir Trilith nach wie vor unsagbar fremd war, auch wenn ich durch ihre Erzählungen an Bord der GAHEN TEPE viel von ihr wusste. Ihr zweites Augenpaar, das sie meistens unter ihren schwarzen Haaren verbarg, ihre Stimme, die sie als Waf fe einsetzen konnte, die psionischen Fähigkeiten, all das war nur die Oberfläche eines Sees, der viel dunkler und tiefer sein musste, als ich es im Moment zu erahnen vermochte. Wer war diese Frau? Wo
her kam sie? Und zu welchem Zweck hatte ein Unbekannter sie über viele Jahre hinweg ausbilden lassen und durch eine Reihe mör derischer Prüfungen geschickt? – Fragen, die sie sich selbst stellte. »Kannst du gehen?« fragte Trilith den Oberst. »Leg deinen Arm um meine Schultern. Wohin müssen wir?« Melvin Alachaim deutete in die Richtung, aus der er gekommen war. Dort zweigte ein schmalerer Gang rechtwinklig vom Haupt weg ab und führte tiefer in Sphäre 4 hinein. Immer noch wütend zog ich meine Jacke aus, die aus den Beständen der KAPIUR stamm te, und wischte damit so gut es ging das Blut vom Boden auf. Wäh rend ich Trilith und Alachaim folgte, achtete ich darauf, dass der verletzte Oberst keine weiteren Spuren hinterließ. Was die Frau ge tan hatte, war nicht nur barbarisch, sondern auch unverantwortlich gewesen. Wenn sie glaubte, ich würde das einfach so hinnehmen, dann hatte sie sich getäuscht. Zwei Minuten später öffnete der Offizier mittels einer dünnen Plastikkarte ein Schott zu einem etwa zwanzig Quadratmeter großen, vollständig mit Regalreihen ausgefüllten Raum. Trilith lud den Mann an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand ab. Melvin Alachaim sah alles andere als gut aus. Seine einstmals ge sunde Hautfarbe war verschwunden, und schweißverklebte Haar strähnen hingen ihm ins bleiche Gesicht. Sein Blick ging ins Leere, und die ins Blaue spielenden Lippen zitterten. Alachaim stand kurz vor einem Kreislaufkollaps. Ich stieß Trilith brüsk beiseite und nahm die Wunde in Augen schein. Das Messer hatte ganz offensichtlich die große Oberschen kelarterie verletzt. Ich wies die Frau an, nach Verbandsmaterial zu suchen und löste das zusammengeknotete Hosenbein. Das Abbin den einer Extremität, sofern nicht fachgerecht ausgeführt, verkehrte seinen Zweck oft ins Gegenteil, und es kam zu einer Stauung des Rückflusses venösen Bluts zum Herzen, nicht jedoch zur beabsich tigten Stauung der Arterie, die weiteres Blut vom Herzen zur Wun de leitete. Dadurch wurde die Blutung sogar noch verstärkt.
Trilith Okt kam mit einer Rolle Haftfolie zurück, die sie in einer der in den Regalen lagernden Kisten gefunden hatte. Das Material war dünn, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Ich wickelte die Fo lie so fest wie nur möglich um den Oberschenkel des Mannes. Ein mehr als provisorischer Druckverband – für den Augenblick musste es reichen. »Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte ich böse. »Ach ja?«, fragte Trilith Okt spöttisch. »Hättest du unseren Freund etwa mit einer Debatte über arkonidische Philosophie dazu ge bracht, uns zu helfen? Ich muss dich hoffentlich nicht daran erin nern, dass die Zeit ein entscheidender Faktor ist. Wenn du zu weich bist, das zu tun, was notwendig ist, dann geh zurück in den Hangar und flieg mit deinen terranischen Freunden zurück zur KAPIUR.« »Dann verrate mir doch bitte, wie dein genialer Plan aussieht, große Strategin«, entgegnete ich mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Willst du dein Messer in jeden stecken, dem wir auf unserem Weg durch die ZUIM begegnen? Willst du das Sphärenrad im Hand streich nehmen? Das da …«, ich deutete auf den kreideweißen Offi zier, »… war ein verdammter Fehler, und wenn du das nicht ein siehst, war deine so genannte Ausbildung nicht halb so erfolgreich, wie du anscheinend glaubst.« Früher oder später wird es zwischen ihr und dir zur Konfrontation kom men, wisperte der Extrasinn. Du solltest diese Frau von nun an ständig im Auge behalten. Es ist nicht auszuschließen, dass sie eine günstige Gele genheit nutzt, um dich loszuwerden und die Suche nach dem Zellaktivator allein fortzusetzen. Trilith Okt schwieg, schaute mich nur an. Ich versuchte in ihrer Miene zu lesen, zu ergründen, was ihr in diesen Sekunden durch den Kopf ging, doch das gelang mir nicht. Ich fand keinen Zugang, keinen Ansatz. Die Frau war wie ein Buch, das in einer fremden Sprache geschrieben war. Manchmal glaubte ich, ein Wort zu kennen. Ab und zu war der Sinn einiger Sätze zu erahnen, doch der größte Teil des Textes entzog sich mei
nem Verständnis. »Willst du weiter diskutieren, oder tun wir das, wofür wir hierher gekommen sind?«, fragte Trilith schließlich. Ihr anzügliches Lächeln wirkte so deplaziert wie ein Ertruser im Ballettröckchen.
Cole Wagman Gegenwart Der Torikapi-Sektor! Ein Sternenarmes Gebiet in den Ausläufern der galaktischen Northside. Nicht das Ende des Universums, aber von dort aus konnte man es in kürzester Zeit bequem erreichen. Cole Wagman fragte sich wohl zum hundertsten Mal, was aus Jes per Gablenz geworden war. Er hatte erwartet, dass sich sein ehema liger Vorgesetzter zumindest noch einmal meldete und ihm zur Be förderung gratulierte. Stattdessen war der Befehl zum sofortigen Abflug von der Zentralen Leitstelle der ZUIM gekommen, unter zeichnet von Ponter Nastase. Ebenso kommentarlos hatte er sein Ka pitänspatent als verschlüsselte Datei in seinem persönlichen Post fach gefunden. Die neuen Kommandokodes und Überrang-Bevoll mächtigungen waren in den Hauptrechner des Positronikverbunds der TRADIUM überspielt worden. Auf Nachfragen hatte Cole ver zichtet. Er wusste aus Erfahrung, dass so etwas wenig Zweck hatte. Der Mann entfaltete die Folie mit den Einsatzzielen zum wieder holten Mal und las den knappen Text. Astronomische Messungen. Nachweis hyperstruktureller Anomalien im Kernbereich von Neu tronensternen. Erfassung und Katalogisierung von möglichen Navi gationsrisiken in den Außenregionen der Galaxis. Das waren Aufga ben für eine wissenschaftliche Expedition, nicht jedoch für die Besat zung eines hochmodernen Kampfraumers der Zentralgalaktischen Union. Die Mannschaft hatte er über Interkom informiert und ihr alles ge sagt, was er wusste. Viel war es nicht gewesen, aber irgendetwas hatte er schließlich sagen müssen. Jesper Gablenz war ein äußerst be liebter Kommandant gewesen, und auch Cole Wagman selbst be hielt ihn als zwar strengen, jedoch fairen Mann in Erinnerung. Dass
es bei dem Einsatz im Xanthab-System um die Bergung eines Zellak tivators gegangen war, hatten nur wenige an Bord der TRADIUM gewusst. Als Erster Offizier war Cole Wagman zwar eingeweiht ge wesen, doch das Gerät an sich hatte er nie gesehen. Der neunstündige Flug mit maximalem Überlichtfaktor war ohne Zwischenfälle verlaufen, und man hatte mehr als 50.000 Lichtjahre zurückgelegt. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Jesper Gablenz hatte immer darauf geachtet, dass sich sein Schiff in vorbildlichem Zustand befand, und als sein Nachfolger würde es Cole nicht anders halten. »Erreichen Zielkoordinaten in drei Minuten dreißig Sekunden, Sir!« Die Meldung des diensthabenden Ortungsspezialisten quittier te Wagman mit einem kaum merklichen Nicken. Er sah sich in der Zentrale um. Alle Stationen waren einfach besetzt. In diesen Regio nen der Milchstraße gab es nichts, was einen Alarmzustand gerecht fertigt hätte. »Wo ist eigentlich Ms. Gori?« Der frisch gebackene Kommandant der TRADIUM sah sich demonstrativ um. Seit dem Abflug von der ZUIM hatte er die Agentin nicht mehr gesehen. »Laut Aussage der Protokolldateien in ihrer Kabine, Sir«, sagte Wallis Hogenkamp, ein hochgewachsener Mann im Rang eines Ser geanten. Trotz seiner erst 33 Jahre warteten auf Rudyn eine Frau und vier Kinder auf ihn. Dennoch ließ er sich seine Enttäuschung darüber, dass er seine Familie nicht einmal hatte anfunken dürfen, nicht anmerken. »Vermutlich«, stimmte Wagman zu. »Ich denke, wir kommen noch eine Weile länger ohne die Dame aus.« Das verhaltene Geläch ter im weiten Rund ließ den neuen Kommandanten schmunzeln. Die Mannschaft der TRADIUM war ein verschworener Haufen im besten Wortsinn. Persönliche Animositäten existierten entweder nicht, oder wurden zum Wohl der gemeinsamen Ziele zurückge stellt. Cole Wagman hätte sich kein besseres erstes Kommando wün schen können – und bei passender Gelegenheit würde er das seinen
Leuten offenbaren. »Ortung!« Der Ausruf zuckte wie ein Peitschenknall durch die Zentrale. »Auf den Hauptschirm!«, befahl Wagman. Im gleichen Augenblick beendete die TRADIUM ihre Linearetappe und tauchte in den Nor malraum ein. Die Positronik projizierte die eingehenden Ortungsda ten innerhalb weniger Nanosekunden in das dreidimensionale Ko ordinatengitter des Navigationsrechners. Auf der Panoramagalerie erschienen vier pulsierende rote Punkte. Messwerte wurden in hell grauer Schrift eingeblendet. »Unionskreuzer!«, kam die Meldung. »Vier Kampfeinheiten in An griffsformation! Schutzschirme und Waffensysteme aktiviert!« »Senden Sie unsere Kennung«, rief Cole Wagman. »Längst geschehen, Sir! Keine Reaktion!« »Schirme hoch! Wir …« Der Kommandant der TRADIUM kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Der Sphärendreher wurde von einem furchtbaren Schlag erschüttert. Aus mehreren Konsolen schlugen Flammen. Bildschirme implodierten, und hun derte winziger Splitter schossen wie Schrapnelle durch die plötzlich rauchgeschwängerte Luft. In das Heulen des Alarms mischten sich die Flüche und Schreie der Besatzungsmitglieder. »Ruhe, verdammt noch mal!«, brüllte Wagman. »Jeder macht sei nen Job! Funkzentrale! Warum schießen die auf uns?« »Keine Ahnung. Wir senden ohne Unterbrechung und auf allen Frequenzen. Die müssen uns empfangen.« »Schäden?« »Vakuumeinbruch in den Abschnitten E bis K. Luftumwälzung ausgefallen. Reaktorleistung auf 40 Prozent. Schutzschirme ausge fallen. Feuerleitstand meldet Ausfall der Zielerfassung. Lebenserhal tung …« »Notstart!«, unterbrach Cole Wagman mit schneidender Stimme. »Impulstriebwerke auf Volllast. Flucht in den Linearraum bei Errei
chen der minimalen Eintrittsgeschwindigkeit.« Der Alarm verstummte. Jemand hatte ihn endlich abgeschaltet. Dafür grollte es tief in den Eingeweiden des Sphärendrehers, als die Fusionsmeiler anfuhren und ultrahocherhitztes Plasma von den Thermalumformern zu den Impulskonvertern geleitet wurde. Cole Wagman starrte auf die Panoramagalerie. Die Kameras hat ten einen der Unionskreuzer bis auf wenige hundert Meter herange holt. Durch das matte Glühen der auf terranischer Paratrontechnik basierenden Schutzschirme waren die flimmernden Abstrahlfelder der Strahlkanonen deutlich zu erkennen. Jeden Augenblick konnte der sonnenheiße Tod daraus hervorbrechen und der angeschlagenen TRADIUM den Rest geben. Es waren jene Sekunden, in denen Cole Wagman die Wahrheit er kannte. Hier ging es nicht um einen langweiligen Forschungsauftrag oder um seine erste Bewährungsprobe als kommandierender Offi zier. Man hatte sie nicht in diesen entlegenen Winkel der Milchstra ße geschickt, damit sie Messungen anstellten und Daten sammelten. Stattdessen wollte man Mitwisser beseitigen. Niemand, der von der Existenz des Zellaktivators wusste, durfte überleben. Auch Jesper Gablenz war höchstwahrscheinlich längst nicht mehr am Leben. Was mochte Ponter Nastase den Kommandanten der vier Kreuzer erzählt haben? Vielleicht, dass es auf der TRADIUM zur Meuterei gekommen war, dass eine Gruppe Fehlgeleiteter das Schiff entführt hatte und man unbedingt verhindern musste, dass es in die Hände des Feindes fiel. Was wog schon der Verlust eines Sphärendrehers und seiner Besatzung gegen den Gewinn der Unsterblichkeit? Auf der anderen Seite bei dem Kreuzer blitzte es auf. Im gleichen Moment schlugen die Treffer in den ungeschützten Rumpf der TRA DIUM. Kurz bevor das Schiff in einer gewaltigen Glutwolke ver ging, verzogen sich Cole Wagmans Lippen zu einem bitteren Lä cheln. Immerhin musste er sich nun nie wieder Sorgen um sein Ge wicht machen.
Atlan Gegenwart Wir hatten das Magazin gründlich durchsucht und Glück gehabt. Neben einer Reihe von täglichen Gebrauchsgegenständen wie Frachtformularen, Plastikgeschirr, Verpackungsmaterial und ähnli chen Dingen waren wir auch auf einige Kartons mit jenen grauen Einheitsuniformen gestoßen, die auf der ZUIM respektive in der Unionsflotte üblich waren. Zwar fehlten Embleme und Rangabzei chen, aber wir würden auf jeden Fall weniger auffallen als in unse rer jetzigen Kleidung. Trilith Okt hatte sich ohne jede Scheu vor mir entkleidet und um gezogen. Über dem Bauchnabel trug sie ein zweites Feuermal in der Form eines neunarmigen Kraken, jenem am rechten Auge zum Ver wechseln ähnlich. Melvin Alachaim ging es schlecht. Sein Puls war zwar regelmäßig und der Druckverband hielt, doch er hatte zu viel Blut verloren. In den letzten Minuten hatte ich Trilith Okt mehr als einmal verflucht, denn wenn wir den Oberst einfach zurückließen, verurteilten wir ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod. Wenn wir stattdessen dafür sorgten, dass er in medizinische Obhut gelangte, war unser Einsatz im Sphärenrad zu Ende, noch bevor er richtig begonnen hat te. Trotzdem war ich nicht bereit, das Leben des Mannes einfach so zu opfern. Als junger Has'athor der Arkonidischen Flotte hatte ich während der heißen Phase der Methankriege oft genug Tausende in den Tod schicken müssen, denn es hatte der Bestand des Imperiums auf dem Spiel gestanden. So war beispielsweise die berühmte 23. Auffangschlacht in die imperiale Geschichtsschreibung eingegan gen. Mein Sieg über die Flotte des maakhschen Großadmirals Grek1108 vor über 10.000 Jahren galt noch heute unter Militärexperten
als strategisch-taktische Meisterleistung, doch ich hatte ihn mit dem Verlust einer kompletten Flottille – und vieler guter Freunde – be zahlt. Wenn mich das Exil auf der Erde eines gelehrt hatte, dann war es der Wert des Lebens. Auf dem Schlachtfeld mochte er an Bedeutung verlieren, Ideologien und falsch verstandene Loyalität mochten ihn immer wieder verleugnen, doch obwohl die Schöpfung Leben in so ungeheurer Anzahl und Vielfalt hervorgebracht hatte, kam es auf je des einzelne an. Jedes Lebewesen repräsentierte etwas Einmaliges, etwas, das auch die fortschrittlichste Technologie nicht in der Lage war zu reproduzieren. Es war unersetzlich, und wenn man es zer störte, nahm man dem Universum ein Stück seiner Vollkommenheit. Ich hatte meinen Teil zu Tod und Zerstörung beigetragen, und dabei half es wenig, dass ich die Absichten, die dahinter steckten, stets für die besten gehalten hatte. Vielleicht belog ich mich selbst, doch ich hatte mir stets eingebil det, dass ich meine Kriege deshalb führte, um eines Tages nie wieder Krieg führen zu müssen. Der berühmte terranische Präsident John F. Kennedy hatte einmal gesagt, dass wir dem Krieg ein Ende setzen müssten, bevor der Krieg uns ein Ende setzt, und der Wahrheitsge halt dieser Aussage war bis auf den heutigen Tag unverändert. Ich hatte nie daran geglaubt, dass Krieg und Gewalt in der Natur des Menschen lagen. Was auch immer in den kommenden Jahrtausenden geschehen mochte: Die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben aller Völ ker in der Milchstraße würde ich niemals aufgeben. Trilith Okt beugte sich über den Offizier und durchwühlte die Ta schen seiner Uniform. »Was suchst du?«, wollte ich wissen. »Alles, was uns weiterhilft«, antwortete sie. Melvin Alachaim stöhnte leise. Seine Augen hielt er geschlossen – und er trug nichts weiter bei sich als die Plastikkarte, mit der er das Schott zum Magazin geöffnet hatte.
Ich ging vor dem Mann in die Hocke und tätschelte ihm die Wan ge. Seine Lider flackerten, hoben sich schläfrig. Die Augäpfel waren von zahlreichen roten Äderchen durchzogen. Kurz entschlossen nahm ich meinen Zellaktivator ab und legte ihn dem Offizier auf die Brust. Auch wenn das Gerät, das ich einst von der Superintelligenz ES empfangen hatte, auf meine individuellen Zellschwingungen ge eicht war und deshalb von niemandem außer mir getragen werden konnte, war seine kurzfristig stimulierende und regenerierende Wir kung auf andere Lebewesen belegt. Trilith beobachtete mich schwei gend. »Können Sie sprechen, Oberst?« Der Mann sah mich mit großen Augen an, senkte dann den Blick und fixierte den Zellaktivator. »Wer …?«, begann er heiser, doch ich schüttelte den Kopf. »Stellen Sie keine Fragen«, sagte ich. »Ich will Ihnen helfen, aber dafür brauche ich zunächst ein paar Informationen. Vor etwa zwölf Stunden hat ein Sphärendreher namens TRADIUM am inneren Ring der ZUIM angedockt. Zwei Stunden später hat er mit unbekanntem Ziel wieder abgelegt. Ich muss wissen, wer in dieser Zeit das Schiff verlassen oder betreten hat.« »Die … Logbücher der … Leitstelle können nur … über ein regis triertes Terminal abgerufen werden«, flüsterte der Offizier. Ich nickte. »Und wo finde ich ein solches Terminal?« »Praktisch … überall«, antwortete er. »Mit …«, er stockte, schluck te mühsam und sprach dann weiter. »Mit meiner … Kodekarte kön nen Sie sich … jederzeit einloggen.« Vorsicht, warnte der Extrasinn. Der Mann ist plötzlich sehr koopera tiv. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass er dich in eine Falle lockten will. Vermutlich wird ein Alarm ausgelöst, wenn du versuchst, sei ne Karte an einem der besagten Terminals zu benutzen. Ich musste dem Logiksektor zustimmen. Melvin Alachaim war ein Offizier, der Loyalität und Gehorsam über sein eigenes Leben stellte, ein Prinzip, das ich, wenn auch nicht unbedingt billigen, so doch ei
nigermaßen nachvollziehen konnte. Man durfte davon ausgehen, dass auf ZUIM nur Männer und Frauen Dienst taten, deren System treue über jeden Zweifel erhaben war. Auf Quinto Center, in Imperi um-Alpha oder im Kristallpalast auf Arkon I war es nicht anders. Überall dort, wo sich Macht konzentrierte und weit reichende Ent scheidungen getroffen wurden, gab es in Sachen Personal strenge Auswahlkriterien. Ich richtete mich wieder auf und zog Trilith Okt so weit von Alachaim weg, dass dieser uns nicht mehr verstehen konnte. »Wir müssen uns jetzt kurzzeitig trennen«, flüsterte ich ihr zu. Sie wollte aufbegehren, doch ich brachte sie mit einer herrischen Geste dazu, mir weiter zuzuhören. »Du hast mich auf Finkarm auf gelesen, weil du gehofft hast, durch mich schneller an den Zellakti vator heranzukommen. Gehen wir der Einfachheit halber einmal da von aus, dass ich dir diese fadenscheinige Erklärung abnehme. Wenn wir gemeinsam durch das Sphärenrad gehen, werden wir frü her oder später auffallen; du mehr als ich, denn mir nimmt man den Terraner noch eher ab als dir. Du wirst dich hier in der Nähe umse hen und die übrigen Magazinräume auf Brauchbares hin durchsu chen. Die Kodekarte unseres Freundes dort drüben sollte dir alle Tü ren öffnen. Ich werde inzwischen in Erfahrung bringen, was wir wissen müssen. Wenn ich in sechs Stunden nicht zurück bin, kehrst du in den Hangar zurück und versuchst die KAPIUR zu erreichen. Sente Maluba und Balton Wyt werden einen Weg finden, dich abzu holen. Vielleicht sind sie dann sogar längst wieder vor Ort, um die Verhandlungen fortzuführen.« Trilith Okt dachte angestrengt nach. »Wer garantiert mir, dass du zurückkommst? Vielleicht willst du mich einfach nur loswerden.« »Das ist ein Risiko, das du eingehen musst«, antwortete ich tro cken. »Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es keine Ga rantien mehr gibt.« Ich streckte ihr die Kodekarte Alachaims entge gen. Die Kämpferin ergriff sie nach kurzem Zögern und wandte sich
wortlos ab. Sie fügt sich der Situation, nicht deiner Autorität, wisperte der Extra sinn. Das ist mir klar. Aber wie ich schon sagte: Die Zeit für Garantien ist vorbei.
Neife Varidis Gegenwart Ein heller Glockenton signalisierte, dass die Fähre am äußeren Ring der ZUIM angedockt hatte. Neife Varidis ließ seufzend den Akten stapel sinken, den sie während des knapp halbstündigen Fluges vom OPRAL zum Sphärenrad durchgearbeitet hatte. Die ersten Handelsdelegationen waren bereits in Sphäre 1 eingetroffen, und sie würde nicht umhinkommen, einige ihrer Vertreter persönlich begrü ßen zu müssen. Akadie Holeste, die Kalfaktorin für Wirtschaft und Entwicklung, traf erst in ein paar Stunden im Ephelegon-System ein. In einer Funknachricht hatte sie Neife Varidis deutlich mitgeteilt, was sie von dem Treffen hielt. Es passte der Kalfaktorin nicht, dass Neife in fremdem Territorium wilderte. Neife Varidis stieß einen weiteren Seufzer aus. Sie hatte versucht, Ponter Nastase zu erreichen, doch der hatte sich verleugnen lassen. Einer seiner Adjutanten hatte ihr unter mehrfacher Versicherung seines größten Bedauerns mitgeteilt, dass sich der Kalfaktor für Wis senschaften in seine Privaträume zurückgezogen und explizite An weisung erteilt habe, ihn dort auf gar keinen Fall zu stören. Natür lich hätte die Frau auf eine Verbindung bestehen können, doch da von sah sie ab. Ein Gespräch mit Nastase hätte eh nichts an ihrem Vorgehen geändert. Neife Varidis hatte alle in der Nähe Rudyns befindlichen Delega tionen auf die ZUIM eingeladen, was Ponter Nastase mit Sicherheit nicht schmeckte. Sie hoffte, Ponter Nastase dadurch zu einer Unvor sichtigkeit zu verleiten. Die Anzeichen, dass im Umfeld des Kalfak tors für Wissenschaften etwas vor sich ging, häuften sich, doch ihre Verbindungsleute an Bord des Sphärenrads kamen einfach nicht an Ponters Pläne.
Die Geheimdienstchefin hatte in der Nacht so gut wie nicht ge schlafen – und das wertete sie als wirklich schlechtes Zeichen. Ei gentlich konnte sie die kurzen Ruhephasen, die ihr ihre Position lie ßen, stets hervorragend nutzen. Sie hatte keine Probleme, sofort in den Schlaf zu kommen, auch nicht, wenn politische Krisen, Natur katastrophen oder andere Störfälle zu bewältigen waren. »Kalfaktorin Varidis?« Die Stimme von Truman Hyderdan, ihrem persönlichen Referenten, klang ungeduldig und besorgt zugleich. »Ich komme«, rief sie, legte die Akten beiseite und erhob sich aus einem der breiten Ledersessel, die im Passagierraum der Fähre stan den. Als sie den Durchgang zum Schleusenbereich betreten wollte, spürte sie ein sanftes Kribbeln hinter ihrem rechten Ohr. Sie bedeu tete ihrem Referenten, der gerade zum Sprechen ansetzte, zu schweigen und kehrte in den Passagierraum zurück. Als sich das Schott geschlossen hatte, aktivierte sie durch Drücken ihres Ohr läppchens den Mikrosender. Die Frequenz kannten nur ihre wich tigsten Mitarbeiter im Außeneinsatz, die nur im Notfall benutzt wer den durfte. »Ja?«, fragte sie knapp, als ein Piepsen die Betriebsbereitschaft des Geräts signalisierte. »Ernesta Gori hier«, hörte sie eine weibliche Stimme. »Dienstnum mer 060564, Kodewort Castor. Ich befinde mich im inneren Ring des Sphärendrehers ZUIM und habe wichtige Informationen für Neife Varidis.« »Neife Varidis spricht«, erwiderte die Geheimdienstchefin und wartete. Als auch nach zehn Sekunden keine Reaktion erfolgte, nick te sie zufrieden. »Kodewort Pollux«, sagte sie dann. »Reden Sie, Ms. Gori.« Alle ihre Agenten hatten strikte Anweisungen nach einer Kontakt aufnahme über die Geheimfrequenz erst sich selbst zu identifizieren und dann auf das korrespondierende Kodewort zu warten, das Va ridis zu nennen hatte. Nannte sie es nicht oder verhielt sie sich an derweitig verdächtig, war die Kommunikation augenblicklich zu
unterbrechen. »Ich war als Verbindungsfrau an Bord des Sphärendrehers TRA DIUM stationiert«, berichtete die Agentin. »Während eines routine mäßigen Patrouillenfluges im Melayon-Sektor erhielt der Komman dant des Schiffes einen verschlüsselten Funkspruch per Hochrang kanal von Kalfaktor Ponter Nastase, mit dem Inhalt, dass auf dem Planeten Finkarm im Xanthab-System die Impulse eines Zellaktiva tors aufgefangen worden waren. Es handelte sich dabei um eines der fünfundzwanzig Geräte, die die Superintelligenz ES im Jahr 2326 in der Milchstraße ausgestreut hatte und von denen vier bis heute nicht gefunden wurden.« Neife Varidis hielt den Atem an. Das, was die Agentin gerade eben noch so profan als wichtige Informationen bezeichnet hatte, war bri santer als alles, was die Geheimdienstchefin in ihrer gesamten Kar riere gehört hatte. Ein Zellaktivator! Die potentielle Unsterblichkeit! Das war es also, was Ponter Nastase verbarg! »Es gelang uns, das Gerät zu bergen und an Bord der TRADIUM zu bringen«, sprach Ernesta Gori weiter. »Während des Fluges ins Ephelegon-System ist es mir trotz beträchtlicher Bemühungen nicht gelungen, eine Funkverbindung zur Zentrale des Kalkulationskom mandos herzustellen. Angesichts der Bedeutsamkeit der Nachricht durfte ich keinerlei Risiko eingehen. Erst als der Sphärendreher sein Ziel erreicht und der Kommandant das Schiff verlassen hatte – ver mutlich um den Aktivator an Kalfaktor Nastase zu übergeben – ge lang es mir, die TRADIUM zu verlassen. Mein Funkchip wurde in nerhalb des Raumers von einem Störfeld lahmgelegt. Eine Kontakt aufnahme war deshalb erst jetzt möglich.« Es dauerte einige Sekunden, bis die Geheimdienstchefin ihre ra senden Gedanken wieder in geordnete Bahnen lenken konnte. »Sie haben absolut richtig gehandelt«, sagte sie. »Und nicht nur das. Durch Ihre Umsicht wird möglicherweise großer Schaden von der Union abgewendet werden können. Ist Ihre Tarnung intakt?« »Niemand weiß, dass ich die TRADIUM verlassen habe«, antwor
tete die Agentin. »Somit weiß auch niemand, dass ich auf der ZUIM bin.« »Sehr gut.« Neife Varidis' Verstand arbeitete auf Hochtouren. Viel leicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte sie Nastase noch stoppen. Was immer der Kalfaktor auch plante – die Entdeckung ei nes Zellaktivators hatte ihn vermutlich davon überzeugt, dass der Zeitpunkt gekommen war, diese Pläne in die Tat umzusetzen. Nun kam es auf jede Minute an. »Hören Sie mir ganz genau zu, Ms. Gori«, sagte Neife Varidis. »Ich werde Ihnen jetzt den vielleicht wichtigsten Auftrag Ihres Lebens er teilen!«
Atlan Gegenwart Je länger ich mich durch die endlos scheinenden Gänge der ZUIM bewegte, desto mehr begriff ich die grundlegende Architektur des Sphärenrads. Mit Hilfe meines fotografischen Gedächtnisses und des Extrasinns fand ich mich schon bald relativ problemlos zurecht, zumal die Konstrukteure der Union jener grundsätzlichen Logik ge folgt waren, die beim Bau von Raumschiffen schon immer ihr Recht gefordert hatte; die Meiler und Reaktoren der Energieversorgung weit entfernt empfindlicher Anlagen wie Positroniken zu installie ren. Die durch die arbeitenden Maschinen erzeugten Vibrationen setzten sich trotz aller Abschirmungen über die Wände und Decken fort und konnten zu Störungen in den äußerst erschütterungsanfälli gen Speicherbänken führen. Der Bereich des Sphärenrads, in dem ich mich aufhielt, war still, fast zu still für meinen Geschmack. Da waren die terranischen Ultra schlachtschiffe der Galaxis-Klasse, die mit ihren unglaublichen 2500 Metern Durchmesser den bislang größten in Serie gebauten Raum schifftyp des Solaren Imperiums darstellten, ein ganz anderes Kali ber. Dort konnte man manchmal selbst in der Zentrale sein eigenes Wort nicht verstehen, wenn die Energieerzeuger auf Volllast liefen und die Kugelhülle in eine schwingende Glocke verwandelten. Nichtsdestotrotz hätten wir ohne die zwar lauten, aber kampfkräfti gen Giganten den Krieg gegen die Meister der Insel niemals gewon nen. Sämtliche Beschriftungen und Hinweisschilder waren in Interkos mo gehalten, was eine Orientierung zusätzlich erleichterte. Durch die vorherrschende Ruhe hatte ich den Vorteil, sofort sich nähernde Besatzungsmitglieder zu hören, vor denen ich mich gedachte zu ver
bergen. Niemand durfte wissen, dass ich mich hier aufhielt. Zur Tar nung hatte ich die Embleme und Rangabzeichen von Melvin Alachaims Uniform, die ich – zusammen mit Gürtel und Waffen holster – an mich genommen und sie an meiner eigenen Montur be festigt hatte. Trotz meiner schmutzigweißen, fast grauen Haare und rötlichen Augen hoffte ich, als Terraner durchzugehen. Nach rund einer dreiviertel Stunde stieß ich auf einen halbrunden Raum, dessen Schott sich anstandslos vor mir öffnete. An der gegen überliegenden Wand waren eine Reihe von Bildschirmen ange bracht, davor hatte man drei ebenfalls halbrunde Konsolen montiert. In einem kleineren, durch eine Glasscheibe abgetrennten Areal stan den ein Tisch und zwei Stühle. Die eingerissene Folie, die auf dem Tisch lag, war eine Wartungsanweisung vom Tag zuvor. Eine Steuerzentrale, wisperte der Extrasinn. Im Moment offenbar nicht besetzt. Die ZUIM ist noch nicht vollständig fertig gestellt, antwortete ich. Ins besondere, was den äußeren Ring angeht, wird hier noch intensiv gearbei tet. Die Einrichtung machte einen neuen, unbenutzten Eindruck. Die Knöpfe und Hebel an den Konsolen glänzten im warmen Schein ei ner indirekten Beleuchtung. Ich studierte die Anordnung der diver sen Anzeigen und Sensoren. Lagerverwaltung, Logistik, Vorratskontrolle, nahm der Logiksektor meine eigene Analyse vorweg. Also eine Verbindung zum positronischen Netzwerk des Sphärenrads, verlieh ich meiner Hoffnung Ausdruck, endlich das gefunden zu ha ben, wonach ich suchte. Davon gehe ich aus, flüsterte es in meinem Kopf. Das Nachschubwe sen ist ein maßgeblicher Einflussfaktor, was die Funktionsfähigkeit eines Raumschiffs betrifft. Die Frage ist, ob die Konsolen bereits freigeschaltet sind. Probieren wir es aus, erwiderte ich mental und trat an eines der Be dienpulte heran. Es bereitete mir keinerlei Probleme, das System zu
aktivieren und mir einen ersten Überblick über den Umfang der ver fügbaren Daten zu verschaffen. Ebenso wie der Raumschiffbau folg ten auch die Bedienfelder von Computern bestimmten Prinzipien, zumindest, wenn sie von Humanoiden entwickelt worden waren. Daran hatten mehrere Jahrtausende Verbesserung und Weiterent wicklung nichts geändert. Logik ist universell, pflegte mein Extrasinn gern zu sagen. Und das Universelle verändert sich nicht. Ich rief einige Untermenüs auf und ließ mir die Verteilung der La gerräume in Sphäre 4 anzeigen. Meine Eingaben wurden problemlos akzeptiert. Danach überprüfte ich die Protokolldateien auf ausge hende Datenströme. Da ich nichts fand, durfte ich annehmen, dass meine Aktivitäten zwar aufgezeichnet, jedoch nicht überwacht wur den. Noch setzte man in der ZUIM offenbar voraus, dass jeder, der sich im Inneren des Sphärenrads aufhielt, dies auch mit Recht tat. Eine allgemeine Anfrage mit dem Suchbegriff TRADIUM brachte kein Ergebnis. Als ich weitere Datenbanken zuschalten wollte, ver langte der Rechner nach einem Passwort. Ich hätte einiges darum gegeben, wenn ich in diesem Moment Balton Wyt bei mir gehabt hätte. Für den jungen Terraner wäre es sicher kein großes Problem gewesen, die Passworthürde zu nehmen. »Was machen Sie hier?« Die Stimme hinter mir klang zu meiner ersten Erleichterung nicht aggressiv, lediglich überrascht. Ich warte te zwei Sekunden und drehte mich dann langsam um. Im Eingang zur Steuerzentrale stand ein dürres Männchen ohne Stiefel. An je dem anderen Ort hätte ich mir ein Lachen kaum verkneifen können, doch hier, an Bord der wichtigsten technischen Neuentwicklung der Zentralgalaktischen Union in den letzten zweihundert Jahren, war mir alles andere als nach Lachen zumute. Ich war zu sehr auf meine Suche nach Informationen konzentriert gewesen, und hatte den Mann nicht bemerkt. Er reichte mir knapp bis zum Kinn. Sein braunes Haar war durch einen Mittelscheitel geteilt und bedeckte an den Seiten notdürftig die für den schmalen Kopf viel zu großen Ohren. Auf der grauen
Kombination prangte unter dem Emblem des Sphärenrads ein wei ßer Schraubenschlüssel. Ich sah ihm direkt in die Augen und machte drei energische Schritte auf ihn zu. »Was ich hier mache? Ich warte auf Ihre Meldung, guter Mann«, schnarrte ich in bestem Militärton. »Und ich bin nicht als jemand be kannt, der gerne wartet!« Mein Gegenüber bekam große Augen, starrte auf die Rangabzei chen auf meiner Uniform und schluckte. »Verzeihen Sie, Oberst … ich war … ich meine, ich bin …«, begann er zu stottern. Ich legte meine Stirn in tiefe Falten und beugte mich ein Stück zu ihm hinunter. »Reißen Sie sich zusammen«, sagte ich scharf. Der glänzende Schweißfilm auf der hellen Gesichtshaut des Mannes zeugte vom Erfolg meiner Taktik. »Natürlich, Sir … äh … Saul Puskasz, Techniker Klasse 4, meldet sich dienstbereit.« »Dienstbereit?« Ich kniff meine Augen zu schmalen Schlitzen zu sammen und fixierte ihn. »Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, Mr. Puskasz, aber meines Wissens gehören zur vorschriftsmäßigen Dienstkleidung neben Kombination und Strümpfen auch ein Paar Stiefel. Oder habe ich da eventuell ein Memo überlesen?« »Nein, Sir«, brachte der Techniker nervös hervor. »Meine Stiefel sind … ich habe sie … gewissermaßen verloren. Äh … das ist eine wirklich verrückte Geschichte, die …« »… mich nicht im Geringsten interessiert!«, unterbrach ich ihn grob. »Wie lautet ihr aktueller Auftrag?« »Aufspielen der Bestandsdaten sämtlicher in Sphäre 4 vorhande ner Lagerplätze in den positronischen Planungskreislauf und Kon trolle der …« »Das genügt«, stoppte ich ihn erneut. »Schalten Sie mir eine der Konsolen frei. Angesichts Ihrer nachlässigen Einstellung in Bezug auf die Kleiderordnung erscheint es mir angebracht, Sie unter Beob
achtung zu halten. Möglicherweise nehmen Sie es mit Dienstanwei sungen auch sonst nicht so genau.« »Sir«, begehrte Saul Puskasz auf, doch seine Entrüstung klang nicht besonders überzeugend. »Ich versichere Ihnen, dass ich …« Ich ließ ihn auch diesmal nicht ausreden. »Das einzige, das ich noch mehr hasse, als zu warten«, sagte ich gefährlich leise, »ist, mich wiederholen zu müssen.« »Natürlich, Sir«, resignierte der Techniker und trat an das nächste Terminal heran. Das Auftauchen des Mannes konnte man durchaus als Glück be zeichnen, und mit meinem Vorstoß hatte ich ihn von Beginn an in die Defensive gedrängt, aus der er nicht mehr herauskam. Während er damit begann, an der zweiten Konsole seinen Pflichten nachzu kommen, überprüfte ich meine neuen Zugangsberechtigungen. Diesmal kam ich auch an die Datenbanken heran, in denen die Log dateien der Sphärendreher gespeichert waren. Ruhig und meine strenge Miene beibehaltend, wiederholte ich die Anfrage nach der TRADI-UM – diesmal mit Erfolg. Das Schiff hatte vor vierzehn Stun den an Sphäre 1 angedockt. Zwanzig Minuten später war sein Kom mandant, ein Mann namens Jesper Gablenz, in die privaten Arbeits räume von Ponter Nastase, dem Kalfaktor für Wissenschaften, ge führt worden. Das Log verzeichnete seine Rückkehr an Bord der TRADIUM eine gute Stunde später. Kurz darauf war der Sphären dreher zu einer neuen Mission in die Randbereiche der Milchstraße aufgebrochen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ponter Nastase der Empfänger des Zellakti vators ist, wisperte der Extrasinn, liegt bei 98 Prozent. Wir müssen so schnell wie möglich zu diesem Mann vordringen. Das dürfte nicht ganz einfach sein. Die beiden inneren Ringe der ZUIM sind noch strenger gesichert. Natürlich ist es nicht einfach, sagte der Logiksektor. Wenn es das wäre, bräuchte es nicht den Lordadmiral der USO persönlich, um die Kas tanien aus dem Feuer zu holen.
Ich ignorierte den milden Spott und nutzte die Gelegenheit, um weiter im Datennetzwerk des Sphärenrads zu stöbern. Der von Bal ton Wyt im Hangar ausgelöste Zwischenfall war unter den aktuellen Meldungen mit einer kurzen Notiz abgelegt. Wesentlich mehr Raum nahm die Ankunft von Neife Viridis in Sphäre 4 ein. Die Geheimdienstchefin der Union hatte rund ein Dut zend Handelsdelegationen auf die ZUIM eingeladen. Die Konfe renzräume, die für das Treffen hergerichtet worden waren, lagen nicht weit von jenen entfernt, in denen sich Trilith und ich noch vor kurzem aufgehalten hatten. Ich lächelte unmerklich. Sente Maluba, der auf der KAPIUR noch so stolz darauf gewesen war, bis zur Kal faktorin durchgelassen worden zu sein, würde sich wundern. Zum Thema Ponter Nastase fanden sich mehr Informationen, als ich in der Kürze der Zeit sichten konnte. Natürlich war nirgends von einem Zellaktivator die Rede. Auch hütete ich mich, nach die sem Wort suchen zu lassen. Nastase schien ein höchst aktiver Kal faktor zu sein. In den letzten Jahren hatte er diverse Ausflüge in vie le Bereiche des Unionsgebiets unternommen. Dabei wies seine Be suchsliste in der Hauptsache die Namen von Systemen auf, die ich auch von diversen USO-Listen kannte. Die dortigen Regierungen waren nicht nur für ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Pro tektorat des Solaren Imperiums, sondern auch für ihre Bereitschaft bekannt, allen eventuellen Übergriffen Terras und seiner Verbünde ten mit militärischen Mitteln zu begegnen. Die Anzeichen häufen sich, dass Nastase die Zentralgalaktische Union zu einem der maßgeblichen Kräfte in der Milchstraße machen will, wisper te der Extrasinn. Hier ist eine Gefahr im Entstehen, die du nicht unter schätzen solltest. Ich habe nichts gegen eine starke Union, widersprach ich dem Logik sektor. Doch sie muss auf einem stabilen, gesellschaftlichen Fundament stehen. Die ZGU könnte sogar als Gegenkraft zum Imperium Dabrifa und dem Carsualschen Bund wirkten und damit die Lage in der Galaxis erheb lich entspannen.
Aber nicht, wenn Ponter Nastase als Unsterblicher eine weitere Militär diktatur etabliert, übernahm mein zweites Ich. Manchmal frage ich mich, ob ES damals auch nur annähernd ahnte, was es mit dem Ausstreu en der fünfundzwanzig Aktivatoren angerichtet hat. Ich werde den Alten von Wanderer fragen, wenn ich ihn das nächste Mal treffe, gab ich trocken zurück. Ich hatte es schon lange aufgegeben, die Motive der Superintelligenz einer logischen Analyse unterziehen zu wollen, zumal das Überwesen nun schon seit vielen Jahrhunder ten als verschollen galt. Angeblich hatte es sich vor einer großen, auf die Milchstraße zukommenden Bedrohung zurückgezogen, eine Aussage, die unter Perry Rhodan und den anderen Unsterblichen für lange Zeit Anlass zu erheblicher Besorgnis gewesen war. Welche Gefahr konnte so gewaltig sein, dass ihr sogar eine Super intelligenz nicht gewachsen war? Inzwischen – rund achthundert Jahre später – hatte sich die Besorgnis längst zu einer kaum noch wahrnehmbaren Unruhe verflüchtigt. Auch wenn Entitäten wie ES in gänzlich anderen Dimensionen dachten als die so genannten Nor malsterblichen, wirkte die verstrichene Zeit mit jedem weiteren Jahrzehnt beruhigender. Ich schaltete die Konsole ab und wandte mich an Saul Puskasz. »Diesmal werde ich auf eine Meldung verzichten, Mr. Puskasz«, sagte ich streng. »Aber wenn ich sie noch einmal ohne Stiefel erwi sche, wird das ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen. Haben wir uns verstanden.« »Selbstverständlich«, entfuhr es dem sichtlich erleichterten Techni ker. »Ich versichere Ihnen, dass so etwas …« »Ein einfaches ›Ja, Sir‹ genügt mir vollkommen«, unterbrach ich ihn zum wiederholten Mal. »Ja, Sir!« Saul Puskasz nahm so etwas wie Haltung an, was bei ihm eher lächerlich aussah. Ich verkniff mir ein Schmunzeln, nickte ihm knapp zu und verließ die Steuerzentrale.
Ernesta Gori Gegenwart Für eine Außendienstmitarbeiterin des Geheimen Kalkulationskom mandos gehörte der Gebrauch unterschiedlicher Identitäten zum Alltag. Genau genommen trat Ernesta Gori nur selten unter ihrem wahren Namen auf, und manchmal passierte es ihr, dass sie am Morgen aufwachte und ein paar Augenblicke brauchte, um sich dar an zu erinnern, wer sie gerade war. Nach der Unterhaltung mit Neife Varidis hatte die Agentin ihre Rangabzeichen entfernt und sich über eines der frei zugänglichen Terminals in den Mannschaftssektoren ihre neuen Personendaten auf ihre ID-Karte spielen lassen. Für die notwendigen Berechtigun gen hatte die Geheimdienstchefin persönlich gesorgt. Mit den für alle Kalfaktoren hinterlegten Hochrangbevollmächtigungen war so etwas kein Problem. Auch wenn man es ihr äußerlich nicht anmerkte: Ernesta Gori war nervös. Der Auftrag, den ihr Neife Varidis erteilt hatte, war nicht unbedingt nach ihrem Geschmack. Normalerweise stellte sie keine Fragen oder machte sich Gedanken über die moralischen Implikatio nen der ihr erteilten Befehle. Man hatte ihr während der Ausbildung nie verschwiegen, dass der Beruf, den sie nach der Ausbildung aus üben würde, nichts für Heilige und Moralapostel war; dass sie Din ge würde tun müssen, die gegen ihr persönliches Empfinden von Gerechtigkeit und Verantwortungsbewusstsein verstießen. Sie hatte diese Nachteile gegen die Vorteile abgewogen und schließlich als vertretbar akzeptiert. Ernesta war der festen Überzeugung, dass sie in den vergangenen Jahren mehr Menschen gerettet als umgebracht hatte, und diejeni gen, die sie hatte töten müssen, hatten es ausnahmslos verdient ge
habt. Zweifel konnte sie sich nicht leisten, denn Zweifel kosteten Le ben. Ihr eigenes und das Unschuldiger. Sie stand an der vordersten Front eines Krieges, der von den meisten Bewohnern der Milchstra ße unbemerkt geführt wurde. Er fand in dunklen Gassen, in schummrigen Hinterzimmern und an verlassenen Orten bei Nacht statt. Manchmal, wenn auch eher selten, sogar in großen, hellen Bü ros und im Beisein mächtiger Männer und Frauen. Er wurde nicht mit Raumschiffen und Strahlwaffen, sondern mit Intrigen, Täu schungen und vor allem viel Geld geführt. Sie war ein Soldat in diesem Krieg, und sie war es aus Überzeu gung. Die Anweisungen gaben andere. Das, was sie tat, eröffnete ihr die Chance, etwas zu bewirken, Veränderungen anzustoßen und Entwicklungen zu beeinflussen. Zum Guten, wie sie hoffte. Zum Nutzen all jener, die nichts von dem ahnten, was hinter den Kulis sen vorging und die sie manchmal um diese Unwissenheit beneide te. Es war alles andere als einfach, so vieles von dem, das sie sah und erfuhr nicht mit anderen teilen zu können. In jenen Büros, die im OPRAL für den Geheimdienst reserviert waren, saßen eine Reihe von Psychologen, die jeder Außendienstler jederzeit aufsuchen konnte. Angeblich wurden solche Gespräche nicht protokolliert, doch Ernesta fiel es schwer, dieser Versicherung Glauben zu schen ken. Die Versuchung für die Organisation, die seelischen Befindlich keiten der Agenten auf diese Weise zu überprüfen, war einfach zu groß. Die Frau hatte es einmal versucht, und es war gründlich in die Hose gegangen. Es ergab keinen Sinn, einer Fremden, die noch dazu genau wusste, was eine Agentin des Geheimen Kalkulationskom mandos tat, von ihren beruflichen Sorgen und Nöten zu erzählen. Ebenso gut hätte sie alles aufschreiben und die Folien danach ver brennen können. Sie benötigte niemanden, der ihr half, ihre Beden ken zu verwalten; das schaffte sie ganz allein. Sie wollte das, was sie bedrückte einfach nur vernünftig bewerten und verarbeiten.
Der nächste Verteilerknoten war nur wenige Decks entfernt gewe sen. Ernesta Gori erreichte ihn ohne Probleme. Der Techniker, der sie vor dem sicheren Tod gerettet hatte, war nur noch eine unbedeu tende Erinnerung am Rande, auch wenn sie zugeben musste, dass der Mann ausgesprochen tapfer und besonnen reagiert hatte. Eine gute Stunde nach dem Funkgespräch mit Neife Varidis traf die Agentin in den privaten Räumen der Geheimdienstchefin in Sphäre 4 ein. Ponter Nastase hatte seiner Kollegin eine großzügige Kabinenflucht zugewiesen, jedoch mitteilen lassen, dass er nicht persönlich erscheinen konnte, um den hohen Gast zu begrüßen. Nei fe Varidis hatte ihr Verständnis darüber zum Ausdruck gebracht, sich für die Gastfreundschaft bedankt und darauf hingewiesen, dass man sich ja erst zwei Tage zuvor gesehen hatte und sie ohnehin nicht plante, länger als unbedingt notwendig an Bord der ZUIM zu verweilen. Ernesta Gori wurde von Oderich Musek empfangen. Der persönli che Berater der Geheimdienstchefin hatte eine Bilderbuchkarriere im Innendienst hingelegt und galt als einer der wichtigsten politischen Helfer der Frau. Die Agentin hatte ihn während eines Empfangs in der ertrusischen Botschaft auf Rudyn als überaus charmanten Plau derer mit perfekten Umgangsformen kennen gelernt. »Ms. Gori«, kam er lächelnd auf sie zu und reichte ihr beide Hän de. »Es freut mich sehr, Sie wieder zu sehen – und ich erinnere mich nicht nur deshalb an Sie, weil Neife Ihren Besuch angekündigt hat und ich Ihr Dossier gelesen habe. Sie sehen im Abendkleid deutlich besser aus als in Uniform.« Sein spitzbübisches Lächeln war anste ckend, und obwohl Ernesta sich angesichts des vor ihr liegenden Auftrags alles andere als wohl fühlte, ging es ihr sofort ein bisschen besser. Oderich Musek war der einzige Mensch, den sie kannte, der die Geheimdienstchefin öffentlich beim Vornamen nannte. Das hatte er schon vor einigen Jahren in der Botschaft getan, und Neife Varidis schien sich nicht daran zu stören. Ernesta hatte sich schon damals
gefragt, welche gemeinsame Vergangenheit die beiden miteinander verband, doch eine vorsichtige Recherche hatte nichts ergeben. Sie erinnerte sich noch vage daran, dass der Mann einen Sohn hatte, der an der Universität von Genzez studierte. »Neife wird sich in wenigen Minuten um Sie kümmern«, sprach Musek weiter. »Sie begrüßt gerade eine Handelsdelegation von Top sid. Der Delegationsleiter ist ein Zwei-Meter-Riese namens ChrokKkan. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich klingen diese Namen irgendwie alle, als hätte sich jemand erkältet.« Oderich Mu sek unterbrach sich, sah sie an und schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie, Ms. Gori«, sagte er. »Ich rede mal wieder zu viel. Darf ich Ihnen etwas anbieten?« »Haben Sie vielleicht ein Glas Wasser?« Die Agentin hatte tatsäch lich Durst. Musek schürzte die Lippen. »Außergewöhnliche Getränke für außergewöhnliche Frauen«, grinste er. »Es muss Jahrzehnte her sein, seit ich das letzte Mal je manden habe Wasser trinken sehen. Ich glaube, ich nehme an zu vie len Empfängen teil.« Ernesta huschte ein Lächeln übers Gesicht. Dieser Mann war ein Phänomen. Und ein Diplomat aus dem Lehrbuch. »Ich nehme an, die Kalfaktorin hat Sie über die Lage informiert?«, erkundigte sich Ernesta Gori, nachdem er ihr ein großes Glas ge reicht hatte. Das Wasser war herrlich kühl, und die Agentin genoss die ersten Schlucke. Oderich Musek war für seine 82 Jahre in er staunlicher Form. Sein Körper wies kein Gramm Fett zuviel auf, und wenn er bei seinem nach wie vor vollen, schwarzen Haar mit medo kosmetischen Mitteln nachgeholfen hatte, dann sah man es nicht. »Es gehört zu meinen Pflichten, informiert zu sein«, sagte er. Der sanfte Spott, der in seiner Stimme mitschwang, klang nicht im Ge ringsten beleidigend. »Meistens sogar noch ein kleines bisschen bes ser als Neife selbst. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos, wie unsere Freunde, die Terraner sagen würden.«
»So könnte man es ausdrücken«, stimmte die Frau zu. »Höre ich da Resignation, Ms. Gori?« Oderich Musek legte den Kopf schief und produzierte ein Lächeln, das eine perfekte Mi schung aus Vorwurf und Verständnis übermittelte. »Hoffnung ist vielleicht das größte Glück, das diese Welt bereithält. Sie sollten sich dieses Gefühls nicht voreilig berauben.« Ernesta Gori musste erneut lachen. »Sie haben wohl für jede Gele genheit eine passende Weisheit parat.« Sie trank einen weiteren Schluck Wasser. Oderich Musek zuckte mit den Schultern. »Wie schon gesagt«, ent gegnete er. »Zu viele Empfange…« Auf einmal gellte Alarm durch das Sphärenrad.
Holzer M. Buchard Gegenwart Offenbarung 55: Wo selbst der Teufel nichts ausrichtet, schickt er ein Weib. Wie immer betrachtete Holzer M. Buchard seine neuste Nieder schrift für einige Sekunden, unterzog sie einer letzten Prüfung auf sprachliche Korrektheit und inhaltliche Qualität, bevor er sein No tizbuch schloss und die halbleere Flasche Vurguzz aus dem Versteck hinter der losen Wandverkleidung seiner Kabine holte. Zehn Minu ten und vier Gläser später fühlte er sich noch immer beschissen. Am liebsten hätte er die Erinnerung an das Treffen – den Begriff Rendezvous wagte er angesichts des katastrophalen Verlaufs seiner zweiten Begegnung mit Karaia Cortez nicht zu verwenden – für alle Zeiten aus seinem Gedächtnis getilgt, doch ein unbarmherziges Schicksal hatte jede Einzelheit unauslöschlich in seinen Schädel ge brannt, auf dass er bis ans Ende seiner Tage von den Bildern dieses Fiaskos verfolgt werden würde. Zu Beginn war alles ganz hervorragend gewesen. Er hatte seine Göttin über Interkom angerufen, sie hatten sich in einer Messe im Aufenthaltsbereich von Sphäre 4 getroffen und sich zunächst bei zwei Bechern Fruchtsaft unterhalten. Seine anfängliche Nervosität war schnell von ihm abgefallen. Sie sprachen über das Sphärenrad und die auf Rudyn in wenigen Wochen anstehenden Feiern zum Jahrestag der Union. Karaia erzählte, dass sie nach Turniz, einem winzigen Kaff in der Nähe der Grünen Küste reisen würde, um die freie Zeit bei ihren Eltern zu verbringen, und Holzer freute sich wie ein kleines Kind, weil das mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutete, dass sie keinen festen Freund hatte. Er selbst redete von seiner Ar beit auf der ZUIM und stellte erschrocken fest, dass sich sein Privat
leben zum größten Teil an Bord des Sphärenrads abspielte. Das limi tierte seine Anekdoten auf ein Minimum, denn er konnte wohl mit Sicherheit davon ausgehen, dass Karaia Cortez weder an seinen Saufgelagen mit Fresko Balibari noch an seinen verzweifelten Versu chen, die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts zu erregen, in teressiert war. Also machte er den größten Fehler seines Lebens: Er erzählte ihr, wie er eine unbekannte Frau vor einem qualvollen Er stickungstod im Weltraum gerettet hatte. Es kam, wie es kommen musste. Karaia glaubte ihm nicht und tat seine Geschichte als typisch männliche Aufschneiderei ab, wenn auch auf unnachahmlich liebenswerte Art und Weise. Natürlich ließ Holzer M. Buchard die Sache nicht auf sich beruhen und wechselte ganz einfach das Thema, sondern beharrte auf seiner Heldentat. Um ihr zu beweisen, dass er keineswegs jener Typ Mann war, für den sie ihn anscheinend hielt, zerrte er sie vor eines der nächsten öffentli chen Terminals und rief die Überwachungsprotokolle der Außen sektoren von Sphäre 1 auf. Doch da war nichts. Kein Zwischenfall. Keine Aufzeichnungen. Alle Luken dicht. Holzer überprüfte seine Eingaben, verglich die Zeitintervalle, er weiterte den Suchbereich. Nichts! Das konnte nicht sein. Er hatte das doch nicht geträumt. Leider war er zu sehr damit beschäftigt, das Terminal mit Schlägen und Tritten zu bearbeiten sowie wenig salon fähige Flüche auszustoßen, als dass er das immer verkniffener wer dende Gesicht Karaias bemerkt hätte. Erst als sie ihm auf die Schul ter tippte und seinen Namen rief, gewann er die Kontrolle über sich zurück. Doch es war zu spät. Karaia Cortez sagte ihm ohne Umschweife, dass sie genug gesehen und gehört hatte und nun in ihr Quartier zu rückkehren würde. Ach ja, und er solle sie bitte nicht mehr anrufen. Nie mehr. So waren sie, die Göttinnen. Erst hoben sie die Männer in den Himmel, dann schleuderten sie sie in die Hölle. Holzer M. Buchard war in seine Kabine zurückgekehrt, hatte sein Notizbuch hervorgeholt und eine Stunde vor sich hingebrütet. Das
Ergebnis war Offenbarung 55 gewesen. Vielleicht war es ja wirklich an der Zeit, dass er seine Prinzipien in Frage stellte. Möglicherweise hielt er schon zu lange an der These fest, dass ein Mann nur dann glücklich werden konnte, wenn er eine Frau an seiner Seite hatte. Dabei zeigten mindestens fünf Jahrtausende archivierter Mensch heitsgeschichte, dass der Großteil allen Übels im Universum auf der Unverträglichkeit von Frau und Mann beruhte. Bis heute hatte kein Dichter, kein Wissenschaftler, kein Weiser das Wesen der Liebe durchschaut, und dennoch galt sie unter Männern und Frauen als das Maß aller Dinge. Die Aussage, dass man nur in der Liebe Erfüllung fand, war eine Theorie, die sich seit Anbeginn der Zeit jeder Überprüfung entzog – und es hatte weiß Gott genug Versuche gegeben, das zu ändern. Liebe war eine Illusion, und eben so wie manche behaupteten, es sei die größte Tat des Teufels gewe sen, die Menschen davon zu überzeugen, dass Gott nicht existiert, so glaubte Holzer M. Buchard mit einem Mal, dass auch die Liebe nichts weiter war als eine geniale Erfindung des Höllenfürsten – nur dass er diesmal ganz speziell auf die Männer gezielt hatte. Sex, ja, das war etwas anderes. Da erübrigten sich alle Diskussio nen. Sex war etwas, das man klar definieren konnte, und die Tatsa che, dass man ihn selbst zu Beginn des 32. Jahrhunderts noch immer tabuisierte, ja teilweise sogar verdammte, sprach für seine Tauglich keit als Liebesersatz. Keine revolutionäre Erkenntnis, wie Holzer M. Buchard nach dem zehnten Glas Vurguzz zugab, aber immer noch besser als gar nichts. Der einsetzende Alarm riss ihn aus seinen Gedanken.
Atlan Gegenwart Als ich das Magazin betrat, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte nie viel auf Vorahnungen gegeben, doch nach über 10.000 Jahren entwickelt auch der gröbste Holzklotz einen sechsten Sinn. Melvin Alachaim hockte nach wie vor mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt auf dem Boden des Lagerraums, doch sein Kopf ruhte seltsam schlaff und zur Seite verdreht auf der Brust. Im ersten Mo ment glaubte ich, dass er in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen war, doch dann traf mich die Wahrheit wie ein Schlag in den Magen. Der Mann war tot! Jemand hatte ihm das Genick gebrochen! Natürlich verschwendete ich keine Sekunde des Zweifels an die Identität des Killers; dennoch machte mir die Tat mehr zu schaffen, als ich zuzugeben bereit war. Trilith Okt war zur kaltblütigen Mör derin geworden, hatte einen wehrlosen Mann getötet. Wahrschein lich war das von Anfang an ihre Absicht gewesen, und mein Vor schlag, uns vorübergehend zu trennen, war dieser Absicht entgegen gekommen. Trilith Okt hatte ohne Frage einen alles andere als leich ten Lebensweg hinter sich bringen müssen, und das, was Unbekann te ihr angetan und zugemutet hatten, war durchaus dazu geeignet, tiefe seelische Narben zu hinterlassen, doch das alles rechtfertigte noch lange keinen Mord. Auf einem der Regale hatte die Frau Platz geschaffen und die dort vormals gelagerten Kartons auf dem Boden gestapelt. Der Streifzug durch die angrenzenden Vorratsräume war überaus ergiebig gewe sen. Neben Nahrungskonzentraten und Päckchen mit Frucht- und Gemüsesäften hatte Trilith eine Reihe von Dingen gesammelt, die uns noch nützlich sein konnten. Ich sah verschiedene Werkzeuge,
Taschenlampen, mobile Speicherkarten, in Plastik verpackte Unter wäsche und einiges mehr. Waffen waren in dem bunten Sammelsu rium nicht vertreten, aber das hatte ich auch nicht erwartet. So etwas wurde üblicherweise nicht in normalen Lagerräumen aufbewahrt. Ich beugte mich zu dem leblosen Oberst hinunter und hob seinen Kopf an. Trilith Okt hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht und die Augen des Mannes geschlossen. Ich atmete tief ein und wieder aus, gab mir redliche Mühe, den in mir brennenden Zorn einzudäm men, nach Gründen zu suchen, die das Verhalten der Frau zumin dest halbwegs nachvollziehbar machten, doch allzu viel Erfolg hatte ich dabei nicht. Ich war in meinem langen Leben oft genug gezwun gen gewesen, Gewalt anzuwenden, um meine Ziele zu erreichen –, und nicht alle meine diesbezüglichen Entscheidungen erfüllten mich im Nachhinein mit Stolz. Wenn es um Leben und Tod ging, war kei ne Zeit zum Überlegen. Die Instinkte übernahmen das Kommando. Doch es gab Grenzen, die ich nie überschritten hatte. Das Töten ei nes Feindes, der sich nicht mehr verteidigen konnte, gehörte dazu. Einige Minuten später öffnete sich die Tür zum Magazin, und Tri lith trat ein. Sie hatte zwei Funkgeräte und mehrere Energiezellen in den Händen. Die sie wortlos zu den anderen Dingen ins Regal legte. Erst dann drehte sie sich in meine Richtung und sah mich an. »Spar dir die vorwurfsvollen Blicke«, sagte sie gleichmütig. »Es war notwendig.« »Es war Mord«, fauchte ich mühsam beherrscht. »Wenn du es so nennen willst.« Trilith Okt nahm einen der Kon zentratriegel, riss die Verpackung auf und biss ein großes Stück ab. »Wie auch immer: Du solltest mir dankbar sein. Ich habe dir ein Pro blem abgenommen, und du kannst weiterhin deine hohen morali schen Standards bewahren.« »Und Moral ist ein Luxus, den du dir nicht leisten kannst«, stieß ich bitter hervor. »Ist es das, was du mir sagen willst?« »Ich will dir gar nichts sagen«, entgegnete sie. »Und ich muss mich auch nicht vor dir rechtfertigen. Da draußen …«, sie machte eine
vage Geste mit der rechten Hand, die wohl die ganze Galaxis umfas sen sollte, »… sterben täglich Tausende, und du erfährst nicht ein mal ihre Namen. Kannst du deshalb nachts nicht schlafen? Quälen dich deshalb Schuldgefühle? Was macht diesen Mann …«, sie deute te auf Melvin Alachaim, »… anders als alle anderen? Um den Tod kennen zu lernen, Arkonide, braucht es keine Ewigkeit. Wichtig ist nur, das du eine Entscheidung triffst. Willst du Opfer oder Täter sein?« »Das ist erbärmlich«, sagte ich. Trilith Okt lachte »Das ist effektiv. Sieh dich an. Du trägst eine Waf fe am Gürtel. Warum? Weil du sie nicht benutzen willst? Wozu trägst du sie dann?« »Damit ich mich mit meinen Gegnern auseinandersetzen kann, wenn sie sich nicht …« »Philosophisches Geschwätz«, stieß sie verächtlich hervor. »Die Natur hat uns Intelligenz geschenkt, damit wir alles und jeden nach seinem Nutzen für uns beurteilen können. Du und deinesgleichen bezeichnen das als Skrupellosigkeit, für mich ist es das fundamenta le Prinzip des Überlebens.« »Dann verrate mir eines«, sagte ich beißend. »Warum sollte ich nicht auf der Stelle verschwinden und dich und deine jämmerliche Weltanschauung hinter mir lassen? Ich weiß, wo der Zellaktivator ist, und wenn ich eines nicht gebrauchen kann, dann ist es eine ent hemmte Psychopathin, die anstelle ihres Verstands nur ihr Messer zu benutzen weiß. Du hast keinen Nutzen mehr für mich.« Treffer! Auch ohne den Impuls des Extrasinns hätte ich erkannt, dass meine Worte Wirkung zeigten. Trilith Okts Züge, soeben noch ein Inbegriff der Selbstgefälligkeit, verrieten plötzlich maßlosen Zorn. Ich bereitete mich innerlich auf einen Angriff vor, doch die junge Frau beruhigte sich wieder. Dennoch wurde mir spätestens jetzt klar, dass der Konflikt zwischen uns eines Tages eskalieren würde. Wir wollten beide das Gleiche. Der Zellaktivator würde im mer zwischen uns stehen.
»Ich werde dir sagen, was wir tun«, lächelte ich kalt und trat nahe an Trilith heran. »Wir werden unseren Weg weiterhin gemeinsam fortsetzen. Wir werden Ponter Nastase, das ist der Name des Man nes, der den Aktivator in seinem Besitz hat, finden und ihm das Ge rät abnehmen. Aber wir werden dieses Spiel von nun an nach mei nen Regeln spielen, und ich warne dich: Der nächste Regelverstoß wird dein letzter gewesen sein.« Ich brachte meine Lippen ganz nah an ihr linkes Ohr. »Ich weiß«, flüsterte ich, »dass du glaubst, mir gewachsen zu sein. Ich weiß, dass du glaubst, dein Training würde ausreichen, mich im Kampf zu besiegen. Aber da irrst du, Trilith Okt. Ich bin dir in jeder Hinsicht überlegen, denn ich besitze etwas, das du niemals haben wirst. Respekt! Respekt vor dem Leben und Respekt vor meinen Gegnern. Du dagegen bist nichts weiter als eine Maschine. Du funk tionierst, tust das, was man dir beigebracht hat. Du versagst dir jeg liches Gefühl und interpretierst das als Stärke. In Wahrheit bist du schwach und dumm. Bete zu allem, was dir noch heilig ist, dass ich dir das niemals beweisen muss.« Ich trat einen Schritt zurück. Triliths Gesicht war ausdruckslos, doch sie wich meinem Blick nicht aus. Zehn Sekunden verstrichen, dann huschte ein feines Lächeln über die Lippen der Frau. »Na bitte«, sagte sie, und es klang zufrieden. »Der Lordadmiral der USO hat also doch Eier in der Hose.« Der schreiende Alarm beendete unsere Diskussion mit einem Schlag.
Ponter Nastase Gegenwart Die Zukunft gehörte ihm. Ihm allein. Ponter Nastase saß in seinem Sessel – auf seinem Thron – und verfolgte über die Zuspielungen sei nes Omniports, wie die Einzelteile des Puzzles lückenlos ineinan derfielen. Der Krisenfall Sturmwind stand unmittelbar bevor, und es würde ein Sturmwind werden, der alles Alte und Verbrauchte er barmungslos hinwegfegte, um Platz für das Neue zu schaffen. Die Zeit des Wartens war vorbei. Nun begann endlich die Zeit des Han delns. Die Männer und Frauen des Wissenschaftlichen Überwachungs korps standen bereit. Nicht nur an Bord der ZUIM, auch in der Hauptstadt Genzez. In diesen Momenten nahmen die letzten Solda ten auf Rudyn ihre zugewiesenen Positionen ein. Marco Fau, Kalfak tor für Kriegswesen, und Ermid Güc, Kalfaktor für Flottenaufbau, hatten Bereitschaft signalisiert. Die Vorbereitungen waren abge schlossen. Ponter Nastase legte sich wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag die Hand auf die Brust. Unter dem edlen Stoff seiner Amtsrobe spürte er die sanfte Erhebung des Zellaktivators. Das Ei schickte be lebende Impulse durch seinen Körper, pochte wie ein zweites Herz, ein Herz, das nie mehr aufhören würde zu schlagen. Alter, Krank heit, Tod: Seit Jahrtausenden verkörperten sie die Urängste der Menschheit, und er hatte sie besiegt. Natürlich konnte ihn ein hinter hältig abgefeuerter Strahlschuss oder ein heimtückisch angebrachter Sprengsatz nach wie vor töten, doch das würde er zu verhindern wissen. Wie oft hatte er sich in den Tagen zuvor ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn man unsterblich war, was er empfinden, welche
Gedanken ihm durch den Kopf gehen würden. Jetzt wusste er es, und es übertraf alle Erwartungen. Weitere Klarmeldungen trafen ein. Die Sphären 1 und 2 waren praktisch fest in seiner Hand. Widerstand gab es hier keinen, denn in den letzten Wochen waren die neuralgischen Positionen nach und nach mit loyalen Mitarbeitern besetzt worden. Wer die beiden inne ren Ringe der ZUIM kontrollierte, der kontrollierte das gesamte Sphärenrad. Ponter Nastase schaltete zwei weitere Kanäle auf den Omniport. Seit einer Stunde verarbeitete der Kalfaktor sämtliche Informationen nur noch über das speziell für ihn entwickelte Gerät. Der Omniport war der wohl wichtigste Grund dafür, dass ihm Neife Varidis und ihre hechelnden Bluthunde nicht auf die Schliche gekommen waren. Das aufgepfropfte Netzwerk war völlig autark und praktisch abhör sicher. Die Trägerwelle nutzte einen technisch kaum erschlossenen Frequenzbereich und konnte selbst durch starke Störimpulse nicht überlagert werden. Gesendete und empfangene Daten passierten vier Chiffrierfilter mit im Mikrosekundenbereich wechselnden Identschlüsseln. Ein unglaublicher technischer Aufwand, doch er hatte sich gelohnt. Marco Fau meldete sich über einen privaten Kanal. Er hielt sich in seinen Büros im OPRAL auf. Dreizehn der 21 Kalfaktoren waren derzeit im Regierungssitz anwesend. Akadie Holeste, die Kalfakto rin für Wirtschaft und Entwicklung, sollte in einigen Stunden auf Moltov Port, einem der Raumhäfen der Hauptstadt eintreffen. Ein Spezialkommando würde sich um sie kümmern. Weitere drei Kal faktoren schliefen noch in ihren Privatwohnungen. Die entsprechen den Unterkünfte standen unter permanenter Beobachtung. Lastin Siegfreund schließlich, der Kalfaktor für Finanzielles, suchte in ei nem einschlägigen Etablissement in Sambacha, dem Vergnügungs viertel der Hauptstadt, Ablenkung von seinen täglichen Pflichten. Ponter Nastase lächelte böse. Er kannte nicht nur Lastins sexuelle Vorlieben, sondern auch dessen Gewissenlosigkeit, wenn es darum
ging, die Spuren seiner Exzesse zu beseitigen. Nastase würde der Union einen großen Gefallen erweisen, wenn er den kranken Ba stard zur Strecke brachte. Ponter Nastase nahm Kontakt mit Ermid Güc auf. Der Kalfaktor für Flottenaufbau hatte acht Unionskreuzer in die unmittelbare Nähe Rudyns beordert. Sein Flaggschiff, die KONTER, war knapp 100.000 Kilometer von der ZUIM entfernt in Warteposition gegan gen. »Es ist soweit«, sagte Nastase. »Du hast deine Leute im Griff?« »Selbstverständlich«, kam die Antwort. »Dennoch ist mir nicht ganz klar, warum wir uns nicht an den vereinbarten Zeitplan halten. Wir gehen ein unnötiges Risiko ein, wenn wir jetzt schon zuschla gen.« »Neife Varidis ist auf der ZUIM«, sagte der Kalfaktor für Wissen schaften. »Du weißt, dass die misstrauische Schlampe seit langem etwas ahnt. Ich kann sie problemlos hier und jetzt ausschalten. Sie ist die einzige, die uns noch gefährlich werden kann.« »Die Flotte wird sich auf jeden Fall neutral verhalten, sofern sich die Unruhen nicht über Genzez hinaus ausweiten«, sagte Güc. »Die ganze Sache muss in spätestens zehn Tagen abgeschlossen sein.« »So lange werde ich wahrscheinlich nicht brauchen«, beruhigte ihn Nastase. »Ich melde mich in ein paar Stunden wieder.« Ohne eine Entgegnung seines Gesprächspartners abzuwarten, trennte er die Verbindung. Natürlich konnte er seinen beiden Handlangern unmöglich den wahren Grund für seine Entscheidung, den Krisen fall Sturmwind vorzuverlegen, nennen. Er war jetzt ein Unsterbli cher und damit zum Herrschen bestimmt. Alle Aktivatorträger in der Milchstraße spielten maßgebliche Rollen im galaktischen Macht gefüge. Wer das ewige Leben errang, der hatte bewiesen, dass er über allen anderen stand. Ponter Nastase gab die letzten Anweisungen. Wäre er ein Terraner gewesen, hätte er den 15. September 3102 in seiner Erinnerung als historischen Tag verzeichnet. Doch er war kein Terraner. Er war
nicht einmal mehr ein Kalfaktor. Er war der neue Alleinherrscher der Zentralgalaktischen Union. Mit einem Sensordruck gab er den endgültigen Startschuss für den Krisenfall Sturmwind und schattete den Interkom für eine Durchsa ge auf Rundruf. Der durch das Sphärenrad gellende Alarm klang wie Musik in seinen Ohren. Er war die Fanfare, die den Aufbruch in eine neue Ära verkündete.
Atlan Gegenwart »Verdammt!« Waren wir entdeckt worden? Möglicherweise hatte man das Ver schwinden des Oberst bemerkt und Verdacht geschöpft. Oder Saul Puskasz hatte sich doch noch entschlossen, seine Begegnung mit mir an höherer Stelle anzuzeigen. Letztlich spielte das alles aber keine Rolle. Wenn die Verantwortlichen auf der ZUIM erfahren hatten, dass sich Unbefugte auf dem Sphärenrad aufhielten, befand nicht nur ich mich in höchster Gefahr. Sekunden später brach der Alarm ton ab. »Bürger der Union! Hier spricht Kalfaktor Ponter Nastase«, hörte ich stattdessen die tiefe Stimme ausgerechnet jenes Mannes, von dem ich seit einer Stunde wusste, dass er den gesuchten Zellaktiva tor besaß. »Die ZUIM ist mit sofortiger Wirkung in volle Gefechtsbe reitschaft zu versetzen. Alle Offiziere begeben sich ohne Verzöge rung auf ihre Posten. Sämtliche Freischichten sind bis auf Widerruf ausgesetzt. Es gibt unwiderlegbare Beweise dafür, dass Neife Vari dis, die Erste Kalfaktorin des Geheimen Kalkulationskommandos, einen Sturz der rechtmäßig gewählten Regierung der Zentralgalakti schen Union geplant und vorbereitet hat. Auf Rudyn haben die fa natisierten Handlanger der Kalfaktorin bereits damit begonnen, die Saat des Bösen zu legen. Aus verschiedenen Stadtteilen in Genzez werden Explosionen gemeldet. Selbst vor einem Sturm auf das OPRAL schrecken die Umstürzler nicht zurück. Bürger der Union! Als Vertreter der Regierung versichere ich Ih nen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um diese schändliche Tat zu sühnen und die Verräterin an den hohen Idealen der Union ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Ich bitte Sie deshalb,
Ruhe zu bewahren, und den Anweisungen meiner Mitarbeiter Folge zu leisten. Alle Besucher haben das Sphärenrad unverzüglich zu verlassen und in ihre jeweiligen Raumschiffe oder Unterkünfte zu rückzukehren. Wer ohne gültige Legitimation angetroffen wird, muss mit Verhaftung und Anklage wegen Spionage rechnen. Dieses Verbrechen wird in der ZGU mit der Todesstrafe geahndet. In Kürze werden weitere Durchsagen folgen und Sie über die aktuellen Ent wicklungen informieren. Bürger der Union! Wir sehen einer schwierigen Zeit entgegen, und die kommenden Tage werden uns ein Höchstmaß an Vertrauen in die Werte unserer traditionsreichen Nation abverlangen. Bleiben Sie stark! Denken Sie an die Grundsätze, die die Union groß gemacht haben. Gemeinsam sind wir alles! Erfolg durch das Miteinander! Auch aus dieser Krise werden wir gestärkt hervorgehen – so wahr ich Ponter Nastase heiße!« Für lange Sekunden waren weder Trilith noch ich in der Lage, et was zu sagen. Eines war mir bereits während der ersten Sätze dieser vor Pathos nur so triefenden Durchsage klar geworden. Neife Vari dis würde niemals eine Revolte auf Rudyn anzetteln. Die USO besaß ausführliche Dossiers über jeden einzelnen Kalfaktor der ZGU und pflegte zudem regen Datenaustausch mit der Solaren Abwehr. Als Chefin des Geheimdienstes hatte Neife Varidis naturgemäß im Fo kus besonderen Interesses gestanden, und auch wenn ich die Frau nie persönlich getroffen hatte, so hatte ich doch das Gefühl, sie inund auswendig zu kennen. Sie war zu klug und vor allem zu liberal eingestellt, um die Existenz der Union mit einer derart rigorosen, ja nahezu selbstmörderischen Politik zu riskieren. Alles deutet darauf hin, dass Nastase der Rädelsführer in dieser Sache ist, stimmte mir der Extrasinn zu. Ich vermute, er hegt schon seit langem Pläne, die Macht innerhalb der ZGU zu übernehmen. Der Zellaktivator war der auslösende Faktor, der ihn davon überzeugt hat, dass es nun an der Zeit ist, diese Pläne in die Tat umzusetzen. Neife Varidis besitzt durch ihre Stellung innerhalb der Regierung nicht nur erhebliche Befugnisse, sondern kann auch auf beträchtliche Ressourcen zurückgreifen. Indem Na
stase ihr die Schuld an einem angeblichen Putschversuch in die Schuhe schiebt, den er in Wahrheit selber steuert, entledigt er sich auf elegante Weise seiner größten Widersacherin. Und Neife Varidis hält sich derzeit im äußeren Ring der ZUIM auf, ant wortete ich. Eine bessere Chance, ihrer habhaft zu werden, wird Nastase nicht mehr bekommen. Eines wurde mir in diesem Moment klar: Mit einer ZUIM in Ge fechtsbereitschaft hatte ich nicht einmal eine theoretische Chance, bis nach Sphäre 1 und somit in die Nähe Ponter Nastases vorzusto ßen. Deshalb blieben mir nur zwei Alternativen. Ich konnte entwe der in den Hangar zurückkehren und versuchen, das Sphärenrad zu verlassen. Damit würde ich mich allerdings weiter von meinem Ziel entfernen als jemals zuvor. Oder ich konnte einen Vorstoß wagen, der ein wesentlich höheres Risiko in sich barg. Wenn dein Freund Perry Rhodan wüsste, was du hier veranstaltest, wis perte der Extrasinn, würde er dir den Kopf abreißen. Und selbst ich als Leidtragender könnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Wenn der Aktivator in Ponter Nastases Besitz verbleibt, dachte ich, sind die Folgen nicht absehbar. Mit einem solchen Mann an der Spitze der Union ist ein militärischer Konflikt wahrscheinlicher denn je. Gleiches gilt, wandte der Logiksektor ein, wenn der Lordadmiral der USO an Bord eines Flottenneubaus der Union in Gefangenschaft gerät. Du spielst hier nicht mit dem Feuer, Arkonide, sondern mit einer lodern den Flammenhölle. Natürlich hatte mein zweites Ich recht, aber was sollte ich sonst tun? Mit jeder Minute, die ich ungenutzt verstreichen ließ, verkom plizierte sich die Lage. Ich wusste zu wenig über Nastases Pläne, als dass ich hätte in die Offensive gehen können. Neife Varidis war mei ne einzige Chance. Einmal mehr in meinem an solchen und ähnli chen Situationen reichen Leben wurde die Feindin meines Feindes zu meinem Freund, und ich konnte nur hoffen, dass die Kalfaktorin ähnlich dachte. »Wir brechen auf«, ließ ich Trilith Okt wissen, die während meiner
stummen Zwiesprache mit dem Extrasinn kein Wort gesagt hatte. Die Frau wusste – wie die meisten Bewohner der Milchstraße – um jenen normalerweise brachliegenden Teil des arkonidischen Ge hirns, der durch eine hyperenergetische Aufladung mit fünfdimen sionalen Impulsen, ARK SUMMIA genannt, aktiviert werden konn te. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Angehörigen meines Volkes ging im Lauf ihres Lebens das Wagnis ein, den Logiksektor zu we cken, doch in den meisten Fällen blieb es beim Versuch. Wenn sie Glück hatten, überstanden sie die ARK SUMMIA ohne geistige und körperliche Schäden. Die Geburt eines Extrasinns forderte von sei nem Wirt nicht nur hohe psychische Widerstandskraft, sondern vor allem eine mentale Disziplin, die er sich in hartem Training erarbei ten musste. Auch wenn ich mein zweites Ich inzwischen nicht mehr missen wollte, erinnerte ich mich eher ungern an die Zeit seiner Ak tivierung. Die damaligen Tests hatten mir alles abverlangt. »Wohin?«, fragte Trilith. »Zu den im inneren Ring gelegenen Hangars«, antwortete ich. »Wir suchen nach Neife Varidis. Wenn mich nicht alles täuscht, steckt die Frau in erheblichen Schwierigkeiten und dürfte für jede Hilfe dankbar sein.«
Ernesta Gori Gegenwart Oderich Musek stand noch immer wie gebannt auf der Stelle, als Er nesta Gori bereits den Funkchip in ihrem Ohrläppchen aktivierte. Ponter Nastase hatte die Maske fallen lassen und sein wahres Ge sicht gezeigt. Neife Varidis befand sich in Lebensgefahr, und die Agentin gab sich selbst die Schuld daran. Wenn sie die Geheim dienstchefin früher über die Existenz des Zellaktivators informiert hätte, wäre diese nie an Bord der ZUIM zurückgekehrt. Stattdessen war sie ihrem gefährlichsten Gegner direkt in die Arme gelaufen. »Ist Oderich bei Ihnen, Ms. Gori?« Die Stimme von Neife Varidis, die sich nicht mit langen Begrüßungen aufhielt, klang besorgt aber gefasst und erfüllte die Agentin mit ungeheurer Erleichterung. »Ja«, sagte sie knapp. »Wo sind Sie, Ms. Varidis?« »Auf der Flucht«, flüsterte es in Ernestas Ohr. »Ihr Auftrag ist da mit natürlich hinfällig. Angesichts der neuen Entwicklungen kom men Sie nicht mehr an Ponter Nastase heran. Wie auch immer: Der Weg zum Hangar ist versperrt. Mein Kollege hat verständlicherwei se kein Interesse daran, dass ich die ZUIM verlasse. Wenn es Ihnen möglich ist, dann kommen Sie mir entgegen. Wir treffen uns im Schubsektor 3-A bei den Dockingbuchten. Und passen Sie auf den alten Mann auf.« »Das werde ich«, bestätigte die Frau und beendete die Verbin dung. Dann wandte sie sich an Oderich Musek. »Sind Sie bewaffnet, Sir?«, fragte sie. Der Berater sah sie an, als hätte sie ihm soeben eine Ohrfeige versetzt. »Natürlich nicht«, stieß er geradezu empört hervor. »Warum sollte ich?«
»Weil Nastases Häscher jeden Moment hier eintreffen werden«, sagte die Agentin. »Wir müssen sie unter allen Umständen aufhal ten und versuchen, bis zu Ms. Varidis vorzudringen. Mit vereinten Kräften steigen unsere Chancen. Wie viele Agenten sind mit auf die ZUIM gekommen?« Oderich Musek überwand seine Erstarrung schnell. Auch wenn er nie im Außendienst tätig gewesen war, so hatte er doch das Basis training absolviert, das alle Mitarbeiter des Geheimen Kalkulations kommandos hinter sich bringen mussten – und dazu gehörte unter anderem das Erlernen einer gewissen mentalen Disziplin: schnelles Erfassen neuer Situationen, Analyse verfügbarer Handlungsalterna tiven und gezieltes Ergreifen aller notwendigen Maßnahmen. »Regeleskorte«, gab Musek knapp Auskunft. »Vier Mann unmit telbarer Personenschutz, vier Mann Reserve. Standardbewaffnung mit Schockern und Kombinadlern. Keine Individualschirme.« Wäh rend er sprach, ging er an einen im Hintergrund des Raums stehen den Arbeitstisch und aktivierte den in die Tischplatte integrierten Interkom. »Musek spricht«, rief er in das vor seinem Mund entstehende Akustikfeld. »Einsatzkode Rot Eins. Sofort alle Zugänge zur Kabi nenflucht besetzen und sichern. Niemand außer der Chefin selbst er hält Zugang. Sie werden vermutlich auf Bürger der Union schießen müssen, meine Herren. Zögern Sie nicht. Wenn Neife Varidis getötet wird oder in die Gewalt Ponter Nastases gerät, sehen wir düsteren Zeiten entgegen. Musek Ende.« Er nickte der Agentin zu und bedeu tete ihr, ihm zu folgen. Durch ein Schott führte er die Frau in den angrenzenden Raum, eine Art Kommunikationszentrale. Mit wenigen Handgriffen zau berte der Berater einen Grundriss des umgebenden Sektors des Sphärenrads auf einen an der Wand angebrachten Bildschirm. »Das ist Ihre Chance, Ms. Gori«, sagte er ernst und deutete auf die Darstellung. »Ich bin Politiker, kein Stratege. Schreiben Sie Ge schichte, und bringen Sie uns hier raus!«
Die Agentin nickte. Mit einem Mal war sie von einer nahezu unna türlichen Ruhe erfüllt. Sie brauchte nur Sekunden, um die kritischen Punkte des Lageplans zu identifizieren. Ein Mittelgang, sechs Räu me, drei auf jeder Seite. An einem Gangende ein Schott, das die Quartiere mit dem zentralen Rundgang von Sphäre 4 verband. Am anderen Gangende ein weiteres Schott, das über einen Verteiler zu den Hangars führte. Die Privatfähre von Neife Varidis hatte ganz in der Nähe angedockt, war jedoch nur über einen einzigen Zubringer zu erreichen. Eine Handvoll Männer konnten diesen problemlos ge gen eine ganze Armee verteidigen. »Wir sind abgeschnitten«, sprach Ernesta Gori ihre Gedanken laut aus. »Ms. Varidis kommt über den Rundgang aus Richtung der Konferenzräume. Die Fähre können wir vergessen. Wir könnten uns in den Quartieren verschanzen, aber dann säßen wir wie die Ratten in der Falle. Früher oder später würde uns Nastase ausräuchern. Ich sehe deshalb nur einen Weg. Wir konzentrieren unsere Streitmacht, gehen Ms. Varidis entgegen und versuchen, uns bis zu den Schub sektoren durchzuschlagen. Mit viel Glück finden wir dort ein Trans portmittel.« »Was ist mit den Transmittern?«, fragte Oderich Musek. Ernesta schüttelte heftig den Kopf. »Die sind garantiert nicht nur bewacht, sondern auch kodiert. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein, Mr. Musek. Unsere Chancen, das Sphärenrad gegen den Willen Pon ter Nastases zu verlassen, tendieren gegen Null.« Der persönliche Berater der Geheimdienstchefin lächelte. Er trat an die Agentin heran und legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Sie sollten nicht denselben Fehler wie Ponter Nastase machen, Ms. Gori«, sagte er. Sie runzelte die Stirn. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, Sir …« »Unterschätzen Sie Neife nicht«, präzisierte Musek seine Aussage. »Aussichtslose Situationen sind ihre Spezialität.«
Atlan Gegenwart »Hier entlang!« Ich war in einen lockeren Laufschritt gefallen und eilte einen Gang hinunter, der von den Magazinräumen weg und weiter in die Tiefen von Sphäre 4 führte. Neife Varidis und ihre Be gleiter würden ganz sicher nicht in den Konferenzräumen verhar ren. Für die Geheimdienstchefin gab es nur ein Ziel: Sie musste das Sphärenrad so schnell wie möglich verlassen. Wenn sie in die Hände von Ponter Nastase fiel, war alles verloren. »Bis du sicher, dass wir in die richtige Richtung laufen?«, erkun digte sich Trilith Okt, die mir mit nur wenigen Schritten Abstand folgte. Ihre Stimme klang trotz der körperlichen Anstrengung ruhig, beinahe gleichmütig. »Neife Varidis muss die ZUIM verlassen«, erläuterte ich ihr meine Überlegungen. »Ihre eigene Fähre dürften Ponter Nastases Leute be wachen. Also wird sie versuchen, sich zu einem der anderen Han gars durchzuschlagen und dort ein Transportmittel zu finden.« »So schlau wird Nastase auch sein«, warf Trilith ein. »Zweifellos«, gab ich zu. »Deshalb müssen wir uns beeilen.« Ich erhöhte das Tempo, als wir auf den breiten Rundgang einbogen, und hielt mich links. Natürlich hatte die junge Frau recht. Wenn der Kalfaktor für Wissenschaften auch nur ein Minimum an Geschick walten ließ, gab es für Neife Varidis keine Möglichkeit, zu entkom men. Wir würden Glück brauchen, eine Menge Glück. »Hey, ihr da! Wo wollt ihr hin?« Die Gruppe aus fünf Uniformier ten war unvermittelt hinter der Gangbiegung aufgetaucht. Ihr An führer, ein groß gewachsener Mann mit spitzer Nase und deutlich hervortretenden Wangenknochen sah uns entgegen, beide Hände
lässig auf das Strahlgewehr gelegt, das an einem Riemen über seiner linken Schulter baumelte. Auch die vier übrigen ZGU-Soldaten wa ren entsprechend bewaffnet. Ihr müsst den Überraschungsmoment ausnutzen, signalisierte der Ex trasinn. Noch weiß niemand, dass ihr hier seid. Ich legte die letzten Meter mit zwei weiten Sprüngen zurück. In unserer Situation hatte Diskutieren keinen Zweck mehr. Wir hätten uns weder legitimieren, noch unsere Anwesenheit an Bord des Sphärenrads hinreichend erklären können. Meine Faust explodierte an der Schläfe des Gegners. Die Wucht des Treffers schleuderte ihn nach hinten, hinein in seine verblüfften Kameraden. Noch bevor die se ihre Gewehre in Anschlag bringen konnten, waren Trilith und ich heran. Die Psi-Kämpferin hatte sofort begriffen, worauf es ankam. Während ich zwei weitere Männer mit schnell geführten DagorSchlägen zu Boden schickte, kam ich nicht umhin, die geschmeidi gen Bewegungen Triliths zu bewundern. Ihr Kampfstil war dem meinen überaus ähnlich, und ich zweifelte längst nicht mehr daran, dass der so genannte All-Kampf, den ihr Romeus Abrom einst beige bracht hatte, mit den arkonidischen Dagor-Techniken identisch war. Laut ihrer Erzählung hatte sie ihren Lehrmeister schließlich getötet und dadurch angeblich den Titel einer Thi-Laktrote erworben. Das wagte ich ernsthaft zu bezweifeln. Um ein Dagor-Hochmeister zu werden, bedurfte es weit mehr als physischer Disziplin und Stärke. Das Dagor war nicht nur eine Technik, die ihre Schüler dazu befä higte, sich in körperlichen Auseinandersetzungen zu behaupten, sondern vor allem eine Philosophie, die die Gewalt verurteilte und den Dagor-Kämpfer als Teil eines komplexen universellen Netz werks definierte. Ich selbst hatte viele Jahrzehnte benötigt, um die von meinem damaligen Lehrmeister Fartuloon beigebrachten Prinzi pien zu verinnerlichen und zu begreifen, dass Gewalt stets nur die letzte aller möglichen Problemlösungen sein durfte. Trilith Okt war von dieser Erkenntnis noch Lichtjahre entfernt. Ich ging in die Knie, nahm zweien der Männer die Strahlgewehre
ab und warf der Frau eines davon zu. Sie überprüfte flüchtig die La deanzeige des Energiemagazins und schulterte die Waffe. Ich tat das Gleiche und richtete mich wieder auf. »Weiter!«, rief ich. Wir hasteten bis zur nächsten Gangmündung. Mit Hilfe meines fo tografischen Gedächtnisses hatte ich den Grundriss des äußeren Rings inzwischen lückenlos rekonstruiert. Die letzten notwendigen Informationen hatten mir die Datenbanken in der Steuerzentrale ge liefert. Die Hangars in den einzelnen Sphären waren sowohl auf die Außen- als auch auf die Innenseiten der Ringe verteilt. Sie gliederten sich unmittelbar an die so genannten Schubsektoren an, die sich wiederum mit Lade- und Dockingbuchten abwechselten. Die dezen tralisierte Anordnung ergab durchaus Sinn, da selbst im Falle einer starken Beschädigung Rettungsboote ausschleusen konnten und eine Evakuierung möglich war. Eine weitere Gruppe ZGU-Soldaten bemerkten wir rechtzeitig, um uns in einen kleinen Raum zurückzuziehen, der vermutlich dem Wartungspersonal als Ausrüstungs- und Umkleidekammer diente. Die ID-Karte des toten Oberst leistete weiterhin wertvolle Dienste und öffnete fast alle Türen. Das würde sich wohl schlagartig ändern, wenn man die Leiche entdeckte. Doch in dem derzeitigen Chaos, das an Bord des Sphärenrads herrschte, konnte es noch einige Zeit dauern. An einem Verteilerknoten bog ich nach links ab. Große, direkt in die Wand geätzte Buchstaben in Interkosmo informierten uns dar über, dass wir nun den Schubsektor 3 A betraten. Wenige Meter weiter spürte ich plötzlich Triliths Hand auf meinem Rücken. Ich stoppte und drehte mich um. Das Gesicht der jungen Frau hatte einen angespannten Ausdruck angenommen. Es sah so aus, als lau sche sie. »Hörst du etwas?«, wollte ich wissen. Ich selbst nahm lediglich ein dumpfes Brummen war, das vermutlich von den zwei Decks unter uns installierten Meilern kam. Trilith nickte, und ich registrierte ver
wundert, dass sie diese typische menschliche Geste offenbar von mir übernommen hatte. »Vor uns«, sagte sie und deutete an mir vorbei in die Richtung, in die wir uns bislang bewegt hatten. »Dort werden Energiewaffen ab gefeuert.« »Dann haben wir alles richtig gemacht«, stellte ich zufrieden fest. »Es ist nicht anzunehmen, dass Ponter Nastases Übernahme des Sphärenrads mit Kämpfen einher geht. Der Mann hatte genügend Zeit, seinen Coup vorzubereiten und seine Leute in die richtigen Po sitionen zu bringen. Wenn da vorne geschossen wird, haben wir Neife Varidis gefunden.« »Und jetzt?«, fragte meine Begleiterin. »Jetzt«, antwortete ich und packte mein Gewehr fester, »kannst du mir beweisen, ob an deinen Geschichten von der großen Psi-Kämp ferin Trilith Okt wirklich etwas dran ist!«
Neife Varidis Gegenwart »Bleiben Sie weiter zurück, Ms. Varidis!« Der über zwei Meter große Mann mit den kurz geschorenen blonden Haaren sah sie nicht an. Seine Aufmerksamkeit galt allein dem vor ihnen liegenden Gangab schnitt. Neife erinnerte sich an den Mann, er hieß Cek Mulligan. Die Mitglieder ihrer Leibwache wurden in unregelmäßigen Abständen ausgetauscht. Oderich Musek hatte auf diesem Vorgehen bestanden, um die Gefahr eines Verrats zu minimieren. Die entsprechenden Ro tationspläne waren nicht einmal der Geheimdienstchefin selbst be kannt; nur ihr persönlicher Berater wusste über die Details Bescheid. Dennoch hatte es sich die Frau zur Gewohnheit gemacht, sich die Namen der jeweils für sie verantwortlichen Agenten einzuprägen. Oderich Musek war in vielen Dingen ein übervorsichtiger Mann. Ab und zu ging ihr sein Kleinmut gehörig auf die Nerven, doch wenn sie einem Menschen in dieser Galaxis bedingungslos vertrau te, dann ihm. Sie hatte ihn vor vielen Jahrzehnten als unbedeutenden politischen Zuträger im Sekretariat für Agrarwirtschaft kennen gelernt. Bis heu te wusste sie nicht zu sagen, warum er ihr damals im Gedächtnis haften geblieben war. Bei einem Botschaftsempfang viele Jahre spä ter trafen sie sich wieder. Die charmante Art Museks, die angenehm von der geheuchelten Freundlichkeit der meisten anderen Menschen in ihrem Umfeld unterschied, hatte sie sofort gemocht. Ihre eigene Karriere stand damals noch am Anfang, und als sie die Leiter Spros se für Sprosse unaufhaltsam nach oben stieg, war Oderich nicht nur in ihrem Beraterstab, sondern auch in ihrem Bett gelandet. Er hatte sie nie enttäuscht. Bisher war die kleine Gruppe noch nicht auf Widerstand gestoßen.
Ungehindert hatte man die Grenze zu den Schubsektoren passiert und hielt nun auf eine Reihe von Dockingbuchten zu. Dennoch hatte sie nicht viel Hoffnung. Es war im Prinzip ausgeschlossen, dass je mand in Gefechtsbereitschaft die ZUIM unbemerkt verlassen konn te. Die Flucht über einen der Hangars war eine der Möglichkeiten, doch dazu musste die Gruppe einen Jäger kapern und sich den Weg freischießen. Ponter Nastase rechnete sicherlich damit, dass Neife die einzige Chance, die ZUIM zu verlassen, nutzen würde. Er würde mit Sicherheit alles daransetzen, dass ihr diese Flucht nicht gelingen sollte. Fieberhaft gingen ihre Gedanken im Kopf, bis sie eine Idee hatte. Es war kaum mehr als ein Strohhalm, an den sie sich klam merte, doch wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand, durfte man nicht wählerisch sein. Cek Mulligan und sein Kollege Limon Pearl bildeten die Vorhut. Sie hatten ihre Kombistrahler gezogen und sicherten das Gelände. Neife Varidis folgte ihnen mit rund zehn Metern Abstand. Ihre Waf fe, ein kleiner Nadler, verschwand fast in ihren großen Händen. Sie trug die Sonderanfertigung, die je nach Justierung mikroskopisch kleine Explosivkörper oder Betäubungskapseln verschoss, üblicher weise in einer um ihren linken Oberschenkel geschnallten Tasche. Ihre Vorliebe für weite, lange Kleider kam ihr diesbezüglich entge gen. Weitere zehn Meter hinter ihr folgten Semat Tomisek und Suraia Pilesti. Die Geheimdienstchefin hatte sofort gemerkt, dass die bei den weit mehr verband als kollegiale Freundschaft. Normalerweise hätte sie solch ein Beziehung innerhalb ihrer Einsatztruppe nicht ge duldet. Neife Varidis war allerdings in solchen Herzensangelegen heiten nachgiebig und gab nicht viel auf die Vorschriften. Liebe und Hass sprengten jedes Gebot. Auch das war eine Lektion, die sie im Laufe ihres Lebens hatte lernen müssen. Und das durchaus auf schmerzhafte Art und Weise. Der Angriff erfolgte kaum eine Minute später mit solch einer
Wucht, dass selbst die Geheimdienstchefin erschreckte. Die grellen Linien mehrerer Energiestrahlen standen von einem Moment auf den anderen im Raum und bildeten dort ein unregelmäßiges Netz. Erst kurz darauf erklang das hässliche Zischen, das entstand, wenn die scharf fokussierten Lichtbündel auf Luftmoleküle trafen und diese ionisierten. Cek Mulligan erhielt nicht einmal mehr die Gelegenheit, einen Schrei auszustoßen. Der Schuss traf ihn mitten in die Brust und be endete sein Leben einen Sekundenbruchteil später. Neife Varidis wusste nur zu genau, was der Treffer eines Thermostrahlers anrich tete. Die Kerntemperatur am Eintrittspunkt konnte kurzzeitig bis zu 48.000 Grad Celsius betragen. Die furchtbare Hitze verdampfte das Gewebe geradezu, und der Betroffene starb am Wundschock, noch bevor das Herz und andere lebenswichtige Organe ihre Arbeit ein stellen konnten. Limon Pearl hatte sich rechtzeitig zu Boden geworfen und zur Sei te gerollt. Sie folgte seinem Beispiel und presste sich eng gegen die Gangwand. Den Nadler nach vorn gerichtet, schob sie sich Zentime ter um Zentimeter weiter. Sie war darauf gefasst, dass es früher oder später zur Konfrontation hatte kommen müssen, doch bislang hatte sie zumindest noch hoffen dürfen, dass es Ponter Nastase nur um ihre Gefangennahme ging. Ein inszenierter Prozess auf Rudyn in klusive Schuldspruch und live übertragener Hinrichtung hätte seine Position zusätzlich gestärkt. Nach diesem Angriff war jedoch klar, dass der Kalfaktor für Wissenschaften kein Risiko eingehen wollte. Lebend war Neife Varidis eine zu große Gefahr. Ihre Stellung in der Hierarchie der Union und die ihr zur Verfügung stehenden Mittel konnten die Pläne Nastases womöglich noch durchkreuzen. Folglich hatte der Mann den Befehl erteilt, sie zu töten. »Wir müssen Deckung nehmen.« Die Stimme von Suraia Pilesti er tönte. Die knapp 50-jährige Blondine mit der beachtlichen Oberweite hatte sich bis zu Neife vorgearbeitet und setzte sich nun vor sie. »Hier draußen stehen wir wie auf dem Präsentierteller.«
Die Geheimdienstchefin stimmte ihr im Stillen zu, doch hier gab es weit und breit nichts, was sich als Deckung nutzen ließ. Vermutlich war genau das der Grund, warum der Angriff ausgerechnet an die ser Stelle erfolgt war. Neife überlegte fieberhaft. Der Gegner schien nicht vorzurücken. Er hatte einen ersten Feuerorkan entfesselt und wartete jetzt ab. Warum? Die Temperatur im Gang hatte sich merklich erhöht, lag bei min destens 60 Grad Celsius. An einigen Stellen war die Wandverklei dung in großen Stücken abgeplatzt oder geschmolzen. Dahinter wa ren Kabelstränge und technische Module zum Vorschein gekom men. Der Gestank nach verbrannter Isolierung stieg ihr in die Nase. Konnte es sein, dass Ponter Nastase die Zerstörungen an Bord des Sphärenrads möglichst gering halten wollte? Noch war die ZUIM nicht vollständig fertig gestellt. Der Zellaktivator hatte den Kalfak tor für Wissenschaften zum verfrühten Losschlagen verführt. Sein ursprünglicher Plan war es wahrscheinlich gewesen, noch mindes tens bis zur offiziellen Indienststellung des Sphärenrads zu warten. »Nehmen Sie den Gangabschnitt vor uns unter Feuer«, befahl Nei fe Varidis, zückte ihren Nadler und jagte die ersten Salven gegen die Decke. Die drei Agenten stellten keine Fragen. Schritt für Schritt zog sich das Quartett vor der entstehenden Höllenglut zurück. Die Luft flim merte, flüssiges Metall tropfte in dicken Fladen zu Boden, bildete dort kurzzeitig wirre Formen, die sofort wieder zu flachen Pfützen zerschmolzen. Die Geheimdienstchefin spürte, wie sich ihre Haut straff über die Gesichtsknochen spannte, wie der Schweiß auf ihrer Stirn verdampfte und die Waffe in ihren Fingern zu glühen schien. Irgendwo heulte eine Sirene. »Los!« schrie Neife Varidis gegen das allgemeine Fauchen und Zi schen an. »Zurück bis zum nächsten Seitengang. Hier kommen wir nicht durch.« Ein Knacken in ihrem rechten Ohr verriet, dass je mand – vermutlich Ernesta Gori – versuchte, Funkverbindung auf zunehmen, doch die Hitze hatte das Gerät beschädigt. Ein paar Mi
nuten später erreichten sie einen Antigravschacht. Limon Pearl streckte prüfend einen Arm aus, schüttelte dann den Kopf. »Abgeschaltet«, meldete er. »Entweder ist das Teil des Sicherheits programms oder Nastases Leute haben den gesamten Sektor lahm gelegt.« Diesmal übernahm die Geheimdienstchefin selbst die Führung. Keiner der Agenten protestierte, allerdings wich Suraia Pilesti kei nen Zentimeter von ihrer Seite. Neife lächelte schwach. Alle Mitglie der der Leibwache erhielten eine persönliche Einweisung von Ode rich Musek. Die Frau wusste nicht, was ihr persönlicher Berater den Männern und Frauen erzählte, aber es musste sehr überzeugend ge wesen sein. Auch wenn die Außendienstmitarbeiter des Geheimen Kalkulationskommandos vom ersten Tag ihrer Ausbildung an dar auf vorbereitet wurden, dass sie eines Tages eventuell ihr Leben für das ihrer Schutzbefohlenen würden opfern müssen, war doch längst nicht jeder vom Wert eines solchen Opfers überzeugt. Selbst die aus gefeiltesten psychologischen Profile konnten täuschen, denn der Ernstfall ließ sich nicht proben. Diesmal hatten sich die Angreifer an einem der zahlreichen Vertei lerknoten verschanzt. Semat Tomisek sah sie als Erster, stieß einen Warnruf aus und warf sich zur Seite. Drei grellrote Energiebahnen kreuzten sich dort, wo er einen Lidschlag zuvor noch gestanden hat te. Neife Varidis fiel auf die Knie und erwiderte das Feuer. Die Mi krogeschosse ihres Nadlers schlugen zu Hunderten in einen Stapel aus Metallkisten ein, den Nastases Männer als Barriere aufgeschich tet hatten, und ließen davon nichts als einen rauchenden Trümmer haufen übrig. Zwei Gegner starben im Sperrfeuer ihrer Agenten, dann hatte sich der Feind neu gruppiert und schlug mit allem, was er hatte, zurück. Limon Pearl, der am weitesten vorgerückt war, robbte flach auf den Boden gepresst in die Nische, die für Wartungsroboter vorgese hen war. Seine beiden Kollegen deckten den Rückzug und gaben
ihm Feuerschutz. Neife Varidis jagte die letzten Salven blind in Richtung der An greifer und wechselte mit geübten Bewegungen das Magazin. Die Kassette in der Größe einer antiken Streichholzschachtel, die in ih rem Innern weitere 25.000 Mikrogeschosse barg, rastete mit hörba rem Klicken in die Verankerung. Sie mussten sich beeilen. Wenn sie ihr Ziel nicht erreichten, bevor ihnen die Munition ausging, konnten sie sich ebenso gut gleich selbst umbringen. »Rückzug!«, rief die Geheimdienstchefin. Semat Tomisek und Su raia Pilesti rannten voraus, Limon Pearl schickte ein paar finale son nenheiße Grüße den Gang entlang und schloss dann hastig auf. Sie kamen gerade einmal zwanzig Meter weit. Semat und Suraia wurden fast gleichzeitig getroffen. Neife wusste nicht, warum für sie in diesem Gedanken etwas Tröstliches mit schwang. Vielleicht deshalb, weil der gemeinsame Tod es den bei den ersparte, den jeweiligen Partner sterben zu sehen. Vielleicht des halb, weil sie der Sinnlosigkeit des Todes mit der Macht ihrer Liebe zumindest für einen Augenblick getrotzt hatten. Der Tod war unbe siegbar. Eines Tages würde das selbst ein Ponter Nastase erkennen müssen, auch wenn ihm sein Zellaktivator noch viele Jahrtausende schenken mochte. Neife Varidis schloss die Augen, als Limon Pearls lebloser Körper neben ihr auf den kochenden Stahlplastboden schlug. Die Hitze machte ihr das Atmen zur Qual. Ihre Lungen knisterten wie im Feu er verglühendes Pergament, schienen sich einen Weg aus ihrem Brustkorb brennen zu wollen. Sie dachte kurz daran, Funkkontakt mit Oderich Musek, Ernesta Gori und dem Rest ihrer kleinen Streit macht aufzunehmen, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Zum einen war der Empfänger nach der Erfahrung von vorhin ver mutlich kaputt, zum anderen war sie kaum noch in der Lage, zu sprechen. Selbst wenn sie Hilfe herbeiholen könnte, wäre es zu spät gewesen. Der Gegner hatte sie eingeschlossen, nahm sie von zwei Seiten gleichzeitig unter Beschuss. Hatte sie wirklich geglaubt, aus
dem Sphärenrad entkommen zu können? Die Frau hob ein letztes Mal ihre Arme, presste den Zeigefinger so hart auf den Abzug des Nadlers, dass es schmerzte.
Atlan Gegenwart In einiger Entfernung vernahm ich die typischen Geräusche feuern der Energiewaffen. Als die Feuersalven aussetzten, bewegten wir uns vorsichtig weiter. Die Dockingbuchten lagen jetzt rechts von uns. »Hörst du etwas?«, fragte ich meine Begleiterin. »Ja«, lautete die knappe Antwort. Sie blieb stehen und bedeutete mir, zu schweigen. Ich musterte ihr von zahlreichen Muttermalen bedecktes Gesicht. Das Feuermal um das rechte Auge und der um den Schädel verlau fende Knochenwulst verliehen Trilith eine enorme Exotik. Die vol len Lippen hatten einen hellen Braunton angenommen, und der aus geprägte Kehlkopf in der Mitte des langen, schlanken Halses schien für einen kurzen Moment ein geheimnisvolles Eigenleben zu entwi ckeln. Schluss damit, ermahnte mich der Logiksektor. Du solltest deine Auf merksamkeit auf das Wesentliche richten. Trilith Okt wird uns noch früh genug beschäftigen. Spätestens dann, wenn du Ponter Nastase den Zellak tivator abgenommen hast. Zuversicht aus deinem nicht vorhandenen Munde?, gab ich mental zu rück. Ich sollte mir diesen Tag im Kalender markieren. Zuversicht ist ein Seil, auf dem viele Narren tanzen, wisperte der Ex trasinn launig. Die Tatsache, dass ich mir meinen Träger nicht aussuchen konnte, hat mir in all den Jahrtausenden vor allem eines abverlangt: die oft schmerzhafte Notwendigkeit, mich deiner irrationalen Hybris anzupassen. Ich verzichtete auf eine Fortsetzung des wenig einträglichen Dia logs, zumal Trilith in diesem Moment wie aus einer Trance zu erwa
chen schien. »Zwei Gruppen«, stieß sie hervor. Ihr Atem ging merklich schnel ler. Das intensive Horchen schien sie angestrengt zu haben. »Jeweils zehn bis fünfzehn Personen. Etwa hundert Meter entfernt. Noch eine weitere Gruppe: vier bis fünf Personen. Und falls das deine Neife Varidis ist, dann läuft sie direkt in einen Hinterhalt.« »Das kannst du alles hören?«, wollte ich ungläubig wissen. »Wenn ich mich konzentriere, ja«, erwiderte Trilith Okt. Sie hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als das Schießen vor uns wie der einsetzte, und diesmal vernehmlich heftiger als zuvor. Ein Schwall warmer Luft strömte uns entgegen. Mit jedem weiteren Schritt stieg die Temperatur im Gang. Achtung! Rechts von dir! Der Impuls des Extrasinns rettete mir das Leben. Ich warf mich instinktiv zur Seite. Der Energiestrahl fuhr nur wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei, und die Hitze versengte mir ein wenig die Haut an der Wan ge. Noch im Fallen feuerte ich zurück. Mein Gegenüber, ein ZGUSoldat in voller Kampfmontur, riss die Augen auf, ließ die Waffe los und ging stöhnend zu Boden. Mein Schuss hatte ihn in die Schulter getroffen. Ich rollte mich ab und kam wieder auf die Beine. Vor mir tauchten weitere Gegner auf. Ich zählte acht Männer mit schweren Kom bistrahlern und Energiegewehren. Sie hatten den Gang abgeriegelt und nahmen das Ziel weiter vorn unter Beschuss. Plötzlich bemerkten sie uns. Sie stellten das Feuer ein und wand ten sich uns zu. Noch bevor ich reagieren konnte, war Trilith Okt an mir vorbeige stürmt – und zum ersten Mal sah ich, was diese ebenso rätselhafte wie eigensinnige Frau zu leisten im Stande war, wenn es die Situati on verlangte. Sie kam wie ein Racheengel über Ponter Nastases Leu te. Das Vibro-Messer in ihrer rechten Faust wischte so schnell durch die flimmernde Luft, dass ich es nur noch als silbern blitzenden Schemen wahrnahm. Zwei der Männer gingen zu Boden, ohne dass
ich sehen konnte, wo Trilith sie getroffen hatte. Das änderte sich erst, als sie sich mit beiden Händen an die Kehlen fassten, um das Blut zu stoppen. Ihre Münder waren weit aufgerissen, doch kein Laut drang daraus hervor. Den nächsten Gegner traf Trilith mit einem Tritt vor die Brust, des sen furchtbare Wucht wahrscheinlich sogar eine arkonidische Brust platte gebrochen hätte. Der Mann flog mehrere Meter durch die Luft, prallte hart gegen die Gangwand und rutschte schlaff zu Bo den. Ob er tot oder nur bewusstlos war, konnte ich auf die Entfer nung nicht feststellen. Die ZGU-Soldaten hatten ihre Überraschung inzwischen über wunden und gingen nun ihrerseits zum Angriff über. Trilith duckte sich unter zwei Gewehrkolben hinweg, die ihren Kopf nur knapp verfehlten. In ihrem Rücken brachte ein weiterer Uniformierter seine Waffe in Anschlag. Ich wollte die Frau warnen, doch das war gar nicht nötig. Wieder schwirrte das Vibro-Messer wie ein glitzernder Irrwisch hin und her, fand die tödliche Klinge ihre Ziele. Trilith Okt bewegte sich mit einer Präzision, die ich auch bei erfahrenen DagorKämpfern nur selten gesehen hatte. Da war nicht die Spur eines Zö gerns, nicht der Hauch von Erschöpfung, kein verräterisches Zucken eines Muskels, nichts. Sie ließ ihren Gegnern keine Chance. Sich dre hen, schlagen, ausweichen, treten, das alles ging nahtlos ineinander über, verband sich zu einer todbringenden Choreographie, der die Helfer Nastases nichts entgegenzusetzen hatten. Trilith benötigte kaum mehr als eine Minute, um die ungleiche Auseinandersetzung zu beenden. Danach wischte sie das VibroMesser an der Uniform eines der am Boden liegenden Männer sau ber und schob es in die Lederscheide. Ich ging an ihr vorbei und folgte der Gangbiegung knapp zwanzig Meter. Eine etwas korpulente Frau mit dunkelbraunen Haaren hock te in der Mitte des Ganges und sah mich fassungslos an. Ihr Gesicht und das lange, graue Kleid, das sie trug, waren von der Hitze ge zeichnet. Neben ihr lag jemand, der vermutlich einmal einer ihrer
Leibwächter gewesen war. Die Spuren eines Feuergefechts mit Ener giewaffen waren überall und unübersehbar. In der rechten Faust hielt die Frau einen Nadelstrahler, den sie nun zögernd auf mich richtete. Ich erkannte Neife Varidis sofort. Zwar hatte ich die Frau nie persönlich getroffen, aber Bilder und Filmaufnahmen von ihr gesehen. Ich hob beide Arme, um ihr zu si gnalisieren, dass ich nicht zu Nastases Häschern gehörte. »Mein Name ist Koramal, Ms. Varidis«, sagte ich. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Für lange Erklärungen haben wir allerdings keine Zeit. Kommen Sie. Es wird nicht lange dauern, bis Verstärkung ein trifft.« Ich zog die Geheimdienstchefin, die sich erstaunlich schnell auf die neue Situation einstellte, auf die Beine. »Wir müssen zu den Dockingbuchten in Schubsektor 3-A«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt, vermutlich die Nachwirkungen der immensen Hitze, die hier geherrscht hatte. Sie räusperte sich. »Wenn es eine Möglichkeit gibt, die ZUIM zu verlassen, dann nur dort.« »Warum?«, wollte ich wissen. Neife Varidis suchte meinen Blick, und ich wich ihr nicht aus. In ihren grünen Augen las ich ein durchaus verständliches Misstrauen. »Für lange Erklärungen haben wir keine Zeit«, entgegnete sie. »Das waren Ihre Worte, nicht wahr, Koramal? Also los jetzt.« Sie musterte Trilith Okt, die inzwischen zu uns aufgeschlossen hatte, sagte aber nichts. Ich hätte zu gerne gewusst, was die Kalfak torin in diesem Moment dachte. Neife Varidis nahm einem der toten ZGU-Soldaten das Strahlge wehr ab und schlug die Richtung ein, aus der wir gekommen waren. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand berührte sie kurz ihr Ohrläppchen und sagte etwas. Vermutlich besaß sie ein implantier tes Funkgerät und versuchte, mit irgendjemandem in Kontakt zu treten. Auch in der USO gehörten solcherlei technische Hilfsmittel
seit langem zum Standard. Ich zuckte mit den Schultern, winkte Trilith und folgte der Ge heimdienstchefin.
Ernesta Gori Gegenwart »Verdammt, Mr. Musek!« Wenn Ernesta Gori ihre Fassung verlor, musste normalerweise schon einiges passieren, doch nun stand sie kurz davor, dem persönlichen Berater von Neife Varidis an die Gur gel zu gehen. »Ich bitte Sie zum letzten Mal und in aller Form, die Waffe an sich zu nehmen. Ihr Verhalten ist unvernünftig und kin disch.« »Wenn alle so unvernünftig und kindisch wären wie ich, wäre un sere Galaxis wesentlich friedlicher, meinen Sie nicht auch?« Oderich Musek hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte die Agentin freundlich an. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch kei ne Waffe abgefeuert, und ich werde jetzt nicht damit anfangen. Nicht für Sie, nicht für Neife, nicht einmal für Ruhm und Ehre der Union.« »Das ist absurd«, begehrte Ernesta auf. »Als Angehöriger des Ge heimen Kalkulationskommandos müssen Sie am regelmäßigen Schusstraining teilnehmen. Mindestens zweimal im Jahr.« »Es gibt einiges, was ich muss, aber dennoch nicht tue.« Sein Lä cheln wurde um eine Spur breiter. »Glauben Sie mir, Ms. Gori, es existieren Mittel und Wege, um sich ungeliebter Pflichten zu entzie hen. Vor allem, wenn man die Chefin des Geheimdienstes beim Vor namen nennt.« »Ms. Varidis weiß davon?«, entfuhr es Ernesta Gori. Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten selbst geohrfeigt. Es stand ihr nicht zu, solche Fragen zu stellen und die Entscheidungen und Me thoden ihrer höchsten Vorgesetzten derart offen zu kritisieren. Sie war alles andere als leichtgläubig oder obrigkeitshörig, doch Hierar chien hatten gerade in militärisch geprägten Organisationen Grund
und Berechtigung. »Entschuldigen Sie, Mr. Musek«, stieß sie hervor. »Ich wollte nicht …« »Ms. Gori.« Oderich Musek trat einen Schritt näher an die Agentin heran und legte den Kopf schief. »Sie müssen sich nicht entschuldi gen. Neife wählt die Männer und Frauen, die sie in ihrer unmittelba ren Nähe duldet, stets aufgrund bestimmter Qualifikationen aus, und mich hat sie ganz bestimmt nicht wegen meiner Schießkünste ausgewählt. Wenn ich eine Waffe in die Hand nehme, verletze ich mich höchstens selbst, und damit wäre – so hoffe ich zumindest – niemandem wirklich gedient.« Die Agentin senkte den Kopf und atmete tief durch. Wie hatte man es ihr doch während der Ausbildung eingeschärft: Zivilisten sind vor allem eines – unberechenbar. Erst jetzt erkannte sie, wie recht ihre Lehrer einst gehabt hatten. Neife Varidis hatte sich nicht mehr gemeldet, und auch Ernesta selbst hatte bislang keine Veranlassung gesehen, einen Kontakt her zustellen. Der Treffpunkt war bekannt, und wer immer ihn als erster erreichte, würde den jeweils anderen informieren. Die Agentin schüttelte unmerklich den Kopf, als Oderich Musek wieder einmal neben ihr auftauchte. Sie hatte dem Mann wohl schon ein halbes Dutzend Mal erklärt, dass es viel zu gefährlich war, voranzugehen, vor allem, wenn man sich weigerte, eine Waffe zu tragen. Doch der Berater ließ sich nicht belehren. Schließlich hatte Ernesta aufgegeben. Vielleicht hatte Musek ja sogar recht. Wenn ihre kleine Gruppe in ein Feuergefecht geriet, machte es wenig Unter schied, wo sich jeder Einzelne aufhielt. Sie kamen zügig voran. Ernesta Gori und Oderich Musek vorne weg, die vier Agenten der Reserve dahinter. Niemand hielt sie auf. Niemand begegnete ihnen. Erst als sie die unsichtbare Grenze zu den Schubsektoren überschritten und sich Abschnitt 3-A näherten, kam es zu einem Zwischenfall. Ernesta hatte das Schott soeben pas siert, als es sich unvermittelt öffnete.
Die Agentin reagierte mit antrainierter Schnelligkeit, fuhr herum, riss die Waffe hoch und ging in die Knie. Der Mann mit dem altmo dischen Mittelscheitel und den viel zu großen Ohren reichte der Frau kaum bis zum Kinn. Ein weißer Schraubenschlüssel auf der grauen Kombination wies ihn als Techniker der Klasse 4 aus. Völlig entgeistert starrte er auf das flimmernde Abstrahlfeld vor der Mün dung von Ernestas Kombinadler. Es handelte sich um eine der Er satzwaffen ihrer vier Kollegen. »Ich … ich … nicht schießen …«, stammelte das Männchen und reckte die Arme in die Höhe. Mit einem Stirnrunzeln registrierte die Agentin, dass er keine Stie fel trug. »Wer sind Sie, und was machen Sie hier?«, fragte sie scharf. »Ich bin … ich heiße Saul Puskasz«, kam es stockend, »und ich …« Der Mann zog die Nase hoch. Seine Augen glänzten feucht. Bei Ephangs Schatten, dachte Ernesta, der Kerl wird doch jetzt nicht anfangen zu weinen. »Beruhigen Sie sich«, sagte sie versöhnlich und ließ die Waffe sin ken. »Auf der ZUIM herrscht Gefechtsbereitschaft. Sie sollten entwe der in Ihrer Kabine oder auf dem Ihnen zugewiesenen Posten sein. Stattdessen laufen Sie hier in der Gegend herum. Noch dazu ohne Stiefel.« Sie deutete auf die Füße des Technikers. »Wo sind Ihre Stie fel?« »Meine Stiefel?« wiederholte Saul Puskasz. »Also die, die sind … ich habe sie … gewissermaßen verloren. Äh … das ist eine wirklich verrückte Geschichte, die …« »… mich im Moment wirklich nicht interessiert!« unterbrach ihn Ernesta Gori. Der Mann wirkte mit einem Mal enttäuscht. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Mr. Puskasz«, sagte die Agentin. »Verschwinden Sie, und zwar sofort. Gehen sie am besten in ihre Kabine, dort können Sie keinen Schaden anrichten. Bei der nächsten
Begegnung haben Sie womöglich nicht so viel Glück und verlieren neben Ihren Stiefeln auch noch Ihr Leben.« Der Techniker schluckte hörbar, nickte dann eifrig und zog unter lautem und unverständlichem Grummeln davon. Ernesta schüttelte den Kopf. Diese Begegnung hatte etwas seltsam Irreales. Oderich Musek sah sie von der Seite an. Seine Miene drückte Be sorgnis aus. »Geht es Ihnen gut, Ms. Gori?«, erkundigte er sich. »Ja«, beeilte sie sich zu versichern. »Ja, danke. Es geht schon wie der.« Dann durchzuckte sie ein höchst beängstigender Gedanke. »Der Mann gerade eben, dieser Saul Puskasz …«, sie sah nervös zu den vier Agenten hinüber, die die Umgebung sicherten und zumin dest den Anschein vermittelten, dem Gespräch zwischen ihr und dem Berater nicht zu folgen, »… Sie haben ihn doch auch gesehen, nicht wahr?« Oderich Musek schenkte ihr erneut ein Lächeln. »Selbstverständlich, Ms. Gori«, bestätigte er. »Wenn Sie sich Sor gen machen, dass Sie womöglich halluzinieren, so kann ich Sie beru higen. Können wir jetzt weiter?« Bevor Ernesta etwas sagen konnte, heulte erneut Alarm durch die Gänge und Hallen des Schubsektors 3-A. Kurz darauf verstummte er wieder, das Geräusch hastiger Schritte klang auf. Die Agentin versuchte die Richtung zu lokalisieren, aus der das Getrampel kam. Mit einem Druck auf das Ohrläppchen aktivierte sie das Funkgerät – eine Verbindung kam nach wie vor nicht zustande. Außer einem lei sen Knacken war nichts zu hören. Ernesta Gori winkte den Rest der Gruppe zu sich heran. Ihre vier Kollegen hatten es akzeptiert, dass sie die Führung übernahm, ver mutlich, weil Oderich Musek von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er die Agentin für befähigt hielt. Sie hatte noch nie zu den Menschen gehört, die gern im Rampen licht standen oder die das, was sie taten, an die große Glocke häng ten. Allerdings hatte sie schon immer gern Verantwortung über
nommen. Vor vielen Jahren, als sie noch in Simbalain, einem winzi gen Kaff fünfhundert Kilometer von Genzez entfernt, zur Schule ge gangen war, war ihr eine defekte Lesespule in die Hände gefallen. Sie hatte so lange an ihr herumgeschraubt, bis sich ein Teil des In halts wieder auslesen ließ, und war auf eine Zitatensammlung alter terranischer Philosophen gestoßen. Der Ausspruch eines gewissen Laotse, der angeblich im dritten oder vierten Jahrhundert v. Chr. ge lebt hatte, hatte sie besonders beeindruckt: Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut. Der Satz war quasi zu ihrem Lebensmotto geworden, denn in vie len Situationen, die sie in den vergangenen Jahrzehnten hatte meis tern müssen, hatte sie sich an Laotses Erkenntnis erinnert. Jede Ent scheidung, die man traf, hatte Konsequenzen. Konsequenzen für einen selbst, aber auch für andere. Und das Gleiche galt für Ent scheidungen, die man nicht traf, die man, aus welchen Gründen auch immer, hinauszögerte oder deren Dringlichkeit man einfach ignorierte. Über einen Quergang, von dem mehrere Türen abzweigten, ge langten sie in den Hauptkorridor. Von dort aus gab es direkte Zu gänge zu den Lade- und Dockingbuchten. Immer wieder aktivierte Ernesta den Funkempfänger, ein Kontakt mit Neife Varidis kam ein fach nicht zustande. Dabei musste die Geheimdienstchefin ganz in der Nähe sein. War sie womöglich längst tot? Die Frau weigerte sich, das zu glauben. Nicht nur in den Reihen ihrer Agenten war Neife Varidis eine lebende Legende. Mit ihrer Er nennung zur Kalfaktorin hatte der unaufhaltsame Aufstieg der Uni on zum galaktischen Machtfaktor erst richtig begonnen. Sie hatte den goldenen Mittelweg zwischen einer Politik der Stärke und des Ausgleichs gefunden und ihn gegen viele Widerstände durchge setzt. Wie die Geheimdienstchefin war auch Ernesta Gori davon überzeugt, dass die Zukunft der ZGU in einer Öffnung nach außen lag, und dass die von einer Reihe anderer Kalfaktoren befürwortete Abschottung der Union früher oder später zum Zusammenbruch führen musste. Wenn Neife Varidis starb, dann starb auch die Hoff
nung, dass die ZGU eines Tages zu einem Teil einer großen, die ge samte Milchstraße umfassenden Völkergemeinschaft wurde. Ponter Nastases Weg war der Weg in den Untergang. Vor ihnen klangen erneut Schritte auf. Die Agentin bedeutete Ode rich Musek, zurückzubleiben und postierte zwei ihrer Kollegen in nerhalb des Quergangs, aus dem sie gekommen waren. Die beiden übrigen Männer gingen hinter ihr in Stellung. Es dauerte Sekunden, bis sie bemerkte, dass die zuvor gehörten Schritte verstummt waren. Ernesta Gori atmete so flach wie möglich, versuchte das allgegen wärtige Summen ferner Maschinen auszublenden, doch so sehr sie auch lauschte, da war nichts mehr. Waren die anderen in einen wei teren Quergang abgebogen? Hatten sie ihrerseits die Schritte der Agentin und ihrer Begleiter registriert und lauerten jetzt auf eine Gelegenheit zum Angriff? Ernesta Goris Gedanken über die Situation wurden jäh unterbro chen, als eine fremde Frau mit unglaublicher Geschwindigkeit und einem gewaltigen Messer in der Hand auf sie zuraste.
Atlan Gegenwart »Kein Glück?«, fragte ich und deutete flüchtig auf das rechte Ohr von Neife Varidis. Die Geheimdienstchefin zuckte mit den Schultern. »Vermutlich ist der Empfänger durch die Hitze beschädigt worden«, erwiderte sie. Ich nickte und verzichtete darauf, noch etwas dazu zu sagen. Sie wusste so gut wie ich, dass das Nichtzustandekommen der Funk verbindung auch bedeuten konnte, dass niemand mehr am Leben war. »Also, Koramal«, sagte Varidis, als wir unseren Weg gemeinsam fortsetzten. »Wollen Sie mir erzählen, was Sie an Bord der ZUIM machen?« »Ich war Mitglied einer der von Ihnen eingeladenen Handelsdele gationen«, erklärte ich. »Als die Unruhen begannen, müssen meine Begleiterin Trilith und ich wohl irgendwo eine falsche Abzweigung erwischt haben.« Narr, wisperte der Extrasinn. Glaubst du tatsächlich, du könntest die se Frau täuschen? »Wenn Sie mir nicht das Leben gerettet hätten«, sagte Neife Vari dis müde lächelnd, »müsste ich Ihre Antwort als Beleidigung auffas sen.« Sie schaute mich kritisch von der Seite an. Ihr Lächeln vertiefte sich. Ich hatte das Gefühl, auf einem Seziertisch zu liegen. »Sie sind Arkonide und tragen eine Uniform der ZGU. Was haben Sie mit dem ursprünglichen Besitzer der Rangabzeichen gemacht?« Sie deutete auf meine Uniform. »Ich …«, begann ich zögernd, entschied mich aber dann, bei der Wahrheit zu bleiben, auch wenn die wahre Schuld eigentlich bei Tri
lith lag. Die Geheimdienstchefin und ich waren im Moment aufein ander angewiesen, und Neife Varidis war zu klug, um mir irgendei ne lahme Lügengeschichte abzukaufen. »Es war ein Unfall«, sagte ich fest. »Der Tod des Mannes tut mir leid, aber was geschehen ist, kann ich nicht mehr ändern.« »Gehören Sie zu einem der arkonidischen Geheimdienste?«, wollte sie wissen. »Nein«, beantwortete sie sich die Frage selbst, noch be vor ich etwas erwidern konnte. »Die Arkoniden haben genug mit dem Zerfall ihres eigenen Imperiums zu tun, als dass sie sich um Emporkömmlinge aus den Reihen der übrigen Milchstraßenvölker kümmern würden. Sie arbeiten für eine andere Organisation, habe ich recht?« »Ja«, gab ich zu. »Da liegen Sie nicht ganz falsch. Aber vielleicht sollten wir das später diskutieren, und …« »Ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe«, unterbrach mich die Kalfaktorin und blieb stehen. »Wollen wir das Spiel nicht gleich hier und jetzt beenden, Lordadmiral Atlan?« Ich schloss für eine Sekunde die Augen. Natürlich. Wie hatte ich auch nur für einen Moment glauben können, dass man mit den pri mitiven Mitteln, die auf einem Handelsraumer zur Verfügung stan den, eine brauchbare Maske anfertigen konnte? Einem flüchtigen Blick, einer oberflächlichen Überprüfung mochte die Tarnung stand halten, nicht jedoch dem beruflichen Argwohn einer so erfahrenen Beobachterin, wie Neife Varidis es war. »Es passt alles zusammen«, sprach die Geheimdienstchefin weiter. »Ein persönlicher Einsatz des Lordadmirals der USO im Hoheitsge biet einer fremden Macht ist ein immens hohes Risiko. Wenn Ihre Anwesenheit hier bekannt wird, käme das einem politischen Erdbe ben mit unabsehbaren Folgen gleich. Was also könnte ein derart fahrlässiges Spiel mit dem Feuer wert sein? Der Zellaktivator, rich tig?« »Wie ich sehe, sind die Berichte, die ich in Quinto Center über Sie gelesen habe, keineswegs übertrieben, Ms. Varidis. Ihre Kombinati
onsgabe ist hervorragend!«, sagte ich. »Doch so sehr ich mich darauf gefreut habe, Sie einmal persönlich kennen zu lernen, so sehr habe ich auch gehofft, es würde unter angenehmeren Begleitumständen geschehen. Was halten Sie von einer Art gegenseitigem Beistands pakt? Ihr Kollege Ponter Nastase hat etwas, das ich gerne hätte, einen Zellaktivator. Und er will etwas, das Sie gerne behalten wür den, Ihr Leben. Wie sagte Nastase doch vor einer knappen Stunde: ›Gemeinsam sind wir alles! Erfolg durch das Miteinander!‹« »Auch ich habe ein paar Berichte über Sie gelesen, Lordadmiral. Und die besagen, dass Sie sich an einmal getroffene Abmachungen halten. Geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie alle Aktionen, die sich auf die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Union und des Ephele gon-Systems auswirken, mit mir abstimmen?« »Ich verfolge keinerlei politische Interessen. Sie haben mein Wort, Ms. Varidis! Und ich würde es als ein Zeichen Ihres guten Willens ansehen, wenn Sie mich Atlan nennen.« »Nun«, lächelte die Geheimdienstchefin. »Vorerst sollte ich Sie vielleicht weiterhin Koramal nennen. Man weiß schließlich nie, wer alles zuhört.« Ich erwiderte das Lächeln und neigte den Kopf zum Zeichen des Einverständnisses. Dann setzten wir uns erneut in Bewegung. Trilith Okt war unserem kurzen Dialog mit wachsender Ungeduld gefolgt, hatte aber nichts gesagt. Dafür trieb sie uns jetzt umso tempera mentvoller zu erhöhtem Tempo an. Wir hatten bereits genug Zeit verloren. Meine Einschätzung bezüglich des Charakters der Kalfaktorin hat te mich nicht getrogen. Die Frau hatte sich nicht nur erstaunlich schnell von der Tatsache erholt, dass sie dem Tod nur um Haares breite entronnen war, sondern auch keinerlei Überraschung ob mei ner Anwesenheit auf der ZUIM gezeigt. Ich hoffte auf eine Gelegen heit, mich ausführlicher mit ihr unterhalten zu können. Womöglich bot sich hier eine einmalige Chance, eine mächtige Verbündete im Kampf für den Frieden in der Milchstraße zu gewinnen. Vorausge
setzt, es gelang, die ehrgeizigen Pläne eines Ponter Nastase zu durchkreuzen, eine Aufgabe, die alles andere als leicht werden wür de. »Halt.« Trilith Okt hatte das Wort nur gedämpft hervorgestoßen. Neife Varidis und ich blieben augenblicklich stehen. Ich bedeutete der Geheimdienstchefin, zu schweigen. Nach wenigen Sekunden drehte sich Trilith um, ging leise zu mir hinüber und flüsterte in mein Ohr. »Vor uns ist jemand«, sagte sie. »Mindestens fünf Personen. Bleibt hinter mir! Ich kümmere mich um alles.« »Dir macht das hier richtig Spaß, stimmt's?«, fragte ich ebenso lei se. Trilith Okt sah mich an und hob die Augenbrauen. »Dir nicht?« Sie wandte sich ab, zog ihr Vibro-Messer und huschte mit geschmeidi gen Bewegungen davon. »Eine Ihrer Agentinnen, Koramal?«, erkundigte sich die Kalfakto rin. Ich schüttelte den Kopf ein wenig zu heftig. »Bei allen Göttern Arkons«, stieß ich aus. »Malen Sie nicht den Teufel an die Wand.« Der Schrei war der einer Frau. Im selben Moment zuckte ein Ener giestrahl durch den Gang und schlug funkensprühend in eine der Wände. Ich hob mein Gewehr und sprintete Trilith Okt mit langen Sätzen hinterher. Das Erste, was ich sah, war eine hagere Frau mit kurzen, blau gefärbten Haaren. Sie lag am Boden und hielt sich die blutende Schulter. Trilith hatte sich zwei Männern zugewandt, die aus einem Seiten gang getreten waren. Einer von ihnen musste den Schuss abgefeuert haben – zu mehr hatte ihm die Psi-Kämpferin keine Gelegenheit ge geben. Ihr Messer war bis zum Heft in seine Brust gedrungen und hatte ihn auf der Stelle getötet. Im Hintergrund schirmten zwei weitere Uniformierte einen älte ren Mann ab, der offenbar als einziger keine Waffe trug. Ich begriff
sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Das konnten unmöglich die Anhänger Ponter Nastases sein. »Aufhören!«, schrie Varidis mit schneidender Schärfe. »Sofort!« »Trilith!«, unterstützte ich die Kalfaktorin lautstark. »Schluss da mit! Das sind nicht unsere Feinde!« Trilith Okt hielt tatsächlich inne. Ihr Kopf ruckte nervös nach links und rechts, und für lange Sekunden hatte ich den Eindruck, dass sie ihre Aggression nicht unter Kontrolle bekam, dass sich die Energie, die in ihr steckte, und die sie entfesselt hatte, auf irgendeine Art und Weise entladen musste. Sie hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, wie ein gefährliches Tier, das man in die Enge getrieben hatte. Dann jedoch entspannten sich ihre Züge, sie ließ den Atem mit einem langen Seufzer entweichen und die Faust mit der blutigen Klinge sinken. »Oderich!« Neife Varidis lief auf den alten Mann zu und schloss ihn flüchtig in die Arme. Er wirkte blass, so als würde er unter Schock stehen. Schließlich beugte sich die Kalfaktorin zu der am Bo den liegenden Frau hinunter und untersuchte deren Verletzung. »Wie schlimm ist es, Ms. Gori?«, fragte die Geheimdienstchefin. »Ich werde es überleben«, antwortete die Angesprochene und quälte sich mit Hilfe der Kalfaktorin auf die Beine. »Wer sind diese Leute?«, wollte sie stöhnend wissen. »Das erkläre ich Ihnen später«, wehrte Neife Varidis ab. »Wir müs sen weg hier. Ich verstehe ohnehin nicht, warum Nastases Schergen nicht schon längst zugeschlagen haben.« Sie hat recht, wisperte der Extrasinn. Ponter Nastase handelt nicht schlüssig. Hast du eine Erklärung dafür?, fragte ich. Möglicherweise, kam es zögernd von meinem zweiten Ich. Wenn wir davon ausgehen, dass der Kalfaktor für Wissenschaften aufgrund des Zel laktivators früher als geplant losgeschlagen hat und zudem nicht damit rechnen konnte, dass sich Neife Varidis zu diesem Zeitpunkt persönlich an
Bord der ZUIM befindet, dann hat er nicht genügend Personal, um die entsprechenden Sektoren lückenlos zu überwachen respektive an allen neuralgischen Punkten Männer zu postieren. Also wird er uns so lange gewähren lassen, bis wir an einem bestimmten Punkt angekommen sind, wo er seine Truppen zusammenziehen kann, führte ich die Überlegungen des Logiksektors fort. Das sehe ich genauso, wisperte es in meinem Kopf. Wenn ich mich nicht irre, hat sich Neife Varidis mit ihrer Gruppe von Beginn an auf den Schubsektor 3-A zubewegt. Die Stelle, an der wir sie gefunden haben, mar kiert den einzigen Punkt, an dem sie zurück in die inneren Sektoren von Sphäre 4 hätte ausweichen können. Genau dort erfolgte der Angriff. Und jetzt stehen wir direkt vor den Zugängen zu den Lade- und Dockingbuchten, nahm ich den Faden auf. Von hier gibt es nur einen Weg zurück, nämlich den, den wir gekommen sind. Wir stecken in einer Sackgasse. In diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Zum einen wurde der Gang von einer heftigen Erschütterung erfasst. Der Bo den zitterte so stark, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. Zum anderen bliesen Ponter Nastases Männer zum finalen Angriff.
Holzer M. Buchard Gegenwart »Geht's wieder?« Fresko Balibaris Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. Holzer M. Buchard grinste schief zurück und rieb sich mit Zeigeund Mittelfingern die Schläfen. In seinem Kopf wallte dichter Nebel über die vom Vurguzz getränkte Ebene der Sinnlosigkeit, dabei fragte er sich zum wiederholten Mal, was er hier eigentlich tat. Er hätte in seiner Kabine bleiben und sich krank melden sollen. »Frag mich morgen noch mal«, sagte er. »Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?« »Weil ich dein Freund bin«, stellte Fresko fest. »Und weil ich dich nicht leiden sehen kann.« »Ich leide aber«, begehrte Holzer auf. »Deshalb schaue ich ja auch weg«, erwiderte sein Gegenüber und brach in ein schrilles Gackern aus, das durch den gesamten Schub sektor 3-A hallte. Holzer M. Buchard seufzte. Die Durchsage Ponter Nastases war noch keine zehn Minuten verklungen, da war Fresko in seine Kabine gestürmt. Beim Anblick der leeren Vurguzz-Flasche und dem von Seelenschmerz gezeichneten Antlitz seines Freundes erfasste er so fort, dass ein weiteres Tete-à-tete des Technikers nicht in der ge wünschten Weise verlaufen war. »Mist!« Fresko Balibari stand an einem Eingabepult und malträ tierte ein Sensorfeld mit seinen Wurstfingern. Ein wiederkehrendes Piepsen signalisierte, dass die Positronik seine Eingaben partout nicht annehmen wollte. Holzer seufzte erneut, erhob sich von dem Sessel, in dem er bis
lang vor sich hin gebrütet hatte, trat neben den Lademeister und schob ihn kurzerhand beiseite. »Der gesamte Schubbereich ist im Teilalarmzustand«, sagte er. »Alle Befehlsfolgen, die auf Primärsysteme zugreifen, müssen per Schlüsselkode bestätigt werden. Du solltest die teuren Handbücher in deinem Quartier auch mal lesen. Wie lautet dein ID-Kode?« »Vier-null-fünf-neun-sechs-drei-fünf«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Und was die Handbücher betrifft: Da sind keine Bilder drin.« »Du bist ein Kindskopf«, erwiderte Holzer M. Buchard und gab die genannten Zahlen ein. Ein grünes Licht signalisierte, dass die zu vor getippten Befehle akzeptiert worden waren. Fresko Balibari schlug seinem Freund begeistert auf die Schulter. Er wollte etwas sagen, aber in diesem Moment ertönte ein lautes Krachen, das sich als Echo durch die gesamte Ladebucht fortpflanz te. Der Boden erzitterte. »Was … was war das?« Holzer M. Buchards Gesicht war kreide weiß. Hatten die Truppen der verräterischen Neife Varidis die ZUIM un ter Beschuss genommen? Stand das Sphärenrad kurz davor, unter den Salven der angreifenden Verbände auseinanderzubrechen? »Bleib locker, Kumpel«, winkte Fresko ab. Dann wandte er sich um. »Hey, Kawolski!« brüllte er. Dieser saß am anderen Ende der Ladebucht vor einer Bildschirmgalerie. »War das wieder die Be kloppte mit ihrem Müllfrachter?« Der Angesprochene hob nur resi gnierend beide Arme, zog ein Mikrofon zu sich heran und begann zu sprechen. Er war zu weit entfernt, als dass Holzer etwas hätte verstehen können. »Mitty Kawolski«, sagte Fresko. »Unser Schichtleiter. Netter Kerl, aber Patty tanzt ihm immer wieder auf der Nase herum.« »Patty?«, fragte Holzer M. Buchard gegen seinen Willen. Eigent lich interessierte es ihn nicht im Geringsten, wer Schichtleiter Mitty
Kawolski auf der Nase herum tanzte, aber da sein Herz ob des Schrecks nach wie vor mit vierfacher Schlagzahl pumpte, war er froh, dass Fresko ihn mit einer seiner langweiligen Geschichten ab lenkte. »Pattevkaja Ochomsova«, präzisierte sein Freund. »Eine völlig durchgeknallte Müllkutscherin. Sie bringt die Segmentcontainer vom Sphärenrad in die Wiederaufbereitungszentren auf Rudyn. Kommt in der Regel zwei bis drei Mal pro Woche – und jedes Mal knallt sie gegen die Außenhülle der Dockingbucht. Gibt immer einen mächtigen Rumms.« »Wieso tut sie das?«, wollte der Techniker wissen. »Wenn sie die Andockroutine der Frachterpositronik überlässt …« »… wäre sie nicht Patty Ochomsova«, unterbrach ihn Fresko. »Ich sag doch: Das Mädchen hat sie nicht alle. Hey …«, er machte eine Pause, als wäre ihm gerade eine geniale Idee gekommen, »… soll ich sie mal fragen, ob sie mit dir ausgehen will? Ihr beide würdet prima zueinander passen.« Das schrille Lachen des Lademeisters wurde von einem dumpfen Summen unterbrochen. Auf der Konsole vor dem Eingabepult pulsierte ein rotes Licht. »Was, zum Teufel …?« Fresko Balibari hackte ärgerlich auf das Sensorfeld ein. »Lass mich mal, Blödmann«, sagte Holzer und schob seinen Freund erneut zur Seite. Der überließ ihm bereitwillig die Initiative. »Fehlfunktion der Messautomatik«, diagnostizierte er mit Kenner blick. »Deine Patty hat mit ihrem Manöver wohl einige Subcontrol ler durcheinandergewirbelt. In vier von fünf Ladebuchten sind die Vitalscanner ausgefallen.« »Scheiße!«, entfuhr es Fresko voller Inbrunst. »Diese dämliche, übergeschnappte, unzurechnungsfähige …«, er hielt inne und sah Holzer in die Augen. »Kannst du das reparieren?« »Klar«, erwiderte der Techniker. »Kostet mich höchstens drei Mi nuten. Aber musst du so etwas nicht melden?«
Fresko Balibari blickte verstohlen nach rechts und links und trat dann unangenehm nah an Holzer heran. »Klar muss ich das, Kum pel«, flüsterte er. »Aber den fälligen Schadensbericht muss ich in meiner Freizeit ausfüllen, weil die Ladekontrollen nicht unbeauf sichtigt bleiben dürfen. Weißt du, wie lange so etwas dauert?« »Na ja …«, begann Holzer M. Buchard, doch Fresko Balibari pack te ihn fest an den Armen. »Mit dem letzten Personaltransport vor der Gefechtsbereitschaft sind ein paar richtige Geschosse eingetroffen, mein Bester«, sagte er im Verschwörerton. »Echte Arkonbomben, wenn du verstehst, was ich meine. Wenn du mir hilfst, hast du ihre Daten noch heute Abend.« Holzer M. Buchards Bedenken hielten dem verheißungsvollen Au genzwinkern seines Freundes nur ein paar Atemzüge stand. Er stöhnte auf, griff zu seinem Multifunktionswerkzeug und machte sich an die Arbeit.
Atlan Gegenwart Diesmal bot Ponter Nastase alles auf, was er bislang zurückgehalten hatte. Der Mann, den Neife Varidis Oderich genannt hatte, war ihr persönlicher Berater. Ich kannte den Namen aus mehreren Berichten meiner auf Rudyn stationierten Spezialisten. Er packte die Geheim dienstchefin energisch um die Hüften und zog sie in Richtung eines großen Doppelschotts, das in eine der fünf in diesem Schubsektor verteilten Dockingbuchten führte. Die verletzte Agentin folgte mit gezogenem Strahler. Sie hatte den Ärmel ihrer Uniform abgerissen und zu einem notdürftigen Ver band umfunktioniert. Ansonsten bemühte sie sich, die klaffende Wunde, die Trilith ihr beigebracht hatte, zu ignorieren. Mit einem Mal war mein Zorn auf die geheimnisvolle Frau wieder da, die erneut einen Unschuldigen getötet und eine weitere Person verletzt hatte. Allerdings gaben mir die heranrückenden Truppen Ponter Nastases keine Gelegenheit mehr, weiter über dieses Thema nachzudenken. Links und rechts von mir schlugen die Energiebahnen der Angrei fer ein und verwandelten den Gangabschnitt in ein flammendes In ferno. Überrascht registrierte ich, dass der Gegner diesmal auch schwere Thermostrahler einsetzte. Innerhalb weniger Sekunden stieg die Temperatur auf etwa hundert Grad Celsius. Ein ungeschützter Ter raner konnte unter diesen Umständen nur kurze Zeit überleben. Ich jagte Salve um Salve in die vor mir aufragende Feuerwand, bis das Energiemagazin des erbeuteten Strahlengewehrs leer war. Dann zog ich die Handwaffe von Oberst Melvin Alachaim, die bislang im
Gürtel meiner Uniform gesteckt hatte. Angesichts der mörderischen Hitze war selbst Trilith Okt dazu übergegangen, ihr Gewehr zu be nutzen. Die drei Agenten, die vermutlich zur Leibwache von Neife Varidis gehörten, schossen mit handlichen, aber sehr durchschlags kräftigen Nadlern. »Raus hier!«, brüllte ich. Ich spürte, wie mein Zellaktivator an mei ner Brust pulsierte. Einer der Agenten kippte röchelnd vornüber. Das Feuer hatte fast sämtlichen Sauerstoff verbraucht. Ich packte den Mann an den Knö cheln und schleifte ihn hinter mir her. Weit kam ich nicht, denn ich diesem Moment gab es in meinem Rücken eine gewaltige Explosion. Die nachfolgende Druckwelle fegte glühend durch den Gang, brach sich am nach wie vor geschlossenen Schott und brandete in den Kor ridor zurück. Trilith Okt hatte sich auf mich geworfen und mit ihrem Körper vor den schlimmsten Folgen der Explosion – vermutlich eine Thermo granate – bewahrt. Jetzt sprang sie auf und zog mich brutal auf die Füße. Ihre Uniform wies an Armen, Beinen und Rücken große Brandflecken auf. Wenn sie Schmerzen hatte, ließ sie sich nichts an merken. Sie versetzte mir einen Stoß, und ich taumelte nach vorn. Salziges Sekret, bei meinem Volk äußeres Zeichen höchster Erre gung, lief mir in die Augen und erschwerte die Sicht. Ich wischte es mit dem Handrücken so gut es ging weg. Ein kurzer Blick über die Schulter bewies mir, dass sich meine düstere Ahnung bewahrheitet hatte. Die drei Agenten lagen leblos und mit grotesk verrenkten Gliedern zwischen den Trümmern der herabgebrochenen Decke. »Schnell!« Neife Varidis zog mich durch eine rechteckige Öffnung in der Wand, die bislang von einer metallenen Klappe verborgen ge wesen war. Vielleicht handelte es sich um einen Zugang für Wartungsroboter. Hauptsache weg von dieser furchtbaren Hitze. Erst jetzt merkte ich, dass es kaum eine Stelle an meinem Körper gab, die nicht weh tat.
Der Zellaktivator arbeitete nach wie vor im Akkord und half mir bei der Regeneration. Wir hielten uns in der kleinen Kammer auf! Eine Tür führte uns weiter in einen schmalen Gang, der etwa zehn Meter geradeaus ging und an einem weiteren Schott endete. Oderich Musek kümmerte sich um die Agentin, die mit schmerz verzerrtem Gesicht zu Boden gesunken war. Der Notverband glänz te nass im Licht eines Deckenstrahlers. Offenbar ließ sich die Blu tung nicht stoppen. »Wo …«, krächzte ich, räusperte mich und versuchte es erneut. »Wohin gehen wir? In den Dockingbuchten sitzen wir in der Falle.« »Ich weiß«, fauchte die Kalfaktorin. »Aber es gibt einen Ausweg. Ich gebe zu, es ist nicht mehr als eine vage Hoffnung, aber wir müs sen es wenigstens versuchen.« Sie schwieg für einen Moment und holte keuchend Atem. In ihrer Position war sie an Einsätze und Belastungen dieser Art nicht ge wöhnt. »Ich habe die Konstruktionspläne des Sphärenrads in den vergan genen Jahren immer wieder studiert«, fuhr sie schließlich fort. »Während der einzelnen Bauabschnitte fallen große Mengen an Ab fällen, aber auch an wiederverwertbaren Substanzen an. Die Kon verter der ZUIM sind nicht in der Lage, diese Mengen zu bewälti gen. Deshalb gibt es Transporter, die den Müll und andere Reststof fe mehrmals pro Woche abholen und in die Recyclingzentren auf Rudyn befördern. Dies geschieht in so genannten Segmentcontai nern, die eine eigene Sauerstoffversorgung und Temperaturkontrol le besitzen, um schädlichen chemischen Reaktionen vorzubeugen.« »Und in einem solchen Container sollen wir uns verstecken«, schloss ich. »Sofern wir es schaffen, die Vitalscanner abzuschalten, ohne dass es die Überwachung mitbekommt«, schränkte Neife Varidis ein. »Die Scanner sollen verhindern, dass organisches Material in die Container gelangt und möglicherweise kontaminiert wird.«
»Wir müssen uns beeilen«, rief Oderich Musek aus dem Hinter grund. »Nastases Männer …« Der persönliche Berater kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Eine weitere Explosion, noch stärker als die erste, zerfetzte die Rückwand der Kammer und trieb mir die Luft aus den Lungen. Ein armdicker Stahlträger schwang wie ein riesiges Pendel durch den engen Raum. Oderich Musek hatte keine Chance, auszuweichen. »Oderich!« In Neife Varidis' Miene spiegelte sich blankes Entset zen. Der Träger hatte den Mann frontal getroffen und durch die Tür der Kammer katapultiert. Ich schob Trilith Okt in den schmalen Gang und wies sie an, Neife Varidis und Oderich Musek in die Dockingbucht zu schaffen. Dann beugte ich mich hinunter, um mir die Agentin auf die Arme zu laden. Ihr Gesicht hatte die Farbe frisch gefallenen Schnees angenommen. Man musste kein Prophet sein, um zu erkennen, dass sie es nicht mehr allein schaffen würde. »Nein.« Die Stimme der hageren Frau war kaum mehr als ein Flüs tern. Mit einer kraftlosen Bewegung versuchte sie, meine helfende Hand beiseite zu wischen. »Ich werde … sie aufhalten … so lange … ich kann …« »Das ist …«, begann ich und stockte. Die Agentin hatte ihre Waffe auf mich gerichtet und versuchte ein schwaches Lächeln. Zwischen ihren bleichen Lippen sickerte Blut hervor. »Verschwinden Sie …«, stieß sie keuchend hervor. »Und noch etwas …« Die Frau packte meinen Unterarm und drückte ihn mit einer Kraft, die ich ihr nicht mehr zugetraut hätte. »Ms. Varidis … muss leben«, hauchte die Agentin. »Sie ist die … letzte Hoffnung … für die Union …« Ich nickte und nahm das totenblasse Gesicht der Frau in beide Hände. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht«, sagte ich
leise. »Das verspreche ich Ihnen.« Mit einem letzten Blick auf die Sterbende wandte ich mich ab und folgte den anderen. Als ich durch das geöffnete Schott zur Docking bucht trat, hörte ich hinter mir das typische Geräusch von Strahl schüssen. Hinter dem Schott lag eine geräumige Halle. Trilith Okt stand vor einem von zwei wahrhaft gewaltigen Containern, die hochkant in die Außenhülle von Sphäre 4 eingefügt waren. Die Breite betrug mindestens zwanzig Meter; die Höhe konnte ich aufgrund des ein geschränkten Sichtfelds nicht abschätzen. »Beeil dich!«, forderte mich die Psi-Kämpferin auf. »Neife Varidis und ihr Begleiter sind bereits an Bord.« »Was ist mit den Vitalscannern?«, wollte ich wissen. »Defekt«, lautete die knappe Antwort. »Zumindest behauptet das diese Varidis. Und sie hat angeblich keine Ahnung, warum.« Trilith Okt verschwand durch eine runde Öffnung im Innern des Containers. Ich sah mich ein letztes Mal in der Dockingbucht um und folgte ihr.
Ponter Nastase Vergangenheit Alles lief exakt nach Plan. Nun ja, fast alles. Seine Männer hatten Neife Varidis und den kläglichen Rest der ihr verbliebenen Agenten in Schubsektor 3-A gestellt, dann jedoch ein derartiges Chaos angerichtet, dass an ein Identifizieren der Toten kaum noch zu denken war. Selbst eine Stunde nach dem Angriff war die Temperatur im entsprechenden Bereich noch immer zu hoch, um ohne Schutzanzug zu überleben. Neife Varidis war tot. Es gab keine andere Möglichkeit. Dennoch hatte er Kikomo Akubari angewiesen, dies zu überprü fen. Er musste sicher sein, dass die Geheimdienstchefin nicht mehr lebte. Der Kalfaktor für Wissenschaften richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bildschirmgalerie seines Arbeitsraums. Die TriVid-Kanäle al ler auf Rudyn empfangbaren Sender berichteten über die Unruhen in Genzez. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung hielten sich in Grenzen. Darauf hatte er geachtet. Schließlich war er kein Massenmörder. Er war ein Unsterblicher. Ein Herrscher. Ein Mann, den das Universum in seine Arme geschlossen hatte und nie mehr loslassen würde. Aufgeregte Reporter standen vor brennenden Gebäuden und ga ben ihre Berichterstattungen von sich. Betroffen blickende Kommen tatoren rezitierten salbungsvolle Texte zu den sich im Einsatz be findlichen Rettungskräften. Experten erläuterten, warum Neife Vari dis Politik zu den nun herrschenden Zuständen hatte führen müs sen. Ponter Nastase erhob sich aus seinem Thron und ging zu der klei
nen Bar hinüber, um sich einen Ephelegon's Tears einzugießen. Nein, er ging nicht. Er schritt. Gewöhnliche Sterbliche gingen. Männer wie er, die einen Zellaktivator trugen, schritten. Er leerte das Glas in einem Zug und genoss das warme, angenehm brennende Gefühl des Alkohols, der seine Kehle hinunterlief und sich im Magen ausbreitete. Auf einem der Bildschirme erschien ein kleines Mädchen, viel leicht vier oder fünf Jahre alt. Seine Wangen waren vom Ruß eines Feuers geschwärzt, und die langen, lockigen Haare hingen wirr in das tränenüberströmte Gesicht. Das Mädchen hielt schluchzend das 3D-Foto einer Frau in die Kameraobjektive und fragte immer wieder nach seiner Mutter. Der Kalfaktor für Wissenschaften lächelte zufrieden. Solche Bilder würden die Wut des Volkes weiter anstacheln. Die Wut auf Neife Varidis. Die Wut auf ihre Ideen von Freiheit und gleichen Rechten für alle. Solche Bilder würden ihm den Weg bereiten, und wenn er in einigen Tagen der Anarchie ein Ende setzte, würden sie ihn auf Händen tragen. Der Mann stellte das Glas ab und kehrte wieder in seinen Sessel zurück. Er würde wohl noch eine Weile die aktuellen Berichte aus der Hauptstadt verfolgen. In Kürze mussten die ersten Erfolgsmel dungen der Teams eintreffen, die sich um die übrigen Kalfaktoren kümmern sollten. Seine ehemaligen Kollegen würden die neue Uni on, seine Union nicht mehr erleben. Auf gewisse Weise fand er das bedauerlich, denn einige von ihnen hatte er zu seinen Freunden ge zählt, doch all das hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Ponter Nastase schloss die Augen, und zum ersten Mal seit er den Aktivator angelegt hatte, spürte er ihn, diesen Hauch der Ewigkeit, der wie eine warme Sommerbrise seine Seele zu streicheln schien. Das Universum gehörte ihm. Ihm allein. Und wer so dumm war und glaubte, es ihm wieder wegnehmen zu können, würde es bitter bereuen.
Atlan Gegenwart Warten. Wieder einmal. Ich hatte es schon so oft und so lange getan, doch ich würde es hassen, so lange ich lebte. Und als Unsterblicher konnte so etwas dauern. Auch wenn wir uns erst wenige Minuten im Innern des Segment containers befanden, kam es mir trotzdem wie eine Ewigkeit vor. Niemand war gekommen. Niemand hatte den Container durch sucht. Wir hatten Glück gehabt. Zumindest vorerst. Oderich Musek ging es nicht besonders gut. Ich war kein Arzt, doch vermutlich hatte ihm die Wucht des Stahlträgers ein paar Rip pen gebrochen. Er hielt sich tapfer, obwohl er große Schmerzen ha ben musste. Und während der Mann die Zähne zusammenbiss, hockten Neife Varidis, Trilith Okt und ich inmitten von Kabelresten, Metallspänen, ausgedienten Ersatzteilen, leeren Batterien, Plastikka nistern mit undefinierbarem Inhalt und vielen anderen Dingen, die ihrer Verwertung in einem der Recyclingzentren Rudyns entge gensahen. Waren mein Gespräch mit Lemy Danger und der Aufbruch von Quinto Center tatsächlich erst zwei Wochen her? Auch diese Zeit spanne kam mir um so vieles länger vor. Mir, dem Unsterblichen, für den Wochen oder Monate eigentlich keine Rolle spielten. Mir, dem die Medien den griffigen Namen Einsamer der Zeit gegeben hat ten. Dabei wusste kein Sterblicher, was wahre Einsamkeit bedeutete, und das war etwas, um das ich die meisten Menschen beneidete. Ich hatte die Einsamkeit kennen gelernt, wie sie wirklich war: zerstöre
risch, erbarmungslos, quälend. Und wenn sie sich einmal in ein Herz eingenistet hatte, dann blieb sie für immer dort. Vielleicht war der Tod nichts weiter als ein natürlicher Schutzme chanismus, mit dem das Universum seine Kinder vor der furcht barsten aller Gefahren schützte, denn je länger man lebte, desto mehr Macht gewann die Einsamkeit über das Dasein. Sie beherrsch te das Denken und das Handeln, vergiftete sogar die Träume in der Nacht. Sie legte sich als dunkler, kalter Schatten auf die Seele. Auch das war Unsterblichkeit.
Glossar Akadie Holeste – Kalfaktorin für Wirtschaft und Entwicklung. Amanda McAllistor – Funkerin an Bord der KAPIUR. Arlene Maluba – Ehefrau von Sente Maluba; kommt 3098 im Tali pur-System ums Leben, gemeinsam mit ihrem ungeborenen Sohn. Brihan – Kleine Küstenstadt am Südmeer Rudyns. Cek Mulligan – Mitglied von Neife Varidis' Leibwache. Dorolem – Vierter der acht Kontinente Rudyns. Ephelegon's Tears – Bekannter Whiskey auf Rudyn. Fauron – Erste Prüfungswelt Triliths. Die zugehörige Sonne trägt le diglich die Kennung PFX-2635. Fauron – Zweiter Ehemann Morchetes, in Erinnerung daran, weil Morchete ihn auf dieser Welt kennen gelernt hat. Gartak – Erster Ehemann Morchetes. Gulmen – Extrem widerstandfähige Fluginsekten in Schnakengröße, die auf fast allen Raumschiffen heimisch sind und sich von so gut wie allem ernähren, was sie finden (von Nahrungsresten bis zum Isoliermaterial). Sie sind praktisch lebende Verdauungsmaschinen und hinterlassen überall einen farblosen, übel riechenden Kot, der in zahlreiche Raumfahrerflüche Eingang gefunden hat. Hanjak – Schneeweißes Heißgetränk an Bord der GAHENTEPE. Jamain Kalakas – Besatzungsmitglied der TRADIUM, das an der Bergung des Zellaktivators auf Finkarm beteiligt ist. Kantori-Katzen – In den Graubergen Rudyns heimische Raubtierart. Karsul – Überlebender des Absturzes der MORGH-I auf Fauron. Fungiert als behelfsmäßiger Arzt. KONTER – Flaggschiff des Kalfaktors Ermid Güc.
Koramal – Atlans Tarnname, unter dem er ins Sphärenrad ein dringt. Lakatar – Einziger Kontinent auf Fauron. Leskyt – Zweitgrößte Stadt Rudyns und Sitz der gleichnamigen Wissenschaftlichen Akademie. Limar Ostrau – Enger Vertrauter von Akadie Holeste und Verhand lungsführer auf der ZUIM. Limon Pearl – Mitglied von Neife Viridis' Leibwache. Meheme Polt – Mitarbeiter im Kalfaktat für Kriegswesen. Mirelle Kuramar – Eine der erfolglosen Eroberungen Holzer M. Buchards. Muriel Kalveda – Chefin der Funk- und Ortungszentrale der KAPI UR. Moltov Port – Raumhafen in der Nähe der rudynschen Hauptstadt Genzez. Nebelreiter – Das Nebelreiten ist eine populäre Sportart im Ephele gon-System, bei der sich die Athleten mit raketengetriebenen Flug brettern durch die äußeren Atmosphäreschichten Ephangs, des vierten Planeten des Systems bewegen. Orientierungsdepots – Öffentliche Informationsbüros der Kalfakto ren in Genzez. Jeder Kalfaktor unterhält eine solche Einrichtung, in der sich die Bürger über Ziele und politische Ausrichtung infor mieren können. Reg Bovida – Besatzungsmitglied der TRADIUM, das an der Ber gung des Zellaktivators auf Finkarm beteiligt ist. Rory Lonaski – Unterhändler der ZGU auf der ZUIM. Rudyn-Whiskey – Spezielle Whiskeysorte, die es nur auf Rudyn gibt. Sambacha – Vergnügungsviertel in Genzez, der Hauptstadt Ru dyns. Semat Tomisek – Mitglied von Neife Varidis' Leibwache.
Simbalain – Kleiner Ort, 500 km von Genzez entfernt; Heimat von Ernesta Gori. Suraia Pilesti – Mitglied von Neife Varidis' Leibwache. Talip – Sechster Planet des Talipura-Systems. Talipura – Sonne mit 14 Planeten im Außenbereich des Solaren Im periums. Tasja Benoit – Eine der erfolglosen Eroberungen Holzer M. Buchards. Thomrat Wyt – Vater von Balton Wyt. Tix – schwarze, handtellergroße Käferart auf Fauron, die Morchete als ihre neue Königin akzeptiert. Tölken – Waschbärartige Waldbewohner auf Rudyn; die TölkenJagd ist Ponter Nastases bevorzugte Freizeitbeschäftigung. Turniz – Winziger Ort an Rudyns Grüner Küste; Heimat von Karaia Cortez. Wallis Hogenkamp – Sergeant an Bord der TRADIUM. Yolkan Bent – Erster Offizier der KAPIUR. Zentral-G – Bekannter Nachtclub in Genzez. Zotta – Bekannter Nachtclub in Genzez.