J.D. Robb
Sanft kommt der Tod Roman Deutsch von Uta Hege PREMIERE
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1 Unangekündigte Tests waren einfach mörderisch. Wie Heckenschützen erfüllten sie die Opfer mit Furcht und Abscheu, den Jäger hingegen mit einem gewissen schwindelerregenden Gefühl der Macht. Als Craig Foster in die Mittagspause ging, um dort den Test noch einmal durchzugehen, wusste er genau, wie sein Geschichtskurs der fünften Klasse reagieren würde. Die Kinder würden stöhnen oder leise keuchen, unglücklich die Gesichter verziehen oder in nackte Panik ausbrechen. Was er sehr gut verstand. Schließlich hatte er mit seinen sechsundzwanzig Jahren längst noch nicht vergessen, welchen Schmerz und welche Angst man als Schüler vor Prüfungen empfand. Er packte den Thermosbehälter mit seinem Mittagessen aus. Er war ein Gewohnheitsmensch und wusste, seine Frau hätte ihm ein Geflügelsandwich, einen Apfel, ein paar Sojafritten sowie seine geliebte heiße Schokolade eingepackt. War es nicht fantastisch, verheiratet zu sein? Er hatte sie noch nie darum gebeten, ihm ein Lunchpaket zu machen oder dafür zu sorgen, dass er immer frisch gewaschene und ordentlich paarweise zusammengelegte Socken in der rechten Hälfte der obersten Schublade seiner Kommode fand. Sie sagte einfach, sie täte das gern für ihn. Die sieben Monate seit ihrer Trauung waren die schönsten seines Lebens gewesen. Dabei hatte er es vorher auch nicht gerade schlecht gehabt. Er hatte eine Arbeit, die er liebte und auch ausgezeichnet machte, dachte er mit einem Anflug von Stolz. Er und Lissette hatten ein mehr als anständiges Apartment, von dem aus er in wenigen Minuten zu Fuß zur Schule kam. Seine Schüler und Schülerinnen waren aufgeweckt und interessant und, was das Allerbeste war, er war bei ihnen ausnehmend beliebt.
Natürlich würden sie wegen des Tests ein wenig murren und vielleicht auch schwitzen, doch sie kämen ganz bestimmt damit zurecht. Bevor er sich an die Arbeit machte, schickte er noch eine kurze Mail an seine Braut. Hey, Lissy! Was hältst du davon, wenn ich heute Abend auf dem Heimweg einen großen Salat und die Suppe hole, die du so gerne isst? Ich vermisse dich und liebe jeden süßen Zentimeter von dir! Du weißt schon, wer. Er musste grinsen, als er daran dachte, wie sie lächeln würde, wenn sie diese Nachricht läse, wandte sich dann aber wieder seiner Arbeit zu und blickte auf den Bildschirm, als er sich die erste Tasse heißer Schokolade in den Becher schenkte und in das mit dünnen Sojascheiben, die sich als Geflügelbrust ausgaben, gefüllte Sandwich biss. Es gab so viel zu lehren und so viel zu lernen. Die Geschichte dieses Landes war dramatisch, vielfältig und reich an Tragödien, Komödien, Romantik, Heldentum, Feigheit und Verrat. All das wollte er seinen Schülern nahebringen, wollte ihnen zeigen, wie die Welt, in der sie lebten, sich zu dem entwickelt hatte, was sie jetzt, in den ersten Monaten des Jahres 2060, war. Er aß, löschte ein paar Fragen, fügte andere ein und trank einen großen Schluck seiner geliebten heißen Schokolade, während lautlos blütenweißer Schnee vor dem Fenster seines Klassenzimmers auf die Erde fiel. Während seine eigene kurze Geschichte ihrem Ende von Minute zu Minute näher kam. Sie bekam noch immer Zustände, wenn sie in eine Schule kam. Was für einen zähen, toughen Cop ziemlich blamabel war. Trotzdem war es so. Lieutenant Eve Dallas, eindeutig die beste
und bekannteste Ermittlerin in Mordsachen von ganz New York, wäre lieber auf der Suche nach einem psychotischen Junkie auf Zeus durch eine verlassene Fabrikhalle gestapft als durch die jungfräulichen Flure der eindeutig der oberen Mittelklasse verschriebenen Sarah Child Akademie. Trotz der in freundlichen Primärfarben gestrichenen Fußböden und Wände und der blank geputzten Fenster kam Eve das Gebäude wie die reinste Folterkammer vor. In den meisten Räumen, deren Türen offen standen, war außer Tischen, Stühlen, Bildschirmen und Tafeln nichts zu sehen. Eve blickte auf Rektorin Arnette Mosebly, eine leicht gedrungene, beinahe statuenhafte Frau von vielleicht fünfzig Jahren, mit dank ihres gemischtrassigen Erbes rauchig blauen Augen und karamellfarbener Haut. Ihr schimmernd schwarzes Haar fiel in dichten Korkenzieherlöckchen um ihr etwas strenges Gesicht, sie trug einen langen schwarzen Rock unter einer kurzen roten Jacke, und die Absätze ihrer vernünftigen Schuhe klackerten vernehmlich auf dem Boden, als sie neben Eve den Flur im ersten Stock hinunterlief. »Wo sind die Kinder?«, fragte Eve. »Ich habe sie in die Aula bringen lassen, bis ihre Eltern oder Betreuer sie abholen können. Auch die meisten Lehrer halten sich dort auf. Ich hielt es für das Beste und vor allem für ein Zeichen des Respekts, den Nachmittagsunterricht ausfallen zu lassen.« Ein paar Meter vor der Tür, vor der ein Polizist in Uniform mit ausdrucksloser Miene Position bezogen hatte, blieb sie stehen. »Lieutenant, das ist eine furchtbare Tragödie für uns alle und vor allem für die Kinder. Craig ...« Sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich kurz ab. »Er war jung, intelligent und enthusiastisch. Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich, und ...« Wieder brach sie ab und hob eine Hand, während sie um Fassung rang. »Mir ist klar, dass es Routine ist, dass die Polizei in einen solchen Fall miteinbezogen wird. Aber trotzdem hoffe ich,
dass Ihre Arbeit möglichst schnell erledigt ist und dass wir mit dem ... dem Abtransport des Leichnams warten können, bis der letzte Schüler das Gebäude verlassen hat.« Sie richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. »Ich verstehe einfach nicht, wie der junge Mann plötzlich so krank werden konnte. Weshalb ist er heute überhaupt gekommen, wenn ihm unwohl war? Seine Frau - er ist erst seit ein paar Monaten verheiratet - ich habe sie noch nicht über die Sache informiert. Ich war mir nicht sicher ...« »Das überlassen Sie am besten uns. Und jetzt lassen Sie uns bitte kurz allein.« »Ja. Ja, natürlich.« »Peabody, schalten Sie den Rekorder an«, sagte Eve zu ihrer Partnerin, nickte dem Polizisten zu, der einen Schritt zur Seite trat, öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Sie war eine große, schlanke Frau mit kurzem, braunem Haar und braunen Augen, die noch nicht einmal die allerkleinste Regung zeigten, als sie sich in dem Raum umsah. Mit fließenden Bewegungen zog sie eine Dose Versiegelungsspray aus dem Untersuchungsbeutel, den sie bei sich trug, und sprühte ihre Hände und die Stiefel ein. In fast einem Dutzend Jahren bei der Polizei hatte sie bereits erheblich Schlimmeres gesehen als den verlorenen Geschichtslehrer, der in seinem eigenen Erbrochenen und seinen eigenen Ausscheidungen bäuchlings auf dem Boden lag. Eve gab Ort und Zeit in den Rekorder ein. »Die alarmierten Sanitäter waren um vierzehn Uhr sechzehn da und haben das als Craig Foster identifizierte Opfer um vierzehn Uhr neunzehn für tot erklärt.« »Zum Glück haben die Sanis den Leichnam nicht bewegt«, bemerkte Peabody. »Armer Hund.« »Weshalb hat er sein Mittagessen hier an seinem Schreibtisch zu sich genommen? An einem Ort wie diesem gibt's doch sicher eine Cafeteria für die Angestellten oder so.« Eve stand noch
immer auf der Türschwelle und legte ihren Kopf ein wenig schräg. »Auf dem Boden liegen eine große Thermosflasche und ein umgeworfener Stuhl.« »Sieht mehr nach einem Anfall aus als nach einem Kampf.« Peabody schob sich mit leicht quietschenden Airboots an der Wand des Raums entlang, rüttelte an den Fenstern, kommentierte »Abgeschlossen«, beugte sich ein wenig vor und sah sich den Schreibtisch und den Toten von der anderen Seite an. Auch wenn ihr Körper so wie der von Arnette Mosebly leicht gedrungen war, wäre sie doch niemals statuenhaft. Sie hatte ihre dunklen Haare etwas wachsen lassen und die Spitzen - was Eve nie verstehen würde - kess nach außen geföhnt. »Er hat während des Essens gearbeitet«, bemerkte sie. »Hat wahrscheinlich entweder die nächste Stunde vorbereitet oder Arbeiten korrigiert. Vielleicht hat er ja auf irgendwas, was er gegessen hat, allergisch reagiert.« »Auf jeden Fall.« Eve trat vor den Leichnam und hockte sich vor ihn hin. Sie würde noch seine Fingerabdrücke abnehmen, den genauen Todeszeitpunkt bestimmen und all das andere Zeug. Erst einmal sah sie sich den Toten aber einfach an. Das Weiß von seinen Augen wurde von geplatzten Äderchen durchzogen, die wie Spinnenbeine aussahen, Schaum und Reste von Erbrochenem klebten an seinem halb offenen Mund. »Er hat versucht, zur Tür zu kriechen, als ihm schlecht geworden ist«, murmelte sie. »Identifizieren Sie ihn und überprüfen Sie den Todeszeitpunkt, Peabody.« Eve stand wieder auf, machte einen vorsichtigen Bogen um die Pfützen, die der Ärmste auf dem Boden hinterlassen hatte, hob den schwarzen Thermosbecher auf und schnupperte daran. »Glauben Sie, jemand hat den armen Kerl vergiftet?«, fragte Peabody. »Ich rieche heiße Schokolade. Und noch etwas anderes.« Eve tütete den Becher ein. »Die Farbe des Erbrochenen, die Hinweise
auf einen Krampf und große Schmerzen. Ja, ich denke an Gift. Aber genau wissen wir es natürlich erst nach der Obduktion. Wir brauchen die Erlaubnis seiner nächsten Angehörigen, seine Krankenakte einzusehen. Arbeiten Sie weiter hier. Ich werde noch mal mit Mosebly sprechen und knöpfe mir danach die Zeugen vor.« Arnette Mosebly stapfte, einen kleinen Handcomputer in der Hand, unruhig vor dem Zimmer auf und ab. »Ms Mosebly? Ich muss Sie bitten, niemanden zu kontaktieren und mit niemandem zu sprechen.« »Oh ... ich ... Ich habe nur ...« Sie drehte den Computer so, dass Eve den Minibildschirm sah. »Ein Wortspiel. Etwas, um mich abzulenken. Lieutenant, ich mache mir Sorgen um Lissette. Craigs Frau. Jemand muss es ihr sagen.« »Das werden wir. Aber erst mal würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten, möglichst an einem ungestörten Ort. Und dann muss ich mit den Schülerinnen sprechen, die den Toten gefunden haben.« »Rayleen Straffo und Melodie Branch. Der Beamte, der als Erster kam, meinte, sie dürften das Gebäude nicht verlassen und auch nicht zusammen warten.« Ihre plötzlich schmalen Lippen drückten überdeutlich aus, was sie davon hielt. »Diese Mädchen sind traumatisiert, Lieutenant. Sie waren vollkommen hysterisch, wie man es von Kindern unter derartigen Umständen nicht anders erwarten kann. Ich habe Rayleen zu unserem Psychologen und Melodie zu unserer Krankenschwester geschickt. Inzwischen dürften die Eltern der beiden bei ihnen sein.« »Sie haben ihre Eltern angerufen?« »Sie haben Ihre Vorschriften, Lieutenant, und ich habe meine.« Sie bedachte Eve mit dem herablassenden Nicken, das man sicher bei der Ausbildung zur Schulleiterin beigebracht bekam. »Mir geht es in erster Linie um die Gesundheit und die Sicherheit von meinen Schülerinnen. Diese Mädchen sind gerade
mal zehn Jahre alt und haben dieses Szenario gesehen.« Sie nickte in Richtung der Tür, hinter der der tote Lehrer lag. »Gott weiß, was für einen emotionalen Schaden das bei ihnen angerichtet hat.« »Craig Foster fühlt sich ebenfalls bestimmt nicht allzu wohl.« »Ich muss alles Erforderliche tun, um meine Schülerinnen zu beschützen. Meine Schule ...« »Momentan ist dies nicht Ihre Schule, sondern ein Ort, an dem ein Verbrechen geschehen ist.« »Ein Verbrechen?« Die Rektorin wurde kreidebleich. »Was wollen Sie damit sagen? Was für ein Verbrechen?« »Das werde ich noch herausfinden. Ich möchte, dass Sie mir die beiden Zeuginnen nacheinander bringen. Wahrscheinlich ist Ihr Büro der beste Ort für die Vernehmungen. Während des Gesprächs ist ein Elternteil oder Betreuer pro Kind erlaubt.« »Also gut, dann ... Kommen Sie mit.« »Officer?« Eve blickte über ihre Schulter auf den Polizisten, der noch immer vor der Tür des Klassenzimmers Wache stand. »Sagen Sie Detective Peabody, dass ich ins Büro der Schulleiterin gehe.« Obwohl seine Mundwinkel unmerklich zuckten, nickte er. »Zu Befehl, Madam.« Es war etwas völlig anderes, merkte Eve, wenn man plötzlich die Chefin war und nicht das arme Wesen auf dem heißen Stuhl. Nicht, dass sie während ihrer Schulzeit allzu große Probleme mit der Disziplin gehabt hätte, erinnerte sie sich. Sie hatte größtenteils versucht, möglichst unsichtbar zu sein, alles einfach irgendwie zu überstehen und den Knast, als den sie die Schule angesehen hatte, an dem Tag zu verlassen, an dem es ihr von Rechts wegen gestattet war. Nur, dass ihr das nicht immer gelungen war. Ihre vorlaute Art und ihre negative Einstellung zum Unterricht hatten ihr des Öfteren einen Besuch beim Rektor eingebracht.
Sie hatte Dankbarkeit empfinden sollen, weil ihr als Mündel des Staats nicht nur ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, sondern auch noch eine Ausbildung zuteil geworden war. Hatte Dankbarkeit empfinden sollen für die Kleider, die sie trug, auch wenn keines davon jemals neu gewesen war. Hatte danach streben sollen, sich beständig zu verbessern, was nicht gerade leicht gewesen war, denn sie hatte nicht genau gewusst, woher sie kam, das hieß, welches ihre Ausgangsposition gewesen war. Woran sie sich vor allem erinnerte, waren die selbstgefälligen Vorträge und das enttäuschte Stirnrunzeln der Lehrer, die sie deutlich hatten spüren lassen, dass jemand wie sie ein Niemand war. Und die endlose, alles durchdringende, tödliche Langeweile während beinahe des gesamten Unterrichts. Natürlich hatte sie keine schicke Privatschule mit hochmodernem Lehrmaterial, blitzsauberen Klassenzimmern, hübschen Uniformen sowie einem Lehrer-Schüler-Schlüssel von eins zu sechs besucht. Sie würde ihren nächsten Gehaltsscheck darauf verwetten, dass es in der Sarah Child Akademie keine Faustkämpfe in den Fluren und keine selbstgebastelten Sprengsätze in den Schließfächern gab. Heute allerdings gab es zumindest einen Mord. Während sie in Moseblys mit echten Grünpflanzen und einem hübschen Teegeschirr ausnehmend behaglichem Büro auf das erste Mädchen wartete, ging sie kurz die Personalien des Opfers durch. Craig Foster, sechsundzwanzig Jahre. Keine Vorstrafen. Beide Eltern lebten noch und waren noch miteinander verheiratet. Sie lebten in New Jersey, wo der Sohn geboren und aufgewachsen war. Dann war er mit einem Teilstipendium an die Columbia-Universität gegangen, hatte dort sein Lehrerexamen gemacht und war dort, da er noch seinen Master in Geschichte hatte machen wollen, noch immer immatrikuliert.
Im Juli letzten Jahres hatte er Lissette Bolviar geehelicht. Auf dem Foto sah er frisch und eifrig aus. Ein hübscher junger Mann mit einem klaren Teint in der Farbe gerösteter Kastanien, mit seelenvollen dunklen Augen sowie dunklem, an den Seiten und im Nacken kurz geschorenem und oben auf dem Kopf hochgebürstetem Haar. Auch seine Schuhe waren echt modern, erinnerte sie sich. Schwarz-silberne, knöchelhohe geschnürte Gelboots. Nicht gerade billig, dachte sie. Wohingegen seine schmutzig braune Sportjacke an den Aufschlägen schon ziemlich abgewetzt gewesen war. Er trug eine anständige Uhr - sicher eine Kopie des Originals - und am Ringfinger der linken Hand blitzte ein goldener Ring. Sie nahm an, wenn Peabody mit ihrer Arbeit fertig wäre, würde sie ihr sagen, dass in seinen Taschen nur ein bisschen Klimpergeld gewesen war. Eilig schrieb sie sich ein paar Stichworte auf. Woher war die heiße Schokolade gekommen? Wer hatte Zugriff auf den Thermosbecher gehabt? Hatte Craig den Raum vielleicht mit jemandem geteilt? Wer hatte das Opfer wann zum letzten Mal lebend gesehen, und wer hatte den Leichnam entdeckt? Gab es irgendwelche Versicherungspolicen, vielleicht eine Lebensversicherung? Wenn ja, wer bekäme dann das Geld? Als die Tür geöffnet wurde, sah sie auf. »Lieutenant?« Als Mosebly den Raum betrat, lag ihre Hand auf der Schulter eines dünnen, jungen Mädchens mit milchig weißer Haut, Sommersprossen und dazu passendem langem, zu einem glatten Zopf gekämmtem, karottenrotem Haar. Zitternd stand die Kleine in ihrem marineblauen Blazer und der makellosen Khakihose da.
»Melodie, dies ist Lieutenant Dallas von der Polizei. Sie muss mit dir sprechen. Lieutenant Dallas, dies ist Melodies Mutter, Angela Miles-Branch.« Die Kleine hatte Haar und Haut von ihrer Mom geerbt, bemerkte Eve. Und Mom sah nicht weniger erschüttert aus als sie. »Lieutenant, ich frage mich, ob dieses Gespräch vielleicht bis morgen warten kann. Ich würde Melodie jetzt gerne erst mal mit nach Hause nehmen.« Ihre Hand lag wie ein Schraubstock um die Hand von ihrem Kind. »Meine Tochter fühlt sich nicht wohl. Was ja wohl verständlich ist.« »Es ist für uns alle leichter, wenn wir dieses Gespräch jetzt gleich führen. Es wird bestimmt nicht lange dauern. Wenn Sie uns entschuldigen würden, Ms Mosebly ...« »Ich denke, als Vertreterin der Schule und des Kindes bleibe ich am besten hier.« »Wir brauchen niemanden von der Schule, und als Vertreterin des Kindes ist die Mutter da. Lassen Sie uns also bitte allein.« Moseblys Blick verriet, dass sie mit diesem Vorschlag alles andere als einverstanden war, doch sie presste die Lippen aufeinander und verließ den Raum. »Warum setzt du dich nicht, Melodie?« Aus jedem ihrer großen blauen Augen quoll eine fette Träne. »Ja, Ma'am. Mom?« »Ich bin hier.« Ohne ihre Tochter loszulassen, nahm Angela neben der Kleinen Platz. »Diese Sache hat sie furchtbar mitgenommen.« »Das verstehe ich. Melodie, ich werde unsere Unterhaltung aufnehmen.« Wieder kullerten zwei Tränen über Melodies Gesicht, und Eve fragte sich, warum in aller Welt sie nicht den Tatort übernommen hatte und Peabody hier bei dem Mädchen saß. »Warum erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?«, fragte sie.
»Wir sind in Mr Fosters Klasse gegangen - hm, Rayleen und ich. Wir haben erst mal angeklopft, weil die Tür geschlossen war. Aber Mr Foster hat nichts dagegen, wenn man mit ihm sprechen muss.« »Und ihr musstet mit Mr Foster sprechen.« »Über das Projekt. Ray und ich sind dabei Partnerinnen. Wir erstellen einen Multimedia-Bericht über die Freiheitsurkunde. Er muss in drei Wochen fertig sein und ist unser zweites großes Projekt in diesem Schuljahr. Er macht fünfundzwanzig Prozent der Note aus. Wir wollten, dass sich Mr Foster unseren Entwurf ansieht. Er hat nichts dagegen, wenn man ihm vor oder nach der Stunde Fragen stellt.« »Okay. Wo wart ihr, bevor ihr zu Mr Fosters Klasse gegangen seid?« »In unserer Lerngruppe. Ms Hallywell hat Ray und mir erlaubt, die Gruppe ein paar Minuten früher zu verlassen, um mit Mr Foster zu sprechen. Ich habe einen Erlaubnisschein.« Sie wollte ihn aus ihrer Tasche ziehen, Eve aber wehrte ab. »Schon gut. Ihr seid also in das Klassenzimmer gegangen ...« »Wir wollten es. Wir haben miteinander geredet und dabei die Tür aufgemacht. Es hat fürchterlich gerochen. Ich habe zu Ray gesagt: >Meine Güte, hier stinkt's aber.<« Wieder brachen sich die Tränen Bahn. »Es tut mir leid, das ist mir einfach rausgerutscht.« »Schon gut. Was ist dann passiert?« »Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn auf dem Boden liegen sehen, und, oh, überall war Erbrochenes und so. Ray hat geschrien. Oder vielleicht auch ich. Oder wahrscheinlich wir beide. Dann sind wir wieder rausgerannt, Mr Dawson kam den Flur runtergelaufen und hat uns gefragt, was los ist. Er hat uns gesagt, dass wir stehen bleiben sollen, und ist in den Raum gegangen. Ich habe gesehen, dass er reingegangen ist. Dann kam er ganz schnell wieder raus und hat so gemacht.«
Sie presste ihre freie Hand vor ihren Mund. »Ich glaube, dann hat er sein Handy aufgeklappt und Ms Mosebly angerufen. Als Ms Mosebly kam, hat sie die Krankenschwester gerufen. Und dann kam Schwester Brennan und hat uns mit in das Krankenzimmer genommen. Sie ist bei uns geblieben, bis Mr Kolfax kam und Ray mitgenommen hat. Ich bin bei Schwester Brennan geblieben, bis meine Mom gekommen ist.« »Hast du sonst noch jemanden gesehen, der in Mr Fosters Klassenzimmer gegangen oder dort herausgekommen ist?« »Nein, Ma'am.« »Hast du auf dem Weg von deiner Lerngruppe zu seinem Klassenzimmer irgendwen gesehen?« »Hm. Tut mir leid. Hm. Mr Bixley kam von der Jungentoilette, und außerdem ist uns Mr Dawson im Flur entgegengekommen. Wir haben ihm unseren Erlaubnisschein gezeigt. Ich glaube, das war alles, aber ich habe auch nicht weiter darauf geachtet, ob da sonst noch jemand war.« »Woher habt ihr gewusst, wo ihr Mr Foster finden würdet?« »Oh, er ist montags vor der fünften Stunde immer in seiner Klasse. Er isst Montagmittag immer dort. Und in der letzten Viertelstunde erlaubt er den Schülern, zu ihm zu kommen und mit ihm zu sprechen, wenn sie etwas auf dem Herzen haben. Man darf auch schon vorher zu ihm gehen, wenn es wirklich wichtig ist. Er ist so nett. Mom.« »Ich weiß, Baby. Lieutenant, bitte ...« »Gleich haben wir's geschafft. Melodie, hast du oder Rayleen Mr Foster oder irgendetwas in der Klasse an- gefasst?« »Oh, nein, nein, Ma'am. Wir sind einfach weggerannt. Es war schrecklich, und wir sind weggerannt.« »Okay. Melodie, falls du dich sonst noch an irgendwas erinnerst, irgendeine Kleinigkeit, musst du mir das bitte sagen.« Die Kleine erhob sich von ihrem Platz und sah Eve mit großen Augen an. »Lieutenant Dallas? Ma'am?« »Ja?«
»Rayleen hat gesagt ... als wir im Krankenzimmer waren, hat Rayleen gesagt, dass sie Mr Foster in einem großen schwarzen Sack aus der Schule tragen müssen. Müssen Sie das wirklich? Müssen Sie das wirklich tun?« »Oh, Melodie.« Angela zog das Kind an ihre Brust und hielt es fest. »Wir kümmern uns jetzt um Mr Foster«, antwortete Eve. »Es ist mein Job, jetzt für ihn da zu sein, und das bin ich auch. Dadurch, dass du mit mir sprichst, hilfst du mir, meinen Job zu machen und für Mr Foster da zu sein.« »Wirklich?« Melodie schniefte und stieß einen leisen Seufzer aus. »Danke. Ich möchte jetzt nach Hause. Darf ich jetzt nach Hause gehen?« Eve sah in ihre tränennassen Augen, nickte stumm und wandte sich der Mutter zu. »Wir werden uns bestimmt noch mal bei Ihnen melden. Aber schon mal vielen Dank für das Gespräch.« »Diese Sache hat die Mädchen furchtbar mitgenommen. Es ist wirklich schwer für sie. Komm, Schätzchen. Wir gehen jetzt nach Hause.« Angela legte einen Arm um die Schultern ihrer Tochter und geleitete sie aus dem Raum. Auch Eve stieß sich vom Schreibtisch ab, folgte den beiden an die Tür und sah, dass Mosebly bereits auf die beiden zugelaufen kam. »Ms Mosebly? Ich hätte da noch ein paar Fragen.« »Ich bringe Mrs Miles-Branch und Melodie nur noch schnell hinaus.« »Die beiden finden den Weg doch sicher auch allein. Kommen Sie also bitte kurz in Ihr Büro.« Eve ersparte sich die Mühe, sich zu setzen, und lehnte sich stattdessen einfach an den Schreibtisch. Mit an den Seiten geballten Fäusten kam Mosebly hereingestapft.
»Lieutenant Dallas, auch wenn ich durchaus verstehe, dass Sie Ihre Arbeit machen müssen, entsetzt mich Ihre herablassende, arrogante Art.« »Okay. Hat Mr Foster gewohnheitsmäßig sein eigenes Essen und seine eigenen Getränke mit hierher gebracht?« »Ich ... ich glaube, ja. Oder zumindest meistens. Selbstverständlich haben wir eine von einer Ernährungsberaterin zertifizierte Cafeteria und auch staatlich kontrollierte Verkaufsautomaten im Haus. Aber viele unserer Angestellten bringen zumindest ab und zu lieber ihre eigenen Sachen mit.« »Hat er oft allein an seinem Pult gegessen?« Mosebly massierte sich die Stirn. »Soweit ich weiß, hat er sein Mittagessen an zwei, drei Tagen pro Woche in seinem Klassenzimmer eingenommen. Ein Lehrer kann seine Arbeit nicht im Rahmen der normalen Schulstunden erledigen. Er muss den Unterricht planen, Arbeiten korrigieren, Lektüre und Laborversuche vorbereiten und so weiter und so fort. Außerdem hat Craig sich wie die meisten anderen Lehrer auch parallel zu seiner Arbeit hier beruflich fortgebildet, was ebenfalls mit einigem Aufwand verbunden ist. Deshalb hat er oft in seinen Pausen an seinem Pult gegessen und während des Essens gearbeitet. Er war sehr pflichtbewusst.« Der in ihr angestaute Zorn schien sich zu legen und mit rauer Stimme fügte sie hinzu: »Er war jung und idealistisch. Er hat seinen Beruf geliebt, Lieutenant Dallas, das war nicht zu übersehen.« »Hatte er irgendwelche Probleme mit Kolleginnen oder Kollegen?« »Davon ist mir nichts bekannt. Er war ein freundlicher und umgänglicher junger Mann. Ich bin sowohl persönlich als auch beruflich der Ansicht, dass er ein großer Gewinn für unsere Schule war.« »Gab es in letzter Zeit irgendwelche Entlassungen?«
»Nein. Hier bei Sarah Child haben wir eine sehr geringe Fluktuation. Craig war seit zwei Jahren hier. Er hat die Lücke geschlossen, die durch die Pensionierung eines unserer Lehrer nach fünfzig Jahren im Schuldienst, davon achtundzwanzig hier bei uns, entstanden war.« »Wie steht es mit Ihnen? Wie lange sind Sie selbst schon hier?« »Ich bin seit drei Jahren Rektorin. Insgesamt jedoch habe ich inzwischen fünfundzwanzig Jahre sowohl als Lehrkraft als auch in der Verwaltung an Schulen zugebracht.« »Wann haben Sie Mr Foster zum letzten Mal gesehen?« »Heute Morgen, aber nur ganz kurz.« Mosebly trat vor einen kleinen Kühlschrank und nahm eine Wasserflasche heraus. »Er kam wie meistens etwas früher, um noch den Fitnessraum zu nutzen. Die Benutzung der Geräte und des Pools steht allen Angestellten frei. Craig hat diese Möglichkeit an den meisten Vormittagen noch vor Unterrichtsbeginn genutzt.« Seufzend schenkte sie sich etwas von dem Wasser in ein Glas. »Möchten Sie auch etwas, Lieutenant?« »Danke.« Eve schüttelte den Kopf. »Ich war selber heute Morgen schwimmen und habe den Poolbereich gerade verlassen, als er hereingekommen ist. Wir haben uns gegrüßt, über den Verkehr gejammert, und dann bin ich gegangen. Ich war ziemlich in Eile, hörte aber noch, wie er ins Wasser sprang.« Sie hob ihr Glas an ihren Mund. »Als ich die Tür des Umkleideraums geöffnet habe, habe ich es gehört. Oh, Gott.« »Wann genau war das?« »Gegen sieben Uhr dreißig. Um acht hatte ich eine Telefon-Konferenz, und weil ich zu lange im Pool geblieben war, war ich etwas spät dran. Ich war wütend auf mich selbst und habe deshalb kaum mit Craig gesprochen.« »Wo hat er sein Mittagessen aufbewahrt?« »Nun, ich nehme an, in seinem Klassenzimmer. Vielleicht auch im Pausenraum, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich je
gesehen hätte, dass er etwas dort in den Kühlschrank gelegt oder herausgenommen hat.« »Ist das Klassenzimmer für gewöhnlich abgesperrt?« »Nein. Natürlich ist die Schule gut gesichert, aber die einzelnen Klassenräume stehen immer offen. Es gibt keinen Grund sie abzuschließen, da das Miteinander hier bei Sarah Child auf Vertrauen und Verantwortung basiert.« »In Ordnung. Sie können mir die zweite Zeugin schicken. Rayleen Straffo.« Jetzt nickte Mosebly nicht mehr majestätisch, sondern eher resigniert. »Was ist mit den anderen Schülern? Und dem Personal?« »Wir werden noch mit den Angestellten sprechen müssen, bevor irgendjemand das Gebäude verlässt. Die Schüler können Sie nach Hause schicken, aber drucken Sie mir bitte noch eine Namens- und Adressenliste aus.« »Okay.« Als sie wieder alleine war, zog Eve ihr Handy aus der Tasche und rief Peabody an. »Und, wie sieht es aus?« »Der Leichnam wird gerade abtransportiert. Der Pathologe geht ebenfalls von einer Vergiftung aus, obwohl natürlich erst die Autopsie ergeben wird, ob es tatsächlich so war. Die Spurensicherung ist inzwischen auch da. Es sieht aus, als hätte das Opfer kurz vor Eintreten des Todes noch an seinem Computer gearbeitet und dort irgendeinen Test für seine nächste Stunde vorbereitet.« »Das wäre ein mögliches Motiv«, erklärte Eve bierernst. »Ich habe Tests immer gehasst und hege ernste Zweifel, ob sie überhaupt verfassungsmäßig sind. Ich habe mir die Kiste angesehen und entdeckt, dass das Opfer um zwölf Uhr sechs eine E-Mail an
[email protected] gesendet hat. Außer dieser Mail und einem kurzen Antwortschreiben war dort für heute nichts.« »Die Frau heißt Lissette. Was stand in der Mail?«
»Es war nur eine kurze Mitteilung an seinen Schatz, in der er ihm angeboten hat, etwas zum Abendessen mitzubringen, wenn er von der Arbeit kommt. Die Antwort war ebenfalls sehr liebevoll verfasst, kam um vierzehn Uhr achtundvierzig an, wurde aber nicht mehr aufgemacht.« »Okay. Ich warte gerade auf die zweite Zeugin und schicke Ihnen dafür die Rektorin. Bringen Sie sie irgendwo unter, ja? Und dann beginnen Sie mit der Befragung der Angestellten und stellen vor allem fest, wo wer von ihnen heute war. Ich übernehme auch ein paar der Leute, wenn ich mit der Kleinen fertig bin. Ach ja, und finden Sie heraus, ob die Ehefrau zu Hause oder bei der Arbeit ist. Wir benachrichtigen sie, wenn wir hier fertig sind.« »Der Spaß hört einfach nie auf.« Eve steckte ihr Handy wieder ein, und im selben Augenblick kam Mosebly, abermals die Hand auf der Schulter eines kleinen Mädchens, durch die Tür. Diese Kleine war blond und hielt ihre dichte Lockenpracht mit einem veilchenblauen Reif in Schach. Der Reif hatte die Farbe ihrer Augen, die, auch wenn sie momentan rot und verquollen waren, ein Gesicht beherrschten, das mit seiner kleinen Stupsnase und dem zitternden, rosigen Schmollmund wie das einer kleinen Madame aussah. Sie trug dieselbe Uniform wie Melodie, hatte jedoch noch einen kleinen goldenen Stern am Aufschlag ihres Blazers festgemacht. »Rayleen, das hier ist Lieutenant Dallas. Lieutenant, Rayleen ist mit ihrem Vater, Oliver Straffo, hier. Falls Sie mich brauchen, warte ich draußen vor der Tür.« »Setz dich, Rayleen.« »Lieutenant.« Oliver hielt die Hand der Tochter fest. Seine Stimme war so klar und durchdringend wie die von einem guten
Schauspieler. Er war groß und blond wie seine Tochter, sah Eve jedoch aus kalten, stahlgrauen Augen an. Sie waren sich bereits des Öfteren begegnet. Vor Gericht. Er war einer der besten, teuersten und angesehensten Strafverteidiger von ganz New York. Was für ein Scheiß.
2 »Ich erlaube dieses Gespräch um diese Zeit an diesem Ort«, setzte er an, »weil ich der Ansicht bin, dass es im Interesse des emotionalen Wohlergehens meiner Tochter ist. Wenn mir allerdings der Ton oder der Inhalt des Gesprächs missfällt, werde ich es umgehend beenden und meine Tochter mit nach Hause nehmen. Ist das klar?« »Sicher. Eigentlich wollte ich gerade die Daumenschrauben rausholen, aber dummerweise weiß ich gerade nicht, wo ich sie gelassen habe. Setzen Sie sich doch. Rayleen, du musst mir bitte erzählen, was passiert ist.« Rayleen sah ihren Vater an, und als er zustimmend nickte, setzte sie sich neben ihn auf einen Stuhl und nahm eine geradezu bewundernswerte, kerzengerade Haltung ein. »Ich habe Mr Foster gefunden. Melodie war mit mir zusammen. Es war schrecklich.« »Erzähl mir bitte, wie du ihn gefunden hast. Weshalb du überhaupt um diese Zeit zu seinem Klassenzimmer gegangen bist.« »Ja, Ma'am.« Sie atmete tief ein, als wappne sie sich für ein Referat. »Ich war in meiner Lerngrupe, aber ich wollte mit Mr Foster über das Projekt sprechen, an dem ich mit Melodie zusammen arbeite. Die Note macht ein Viertel unserer Gesamtnote in amerikanischer Geschichte aus, deshalb wollte ich es so gut wie möglich machen. Ich bin die Beste meines Jahrgangs, und dies ist eins der wichtigsten Projekte dieses Halbjahres.« »Okay, du hast also die Lerngruppe verlassen, um zu Mr Foster zu gehen.« »Ja, Ma'am. Ms Hallywell hat uns einen Erlaubnisschein gegeben, damit wir etwas früher zu Mr Foster gehen können. Er
isst montags immer in seinem Klassenzimmer und hat den Schülern erlaubt, in der letzten Viertelstunde zu ihm zu kommen und mit ihm zu sprechen, falls es etwas Wichtiges gibt.« »Um wie viel Uhr genau habt ihr die Lerngruppe verlassen?« »Ich habe den Erlaubnisschein. Darauf ist die Zeit vermerkt.« Wieder sah sie ihren Vater an und zog, als er nickte, das Papier hervor. »Melodie hat auch einen. Das verlangt die Schulordnung. Auf dem Schein steht zwölf Uhr siebenundvierzig.« Eve machte sich eine gedankliche Notiz, selbst den Weg zu gehen, um zu sehen, wie lange es dauerte, bis man zu Fosters Klasse kam. »Und ihr seid direkt von der Lerngruppe zu dem Klassenzimmer gegangen.« »Oh ja, Ma'am. Wenn man sich im Flur rumtreibt, ist das ein Verstoß gegen die Schulordnung, und drei Verstöße innerhalb von dreißig Tagen führen zu einem Verlust bestimmter Privilegien.« Der Ton, in dem sie sprach, erinnerte Eve daran, dass Rayleen zu der Art von Kindern zu gehören schien, der sie während ihrer eigenen Schulzeit möglichst aus dem Weg gegangen war. »Ich habe noch nie gegen die Schulordnung verstoßen.« »Schön für dich. Wie lange habt ihr für den Weg von der Lerngruppe zu Mr Fosters Klassenzimmer gebraucht?« »Oh, höchstens ein paar Minuten. Vielleicht drei. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber wir sind direkt dorthin gegangen. Unterwegs haben wir über das Projekt gesprochen und ein paar Ideen ausgetauscht. Die Tür war geschlossen, deshalb haben wir erst angeklopft und sie dann aufgemacht. Es hat schlecht gerochen. Ich glaube, nach Erbrochenem. Melodie hat etwas über den Geruch gesagt und ...« Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich habe gelacht. Es tut mir wirklich leid. Ich habe nicht ge- wusst, dass ihm etwas passiert war, Daddy, ich habe es nicht gewusst.« »Schon gut, Ray. Natürlich hast du es nicht gewusst.«
»Dann haben wir ihn gesehen. Er lag auf dem Boden und war ...« Sie bekam einen leichten Schluckauf und krabbelte von ihrem Stuhl in den Schoß von ihrem Dad. »Jetzt ist alles gut, Baby. Jetzt ist alles gut.« Während er seiner Tochter sanft über die Haare strich, bedachte er Eve mit einem durchdringenden Blick. »Lieutenant.« »Sie wissen, dass ich das Gespräch zu Ende bringen muss. Sie wissen, dass es wichtig ist, dass sie mir so schnell wie möglich alle Einzelheiten nennt.« »Mehr weiß ich nicht.« Ihre Stimme klang gedämpft, da ihr Gesicht an der Brust des Vaters vergraben war. »Wir sind einfach weggerannt. Und dann war da Mr Dawson und meinte, wir sollten bleiben, wo wir sind. Ich glaube, ich habe mich hingesetzt. Ich habe mich auf den Fußboden gesetzt, wir haben geweint, und dann kam Mr Dawson wieder. Seine Hände haben gezittert, als er sein Handy aus der Tasche gezogen und Ms Mosebly angerufen hat.« »Hast du sonst noch irgendwen gesehen, der in das Klassenzimmer gegangen oder dort herausgekommen ist?« »Ms Mosebly ist an die Tür getreten, dann hat sie die Schulschwester gerufen, und sie haben uns - Melodie und mich ins Krankenzimmer gebracht.« »Hast du auf dem Weg zu Mr Fosters Klassenzimmer irgendwen gesehen?« »Ich glaube, ja, ich glaube, Mr Bixley kam von der Jungentoilette. Er hatte seinen Werkzeugkasten in der Hand, weil eins der Waschbecken verstopft gewesen war. Das war, bevor uns Mr Dawson entgegenkam und sich unsere Erlaubnisscheine angesehen hat. Ich bin als Erste reingegangen, ich war als Erste in dem Raum. Ich war die Erste, die ihn gesehen hat.« Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und sie stieß mit erstickter Stimme aus: »Ich kann einfach nicht verstehen, dass Mr Foster tot sein soll. Ich kann es einfach nicht verstehen. Er war mein absoluter Lieblingslehrer.«
Ihre Schultern bebten, und sie klammerte sich abermals an ihrem Vater fest. »Mehr können Sie nicht von ihr verlangen«, stellte Oliver mit ruhiger Stimme fest. »Ich werde sie jetzt nach Hause bringen.« »Falls ihr noch irgendetwas einfällt...« »... werde ich Sie kontaktieren.« Damit stand er auf, nahm seine Tochter auf den Arm und trug sie aus dem Raum. Eve fing mit Eric Dawson an. Er war Mitte fünfzig und unterrichtete seit fünfzehn Jahren Naturwissenschaften an der Akademie. Er hatte einen leichten Bauch, den er - wie das leicht gespannte Hemd verriet - zu leugnen versuchte. Sein sandfarbenes Haar wies in Höhe der Schläfen ein paar graue Strähnen auf, und die Tränensäcke unter den hellbraunen Augen wiesen auf eine gewisse Erschöpfung hin. »Ich bin nicht reingegangen«, meinte er. »Höchstens ein, zwei Schritte, weiter nicht. Ich konnte sehen ... jeder konnte sehen, dass Craig nicht mehr am Leben war. Ich war verärgert, weil die Mädchen so geschrien hatten. Ich dachte, sie hätten eine Spinne oder etwas ähnlich Idiotisches gesehen.« Er machte eine Pause und fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. »Aber gleichzeitig war mir klar, dass nicht mal dumme kleine Mädchen so hysterisch werden, wenn sie eine Spinne sehen.« »Haben Sie außer den beiden Mädchen sonst noch jemanden gesehen?« »Ich kam gerade aus dem Lehrerzimmer, wo ich mit Dave Kolfax und Reed Williams zusammen gewesen war. Wir hatten gemeinsam Mittag gegessen, wie wir es hin und wieder tun. Und beim Rausgehen habe ich noch Leanne Howard gesehen, die gerade in die Pause ging. Ich selber wollte ins Chemielabor, um ein Experiment für die nächste Stunde vorzubereiten.« »Wann haben Sie Mr Foster zum letzten Mal lebend gesehen?«
»Oh, Gott. Gott. Im Lehrerzimmer heute Morgen vor Beginn des Unterrichts. Ich habe einen Kaffee getrunken, und er hat sich eine Dose Pepsi aus dem Automaten geholt. Er hat keinen Kaffee getrunken. Ich habe ihn deshalb immer aufgezogen. Wir haben uns über einen Schüler unterhalten, den wir beide haben Bradley Curtis. Seine Eltern lassen sich gerade scheiden, und seine Noten sacken deshalb ziemlich ab. Wir sind übereingekommen, dass es an der Zeit für ein Gespräch mit seinen Eltern und dem Psychologen ist. Dann, ah, dann kam Reed herein. Ja, um sich einen Kaffee zu holen. Als ich den Raum verließ, haben sich die beiden über irgendeinen Action-Film unterhalten, den sie beide vor Kurzem gesehen hatten. Ich habe Foster nicht noch mal gesehen, bis ...« »Wie kamen Sie beide miteinander aus?« »Ich und Craig? Ich fand ihn wirklich nett. Ja, ich fand ihn wirklich nett. Ich war, nun, ich war nicht ganz überzeugt, als er letztes Jahr an unsere Schule kam. Er war so jung - der jüngste Lehrer im Kollegium. Aber einen gewissen Mangel an Erfahrung hat er durch seinen Eifer und seinen Enthusiasmus wettgemacht. Die Schüler lagen ihm wirklich sehr am Herzen. Er muss krank gewesen sein und hat es nicht gewusst. Er muss einfach krank gewesen sein. Aber auf diese Art zu sterben ... Einfach unvorstellbar.« Dieselben Gefühle äußerten auch alle anderen Mitglieder des Lehrkörpers, mit denen Eve sich unterhielt. Als Letzter kam Reed Williams, Englischlehrer, dran. Er hatte keinen Bauch, bemerkte Eve. Wie sein straffer, muskulöser Körper zeigte, nutzte er das Fitnessangebot der Schule. Die goldenen Spitzen seines vollen, dunkelbraunen Haars sahen wie Sonnenstrahlen aus. Sein kantiges Kinn unter dem straffen Mund wies ein tiefes Grübchen auf, und seine durchdringenden, flaschengrünen Augen wurden von zwei schweren, dunklen Wimpernkränzen eingerahmt.
Er war achtunddreißig Jahre alt, unverheiratet und hatte für den Anzug, den er trug, wahrscheinlich ein halbes Monatsgehalt auf den Tisch gelegt. »Ich habe ihn heute Morgen im Fitnessraum gesehen. Als ich reinkam, machte er gerade ein paar Rumpfbeugen. Ich unterhalte mich nicht gern, wenn ich trainiere, deshalb habe ich ihm nur kurz zugenickt. Ich würde sagen, wir waren vielleicht zwanzig Minuten zusammen dort. Dann ist er gegangen und hat mir zugewinkt. Meistens hat er nach dem Training noch ein paar Runden im Pool gedreht. Ich schätze, ich war noch circa zehn Minuten dort. Dann habe ich kurz geduscht und mich angezogen. Danach habe ich Craig noch mal im Lehrerzimmer gesehen, zusammen mit Eric. Eric Dawson.« »Hatte Mr Foster irgendwas dabei?« »Dabei? Nein, er hatte nur eine Dose Pepsi in der Hand. Wir haben uns ein paar Minuten über Filme unterhalten, und dann haben wir uns auf den Weg in unsere jeweiligen Klassenzimmer gemacht. Ich habe ihn noch mal getroffen, als ich auf der Toilette war.« Williams verzog den Mund zu einem leichten Lächeln und das Grübchen, das sich dabei in der linken Wange zeigte, passte gut zu der Vertiefung in der Mitte seines Kinns. »Wir haben nur kurz hallo gesagt. Ich schätze, das war gegen elf. Oder eher gesagt, kurz vor. Der Unterricht beginnt Punkt elf, und ich war nicht zu spät.« »Wie sind Sie mit ihm ausgekommen?« »Gut. Wir kamen prima miteinander klar.« »Sie habe beide gerne Action-Filme gesehen. Hatten Sie auch privat Kontakt?« »Hin und wieder, sicher. Letztes Jahr war ich auf seiner Hochzeit - wie die meisten anderen Kollegen auch. Und ab und zu haben wir ein Bier zusammen getrunken.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir waren keine wirklich engen Freunde, aber kamen gut zurecht. Ich würde sagen, Mirri hat ihn von uns allen am besten gekannt.«
»Mirri?« »Hallywell. Sie unterrichtet Englisch und leitet die Theatergruppe. Die beiden haben sich auch privat des Öfteren gesehen.« »Sie waren also gut miteinander bekannt.« »Oh ja.« Abermals verzog er seinen Mund zu einem Lächeln, das jedoch etwas gehässig war. »Sie haben sich immer mittwochabends getroffen. Haben zusammen gelernt ....« Nachdem die ersten Gespräche abgeschlossen waren, rief Eve noch einmal Peaobdy an. »Bixley«, sagte sie. »Hernando M., der Hausmeister. Er hat sich um ein Problem mit einem der Abflüsse auf der Jungentoilette beschäftigt, die ein Stück unterhalb von Fosters Klassenzimmer liegt. Er ist an den beiden Zeuginnen und an Dawson vorbeigekommen, als er die Toilette wieder verlassen hat.« »Kommt Ihnen irgendetwas komisch an ihm vor?« »Nein. Er ist Ende sechzig und seit zwölf Jahren hier angestellt. Seine beiden Enkel besuchen die Akademie, denn für sie als Verwandte eines Angestellten sind die Gebühren nicht so hoch. Erscheint mir wie ein grundsolider Typ.« »Hallywell.« »Mirri C. Ich habe bis vor einer Viertelstunde mit ihr gesprochen. Englischlehrerin und Leiterin der Theatergruppe. Ich wollte gerade die letzte Person auf meiner Liste aufrufen. Stimmt etwas nicht mit Hallywell? Ich hatte auch bei ihr kein komisches Gefühl.« »Trotzdem würde ich gerne noch einmal selber mit ihr sprechen. Falls sie also noch im Haus ist, schicken Sie sie mir. Und wenn Sie mit den Gesprächen fertig sind, suchen Sie mich, ja?« »Sie war ganz schön fertig - Hallywell. Vielleicht fangen Sie mit Ihrer Suche auf den Toiletten an. Ich würde nämlich sagen, dass
sie sich erst mal ein bisschen sammeln muss, bevor sie das Haus verlassen kann.« Eve befolgte ihren Rat, und da Hallywell von Peabody im Lehrerzimmer vernommen worden war, sah sie auf der Toilette nach, die dem Raum am nächsten lag. Man brauchte eine Schlüsselkarte, um die Tür zu öffnen, weshalb Eve ihren Generalschlüssel aus ihrer Tasche zog. Sie betrat den Raum und stieß auf eine Frau, die schluchzend vor den Waschbecken auf dem gefliesten Boden saß. »Mirri Hallywell.« »Ja. Ja.« Sie unterdrückte einen neuerlichen Schluchzer, schniefte leise und fuhr sich mit einem Taschentuch durch das vom Weinen fleckige Gesicht. Sie hatte hellblaue, momentan verquollene Augen, dunkles, radikal zu einem kurzen Cäsarenschnitt gekürztes Haar, unter dem man kleine Silberreifen an den Ohren baumeln sah. »Es tut mir leid. Sind Sie von der Polizei? Ich habe bereits mit einem Detective gesprochen.« »Mit meiner Partnerin. Ich bin Lieutenant Dallas. Ich muss Ihnen noch ein paar zusätzliche Fragen stellen.« »Oh Gott, oh Gott. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Eve ging vor ihr in die Hocke. »Es ist schwer, wenn plötzlich ein Kollege stirbt.« »Es ist einfach grauenhaft. Wir waren nicht nur Kollegen, sondern Freunde. Gute Freunde. All das kann einfach nicht sein.« »Wie gut waren Sie miteinander befreundet?« Mirri ließ den Kopf nach hinten fallen. »Wie können Sie so etwas auch nur andeuten? Wie können Sie so etwas denken? Von jemandem wie Craig, der nicht mehr selber für sich sprechen kann.« »Jetzt spreche ich für ihn.«
»Wenn Sie für ihn sprechen wollen, sollten Sie zumindest wissen, dass er seine Frau geliebt hat. Dass sie sich geliebt haben. Ich habe die beiden um das, was sie miteinander hatten, regelrecht beneidet. Ich bin auch mit ihr befreundet. Ich bin ihre Freundin, und ich habe keine Ahnung, wie ich ihr in dieser fürchterlichen Sache helfen soll.« »Sie und Craig haben sich jede Woche außerhalb der Schule gesehen.« »Wir haben uns immer mittwochs getroffen und zusammen gelernt.« Ihre Augen blitzten auf. »Um Gottes willen, ist das alles, worum es Leuten wie Ihnen geht?« »Wenn es unschuldige Treffen waren, warum regen Sie sich dann so auf?« »Weil er tot ist. Er ist tot.« Hallywell atmete zitternd ein. »Wir wollten beide noch den Master machen. Deshalb sind wir zusammen in die Bibliothek oder in ein Cafe gegangen, haben ein paar Stunden zusammen gelernt und manchmal noch ein Bier getrunken, wenn es gut gelaufen ist. Wir gehen - ich meine, oh Gott, wir hätten morgen zusammen ins Kino gehen wollen. Craig und Lissy und der Typ, mit dem sie mich verkuppelt haben. Ich hasse es, wenn andere mich verkuppeln wollen, aber sie haben mich letzten Monat dazu überredet, mich mit diesem Mann zu treffen, und bisher läuft es wirklich gut. Deshalb wollten wir zu viert ausgehen.« »Mirri, falls zwischen Ihnen und Craig etwas gelaufen ist, ist dies der richtige Zeitpunkt, um es mir zu sagen.« »Da gibt es nichts zu sagen. Ich bin nicht so verzweifelt, dass ich auf dem Territorium einer Freundin wildern würde.« Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Ich wollte Lissy anrufen, bin hierhergekommen und wollte sie anrufen, obwohl es hieß, dass man niemanden kontaktieren soll. Ich dachte, das wäre ich ihr schuldig, dachte, dass sie es von einer Freundin hören muss. Aber ich konnte es einfach nicht tun.«
Mirri presste ihr Gesicht auf ihre angezogenen Knie. »Ich habe es einfach nicht über mich gebracht. Ich wusste nicht, was ich ihr hätte sagen sollen, wie ich es ihr hätte sagen sollen, hatte schlicht nicht den Mut dazu.« »Es ist unsere Aufgabe, es ihr zu sagen.« »Was können Sie ihr sagen?«, wollte Mirri wissen. »Was können Sie in einem solchen Fall zu einem Menschen sagen? Sie geht davon aus, dass er zu Hause ist, wenn sie heute Abend von der Arbeit kommt. Doch er wird nicht zu Hause sein. Weder heute Abend noch überhaupt jemals. Was können Sie ihr also sagen?« Dann stieß sie einen Seufzer aus und rappelte sich auf. »Es ist nicht Ihre Schuld. Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, es wäre Ihre Schuld und ich könnte schreien und toben und Sie anbrüllen. Würden Sie Lissy sagen ... würden Sie ihr bitte einfach sagen, wie leid es mir tut und dass ich ... da bin ... falls ich irgendetwas tun, falls ich ihr auf irgendeine Weise helfen kann?« Lissette Foster war Redaktionsassistentin bei einem kleinen, in Midtown gelegenen Verlag. Laut Personenüberprüfung war sie vierundzwanzig Jahre alt, auf Martinique geboren, und hatte wie ihr Mann - an der Columbia-Universität studiert. Einzig schwarzer Fleck in ihrem Lebenslauf war ein Verfahren wegen Alkoholkonsums, als sie neunzehn gewesen war. Dafür hatte sie ein paar Stunden gemeinnütziger Arbeit absolviert und seither nie wieder gefehlt. Ihre Mutter lebte nach wie vor auf Martinique. Wo der Vater lebte, war anscheinend nicht bekannt. »Also«, fuhr Peabody fort. »Da wir gerade von Inseln sprechen, wie war überhaupt Ihr Urlaub?« »Gut.« Eine Woche voller Sonne, Sand und Sex. Was konnte besser sein? »Sieht aus, als ob der Schnee tatsächlich liegen bleiben würde.«
»Ja, laut Wettervorhersage sollen es bis zu zehn Zentimeter werden. Glauben Sie ernsthaft, die Ehefrau hätte etwas damit zu tun?« »Sie steht erst mal ganz oben auf der Liste. Das tun Ehepartner immer.« »Ja, aber auch frisch Vermählte? Ich weiß, es heißt, das erste Jahr wäre nicht leicht, weil man sich erst einmal daran gewöhnen muss, aber Gift? Das ist heimtückisch und distanziert. Wenn ein Ehepartner auf den anderen wütend ist, endet das meistens blutiger, weil er die direkte Auseinandersetzung sucht.« »Meistens, aber nicht immer«, antwortete Eve. »Wenn das Gift in seinem Essen war, müssen wir uns fragen, woher dieses Essen kam. Die Kollegen haben uns erzählt, er hätte sich sein Essen immer von zu Hause mitgebracht. Dort hätte seine Ehefrau den leichtesten Zugriff darauf gehabt. Ebenso haben die Kollegen uns erzählt, dass das Opfer die Tasche mit seinem Essen immer in seinem Klassenzimmer stehen hatte. Einem nicht abgesperrten Raum. Er ist zeitig in der Schule angekommen, hat sein Zeug in seiner Klasse abgestellt und sich auf den Weg in den Fitnessraum gemacht. Also hätte jeder in der Schule, der sein Essen hätte panschen wollen, ein leichtes Spiel gehabt.« »Und was für ein Motiv könnte es für einen Giftmord geben?« »Außer dem Test? Das kann ich noch nicht sagen. Übrigens ist die Zeugin, Rayleen Straffo, die Frucht von Oliver Straffos Lenden.« »Oh, Scheiße. Echt? Hat sie zwei Hörner und einen Schwanz?« »Falls ja, hat sie sie gut versteckt.« Eve trommelte mit ihren Fingern auf das Lenkrad und dachte über Straffo nach. »Er könnte in dieser Angelegenheit die Daddy-Karte spielen und bekäme damit sicher jede Menge Sendezeit. Könnte öffentlich verkünden, wie empört, besorgt und so er ist.« »Das würde diesem Ekel ähnlich sehen. Aber Sie sind ja diese Woche in Nadines neuer Sendung. Da können Sie den Schwachsinn geraderücken, den der Kerl vielleicht erzählt.«
»Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Freundschaften sind einfach eine dämliche Erfindung. Sie kosten einen immer was.« »Wie sentimental und weichherzig Sie sind.« »Ja, das liebe ich ebenfalls an mir.« Wegen des fortgesetzten Schneefalls und des Wahnsinns der New Yorker Autofahrer stellte Eve ihr Fahrzeug auf einem zwei Blocks von der Adresse entfernten öffentlichen Parkplatz ab und erklärte ihrer Partnerin: »Bei dem verdammten Schnee versuche ich am besten gar nicht erst, eine Lücke am Straßenrand zu finden.« »Ein bisschen Bewegung tut mir sicher gut. Ich habe während der Feiertage pausenlos gegessen, und ich gehe davon aus, dass McNab zum Valentinstag irgendwas mit Schokolade springen lassen wird, deshalb nehme ich am besten erst mal etwas ab. Was werden Sie Roarke schenken?« »Wozu?« »Zum Valentinstag.« »Ich habe doch erst vor fünf Minuten das Zeug für Weihnachten besorgt.« Eve stieg aus dem Wagen, erinnerte sich an den Schal, der in ihrer Manteltasche steckte, zog ihn kurzerhand heraus und schlang ihn sich um den Hals. »Das ist zwei Monate her. Und vor allem ist der Valentinstag extra für Liebende gemacht. Sie müssen ihm eine schmalzige Karte schreiben, und dazu brauchen Sie noch ein sentimentales Geschenk. Ich habe schon was für McNab. Einen sprechenden Bilderrahmen, auf dem unsere Namen stehen. Ich habe den Schnappschuss, den sein Vater an Weihnachten von uns gemacht hat, reingesteckt, dann kann er den Rahmen auf seinen Schreibtisch stellen und das Foto immer sehen. Roarke würde sich ganz sicher auch über etwas in der Richtung freuen.« »Roarke weiß, wie wir aussehen.« Ein Minicoupe wollte an einer roten Ampel halten, geriet dabei ins Schleudern und erntete die Flüche und Beschimpfungen der Fußgänger, an denen es vorbei über den Gehweg schoss. Eve liebte diese Stadt.
»Apropos Fotos, ich habe ein neues Bild von Belle. Haben Sie sie seit Ihrer Rückkehr schon gesehen?« »Nein. Verlangt sie schon Bauchnabelpiercings und Tätowierungen ?« »Also bitte. Sie ist einfach unglaublich süß. Sie hat Leonardos Augen, Mavis' Mund und ...« »Gott steh uns bei, wenn sie auch den Modesinn der beiden erbt.« »Jedes Mal, wenn ich sie auf den Arm nehme, lächelt sie mich an.« Peabodys braune Augen schmolzen über ihrem Schal und unter ihrer Mütze, und begeistert fügte sie hinzu: »Die Leute sagen, das ist Quatsch, aber sie lächelt mich tatsächlich an. Sie ist schon so groß geworden und ...« Während Peabody von Mavis' neugeborener Tochter schwärmte, lauschte Eve der Musik New Yorks. Dem durchdringenden Hupen, dem Rumoren der Werbeflieger über ihrem Kopf, den lautstarken Streitereien, hektischen Gesprächen, der Litanei von Beschwerden, die es ständig wegen irgendwelcher Dinge gab. »Also, was werden Sie ihr mitbringen?« »Was? Was soll ich mitbringen? Wohin?« »Ein Geschenk für Belle, wenn Sie sie das nächste Mal besuchen.« »Was für ein Geschenk?« Eve blieb mitten auf dem Gehweg stehen. »Warum brauche ich schon wieder ein Geschenk?« »Darum.« »Warum? Habe ich nicht erst die Babyparty für sie organisiert und war dann auch noch bei ihrer Geburt dabei?« »Ja, aber es ist nun einmal Tradition, dass man ein Geschenk mitbringt, wenn man ein Baby zum ersten Mal zu Hause besucht.« »Wer denkt sich diesen ganzen Schwachsinn aus?« Eve pikste erbost mit einem Finger in den watteweichen Wintermantel ihrer Partnerin. »Ich will wissen, wer diese dämlichen Regeln
macht. Sie sind einfach total bekloppt. Sagen Sie mir, wer es ist, und ich werde dafür sorgen, dass er in die Irrenanstalt kommt.« »Also bitte, Dallas, Sie brauchen ihr nur einen kleinen Teddybär oder eine hübsche Rassel zu besorgen. Es macht wirklich Spaß, für Babys einzukaufen.« »Wissen Sie, was Spaß macht?« Eve riss die Tür des Bürogebäudes auf. »Herauszufinden, wer diesen armen Geschichtslehrer vergiftet hat. So was macht mir Spaß. Und wenn Sie jetzt noch weiter von Einkäufen, Geschenken, Babys, sentimentalen Karten und Valentinstagen reden, ramme ich Ihnen meinen Stiefel so tief in den Hintern, dass Sie denken, mein großer Zeh wäre ein Teil von Ihrer Zunge oder so.« »Die Woche am Strand hat Ihnen wirklich gutgetan«, murmelte Peabody, als Eves Blick die obersten Schichten ihrer Haut zu verbrennen schien. Eve machte auf dem Absatz kehrt, marschierte zum Empfang und klatschte ihre Marke auf den Tisch. »Lissette Foster.« »Einen Augenblick, bitte.« Der Portier überprüfte ihre Dienstnummer und sah sich auch ihren Ausweis gründlich an. »Sehr wohl, Madam. Lissette Foster ... Foster, Foster. Ah, ja, hier. Sie ist in der Redaktion von Blackburn. Uh ... das ist im neunten Stock. Die Fahrstühle sind rechts von Ihnen. Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag.« »Den haben wir auf jeden Fall. Gebürtig auf Martinique«, begann Eve, als sie einen der Lifte betrat, in dem leise Musik die Hirnzellen schmelzen ließ. »Wahrscheinlich ist sie mit einem Studenten- oder Arbeitsvisum hergekommen. Durch die Heirat mit einem amerikanischen Staatsbürger hat sie eine permanente Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis bekommen, die sie auch als seine Witwe behält.« »Es gibt einfachere Wege, um an diese Erlaubnis zu gelangen.«
»Sicher. Aber vielleicht ist es zwischen den beiden ja nicht so gelaufen, wie sie dachten, und durch eine Scheidung innerhalb der ersten beiden Jahre hätte sie ihr Aufenthaltsrecht verwirkt. Vielleicht ist es bei diesen Treffen mittwochabends mit Hallywell ja doch nicht nur ums Studium gegangen. Lissette hat eine Arbeit hier, will anscheinend auch hier leben. Da ist es nicht allzu weit hergeholt, dass sie dafür vielleicht sogar einen Mord begeht.« Sie betraten einen kleinen Empfangsbereich, in dem eine Frau hinter einem weißen Tresen saß. Sie hatte ein Headset auf und sah sie mit einem breiten, einladenden Lächeln an. »Guten Tag«, grüßte sie so enthusiastisch, dass Eve argwöhnisch die Augen zusammenkniff. »Willkommen bei Blackburn. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Lissette Foster.« »Selbstverständlich. Ich sehe gerne nach, ob sie gerade frei ist. Darf ich ihr sagen, wer sie sehen möchte und worum es geht?« Abermals zog Eve einfach ihre Dienstmarke hervor. »Das werden wir ihr selbst erklären.« »Oh.« Als die Frau die Marke sah, quollen ihr beinahe die Augen aus dem Kopf. »Oje. Bitte entschuldigen Sie mich.« Sie wirbelte herum und sprach mit Flüsterstimme in das Mundstück ihres Headsets: »Lissette Foster.« Dann räusperte sie sich und blickte kurz auf Eve. »Lissette, hier ist jemand am Empfang, der Sie sprechen möchte. Jemand von der Polizei. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Okay.« Mit einem etwas angestrengten Lächeln wandte sie sich wieder an Eve. »Sie wird sofort da sein. Falls Sie sich solange setzen möchten ...« »Wir bleiben lieber stehen.« Bis Eve ihren Schal von ihrem Hals gewickelt hatte, kam eine Frau auf Absätzen wie Eispickel, die für Eve ein Zeichen von Wahnsinn waren, auf sie zumarschiert. Die Schuhe waren dunkelrot und passten ausgezeichnet zu dem eng geschnittenen,
steingrauen Kostüm, das den phänomenalen Körper seiner Trägerin ausnehmend vorteilhaft zur Geltung kommen ließ. Lissette Foster hatte seidig weiche Haut, haselnuss- braune Augen, deren Ausdruck augenblicklich leicht verärgert war, und glattes, schulterlanges Haar in genau demselben Ton. Sie bewegte sich wie eine Frau, die jede Menge Feuer hatte, dachte Eve. Sie hatte keine Ahnung, ob aus Ärger, Ehrgeiz oder Leidenschaft, doch auf alle Fälle loderte es heiß. »Sie sind von der Polizei?«, fragte sie in barschem Ton, der durch den französischen Akzent exotisch klang. »Ich bin Lieutenant Dallas und das ist Detective Peabody. Wir ...« »Oh, um Himmels willen! Ich habe ihm gesagt, dass wir die Musik runterdrehen würden. Aber, bitte, nehmen Sie mich fest.« Sie streckte dramatisch beide Arme aus. »Nehmen Sie mich fest, weil ich nach einundzwanzig Uhr an einem Samstagabend - also zu einer wahrhaft unchristlichen Zeit - Musik gehört habe. Legen Sie mich in Ketten und zerren mich mit auf Ihr Revier! Dass ein pensionierter Cop Probleme hat, ist ja wohl kein Grund, mich hier an meiner Arbeitsstelle aufzusuchen. Will er, dass ich gefeuert werde, oder was?« »Mrs Foster, wir sind nicht wegen Samstagabend hier. Wir würden gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Am besten in Ihrem Büro.« »In meinem Büro?« Lissette fing schallend an zu lachen. »Ich bin Redaktionsassistentin in diesem Verlag, kann also von Glück reden, dass man mir einen Schreibtisch überlassen hat. Worum geht's?« Eve wandte sich an die Frau am Empfang. »Ich brauche einen Raum. Ein Büro, ein Konferenzzimmer, einen Pausenraum, was immer. Nur will ich ihn jetzt sofort.« »Natürlich, selbstverständlich. Das Konferenzzimmer ist augenblicklich nicht belegt. Sie können ...« »Fein.« Eve blickte wieder auf Lissette. »Lassen Sie uns gehen.«
»Würden Sie mir vielleicht endlich sagen, was Sie von mir wollen? Ich habe einen Termin mit meiner Chefin, und zwar ... oh Gott, in zehn Minuten. Sie hasst es, wenn man nicht pünktlich ist. Falls Sie sich einbilden, Sie könnten einem kleinen Licht wie mir eine Story andrehen, vergeuden Sie nur Ihre Zeit.« Sie bahnte sich einen Weg durch ein Labyrinth aus Schreibtischen und schmalen Gängen, an Büros mit winzig kleinen Fenstern und Eckräumen mit Aussichten, für die man einen Mord begehen würde, vorbei. »Hören Sie, ich hätte nicht so über Sergeant Kowoski reden sollen. Vielleicht war die Musik wirklich ein bisschen zu laut. Mein Mann und ich haben rumgealbert und getan, als wären wir in einem heißen Club. Vielleicht waren wir ein bisschen angetrunken und deshalb etwas zu laut. Ich hoffe, dass es deshalb keinen Ärger gibt.« Der Konferenzraum war mit einem großen Tisch, zwölf Stühlen, langen Tresen an den beiden Seitenwänden sowie zwei großen Bildschirmen an den Tischenden bestückt. »Können wir vielleicht schnell machen? Ich möchte wirklich nicht zu spät zu meinem Termin kommen.« »Bitte setzen Sie sich.« »Das ist einfach lächerlich.« Sie atmete hörbar aus, ließ sich auf einen der Stühle fallen, sprang dann aber sofort wieder auf und bedachte Eve mit einem alarmierten Blick. »Oh, Gott. Ist etwas mit meiner Mutter? Hatte sie einen Unfall? Ist Maman etwas passiert?« »Nein.« Wie sagte man jemandem, dass der Mensch, von dem er sicher annahm, dass er abends nach der Arbeit zu Hause auf ihn warten würde, weder heute noch an irgendeinem anderen Abend jemals wieder käme? Am besten sagte man es schnell und sprach nicht lange drum herum. »Mrs Foster, es geht um Ihren Mann.« »Um Craig? Er ist noch in der Schule.«
»Es tut mir leid, aber Ihr Mann ist tot.« »Wie können Sie so etwas Schreckliches behaupten? Das ist schrecklich und gemein. Ich möchte, dass Sie gehen. Ich werde die Polizei verständigen - die richtige Polizei - und Sie verhaften lassen.« »Mrs Foster, meine Partnerin und ich sind die richtige Polizei, und wir sind wegen des Todes Ihres Mannes hier. Er ist heute gegen zwölf Uhr dreißig gestorben.« »Natürlich nicht. Das ist er nicht. Zu der Zeit war er in der Schule. Da hat er seine Mittagspause, und er hat mir kurz nach zwölf noch eine Mail geschickt. Er ist in der Schule, montags um diese Zeit ist er bei einer Besprechung seiner Fakultät. Es geht ihm gut.« Sie fing an zu keuchen, und noch während sie mit einer Hand nach der Tischplatte tastete, weil ihre Beine ihren Dienst versagten, wich ihr alle Farbe aus dem Gesicht. »Sie sollten sich setzen, Mrs Foster«, riet Peabody ihr sanft. »Es tut uns wirklich leid.« »Nein. Nein. Gab es einen Anschlag? Gab es einen Anschlag auf die Schule? Oh, mein Gott. Ist er verletzt? Ist Craig verletzt?« »Er ist tot«, erklärte Eve ihr tonlos. »Es tut mir furchtbar leid.« »Aber er ... aber er ... vielleicht irren Sie sich ja. Sie müssen sich ganz einfach irren. Am besten rufe ich ihn an. Dann werden Sie ja sehen. Ja, am besten rufe ich ihn an. Nur, dass er in seiner montäglichen Teambesprechung ist. Da ist sein Handy immer aus.« Sie stieß sich von der Tischplatte ab und richtete sich schwankend auf. »Also fahren wir einfach hin. Fahren in die Schule und zu Craig. Ich brauche meinen Mantel. Ich hole nur schnell meinen Mantel.« Sie sah sich suchend um. »Ich bin einfach dumm. Während eines Moments wusste ich nicht mehr, wo ich bin. Ich brauche ... was ist?« »Setzen Sie sich, Mrs Foster.«
»Nein, wir müssen los. Zur Schule. Wir müssen ...« Sie zuckte zusammen, denn im selben Augenblick klopfte es an der Tür, und eine rot gekleidete Blondine kam herein. »Ich würde gern erfahren, was hier vor sich geht. Lissette?« »Elizabeth.« Lissette hatte den trüben Blick der Schlafwandler ... und Hinterbliebenen. »Komme ich zu spät zu der Besprechung?« »Peabody.« Eve nickte in Richtung von Lissette und ging auf die Blondine zu. »Wer sind Sie?« »Ich bin Elizabeth Blackburn, und wer, zum Teufel, sind Sie?« »Lieutenant Dallas von der New Yorker Polizei. Ich habe Mrs Foster soeben über den Tod von ihrem Ehemann informiert.« »Er ist ... was? Craig. Oh, grundgütiger Jesus. Lissy.« Vielleicht war es die Verwendung ihres Kosenamens oder die Trauer, die in der Stimme ihrer Chefin lag, aber Lissette glitt einfach zu Boden, und Elizabeth lief eilig durch den Raum, kniete sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Craig. Mein Craig.« »Es tut mir leid. Lissy, Lissy, es tut mir furchtbar leid. Hatte er einen Unfall?«, fragte sie Eve. »Wir müssen mit Mrs Foster über die Todesumstände sprechen.« »In Ordnung, in Ordnung. Mein Büro liegt hinten rechts, am Ende des Korridors. Ich werde sie zu Ihnen bringen, sobald sie wieder laufen kann. Aber, um Gottes willen, sie braucht ein paar Minuten Zeit. Warten Sie einfach in meinem Büro.« Sie ließen Lissette in den Armen ihrer Chefin in dem Konferenzzimmer zurück und ernteten eine Reihe neugieriger Blicke aus den anderen Büros, niemand aber sagte einen Ton, bis Eve durch die Tür des Eckbüros am Ende des Ganges trat. In diesem Augenblick kam eine junge, brünette Frau wie ein Springteufel auf sie zugeschossen und kreischte beinahe hysterisch: »Entschuldigung! Das ist Ms Black- burns Büro.«
»Wo wir auf sie warten sollen.« Zum dritten Mal zog Eve ihre Dienstmarke hervor. »Fahren Sie also ruhig mit Ihrer Arbeit fort.« In Elizabeths Büro gab es einen hochmodernen Arbeitsplatz, ein bequemes Sofa, zwei hübsch geformte Stühle und ein wahrhaft beeindruckendes Blumenarrangement auf dem kleinen Tisch, der vor dem nach Süden zeigenden Fenster stand. »Falls sie diese Reaktion gespielt hat«, setzte Peabody mit nachdenklicher Stimme an, »dann hat sie echt Talent.« »Das ist gar nicht so schwer, wenn man lange genug übt. Aber ja, ihre Bestürzung wirkte echt. Gehen Sie los, bevor die beiden kommen, und suchen jemanden, der Ihnen ihren Schreibtisch zeigt. Ich will wissen, was sie dort alles hat.« »Bin schon unterwegs.« Auf dem Weg zum Fenster blieb Eve vor dem Schreibtisch stehen, sah ihn sich genauer an und entdeckte ein gerahmtes Foto von einem heranwachsenden Mädchen, einen Monitor, auf dem irgendein Schriftstück aufgerufen worden war, einen zu einer Pyramide aufgetürmten Haufen Memo-Würfel sowie eine Akte, die, als sie sie aufschlug, die künstlerische Vorlage für ein Disketten- Cover enthielt. Hinter den großen Fenstern fielen noch immer dünne, nasse Schneeflocken auf die Straßen der Stadt. Ein Luftbus mit einer Handvoll unglücklicher Passagiere rumpelte an ihr vorbei. Sie persönlich quälte sich lieber durch den elenden Verkehr auf den rutschigen Straßen, dachte sie und drehte sich um, als Peabody wieder den Raum betrat. »Nicht viel, aber für mehr hätte sie auch keinen Platz. Akten, Memos, Notizen zu aktuellen Projekten. Außerdem ein Hochzeitsfoto von sich und dem Opfer in einem wirklich hübschen Rahmen. Wette, das war ein Hochzeitsgeschenk. Ein paar Schnappschüsse von ihm oder ihnen beiden an der Wand über dem Schreibtisch. Oh, und ein kleiner Stapel Anzeigen und
Bilder aus Einrichtungszeitschriften. Das dürfte es so ungefähr gewesen sein.« »Okay. Wir geben ihr noch eine Minute, dann kehren wir in das Konferenzzimmer zurück. Danach geht's noch kurz in die Pathologie. Ich will wissen, was Craig Foster genau getötet hat.« Sie brauchten nicht zurückzugehen, denn ein paar Sekunden später kam Lissette, schwer auf Elizabeth gestützt, herein. »Setz dich«, wies Elizabeth sie an. »Ich setze mich neben dich. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel eingeflößt«, sagte sie zu Eve und reckte, ehe Eve auch nur den Mund aufmachen konnte, herausfordernd das Kinn. »Und denken Sie am besten nicht mal dran, mir deshalb Vorhaltungen zu machen. Sie hat etwas gebraucht. Es war ein leichtes Mittel, weshalb sie auch weiter mit Ihnen sprechen kann.« »Sind Sie ihre Chefin oder ihre Anwältin?« »Ich übernehme die Funktion, in der sie mich augenblicklich braucht.« »Sind Sie sich ganz sicher?« Lissettes Stimme klang rau und enthielt den grauenhaften Schmerz, der mit der schwindenden Hoffnung verbunden war. »Sind Sie sich völlig sicher, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist? Dass wirklich Craig der Tote ist?« Peabody, die ihre Stärken kannte, trat entschlossen vor die Couch, auf der Lissette neben ihrer Chefin saß. »Es tut mir sehr leid. Aber wir haben uns ganz sicher nicht geirrt.« »Aber ... er war nicht krank. Wir haben uns vor unserer Hochzeit gründlich durchchecken lassen. Er war kerngesund. Menschen fallen nicht einfach plötzlich um ... hat ihn jemand verletzt? Gab es einen Unfall in der Schule?« »Wir müssen noch herausfinden, aus welchem Grund und wie es dazu gekommen ist. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Sie müssen uns helfen, es herauszufinden. « »Ich will Ihnen ja helfen. Ich will selber wissen, was geschehen ist. Ich liebe ihn.«
»Fangen wir mit heute Morgen an. Sie haben gesagt, Sie hätten ihm sein Essen eingepackt.« »Das mache ich jeden Tag.« Ihre Lider flatterten, sie riss die Augen auf und umklammerte Peabodys Arm. »War etwas mit dem Sandwich nicht in Ordnung? Er hat diesen grauenhaften Putenbrustersatz geliebt. Hat der ihn krank gemacht? Oh, mein Gott.« »Das wissen wir nicht, Mrs Foster. War heute jemand bei Ihnen in der Wohnung, bevor Ihr Mann zur Arbeit aufgebrochen ist?« »Nein. Er geht immer so früh. Er geht immer noch gerne in den Fitnessraum, bevor der Unterricht beginnt. Er achtet sehr auf sich. Und das tue ich auch. Elizabeth.« »Du machst deine Sache gut. Wie viele Fragen haben Sie denn noch?«, wandte sich Elizabeth an die Polizistinnen. »Hatte Ihr Mann Probleme mit jemandem in der Schule?«, fragte Eve. »Craig? Nein. Er hat sich dort sehr wohl gefühlt.« »Wie steht es mit früheren Beziehungen? Hatte einer von Ihnen beiden Ärger mit einem ehemaligen Partner, einer ehemaligen Partnerin?« »Wir waren zwei Jahre zusammen, bevor wir geheiratet haben. Wissen Sie, wie das ist, wenn man einen Menschen trifft und einfach weiß, dass er es ist? In diesem Augenblick sieht man sein ganzes Leben vor sich. So war es für uns.« Eve trat auf sie zu, ging vor ihr in die Hocke und sah ihr ins Gesicht. »Wenn Sie uns helfen wollen, müssen Sie ehrlich zu uns sein. Völlig ehrlich. Hat Ihr Mann gespielt?« »Er hätte nie auch nur ein Los gekauft. Mit Geld war er immer sehr vorsichtig.« »Wie sieht es mit Drogen aus?« Sie biss sich auf die Lippe. »Hm, als wir am College waren, haben wir mal Zoner ausprobiert.« Sie sah vorsichtig ihre Chefin an.
»Wer hat das nicht?« Elizabeth tätschelte ihr begütigend den Arm. »Und in letzter Zeit?« »Nein.« Lissette schüttelte vehement den Kopf. »Ganz sicher nicht. Dafür hätte er entlassen werden können. Außerdem hat er immer gesagt, dass man seinen Schülern immer mit gutem Beispiel vorangehen soll.« »Hatten Sie finanzielle Probleme?« »Nichts Ernsthaftes. Ich meine, wir mussten manchmal ein bisschen jonglieren, vor allem, weil Craig sparen will. Manchmal gebe ich ein bisschen mehr aus, als ich sollte, aber das gleicht er immer wieder aus. Er spart für verschiedene Dinge. Wichtige Dinge. Er ... er hat letztes Jahr sogar begonnen, Nachhilfe zu geben, und dadurch etwas nebenher verdient. Dann hat er das Geld benutzt und meine Mutter über Weihnachten hierher nach New York geholt. Er wusste, wie viel mir das bedeuten würde, deshalb hat er extra nebenher gearbeitet und meiner Mutter das Flugticket und das Hotelzimmer bezahlt. Wir haben nämlich nicht genügend Platz. Das hat er für mich getan. Niemand wird mich jemals wieder so lieben wie er. Niemand anderes wäre dazu in der Lage. Nie wieder wird mich jemand so lieben wie Craig.« Da sich neue Tränen hinter ihren Augen sammelten, stand Eve eilig wieder auf. »Es tut mir leid. Danke, dass Sie in dieser schweren Zeit mit uns kooperiert haben.« Schwachsinnige Worte, dachte sie. Doch andere Worte gab es einfach nicht. »Sollen wir jemanden für Sie kontaktieren?« »Nein. Nein. Oh Gott. Craigs Eltern. Ich muss es ihnen sagen. Aber wie soll ich das tun?« »Das können wir für Sie erledigen.« »Nein, das muss ich selber tun. Ich bin seine Frau. Ich muss es selber tun.« Zitternd stand sie auf. »Ich muss ihn sehen. Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Er ist in der Pathologie. Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald Sie ihn sehen können. Haben Sie jemanden, der Sie dorthin begleiten kann?« »Ich werde mit ihr gehen. Nein, Lissy, ich werde mit dir gehen«, bestand Elizabeth auf ihrem Angebot, als Lissy unter Tränen den Kopf schüttelte. »Und jetzt bleibst du einfach hier sitzen, und ich begleite Lieutenant Dallas und Detective Peabody hinaus. Bleib einfach hier sitzen, ich bin sofort wieder da.« Sie marschierte aus dem Raum und blieb erst wieder stehen, nachdem sie um eine Ecke in dem Labyrinth gebogen war. »Wie wurde Craig ermordet?« »Ich habe nicht gesagt, dass er ermordet worden ist.« Elizabeth sah Eve durchdringend an. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich kenne sämtliche Berühmtheiten New Yorks. Lieutenant Eve Dallas von der Mordkommission.« »Ich kann Ihnen noch keine Informationen geben. Wir ermitteln noch in diesem Fall.« »Das ist totaler Schwachsinn. Einfach Schwachsinn, weiter nichts. Das Mädchen hat soeben die Liebe ihres Lebens verloren. Einfach so!« Sie schnipste mit den Fingern. »Deshalb braucht sie Antworten.« »Die wird sie auch bekommen, sobald es welche gibt. Wie gut haben Sie ihn gekannt?« »Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Hin und wieder kam er hier vorbei, und Lissy hat ihn zu Firmenfeiern mitgebracht. Ein wirklich süßer Junge. Unsterblich in sie verliebt. Und intelligent. Er hat intelligent auf mich gewirkt, wie Lissy auch. Zwei intelligente junge Menschen, die am Anfang ihres Lebens und ihrer Karriere standen. Nach allem, was ich über Sie gelesen, gehört und von Ihnen gesehen habe, sind Sie ebenfalls intelligent. Sehen Sie also zu, dass Sie die Antworten für Lissy finden. Damit sie sich wenigstens daran festhalten kann.« »Genau das habe ich vor.«
3 Die erste dieser Antworten suchte Eve in der Pathologie. Die Luft roch dort immer etwas zu süß, wie eine nachlässige Prostituierte, die zur Überdeckung eines unangenehmen Geruchs Parfüm statt Seife nahm, und die Wand- und Bodenfliesen erstrahlten in einem jungfräulichen, ein wenig zu harten und sterilen Weiß. Es gab einen kleinen Kiosk, an dem Angestellte und Besucher Erfrischungen bestellen konnten, Eve nahm an, dass viele derer, die an ihm vorübergingen, lieber etwas Stärkeres getrunken hätten als schlammbraunen Kaffee- Ersatz, Wasser, Limo oder Coke. Sie marschierte den weiß gefliesten Korridor hinab, wo hinter dicken Türen die Toten in luftdichten Schubfächern oder auf stählernen Tischen darauf warteten, dass jemand mit den richtigen Fragen kam, und trat durch die Tür des Raumes, in dem Chefpathologe Morris zu den flotten Klängen alter Dixieland-Musik Craig Fosters Leber aus dem Leichnam zog. Seine Unterarme waren blutverschmiert, als er das Organ auf eine Waage legte, als Peabody das sah, trat sie eilig einen Schritt zurück. »Ah, ich laufe nur schnell los und hole Ihnen eine Pepsi«, bot sie Morris an. »Die Arbeit macht doch sicher durstig. Ich bin sofort wieder da.« Ohne auf sie zu achten, trat Eve näher an den Tisch heran. Morris hob den Kopf und die Augen hinter seiner Mikro-Brille blitzten fröhlich auf. »Ihr scheint immer noch schlecht zu werden, wenn ich am Schnippeln bin.« »Es gibt Leute, die sich nie daran gewöhnen.« Wann hatte sie selber sich daran gewöhnt? Eve erinnerte sich nicht, das hieß, es
war schon lange her. »Sie haben ihn schnell auf Ihren Tisch geholt. Das ist wirklich nett.« »Ich arbeite immer gern mit Ihren Toten, denn ich habe das Gefühl, dass Sie es genießen, wenn ich in ihnen wühle. Was stimmt nur nicht mit uns?« »Die Welt ist eben krank. Hat die toxikologische Untersuchung schon irgendwas ergeben?« »Musik aus«, befahl der Pathologe. »Ich dachte mir bereits, dass Sie den Bericht als Erstes haben wollen, und habe mich deshalb sofort ans Werk gemacht. Schneit es eigentlich immer noch?« »Ja, draußen ist es wirklich ekelhaft.« »Ich persönlich habe Schnee sehr gern.« Während er sprach, wog er die Leber und schnitt ein kleines Stückchen davon ab. Unter seinem Kittel trug er einen eleganten schwarzen Anzug, ein silberfarbenes Hemd, das schimmerte, wenn er sich bewegte, und das zu der silbernen Kordel passte, mit der sein zu einem festen Zopf geflochtenes, im Nacken verschlungenes Haar zusammengebunden war. Eve hatte sich schon oft gefragt, wie er es schaffte, derart schnittig auszusehen. »Wollen Sie mal gucken?« Er legte die Probe auf ein Glas unter dem Mikroskop und wies auf den Monitor. »Die toxikologische Untersuchung hat bestätigt, dass er vergiftet worden ist. Und zwar mit hoch konzentriertem Rizin, das hundertprozentig tödlich und mit dem es in diesem Fall sehr schnell gegangen ist.« »Rizin? Das stellt man doch aus irgendwelchen Samen her, nicht wahr?« »Gratuliere. Sie haben die Reise für zwei Personen nach Puerto Vallarta gewonnen. Aus Rizinussamen, um genau zu sein. Das Rizin wird aus der Maische hergestellt. Früher wurde es als Abführmittel verwendet.« Sie dachte an den Zustand der Leiche und den Fundort. »Es hat auf alle Fälle funktioniert.«
»Und zwar hervorragend. Leber und Nieren haben versagt, es gab innere Blutungen, und er hat Herzrasen, Übelkeit und wahrscheinlich starke Krämpfe gehabt.« Morris blickte mit Eve zusammen auf den Monitor. »Rizinstaub wurde und wird immer noch gelegentlich im Bioterrorismus eingesetzt. Außerdem war die Injektion von Rizin eine beliebte Mordmethode, bevor man praktischere Wege erfunden hat.« »Also ein echtes Allzweckgift.« »Sehr vielseitig. Der Laborbericht ist noch nicht da, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass er es wahrscheinlich mit der heißen Schokolade zu sich genommen hat.« »Die hat seine Frau gemacht.« »Ah, ich liebe es, wenn Frauen häuslich sind.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es war. Sie haben erst vor ein paar Monaten geheiratet, und es gibt kein erkennbares Motiv.« »Selbst junge Ehen können echte Kriegsschauplätze sein.« »Da haben Sie natürlich recht, aber bei den beiden sieht es nicht so aus. Trotzdem gehen wir der Spur natürlich weiter nach.« »Ein gut aussehender junger Mann«, stellte der Pathologe fest. »Athletisch gebaut und erbguttechnisch von einer harmonischen Homogenität.« »Von einer harmonischen Homogenität.« Eve schüttelte den Kopf. »Das klingt wirklich toll. Er war Geschichtslehrer an einer Privatschule in der Upper West Side. Hat sein Mittagessen gewohnheitsmäßig in seiner Klasse aufbewahrt und ebenfalls gewohnheitsmäßig montags dort gegessen. Weder in den Klassen noch in den Korridoren gibt es Überwachungskameras. Privatschulen sind nicht verpflichtet, diese Dinger zu installieren. Es wäre also ein Leichtes gewesen, sein Getränk zu panschen. Was wir bisher nicht wissen, ist, aus welchem Grund jemand das hätte machen sollen. Alle haben ihn als netten, harmlosen Menschen dargestellt.«
»Trotzdem hat anscheinend irgendjemand diesen Menschen nicht gemocht. Diese Art der Vergiftung ist nämlich nicht nur tödlich, sondern auch entsetzlich schmerzhaft.« Mit Händen wie ein Geigenspieler zog Morris das Herz aus dem aufgeschnittenen Leib. »Er hat nicht mehr lange gelebt, nachdem er das Zeug getrunken hat, aber ich kann Ihnen versichern, dass er während dieser kurzen Zeit furchtbar gelitten hat.« Sie blickte wieder auf den toten, jungen Mann. Was hast du getan, Craig, dass jemand derart sauer auf dich war? »Seine Frau möchte ihn sehen, und seine Eltern sicher auch.« »Nach einundzwanzig Uhr. Bis dahin habe ich ihn präpariert.« »Ich lasse es sie wissen.« Sie runzelte die Stirn und sah Morris fragend an. »Wo in aller Welt kriegt man Rizinussamen her?« Er lächelte gut gelaunt. »Das finden Sie bestimmt heraus.« Peabody stand leicht verschämt neben dem Getränkeautomaten, als Eve den Raum verließ. »Bevor Sie etwas sagen hier ist eine Dose schöner, kalter Pepsi. Außerdem habe ich die Zeit genutzt, mit der Überprüfung der Angestellten der Schule angefangen und geguckt, ob eine Lebensversicherung auf den Namen des Opfers oder der Ehefrau abgeschlossen worden ist. Das Opfer hatte eine durch die Arbeit. Fünfzigtausend, die die Frau bekommt.« »Ein ziemlich bescheidenes Motiv.« Als Eve merkte, dass die Dose wirklich kalt war, nickte sie zufrieden mit dem Kopf. »Wir werden ihre Finanzen noch genauer überprüfen, um zu sehen, ob sie irgendwelche Schulden hatten. Vielleicht ist sie ja spieloder drogensüchtig oder so.« »Aber das glauben Sie nicht.« »Nein, das glaube ich nicht.« Eve machte die Dose auf, trank den ersten Schluck und lief entschlossen los. »Wenn es nicht von irgendwoher noch mehr Kohle gibt, glaube ich nicht, dass es um Geld gegangen ist. Und falls es Eheprobleme gab, hätte sie als Ehefrau ihn eher persönlich attackiert. Dieser Mord war hässlich,
aber distanziert. Er hat eindeutig irgendjemandem ans Bein gepisst.« Peabody hüllte sich wieder in ihren Schal und zog auch die Handschuhe wieder an, als sie durch die Tür in die Eiseskälte trat. »Vielleicht eine Geliebte, die er zurückgewiesen hat, oder irgendein Kollege, der in ihm eine unliebsame Konkurrenz gesehen hat.« »Am besten sehen wir uns diese Mirri Hallywell noch mal genauer an.« »Oder Eltern eines Schülers, den er für irgendetwas bestraft hat oder der von ihm keine gute Zensur bekommen hat.« »Himmel.« Eve stopfte die Hände in die Taschen und bemerkte, dass sie wieder einmal ein Paar Handschuhe verloren zu haben schien. »Wer begeht schon einen Mord, nur weil sein Kind in Geschichte keine gute Note hat?« »Eltern sind seltsame und gefährliche Geschöpfe. Aber ich habe noch eine andere Theorie. Vielleicht war es ja einfach ein Versehen.« »Es war Rizin, und Morris meint, die Dosis wäre ausreichend gewesen, dass er schnell daran gestorben ist.« »Was ich meine, ist, dass vielleicht einer seiner Schüler sauer auf ihn war.« Peabody zog ein beleidigtes Gesicht und fuhr mit Kinderstimme fort: »>Diesem gemeinen Mr Foster werde ich es zeigen.< Dann hat er ihm etwas in sein Getränk getan und gehofft, ihm würde davon schlecht.« »Das klingt nicht dumm.« Sie stiegen in den Wagen und atmeten die Luft, die sie wegen der Kälte angehalten hatten, zischend aus. »Himmel, warum muss es den Februar geben?«, fragte Eve. »Den Monat sollte man zum Nutzen der gesamten Menschheit ein für alle Mal aus dem Kalender streichen.« »Er ist kürzer als die anderen Monate, das ist schon mal ein kleiner Trost.« Peabody stöhnte tatsächlich auf, als die warme Heizungsluft sie traf. »Ich habe das Gefühl, als wäre die Netzhaut
meiner Augen eingefroren. Glauben Sie, dass so was möglich ist?« »Im Februar bestimmt. Lassen Sie uns erst bei Fosters Liebster bleiben. Fahren wir bei ihrem Haus vorbei und sprechen mit den Nachbarn. Vor allem mit dem pensionierten Cop.« »Einmal ein Cop, immer ein Cop.« Peabody nickte zustimmend und blinzelte dann vorsichtig, um ihre eventuell gefrorenen Netzhäute aufzutauen. »Falls zwischen den beiden irgendetwas nicht in Ordnung war, hat er es bestimmt bemerkt.« Henry Kowoski, der im ersten Stock des vierstöckigen Hauses lebte, öffnete den beiden Frauen erst, nachdem er sich Eves Marke durch den Spion in seiner Wohnungstür gründlich angesehen hatte, ließ sie dann aber noch immer nicht herein, sondern nahm erst einmal gründlich Maß. Er war ein gedrungener Mann von einem Meter siebzig, mit schütterem, grauem Haar. Er trug ein Flanellhemd über einer schlabberigen Hose, hatte braune, abgewetzte Pantoffeln an den Füßen, und im Hintergrund war der Fernseher zu hören, in dem gerade ein Krimi lief. »Ich habe Sie schon ein paarmal im Fernsehen gesehen. Zu meiner Zeit waren die Cops nicht derart versessen auf Publicity.« »Zu meiner Zeit«, gab Eve zurück, »kann man sich vor den Journalisten kaum noch retten. Dürften wir vielleicht eintreten, Sergeant?« Vielleicht lag es daran, dass sie ihn mit seinem alten Rang ansprach, doch er machte schulterzuckend einen Schritt zurück. »Ton aus«, meinte er an den Fernseher gewandt, bevor er von Eve wissen wollte: »Also, worum geht's?« In der Wohnung roch es, als läge der Waschtag etwas zu lange und der Abend mit ein paar Gerichten vom Chinesen vor der Glotze noch nicht lange genug zurück. Es war die Art von Behausung, die Makler als »praktisch und modern«
bezeichneten, was hieß, dass sie aus einem Raum mit einer winzigen Küchenzeile und einem noch winzigeren Bad bestand. »Wie lange waren Sie bei der Truppe?« »Dreißig Jahre. Davon die letzten zwölf auf dem achtundzwanzigsten Revier.« Eve durchforstete ihre Erinnerung und sah ihn fragend an: »Unter Lieutenant Peterson?« »In den letzten paar Jahren, ja. Er war ein guter Boss. Aber ich habe gehört, dass er vor einer Weile ausgeschieden und nach Detroit oder so gegangen ist.« »Ach ja? Davon habe ich nichts mitbekommen. Sie hatten ein paar Beschwerden über die Leute, die über Ihnen wohnen? Die Fosters?« »Allerdings.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie hören den ganzen Tag und die halbe Nacht Musik - falls man diesen Krach so nennen kann - und trampeln derart in der Wohnung rum, dass es sich so anhört, als fiele mir jeden Augenblick die Decke auf den Kopf. Ich zahle meine Miete, wie es sich gehört. Da ist ein bisschen Rücksicht von den Nachbarn doch wohl nicht zu viel verlangt.« »Haben Sie außer lauter Musik und lautem Trampeln sonst noch irgendwas gehört?« »Die beiden sind frisch verheiratet.« Er sah Eve mit einem schiefen Grinsen an. »Da können Sie sich sicher vorstellen, was man sonst noch hört. Aber warum, zum Teufel, interessiert Sie das?« »Es interessiert mich, weil Craig Foster nicht mehr lebt.« »Der Junge lebt nicht mehr?« Kowoski machte einen Schritt zurück, ließ sich in einen abgewetzten Sessel fallen und schüttelte den Kopf. »Die Welt ist einfach krank. Sie war schon krank, als ich zur Polizei gegangen bin, und war es immer noch, als ich dort ausgeschieden bin. Wie hat es ihn erwischt?« »Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Gab es irgendwelche Probleme zwischen ihm und seiner Frau?«
»Zwischen ihm und seinem Täubchen?« Er stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Nach allem, was ich mitbekommen habe, haben die beiden eher aufs Essen verzichtet als auf ihre Knutschereien. Und wenn da oben mal geschrien wurde, dann bestimmt nicht, weil es Streit zwischen den beiden gab - falls Sie wissen, was ich damit sagen will. Wenn's zur Sache geht, macht diese Kleine nämlich einen Heidenkrach. « Er blies die Backen auf und atmete geräuschvoll aus. »Trotzdem tut mir das natürlich leid. Die beiden haben mich mit ihrem Krach genervt, das will ich gar nicht leugnen. Aber trotzdem finde ich es schrecklich, dass er nicht mehr lebt. Er war ein junger Mann. Lehrer. Hatte immer ein Lächeln im Gesicht, wenn ich ihm begegnet bin. Aber schließlich hat ein Mann auch allen Grund zum Lächeln, wenn er eine derart attraktive Frau zu Hause hat, die sich alle fünf Minuten von ihm flachlegen lässt.« »Wie sieht es mit Besuchern aus?« »An Weihnachten war ihre Mutter ein paar Tage hier. Hin und wieder waren irgendwelche anderen jungen Paare bei den beiden zu Besuch, und dann gab es noch ein paar laute Partys. Silvester kamen beide voll wie die Haubitzen heimgestolpert, haben gekichert wie die Blöden und laut Psssst gemacht, was beinahe noch nerviger als das schwachsinnige Kichern war.« Er schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, die Welt ist einfach krank. Gehen Sie davon aus, dass die beiden in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt waren? Wenn Sie mich fragen, waren die beiden total sauber. Sind jeden Morgen früh zur Arbeit aufgebrochen, kamen jeden Abend spät zurück. Sicher, hin und wieder sind sie ausgegangen, aber im Grunde waren sie eher häuslich. Vielleicht wären sie am besten gar nicht ausgegangen, denn dann hätten sie mit dieser kranken Welt noch weniger zu tun gehabt.«
Sie sprachen auch noch mit der Handvoll anderer Nachbarn, die zu Hause waren, doch die Aussagen der Leute stimmten alle überein. Die Fosters waren ein glückliches, berufstätiges, junges Ehepaar gewesen und hatten viel Spaß miteinander gehabt. »Bisher können wir an drei Stellen ansetzen«, stellte Eve auf dem Rückweg in die City fest. »Beim Opfer, bei der Schule, bei dem Gift. Ich bin sicher, dass es irgendwo eine Verbindung gibt.« »Vielleicht sollten wir uns mal in der naturwissenschaftlichen Abteilung umhören. Wir könnten versuchen herauszufinden, ob sich dort irgendwer mit Giften und speziell mit Rizin beschäftigt hat.« »Dawson ist Chemielehrer«, überlegte Eve. »Gucken wir uns den Mann etwas genauer an. Rufen Sie ihn schon mal an und fragen ihn, was er in dem Schullabor alles zusammenbraut.« »Okay. Und wenn wir davon ausgehen, dass es jemand aus der Schule oder jemand mit einer Verbindung zu der Schule ist, sollten wir auch die Unterlagen der Schüler durchgehen und gucken, ob Foster mit einem von den Kindern oder mit den Eltern eines Kids aneinandergeraten ist.« Eve nickte zustimmend. »Außerdem sollten wir auch die Lehrer überprüfen, die im Haus waren, bevor der Unterricht begonnen hat. Wenn ich jemandem etwas in die Thermoskanne geben wollte, würde ich das tun, bevor allzu viele Leute in der Nähe sind. Lassen Sie uns kurz alles schriftlich zusammenfassen, und dann fangen wir an zu graben.« »Mit leerem Magen gräbt es sich aber nicht gut. Ich will bestimmt nicht jammern, aber es ist schon fast acht, und wir haben noch kein Abendbrot gehabt. Vielleicht könnten wir deshalb ...« »Acht? Abendbrot?« »Meine Güte, Dallas, wenigstens ein Sandwich oder so ...« »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Acht. Das französische Restaurant. Verdammt. Verdammt. Verdammt. Warum ist es schon fast acht?«
»Nun, weil sich die Erde um die eigene Achse und gleichzeitig um die Sonne dreht. Sie müssen um acht irgendwo sein.« »Roarke. Mein Job als Unternehmergattin.« Am liebsten hätte sich Eve das Haar gerauft. »Ich habe schon die letzten beiden Abendessen verpasst und kann es mir einfach nicht leisten, noch einmal nicht aufzutauchen. Le Printemps. Da muss ich hin.« »Ins Le Printemps? Oh, lä, lä. Der Laden ist einfach megaschick. Nur leider ist er in der Upper East Side, während wir, auch wenn ich das nur ungern sage, in der Lower East Side sind.« »Verflucht, das weiß ich selbst.« Sie schlug mit einer Faust auf das Lenkrad ihres Wagens und bog in die Tiefgarage des Reviers. »Ich muss los. Ich muss sofort in das Lokal. Ich bin bereits zu spät. Verdammt.« »Der Fall läuft uns nicht weg. Wir haben sowieso nur noch Papierkram zu erledigen, also schreibe einfach ich schnell noch den Bericht, und dann fangen wir morgen früh mit Graben an.« »Schicken Sie eine Kopie Ihres Berichts sowie alles andere, was Sie für wichtig halten, an meinen Computer im Büro und an den bei mir zu Hause. Und jetzt steigen Sie endlich aus! Ich muss in dieses blöde Restaurant.« »Wollen Sie nicht vorher noch nach Hause und sich umziehen?« »Dafür reicht die Zeit nicht mehr.« Sie packte Peabody am Aufschlag ihres dicken Mantels und zog sie zu sich heran. »Tun Sie mir einen Gefallen, rufen Sie Roarke an und sagen ihm, ich wäre unterwegs. Ich wäre noch kurz aufgehalten worden, führe aber jetzt direkt zu diesem Restaurant.« »Okay.« »Ich kann nicht selbst anrufen, denn dann würde er mich in meinen normalen Kleidern sehen. Er hat heute Morgen extra noch gesagt, am besten nähme ich die anderen Klamotten mit auf das Revier, aber das habe ich natürlich nicht getan. Schließlich laufe ich ganz sicher nicht freiwillig in irgendeinem
aufgemotzten Kleid auf der Wache herum.« Es war Eve deutlich anzusehen, wie unglücklich sie war. »Wissen Sie, wie schmerzlich so was für mich ist?« »Ehrlich? Ich habe keine Ahnung, wie Sie so was überstehen. Schließlich gibt es kaum was Schlimmeres, als mit jemandem wie Roarke in ein schickes Restaurant zu gehen.« »Oh, halten Sie den Mund, und rufen Sie ihn einfach an.« Sie stieß Peabody unsanft aus dem Wagen und brauste wieder los. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie morgens angezogen hatte, musste sich jedoch derart aufs Fahren konzentrieren, dass ihr nicht einmal ein kurzer Blick in den Spiegel möglich war. Den Autopiloten konnte sie vergessen, denn die Dichte des Verkehrs, der blöde Schnee und die gebotene Eile verlangten ihr die waghalsigsten Überholmanöver ab. Sie roch bestimmt nach Tod. Aber das war seine eigene Schuld. Schließlich hatte sie ihm bereits vor der Hochzeit rundheraus erklärt, dass sie als Ehefrau für einen Mann wie ihn ganz sicher nicht geeignet war. Weshalb hatte ausgerechnet sie sich in einen Mann verlieben müssen, der den Löwenanteil der bekannten Welt besaß und als dessen Ehefrau sie ab und an zu Auftritten in seiner Welt gezwungen war? Er würde sich nicht nur nicht beschweren, weil sie wieder mal zu spät zu einer Verabredung erschien, sondern wäre nicht einmal verärgert. Sie hatte wirklich alles Glück der Welt mit diesem Mann, der ein ums andere Mal Verständnis dafür hatte, wenn ihr Job privaten Plänen in die Quere kam. Aber gerade weil sich Roarke niemals bei ihr beschwerte, hatte sie so große Schuldgefühle, weil sie den Termin vergessen hatte, und kämpfte noch verbissener als sonst gegen den höllischen Verkehr.
Schließlich brach sie eine ihrer eigenen Regeln, stellte die Sirene an und nutzte ihre Position für private Zwecke aus. Als sie um ein Haar mit einem Taxi kollidierte, ging sie in die Vertikale, bog nach rechts in die Fünfzehnte Straße ein, flog im Zickzack bis zur Dritten, kam dort wieder auf der Straße auf und setzte die mörderische Fahrt in Richtung Upper East Side fort. Sie hätte Peabody bitten sollen, Roarke zu sagen, dass die anderen schon einmal bestellen sollten, statt darauf zu warten, dass sie kam. Warum hatte sie daran nicht gedacht? Jetzt saßen sie wahrscheinlich halb verhungert da, während sie sich und unzählige unschuldige Fußgänger in dem Bemühen umbrachte, zu einem Restaurant zu kommen, in dem noch nicht mal die verdammte Speisekarte lesbar war. »Nävi an! Wo zum Teufel ist das Restaurant? New York City, Le Printemps.« EINEN AUGENBLICK BITTE; IHRE ANFRAGE WIRD BEARBEITET: LE PRINTEMPS LIEGT IN DER DREIUNDNEUNZIGSTEN OST; 21 z, ZWISCHEN SECOND UND THIRD AVENUE. MÖCHTEN SIE EINE RESERVIERUNG VORNEHMEN? »Ich habe eine verdammte Reservierung. Navi aus.« Trotz ihres kamikazemäßigen Fahrstils war sie dreißig Minuten zu spät. Bis sie endlich einen Parkplatz in der zweiten Reihe fand, der wahrscheinlich zu einer innerstädtischen Revolte führen würde, ging noch einmal beinahe eine Viertelstunde herum. Sie ließ das Blaulicht an und sprintete den letzten halben Block. Vor dem Eingang des Lokals blieb sie kurz stehen, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und sah an sich herab. Ihre dunkelbraune Hose und der blaue Pulli wiesen keine Blutflecken
oder andere widerliche Flüssigkeiten auf, das war schon mal ein großes Plus. Erstes wütendes Gehupe über den von ihr geparkten Wagen in den Ohren, trat sie aus dem Schneesturm in die Wärme des Fünf-Sterne-Restaurants. Der Empfangschef wirkte wie ein Geier, der sich auf ein überfahrenes Rehkitz stürzte, als er auf sie zugeschossen kam. »Bedaure, Mademoiselle, aber für Menschen, die einfach hier hereinspazieren, haben wir keine Tische frei.« »Und wie kriegen Sie die Tische voll, wenn Sie niemanden daran setzen, der hereinspaziert?« Sie zog ihren Mantel aus. Peabody hatte recht gehabt, erkannte sie. Das Restaurant war wirklich megaschick. Sämtliche Frauen in dem Laden glitzerten und funkelten wie Diamanten. »Hier, Pierre, hängen Sie den Mantel auf. Ich kriege Sie dafür am Arsch, wenn er nicht mehr da ist, wenn ich nachher gehen will.« »Ich muss Sie bitten, ohne Aufhebens wieder zu gehen, Mademoiselle.« »Das mache ich, wenn ich mit dem Essen fertig bin.« Sie strich ihre braune Jacke glatt und guckte, ob die Waffe, die sie in dem Schulterhalfter trug, gut verborgen war. Dabei hätte sie sie liebend gern gezückt, nur damit der arrogante Kerl vor Schreck hinüberfiel. »Wir können uns gern vor allen Gästen streiten und ihnen dadurch eine Show zum Essen bieten«, schlug sie beinahe fröhlich vor, »oder Sie sagen mir einfach, wo meine Leute sind. Reservierung Roarke.« Sein zuvor gerötetes Gesicht wurde aschfahl. Ein Zeichen dafür, dass der Name Roarke mit ebenso viel Macht und Bedrohlichkeit wie ein Polizeiausweis verbunden war. »Ich bitte um Verzeihung, Madame Roarke.« »Lieutenant Dallas. Also, wo ist unser Tisch?« »Wenn Sie mir bitte folgen würden.« »Mein Mantel. Vergessen Sie den Mantel nicht.«
»Natürlich. Ein wunderschönes Stück.« Er schnipste einem Angestellten mit den Fingern zu. »Kümmern Sie sich um Madames ... um Lieutenant Dallas' Mantel, ja? Wenn Sie mir bitte folgen würden? Ihre Gesellschaft sitzt bereits am Tisch. Es wäre mir eine Freude, Ihnen einen Cocktail zu servieren.« »Ich nehme einfach das, was die anderen haben.« Sie sah sich in der prachtvollen Umgebung um und folgte dem reumütigen Mann. Er sah sie schon von Weitem. Da ihm klar gewesen war, dass sie nicht pünktlich wäre, hatte er den Tisch extra so ausgewählt, dass er sie kommen sah. Er liebte es, sie zu beobachten, wenn sie mit ihren ausholenden Schritten einen Raum betrat und mit dem Blick des Cops jedes noch so winzige Detail wahrnahm. In ihrem schlichten Hosenanzug stach sie alle anderen Frauen aus. Als ihre Blicke sich begegneten, erhob er sich von seinem Platz. »Guten Abend, Lieutenant.« »Tut mir leid, dass ich zu spät komme.« »Champagner für meine Frau«, bestellte er, ohne den Blick von ihr zu lösen, und rückte ihr persönlich einen Stuhl zurecht. »Ich möchte dir Natalie und Sam Derrick vorstellen.« »Sie sind also die berühmte Eve! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Sie endlich kennen zu lernen.« Natalie setzte ein kilometerbreites Lächeln auf, während sie gleichzeitig den Blick an Eve herunterwandern ließ. »Schön, dass Sie kommen konnten.« Sam streckte eine Pranke von der Größe eines Rumpsteaks aus und schüttelte Eves Hand. »Roarke hat uns erzählt, dass es Ihnen häufig schwerfällt, sich rechtzeitig von der Arbeit frei zu machen.« »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man Mordfälle aufklärt.« Eve blickte wieder auf Natalie. »Erst mal braucht man eine Leiche.« Sie spürte Roarkes Hand auf ihrem Bein und fuhr
ruhiger fort: »Vor allem ist es jede Menge Laufarbeit. Und nicht halb so interessant, wie es im Fernsehen wirkt.« »Das ist bestimmt nicht wahr. Aber ich nehme an, das ist kein angenehmes Thema«, stellte Natalie mit einem neuerlichen breiten Lächeln fest. »Sam wollte gerade die Geschichte erzählen, wie er den größten Barsch im gesamten Jasper County gefangen hat.« »Wow.« Mehr fiel Eve dazu einfach nicht ein, weshalb sie dankbar dafür war, als sie ein Glas Champagner in die Hand gedrückt bekam. Und dafür, dass Roarke unter dem Tisch sanft ihren Oberschenkel rieb. Sieh ihn dir nur an, ging es ihr durch den Kopf, er sitzt da, als gäbe es nichts Interessanteres für ihn als irgendeinen dummen Fisch. Natürlich war ihm klar, dass im Verlauf des Abends jeder der Gäste des Lokals mindestens einmal in seine Richtung sah. Was sie ihnen nicht verdenken konnte. Er hatte ein halbes Lächeln aufgesetzt, sich mit einem interessierten Blitzen in den leuchtend blauen Augen bequem auf seinem Stuhl zurückgelehnt, und das Licht der Kerzen und der warmen Deckenlampen schimmerte in seinem dichten, rabenschwarzen Haar. Als er sein verführerisches Lächeln noch ein wenig breiter werden ließ, sprengte ihr Herzschlag ihr beinahe die Brust. Es gelang ihm immer noch, ihren Herzschlag zu beschleunigen, ihren Atem aussetzen und ihre Knie weich werden zu lassen. Nur durch einen kurzen Blick. Irgendwann drückte ihr jemand eine Speisekarte in die Hand, und ein kurzer Blick verriet, dass es hier die Art von Speisen gab, die sie eher mit leichter Furcht erfüllten als mit Appetit. Zu Eves Erleichterung jedoch stellten sich Sam und Natalie als gar nicht so langweilig heraus. Obwohl das ständige Gerede über irgendwelche Dinge, die man draußen tat, noch furchteinflößender als die französische Küche für sie war.
Jagen, fischen, wandern, Kanu fahren auf irgendwelchen Flüssen, Übernachtungen im Zelt. Vielleicht waren sie in irgendeiner Sekte, die Roarke infiltrieren wollte, weil sich damit etwas verdienen ließ. Doch die zwei hatten durchaus Humor und genossen offenkundig das Zusammensein. »Einfach köstlich. Sam, dieser Hummer übertrifft noch deinen Barsch. Du musst ihn unbedingt probieren. Wir gehen nicht gerade häufig derart schick zum Essen aus«, erklärte Natalie und pikste ein Stück Hummerfleisch für ihren Gatten auf. »Wir sind echte Landeier und fühlen uns sehr wohl mit unserem Lebensstil. Aber trotzdem ist es toll, was man in einer Großstadt alles unternehmen kann. Ich nehme an, Sie sind dieses Leben gewohnt«, wandte sie sich an Eve. »Ich gehe auch nicht gerade oft in derart schicke Restaurants. Das ist ja wohl nicht zu übersehen.« Als Natalie jetzt lächelte, drückte ihr Lächeln echte Wärme aus. »Wenn ich in Hose und Pullover so aussähe wie Sie, würde ich nie mehr etwas anderes anziehen. Wenn Sie zu uns nach Montana kommen, gibt's ein echtes Barbecue für Sie. Sie und Eve müssen uns unbedingt einmal besuchen, Roarke.« »Das werden wir bestimmt.« Er hob sein Glas an seinen Mund und sah Eve über den Rand hinweg mit einem leisen Lächeln an. Doch als plötzlich jemand seinen Namen sagte und er in die Richtung sah, blitzte während eines flüchtigen Moments etwas in seinen Augen auf. Etwas, was bisher für sie alleine reserviert gewesen war. Obwohl er diese Regung sofort hinter dem gewohnten höflichen Gesichtsausdruck verbarg, hatte sie sie doch bemerkt. Langsam drehte Eve den Kopf, bis sie die andere sah. In dem leuchtend roten Kleid sah sie elegant und gleichermaßen sexy aus. Ihre langen Beine endeten in silbernen High Heels, und die langen, leicht gewellten, blonden Haar hatte sie mit kleinen Glitzerspangen hochgesteckt. Sie hatte einen
samtig weichen Teint, volle, gleißend rote Lippen, und das Leuchten ihrer grünen Augen kündete von großer sexueller Energie. »Roarke.« Es klang beinahe wie ein Schnurren, als sie sprach, und Eve stellten sich alle Nackenhaare auf. Dann glitt sie geschmeidig auf sie zu und streckte beide Hände vor sich aus. »Dass ich dir ausgerechnet hier begegne«, stieß sie leise aus, als Roarke sich erhob, und bot ihm ihr Gesicht zu einem Kuss. »Magdalena«, grüßte er, wobei ihm der Ire stärker als gewöhnlich anzuhören war, ehe er mit seinem Mund sanft über ihre Lippen strich. »Was für eine Überraschung.« »Ich kann einfach nicht glauben, dass du's wirklich bist!« Sie umfasste zärtlich sein Gesicht. »Genauso attraktiv wie eh und je. Das Leben hat es offenkundig gut mit dir gemeint, Schätzchen.« »Genauso wie mit dir. Eve, dies ist eine alte Freundin von mir, Magdalena Percell. Magdalena, Eve Dallas, meine Frau, und Sam und Natalie Derrick, ein befreundetes Paar.« »Deine Frau? Oh, ja natürlich. Ich habe davon gehört. So etwas spricht sich schließlich herum. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Und Ihre natürlich auch«, wandte sie sich den Derricks zu. »Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie beim Essen störe. Ich hatte nur noch Augen für Roarke.« Sie sah Eve mit glitzernden Augen an. »Was Sie bestimmt verstehen.« »Allerdings.« Mit einem erneuten Tausend-Watt-Lächeln wandte sich Magdalena abermals an Roarke, und Eve hatte den Eindruck, als schmölze sie an seiner Brust dahin. »Ich bin erst seit ein paar Tagen in der Stadt. Ich wollte mich auf alle Fälle bei dir melden, um ein bisschen mit dir über die alten Zeiten zu plaudern. Mein Gott, wie lange ist es her? Zehn Jahre?« »Ich glaube, eher zwölf.«
»Zwölf!« Sie rollte mit ihren wunderschönen Augen. »Oh, Franklin, entschuldige! Mein Begleiter, Franklin James. Das hier sind Roarke, seine Frau und die Derricks.« »Wir kennen uns bereits.« Roarke gab dem Mann die Hand. »Hallo, Frank.« Auch wenn er mindestens dreißig Jahre älter war, wirkte er wohlhabend und kerngesund, und war offenbar vernarrt in diese Frau. »Wir werden euch jetzt erst einmal weiter essen lassen.« Magdalena strich mit ihrer Hand über Roarkes linken Arm - eine dezente, aber gleichzeitig intime Geste, wie Eve fand. »Ich habe mich unglaublich über dieses Wiedersehen gefreut.« Sie küsste Roarke sanft auf die Wange und fügte hinzu: »Wir werden uns zum Mittagessen treffen und in Erinnerungen schwelgen, ja? Sie haben doch sicher nichts dagegen, Eve?« »Gegen das Essen oder das Schwelgen?«, fragte die, und Magdalena stieß ein kehliges Lachen aus. »Wir beide müssen uns unbedingt einmal alleine treffen, Sie und ich. Dann tauschen wir Geheimnisse über den Guten aus. Ich werde mich bei Ihnen melden. Hat mich wirklich unglaublich gefreut, Sie kennen zu lernen.« Sie und Franklin wandten sich zum Gehen und die Unterhaltung wandte sich erneut dem Essen und dem Fischen zu. Obwohl Roarkes Gesicht ausschließlich Interesse an diesem Gespräch verriet, kannte Eve ihn gut genug, um zu wissen, dass er, während er sich freundlich unterhielt, speiste und trank, in Gedanken bei der wunderschönen Magdalena war, die in dem leuchtend roten Kleid an einem der anderen Tische saß und genüsslich ihr Weinglas an die vollen Lippen hob. Nach dem Essen wurden Natalie und Sam in einer von Roarkes Limousinen zu ihrem Hotel zurückchauffiert, und Roarke schlenderte mit Eve dorthin, wo ihr Wagen stand. »So, wie du geparkt hast, hast du sicher mindestens zwölf Morde ausgelöst.«
»Wer ist sie?« »Sie und Sam besitzen nicht nur einen Großteil von Montana, sondern auch eine der erfolgreichsten Ferienanlagen dort.« »Tu nicht so, als wüsstest du nicht ganz genau, von wem ich rede. Schätzchen«, fauchte sie. »Eine alte Freundin.« Er sah Eve ins Gesicht. »Und ja, wir hatten ein Verhältnis. Aber das ist ewig lange her.« »So viel wusste ich bereits.« Er stieß einen Seufzer aus. »Wir beide waren in derselben Branche tätig. Erst waren wir Konkurrenten, dann haben wir ein paar Dinger zusammen gedreht, und dann haben sich unsere Wege wieder getrennt.« »Sie ist eine Diebin.« »Zumindest war sie eine«, räumte er mit einem Schulterzucken ein. »Ich habe keine Ahnung, was sie heute macht.« Da Eve hinter dem Lenkrad saß, streckte er einen seiner Arme aus und zerzauste ihr das Haar. »Weshalb interessiert dich das?« Am liebsten hätte sie gesagt: Ich habe etwas in deinem Blick gesehen. Doch sie begnügte sich mit einem: »Ich bin einfach neugierig. Sie sieht fantastisch aus.« »Das tut sie auf jeden Fall. Weißt du, was ich dachte, als du in das Restaurant gekommen bist?« »Gott sei Dank klebt wenigstens kein Blut an ihren Schuhen?« »Möglich, aber nein. Ich dachte, da kommt die reizvollste Frau im ganzen Restaurant. Und sie gehört zu mir.« Er berührte flüchtig ihre Hand. »Danke für den Abend.« »Ich war wieder mal zu spät.« »Das ist mir aufgefallen. Hast du einen neuen Fall?« »Ja. Kam heute Nachmittag herein.« »Erzähl mir, worum es geht.« Sie zwang sich, den Gedanken an die einstige Geliebte zu verdrängen, und klärte ihn mit ein paar kurzen Sätzen auf.
4 Sie wusch die Anstrengung des langen Tages von sich ab und versuchte, sich keine Gedanken darüber zu machen, dass Roarke nicht wie sonst so oft zu ihr unter die Dusche kam. Eine Frau, die sich verrückt machte, nur weil ihr Mann - dessen Leben auch, bevor sie sich begegnet waren, sehr erfüllt und abenteuerlich gewesen war - auf eine ehemalige Geliebte traf, bekäme innerhalb von kurzer Zeit Magengeschwüre. Sie war keine Frau, die sich wegen so etwas verrückt machte, erinnerte sich Eve, als sie in die Trockenkabine trat. Oder hatte es auf jeden Fall bisher noch nie getan. Sie machte zu viel Aufhebens um eine ... Nichtigkeit. Um den Bruchteil einer Sekunde, in der ihr ein Blitzen in seinen Augen aufgefallen war. Wer auch immer über zehn Jahre zuvor mit Roarke im Bett gewesen war, hatte nichts mehr mit der Gegenwart zu tun. Nicht das Mindeste. Er war nicht im Schlafzimmer, als sie aus der Trockenkabine kam. Das hatte ebenfalls nichts zu bedeuten. Sie zog sich einen Jogginganzug an, suchte ein Paar Socken, die, wie sich herausstellte, aus reinem Kaschmir waren, und machte sich auf den Weg in ihr Büro. Das direkt neben seinem Arbeitszimmer lag. Die Tür war auf, die Lichter brannten, und es war völlig normal, dass sie zu ihm hinüberging, um zu sehen, womit er beschäftigt war. Er hatte seine Anzugjacke und das Hemd gegen einen schwarzen Wollpullover eingetauscht, saß hinter seinem Schreibtisch, und das dicke Fellknäuel, das ihr Kater war, hatte sich in einer Ecke des Arbeitsplatzes zusammengerollt und blinzelte ihn aus seinen zweifarbigen Augen müde an.
»Bist du noch am Arbeiten?« Noch während Eve das fragte, kam sie sich vollkommen dämlich vor. »Ein bisschen. Und du?« »Ich auch.« Sie wusste nicht genau, was sie mit ihren Händen anstellen sollte, weshalb sie die Daumen in die Hosentaschen schob. »Ich dachte, ich gehe meinen Fall noch einmal durch.« Obwohl er sicher gerade eine Million Dinge tat, sah er sie fragend an. »Hättest du dabei gerne meine Hilfe?« »Nein. Nein, ich komme auch alleine klar. Ist schließlich lauter Routinezeug.« Er lenkte seinen Blick wieder auf den Computermonitor. »Wie du meinst. Gib mir einfach Bescheid, wenn du es dir anders überlegst.« »Ja, okay.« »Lieutenant«, meinte er, als sie sich wieder zum Gehen wandte. »Versuch, nicht mehr als vier Liter Kaffee zu trinken, ja?« Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich besser, nachdem er sie derart aufgezogen hatte, und so ging sie in die kleine Küche neben dem Büro und programmierte dort den AutoChef statt auf eine ganze nur auf eine halbe Kanne Kaffee. Gut, dass er auch noch Arbeit hatte, dachte sie. So hätten sie beide in den nächsten ein, zwei Stunden ihre Beschäftigung. Sie trug die Kaffeekanne in ihr Zimmer, um sich Pea- bodys Bericht über Craig Foster anzusehen. Fluchend lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück. »Am besten bringe ich es einfach hinter mich«, murmelte sie leise vor sich hin. »Dann geht mir die Sache vielleicht endlich aus dem Kopf.« Sie gab den Namen Magdalena Percell in den Computer ein, und falls es unzählige Frauen dieses Namens gab, schränkte sie die Suche durch die Angabe des ungefähren Alters, die Beschreibung ihres Aussehens und des dank ihres Akzents erkennbaren Geburtslands ein. Bis sie endlich erfolgreich war.
PERCELL, MAGDALENA, GEBOREN AM 12. MÄRZ 2029 IN ST. PAUL, MINNESOTA. ELTERN PERCELL, JAMES UND KAREN. AUGENFARBE: GRÜN. GEWICHT: 52 KG. GRÖSSE: 1,65 M. Eve überflog den Lebenslauf. Magdalena hatte schon mit fünfzehn ihren Highschool-Abschluss gemacht, war danach nach Princeton gegangen und hatte nach noch nicht einmal drei Jahren ihren Abschluss mit Auszeichnung in der Tasche gehabt. »Dann ist sie also alles andere als dumm.« 22. JUNI 2048 HEIRAT MIT DUPONT, ANDRE. KEINE KINDER. SCHEIDUNG MÄRZ 2051. 5. APRIL 2055 HEIRAT MIT FAYETTE, GEORGE. KEINE KINDER. SCHEIDUNG OKTOBER 2059. GESCHÄTZTES VERMÖGEN: 13,5 MILLIONEN US-DOLLAR. WOHNHAFT: PARIS, FRANKREICH; CANNES, FRANKREICH. KEINE VORSTRAFEN. Eve lehnte sich erneut zurück. Die offiziellen Daten waren ziemlich dürftig, und das saubere Vorstrafenregister zweifelhaft, wenn Roarke behauptete, dass sie eine Zeitlang seine Partnerin gewesen war. Selbst wenn sie niemals verurteilt und verhaftet worden war, hätte eine Anmerkung in ihrer Akte sein sollen, dass sie zumindest irgendwann einmal vernommen worden war. Er hatte die Akte für sie bereinigt, dachte Eve und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Er hatte sich in die Datei gehackt und sie genauso aufgeräumt wie seine eigene. Er hatte sie beschützt. Da es ihr unerwartet schwerfiel, das zu akzeptieren, brach sie kurzerhand die Suche ab. Sie wusste bereits mehr, als sie wissen wollte. Also stürzte sie sich auf die Arbeit, las erst Peabodys Bericht und dann ihre eigenen Notizen, fing mit einer Überprüfung des
Kollegiums von Fosters Schule an, malte erste Skizzen auf die Tafel, die in ihrem Zimmer stand. Sie freute sich diebisch, als der dicke Galahad in ihr Büro getrottet kam, um es sich in ihrem Schlafsessel bequem zu machen und ihr bei der Arbeit zuzusehen. »Was wir haben«, klärte sie den Kater auf, während sie nach ihrer Kaffeetasse griff, »ist der totale Durchschnittsmensch. Keine besonderen Höhen, keine nennenswerten Tiefen. Er geht durch sein durchschnittliches Leben, und es sieht so aus, als ob er dabei keinem Menschen jemals auf die Füße tritt. Dann trinkt er eines Tages während seiner Mittagspause brav seinen Kakao und stirbt infolge dessen einen ziemlich grauenhaften Tod. Was gab es für einen Grund, um derart sauer auf unseren Durchschnittsmenschen zu sein? Was kann jemand durch seinen Tod gewinnen? Sieh dir seine Finanzen an. Er hat im Rahmen seiner Verhältnisse gelebt. Sicher, es gibt eine Lebensversicherung, aber die ist nicht besonders hoch. Keine Aktien, keine Immobilien, keine teuren Kunstwerke. Habgier scheidet als Motiv also erst einmal aus.« Sie nahm auf der Kante ihres Schreibtischs Platz, studierte die Daten auf dem Wandbildschirm und trank ihren Kaffee. »Und da ist Mirri Hallywell. Ebenfalls ein Durchschnittsmensch. Hat mit dem Opfer zusammen gearbeitet, sich manchmal privat mit ihm getroffen, regelmäßig mit ihm zusammen gelernt. Trotzdem waren sie nur gute Freunde, weiter nichts. Wie siehst du das? Können zwei attraktive Menschen unterschiedlichen Geschlechts innerhalb derselben Altersgruppe mit denselben Interessen, die gerne zusammen sind und regelmäßig Zeit miteinander verbringen, auf Dauer einfach gute Freunde bleiben? Oder kommt es früher oder später zwangsläufig zu Sex?« Wütend auf sich selbst, weil dieser Gedankengang sie wieder an Roarke und seine ehemalige Gespielin denken ließ, blickte sie in Richtung des angrenzenden Büros.
»Kann sein, natürlich kann es sein. Vielleicht springt einfach kein Funke über. Oder die Beziehung geht über eine platonische Freundschaft wirklich nie hinaus. Allerdings hätte Hallywell die Gelegenheit zu diesem Mord gehabt. Genau wie seine Frau. Vielleicht ist dieser Mord ja das hässliche Ende einer hässlichen Dreiecksgeschichte, weiter nichts.« Nur fühlte es sich so nicht an. »Wenn ich es auf einen Typen abgesehen hätte, würde ich die Ehefrau umbringen und nicht ihn. Vielleicht hat sie sich gesagt: >Wenn ich Craig nicht haben kann, soll ihn auch die andere nicht haben<, aber warum ausgerechnet jetzt?« Sie wandte sich wieder den Notizen und VernehmungsProtokollen zu. Niemand, mit dem sie gesprochen hatte, hatte irgendwelchen Ärger, irgendeinen Streit oder Skandal in Zusammenhang mit dem Opfer erwähnt. »Ein echter Durchschnittsmann«, sagte sie noch mal zu Galahad, der inzwischen eingeschlafen war. »Und obendrein ein echter Saubermann.« »Falls du mit dem Kater sprichst, vergeudest du nur deine Zeit«, erklärte Roarke. »Er speichert meine Sätze in seinem Unterbewusstsein ab.« »Das Einzige, das diesem Vieh durch das Unterbewusstsein geht, ist sein unstillbarer Appetit auf Lachs. Wie kommst du voran?« »Ich drehe mich im Kreis. Es gibt kein Motiv und keine Verdächtigen. Er ist einfach nicht der Typ, der auf diese Art ums Leben kommt. Bei einem Überfall oder durch einen willkürlichen Akt, wie es jedem von uns passieren kann, vielleicht. Aber jemand, den er kannte, hat den Mord geplant, vorbereitet und ausgeführt. Und niemand, der ihn kannte, hätte einen mir bekannten Grund für diese Tat gehabt.« Roarke kam zu ihr herein, um sich das Foto des Opfers auf dem Wandbildschirm genauer anzusehen. »Er wäre nicht der Erste,
der hinter der durchschnittlichen Fassade ein heimliches Zweitleben führt.« »Nein, und ich werde auch noch weiter an der Oberfläche kratzen. Vielleicht hatte er mit ihr was nebenher.« Eve zeigte mit dem Kinn auf das Bild von Mirri Hallywell. »Hübsch.« »Ja, wobei die Frau noch hübscher ist. Und dem pensionierten Cop zufolge, der in der Wohnung unter ihnen lebt, waren die beiden ständig miteinander im Bett, weshalb mir eine Affäre überflüssig erscheint. Wobei Männer von Sex natürlich nie genug bekommen können.« Roarke tätschelte ihr Hinterteil. »Das stimmt.« Sie rief ein Foto von Lissette neben der Aufnahme von Mirri auf. Rein äußerlich waren die beiden das genaue Gegenteil. »Für manche ist Sex wie Eis. Sie haben gerne eine möglichst große Vielfalt.« Roarke sah sie lächelnd an. »Ich begnüge mich mit einer einzigen Geschmacksrichtung.« »Ja, aber vorher hast du die gesamte Speisekarte mehrmals durchprobiert. Foster war noch jung«, fuhr sie fort, während er lachte. »Er hatte nicht viel Zeit zum Experimentieren. Auch wenn ich noch nicht alle Noten habe«, murmelte sie vor sich hin, »ist das im Augenblick die einzige Melodie, die irgendeinen Sinn für mich ergibt.« Er wandte sich der Tafel zu. »Um Geld ging es anscheinend nicht.« »Dafür hatte er ganz einfach nicht genug.« »Zorn?« »Zorn ist für gewöhnlich heiß, aber das hier war eiskalt. Es war kein Verbrechen aus Leidenschaft. Gift ist... distanziert. Vor allem, wenn man nicht dabei ist, um zu sehen, wie es wirkt. Auch wenn Zorn nicht ausgeschlossen werden kann, habe ich bisher noch niemanden entdeckt, der zornig auf ihn war. Alle haben ihn gemocht.«
»Das haben sie von den Icoves ebenfalls behauptet«, erinnerte er sie, doch sie schüttelte den Kopf. »Dieser Foster war nicht so wie sie. Die Icoves waren selbstgefällig, abgehoben, selbstsicher, verrückt, aber gleichzeitig reich, privilegiert und standen im Rampenlicht. Foster war damit zufrieden, eine Randfigur zu sein. Morgen sehe ich mir seine Wohnung an und gehe auch seine Unterlagen in der Schule durch«, erklärte sie. »Vielleicht war ja nicht er derjenige, der ein Geheimnis hatte, sondern jemand anderes. Falls er irgendetwas wuss- te oder irgendwas vermutet hat, weswegen es sich hätte lohnen können, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, werde ich es finden«, stellte sie schulterzuckend fest. »Davon bin ich überzeugt.« Roarke trat auf sie zu und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Aber es genügt, wenn du morgen mit der Jagd beginnst. Du hattest einen langen Tag als Polizistin und als meine Ehefrau.« »Da hast du wahrscheinlich recht.« Sie ließ zu, dass er entschlossen ihre Hand ergriff und sie aus ihrem Arbeitszimmer zog. »Die Derricks sind nett. Aber trotzdem will ich nicht zu ihnen nach Montana.« »Es ist nur die Angst vor Kühen, die bei diesen Worten aus dir spricht. Wir könnten ein paar Tage in die Ferienanlage fahren. Ausritte machen oder so.« »Ich habe mein Leben lang davon geträumt, mich auf den Rücken irgendeines Tiers zu schwingen, das zehnmal so viel wiegt wie ich, und >Hü< zu schreien.« »Du würdest dich wundern, wie viel Spaß das macht.« »Danke, aber ich jage lieber weiter irgendwelchen Psychopathen hinterher.« Sie fragte sich, ob er mit Magdalena ausgeritten war. Fragte sich, wie oft er wohl auf ihr geritten war. Gottverdammt. In der Tür des Schlafzimmers blieb sie noch einmal stehen, drückte ihn gegen den Rahmen und presste ihm energisch ihre
Lippen auf den Mund. »Oder küsse dich«, erklärte sie, bevor sie kurz in seine Unterlippe biss. »Das ist fast genauso aufregend.« »Fast genauso aufregend wie was?« »Wie die Jagd auf irgendwelche Psychopathen.« »Dann muss ich mir wohl etwas mehr Mühe geben«, meinte er, vertauschte eilig ihre Positionen und küsste sie entschlossen auf den Mund, während er gleichzeitig seine Hände unter ihr verbeultes Sweatshirt schob. »Schließlich will ich nicht, dass meine Frau irgendwelche mörderischen Irren jagen muss, nur damit ihr Leben einen Kick bekommt.« »Das gehört nun mal zu meinem Job. Aber ...« Sie schlang ihm die Beine um die Taille und die Arme um den Hals. »... augenblicklich bin ich nicht im Dienst.« Suchend trafen ihre heißen Münder wieder aufeinander, ehe sie die Lippen beinahe verzweifelt über sein Gesicht in Richtung seiner Kehle wandern ließ. Der Geschmack von diesem Mann, der Geschmack von ihrem Mann, war alles, was sie wollte. Weil er einfach alles für sie war. Als er mit ihr vor das Bett trat, ließ sie immer noch nicht von ihm ab. »Sag mir, dass du mich willst.« »Immer. Endlos.« »Zeig es mir.« Sie konnte das Verlangen in ihm spüren. Die Art, wie er seine Hände über ihren Körper gleiten ließ, was er sich nahm und was er gab, die Hitze seiner Lippen, als er ihren Mund verschloss, zeigte ihr, wie groß es war. Doch noch immer war es nicht genug. Alles, was sie wusste, war, sie brauchte mehr. Zum ersten Mal, seit sie mit ihm zusammen war, war sie sich nicht sicher, was sie von ihm bräuchte, was ihr nicht bereits von ihm gegeben worden war. Plötzlich nahm sie einen kleinen, kalten Fleck in ihrem Innern wahr. Roarke müsste ihn wärmen, müsste ihn mit seiner Liebe füllen, damit sie nicht erfror.
Verzweifelt rollte sie mit ihm herum, riss an seinem Pulli und vergrub die Finger tief in seinem Fleisch. »Fass mich an«, verlangte sie. »Berühr mich überall.« Ihr Drängen überraschte und erregte ihn. Er ergötzte sich an ihrer Haut und trieb sie mit seinen Händen immer weiter an, bis sie mit einem lauten Stöhnen kam. Glücklich und gleichzeitig flehend stieß sie seinen Namen aus. Doch sie zitterte innerlich weiter, denn irgendein Verlangen hatte er noch immer nicht gestillt. »Eve.« Er legte eine Hand an ihr Gesicht. »Sieh mich an.« Sie tat, worum er bat, während sie noch mühsam darum rang, sich so fallen zu lassen wie bisher, wenn sie mit ihm vereint gewesen war. »In mir. Ich will dich in mir spüren.« Fordernd reckte sie sich ihm entgegen und zog ihn so tief es ging in sich hinein. So waren sie verbunden, wie es einzig ihnen beiden möglich war, sagte sie sich. Das hier war ihr Rhythmus, ihre Hitze, ihr Geruch. Sie sah ihm reglos ins Gesicht, bis ihr Blick verschwamm. Bis es nur noch Tempo und Bewegung, nur noch wilde, sich verzweifelt steigernde Erregung und am Ende schmerzliche Erlösung gab. Aber selbst als sie verschwitzt in seinen Armen lag, gab es immer noch den kleinen, kalten Fleck in ihrem Inneren, an den die Glut nicht vorgedrungen war. Eve erwachte früh am nächsten Morgen, doch die zweite Hälfte ihres Betts war bereits leer. Roarke saß nicht wie gewöhnlich auf dem Sofa und sah sich, die erste Tasse Kaffee in der Hand, Börsenberichte im Fernsehen an. Unglücklich zog sie sich an. Sie vermisste die Routine - die Gespräche und das Frühstück - und, verdammt noch mal, weshalb war er nicht da, um ihr zu sagen, dass sie wieder einmal die falsche Jacke zu der falschen Hose trug?
Und am Abend vorher? Weshalb hatte er sich nicht wie sonst in ihre Arbeit eingemischt? Weshalb war er jetzt nicht hier und lag ihr damit in den Ohren, dass sie etwas essen müsste, weil sie später sicher nicht mehr dazu kam. Wütend legte sie ihr Waffenhalfter an. Es war okay. Er hatte viel zu tun, genau wie sie. Sie brauchte und sie wollte es auch gar nicht, dass er pausenlos in ihrer Nähe war. Sie marschierte in ihr Arbeitszimmer, um die Unterlagen zum Fall Foster mitzunehmen, obwohl alles auch auf dem Computer auf der Wache war, blickte kurz in Richtung der Verbindungstür und wollte gerade zu ihm gehen, als sie hörte, dass er sprach. »Nein, ich war schon auf. Ja, alte Gewohnheiten legt man eben nur mühsam ab.« Er war am Link, erkannte sie, und da sie nur seine Stimme hörte, hatte er den Lautsprecher anscheinend ausgestellt. »Ja, das war eine echte Überraschung. Sicher, das geht ganz bestimmt. Warum sagen wir nicht ein Uhr, im Sisters Three? Ich denke, dass dir das Lokal gefallen wird. Soll ich dir einen Wagen schicken? Nein, Maggie, das ist keine Mühe. Also dann bis nachher.« Maggie, dachte Eve, während ihr der Magen in die Knie sank. Er sprach sie nicht ein wenig distanziert mit Magdalena, sondern liebevoll und warm mit Maggie an. Sie trat durch die Tür und sah, dass ihr das fast Unmögliche gelungen war: sie hatte ihn eindeutig überrascht. Doch sie hatte keine Ahnung, was er dachte, sondern konnte nur erkennen, dass sie während dieses kurzen Augenblicks nicht Teil seiner Gedanken und Erinnerungen war. Dann sah er sie mit einem geistesabwesenden Lächeln an. »Da bist du ja.« »Ja, hier bin ich. Du sitzt heute aber ganz schön früh hinter deinem Schreibtisch.« »Ich hatte um sechs Uhr unserer Zeit eine Videokonferenz mit London.« Hinter ihm piepste das Laserfaxgerät, doch er
ignorierte das Geräusch. »Ich wollte gerade zu dir kommen und dich dazu überreden, noch mit mir zu frühstücken, bevor du gehst.« »Damit wärst du heute essenstechnisch ja schon bis zum Mittagessen ausgebucht.« »Wie bitte? Oh ja. Magdalena hat sich offenbar daran erinnert, dass ich Frühaufsteher bin.« Er steckte das Adressbuch, das auf seinem Tisch lag, in die Jackentasche und stand auf. »Wir treffen uns zum Lunch.« »Das habe ich gehört. Pass bloß auf, mein Freund.« »Worauf?« »Sie wäre nicht die erste alte Freundin, die die Hoffnung hegt, dass sie dich um der guten, alten Zeiten willen noch mal in die Kiste locken kann. Erinnre sie also am besten daran, dass du jetzt mit einer Polizistin schläfst.« Ein Hauch von Ärger huschte über sein Gesicht. »Ich habe nicht die Absicht, alte Gewohnheiten wieder aufleben zu lassen.« »Alte Gewohnheiten legt man nur mühsam ab. Hast du selbst gesagt.« Jetzt legte sich eine Spur von Eis in seinen Blick. »Hast du etwa gelauscht?« »Die Zwischentür war auf, und da ich in meinem Arbeitszimmer war und Ohren habe, hatte ich gar keine andere Wahl.« »Dann benutze deine Ohren gefälligst auch jetzt. Ich werde mit ihr Mittag essen, weiter nichts.« Er legte seinen Kopf ein wenig schräg und sah sie aus nachdenklich zusammengekniffenen, leuchtend blauen Augen an. »Oder vertraust du mir mit einem Mal nicht mehr?« »Ich würde dir noch eher vertrauen, wenn du sie nicht ständig als alte Freundin bezeichnen würdest, obwohl wir beide wissen, dass sie etwas völlig anderes für dich war.« »Was diese Frau auch immer für mich war, liegt zwölf Jahre zurück. Jahre, bevor ich dir zum ersten Mal begegnet bin.«
Plötzlich drückte seine Stimme neben Kälte und Verärgerung ehrliches Verblüffen aus. »Meine Güte, bist du etwa eifersüchtig auf eine Frau, an die ich schon seit Jahren nicht mal mehr gedacht habe?« Eve sah ihn einen Moment lang reglos an. »Jetzt denkst du auf jeden Fall an sie«, erklärte sie und ließ ihn einfach stehen. Sie joggte die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo sie auf Roarkes Majordomus, Aufpasser und Mann für alle Fälle traf. Ihr jedoch ging Summerset chronisch auf den Keks. Groß und dünn, wie stets von Kopf bis Fuß in Schwarz, das silbrig graue Haar zurückgekämmt, stand er mit verächtlicher Miene da. Sie schnappte sich ihren Mantel, der wie stets über dem Treppenpfosten hing, und fuhr ihn rüde an: »Wenn Sie auch nur ein Wort zu mir sagen, ein verdammtes Wort, reiße ich Ihnen den Stock aus Ihrem Arsch und schlage Sie damit zu Brei.« Sie stapfte Richtung Tür, drehte sich dort aber noch einmal zu dem Butler um. »Und sagen Sie Ihrem Boss, wenn ich eifersüchtig wäre, hätte ich ihn schon vor zwei Jahren grün und blau geschlagen. Gottverdammt.« Summerset zog nachdenklich die Brauen hoch und blickte auf Roarke, der oben auf dem Treppenabsatz stand. »Der Lieutenant scheint heute noch reizbarer als sonst zu sein«, bemerkte er. »Sie hat einfach schlechte Laune.« Die Hände in den Hosentaschen, blickte Roarke stirnrunzelnd auf die Tür, die krachend hinter ihr ins Schloss gefallen war. Er fand, dass der Grund für ihre schlechte Laune ganz und gar nicht typisch für sie war. »Magdalena ist in der Stadt. Wir treffen uns heute zum Lunch, was Eve offenbar nicht passt.« Er bemerkte den Blick, mit dem ihn Summerset bedachte, und sein mühsam unterdrückter Zorn gewann erneut die Oberhand. »Fangen Sie jetzt bloß nicht auch noch an. Ich habe schon genug
Dramatik für den ganzen Tag erlebt, und dabei ist es nicht mal acht.« »Weshalb wollen Sie Ihr Leben unnötig verkomplizieren?« »Das tue ich doch gar nicht. Ich treffe sie, verdammt noch mal, zum Lunch, sonst nichts. Also lassen Sie mich bloß in Ruhe«, warnte er und stapfte ebenso erbost wie zuvor Eve davon. Der Schnee am Straßenrand hatte sich in schmutzig grauen Matsch verwandelt, und auf den Gleitbändern und Bürgersteigen stellten rutschige, vereiste Flecken regelrechte Fallen für die Menschen dar. Halb erfrorene, dick vermummte Pendler standen an den Haltestellen für die Maxibusse, und die Schwebegrillbetreiber an den Ecken hatten die Feuer unter ihren Rosten nicht nur des Geschäfts, sondern auch des eigenen Komforts wegen entfacht. Das Thermometer ihres Wagens zeigte grauenhafte Minusgrade an. Eve ließ den Kopf aufs Lenkrad fallen, denn natürlich stand sie abermals in einem Stau. Sie hatte es vollkommen falsch gemacht. Sie hatte keine Ahnung, wie sie diese Sache hätte angehen sollen, aber so auf keinen Fall. Jetzt wäre er sauer auf sie, wenn er sich mit diesem ... Flittchen traf. Das war sicher keine gute Strategie. Aber warum in aller Welt brauchte sie überhaupt so etwas wie eine Strategie? »Ach, vergiss es«, sagte sie sich streng. »Das ist nur ein kleines Ärgernis, sonst nichts.« Trotzdem kochte sie während des ganzen Wegs bis zum Revier und grübelte auch weiterhin darüber nach, als sie in einem überfüllten Fahrstuhl in ihre Abteilung fuhr. Ohne die Kollegen auch nur eines Blickes zu würdigen, marschierte sie in ihr Büro. Machte die Tür hinter sich zu und bestellte sich einen Kaffee. Dies hier war ihr Arbeitsplatz, erinnerte sie sich. Hier blieben private Angelegenheiten außen vor. Sie beschloss, ihren Kaffee
zu trinken und aus dem winzigen Fenster des Büros zu sehen, bis ihr Kopf frei genug für ihre Arbeit war. Sie trank immer noch Kaffee und starrte hinaus, als, nach einem kurzen Klopfen, Peabody den Raum betrat. »Morgen. Und, wie war Ihr Essen gestern Abend?« »Ich bin satt geworden. Holen Sie sich Ihren Mantel. Wir fahren zu Fosters Wohnung.« »Jetzt? Sollte ich nicht vielleicht vorher Lissette Foster kontaktieren, um zu fragen, ob sie ...« »Ich habe gesagt, Sie sollen Ihren Mantel holen.« »Zu Befehl, Madam.« Erst als sie im Wagen saßen, fragte Peabody: »Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Ist Lissette inzwischen unsere Hauptverdächtige?« »Gibt es vielleicht irgendeinen Grund, aus dem sie Ihrer Meinung nach nicht verdächtig ist?« »Nein, aber ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass es nicht wahrscheinlich ist, dass sie ihren Mann ermordet hat.« »Sie hätte die Gelegenheit dazu gehabt. Und was das Motiv betrifft, Eheleute finden immer ein Motiv. Manchmal reicht es schon, dass man ein Arschloch geheiratet hat. Damit fangen wir an.« Schweigend fuhr sie los. »Ich will sehen, wo er gelebt hat oder wie die zwei gelebt haben«, fuhr sie schließlich etwas ruhiger fort. »Seinem Körper nach war er ein kerngesunder junger Mann, der an einer tödlichen Dosis Rizin gestorben ist. Mehr hat die Untersuchung nicht erbracht. Aber das heißt nicht, dass uns das Opfer nicht mehr zu sagen hat.« »Okay, verstehe. Ist sonst alles in Ordnung?« »Nein, das ist es nicht. Aber ich werde nicht darüber reden. Also lassen Sie uns unsere Arbeit machen, ja?« Die Stille aber war noch unerträglicher, und so raufte sie sich unglücklich das Haar. »Erzählen Sie etwas. Meistens kriegen Sie die Klappe schließlich
gar nicht zu. Also machen Sie sie jetzt, um Himmels willen, auch mal auf.« »Hmmm. Mir fällt einfach nichts ein. Ich stehe zu sehr unter Druck. Oh, oh! Jetzt weiß ich was. Sind Sie für morgen Abend bereit?« »Bereit, wofür?« »Jetzt aber.« Peabody bedachte Eve mit einem vorwurfsvollen Blick. »Können Sie sich vielleicht einmal entschieden, ob's um jetzt oder um morgen Abend geht? Was haben Sie zum Frühstück geraucht?« »Ich habe nur eine rehydrierte Pampelmuse gegessen, weiter nichts. Ich habe nämlich während der Feiertage ganz schön zugelegt. Daran sind die Plätzchen schuld.« Peabody stieß einen unglücklichen Seufzer aus. »Ich habe Jas Gefühl, als ob mein Hintern ganz aus Plätzchenteig besteht.« »Was für eine Sorte? Plätzchen schmecken toll.« »Ich habe alle Sorten durchprobiert. Ich kann der Macht der Weihnachtsplätzchen ganz einfach nicht widerstehen. Meine Großmutter kriegt aus dem Stand die tollsten Dinger hin.« »Ich dachte, dass man Plätzchen aus Zucker macht.« »Aus Zucker und Mehl und Eiern und Johannisbrotschoten und Butter. Mmm, Butter.« Peabody schloss träumerisch die Augen. »Butter von den Kühen, die bei meiner Oma auf der Weide stehen.« »Kühe geben Milch.« Eve wartete, als eine Gruppe Fußgänger vor ihr über die Kreuzung lief. »Ich werde nie verstehen, wie irgendjemand freiwillig was trinken kann, das wie Pipi aus einer Kuh herausgelaufen kommt.« »Butter wird aus Milch gemacht. Zumindest die echte. Verdammt, jetzt habe ich Hunger. Ich kann noch nicht mal über Plätzchen reden, ohne dass mein Hintern davon dicker wird. Aber eigentlich wollte ich ja auch von etwas völlig anderem reden. Wissen Sie noch, wovon?«
»Erst ging es um morgen Abend, dann plötzlich um jetzt.« Peabody runzelte die Stirn. »Sie versuchen nur, mich zu verwirren, und he ... es hätte beinahe geklappt. Ich meinte Nadines neue Sendung. Sie sind doch morgen ihr Premierengast.« »Was ich, so gut es geht, verdränge.« »Wird sicher super. Was ziehen Sie an?« »Ich dachte, zur Abwechslung ziehe ich irgendwelche Kleider an.« »Also bitte, Dallas, die Sendung wird nicht nur landesweit, sondern auch per Satellit in andere Regionen ausgestrahlt. Lassen Sie Roarke was aussuchen.« Eve kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und spürte, dass ein Grollen aus ihrer Kehle stieg. »Ich kann mich durchaus selbst anziehen. Schließlich laufe ich seit Jahren angezogen rum.« Wieder dachte sie an Magdalena mit dem leuchtend roten Kleid und den silbernen High Heels. »Ich bin Polizistin und kein Mannequin. Wenn er eine Frau gewollt hätte, die in schicken Kleidern und in hochhackigen Schuhen rumstolziert, hätte er mich besser nicht geheiratet.« »Ich glaube nicht, dass Ihre Garderobe den Ausschlag für seine Entscheidung gegeben hat.« Dann tauchte Peabody vorsichtig den kleinen Zeh in das gefährliche Gewässer. »Hatten Sie beide gestern Abend Streit?« »Nicht wirklich. Aber ich glaube, dass ein Streit möglicherweise überfällig ist.« Eve überholte eine Limousine und schoss direkt vor ihr die Rampe zu einem Hochparkplatz hinauf. »Das ist nah genug.« »Das glaube ich auch.« Peabody holte tief Luft und joggte hinter Eve in Richtung Bürgersteig. Die eisige Kälte drang ihr direkt in die Knochen, und da obendrein ein schmerzlich kalter Wind durch die Straßenschluchten pfiff, stopfte Eve die Hände in die Manteltaschen und konzentrierte sich erneut auf ihren Job.
»Wenn sie nichts zu verbergen hat, wird sie nichts dagegen haben, wenn wir uns ein bisschen in ihrer Wohnung umsehen«, meinte sie. »Ansonsten besorgen wir uns einfach einen Durchsuchungsbeschluss. Wir suchen nach einer Spur des Gifts, nach den Samen selbst oder nach irgendeinem Neben- oder Abfallprodukt. Außerdem will ich mir sein Daten- und Kommunikationszentrum, seine Disketten und sämtliche Papiere ansehen. Ich will wissen, was er in seinen Kommodenschubladen und in seinen Manteltaschen hatte. Achten Sie auf alles, was möglicherweise von Interesse für uns ist.« Peabody atmete erleichtert auf, als sie durch die Tür des Hauses trat und die Februarkälte draußen blieb. »Falls die Wohnung so wie die von diesem Kowoski geschnitten ist, wird es nicht lange dauern.« Sie erklommen die Treppe in die obere Etage, und Eve klopfte an die Wohnungstür. Eine Frau mit müden Augen und schimmernden Dreadlocks machte ihnen auf. »Kann ich Ihnen helfen?« »Lieutenant Dallas und Detective Peabody.« Sie hielt der Fremden ihre Marke hin. »Wir möchten zu Lissette Foster.« »Es geht um den Tod von Craig, oder? Ich bin Lissys Mutter, Cicely Bolviar. Bitte kommen Sie doch rein. Sie ist gerade im Bad.« Cicely warf einen besorgten Blick auf die Badezimmertür. »Sie steht unter der Dusche. Sie hat letzte Nacht kein Auge zugemacht. Ich wollte gerade Frühstück machen. Schließich muss sie etwas essen. Tut mir leid.« Sie wandte sich wieder an Eve und Peabody. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?« »Machen Sie sich bitte keine Mühe.« »Kein Problem. Ich will sowieso welchen für Lissy kochen. Wir treffen uns heute Nachmittag mit Craigs Familie, um ...« Ihre Lippen zitterten. »Um über die Beerdigung zu sprechen. Aber erst mal möchte ich, dass Lissy etwas isst.«
»Seit wann sind Sie in New York, Ms Bolviar?« »Ich bin gestern am späten Abend angekommen. Ich bin so schnell wie möglich hergekommen, als ... nachdem Lissy mich angerufen hatte. Sie braucht jetzt ihre Maman. So hat er mich auch genannt, Maman.« Sie trat vor die Küchenzeile, stand dann aber da, als wüsste sie nicht mehr, weshalb sie dorthin gegangen war. »Sie wollte hier leben, meine Lissy, und da sie Craig hatte, habe ich mir keine Sorgen um sie gemacht. In ein paar Jahren, hat er zu mir gesagt - die beiden waren noch so jung - in ein paar Jahren wollten sie eine Familie gründen und mich zur Großmama machen. Das hat er gesagt. Wissen Sie, was durch den Tod von diesem süßen Jungen alles vernichtet worden ist? Nicht nur dieser süße Junge selbst, sondern auch die Familie, die er und Lissy gründen wollten. Sein Tod hat dieses Glück zerstört. Wissen Sie schon, wie er gestorben ist?« »Wir müssen mit Ihrer Tochter sprechen.« »Bien sur. Bitte setzen Sie sich doch. Ich werde Ihnen einen Kaffee kochen. Sie haben hier nur Ei-Ersatz. Zu Hause habe ich immer frische Eier von den Hühnern, die mein Nachbar hält, aber hier ... Er war ein lieber Junge.« In ihren müden Augen stiegen Tränen auf. »So ein lieber Junge. Das hätte nie passieren dürfen. Bitte nehmen Sie doch Platz.« Es gab eine leuchtend blaue Couch mit leuchtend grünen Kissen, zwei ebenfalls blau-grün gestreifte Sessel, einen langen, schmalen Arbeitstisch in einer Ecke sowie einen kleinen Tisch mit zwei dazu passenden Stühlen an der gegenüber befindlichen Wand. Die Anordnung des Mobiliars, die allgemeine Ordnung und die bunten Farben verliehen dem kleinen Raum Stil und Funktionalität. Cicely trat vor die Badezimmertür und klopfte leise an. »Mignon, die Polizei ist da. Ein Lieutenant und ein De- tective. Sie wird gleich bei Ihnen sein«, sagte sie zu Eve. »Ich setze jetzt erst mal den Kaffee auf.«
Lissette kam in einer weiten Hose, einem Sweatshirt und in dicken Socken aus dem Bad. Sie sah aus wie eine prau, die lange krank gewesen war. Ihr Gesicht war kreidig, ihre Augen trüb und rot verquollen, und so, wie sie sich bewegte, machte es den Eindruck, als täten ihr alle Knochen weh. »Haben Sie schon etwas rausgefunden?« Ihre Stimme klang wie rostiges Metall. »Etwas über Craig?« »Setzen Sie sich, Mrs Foster«, sagte Eve. »Ich habe ihn mir angesehen. Wir haben ihn uns angesehen. Seine Eltern und ich waren an diesem Ort. Es war wirklich kein Irrtum. Sie haben gesagt, dass es kein Irrtum ist. Es hat die beiden völlig fertiggemacht. Seine Mom und seinen Dad, es hat sie völlig fertiggemacht. Was soll ich jetzt tun?« Sie sah sich in der kleinen Wohnung um, als wäre sie ihr fremd. »Was soll ich jetzt nur tun? Maman.« »So, mein Baby, setz dich erst mal hin.« Cicely kam zurück und drückte ihre Tochter sanft auf einen Stuhl. »Bitte, können Sie uns irgendetwas Neues sagen? Irgendwas? Es ist entsetzlich schwer, nicht zu wissen, warum oder wie es dazu gekommen ist.« Eve sah Lissette ins Gesicht. »Ihr Mann hat eine tödliche Dosis Rizin geschluckt.« »Geschluckt? Rizin? Was ist das?« »Ein Gift«, murmelte Cicely und riss entsetzt die Augen auf. »Ich weiß, es ist ein Gift.« »Ein Gift? Aber weshalb sollte er ... wie hat er ...« »Es war in seinem Kakao«, erklärte Eve. Jetzt wich auch noch der letzte Rest von Farbe aus Lissettes Gesicht. »Nein, nein, nein. Das kann nicht sein. Ich habe den Kakao für ihn gemacht. Ich habe ihn selbst für ihn gekocht. Das mache ich jeden Morgen, seit es kalt geworden ist. Wenn es wieder wärmer wird, mache ich ihm süßen, kalten Tee. Jeden Tag. Denken Sie, ich hätte Craig was angetan? Denken Sie, ich ...«
»Nein.« Nach über elf Jahren im Dienst konnte Eve ihrem Instinkt vertrauen. »Aber um Sie von jedem Verdacht zu befreien und um jeder anderen Spur nachgehen zu können, würden wir uns gern in Ihrer Wohnung umsehen. Wir hätten gern Ihre Erlaubnis, uns den Computer, das Arbeitsmaterial und die persönlichen Sachen Ihres Mannes anzusehen.« »Warten Sie. Bitte.« Lissette umklammerte die Hand von ihrer Mutter. »Sie haben gesagt, er hätte Gift genommen. Sie haben gesagt, dass er an einer Vergiftung gestorben ist. Aber wie kann jemand aus Versehen Gift nehmen?« »Sie denken, dass es kein Versehen war«, erklärte Cicely. »Nicht wahr?« »Nein.« »Aber dann ...« Eine ungesunde Röte überzog Lisset- tes Gesicht und langsam stand sie wieder auf. »Sie denken, dass es Absicht war? Dass ihm jemand dieses Gift vorsätzlich gegeben hat? Aber aus welchem Grund? Er hat keinem Menschen jemals wehgetan. In seinem ganzen Leben nicht.« »Mrs Foster, wir gehen davon aus, dass jemand im Verlauf des Vormittags das Gift in den Kakao von Ihrem Mann geschüttet hat.« »Aber ich habe den Kakao gekocht. Ich habe ihn gemacht.« Sie stürzte auf die Küchenzeile zu. »Hier, genau an dieser Stelle. Ich mache ihm jeden Tag ein Lunchpaket, weil ihn das so freut. Es dauert nur ein paar Minuten, und es macht ihm solche Freude, dass ich ...« Cicely murmelte etwas auf Französisch, während sie zu ihrer Tochter ging. »Nein, nein, nein, ich habe ihn genauso wie an jedem anderen Tag gemacht. Das Brot, das Obst, die Sojascheiben, weil er die so gerne isst. Ich habe den Kakao gekocht, wie ich es von dir gelernt habe, Maman. Weil er ihn so gerne trinkt. Genau hier, genau hier.« Sie breitete die Arme aus. »Hier habe ich den Kakao gekocht.«
»Lissy.« Cicely legte ihre Hände an die feuchten Wangen ihrer Tochter und bat sie inständig: »Tu dir das nicht an.« »Lissette, haben Sie den Kakao in eine schwarze Thermoskanne gefüllt?« »Ja, ja.« Lissette lehnte sich an ihre Mutter an. »Die Kanne, auf der sein Name stand. Ich habe sie ihm geschenkt, als er an der Schule angefangen hat, zusammen mit der schwarzen Tasche. Es war ein kleines Geschenk.« »Dann hatte er also diese Kanne und die Tasche meistens dabei, wenn er zur Arbeit ging?« »Jeden Tag, ja. Jeden Tag. Aber was spielt das für eine Rolle?« »Es ist nur ein Detail«, erklärte Eve. »Wir ermitteln, wie und warum ihm jemand dieses Gift verabreicht hat, deshalb zählt für uns jedes noch so winzige Detail. Und jetzt würden wir uns gerne in der Wohnung umsehen.« »Warum?« Lissette starrte auf ihre Hände. »Warum hätte jemand Craig so etwas antun sollen?« »Das kann ich noch nicht sagen.« »Wollen Sie sich seine Sachen ansehen, weil Ihnen das helfen wird, mir diese Frage zu beantworten?« »Ja.« »Dann sehen Sie sich alles an. Er hat auch noch Sachen in der Schule. Auf seinem Computer und in seinem Schreibtisch dort. Tun Sie alles, was für Ihre Arbeit wichtig ist. Aber ich will nicht dabei zusehen. Ich will nicht dabei zusehen, wie Sie in seinen Sachen wühlen. Können wir die Wohnung solange verlassen?« »Ja, natürlich.« »Maman, lass uns nach draußen gehen und die beiden ... Maman, jemand hat Craig umgebracht. Maman.« Eve hielt sich ein wenig abseits, während Cicely die trauernde junge Witwe tröstete und ihr fürsorglich in ihre Stiefel, ihren Schal und ihren Mantel half.
»Ich gehe mit ihr frühstücken«, sagte Cicely zu Eve. »Ein paar Häuser weiter gibt es ein Cafe. Falls Sie uns brauchen, finden Sie uns dort.« »Danke.« Eve wartete, bis die Tür hinter den beiden Frauen ins Schloss gefallen war. »Er hatte also jeden Tag dieselbe Thermoskanne dabei.« »Er war anscheinend ein Gewohnheitsmensch«, stellte Peabody fest. »Ja, und zwar hat er nicht nur gewohnheitsmäßig jeden Tag Kakao getrunken, sondern auch noch immer dieselbe Kanne dafür benutzt. Seit über einem Jahr. Vielleicht hat der Mörder die gleiche Kanne irgendwo gekauft und sie einfach ausgetauscht.« »Wir können überprüfen, wo und an wen die Marke und das Modell in den letzten Monaten verkauft worden sind.« »Ja, das können wir. Aber erst mal sehen wir uns hier um. Los, machen wir uns an die Arbeit, Peabody.«
5 Es gab nichts in der Wohnung, was auf einen Mord hinwies. Kein in einem geheimen Fach verstecktes Gift, keine Drohbriefe und keine belastenden Fotografien. Soweit Eve es sah und spürte, zeugte das Apartment einzig von dem Leben eines ganz normalen Paars, dessen Ehe noch frisch und ungetrübt gewesen war. Auf dem Schreibtisch, den sich beide teilten, lagen beider Arbeitsmaterialien sowie jede Menge amüsanter, aufreizender E-Mails, die sie sich gegenseitig geschickt hatten. Zeichen der ersten stürmischen Verliebtheit und Zusammengehörigkeit, neben der nichts anderes mehr wichtig war. Außerdem gab es Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen Lissy und ihrer Mutter sowie eines Anrufs von Mirri Hallywell, in dem sie mit den beiden Fosters sprach, einen Termin zum Lernen mit Craig bestätigte und mit Lissy über ein Date mit einem gewissen Ben plauderte. Am Abend vor seinem Tod hatte Craig Foster die Fragen des Geschichtstests formuliert, den seine Schüler nie mehr schreiben würden, und fast eine Stunde über einem Aufsatz über die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der Staaten nach den Innerstädtischen Revolten zugebracht. Als Bildschirmschoner hatte er ein Hochzeitsfoto ausgewählt Lissette in einem fließenden, weißen Kleid, er selbst in strengem Schwarz bei ihrem ersten Kuss als Ehefrau und Ehemann. »Das geht einem wirklich an die Nieren«, meinte Peabody, als sie wieder in Eves Wagen saßen. »Wenn man sich in der Wohnung umguckt, sieht man lauter neue Sachen. Alles fing gerade erst an. Und jetzt ist es vorbei. Die guten, kaum benutzten Weingläser - bestimmt ein Geschenk zu ihrer Hochzeit -, die neuen Handtücher und der dazu passende
Duschvorhang, die getrockneten Blumen aus dem Brautstrauß, der Film von der Trauung und der anschließenden Party. Das geht einem wirklich an die Nieren«, wiederholte sie. »Es geht einem vor allem deshalb an die Nieren, weil man kein Motiv erkennen kann. Sie hatten nicht viel Geld, haben keine Drogen genommen, und die Wahrscheinlichkeit, dass einer von den beiden ein Verhältnis hatte, ist gleich null. Was also hatte er für ein Geheimnis?« »Was er für ein Geheimnis hatte?«, fragte Peabody verständnislos. »Alle Menschen haben Geheimnisse. Sachen, über die sie mit keinem Menschen reden. Alle Männer haben irgendwelche Dinge, die sie ihren Ehefrauen verschweigen.« Peabody schüttelte den Kopf. »Die beiden waren frisch verheiratet, und so gut, wie die Beziehung offensichtlich war, kann ich mir nicht vorstellen, dass es irgendwelche Geheimnisse zwischen den beiden gab.« »Deshalb sind es ja Geheimnisse«, murmelte Eve, während sie sich auf die Suche nach einem Parkplatz in der Nähe der Schule begab. An der Schultür gab es eine Sicherheitskontrolle, und während die beiden darauf warteten, dass jemand ihnen die Erlaubnis zum Betreten des Gebäudes gab, sah Eve, wie eine Gruppe Lehrer - alle mit schwarzen Armbinden - durch die Aula lief. »Gehen wir noch mal das Timing und Fosters Aktivitäten durch. Wenn das Rizin nicht von zu Hause kam, kam es eindeutig von hier.« Peabody zog ihren Notizblock aus der Tasche und blätterte darin herum. »Das Opfer war um sechs Uhr zweiundvierzig hier. Nach Aussage der Ehefrau hat es die Wohnung gegen sechs Uhr dreißig verlassen.« »Er ist zu Fuß gegangen. Hat sich extra eine Wohnung in der Nähe der Schule gesucht, damit er seinen Arbeitsplatz zu Fuß erreichen und das Fahrgeld sparen kann. Für den Weg braucht man sieben, acht Minuten, es ist also unwahrscheinlich, dass er
unterwegs irgendwo angehalten hat. Außerdem ist um die Uhrzeit sowieso noch nichts in der Nähe auf. Der nächste Supermarkt, der durchgehend geöffnet hat, liegt drei Blocks westlich.« Peabody nickte zustimmend. »Einen Block entfernt gibt es einen kleinen Feinkostladen, aber der macht erst um sieben auf.« »Okay. Er hat also seinen Mantel angezogen, seine Tasche und sein Lunchpaket genommen, seiner Frau noch einen Abschiedskuss gegeben und sich auf den Weg gemacht. Dann ist er durch den Haupteingang hereingekommen, so wie wir. Passiert die Kontrolle und meldet sich an. Er will noch in den Fitnessraum, also geht er kurz in seine Klasse und legt Mantel, Handschuhe, Mütze, Schal und Tasche ab. Wobei in der Tasche seine letzte Mahlzeit ist.« Sie gingen denselben Weg. »Keiner der Befragten hat erwähnt, dass er ihn gesehen oder gesprochen hat, bevor er in den Fitnessraum gegangen ist. Trotzdem muss er vorher noch oben gewesen sein.« Sie blieb vor der Klasse stehen, gab den Code zum Öffnen des polizeilichen Siegels ein und öffnete die Tür. »Stellt die Tasche auf den Schreibtisch, legt das Lunch- Paket in eine Schublade und hängt seinen Mantel auf. Schließlich ist er ein ordentlicher Mensch«, murmelte sie vor sich hin. »Sein Sportzeug hat er bereits an. Also nimmt er die Tasche mit den anderen Klamotten mit runter in den Fitnessraum.« »Stimmt«, las Peabody von ihren Notizen ab. »Die Tasche mit dem Sportzeug haben wir gefunden.« »Er geht wieder ins Erdgeschoss.« Auch die beiden Frauen gingen dorthin zurück. »Geht runter in den Fitnessraum und lässt seine Klasse einschließlich der Ther- moskanne unbewacht zurück.« »Ja.«
Sie liefen in Richtung des Sportbereichs. »Zeugenaussagen zufolge ist er bereits an den Geräten, als er zum ersten Mal gesehen wird.« »Von Reed Williams, gegen sieben Uhr zehn.« »Wann ist Williams in der Schule angekommen?« »Um sechs Uhr fünfundvierzig.« »Und was hat Williams zwischen sechs Uhr fünfundvierzig und sieben Uhr zehn gemacht? Wir sollten noch mal mit ihm reden. Mosebly hat ausgesagt, sie hätte das Opfer im Poolbereich gesehen, als sie ihn gegen sieben Uhr dreißig verlassen hat.« »Sie war seit sechs Uhr fünfzig da.« »Lauter Frühaufsteher. Auch sie überprüfen wir noch mal. Und zwar jetzt gleich«, erklärte Eve, als sie Mosebly näher kommen sah. »Lieutenant, Detective. Die Security hat mich über Ihr Erscheinen informiert.« Von ihrer Jacke über ihren Rock bis hin zu ihren Stiefeln war sie heute ganz in Schwarz. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei mir anmelden würden, wenn Sie in die Schule kommen.« »Ich dachte, nach dem, was gestern vorgefallen ist, wäre die Schule heute vielleicht zu«, entgegnete Eve. »Nach einem Gespräch mit unseren Psychologen habe ich mich dagegen entschieden. Sie waren der Ansicht, dass es für die Schüler besser ist, wenn der Schulalltag nicht unterbrochen wird und wenn sie zusammen sind und offen über ihre Ängste und Gefühle sprechen können. Wir haben heute Morgen eine Schweigeminute eingelegt und halten in ein paar Tagen noch eine Gedenkveranstaltung für Mr Foster ab. Haben Sie schon irgendwas herausgefunden?« »Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Was haben Sie gestern Morgen gemacht, bevor Sie schwimmen waren?« »Wie bitte?« »Sie waren seit sechs Uhr fünfzig in der Schule. Was haben Sie gemacht?«
»Lassen Sie mich überlegen. Seither ist so viel passiert ... ich war in meinem Büro, um einen Blick in den Kalender zu werfen und den Tag zu planen. Mein erster Termin war um acht. Warum?« »Es geht uns einfach um Details. Haben Sie jemanden gesehen oder mit jemandem gesprochen, bevor Sie schwimmen gegangen sind?« »Allerdings. Ich habe mich kurz mit Bixley unterhalten, als ich in die Schule kam. Er hat die Treppe gefegt, wegen des Schnees. Ich habe ihn darum gebeten, im Verlauf des Tages regelmäßig nachzusehen, ob er sie noch einmal fegen muss. Und Laina Sanchez, unsere Küchenchefin, habe ich gesehen, weil sie direkt hinter mir hereingekommen ist. Ich glaube, ich habe irgendeine Bemerkung über das Wetter gemacht. Dann bin ich in mein Büro gegangen, und habe dort meinen Tag geplant, bevor ich an den Pool gegangen bin.« »Sind Sie durch den Fitnessraum zum Pool gegangen?« »Nein, ich habe mich in der Garderobe für die Angestellten umgezogen und bin dann direkt weiter an den Pool. Was ist mit Craig passiert, Lieutenant? Es kursieren die wildesten Gerüchte, und es macht für uns alles nur noch schlimmer, dass niemand etwas weiß.« »Er wurde vergiftet. Hat jeder Zugang zum Fitnessbereich?« »Vergiftet?« Mosebly machte einen Schritt zurück. »Großer Gott. Hat er etwa etwas aus einem der Verkaufsautomaten in der Lounge gegessen? Oder etwas aus der Cafeteria? Ich muss sofort mit Laina sprechen.« »Er hatte es nicht von hier.« »Gott sei Dank.« Die Erleichterung war der Rektorin überdeutlich anzusehen. »Trotzdem ist es natürlich schrecklich«, fügte sie eilig hinzu. »Natürlich ist es schrecklich, dass etwas, was er von zu Hause mitgebracht hat, dafür verantwortlich war. Aber ich muss an die Schüler und die Angestellten denken.« »Sicher.«
»Dann war es also ein Unfall. Irgendeine allergische Reaktion.« »Es war Mord«, erklärte Eve ihr tonlos und sah, wie Moseblys Erleichterung verflog. »Ms Mosebly, ich muss wissen, wo jeder Einzelne von Ihnen gestern Morgen vor Beginn des Unterrichts gewesen ist. Und in der Zeit, bevor Foster sein Mittagessen eingenommen hat. Hat irgendjemand - Angestellte oder Schüler - Zugang zu diesem Bereich?« Eve zeigte auf die Tür des Fitnessraums. Mosebly griff sich zitternd ans Herz. »Ich muss wissen, was passiert ist. Falls ihn jemand vorsätzlich vergiftet hat, sind vielleicht die Schüler in Gefahr.« »Es gibt keinen Grund zu der Befürchtung, dass die Kinder gefährdet sind. Es ging speziell um ihn. Beantworten Sie meine Frage.« Mosebly presste ihre Finger an die Schläfen. »Von dieser Seite aus kommen nur die Angestellten in den Raum. Sie brauchen dazu eine Schlüsselkarte. Die Schüler haben ihren eigenen Bereich, in den man von der anderen Poolseite aus gelangt. Die Angestellten dürfen den Nassbereich vor und nach dem Unterricht benutzen, wenn dort nicht gerade ein Schwimmkurs stattfindet. Oh, mein Gott. Gift.« »Die Schlüsselkarte«, sagte Eve und zeigte auf die Tür. Mosebly zog eine Karte aus der Tasche und zog sie durch den Schlitz. Eve trat durch die Tür. Es war ein kleiner, gut bestückter Raum, in dem augenblicklich niemand war. Es gab Stepper, Gewichte, Matten. Ihr Fitnessraum daheim war größer und natürlich noch erheblich besser ausgestattet, aber trotzdem war auch dieser Raum nicht schlecht. Das Personal der Schule konnte sich darüber freuen. »Foster hat die Geräte regelmäßig benutzt?« »Beinahe jeden Tag. Die Lehrer werden von uns dazu angehalten, diesen Raum zu nutzen. Was die meisten ein- bis
zweimal in der Woche tun. Ein paar jedoch, wie Craig, nutzen diese Möglichkeit mit größerer Regelmäßigkeit.« Eve durchquerte den Raum und trat durch eine zweite Tür. Der Umkleidebereich war sauber und wie der Fitnessraum ausnehmend praktisch eingerichtet: Auf jeder Seite gab es Ablagen, Toilettenkabinen sowie drei durch Milchglas unterteilte Duschen. Für Männer und Frauen getrennt. »Welcher dieser Spinde hat ihm gehört?« »Wir haben keine eigenen Spinde hier.« Es war Mosebly deutlich anzuhören, dass sie es eilig hatte, wieder aus dem Raum herauszukommen, entsprechend hastig fuhr sie fort: »Wenn das rote Lämpchen leuchtet, ist der Spind belegt. Wenn das grüne Lämpchen leuchtet, kann man ihn benutzen und wählt, um ihn abzuschließen, einfach einen sechsstelligen Zahlencode.« »Ich sehe hier drei rote Lämpchen leuchten.« »Manche benutzen gewohnheitsmäßig einen Spind und bewahren darin immer ihre Sachen auf, weil es bequemer ist.« »Ich möchte mir die Spinde ansehen.« »Sie können nicht einfach einen Spind aufmachen, den jemand benutzt.« »Oh doch. Peabody.« »Spinde und andere Aufbewahrungsmöglichkeiten in Schulen, Büros und öffentlichen Gebäuden fallen nicht unter das Gesetz zum Schutz der Privatsphäre«, erklärte Peabody, während Eve schon ihren Generalschlüssel aus der Jackentasche zog. »Im Rahmen polizeilicher Ermittlungen ist ein autorisiertes Mitglied der New Yorker Polizei zur Einsicht befugt.« »Das ist ein Eingriff in die Privatsphäre der Angestellten und vor allem völlig unnötig. Es ist ja wohl offensichtlich, dass, welche Substanz auch immer Mr Fosters Tod verursacht hat, aus seinen eigenen vier Wänden stammt.« Eve lehnte sich gegen einen Spind. »Sehen Sie, das ist es eben nicht. Und in dieser Angelegenheit haben nun einmal nicht Sie das Sagen, sondern ich.«
»Sie können doch unmöglich glauben, dass irgendein Angestellter dieser Schule Craig hätte schaden wollen oder ihm tatsächlich geschadet hat.« »Sicher kann ich das.« Der erste Spind enthielt ein paar Frauenlaufschuhe, einen Kosmetikbeutel mit Lippenstift, Deodorant, Haargel, Wimperntusche, mehrere Probepackungen mit Hautpflegeprodukten sowie irgendein Parfüm. »Auch wenn ich auf diesem Gebiet vielleicht ein Laie bin«, stellte Mosebly leicht verkniffen fest, »steht eindeutig fest, dass Craig an irgendeiner tragischen allergischen Reaktion auf irgendwas gestorben ist, was er gegessen oder getrunken hat. Und zwar hat er, was es auch immer war, von zu Hause mitgebracht.« »Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie feststeht, denn schließlich wäre alles andere wirklich schlechte Publicity für diese Einrichtung.« Der nächste Spind enthielt die männliche Version der Dinge, auf die Eve zuvor gestoßen war. Schuhe, einen Toilettenbeutel mit einem Kamm, Hautcreme sowie einem Haarpflegeprodukt. Außerdem gab es noch eine Schwimmbrille und einen Unterwasser-Kopfhörer. »Es ist meine Pflicht, den Ruf dieser Akademie vor Schaden zu bewahren. Deshalb werde ich umgehend unsere Anwälte kontaktieren.« »Tun Sie das.« Während Mosebly aus dem Raum marschierte, öffnete Eve die Tür des dritten Spinds. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es war.« »Ich weiß nicht.« Peabody gab der Versuchung nach und schnitt eine kindische Grimasse hinter Moseblys Rücken. »Ich finde, dass sie eine echte Ätzkuh ist.« »Sicher. Aber wenn sie Foster aus dem Verkehr hätte ziehen wollen, hätte sie es garantiert nicht hier getan. Wir werden sie noch genauer unter die Lupe nehmen, für den Fall, dass die
Loyalität gegenüber ihrer Schule nur Fassade ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihre geheiligten Hallen oder ihren Ruf als Rektorin dieser Anstalt durch einen Skandal erschüttern will. Aber hallo, was haben wir denn hier?« Auch der dritte Spind enthielt die obligatorischen Schuhe sowie ein ausnehmend schickes Kunstledernecessaire. Die Produkte in dem Beutel waren deutlich teurer als der Inhalt der Taschen zuvor, vor allem aber fielen Eve die zahlreichen Kondome darin auf. »Seltsamer Ort, um Regenmäntelchen aufzubewahren«, meinte Peabody. »Außer, wenn man gleich hier zur Sache kommen will.« »Was bestimmt verboten ist.« Eve klappte ein kleines Pillendöschen auf. »Sieht wie Viagra aus. Ungezogener Junge. RW«, las sie die Initialen von dem Döschen ab. »Könnte Reed Williams sein.« Peabody zog los, um Williams für eine Vernehmung aus dem Unterricht zu holen, während Eve weiter Craigs Vormittag verfolgte und ins Lehrerzimmer ging. Sie kam an zwei kleinen Jungen vorbei, und sie hielten ihr ungefragt die Erlaubnisscheine zum Verlassen ihrer Klassen hin. »Sehe ich etwa wie eine Pausenaufsicht aus?« »Wir müssen unsere Pässe allen Erwachsenen zeigen, Lehrern und Eltern«, wurde ihr erklärt. »Sehe ich wie eine Mutter aus?« »Ich weiß nicht.« »Lauft ihr beiden öfter hier herum?« »Wir haben einen Erlaubnisschein.« »Ja, ja. Beantworte meine Frage.« »Wir wollen in die Bibliothek, um dort nach Material für unser Naturwissenschaftsprojekt zu suchen.« »Uh-huh. Wart ihr gestern Morgen auch schon unterwegs?«
Die beiden Jungen sahen einander unbehaglich an, bevor der erste Junge sprach. »Wir wollten gestern auch schon in die Bibliothek.« »Aber wir haben Ms Hallywell unsere Erlaubnisscheine gezeigt.« »Wann?« Der zweite Junge zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht mehr. Kriegen wir jetzt Ärger?« »Ihr werdet welchen kriegen, wenn ihr mir nicht sofort eine Antwort gebt. Falls es euch interessiert - selbst wenn ihr euch davongeschlichen hättet, um irgendwo ein Bier zu zischen und zu zocken, wäre mir das scheißegal. « Sie ging nicht auf das vergnügte Kichern des ersten Jungen ein. »Ich will wissen, wann und wo ihr Ms Hallywell gesehen habt.« »Kurz vor Ende der zweiten Stunde. Hm. Vielleicht gegen halb elf. Sie kam da drüben die Treppe runter. Warum wollen Sie das wissen?« »Weil ich krankhaft neugierig bin. Wo wollte sie hin?« »Keine Ahnung. Die Lehrer brauchen uns das nicht zu sagen. Sie brauchen einem nie etwas zu sagen, obwohl man ihnen immer alles sagen muss.« »Ja, so war es schon immer.« »Wenn Sie keine Lehrerin und keine Mutter sind, brauchen Sie einen Erlaubnisschein, um hier herumzulaufen.« Der erste Junge sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Verpetz mich doch. Und jetzt haut ab.« Die beiden stürmten davon, sahen aber noch einmal über ihre Schultern auf die fremde Frau. »Wahrscheinlich bauen sie eine Bombe für dieses Projekt «, murmelte Eve, während sie ihr Notizbuch aus der Tasche zog. Von zehn bis elf hatte Craig Foster seinen Fortgeschrittenenkurs Geschichte unterrichtet und dafür den Medienraum im zweiten Stock benutzt. »Interessant. «
Sie öffnete die Tür des Lehrerzimmers mit ihrem Generalschlüssel. Während der Unterrichtszeiten war er leer. Eve sah Craig vor sich, wie er nach dem Fitnesstraining vor der ersten Stunde hier hereingekommen war, um sich einen Softdrink zu genehmigen. Die meisten, wenn nicht sogar alle Lehrer, und vor allem alle Schüler, müssten um die Zeit im Haus gewesen sein. Während Fosters Thermoskanne unbewacht in seinem leeren Klassenraum gelegen hatte. Wie auch, als er Sport getrieben hatte und als er im Unterricht gewesen war. Wie lange könnte es gedauert haben, überlegte sie. Eine Minute? Zwei? Rein in die Klasse, Schreibtischschublade auf, Gift in die Thermoskanne oder einfach die Kannen ausgetauscht, Schublade wieder zu und raus. Ein gewiefter Killer hätte sicher eine Ausrede parat gehabt, falls jemand hereingekommen wäre. Ich wollte nur eine kurze Nachricht für Craig auf seinen Schreibtisch legen. Habe kurz geguckt, ob ein bestimmtes Heft auf seinem Schreibtisch liegt. Ziemlich einfach, wenn man einen kühlen Kopf behielt. Sie drehte sich um, als Peabody mit Williams ins Lehrerzimmer kam. »Kann das nicht warten?«, fragte er. »Es ist heute schon schwierig genug, ohne dass ich meine Klasse einem der Droiden anvertrauen muss.« »Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Haben Sie gestern zwischen zehn und elf irgendwann Ihren Klassenraum verlassen?« »Montags in der zweiten Stunde arbeiten die Kids in Lerngruppen. Ja, ich habe die Klasse kurz verlassen.« »Warum?« »Weil ich auf die Toilette musste. Ich trinke viel Kaffee.« Wie, um es zu beweisen, trat er vor den AutoChef und gab eine Bestellung ein. »Während dieser Stunde gehe ich fast immer für ein paar Minuten raus.«
»Der Raum liegt im selben Stock wie Fosters Klassenraum. Haben Sie dort oben irgendwen gesehen? Wurden Sie von irgendwem gesehen?« »Wenn, dann kann ich mich nicht erinnern.« »Sie haben einen Spind im Fitnessraum.« »Wie ein paar andere auch. Es ist einfach bequemer, weil man dann nicht jeden Tag frische Schuhe mitbringen muss.« »Sie haben nicht nur Schuhe in dem Spind. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein Mann, der so viele Verhüterli griffbereit irgendwo aufbewahrt, Pläne damit hat.« Williams hob langsam seinen Kaffeebecher an den Mund. »Meines Wissens nach ist es nicht verboten, irgendwo Kondome aufzubewahren.« »Was würde wohl Ms Mosebly dazu sagen, dass in Ihrem Spind ein so großer Vorrat von den Dingern liegt? Oder der Verwaltungs- oder der - wie heißt er doch gleich? - ach ja, genau, der Elternrat.« »Ich kann nur wiederholen: Kondome sind nicht illegal.« »Trotzdem. Was würden sie wohl davon halten, dass einer der Lehrer diese Dinger in unmittelbarer Nähe zu all diesen unschuldigen jungen Menschen aufbewahrt?« »Sie dienen dem Schutz - sonst nichts.« Er lehnte sich nonchalant zurück und trank seinen Kaffee aus. »Sie tragen eine Waffe, aber soweit ich weiß, haben Sie damit in diesem Haus auf noch niemanden gezielt.« »Es ist noch früh am Tag«, erklärte Eve in gleichmütigem Ton. »Aber als ich die Kondome in dem Spind gesehen habe, habe ich noch an etwas anderes gedacht. Hier laufen jede Menge hübscher kleiner Mädchen rum, die man sicher leicht verführen kann.« »Um Himmels willen.« Er stellte seine Kaffeetasse krachend neben sich und stieß sich von dem Tresen ab. »Das ist verabscheuungswürdig und widerlich. Ich bin nicht pädophil. Ich bin seit vierzehn Jahren Lehrer und habe nicht einmal einen
Schüler oder eine Schülerin auf eine Art berührt, die auch nur im Entferntesten als unangemessen bezeichnet werden kann.« »Nach wessen Maßstab?«, überlegte Eve. »Hören Sie. Ich habe nichts für kleine Mädchen übrig. Ich interessiere mich für Frauen. Und zwar sehr.« Das glaubte ihm Eve sofort. »Genug, um sie hier in der Schule flachzulegen?« »Solche Fragen brauche ich nicht zu beantworten. Nicht, ohne dass dabei ein Anwalt zugegen ist.« »Fein, dann rufen Sie einfach einen vom Revier aus an.« Jetzt wurde sein Zorn durch Schock ersetzt. »Nehmen Sie mich etwa fest?« »Soll ich?« »Hören Sie. Hören Sie zu. Mein Gott.« Er raufte sich das Haar. »Meinetwegen gab es da ein paar Begegnungen. Das ist kein Verbrechen, auch wenn es in meiner Position als Lehrer sicher fragwürdiges Verhalten ist. Aber es waren ausnahmslos Begegnungen mit Frauen. Und sie haben alle freiwillig mitgemacht.« »Namen.« Er setzte ein charmantes Lächeln auf, das um Verständnis bat. »Lieutenant, das hat ganz bestimmt nichts mit dem Fall zu tun, in dem Sie hier ermitteln. Außerdem sind ein paar der Frauen verheiratet.« »Ein paar.« »Ich mag Frauen.« Sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter. »Ich mag Sex. Das tut niemandem weh.« »Hat Craig jemals etwas davon mitbekommen, dass Sie es im Umkleideraum der Schule treiben?« »Nein.« Die Antwort kam zu schnell, als dass sie ehrlich war. »Er war ein total korrekter Mensch, nicht wahr? Als er mitbekommen hat, dass Sie Sex hier in der Schule haben, war er sicherlich
schockiert. Vielleicht sogar erbost. Hat er Ihnen damit gedroht, dass er zu Ms Mosebly geht?« »Ich hatte kein Problem mit Craig, und er hatte kein Problem mit mir. Da können Sie jeden fragen.« »Das werde ich auch tun. Wir werden uns wiedersehen.« »Was für ein widerlicher Schleimer«, meinte Peabody, nachdem der Kerl gegangen war. »Und er hätte ein Motiv gehabt. Er hat gelogen, als er meinte, Craig hätte nichts von seinen Spielchen im Umkleideraum gewusst.« Sie lief in dem Lehrerzimmer auf und ab und rief in ihren Gedanken den Grundriss des Umkleideraums auf. Es gab dort jede Menge Nischen, in denen ein Pärchen einen Quickie wagen konnte, wenn ihm das gefiel. »Vielleicht konnte er Craig nicht davon abbringen, die Sache zu melden, oder hatte einfach Angst, dass er es irgendwann noch tut. Vielleicht wollte er sich, seinen Job, seinen Lebensstil beschützen. Er hat seine Klasse kurz verlassen, während Craig nicht in seiner Klasse war. Er hätte also die Gelegenheit gehabt, das Gift in den Kakao zu tun. Weshalb er erst einmal ganz oben auf der Liste steht. So, und jetzt sprechen wir mit dieser Hallywell.« »Soll ich sie hierher holen?« »Nein, sie ist während des Gesprächs besser in ihrem eigenen Element.« Es klingelte, als sie aus dem Lehrerzimmer kamen, und sofort schwärmten aus allen Klassenzimmern Kinder in die Flure aus. Eve kamen sie vor wie ein Schwärm Heuschrecken, der über alles herfiel, was ... nun, was die typische Nahrung von Heuschrecken war. Oder wie Ameisen, die aus ihrem Hügel krabbelten. Am liebsten wäre Eve wieder in dem Lehrerzimmer abgetaucht, bis die Gefahr vorüber war, nur marschierte eins der Kinder schnurstracks auf sie zu.
»Entschuldigung. Lieutenant Dallas?« Es war die kleine Blonde mit dem wachen Blick. »Rayleen.« »Ja, Ma'am. Ist Mr Foster ermordet worden?« »Warum denkst du das?« »Ich habe gestern im Internet geguckt, was Sie für eine Polizistin sind. Sie klären Morde auf. Das haben Sie schon oft getan. Mein Vater hat gesagt, Sie wären gestern hier gewesen, weil der Tod von Mr Foster irgendwie verdächtig war. Aber das könnte auch heißen, dass er einen Unfall hatte oder Selbstmord begangen hat, nicht wahr?« »Genau.« »Aber heute sind Sie wieder hier und stellen jede Menge Fragen, und alle reden darüber, was vielleicht geschehen ist.« Rayleen berührte ihre langen Locken, die sie heute mit zwei weißen Spangen in der Form von Einhörnern zusammenhielt. »Ich werde von vielen Leuten angesprochen, weil ich ihn gefunden habe. Aber ich will ihnen nichts erzählen, was vielleicht nicht stimmt. Also, wurde jylr Foster umgebracht?« »Wir ermitteln noch.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ermordet worden ist, weil er dafür viel zu nett war und weil diese Schule wirklich sicher ist. Wussten Sie, dass sie als eine der besten Schulen nicht nur in der Stadt, sondern im gesamten Umkreis gilt?« »Das kann ich mir vorstellen.« »Und ich bin die Beste meiner Klasse.« Wieder setzte Rayleen das brave Lächeln auf, das in Eve das Verlangen weckte, ihre kleine Stupsnase aus dem Gelenk zu drehen, und klopfte auf den kleinen goldenen Stern, den sie am Aufschlag ihrer Jacke trug. »Juhu.« Eve wollte einfach weitergehen, doch das Mädchen tänzelte beinahe ausgelassen rückwärts vor ihr her. »Aber wenn Mr Foster ermordet wurde, wird sich meine Mutter fürchterliche Sorgen um mich machen. Wissen Sie, ich bin nämlich ihr einziges Kind, und deswegen hat sie immer
große Angst um mich. Sie wollte gar nicht, dass ich heute in die Schule gehe.« »Aber trotzdem bist du hier.« »Wir haben darüber diskutiert. Meine Eltern und ich. Ich habe noch kein einziges Mal gefehlt, und das fließt in meine Benotung ein. Deshalb wollte ich auch heute nicht den Unterricht verpassen. Obwohl Melodie erst mal zu Hause bleibt. Meine Mutter hat mit ihrer Mum telefoniert, und die hat ihr erzählt, Melodie hätte letzte Nacht ganz schlimm geträumt. Ich nicht, oder wenn doch, kann ich mich nicht daran erinnern. Ich habe Mr Foster gern gehabt, und ich habe in mein Tagebuch geschrieben, wie sehr er mir fehlen wird. Ich wünschte mir, er hätte nicht sterben müssen.« »Das ist wirklich hart.« Rayleen nickte seelenvoll. »Vielleicht kann ich Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen. Vielleicht fällt mir ja noch etwas ein, was Ihnen weiterhilft. Oder ich höre oder sehe irgendwas. Ich bin wirklich klug und kriege immer sehr viel mit.« »Davon bin ich überzeugt. Aber überlass die Arbeit trotzdem einfach uns.« »Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergeht.« Ihre veilchenblauen Augen füllten sich mit Tränen. »Niemand sagt uns was. Ich habe mir große Mühe mit dem Projekt für Mr Foster gegeben, und jetzt weiß ich nicht, ob ich es fertigstellen soll. Aber jetzt muss ich erst mal wieder in den Unterricht.« »Es ist wirklich nicht leicht, ein Kind zu sein«, bemerkte Peabody, während Rayleen gesenkten Hauptes in die Klasse ging. »Es ist nicht leicht, wenn einem etwas wie dieser Mord die Unschuld raubt, die man sowieso nur ein paar Jahre hat. Sie wird niemals vergessen, wie sie in die Klasse gekommen ist und ihn gefunden hat.« »Mord lässt niemandem die Unschuld. Und das sollte er auch nicht. Aber jetzt suchen wir endlich Hallywell. Und spüren Sie auch Dawson auf.«
Sie erfuhren, dass Ms Hallywell nicht zum Unterricht erschienen war, Dawson aber half den Schülern im Chemielabor bei einem Experiment. Als er Eve entdeckte, bat er seine Schüler, schon mal anzufangen, und kam zu ihr in den Flur. »Brauchen Sie mich? Ich habe nur ein paar Minuten Zeit.« Er stellte sich so, dass er durch die halb offene Tür verfolgen konnte, was die Schüler trieben, während keine Aufsicht in der Nähe war. »Sie machen einen einfachen Versuch zur Identifizierung einer unbekannten Substanz, bei dem ich sie aber trotzdem im Auge behalten muss.« »Was für eine unbekannte Substanz?« »Oh, Dinge wie Zucker, Salz, Stärke, Backpulver.« »Warum können sie das nicht einfach schmecken?« »Nun. Ha-ha. Das wäre geschummelt.« Dann wurde er wieder ernst und schloss die Tür noch etwas mehr. »Stimmt es, was sie über Craig erzählen? Dass er vergiftet worden ist?« »Das spricht sich anscheinend schnell herum.« »In Lichtgeschwindigkeit. Arnettes Sekretärin hat mit angehört, wie sie am Link mit jemandem vom Aufsichts- rat der Schule gesprochen hat. Dann hat sie Dave getroffen und es ihm erzählt, er ist mir über den Weg gelaufen, hat es mir erzählt, und so weiter und so fort. Ich kann es einfach nicht glauben.« »Wissen Sie, was Rizin ist?« »Rizin?« Er riss die Augen auf. »Ja, ja, natürlich. Aber ... aber Craig, wie hätte er mit Rizin vergiftet werden sollen?« »Das werden wir herausfinden. Wissen Sie, wie man es herstellt? Rizin?« »Ich ... nicht genau«, meinte er nach einem Moment. »Aber ich kann mich gerne kundig machen, wenn Sie wollen. Dauert nur einen Augenblick.« »Schon gut.« Sie sah an ihm vorbei auf die Geräte in dem Saal. »Könnten Sie es hier herstellen?«
»Ah ...« Er spitzte nachdenklich die Lippen. »Wahrscheinlich bekäme ich es mit den Geräten und mit ein paar Sachen, die ich noch organisieren müsste, hin. Soll ich Rizin herstellen, Lieutenant? Dafür bräuchte ich eine Erlaubnis«, meinte er entschuldigend. »Hier in unseren Labors und auch sonst wo auf dem Schulgelände sind giftige Substanzen nicht erlaubt. Aber wenn es Ihnen helfen würde, könnte ich bestimmt ...« »Nein, aber danke. Also ... wie oft schleicht sich eins der Kinder heimlich ins Labor und baut dort eine Stinkoder Rauchbombe?« Als er lächelte, erinnerte er Eve an einen amüsierten Mönch. »Oh, mindestens einmal pro Halbjahr. Wenn dem nicht so wäre, wäre ich, ehrlich gesagt, etwas enttäuscht. Denn wenn Kinder die Grenzen nicht hin und wieder ausdehnen würden, weshalb sollten sie dann Kinder sein?« Eve strich Dawson von der Liste und fuhr mit Peabody zu Mirri Hallywell. Sie lebte nur ein paar Blocks von den Fosters entfernt, kam aber nicht an die Tür. »Wir versuchen einfach, sie auf ihrem Handy zu erreichen«, meinte Eve, als sie die Treppe wieder hinunterging. »Vielleicht sollten wir erst mal außerhalb der Schule mit den Leuten reden. Bei ihnen daheim. Am besten gehen wir die Fotos aller Lehrerinnen durch und suchen die attraktivsten aus. Auf die Art finden wir bestimmt eine oder mehrere der Frauen, mit denen dieser Williams im Umkleideraum zugange war.« Als sie Richtung Haustür gingen, wurde sie von außen aufgemacht, und neben einem kalten Windstoß kamen Mirri Hallywell und ein gertenschlanker Mann herein. »Entschuldigung. Oh. Oh. Lieutenant Dallas. Wollten Sie zu mir?« »Genau.«
»Ich war ... wir waren ... wir haben Lissy besucht. Das ist Ben. Ben Vinnemere. Wir haben Lissy besucht, und sie hat uns erzählt, dass Craig ermordet worden ist.« »Warum gehen wir nicht rauf, Mirri? Wir können oben weiterreden. Du solltest dich setzen.« Ben sah Eve aus seinen braunen Augen an. »Wir sind noch ein bisschen zittrig- Ist es in Ordnung, wenn Sie oben mit uns sprechen?« »Kein Problem.« »Wir konnten nicht länger bleiben.« Mirri lehnte sich an Ben und stieg mühsam die Treppe hinauf. »Wir wollten nicht aufdringlich sein. Sie hat ihre Mutter da, und das ist das Beste. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll. Glaubst du, wir sollten noch mal zu ihr gehen?« »Heute nicht«, antwortete Ben. »Morgen werden wir alles tun, um ihr zu helfen. Aber heute braucht sie erst einmal Zeit für sich. Genau wie du.« Als sie die Wohnungstür erreichten, nahm er Mirri ihren Schlüssel aus der Hand und schloss für sie auf. »Setz du dich hin, dann koche ich uns erst mal einen Tee. Lieutenant?« »Nein, danke.« Als er Peabody fragend ansah, nickte die. »Tee wäre wunderbar. Ich bin Detective Peabody.« »Ich bin wie betäubt, körperlich und geistig«, stellte Mirri fest. »Lissy hat gesagt, dass er vergiftet worden ist. Mit Rizin. Ben wusste, was das ist.« »Ich bin Korrektor bei der Times«, erklärte er, während er Tassen aus einem Schrank in der Kochnische nahm. »Dabei lernt man alles Mögliche.« »Er hat es mir erklärt, aber ich verstehe einfach nicht... ich sehe keinen Grund.« »Wo waren Sie gestern Morgen zwischen zehn und elf?« »Ich?« Mirri ließ sich in einen Sessel fallen, ohne auch nur ihren Mantel auszuziehen. »Zwischen zehn und elf? Da war ein
Treffen der Theater-AG. Wir haben für das Frühlingsstück geprobt.« »Die ganze Stunde.« »Tja, nun, einmal musste ich kurz runter in den Nähkurs. Die Schüler entwerfen ein paar von den Kostümen. Das macht einen Teil von ihren Noten aus. Ich hatte vergessen, die Diskette mit den Entwürfen mitzunehmen, als ich vorgestern bei ihnen war.« »Sie sind gestern schon um kurz nach acht in der Schule gewesen, obwohl Ihre erste Stunde erst um neun beginnt.« »Montags und donnerstags habe ich Schülersprechstunde von acht bis Viertel vor neun. Ich kam sogar etwas zu spät. Ich verstehe nicht, weshalb ...« Plötzlich drückte ihr Gesicht Entsetzen aus. »Oh doch, ich verstehe. Ben.« »Sie müssen diese Fragen stellen, Mirri.« Seine Stimme klang beruhigend, als er mit den Tassen kam und ihr eine gab. »Sie müssen Fragen stellen und Informationen sammeln. Du willst ihnen doch helfen, oder nicht?« »Ja. Natürlich. Ja. Ich bin noch nie von der Polizei vernommen worden, und jetzt bereits zum zweiten Mal. Seit ich weiß, was mit Craig passiert ist ...« »Haben Sie gestern Morgen irgendwen vor seinem Klassenzimmer gesehen?« »Lassen Sie mich nachdenken. Der ganze Tag ist in meinem Kopf ein einziges großes Durcheinander.« Sie machte die Augen zu und nippte vorsichtig an ihrem Tee. »Ja. Ich erinnere mich, dass ich zwei der Jungen auf dem Weg zur Bibliothek getroffen habe. Preston Jupe und T. J. Horn. Sie versuchen ein paarmal in der Woche unter dem Vorwand, Material für ein Projekt zu brauchen, einen teil des Unterrichts nicht mitmachen zu müssen. Was ihnen erstaunlich oft gelingt.« Sie machte die Augen wieder auf. »Falls sonst noch jemand durch den Flur gelaufen ist, habe ich ihn nicht bemerkt. Ich dachte an das Theaterstück und war wütend auf mich selbst, weil ich die Diskette vergessen hatte.«
»Wissen Sie etwas über irgendwelche Spannungen zwischen Craig und anderen Mitgliedern des Lehrkörpers?« »Nein. Darüber weiß ich nichts. Und, ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass es welche gab.« »Hatten Sie eine sexuelle Beziehung zu Reed Williams?« »Nein! Oh Gott. Ganz sicher nicht.« Sie wurde puterrot. »Ben, ich habe nie ...« »Schon gut. Ist das der Typ, den Craig als Casanova bezeichnet hat?« Mirri zuckte zusammen. »Ja. Er hat mich ein paarmal gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will, aber ich hatte kein Interesse. Er war mir einfach zu glatt. Davon abgesehen ist es immer kompliziert, wenn man ein Verhältnis mit jemandem hat, mit dem man zusammen arbeitet, deshalb habe ich immer abgelehnt.« »Treiben Sie Sport? Benutzen Sie den Fitnessraum der Schule?« »Nicht so oft, wie ich wahrscheinlich sollte.« Wieder wurde Mirri rot, wenn auch nicht so wie beim ersten Mal. »Offen gestanden, bin ich nur sehr selten dort.« »Hat Craig jemals mit Ihnen über Reed Williams' sexuelle Aktivitäten gesprochen?« »Das ist ein äußerst unangenehmes Thema. Ich glaube, vor ein paar Monaten habe ich Lissy gegenüber erwähnt, dass ich überlege, ob ich mit Reed ausgehen soll. Damals hatte ich eine wirklich lange Phase, in der nichts mit Männern lief. Wahrscheinlich hat sie es Craig erzählt, denn er hat mir erklärt, Reed hätte was mit einer Frau, mit der er nichts haben sollte, und ich hielte mich besser von ihm fern. Das habe ich auch getan.« »Haben Sie immer getan, was Craig Ihnen geraten hat?« »Nein. Aber ich habe seinem Instinkt vertraut, und in diesem Fall stimmte er mit meinem eigenen Eindruck überein. Auch wenn es ziemlich peinlich ist, fühlte ich mich damals einfach
einsam. Ich bin nicht gerade die Art Frau, der die Männer nachjagen.« »Wie bitte?«, fragte Ben, und sie sah ihn mit einem schwachen Lächeln an. »Allzu schnell brauchtest du ja wohl nicht zu rennen.« »Mit wem hatte Williams ein Verhältnis?«, fragte Eve. »Das weiß ich nicht. Ich habe es nicht aus Craig herausbekommen, dabei habe ich es oft genug versucht. Wer hat nicht gerne ab und zu ein bisschen Tratsch? Aber er hat kein Wort gesagt. Ich glaube, er hat es nicht mal Lissy erzählt, denn ich habe auch sie danach gefragt. Oder sie musste ihm versprechen, es niemandem zu sagen, falls sie eingeweiht war. Reed hat einen gewissen Ruf, den er, glaube ich, durchaus genießt. Er gilt als echter Aufreißer. Einen solchen Typen habe ich ganz sicher nicht gesucht.« »Wie bitte?«, fragte Ben zum zweiten Mal, und dieses Mal stieß sie ein leises Lachen aus. »Ben.« Sie lehnte sich seufzend an ihn an. »Reed ist ein guter Lehrer. Er geht sehr verständnisvoll mit seinen Schülern um. Aber er ist ganz sicher nicht die Art von Mann, dem ich mein Herz anvertrauen würde.« Eve brauchte Zeit zum Nachdenken, und so schloss sie ihre Bürotür ab, als sie wieder auf die Wache kam, sie fertigte ein Diagramm der Schule sowie der Bewegungen verschiedener Lehrer und Lehrerinnen an. Vielleicht hatte Williams sich bei seinen Spielchen nicht auf die Kolleginnen beschränkt. Auch wenn sie davon ausging, dass er einen großen Bogen um die Schülerinnen machte, sah es bei den Müttern vielleicht anders aus. Sieben Eltern waren gestern Morgen in der Schule aufgetaucht. Sie begann mit einer Überprüfung jedes Einzelnen und versuchte, nicht daran zu denken, was ihr Gatte gerade tat.
Versuchte, nicht daran zu denken, dass er gerade jetzt mit einer Exgeliebten irgendwo feudal zu Mittag aß.
6 Sie käme ganz sicher zu spät. Roarke erinnerte sich noch - ging es ums Geschäft, war Maggie pünktlich wie ein Maurer. Während sie, sobald es ums Privatvergnügen ging, Männer gerne warten ließ. Früher einmal hatte dieses Vorgehen ihn amüsiert. Eine halbe Stunde später als verabredet war sie mit lachendem Gesicht und sich lautstark entschuldigend in einem Restaurant, in einem Club, auf einer Party aufgetaucht. Ihr Blick hatte verraten, dass ihr klar war, dass sie beide wussten, dass der große Auftritt eines ihrer Spielchen war. Heute hatte er sich für zwölf mit ihr verabredet, den Tisch aber extra erst für zwölf Uhr dreißig reserviert. Er kam ein paar Minuten früher, setzte sich auf seinen Platz in einer Nische und bestellte eine Flasche Mineralwasser. Die Weinkarte legte er ungelesen aus der Hand, denn er stieße sicher nicht mit ihr auf alte Zeiten an. Er sah sich unauffällig um. Dies war genau die Art von Restaurant, wie sie Magdalena liebte - und die Eve nur mühsam ertrug. Komfortabel, elegant und voller Menschen, die bereit waren, sehr viel dafür zu zahlen, dass man sie an überteuerten Salaten knabbern sah. Er war noch immer schlecht gelaunt wegen des morgendlichen Streits mit Eve und weil er von Summerset missbilligend angesehen worden war. Es missfiel ihm außerordentlich, dass gerade die beiden Menschen an ihm zweifelten, die ihn besser kannten und verstanden als jeder andere. Woher rührte dieser Mangel an Vertrauen? Diese für Eve völlig untypische Eifersucht? Pass auf, hatte sie ihn gewarnt - weshalb er immer noch beleidigt war.
Man konnte ihm also nicht trauen, wenn er an einem öffentlichen Ort mit einer Frau, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, zu Mittag aß? Das war verdammt beleidigend, und er nähme die bösartige Unterstellung, die damit verbunden war, ganz bestimmt nicht einfach hin. Er konnte, verflucht noch mal, nur für die beiden hoffen, dass sie begriffen, dass ihr Misstrauen eine Riesenkränkung für ihn war. Am besten dächte er nicht mehr darüber nach. Er würde einfach mit der Frau, die eine Zeitlang Einfluss auf sein Leben genommen hatte, Mittag essen. Und sich später mit der Frau auseinandersetzen, von der sein Leben ein für alle Mal verändert worden war. Wie vor all den Jahren kam Maggie mit wild wehendem Haar, verführerisch wogenden Hüften und einem breiten Lachen in das Restaurant gerannt, glitt zu ihm an den Tisch und gab ihm einen Kuss. »Ich bin mal wieder viel zu spät.« »Ich bin selber gerade erst gekommen.« »Oh.« Sie machte einen Schmollmund, stellte dann aber mit einem neuerlichen Lachen fest: »Du kennst mich einfach zu gut.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah ihn mit einem verruchten Lächeln an. »Gut genug, um noch zu wissen, was ich gerne trinke?« »Einen trockenen Stoli Martini«, wandte er sich dem Ober zu. »Ohne Eis, mit einem Spitzer Zitrone.« »Ich bin geschmeichelt«, stellte Magdalena anerkennend fest. »Ich habe einfach ein gutes Gedächtnis.« »Und für Sie, Sir?« »Nichts.« »Ihr Drink wird sofort serviert, Madam.« Nachdem er gegangen war, griff Magdalena nach Roarkes Glas und nahm einen kleinen Schluck. »Wasser?« »Ich habe heute Nachmittag noch ein paar Termine.«
Sie stellte sein Glas wieder auf den Tisch und streichelte zärtlich seine Hand. »Du hast deine Arbeit immer schon entsetzlich ernst genommen. Aber ich muss zugeben, dass dir das steht. Es steht dir sogar ausgezeichnet. Du hattest schon damals unglaublichen Erfolg, aber jetzt?« Sie lehnte sich zurück und sah ihn aus blitzenden Augen an. »Was ist es für ein Gefühl, Schätzchen, wenn man derart reich und mächtig ist?« »Ich habe alles, was ich will, das ist außerordentlich befriedigend. Und wie steht es mit dir?« »Ich hänge augenblicklich etwas in der Luft, was mich rastlos und unsicher macht. Ich habe gerade meine zweite Scheidung hinter mir, was ich als ziemlich erniedrigend empfinde, denn ich habe wirklich versucht, dafür zu sorgen, dass die Ehe funktioniert.« Sie sah ihn unter ihren schweren Lidern hervor an. »Von Andre habe ich mich schon vor Jahren scheiden lassen. Vielleicht auch er sich von mir oder wir uns beide voneinander. Es war derart zivilisiert, dass einem davon beinahe schlecht geworden ist.« Roarke trank einen Schluck von seinem Wasser. »Wenn ich mich recht entsinne, war er bereits ein zivilisierter Mann, als wir ihn ins Visier genommen hatten.« »Bist du mir deshalb etwa immer noch böse?« »Weshalb sollte ich das sein?« »Tja, nun, ich hatte gehofft, erst einen Schluck Alkohol zu trinken, bevor ich davon anfange. Aber jetzt bringe ich es eben trocken hinter mich.« Sie sah ihn ruhig aus ihren grünen Augen an. »Es tut mir unglaublich leid, dass es damals so zwischen uns geendet hat. Dass ich dich ohne ein Wort habe sitzen lassen.« »Wegen Andre.« »Wegen Andre«, gab sie seufzend zu. »Damals erschien es mir einfach amüsanter und vor allem profitabler, ihn zu heiraten statt ihn zu bestehlen.«
»Und statt seiner mich zu hintergehen.« »So hatte ich es nicht gemeint, aber ja, darauf lief es am Ende wohl hinaus. Es tut mir leid.« »Das ist lange her.« »Trotzdem.« Abermals ergriff sie seine Hand. »Ich könnte mich damit herausreden, dass ich jung und dumm war, doch das werde ich nicht tun. Es war schrecklich, was ich getan habe. Eigensinnig und selbstsüchtig.« Sie machte eine Pause, als der Ober kam und ihren Martini mit einigem Zeremoniell aus einem Silber-Shaker in das Glas schenkte. »Darf ich Ihnen die Empfehlungen des Tages aufzählen?« Eine weitere Zeremonie. Eine Art Theater, bei der der Dialog mit Zubereitungsarten, Saucen und Aromen gepfeffert war. Sie trug noch immer das gleiche Parfüm wie vor all der Zeit. Vielleicht war es eine Signatur, oder vielleicht hatte sie es absichtlich gewählt, um Erinnerungen in ihm wachzurufen, überlegte er. Sie war damals noch sehr jung gewesen - keine zwanzig Jahre alt. Wie viele eigensinnige und selbstsüchtige Akte hatte er begangen, als er noch so jung gewesen war? Zu viele, um sie überhaupt zu zählen. Sie hatten damals Spaß miteinander gehabt, und da er zu jener Zeit durchaus etwas für sie empfunden hatte, nähme er die Entschuldigung, die sie ihm anbot, an und ließe die Sache anschließend auf sich beruhen. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, nippte Magdalena an ihrem Martini und sah Roarke lächelnd über den Rand des Glases hinweg an. »Wirst du mir verzeihen?« »Lassen wir die alten Geschichten ruhen, Maggie. Seither ist viel Zeit vergangen.« »Fast zwölf Jahre«, stimmte sie ihm zu. »Jetzt sitzen wir hier und plötzlich bist du verheiratet.« »Das bin ich.«
»Ausgerechnet mit einem Cop!«, stellte sie lachend fest. »Du hast immer voller Überraschungen gesteckt. Weiß sie über deine ... Hobbys Bescheid?« »Sie weiß, was ich einmal war und was ich getan habe.« Plötzlich nahm sein Zorn auf Eve ein wenig ab. »Aber ich habe die alten Gewohnheiten bereits vor einer ganzen Weile abgelegt.« »Wirklich?« Sie wollte wieder lachen, blinzelte dann aber verwirrt. »Ist das dein Ernst? Du bist völlig seriös geworden? Bist nicht mehr im Spiel?« »Genau.« »Ich dachte immer, du hättest es im Blut. Ich habe diese Dinge damals aufgegeben, weil es lustig war, Andres Geld nach Gutdünken ausgeben zu können und dafür nichts anderes tun zu müssen, als attraktiv, charmant und amüsant zu sein. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich je aus dem Geschäft zurückziehen würdest, ganz egal, aus welchem Grund. Aber ich nehme an, dass deine Frau darauf bestanden hat.« »Ich hatte mich bereits zum größten Teil aus dem Geschäft zurückgezogen, als ich ihr begegnet bin. Deshalb war es leicht, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen, als ich mit ihr zusammenkam. Ohne dass sie mich jemals darum gebeten hat.« »Nein?« Magdalena strich mit einem scharlachroten Nagel über den Rand von ihrem Glas. »Dann scheint sie eine ungewöhnliche Person zu sein.« »Das ist sie auf jeden Fall. Sie ist ein wirklich bemerkenswerter Mensch.« »Das muss sie ja wohl sein, wenn sie sich dich geangelt hat. Würde ich sie mögen?« Zum ersten Mal, seit sie zusammensaßen, lachte er. »Nein. Kein bisschen.« »Wie kannst du so was sagen?« Sie schlug ihm spielerisch auf den Arm. »Ich bin sicher, dass ich sie sympathisch finden würde. Schließlich haben wir in dir eine Gemeinsamkeit.«
»Oh nein, die habt ihr nicht.« Sein Blick war kühl und klar. »Ich bin nicht mehr der Mann, der ich damals war.« Sie nippte erneut an ihrem Martini, lehnte sich zurück und sah ihn an. »Ich nehme an, keiner von uns beiden ist mehr der, der er damals war. Ich habe den Mann gemocht, der du damals warst. Ich ... nun.« Kopfschüttelnd stellte sie ihr Glas vor sich auf den Tisch. »Das War damals.« »Und jetzt? Was willst du jetzt?« »Mit einem alten Freund zu Mittag essen und mich mit ihm versöhnen. Das ist schon mal ein guter Anfang, findest du nicht auch?«, fragte sie, als der Ober mit ihren Salaten kam. »Wovon genau?« »Eins hat sich auf alle Fälle nicht geändert.« Sie nahm ihre Gabel in die Hand und fuchtelte damit vor seinem Gesicht herum. »Du bist noch genauso argwöhnisch wie eh und je.« Als er nichts erwiderte, spielte sie etwas mit ihrem Salat herum. »Du hast mir gefehlt, und ich gebe zu, infolge der jüngsten Veränderungen in meinem Leben habe ich mich ein wenig nach der Vergangenheit zurückgesehnt. Ich hatte ein gutes Leben mit George, meinem zweiten Ehemann. Ich habe ihn wirklich gern gehabt und habe ihn noch immer gern. Unsere Beziehung hat es mir ermöglicht, mindestens so stilvoll und so frei zu leben wie damals mit Andre.« »Stil hast du immer schon gehabt.« Sie verzog den Mund zu einem leisen Lächeln. »Ja, aber es hat mir gefallen, nicht dafür arbeiten zu müssen. Arbeit hat mir nie so zugesagt wie dir.« »Durch die beiden Scheidungen bist du doch sicher nicht verarmt.« »Ganz im Gegenteil. Ich habe beide Male die Bedingungen des Ehevertrags erfüllt, meine Konten sind deswegen gut gefüllt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Nur weiß ich jetzt nicht so recht, wie ich weitermachen soll.
Ich hatte die Absicht, noch ein bisschen Mut zu sammeln und dich dann zu kontaktieren. Als ich dir gestern plötzlich in dem Restaurant begegnet bin, hätte ich am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre abgehauen. Aber du hattest mich bereits gesehen, deshalb blieb mir keine andere Wahl, als es durchzustehen. Wie habe ich mich gemacht?« Er sah sie mit einem leichten Lächeln an. »Du warst souverän wie immer.« »Ich hatte gehofft, dich zu überraschen, wollte aber erst noch alles dafür vorbereiten. Sag mir, lässt dir die Beziehung zu deiner Frau noch irgendwelche Freiheiten?« Er verstand die Frage und die offene Einladung, die damit verbunden war. Auch die Hand, die leicht auf seinem Oberschenkel lag, konnte er unmöglich missverstehen. »Für mich ist eine Ehe kein Gefängnis, sondern ein Versprechen. Und ich nehme die Versprechen, die ich gebe, äußerst ernst.« »Trotzdem ...« Sie glitt mit ihrer Zungenspitze über ihre Oberlippe. »Wenn Versprechen nicht ein bisschen dehnbar sind, lassen sie sich leichter brechen.« Ihr Blick war herausfordernd und sie stieß ihr typisches Komm-lass-uns-miteinander-spielen-Lachen aus. Früher hatte er diese Kombination unwiderstehlich gefunden, jetzt aber erklärte er: »Wenn man sie dehnt, macht man sie zu etwas anderem als dem, was sie bedeuten sollen. Bevor du etwas sagst oder tust, was dir anschließend peinlich ist, Maggie, solltest du wissen, dass ich meine Frau über alles liebe.« Sie starrte ihn einen Moment lang an, als versuche sie herauszufinden, wo der Haken bei der Sache war. Dann zog sie langsam ihre Hand von seinem Bein zurück und legte sie wieder vor sich auf den Tisch. »Ich nehme an, du hattest einen Grund dafür, dich mit einer Polizistin zusammenzutun.«
»Wenn du sie kennen würdest, wüsstest du, dass sich Eve niemals für fremde Zwecke einspannen lässt. Aber dessen ungeachtet würde ich sie niemals hintergehen.« »Tja ...« Sie zuckte wieder mit den Schultern und sah ihn erneut mit ihrem verruchten Lächeln an. »Ein Versuch konnte nicht schaden.« Am besten wäre es, das Thema abzuschließen, dachte er. »Wie lange, hast du geplant, in New York zu bleiben?« »Kommt drauf an. Du könntest mir bei der Entscheidung helfen.« Als er eine Braue hochzog, lachte sie. »Keine Angst, Schätzchen, das ist kein unsittlicher Antrag. Ich wollte dich um einen Rat bitten. Bezüglich einer Investition.« »Ich hätte gedacht, dass du dafür deine eigenen Leute hast.« »Georges Leute, und auch wenn die Scheidung ausnehmend zivilisiert verlaufen ist, ist das ein wenig delikat. Ich habe ein recht nettes Polster, das allerdings nirgendwo versteuert worden ist. Deshalb wäre es mir lieber, statt Georges ausnehmend effizienten und gesetzestreuen Beratern einen alten, vertrauenswürdigen Freund, der auf diesem Gebiet über beachtliches Talent verfügt, in meine Investitionen einzubeziehen. Schließlich habe ich vor langer Zeit von dir gelernt, wie wertvoll ein ... Polster ist. Ich dachte an eine Immobilie, die man vielleicht auf eine Art erwerben kann, die das Finanzamt außen vor lässt.« »Suchst du nach einem zusätzlichen Einkommen, nach einem einmaligen Gewinn oder willst du einfach dein Polster schützen?« »Wenn möglich, alles gleichzeitig.« »Wie dick ist dieses Polster?« Sie knabberte an ihrer Unterlippe und sah ihn mit blitzenden Augen an. »Um die fünfzehn Millionen - aber sie sind wirklich gut versteckt. Wie gesagt, ich habe Andre und George gern gehabt und das Leben genossen, das mir von beiden geboten worden ist. Aber ich habe nie erwartet, dass eine der
Beziehungen bis an mein Lebensende hält. Deshalb habe ich ein wenig für die Zeit danach beiseitegeschafft. Außerdem habe ich noch ein paar Schmuckstücke, die mir nicht wirklich stehen. Deshalb würde ich sie gern möglichst diskret zu Geld machen.« »Du willst eine Immobilie in New York?« »Das wäre meine erste Wahl, außer, du schlägst mir etwas Besseres vor.« »Ich werde darüber nachdenken. Ich kann dir ein paar Optionen nennen, Maggie, aber verstecken musst du deine Kohle selbst. Ich kann dir die Richtung weisen und dir die richtigen Leute nennen. Mehr kann ich nicht für dich tun.« »Das wäre mehr als genug.« Wieder rieb sie seinen Arm. »Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen. Ich wohne vorübergehend in Franklins Zweitwohnung. Ich werde dir die Adresse und die Nummern geben, unter denen ich erreichbar bin.« »Dann genießt du also die Vorzüge der Gesellschaft eines wohlhabenden, älteren Mannes?« Sie pikste ein Salatblatt mit der Gabel auf und räumte grinsend ein: »Wäre nicht das erste Mal.« In New Jersey produzierte eine einzige Fabrik Rizinusöl. Die Fahrt dorthin würde sich sicher lohnen, dachte Eve, vor allem wollte sie der Enge des Büros entfliehen. Unterwegs erzählte Peabody, was bei ihren eigenen Ermittlungen herausgekommen war. »Ich habe die Na- 0ien der Eltern und Kindermädchen überprüft, die gestern in der Schule waren. Wenn man die Leute beisei- telässt, die einen Termin bei einem Lehrer hatten, oder die nur in der Zeit in der Schule waren, in der Foster in seiner Klasse war, bleiben vier Namen übrig.« »Hatte eine der Personen etwas mit Foster zu tun?« »Zwei hatten in diesem Schuljahr Kinder in seiner Klasse. Ich wollte sehen, ob eins der Kinder vielleicht notenmäßig oder
hinsichtlich der Disziplin Schwierigkeiten hatte, aber Mosebly hat die Unterlagen ihrer Schüler nicht herausgerückt.« »Ach nein?« Bei dem Gedanken wogte Freude in Eve auf. »Es wird mir ein Vergnügen sein, der Frau zu zeigen, dass in diesem Fall nicht sie das Sagen hat. Ich besorge uns sofort einen Beschlagnahmebefehl.« »Das höre ich gern.« »Eine von den anderen beiden Müttern stand vor ein paar Jahren wegen Körperverletzung vor Gericht. Bei einem Spiel der Little League ist sie mit einem Baseballschläger auf jemanden losgegangen und hat ihm die Schulter gebrochen.« »Das nennt man echten Teamgeist.« »Sie kam mit ein paar Arbeitsstunden, der Teilnahme an einem Anti-Aggressionstraining und der Übernahme der Arztkosten davon. Der Kerl, der sie verklagt hatte, hat sich gegen Zahlung einer nicht genannten Summe mit einer außergerichtlichen Einigung begnügt. Soll ich weitere Einzelheiten rausfinden?« »Wir werden die Frau einfach persönlich danach fragen.« »Eine gewisse Hallie Wentz. Alleinerziehende Mutter einer achtjährigen Tochter namens Emily. Hallie ist Partyplanerin.« »Es gibt Leute, die dafür bezahlen, dass sie ihre Partys plant? Das ist ja unglaublich. Wie groß kann der Aufwand schon sein, wenn man eine Party feiern will?« »Ich sage dazu nur: Mavis' Babyparty.« »Die ist doch gut gelaufen«, stellte Eve fest, auch wenn sie leicht zusammenzuckte. »Weil Sie jemanden hatten, der sich um alles gekümmert hat. Nämlich mich.« »Habe ich Sie etwa dafür bezahlt?« Peabody runzelte die Stirn und kratzte sich am Kinn. »Leider muss ich sagen: touche.« »Touche sollte niemand jemals sagen müssen.« »Fühlen Sie sich jetzt besser?« »Als wann?«, fragte Eve, während sie die Schnellstraße verließ.
»Als heute Morgen.« »Das war hauptsächlich ein Kopfproblem.« Zumindest hatte sie beschlossen, dass es so gewesen war. »Aber jetzt ist es wieder okay.« Es war entsetzlich dumm und vor allem peinlich feminin, dass sie wegen einer Blondine in einem roten Kleid so ausgerastet war. Inzwischen hatten die beiden ihr Essen beendet, nahm sie an, er saß wieder in seinem Büro und plante in aller Seelenruhe weiter, wie sich die Welt finanziell von ihm beherrschen ließ. Alles war wieder normal. Womit die Sache abgeschlossen war. Sie schaffte es beinahe mühelos, das Thema wieder zu verdrängen, als sie sich beim Pförtner der Fabrik auswies, der sofort die Chefin rief. Sie war ein pfiffiges kleines Ding, das selbst in seinen dicken Arbeitsstiefeln höchstens einen Meter fünfzig maß. Sie hatte ein so breites Lächeln und so blitzende Augen, dass Eve sich fragte, was sie wohl in ihrer letzten Pause eingeworfen hatte, dass sie derart unbekümmert war. »Stella Burgess, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Was kann ich für Sie tun?« Als sie strahlend ihre Kooperation anbot, war nicht zu überhören, dass sie aus der Gegend kam. »Sie verarbeiten Rizinussamen in dieser Fabrik.« »Sicher. Wir verarbeiten eine ganze Reihe landwirtschaftlicher Produkte für den Non-Food-Bereich. Rizinusöl zum Beispiel wird in manchen Industrien als Schmiermittel benutzt. Weniger in den USA, aber wir exportieren den größten Teil. Außerdem wird es bei der Herstellung von Lederwaren eingesetzt. Auch dafür exportieren wir das Öl oder liefern es hier in den Staaten an offiziell zugelassene Hersteller aus. Wollen Sie sehen, wie es gemacht wird?« »Eigentlich nicht. Haben Sie auch in New York Kunden für das Öl?«
»Ich kann gerne für Sie nachsehen, Lieutenant. Das müssten irgendwelche Handwerker oder Künstler sein, die nur natürliche Produkte verwenden. Soll ich Ihnen die Liste dieser Kunden holen?« »Ja, bitte. Sobald Sie mir gesagt haben, weshalb Sie die ganze Zeit so freundlich sind.« »Wie bitte?« »Sie stellen keine Fragen, Stella. Sie erzählen mir nicht, Ihre Kundendaten wären geschützt. Sie sagen einfach, sicher, hier bitte.« Wieder blitzten Stellas strahlend weiße Zähne auf. »Na klar. Schließlich habe ich den Rundbrief gelesen.« »Was für einen Rundbrief?« »Von ganz oben. Er wurde am Ersten diesen Jahres an alle Unternehmen geschickt. Es wird erwartet, dass sämtliche Unternehmens- und Abteilungsleiter mit Lieutenant Eve Dallas umfänglich kooperieren, falls sie Informationen oder Hilfe braucht. Richtig?« »Richtig. Außerdem brauche ich eine Liste Ihrer Angestellten. Aller Leute, die hier beschäftigt sind oder bis vor sechs Monaten beschäftigt waren.« »Kein Problem.« Stella gab ihr das Okay-Zeichen. »Geben Sie mir fünf Minuten Zeit.« »Sicher.« Während sie warteten, sah Peabody unter die Decke und pfiff leise vor sich hin. »Halten Sie die Klappe, Peabody.« »Ich frage mich nur, wie es ist, mit einem Mann verheiratet zu sein, der so viele Dinge besitzt, dass man noch nicht mal von der Hälfte etwas weiß.« Dann stieß sie Eve mit dem Ellenbogen an. »Er hat diesen Rundbrief verschickt.« »Das nimmt einem den ganzen Spaß. Er hat dafür gesorgt, dass ich niemandem mehr Angst einjagen kann.«
»Aber es spart jede Menge Zeit. Und es ist vor allem wirklich rücksichtsvoll. Er denkt eben die ganze Zeit an Sie.« »Das ist mir unheimlich.« Trotzdem hörte sie es gern, auch wenn sie sich deshalb wegen ihres Verhaltens am Morgen noch dämlicher vorkam. Die Namen auf der Kunden- und der Angestelltenliste sähe sie sich später an. Vorher würde sie noch ein paar Leute abklappern. Angefangen mit Hallie Wentz. Hallie lebte in einem zweistöckigen Stadthaus, hatte ihr Büro im Erdgeschoss und war das genaue Gegenteil von Stella aus der Rizinusöl-Fabrik. Sie war groß und schlank, trug modische, hochhackige Schuhe und warf einen argwöhnischen Blick auf Eves Dienstausweis. Offensichtlich hatte sie der Rundbrief nicht erreicht. »Worum geht's? Ich erwarte in zehn Minuten eine Kundin. Cops sind nicht gut für das Geschäft.« »Craig Foster.« »Oh.« Hallie atmete hörbar aus und sah sich eilig um. »Hören Sie, meine Tochter ist im Nebenzimmer. Was passiert ist, hat sie ziemlich mitgenommen. Ich möchte wirklich nicht, dass sie sich jetzt mit der Polizei darüber unterhält. Nicht, bis es ihr wieder etwas besser geht.« »Eigentlich sind wir auch Ihretwegen hier.« »Meinetwegen? Im Zusammenhang mit Mr Foster? Warum denn das?« »Wir sprechen mit allen, die gestern in der Schule waren.« »Okay. Warten Sie einen Moment.« Sie trat an die halb offene Tür, blickte in den Nebenraum und zog die Tür dann vorsichtig ins Schloss. »Sie macht gerade Hausaufgaben«, sagte sie zu Eve und Peabody. »Sie ist ein echter Schatz. Was müssen Sie wissen?« »Am besten fangen wir damit an, weshalb Sie in der Schule waren.«
»Gestern war der Tag, an dem jedes Kind etwas mit in die Schule bringen durfte, um es den anderen zu zeigen. Em wollte Butch mitnehmen. Unseren afrikanischen Grau. Einen Papagei«, erklärte sie. »Er ist ein Riesenkerl. Sie hätte den Käfig nicht alleine tragen können, also habe ich das für sie gemacht.« »Sie haben die Schule um acht Uhr zwanzig betreten, aber erst um zehn Uhr zweiundvierzig wieder verlassen. Wie weit mussten Sie Butch denn tragen?« »Es ist eine große Schule«, antwortete Hallie kühl. »Vernehmen Sie alle Eltern?« »So groß ist die Schule nicht, dass man über zwei Stunden braucht, um einen Papagei dort abzuliefern. Haben Sie Mr Foster gestern Morgen gesehen oder vielleicht sogar gesprochen?« »Nein, habe ich nicht.« »Aber Sie hatten in der Vergangenheit öfter die Gelegenheit, ihn zu sehen oder mit ihm zu sprechen.« »Sicher. Em hatte ihn letztes Jahr als Lehrer. Er hat einen guten Eindruck auf mich gemacht. Sie hatte bei ihm sehr gute Noten, und er hat großes Interesse an ihr gezeigt.« »Hatten Sie vielleicht Interesse an ihm?« Hallie atmete vernehmlich ein. »Ich mache mich nicht an Ems Lehrer heran, aber wenn ich es täte, hätte ich es eher auf die kleine Blondine abgesehen, die die Theater- AG leitet. Weil ich nämlich lesbisch bin.« »Standen Sie jemals wegen Körperverletzung vor Gericht, Ms Wentz?« »Verdammt.« Glühend heißer Zorn blitzte in ihren Augen auf. »Dieser idiotische Hurensohn hätte noch viel mehr als eine gebrochene Schulter verdient. Wissen Sie, wie er meine Em genannt hat? Lesbenbrut.« Wieder holte sie tief Luft und hob eine Hand, bis sie die Kontrolle über sich zurückgewann. »Als er das zu mir gesagt hat, habe ich ihn erst mal nur gewarnt, dass er sich vorsehen soll. Aber er hat immer weiter gemacht und dann sogar während des
Spiels irgendwelche Schimpfworte gebrüllt. Er hat Lesbe zu ihr gesagt. >Du kleine Les- be kriegst nicht mal die einfachsten Schläge hin<, hat er geschrien. Es war nicht das erste Mal, dass er ignorante homophobe Kommentare während eines Spiels abgegeben hat, aber bis dahin hatte er immer mich gemeint und war dabei immer so leise, dass es außer mir niemand mitbekommen hat. Niemand spricht so mit meinem Kind. Es hat mir einfach gereicht.« Wenn stimmte, was sie sagte, war Eve überrascht, dass die Frau dem Arschloch nicht den Schädel eingeschlagen hatte statt des Schulterblatts. »Hat Mr Foster Ihrer Tochter gegenüber jemals eine unangemessene Bemerkung gemacht?« »Verdammt, nein. Soweit ich weiß, war er ein anständiger Kerl. Und ein guter Lehrer, bei dem die Kinder gern zum Unterricht gegangen sind. Emily hat ihn sehr gern gehabt. Sie ist wegen dieser Sache unglücklich und verwirrt. Ich will nicht, dass sie noch unglücklicher und verwirrter wird.« »Dann sagen Sie uns, warum Sie fast zweieinhalb Stunden in der Schule waren.« »Meine Güte. Ich habe eine Zeitlang in der Klasse rumgestanden, mich mit ein paar Kindern und Janine - Mrs Linkletter - über Butch unterhalten. Ihn zum Reden gebracht. Dann ... hören Sie, muss das unbedingt ins Protokoll?« »Kommt drauf an, was Sie uns sagen wollen«, antwortete Eve. »Es hat nichts mit dem Vorfall in der Schule zu tun, deshalb wäre es mir einfach lieb, wenn es nicht die Runde machen würde, wenn es für die Ermittlungen nicht wichtig ist.« »Okay.« »Ich war unten in der Küche. Laina Sanchez, die Küchenchefin, arbeitet nebenher für mich. Es ist ihr nicht erlaubt, neben der Arbeit in der Schule noch einen zweiten Job zu haben, und ich möchte nicht, dass sie deshalb Schwierigkeiten kriegt.« »Das wird sie nicht, zumindest nicht wegen des Nebenjobs.«
»Wir haben über eine Feier nächste Woche gesprochen. Eine Änderung der Menüfolge, die die Kundin wünscht. Ich habe einen Kaffee getrunken, als ich bei ihr in der Küche war. Mein nächster Termin war erst um elf, und da er in der Nähe der Schule war, habe ich mir die Zeit vertrieben. Weiter nichts.« »Okay. Und das wird sie bestätigen?« »Das wird sie ganz bestimmt, aber hören Sie, fragen Sie sie bitte nicht in der Schule danach. Wenn Mosebly Wind davon bekommt, macht sie Laina deshalb bestimmt die Hölle heiß.« »Haben Sie und Laina ein Verhältnis?« Hallie entspannte sich genug, um leicht zu grinsen. »Kein Verhältnis in der Art, wie Sie wahrscheinlich meinen. Vor einer halben Million Jahre war ich mal mit ihrer Schwester zusammen. Ich habe ihr den Job an der Schule verschafft, als sie dort eine Küchenchefin suchten. Sie hat ein zweijähriges Kind, und da jetzt das zweite unterwegs ist, können sie und ihr Mann das Geld gebrauchen, das sie sich bei mir nebenher verdient.« »Wir haben nicht die Absicht, ihr deswegen Scherereien zu machen.« Trotzdem war das noch nicht alles, dachte Eve. »Ist Ihnen gestern in der Schule irgendetwas oder irgendjemand aufgefallen?« »Nein. Der Unterricht fing gerade an, als ich in die Küche runterging. Und als ich sie wieder verlassen habe, war gerade die zweite Stunde. Ich würde Ihnen helfen, wenn ich könnte. Wenn in der Umgebung meiner Tochter etwas so Schlimmes passiert, will ich schließlich wissen, wie es dazu kam. Weil ich sie sonst nicht schützen kann.« Vielleicht war es tatsächlich darum gegangen, etwas oder jemanden zu schützen, überlegte Eve, während sie anderthalb Blocks bis zum nächsten Namen auf der Liste fuhren. »Sie geht mit einem Baseballschläger auf jemanden los, der ihr Kind beleidigt hat.« »Das hätten Sie ebenfalls getan«, erklärte Peabody.
»Das ist schwer zu sagen, da ich keine Lesbe und auch keine Mutter bin, aber, ja, es hat so geklungen, als hätte dieser Kerl die Prügel auf jeden Fall verdient. Wie weit würden Eltern wohl gehen, um ihr Kind zu schützen? Vielleicht hatte Foster ja nicht etwas gegen eine Mutter, einen Vater oder einen anderen Lehrer in der Hand, sondern gegen ein Kind.« »Was kann man schon gegen Sechs- bis Zwölfjährige in der Hand haben?« »Sie sind einfach ein naiver Hippie. Kinder machen alle möglichen unsauberen Dinge. Vielleicht hat er ein Kind beim Klauen erwischt, dabei, wie es bei einer Klassenarbeit gemogelt hat, wie es auf der Toilette jemandem einen geblasen oder mit Drogen gehandelt hat.« »Himmel.« Eve spann den Gedanken weiter. »Vielleicht hat er die Eltern angerufen und ihnen erklärt, dass er die Sache melden muss. Dass das Kind zum Psychologen gehen sollte und mit Disziplinarmaßnahmen oder sogar Rausschmiss aus der Schule rechnen muss. Einem Raus- schmiss aus einer Schule, die Straffos nerv tötender Tochter zufolge eine der besten ist. Niemand will, dass sein Kind von einer solchen Schule fliegt oder dass etwas, was es verbrochen hat, in seine Akte eingetragen wird. Und wenn Foster nicht mehr lebt, gibt es keinen Menschen mehr, der die Sache melden kann.« »Da wir gerade von möglicherweise involvierten Eltern reden: Ich habe nachgesehen, was für Termine mit Eltern das Opfer in der Woche vor dem Mord in seinem Kalender stehen hatte.« »Lassen Sie uns gucken, ob es mit bestimmten Eltern wiederholt Termine gab. Und wenn wir den Beschlagnahmebefehl für die Schülerakten haben, lassen Sie uns gucken, ob es bei einem von den Schülern vielleicht auch Probleme mit anderen Lehrern gab.« Keine der Personen, die neben Hallie auf der Liste standen, war daheim. In einem Haus trafen sie einen schmollenden Teenager
an, der ihnen erklärte, seine Eltern und der kleine Scheißer - der, wie Eve vermutete, der kleine Bruder war - wären zu einem Basketballspiel gefahren, und in einem anderen erklärte der Hauswirtschaftsdro- ide, die Mutter hätte das junge Fräulein zum Karatekurs gebracht und der Vater wäre im Büro. Zurück auf dem Revier warb Eve um den Beschlagnahmebefehl und vollführte in Gedanken einen kleinen Siegestanz, als ihr das mühelos gelang. Ihre einzige Enttäuschung war, dass es bereits zu spät war, um noch einen Menschen in der Schule zu erwischen und sich die gewünschten Akten sofort anzusehen. Also fing sie mit einer Überprüfung ihrer beiden Listen an, hörte aber nach ein paar Minuten wieder auf. Ihre Schicht war längst vorbei. Sie könnte auch zu Hause weitermachen und Roarke dazu verführen, dass er ihr dabei half. Das wäre ein Friedensangebot, nachdem sie morgens einfach wütend weggefahren war. Sie würden zusammen essen, und sie brächte ihn auf den neuesten Stand. Da es schließlich um die Kunden- und die Angestelltenliste eines seiner Unternehmen ging, wäre es nur fair, wenn sie ihn daran Anteil nehmen ließ. Vor allem fehlte er ihr. Gerade als sie aufstehen wollte, streckte Peabody den Kopf durch ihre Tür. »Da draußen ist eine Magdalena Percell, die zu Ihnen will.« Eves Magen zog sich schmerzlich zusammen. »Hat sie gesagt, weshalb sie zu mir will?« »Sie meinte, es wäre etwas Persönliches. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Name auf einer unserer Listen stand, aber ...« »Nein, das tut er nicht. Schicken Sie sie rein, und dann fahren Sie nach Hause.«
»Nach Hause? Aber die Schicht ist erst seit zwanzig Minuten vorbei. Was soll ich bloß mit diesem unerwartet frühen Feierabend tun?« »Melden Sie sich morgen früh um acht bei mir zu Hause. Dann versuchen wir, ein paar der Leute zu erreichen, bevor sie dorthin aufbrechen, wo auch immer sie tagsüber sind. Danach fahren wir in die Schule. Ich habe nämlich den Beschlagnahmebefehl.« »Eins zu null für unser Team. Dallas? Ich kann auch noch bleiben, wenn Ihnen das lieber ist.« »Nein, es ist mir lieber, wenn Sie gehen. Schicken Sie sie rein.« Es war keine große Sache, erinnerte sie sich. Sie würde einfach sehen, was diese Percell von ihr wollte, dann nach Hause fahren und vergessen, dass sie jemals da gewesen war. Es wäre nicht das erste und ganz sicher nicht das letzte Mal, dass sie ein idiotisches Gespräch mit einer von Roarkes Verflossenen führte, machte sie sich Mut. Sie hörte das verräterische Klappern hochhackiger Schuhe auf dem ausgetretenen Boden und fühlte sich ein wenig lächerlich, als sie so tat, als blättere sie gerade eine Akte durch. Dann hob sie den Kopf. Magdalena stand in einem schmal geschnittenen schwarzen Hosenanzug mit Silberpelzbesatz direkt vor ihrem Schreibtisch und sah sie mit einem warmen Lächeln an. »Danke, dass Sie mich empfangen«, fing sie an. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich an mich erinnern, aber wir sind uns gestern kurz begegnet. Ich bin ...« Eve würde weder lächeln, noch legte sie auch nur die geringste Wärme in ihren Blick. »Ich weiß, wer Sie sind«, stellte sie mit kühler Stimme fest. »Oh, na dann ... Diese Wache ist einfach das reinste Labyrinth! Aber schließlich nehme ich auch an, dass sie das Zentrum der New Yorker Verbrechensbekämpfung ist. Und das hier ist Ihr Büro?« Sie blickte auf den verbeulten Aktenschrank, das winzige Fenster, den verkratzten Schreibtisch und zog überrascht die
Brauen hoch. »Es ist ganz anders, als ich erwartet hätte. Sie sind Lieutenant, nicht wahr?« »Richtig.« »Hm. Ich hoffe, ich unterbreche Sie nicht bei irgendeiner wichtigen Arbeit.« »Ehrlich gesagt ...« Magdalena blinzelte. »Es ist mir etwas unangenehm. Dabei hatte ich gehofft, das würde es nicht. Ich wollte kommen und Sie fragen, ob ich Sie nach der Arbeit auf einen Drink einladen kann.« »Warum?« »Ich nehme an, ich wollte Ihnen deutlich machen, dass ich keinen Ärger machen will.« Eve lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und drehte sich gemächlich hin und her. »Haben Sie jemanden getötet, seit Sie nach New York gekommen sind?« »Nein.« Sie setzte ein schnelles, kaltes Lächeln auf. »Seither nicht.« »Dann haben wir beide kein Problem.« »Eve.« Ihr Ton war seidig weich, und mit einer fließenden Bewegung nahm sie auf der Schreibtischkante Platz. »Ich wollte Ihnen nur versichern, dass das, was zwischen Roarke und mir mal war, lange vorüber ist. Wir waren beinahe noch Kinder, als wir zusammen waren. Es gibt also nichts, weshalb Sie sich Gedanken machen müssten.« »Sehe ich so aus, als ob ich mir Gedanken machen würde?« »Da ich Sie nicht kenne, kann ich das nicht sagen. Roarke hat erwähnt, dass ich Sie nicht mögen würde, und ich nehme an, ich wollte ihm einfach das Gegenteil beweisen. Deshalb hatte ich gehofft, wir beide könnten zusammen etwas trinken und dabei mögliche Probleme aus der Welt schaffen. Vor allem, da er mir bei ein paar Dingen helfen wird.«
»Seltsam.« Plötzlich fühlte es sich an, als ob ein dicker Stein in ihrem Magen lag. »Sie kommen mir wie jemand vor, der seine Angelegenheiten gut alleine regeln kann.« »Geschäftliche Angelegenheiten. Wir beide wissen, dass niemand Roarke das Wasser reichen kann, wenn es um finanzielle oder - seien wir doch ehrlich - andere Dinge geht.« Sie stieß ein leises Lachen aus. »Aber ich verspreche Ihnen, dabei geht's ausschließlich ums Geschäft. Nachdem wir heute zusammen Mittag gegessen haben und er sich bereit erklärt hat, mir zu helfen, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Sie vielleicht denken, dass es um was anderes geht. Schließlich ist er ein ausnehmend attraktiver Mann, und er und ich waren ...« »Wobei die Betonung auf waren liegt.« »Ja. Natürlich. Sehen Sie, ich habe ihm vor Jahren furchtbar wehgetan. Und ich möchte nicht, dass das noch mal passiert. Falls alles so läuft, wie ich es mir erhoffe, werde ich eine Zeitlang geschäftlich in New York zu tun haben. Und ich hoffe, wir können alle Freunde sein.« Eve erkannte Bockmist, wenn man ihn ihr schaufelweise vor die Füße warf. »Wissen Sie, Ms Percell, ich bin nicht gerade eine Fachfrau, wenn es um Freundschaften geht. Wenden Sie sich mit diesem Anliegen besser an jemand anderen. Und in Roarkes Geschäfte mische ich mich ganz bestimmt nicht ein. Was aber Sie betrifft, will ich ganz ehrlich sein: Sie wirken alles andere als dumm, deshalb bilden Sie sich hoffentlich nicht ein, Sie wären die erste von Roarkes abgelegten Freundinnen, die ihr Glück noch mal bei ihm versucht. Sie machen mir ganz sicher keine Angst. Ehrlich gesagt, sind Sie mir ziemlich egal. Wenn das also alles ist ...« Langsam glitt Magdalena von der Tischkante. »Der Mann hat einfach immer recht, nicht wahr? Ich mag Sie wirklich nicht.« »Aua.« Sie wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen, lehnte sich gegen den Türrahmen und sah Eve reglos an.
»Nur eines noch. Er hat mich nicht abgelegt. Ich habe mich von ihm getrennt. Und da Sie ebenfalls bestimmt nicht dumm sind, dürfte Ihnen klar sein, dass das etwas völlig anderes ist.« Eve horchte auf das Klappern ihrer Schuhe, erst als es leiser wurde, lehnte sie sich abermals auf ihrem Stuhl zurück und kniff unglücklich die Augen zu. Denn Magdalena hatte recht. Sie waren beide alles andere als dumm.
7 Hundemüde bog sie durch das Tor. Aus dem pausenlosen Lärm, den dichten Menschenmassen, dem schnell aufbrausenden Zorn und dem bösartigen Tempo des Molochs New York in die Welt von Roarke. Exklusiv, privat, perfekt. Niemand war auf der langgezogenen schneebedeckten Einfahrt, die sich durch das Grundstück in Richtung des großen, steinernen Gebäudes mit den vielen Fenstern schlängelte, herumgetrampelt, kein wütender Verkehr hatte das jungfräuliche Weiß zerstört. Durch die Fenster fiel ein warmes, goldenes Licht. Sie hatte sich daran gewöhnt, erkannte sie, als sie durch die Eisentore fuhr, hatte sich daran gewöhnt, das wunderschöne Haus mit seinen Türmen und Zinnen wie ein einladendes Fantasiegebilde aus dem Dunkeln vor sich aufragen zu sehen. Hinter all dem Glas und Stein gab es jede Menge Räume, einige eher praktisch, andere behaglich oder elegant. Aber alle wunderschön, ein Spiegelbild seiner Vision. Er musste dieses Heim errichten, haben, halten. Nicht nur als Symbol seines Erfolgs, seiner Eleganz, seiner herausragenden Stellung - auch wenn ihm das ebenfalls durchaus am Herzen lag -, sondern als einen Ort, an dem er zu Hause war. Und was hatte sie in dieses Zuhause eingebracht? Ein paar Kisten mit Gerümpel, einen verwaisten Kater und ein Arbeitszimmer, das, gemessen an Roarkes Standard, schlicht und völlig stillos war. Doch sie hatte gelernt, sich einzufügen, hatte diesen Ort zu ihrer beider Heim gemacht. Oder etwa nicht? Entgegen allen Erwartungen hatten sie sich ein Leben aufgebaut, das ihnen beiden wichtig war.
Und kein Geist aus der Vergangenheit würde dieses Leben trüben. Sie ließ den Wagen in der Einfahrt stehen und stieg die Stufen zu der prachtvollen Eingangstür hinauf. Vielleicht hatte Roarke das Haus gebaut, aber inzwischen war sie hier ebenfalls daheim. Und niemand bräche einfach ungestraft in ihrem Territorium ein. Kaum hatte sie das Haus betreten, tauchte Summerset, dicht gefolgt vom fetten Galahad, in der Eingangshalle auf. »Lecken Sie mich am Arsch und ersparen mir den Rest unseres Gesprächs«, fuhr sie ihn an. »Ich habe noch zu tun.« »Er ist noch nicht zu Hause.« Sie zog ihren Mantel aus, während sich ihr Magen leicht zusammenzog. »Danke für die Meldung.« »Er musste ein paar Termine verschieben, weil er eine Verabredung zum Mittagessen hatte.« Eve warf ihren Mantel über den Treppenpfosten und wirbelte zu Summerset herum. Wenigstens hatte sie ein Ziel für den glühend heißen Zorn, der neben dem Gefühl der Übelkeit in ihr aufgestiegen war. »Ich hätte mir denken können, dass Sie es kaum erwarten konnten, mir das unter die Nase zu reiben«, fauchte sie den Butler an. »Ich wette, Sie haben bereits einen Freudentanz vollführt, weil er sich mit dieser Maggie trifft. Tja, aber Sie können ...« »Ganz im Gegenteil«, unterbrach er sie mit ruhiger Stimme. »Ich könnte nicht unglücklicher sein. Ich würde gerne kurz mit Ihnen reden.« »Worüber?« Er biss die Zähne aufeinander, und sie sah, dass sie sich geirrt hatte. Er war alles andere als ruhig. »Ich spreche nicht gerne über Roarke, und Sie machen es mir noch schwerer, als es ohnehin schon für mich ist. Trotzdem lässt mir meine Sorge keine andere Wahl.«
Plötzlich hatte sie einen trockenen Mund. »Was für eine Sorge?« »Kommen Sie bitte mit in den Salon. Ich habe ein Feuer im Kamin gemacht.« »Meinetwegen.« Sie stapfte vor ihm in das Wohnzimmer, in dessen offenem Kamin ein rotgoldenes Feuer prasselte. Die teuren Stoffe schimmerten und das alte, liebevoll gepflegte Holz verströmte einen warmen Glanz. Trotzdem war ihr eiskalt, als sie mitten im Zimmer stehen blieb. »Möchten Sie sich vielleicht setzen?« Sie schüttelte den Kopf, trat an eins der Fenster und starrte hinaus. »Worüber wollen Sie mit mir reden?« »Vielleicht hätten Sie gern erst ein Gläschen Wein.« »Nein.« Auch ohne Alkohol fing ihr Schädel bereits an zu dröhnen. »Schießen Sie einfach los.« »Sie ist eine gefährliche Frau, Lieutenant.« »In welcher Beziehung?« »Sie versteht es, Menschen zu manipulieren, und genießt das Abenteuer des Konflikts. Und wie die meisten wirklich schönen Frauen verfügt sie über eine ziemlich große Macht. Schon vor zwölf Jahren hat sie es verstanden, ihre Waffen richtig einzusetzen, und ich gehe davon aus, dass sie ihre Technik seither noch vervollkommnet hat.« »Wahrscheinlich«, murmelte Eve. »Sie ist wirklich gut.« »Außerdem ist sie hochintelligent.« »Wie lang waren die beiden zusammen?« Als er nichts erwiderte, drehte sie sich zu ihm um. »Beantworten Sie meine Frage. Wie lange?« »Ein paar Monate. Beinahe ein Jahr.« Sie wandte sich eilig wieder ab, weil sich ihr Herz schmerzlich zusammenzog. »Das ist ziemlich lange. Und warum hat es dann geendet?« »Sie hatten wochenlang zusammen einen Coup geplant.« Auch wenn Eve nichts trinken wollte, brauchte er etwas, damit er das
Gespräch halbwegs unbeschadet überstand. »Sie hatten es auf einen wohlhabenden Mann mit einer erlesenen Kunstsammlung abgesehen.« Er trat vor die Bar, griff nach einer der Karaffen und schenkte sich einen Whiskey ein. »Magdalena sollte sich an den Mann heranmachen und eine Beziehung zu ihm aufbauen. Er war wesentlich älter als sie und hatte eine Vorliebe für junge, lebendige Frauen. Sie sollte ihm Informationen darüber entlocken, wo die Bilder hingen und wie sie gesichert waren. Sie hatten sich für zwei Renoirs entschieden. Wollten nur die beiden Bilder, weiter nichts. Roarke war schon damals nicht der Typ, der allzu tief in eine Tasche greift. An dem Tag, an dem er die Sache hätte durchziehen wollen, während sie und die Zielperson auf deren Yacht waren, ist sie mit dem anderen durchgebrannt.« »Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.« »Genau. Natürlich konnte er den Coup vergessen, denn schließlich wusste er nicht sicher, ob die Informationen, die er hatte, richtig waren oder ob man ihn vielleicht in eine Falle hätte laufen lassen. Was ihn, in mehrerer Hinsicht, einiges gekostet hat.« »Aber er hat sie nicht verfolgt und dafür bezahlen lassen?« Sie wandte sich ihm wieder zu, sah in sein Gesicht und nickte mit dem Kopf. »Das hat er nicht getan, weil er mehr verletzt als wütend war. Hat er sie geliebt?« »Er war in sie vernarrt.« Ihr Magen drehte sich um. »Das ist noch viel schlimmer.« »Stimmt.« Er nippte vorsichtig an seinem Glas. »Er hat sich damals sehr viel von ihr bieten lassen. Sie hatte Spaß am Risiko, beruflich und privat. Sie haben sie gesehen. Sie hat eine bestimmte Ausstrahlung, die ihn damals angezogen hat.« »Sie ist clever«, stieß Eve mühsam aus. »Clever und gebildet. Ich habe sie überprüft.« »Natürlich. Ja, sie war eine äußerst intelligente junge Frau.«
»Was er bestimmt bewundert hat. Was ihm bestimmt noch wichtiger als ihre äußere Erscheinung war.« Summerset zögerte einen Moment. Er hatte miterlebt, wie Eve hier in diesem Raum einen direkten Treffer abbekommen hatte. Aber seine nächsten Worte fügten ihr wahrscheinlich einen noch größeren Schaden zu. »Sie kannte sich mit Musik, Literatur, Gemälden aus. Er hat immer danach gedürstet, sich mit diesen Dingen auszukennen, die ihm als Kind verwehrt gewesen waren. Außerdem hatte sie einen Sinn für Zahlen und war - nun, wie soll ich es formulieren - bereits damals ausnehmend glamourös.« »Und sie hat gern gestohlen. Was ihm sicher ebenfalls gefallen hat.« »Sie hat gern genommen. Wenn er ihr ein Geschenk gekauft hat, hat sie sich durchaus darüber gefreut, aber es war ihr immer lieber, wenn er es gestohlen hat. Und sie wollte immer mehr und hat auch immer mehr bekommen, ohne dass sie direkt darum gebeten hat. Sie wird auch jetzt mehr wollen, als sie bereits hat. Das ist einfach ihre Art.« »Sie war heute bei mir im Büro.« »Ah.« Wieder sah er in sein Glas und hob es erneut an seinen Mund. »Das kann ich mir vorstellen. Weil es ihr ähnlich sieht, dass sie unter dem Deckmäntelchen der Freundlichkeit versucht, Zwietracht zwischen Ihnen zu säen.« »Etwas in der Art. Sie wollte mich aus der Fassung bringen, das war mir sofort klar. Und sie hat es tatsächlich geschafft. Sie meinte, er hätte sich bereit erklärt, ihr bei irgendwelchen geschäftlichen Angelegenheiten zu helfen. Wenn sie ihn dazu überredet hat, noch einmal einen Coup mit ihr zu landen oder ihr auch nur bei den Vorbereitungen behilflich zu sein - Himmel ...« »Das dürfen Sie nicht zulassen.« »Ich kann Roarke nichts verbieten. Das kann kein Mensch.«
»Sie müssen den Einfluss nutzen, den Sie auf ihn haben. Gegenüber Magdalena ist er blind, das war er auch früher schon.« »Ich kann ihn höchstens direkt danach fragen. Irgendwelche Tricks und Kniffe kann ich nicht anwenden.« Das Dröhnen ihres Schädels wurde immer schlimmer, und sie hatte das Gefühl, als ob sich inzwischen ihr gesamtes Inneres schmerzlich zusammenzog. »Das wäre nicht nur beleidigend für uns beide, sondern liegt mir einfach nicht. Zumindest wäre ich darin niemals so gut wie sie. Am Ende liegt die Entscheidung bei ihm. So war es immer schon. Und jetzt muss ich arbeiten.« Sie wandte sich zum Gehen, zwang sich dann aber, sich noch einmal umzudrehen und den Butler anzusehen. »Sie ist manipulativ. Das ist mir klar. Außerdem ist sie wunderschön, elegant, weltgewandt und smart. Sie können Ihren knochigen Arsch darauf verwetten: Sie ist smart genug, um sich inzwischen mit dem zufriedenzugeben, was Roarke ihr bieten kann. Ich hätte angenommen, dass Sie einen Freudentanz aufführen würden, wenn er mich gegen eine Frau ihres Kalibers tauscht.« Sie musste tief Luft holen, damit ihre Stimme nicht zitterte, als sie weitersprach. »Sie würde nicht mit blutverschmierten Kleidern heimkommen, sie wüsste, welches Kleid sie auf der nächsten Dinnerparty tragen soll, und würde vor allem gar nicht erst vergessen, dass es diese gottverdammte Dinnerparty gibt, weil sie gerade über irgendeiner Leiche steht. Weshalb also erzählen Sie mir das alles?« »Roarke könnte sich durchaus mit ihr schmücken. Sie spricht fließend französisch und italienisch und hat einen unerschöpflichen Vorrat an Charme, wenn sie ihn versprühen will. Und sie würde ihn benutzen. Sie würde ihn nach Kräften ausnehmen. Wenn es nötig wäre oder einfach, wenn sie Lust dazu hätte, würde sie ihn auch den Wölfen vorwerfen, nur um zu sehen, wer den Kampf gewinnt.«
Er trank seinen Whiskey aus. »Sie, Lieutenant, sind oft entsetzlich grob und vor allem unhöflich und haben keinerlei Gespür dafür, was von der Ehefrau eines Mannes in Roarkes Position in der Öffentlichkeit erwartet wird. Aber Sie würden, ungeachtet der Risiken für Sie, alles tun, um ihn vor Schaden zu bewahren. Sie wird ihn niemals lieben. Sie hingegen werden niemals etwas anderes tun.« Nein, dachte sie, als sie den Raum verließ, sie würde niemals etwas anderes tun. Und war es nicht seltsam, dass sie vergessen hatte, wie viel Angst und Leid ab und zu mit Liebe verbunden war? Das Gefühl kannte sie erst, seit sie ihm begegnet war. Diese schmerzliche, alles erschütternde Furcht, den Menschen zu verlieren, der ihr Leben war. Genau wie den Trost, die Erregung und das überwältigende Glück, das wie eine dicke Decke über allem lag. Sie ging direkt in ihr Büro und bestellte sich eine große Kanne Kaffee. Bevor sie Roarke begegnet war, hatte sie fast jede Nacht gearbeitet. Es gab keinen Grund, das jetzt nicht ebenfalls zu tun. Im Übrigen war es ihre Pflicht. Ein Mann war tot. Ein offensichtlich netter Kerl, ein durchschnittlicher Mensch, der tatsächlich ein Gewinn für die Gesellschaft gewesen war. Es gab keinen Hinweis darauf, dass er jemanden verletzt hatte oder jemandem hatte wehtun wollen. Er war kein Lüstling gewesen, hatte keine Drogen genommen und keine verkauft. Hatte nichts gestohlen, niemanden erpresst und seine Frau nicht hintergangen. Wenn ein Mann mit einer anderen Frau zu Mittag aß, war das noch kein Verrat an seiner Ehefrau, dachte sie, während sie die Kaffeekanne in ihr Arbeitszimmer trug. Selbst wenn er zwölf
Jahre vor der Hochzeit eine andere durch Sonne und Mond gevögelt hatte, betrog er sie dadurch nicht. Roarke würde sie niemals betrügen. Da konnte sie sich völlig sicher sein. Aber würde er es wollen? Das war die Frage, um die es ging. Und sie hatte mit Craig Foster nicht das Mindeste zu tun. Sie stützte sich mit ihren Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und legte ihr Gesicht in ihre Hände. Sie musste einfach wieder einen freien Kopf bekommen, das war alles. Musste ihren Kopf befreien. Wahrscheinlich ließ das blöde Dröhnen ihres Schädels erst etwas nach, wenn sie eine Schmerztablette nähme. Wütend riss sie die oberste Schublade des Schreibtischs auf, denn dort hatte Roarke eine Schachtel mit kleinen blauen Pillen deponiert. Sie hasste es, Medikamente einzunehmen, aber sie könnte ganz einfach nicht denken, solange sie nicht eine Pille nahm. Sie warf die Tablette ein und spülte sie mit einem Schluck Kaffee herunter, als der Kater durch die Tür geschossen kam, auf ihren Schreibtisch sprang und sich dort auf seinen dicken Hintern fallen ließ. »Ich muss arbeiten.« Trotzdem war es seltsam tröstlich, mit der Hand über den Kopf des Tiers zu streichen und zu sehen, wie er sich genüsslich räkelte. »Ich muss arbeiten können, sonst werde ich verrückt.« Sie schob eine Diskette in den Schlitz. »Computer, Vergleich der Angestellten- und Kundenlisten mit der Liste der Eltern und Angestellten der Schule auf Diskette B. Übereinstimmungen melden.« EINEN AUGENBLICK ... »Zweite Aufgabe: Standardüberprüfung aller Namen auf Diskette C, einschließlich Vorstrafen, finanzieller Verhältnisse, Beschäftigung, Familienstand, Ausbildung.«
EINEN AUGENBLICK ... Vielleicht fiele ihr dabei ja einer der Eltern oder eins der Kindermädchen auf, das an dem Morgen in der Schule gewesen war. »Anschließend will ich noch eine Auflistung sämtlicher Angestellten der Sarah Child Akademie in alphabetischer Reihenfolge auf Wandbildschirm eins.« EINEN AUGENBLICK ... DIE ZWEITE AUFGABE WURDE ERLEDIGT. WO SOLLEN DIE DATEN AUFGERUFEN WERDEN? »Auf dem Computermonitor.« Sie lehnte sich mit ihrem Kaffeebecher zurück und ging die Daten durch. Ihr fiel nichts Besonderes auf. Ein paar Kleinigkeiten hier und da - der allzeit beliebte Besitz verbotener Drogen für den Eigenbedarf, eine vier Jahre alte Anzeige wegen Ladendiebstahls. Kein Gewaltverbrechen, keine Inhaftierung, nichts. Bevor sie die Daten auf dem Wandbildschirm ansah, machte sie die Augen zu und ging alles, was sie bereits herausgefunden hatte, und die Dinge, die sie wissen wollte, in Gedanken durch. Gift im Kakao. Die Thermoskanne hatte unbewacht in einem leeren Klassenraum gestanden, wo sie frei zugänglich gewesen war. Wie beinahe jeden Tag. »Moment mal.« Eilig setzte sie sich wieder auf, kniff die Augen zusammen und rief Lissette Foster an. »Lieutenant Dallas«, meldete sie sich. »Tut mir leid, wenn ich Sie störe. Ich habe ein paar Fragen. Sie haben den Kakao jeden Morgen selbst gemacht.« »Ja, das habe ich doch schon gesagt. Ich habe ihn für ihn gekocht.« »Haben Sie je selbst etwas davon getrunken?«
»Nein. Er hat zu viele Kalorien«, kam die müde Erwiderung. »Ich habe immer ein bisschen echte Schokolade mit der Sojamilch und dem Pulver verrührt. Das hat er nicht gewusst.« »Wie bitte?« »Schokolade ist so teuer. Er wusste nicht, dass ich sie gekauft und dazugegeben habe, wie es meine Mutter immer macht. Aber er hat ihn so gern getrunken, hat immer gesagt, niemand machte den Kakao so gut wie ich. Was einfach an der echten Schokolade lag.« »Wusste sonst noch irgendwer etwas von diesem Extra in seinem Kakao?« »Meine Mutter. Sie hat mir gezeigt, wie man ihn macht. Und ich bin mir sicher, dass ich bei der Arbeit davon erzählt habe. Ich habe ein bisschen damit angegeben. Vielleicht habe ich auch Mirri etwas davon erzählt. Es war einfach ein kleines Geheimnis, das ich vor Craig hatte. Er hätte nicht gewollt, dass ich so viel Geld für ihn ausgebe.« »Mir ist das Kakaopulver in Ihrer Küche aufgefallen, genau wie der Vorrat an flüssiger Schokolade in der Dose Vital Fem.« Jetzt verzog Lissette den Mund zu einem schwachen Lächeln. »Er hätte nie in meinen Vitaminen rumgeschnüffelt, deshalb habe ich die Schokolade dort versteckt. « »Wir haben das Pulver und die Schokolade ins Labor geschickt. Wusste irgendjemand außer Ihnen, wo Sie diese Sachen aufbewahrt haben?« »Vielleicht das Pulver, aber die Schokolade nicht. Glauben Sie ...« »Das Labor wird feststellen, ob sich jemand an diesen Zutaten zu schaffen gemacht hat. War an dem Wochenende, bevor Ihr Mann gestorben ist, jemand bei Ihnen in der Wohnung?« »Nein.« Sie rieb sich die Augen. »Ich glaube nicht. Samstag war ich eine Zeitlang unterwegs. Einkaufen. Aber Craig war zu Hause. Er hat nichts erwähnt.«
»Hat außer Ihnen irgendjemand einen Schlüssel für die Wohnung? Oder Ihren Zugangscode?« »Mirri hat einen Schlüssel, für Notfälle. Aber ...« »Okay. In Ihrem Haus gibt es keine Überwachungskameras und auch keinen Portier.« »Wir hätten uns keine Wohnung in einem Gebäude leisten können, wo es so was gibt. Aber es ist eine nette Gegend. Wir hatten nie Probleme.« »In Ordnung, Mrs Foster. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.« Was wäre, wenn, fragte sich Eve. Was wäre, wenn jemand Unbekanntes in der Wohnung der Fosters gewesen wäre, jemand, der die Gewohnheiten der beiden kannte? Was, wenn er das Kakaopulver vergiftet hatte? Vielleicht hatte Craig ja einen Gast gehabt und Lissette nichts davon erzählt. Vielleicht war es ja gar nicht an dem Wochenende geschehen. Vielleicht hatte er zuvor ein paarmal einfach Glück gehabt und entweder nichts oder zu wenig von dem Gift in seinem Getränk gehabt. Sie zog den Laborbericht hervor. Echte Schokolade wurde nirgendwo erwähnt. Dann hatte der Killer also nichts von Lissettes Geheimrezept gewusst. Nachdenklich stand sie auf, trat vor die Tafel mit den Fotos und sah sich die Aufnahmen des Opfers und des Tatorts an. Dann studierte sie die Thermoskanne und trommelte mit ihren Fingern auf dem Oberschenkel herum. An der Kanne war nichts Besonderes. Eine ganz normale, große Thermoskanne. Um die fünfzig Dollar. Schwarz, der Vorname des Opfers silberfarben eingraviert. Die Kanne wirkte neu. Er hatte sie ein ganzes Jahr lang jeden Tag oder zumindest jeden Arbeitstag benutzt. Weshalb wirkte sie dann neu?
Vielleicht, weil sie es war. Eve hatte schon vorher überlegt, ob vielleicht ein Austausch zweier Kannen stattgefunden hatte, und genau das war anscheinend auch passiert. Verdammt. »Schneller«, murmelte sie. »Einfacher.« Für fünfzig Mäuse konnte man in drei Sekunden seinen eigenen Kakao gegen anderen tauschen. Man brauchte nicht erst das ursprüngliche Getränk irgendwohin zu kippen und dann den mörderischen Drink in das Gefäß zu füllen. Nein, man nahm einfach die verdammte ursprüngliche Thermoskanne, steckte sie in seinen Rucksack oder seine Aktentasche und stellte die zweite Kanne auf den Tisch. Schlauer, dachte sie. Und vor allem sauberer. Obwohl sie wusste, dass ihr aufgefallen wäre, wenn man in der Schule eine zweite Thermoskanne mit dem Namen Craig gefunden hätte, rief sie den Bericht der Spurensicherung auf dem Bildschirm auf. »Computer, wie wahrscheinlich sind die folgenden Möglichkeiten in Fall HP-33091-D? Erste Möglichkeit: Das Gift wurde am Morgen des Todes in die Thermoskanne des Opfers gefüllt. Zweite Möglichkeit: Die Thermoskanne des Opfers wurde, ebenfalls am Morgen seines Todes, gegen eine identische Kanne ausgetauscht, die das Gift enthielt. Welches der beiden Szenarien ist wahrscheinlicher?« EINEN AUGENBLICK ... Eve schenkte sich frischen Kaffee ein, lief einmal um die Tafel und nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz. UNTER EINBEZIEHUNG SÄMTLICHER DATEN IST DIE WAHRSCHEINLICHKEIT IN BEIDEN FÄLLEN UNGEFÄHR GLEICH GROSS ...
»Das hat mich echt weitergebracht.« Dabei wäre es ganz sicher von Bedeutung, wie der Täter vorgegangen war. Dass die echte Schokolade in dem vergifteten Kakao nicht enthalten gewesen war, machte die Theorie, dass sich jemand in der Wohnung der Fosters an dem Pulver zu schaffen gemacht hatte, hinfällig. Es war einfacher und effizienter gewesen, das Gift vor Ort in den Kakao zu geben. Auch wenn damit ein gewisses Risiko einhergegangen war. Am schlausten, effizientesten und narrensichersten wäre es gewesen, einfach die ganze Thermoskanne auszutauschen, dachte sie. Morgen würden sie die Schule noch einmal gründlicher durchsuchen. Doch bestimmt hatte der Mörder Fosters Thermoskanne als Andenken behalten oder zumindest außerhalb des Schulgeländes irgendwo entsorgt. Da ginge sie jede Wette ein. Sie rief die Beschreibung der Theromoskanne auf und machte sich auf die Suche nach Händlern in New York und Internet-Geschäften, in der man das Modell mit Gravur bekam. Allein in Manhattan boten über zwanzig Läden und im Internet sogar über sechzig Händler diese Kanne an. Aber immerhin war es ein erster Durchbruch, dachte sie. Der Killer hatte den Kakao eindeutig selbst gemischt. Von Lissettes heimlicher Zutat hatte er nichts gewusst. Gerade als sie erneut nach ihrem Kaffeebecher griff, trat Roarke durch die offene Tür. »Lieutenant.« »Hi.« Sie maßen einander mit argwöhnischen Blicken, als er den Raum betrat. »Ich hatte gehofft, ich würde nicht so spät nach Hause kommen.« »Das kommt eben manchmal vor.«
ÜBERPRÜFUNG ABGESCHLOSSEN. STIMMUNGEN GEFUNDEN.
KEINE
ÜBEREIN-
»Manchmal ist die Welt eben nicht so klein, wie man sie gerne hätte«, meinte sie und nahm ihren Becher in die Hand. »Du hattest einen langen Tag.« »Du auch.« Er setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs, damit er auf einer Augenhöhe mit ihr war. »Haben wir beide ein Problem, Eve?« Sie hasste es, dass sie am liebsten ihren Kopf auf den Schreibtisch gelegt hätte und in Tränen ausgebrochen wäre wie ein kleines Kind. »Ich weiß nicht, was wir haben.« Er strich mit seinen Fingerspitzen über ihre Haare. »Du hast mich heute Morgen auf dem falschen Fuß erwischt und furchtbar wütend gemacht. Vertraust du mir etwa nicht?« »Glaubst du, ich würde hier sitzen, wenn ich dir nicht vertrauen würde?« »Wenn das so ist, sollte zwischen uns alles in Ordnung sein.« »So einfach ist das nicht.« »Ich liebe dich unendlich. Auch wenn das nicht gerade einfach ist, ist es unabänderlich. Du hast mir heute Morgen keinen Abschiedskuss gegeben.« Er beugte sich zu ihr herab und strich mit seinen Lippen über ihren Mund. Sie konnte nichts dagegen tun: sofort wogte heiße Leidenschaft in ihr auf. »Tschüs«, murmelte sie. Lächelnd küsste er sie abermals warm und süß auf ihren Mund. »Hallo. Ich wette, du hast noch kein Abendessen gehabt.« »Ich stecke mitten in den Ermittlungen zu meinem neuen Fall. An Essen habe ich ganz einfach nicht gedacht.« »Dann denk bitte jetzt daran.« Er gab ihr eine Hand und kraulte mit der anderen Galahad, der seinen Kopf an seiner Seite rieb. »Du siehst müde aus, Lieutenant, und so hohläugig, wie du immer aussiehst, wenn du nichts gegessen und vor allem nicht
genug geschlafen hast. Ich werde uns Hamburger bestellen, damit kriege ich dich schließlich meistens rum. Und du kannst mir von deinem Fall erzählen, während du isst.« Er wollte nicht über den Morgen oder über sein Treffen mit Magdalena reden, merkte sie. Er wich diesen Themen einfach aus. Trotzdem müssten sie darüber reden. Also Augen zu und durch. »Sie war bei mir im Büro.« Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Kein Wunder, dass er im Geschäft ein so tödlicher Verhandlungspartner war. »Magdalena?« »Nein, die Maikönigin.« »Ist es für die nicht noch ein bisschen früh? Oder hat sie neuerdings was mit dem Murmeltier zu tun, das immer am 2. Februar erscheint?« »Haha, wirklich witzig. Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Sie kam kurz nach Ende meiner Schicht. Dachte, wir könnten zusammen etwas trinken gehen, nett miteinander plaudern und gute Freundinnen werden oder so. Rate mal, was meine Antwort war?« Er stieß sich von ihrem Schreibtisch ab. »Tut mir leid, wenn dich ihr Besuch gestört hat«, meinte er, trat an die Bar und holte eine Brandyflasche hervor. »Sie ist sehr kontaktfreudig und impulsiv. Ich nehme an, sie war einfach neugierig auf dich.« »Das nimmst du also an?« Sie spürte, dass in ihrem Innern Zorn mit Unglück rang. »Obwohl du ihr bereits gesagt hattest, dass sie mich nicht mögen würde.« Er schenkte sich einen Brandy ein und stellte die Flasche in den Schrank zurück. »Ebenso wenig wie du sie. Wahrscheinlich wollte sie mir nur beweisen, dass ich mich geirrt habe.« Er war blind für ihre Schwächen, hatte Summerset gesagt. »Ich glaube, dass es ihr darum als Allerletztes ging. Du wirst mit ihr zusammenarbeiten?«
Jetzt war ihm seine Verärgerung für den Bruchteil einer Sekunde anzusehen. »Nein, das werde ich nicht.« »Dann ist sie also eine Lügnerin?« »Wenn sie das gesagt hat, hat sie sich falsch ausgedrückt oder du hast es falsch verstanden.« »Ich habe es falsch verstanden?« »Meine Güte.« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. »Du versuchst, mich in eine bestimmte Ecke zu drängen, aber das lasse ich nicht zu. Wir haben völlig harmlos zusammen Mittag gegessen, wobei sie mich um einen Rat bezüglich einiger Investitionen gebeten hat. Ich habe mich bereiterklärt, ihr ein paar Tipps zu geben und die Namen einiger Leute zu nennen, an die sie sich wenden kann. Das habe ich schon für zahllose andere Leute getan.« »Nur dass sie nicht wie andere Leute ist.« »Schwachsinn.« Jetzt brach sich sein Ärger vollends Bahn. »Hast du etwa erwartet, dass ich zu ihr sagen würde: >Tut mir leid, aber ich kann dir keine Namen nennen, weil es meiner Frau missfällt, dass ich vor zwölf Jahren mit dir in der Kiste war Das sieht dir gar nicht ähnlich, Eve.« »Das kann ich nicht sagen, denn schließlich war ich bisher noch nie in dieser Position.« »In was für einer Position genau?« »In der Position, mich von einer Frau vorführen zu lassen, für die du Gefühle hast. Mich genauso jämmerlich zu fühlen, wie sie es ganz eindeutig will.« »Da ich kein Droide bin, hatte ich natürlich Gefühle für andere Frauen, bevor ich dir begegnet bin, und du hast schon einige von diesen Frauen kennen gelernt, ohne dass das ein Problem für dich gewesen ist. Weshalb sollte Magdalena dich gegen sich aufbringen wollen? Sie kann dadurch nichts gewinnen. Du reagierst vollkommen über und machst ein Riesenaufhebens um eine Sache, die bereits vorüber war, Jahre, bevor ich auch nur wusste, dass du existierst. Brauchst du irgendeine
Rückversicherung von mir? Irgendein Versprechen, irgendeinen Schwur? Trotz allem, was wir inzwischen füreinander sind?« »Weshalb ist sie diejenige, die diese ganze Sache inszeniert, aber ich bin die, die deswegen im Unrecht ist? Du siehst sie nicht so, wie sie ist.« »Ich sehe dich. Ich sehe, dass meine Frau vor Eifersucht wegen einer Sache vergeht, die seit Jahren abgeschlossen ist.« Er stellte seinen Brandy fort und atmete tief durch. »Eve, ich kann nicht mehr ändern, was ich einmal war und was vor all der Zeit geschehen ist. Selbst wenn ich es könnte, täte ich es nicht. Denn weshalb sollte ich? Alles, was ich früher getan habe, hat mich hierher gebracht. Hierher zu dir.« Darum ging es nicht. Oder vielleicht doch? Alles, was sie hätte sagen wollen, hätte jämmerlich geklungen, und so fragte sie ihn einfach rau: »Kannst du mir versichern, dass sie nicht dort weitermachen will, wo es damals geendet hat?« »Wenn sie dort weitermachen wollte oder will, macht sie sich besser auf eine Enttäuschung gefasst. Eve, du und ich haben uns nicht als unschuldige Kinder kennen gelernt. Und wenn einer von uns anfängt, sich wegen irgendwelcher Beziehungen verrückt zu machen, die wir vor unserer Beziehung hatten, kehrt in unserer Ehe niemals Ruhe ein.« »Wie bitte?« Sie sprang wütend auf. »Du warst doch derjenige, der Webster hier in diesem Raum grün und blau geprügelt hat.« »Das war etwas völlig anderes. Er hat sich an dich herangemacht, hier in unserem Heim«, fuhr er sie an. »Ich habe nicht einen Augenblick gedacht, dass du ihn dazu aufgefordert oder ermutigt hast. Trotzdem sind du und ich dabei ziemlich heftig aneinandergeraten, Lieutenant, denn immerhin hast du mit deinem Stunner auf mich gezielt. Was zum Teufel willst du überhaupt?« »Ich schätze, ich will einfach wissen, was zum Teufel diese Magdalena will. Plant sie irgendeinen Coup? Will sie, dass du ...«
»Falls sie etwas in der Richtung vorhat, hat sie es mit keinem Wort erwähnt. Ganz im Gegenteil. Und falls sie etwas plant, geht mich das nicht das Geringste an. Denkst du allen Ernstes, ich hätte so wenig Rückgrat, dass ich nicht nur diese Grenze wieder überschreiten, sondern auch noch zu einer anderen in die Kiste steigen würde, nur, weil sie das will?« »Nein.« »Was auch immer Magdalena vielleicht will, sie wird von mir nicht mehr bekommen, als ich mich bereiterklärt habe zu geben. Ein paar grundlegende Ratschläge zu möglichen Investitionen. Soll ich meiner Sekretärin sagen, dass sie dir das schriftlich geben soll?« Ihre Kehle brannte, ihr Kopfschmerz war wieder da, und sie hatte nichts erreicht, außer ihn wieder zu verärgern und dafür zu sorgen, dass die andere Frau vollends zwischen ihnen stand. »Ich hasse das. Ich hasse es, mich so zu fühlen und so zu benehmen. Ich hasse es, dass wir hier stehen und uns ihretwegen streiten. Hasse es, sie derart im Mittelpunkt stehen zu sehen.« »Dann hör auf.« Er trat auf sie zu, legte ihr die Hände auf die Schultern, strich ihr sanft über die Arme und zog sie an seine Brust. »Wenn wir uns schon streiten müssen, streiten wir doch besser über irgendwas Reales und nicht über einen solchen Quatsch. Du bist nicht nur der Mittelpunkt von meiner Welt, Eve.« Er küsste ihre Braue, ihre Schläfe, ihren Mund. »Du bist meine Welt.« Sie schlang ihm die Arme um den Hals. Er hatte ihr geantwortet, sagte sie sich. Vergiss die ganze Sache, denk nicht mehr darüber nach. »Es ist deine eigene Schuld, dass ich dich derart liebe.« Während eines Augenblicks vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter. »Dass ich derart dumm vor Liebe bin.« »Natürlich ist es meine Schuld.« Er strich mit einer Hand über ihr Haar, schmiegte seinen Kopf an ihre Wange. Und atmete
erleichtert auf. »Am besten kommen wir uns deshalb einfach beide etwas dämlich vor. Fühlst du dich jetzt wieder besser?« Es war besser, doch es war noch nicht vorbei. Und sie hatte Angst genug davor, wie es vielleicht weitergehen würde, um sich abermals zu sagen: Denk nicht mehr darüber nach. »Gut genug.« Dann trat sie einen Schritt zurück und sprach ein anderes Thema an. »Burgess in New Jersey war ausnehmend kooperativ.« »Freut mich zu hören.« Er strich mit einer Fingerspitze über das Grübchen in ihrem Kinn. »Wer ist Burgess in New Jersey, und weshalb war er kooperativ?« »Sie. Sie leitet dort eine deiner Fabriken und hat dein Rundschreiben erhalten.« »Mein ... ah. Am Ersten diesen Jahres habe ich eins an diverse Firmen geschickt. Dann hat es dir heute also etwas genützt?« »Es hat die Angelegenheit einfacher gemacht. Zu deiner Information, es macht mir nicht wirklich etwas aus, wenn ich mich selbst durchsetzen muss, aber trotzdem vielen Dank. Ihr verarbeitet Rizinussamen in der Fabrik.« »Das mag durchaus sein.« »Rizin, das Gift, mit dem Foster ermordet wurde, wird aus der Maische hergestellt, die nach der Verarbeitung der Samen zu Öl übrig bleibt.« Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Hat die Fabrik was mit dem Mord zu tun?« »Bisher finde ich keine Verbindung zwischen der Fabrik und meinen Verdächtigen. Obwohl das durchaus praktisch gewesen wäre. Allerdings habe ich bisher noch kein Motiv, zumindest kein eindeutiges. Es ist möglich, dass Foster irgendwann gesehen hat, wie einer der anderen Lehrer auf dem Schulgelände etwas getan hat, was nicht ganz sauber war. Wobei Mord eine ziemlich harsche Reaktion darauf wäre, wenn einen jemand mit heruntergelassenen Hosen überrascht.« »Vielleicht hat Foster diesen Menschen ja erpresst.«
»Darauf gibt es bisher keinen Hinweis, und es würde auch nicht zu seinem Charakter passen. Bisher habe ich keinen einzigen Menschen getroffen, der nicht gut auf ihn zu sprechen gewesen wäre, einschließlich unseres berüchtigten Weiberhelden. Ich warte noch auf den Bericht aus dem Labor und sehe mir das gesamte Personal der Schule sowie diverse Eltern von Schülern an. Bisher habe ich allerdings noch keine heiße Spur.« »Warum lässt du nicht mich mal gucken? Vielleicht sehen zwei frische Augen ja etwas, was dir bisher nicht aufgefallen ist.« »Kann bestimmt nicht schaden.« Er hatte vergessen, sie weiter zu bedrängen, etwas zu essen, dachte sie, während er sich hinter ihren Schreibtisch setzte, um sich die Daten anzusehen. Hatte einfach nicht mehr daran gedacht. Was wahrscheinlich besser war. Denn sie hatte keinen Appetit. Sie schlief nur phasenweise, und in allen Phasen wurde sie von irgendwelchen Träumen heimgesucht. Träumen von Gesprächen, Ausschnitten aus ihrem Streit mit Roarke, den Vernehmungen, dem Zusammentreffen mit Percell. Ein wildes Stimmengewirr im Kopf, schlug sie morgens erschöpft die Augen auf. Er war da, wo er morgens immer war, auf dem Sofa vor dem Fernseher, eine Tasse Kaffee in der Hand, und sah sich die Berichte von der Börse an. Eve schleppte sich unter die Dusche und versuchte, die Erschöpfung mit möglichst heißem Wasser von sich abzuwaschen, was ihr jedoch nicht gelang. Als sie wieder ins Schlafzimmer zurückkam, sah er gerade Nachrichten. Sie marschierte schnurstracks auf die Kaffeekanne zu. »Du hast nicht gut geschlafen«, meinte er. »Der Fall beschäftigt mich.«
»Ich wünschte, ich hätte dir weiterhelfen können.« Schulterzuckend trug sie ihre Kaffeetasse zu ihrem Schrank. »Vielleicht finden wir ja heute etwas raus.« »In der Tasche da sind Kleider für den Auftritt bei Nadine.« Stirnrunzelnd sah sie den Kleiderbeutel an. »Warum sollte ich mich dafür extra umziehen?« »Sieh es einfach als Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass du einen normalen Arbeitstag verlebst und Blut an deine Sachen kommt oder du dir die Hose aufreißt, wenn du dich nach einer wilden Verfolgungsjagd auf einen Verdächtigen wirfst.« »Wie es aussieht, werde ich den größten Teil des Tages mit Papierkram im Büro verbringen.« »Wenn du wirklich dieses Pech haben solltest - nein, nicht diese Jacke.« »Was stimmt denn nicht damit?« Obwohl sie ärgerlich die Stirn in Falten legte, jubelte ein Teil von ihr über diesen Kommentar. Er war so wunderbar normal, am liebsten hätte sie wie ein Idiot gegrinst. »Sie ist nicht besonders telegen.« »Das bin ich schließlich auch nicht.« »Stimmt. Trotzdem ...«Er stand auf und trat vor ihren Schrank. »Ich habe es nicht nötig, dich meine Kleider aussuchen zu lassen.« »Meine liebe Eve, das hast du auf jeden Fall.« Er zog eine ihr unbekannte Jacke in einem warmen Bronzeton hervor und wählte dazu eine dunkelbraune Hose und einen cremefarbenen Rollkragenpullover aus. »Sei mal kühn und verwegen«, bat er sie, während er die Stücke über die Sofalehne warf. »Und trag ein Paar Ohrringe dazu. Vielleicht ein Paar kleine goldene Reifen.« Bevor sie wütend schnauben konnte, legte er die Hände sanft an ihr Gesicht und gab ihr einen herrlich warmen Kuss. »Ich liebe diesen Mund. Vor allem, wenn er sarkastische Äußerungen machen will. Hättest du vielleicht Lust auf Rührei mit Speck?«
»Mehr als dazu, irgendwelche kleinen goldenen Ringe an meinen Ohren baumeln zu haben«, gab sie knurrend zurück. Trotzdem suchte sie ein Paar heraus und zog sich zufrieden, weil er an ihr herumgemäkelt hatte, an. Doch gerade als sie sich zu ihm setzen wollte und der Kater auf die Sofalehne sprang, um sich den Speck etwas genauer anzusehen, schrillte Roarkes Handy. Er warf einen Blick auf das Display, und sie wusste Bescheid. »Geh ruhig dran«, erklärte sie, als er das Handy wieder in die Tasche schieben wollte. »Sie scheint eine echte Frühaufsteherin zu sein.« »Ich habe die Mailbox eingeschaltet. Wenn wir mit dem Essen warten, wird das Rührei kalt.« »Geh ruhig dran«, bat sie erneut. »Peabody kommt sowieso jeden Moment. Wir sehen uns dann später.« »Verdammt, Eve ...« »Später«, wiederholte sie und ging aus dem Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.
8 »Hübsche Jacke.« Als Eve in Richtung ihres Arbeitszimmers ging, kam Peabody bereits die Treppe herauf. »Die hat sicher Roarke für Sie herausgesucht.« »Wer wohl sonst? Denn offensichtlich würde ich, wenn er mich das selber machen ließe, modemäßig derartige Verbrechen begehen, dass kleine Kinder dadurch bis an ihr Lebensende traumatisiert wären und die Mehrzahl der Erwachsenen vor lauter Verlegenheit nicht wüsste, wohin sie sehen soll.« »Sie würden sich vielleicht keines Verbrechens schuldig machen, aber ein Vergehen wäre es auf jeden Fall. Wir gehen nicht in Ihr Büro? Zu Ihrem AutoChef?« »Nein.« Wütend riss Eve Summerset ihren Mantel aus der Hand und zog ihn an. »Heute scheint die ganze Welt früh aufzustehen. Ich kann nur für Sie hoffen, dass mein Wagen noch dort steht, wo ich ihn stehen gelassen habe«, schnauzte sie den Butler an. »Denn wenn ich ihn erst aus der Garage holen muss, zerre ich Sie vor die Tür und überfahre Sie damit.« »Was Sie einen Wagen nennen, steht direkt vor der Tür und beleidigt dieses Haus.« »Peabody.« Eve zeigte auf die Tür und wartete, bis ihre Partnerin draußen verschwunden war. »Ich will wissen, falls sie sich hier blicken lässt. Ich will wissen, falls sie dieses Haus betritt. Haben Sie verstanden?« »Ja.« Unbemützt und handschuhlos trat sie in die Kälte, schwang sich hinter das Lenkrad ihres Fahrzeugs und knallte die Tür hinter sich zu. »Die erste Adresse.« Peabody nannte sie ihr und räusperte sich leise. »Schlecht geschlafen?«
»Das kommt im Leben öfter vor.« »Hören Sie, falls Sie darüber reden wollen - dafür sind Partner da.« »Es geht um eine Frau.« »Unmöglich.« Diese Antwort kam so schnell und derart überzeugt, dass sie Eve unter normalen Umständen getröstet hätte, heute aber wiederholte sie: »Es geht um eine Frau. Eine, mit der er vor langer Zeit zusammen war. Es war ziemlich ernst. Jetzt ist sie plötzlich wieder da und macht sich an ihn heran. Was er einfach nicht sieht. Er sieht nicht, was sie hinter der schimmernden Fassade ist. Deshalb haben wir ein Problem.« »Sind Sie sicher ...« Ein kurzer Blick in Eves Gesicht genügte und Peabody stieß einen Seufzer aus. »Okay, Sie sind sich sicher. Er würde Sie niemals betrügen, ganz egal, mit wem. Aber trotzdem ist es natürlich ein Hammer, wenn mit einem Mal eine andere ihr Glück bei ihm versucht. Vielleicht sollten Sie mit ihr reden und ihr deutlich machen, dass das alles andere als ungefährlich für sie ist. Wir könnten sie ein bisschen aufmischen und dann mit einem Shuttle nach Sibirien verfrachten oder so.« »Das klingt wirklich gut.« Sie hielt an einer Ampel an und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Aber das kann ich nicht machen. Ich darf sie nicht anrühren, darf sie nicht einfach mit einem Hammer erschlagen und in White Plains begraben.« »Bloomfiels wäre sowieso viel besser als White Plains.« Eve stieß ein müdes Lachen aus. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Weiß nicht, wie sehr ich ihn bedrängen oder wie weit ich mich zurücknehmen soll. Ich kenne mich mit diesen Sachen ganz einfach nicht aus. Aber wahrscheinlich habe ich die ganze Angelegenheit sowieso bereits verbockt.« »Dallas? Ich finde, Sie sollten ihm sagen, wie weh Ihnen diese Geschichte tut.« »So was musste ich ihm noch nie sagen. Normalerweise sieht er mir meine Gefühle immer an.« Sie schüttelte den Kopf. »Es
macht mich völlig fertig. Es macht alles zwischen uns kaputt. Aber ich muss es vergessen und mich auf die Arbeit konzentrieren. Und das mache ich jetzt auch.« Sie erzählte Peabody von ihrem Gespräch mit Lissette Foster und dass die Hauptzutat des von ihr zubereiteten Kakaos in der Kanne mit dem Gift nicht enthalten gewesen war. »Das legt die Vermutung nahe, dass das Gift in einer identischen Kanne wie der von unserem Opfer in die Schule kam.« »Nun ...« Peabody dachte kurz darüber nach. »Meistens sind es Frauen, die Giftmorde begehen.« »Statistisch gesehen, ja.« »Lissette zufolge wusste Mirri Hallywell, dass in Craigs Kakao echte Schokolade war. Was, wenn sie ihn absichtlich weggelassen hat? Dann wäre Lissette ihr Alibi.« »Ein bisschen kompliziert, aber nicht unmöglich«, stimmte Eve ihr zu. »Oder Lissette selbst könnte die echte Schokolade aus demselben Grund absichtlich weggelassen haben.« Bevor Eve etwas sagen konnte, schränkte Peabody schon wieder ein: »Obwohl das irgendwie nicht passt.« »Trotzdem muss man häufig alle Varianten durchprobieren, bis das Puzzle endlich passt. Deshalb behalten wir auch diese Möglichkeit im Kopf.« Eve hielt am Straßenrand, und als der Blick des Türstehers auf ihren Wagen fiel, hellte sich ihre Stimmung etwas auf. »Den Schrotthaufen können Sie da aber nicht stehen lassen, Lady.« »He, wissen Sie, wie viele sexuelle Dienstleistungen meine Partnerin versprechen musste, bis sie diesen Schrotthaufen bekommen hat?« »Leistungen, die Sie hätten erbringen sollen«, erinnerte Peabody sie.
»Vielleicht tue ich das irgendwann auch noch. Aber bis dahin ...« Sie zog ihre Dienstmarke hervor. »Passen Sie auf diese Kiste auf, als wäre sie ein XR-5000 und käme frisch aus dem Autosalon. Außerdem werden Sie den - zu wem wollen wir hier, Peabody?« »Zu den Fergusons.« »Sie werden den Fergusons mitteilen, dass die Polizei mit ihnen sprechen will.« »Mr Ferguson hat das Haus bereits verlassen. Er hatte einen sehr frühen Termin.« »Dann melden Sie uns eben bei Mrs Ferguson an. Hopp, hopp.« Er wirkte nicht gerade erfreut, rief aber in der Wohnung an und zeigte ihnen, wo der Fahrstuhl war. Sie fuhren hinauf und landeten im - Chaos. Eileen Ferguson hatte ein Kind unbestimmbaren Alters auf dem Arm. Das Kleine hatte irgendeine pinkfarbene Schmiere im Gesicht und trug einen Pyjama mit Füßen, auf denen eine Herde grinsender Dinosaurier abgebildet war. Eve dachte, wenn Dinosaurier grinsten, dann, weil es gleich etwas zu essen gab. Wahrscheinlich würde sie nie verstehen, weshalb Erwachsene ihre Nachkommen mit Kleidungsstücken schmückten, auf denen man fleischfressende Ungeheuer sah. Im Hintergrund erklangen lautes Kläffen, noch lauteres Juchzen sowie wildes Geschrei, dem nicht zu entnehmen war, ob es ein Ausdruck der Freude oder des Entsetzens war. Eileen selbst trug ein rostfarbenes Sweatshirt, eine weite, schwarze Hose und puschelige, zuckerwattefarbene Hausschuhe. Sie trug ihr langes, braunes Haar in einem glatten Pferdeschwanz und ihre braunen Augen wirkten angesichts des Lärms beinahe gespenstisch ruhig. Eve fragte sich, was sie genommen hatte, bevor sie an die Tür gekommen war.
»Es geht sicher um Craig Foster. Allerdings betreten Sie die Wohnung auf eigene Gefahr.« Sie machte einen Schritt zurück. »Martin Edward Ferguson, Dillon Wyatt Hadley.« Ihre Stimme hatte einen durchaus angenehmen Klang, auch wenn sie wahrscheinlich noch im Erdgeschoss zu hören war. »Wenn ihr nicht sofort Ruhe gebt, nehme ich den Hund persönlich auseinander und werfe seine Einzelteile in den Müll. Tut mir leid, hätten Sie vielleicht gerne einen Kaffee?«, fragte sie die beiden Polizistinnen. »Ah, nein.« »Ein Terrier-Droide. In einem Anfall von totalem Wahnsinn habe ich Martin das Ding zum Geburtstag gekauft. Jetzt zahlen wir den Preis dafür.« Trotzdem merkte Eve, dass der Lärmpegel gesunken war. Vielleicht, weil schon des Öfteren etwas in Eileens Recycler gelandet war. »Nehmen Sie doch Platz. Ich setze Annie schnell in ihren Stuhl.« Der Stuhl war ein rundes, farbenfrohes Teil, an dem es Dutzende von bunten Knöpfen und rollenden Gegenständen für neugierige, kleine Finger gab. Das Ding piepste und brummte und stieß ein, wie Eve dachte, unheimliches Kichern aus. Wovon Annie allerdings begeistert war. »Es heißt, Mr Foster wäre vergiftet worden.« Eileen ließ sich in einen schwarzen Sessel fallen. »Ist das wahr?« »Mr Foster hat eine giftige Substanz zu sich genommen, ja.« »Sagen Sie mir nur, ob die Kinder in der Schule sicher sind.« »Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Schüler irgendwie gefährdet sind.« »Gott sei Dank. Ich möchte nicht, dass Martin oder irgendeinem anderen Kind etwas passiert. Aber, gütiger Himmel, ich will auch nicht den ganzen Tag mit vier Kindern hier in der Wohnung sitzen.«
»Vier?«, widerholte Eve in einem Ton, der Angst und gleichzeitiges Mitgefühl verriet. »In den Unterlagen der Schule wird nur Martin Ferguson als Ihr Kind geführt.« »Ja, aber ich habe heute Kinderdienst.« »Das heißt?« »Dass ich für die Gruppe - das heißt für Martin, Dillon von oben, Callie Yost - sie müsste jeden Moment kommen - und Macy Pink zuständig bin. Sie lebt einen Block entfernt, und wir holen sie gleich ab. Dann karre ich die Kinder in die Schule und hole sie nachher auch wieder ab. Falls die Schule einmal ausfällt oder während der unzähligen Ferientage kümmern wir uns wechselweise um die Kids. Jede Woche sind die Eltern eines anderen Kindes dran.« »Am Tag von Mr Fosters Tod kamen Sie kurz nach acht in die Schule und waren circa vierzig Minuten dort.« »Ja, ich habe die Kinder bei der Betreuung abgegeben und habe dann noch ein Dutzend Törtchen in die Küche gebracht.« »Bringen die Eltern oder Schüler regelmäßig irgendwas zu essen mit?« »Normalerweise nicht. Aber Martin hatte Geburtstag, deshalb hatte ich die Törtchen mitgebracht. Vorher habe ich die Erlaubnis dazu eingeholt. Weil man ohne vorherige Genehmigung nichts für andere Kinder zu essen mit in die Schule bringen darf. Man muss ein Formular ausfüllen und sämtliche Zutaten auflisten für den Fall, dass eins der Kinder gegen irgendwas allergisch ist oder dass es aus kulturellen Gründen, oder weil die Eltern es verbieten, irgendwas nicht essen darf.« Eileen machte eine Pause, nahm eine Reihe winzige Kleiderstücke aus einem Wäschekorb und legte sie noch winziger zusammen. »Was in meinen Augen wirklich nervig ist, aber so sind nun mal die Vorschriften. Dann müssen die Rektorin und die Küchenchefin diesen Antrag unterschreiben. Als ginge es um die nationale Sicherheit. Aber nachdem ich die
Erlaubnis hatte, habe ich die Törtchen in der Küche abgegeben und den Saft bezahlt, den ich vergessen hatte. Dann ist mir aufgefallen, dass ich Callies Schultasche statt Annies Windeltasche mitgenommen hatte, also musste ich noch mal in die Betreuung und die beiden Taschen tauschen. Woraufhin mir Annies Duft deutlich zu verstehen gegeben hat, dass es höchste Zeit für eine frische Windel war. Also habe ich auch das noch schnell erledigt. Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass all das zusammen vierzig Minuten gedauert hat.« »Wen haben Sie alles gesehen oder gesprochen, während Sie in der Schule waren?« »Nun, mit Laina, der Küchenchefin, mit Lida Krump, der Betreuerin, und mit ihrem Assistenten Mitchell. Außerdem habe ich Ms Mosebly kurz gesehen. Wir sind uns im Flur begegnet, als ich gerade wieder gehen wollte, und haben ein paar Sätze ausgetauscht. Wie geht es Ihnen, gratuliere zu Martins Geburtstag und so weiter. Craig Foster habe ich auch noch kurz gesehen. Er war auf dem Weg in den Umkleideraum der Lehrer. Ich bin nicht mal stehen geblieben, um mit ihm zu reden, sondern habe ihm nur kurz gewinkt. Ich wünschte mir, ich wäre stehen geblieben, aber man denkt immer, dass man sich auch noch später mit jemandem unterhalten kann.« »Kannten Sie ihn gut?« »So gut wie die anderen Lehrer auch. Ich bin ihm ab und zu auf der Straße begegnet und dann habe ich ihn natürlich auf den Elternabenden gesehen. Außerdem finden zweimal pro Schuljahr und wenn nötig öfter Lehrer-Eltern-Gespräche statt. Martins wegen bin ich eher regelmäßig dort«, fügte sie mit einem schwachen Lächeln hinzu. »Hatte Martin Probleme mit Mr Foster?«, fragte Eve. »Ganz im Gegenteil, er hat sogar ausgesprochen positiv auf Mr Foster reagiert. Craig hat seine Arbeit als Lehrer geliebt, das war nicht zu übersehen.« »Trotzdem wurden Sie zu Gesprächen einbestellt.«
»Oh ja.« Jetzt lachte sie sogar laut. »Sie nennen Martin >äußerst lebhaft<, was eine Lehrerumschreibung für einen echten Wildfang ist. Wir haben ihn extra auf eine Privatschule geschickt, weil dort die Klassen kleiner sind und es dort etwas strenger zugeht. Martin ist bereits viel ruhiger.« »Meistens«, schränkte sie mit einem Lächeln ein, als ein Krachen, lautes Bellen und hysterisches Gelächter aus dem Kinderzimmer drang. »Wie sieht es mit anderen Lehrern wie zum Beispiel Mr Williams aus?« »Sicher, den kenne ich auch.« Obwohl sie es beiläufig sagte, schweifte ihr Blick während des Bruchteils einer Sekunde ab. »Haben Sie ihn auch außerhalb der Schule getroffen, Mrs Ferguson?« »Nein. Ich nicht.« »Aber andere schon.« »Vielleicht. Ich weiß nicht, was das mit Craig zu tun hat.« »Sämtliche Details sind für uns wichtig. Wir wissen, dass Mr Williams eine ganze Reihe sexueller Beziehungen unterhalten hat.« »Oh, Junge.« Sie atmete hörbar aus. »Er hat eine Art Spiel gespielt - sehr subtil. Nichts, woraus ich ihm einen Strick hätte drehen können, wenn ich das gewollt hätte. Aber Frauen spüren es nun mal, wenn ein Mann bei ihnen vorfühlt. Genau wie die meisten Männer spüren, wenn eine Frau nicht zieht. Er hat sofort einen Rückzieher gemacht. Ich hatte niemals Schwierigkeiten mit ihm.« »Aber andere Frauen schon?« »Hören Sie, ich weiß, dass er sich an Jude Hadley herangemacht hat. Sie hat es mir erzählt, und sie hat mir auch erzählt, dass sie ihn auf einen Drink getroffen hat. Sie ist geschieden und war kurzfristig versucht. Aber dann ist sie zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, sich nicht auf diesen
Typen einzulassen. Vor allem, nachdem ich ihn zusammen mit Allika Straffo gesehen habe.« »Sie haben die beiden gesehen?«, fragte Eve. »Auf der Weihnachtsfeier. Es war nur ...« Sie rutschte unruhig hin und her, es war ihr deutlich anzusehen, dass sie nur sehr ungerne darüber sprach. »Mir ist aufgefallen, wie sich die beiden angesehen haben. Und einmal hat er sie berührt. Er hat ihr nur flüchtig mit der Hand über den Arm gestrichen, aber sie ist ziemlich rot geworden. Dann hat er den Raum verlassen, und ein paar Sekunden später ist sie ihm gefolgt. Zehn, fünfzehn Minuten später kamen sie unabhängig voneinander wieder herein. Aber sie hatte diesen Blick - Sie wissen schon, ganz locker und ganz weich. Wenn die beiden keinen Quickie hatten, fresse ich diesen verdammten Hundedroiden auf.« »Interessant«, erklärte Eve, als sie neben ihrer Partnerin wieder in die winterliche Kälte trat. »Allika Straffo, Mutter eines der Kinder, die den Toten finden, hatte angeblich was mit Williams. Und der wiederum hätte die Gelegenheit zu dem Mord gehabt.« »Weil Foster ihm damit gedroht hat, die Sache zu melden, wodurch auch Allika Straffo aufgeflogen wäre? Okay. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass die Drohung, sein Verhältnis mit der Mutter einer Schülerin auffliegen zu lassen, Williams derart aus dem Gleichgewicht gebracht haben soll, dass er Foster deswegen vergiftet.« »Wohingegen Straffo verheiratet ist, und zwar mit einem einflussreichen Mann. Vielleicht hat die Drohung ja sie genügend aus dem Gleichgewicht gebracht.« »Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Frau am Tattag in der Schule war.« »Ihre Tochter schon.« »Ihre ... also bitte, Dallas. Denken Sie, sie hätte ihre Tochter mit der Kanne losgeschickt? Als Auftragsmörderin?« »Vielleicht wollte die Kleine ja ihre Mami schützen.«
»Okay, warten Sie.« Peabody stieg in den Wagen und zog die Tür hinter sich zu. »Wir sollten nicht vergessen, dass wir hier von einem zehnjährigen Mädchen sprechen.« »Es ist schon öfter vorgekommen, dass Kinder töten.« Sie selbst hatte als Achtjährige ihren Vater umgebracht. Hatte wieder und wieder auf ihn eingestochen, bis er nicht mehr aufgestanden war. »Ja, aus Angst, Panik, Wut oder einem Impuls heraus. Im Allgemeinen ist es eher selten, dass ein nettes zehnjähriges Mädchen aus der Oberschicht Gift in den Kakao von einem Lehrer mischt. Das wäre ein bisschen extrem.« »Ja, das wäre es. Vielleicht war ihr ja gar nicht klar, dass sie ihn vergiften würde. Vielleicht hat Mami zu ihr gesagt: >Komm, wir spielen Mr Foster einen Streiche« »Es fällt mir schwer zu glauben, dass eine Mutter ihre Tochter einen Lehrer töten lässt, nur, damit niemand erfährt, dass sie es sich von einem anderen besorgen lässt.« Nein, dachte auch Eve, es war schwer vorstellbar. Aber ausgeschlossen war es nicht. »Trotzdem lohnt es sich bestimmt, bei ihr vorbeizufahren und kurz mit ihr zu plaudern.« Das Penthouse der Familie Straffo thronte auf einem schlanken, silbrigen Turm, durch dessen schimmernde Fenster und von dessen ausladenden Terrassen aus man den Hudson übersah. Sowohl der Portier als auch der Wachmann vor der Tür waren angemessen arrogant, gleichzeitig aber so effizient, dass die Überprüfung von Eves Ausweis schon nach wenigen Sekunden abgeschlossen war. Eine junge Frau mit einem hübschen, sommersprossigen Gesicht und karottenrotem Haar machte die Tür der Wohnung auf. Ihr irischer Akzent war mindestens so dick wie eine Scheibe braunen Brots.
Eves Magen zog sich kurz zusammen, denn als sie die Stimme hörte, dachte sie unweigerlich an Roarke. »Die gnädige Frau wird sofort bei Ihnen sein. Sie und Rayleen frühstücken nur noch schnell zu Ende. Was kann ich Ihnen bringen? Kaffee, Tee?« »Nichts, danke. Aus welchem Teil von Irland kommen Sie?« »Aus Mayo. Waren Sie schon mal dort?« »Nicht wirklich.« »Es ist einfach wunderschön, wenn Sie also jemals die Gelegenheit bekommen, die Gegend zu besuchen, sollten Sie es tun. Warten Sie, ich nehme Ihnen Ihre Mäntel ab.« »Nein danke.« Eve folgte ihr den breiten Flur hinab, aus dem man über eine Treppe in die obere Etage und durch eine Reihe hübscher Bogentüren in Räume mit riesengroßen Fenstern kam. »Wie lange arbeiten Sie schon für die Straffos?« »Seit sechs Monaten. Bitte machen Sie es sich bequem.« Sie wies auf die beiden identischen, schlanken Sofas mit den weichen Gelkissen. An der Wand stand ein eleganter, leuchtend weißer Kamin, die gespenstisch blau flackernden Flammen passten farblich zu den Stoffen in den Raum. Die Tische waren durchsichtige Würfel, in denen eine Reihe üppig rankender Grünpflanzen gedieh. »Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nichts Heißes zu trinken bringen kann? Draußen ist es heute schließlich bitterkalt. Ah, da kommt ja die gnädige Frau. Und da ist auch unsere Prinzessin.« Allika war blond wie ihre Tochter, nur wies ihr weich schwingender Bob dazu noch elegante Strähnchen auf. Ihre Augen hatten die Farbe reifer Blaubeeren und ihre Haut war weiß und weich wie Milch. Sie trug einen eng anliegenden Pulli, der zu ihren Augen passte, sowie eine schmal geschnittene, graue Hose, die zwei lange, wohlgeformte Beine vorteilhaft zur Geltung kommen ließ. Sie hielt ihre Tochter an der Hand.
Rayleen strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Mom, das sind die beiden Polizistinnen, die in der Schule waren. Lieutenant Dallas und Detective Peabody. Sind Sie hier, um uns zu sagen, dass Sie rausgefunden haben, was mit Mr Foster passiert ist?« »Die Ermittlungen in diesem Fall sind noch nicht abgeschlossen. « »Rayleen, geh jetzt bitte mit Cora in den Flur und zieh deinen Mantel an. Du willst doch nicht zu spät in die Schule kommen.« »Kann ich nicht bleiben und auch mit den beiden Polizistinnen sprechen? Das wäre wie ein Arztbesuch und würde nicht als unentschuldigtes Fehlen gelten.« »Heute nicht.« »Aber ich bin diejenige, die ihn gefunden hat. Ich bin eine Zeugin.« Obwohl Rayleen sichtlich schmollte, um- fasste Allika ihr Gesicht, küsste sie auf beide Wangen und schob sie Cora hin. »Sei ein braves Mädchen, und geh mit Cora. Wir sehen uns dann, wenn du aus der Schule kommst.« Rayleen stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Ich wünschte, ich könnte bleiben und mit Ihnen reden«, sagte sie zu Eve, ging dann aber folgsam aus dem Raum. »Sie kommt wirklich unglaublich gut mit dieser furchtbaren Sache zurecht. Trotzdem hatte sie letzte Nacht Albträume. Auch wenn das sicher schrecklich von mir ist, wünsche ich mir die ganze Zeit, ein anderes Kind hätte ihn gefunden und nicht sie. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Etwas, worüber Sie nicht vor Rayleen sprechen wollten?« »Können Sie uns sagen, ob Sie, Ihre Tochter oder Ihr Mann irgendwelche Probleme mit Mr Foster hatten?« »Probleme? Nein. Er war Rayleens Lieblingslehrer. Sie war seine beste Schülerin. Rayleen ist ein außergewöhnliches Kind. Sie war in seinem Fach die Beste ihrer Klasse. Genau wie in Literatur und Computerwissenschaft. Sie liebt die Schule.« »Wann haben Sie Mr Foster zum letzten Mal gesehen?«
»Äh, auf dem letzten Elternabend, hm, im November. Nein, nein, tut mir leid, das wird auf der Weihnachtsfeier gewesen sein. Am letzten Schultag vor den Ferien fallen immer die letzten beiden Stunden aus, dann werden die Eltern eingeladen, das Schulorchester spielt und die Kinder singen etwas vor. Manchmal ist das wirklich interessant«, fügte sie lachend hinzu. »Danach gibt es Erfrischungen. Ich habe ihn auf der Feier gesehen, kurz mit ihm gesprochen, und Rayleen hat ihm eine Kleinigkeit geschenkt. Einen Kaffeebecher, den sie in ihrem Töpferkurs gemacht hatte. Das alles ist eine furchtbare Tragödie. Ich wünschte, ich könnte sie zu Hause behalten.« Sie knetete mit ihren Fingern an ihren Oberschenkeln herum. »Aber Ray ist fest entschlossen, keinen Schultag zu verpassen, und auch meinem Mann liegt viel daran, dass alles so normal wie möglich weitergeht. Ich wurde also überstimmt«, stellte sie mit einem schnellen Lächeln fest. »Ich nehme an, die beiden haben recht, aber es fällt mir furchtbar schwer, sie nach dem, was vorgefallen ist, weiter in die Schule zu schicken, als wäre nichts geschehen.« »Hat Mr Foster je mit Ihnen über Mr Williams gesprochen?« »Über Mr Williams?« Da war es, das kurze Aufflackern von Schock, Schuldgefühlen und vielleicht ein wenig Angst. »Nicht, dass ich wüsste, nein. Weshalb hätte er das tun sollen?« »Sie und Mr Williams haben ein gutes Verhältnis.« »Ich bemühe mich um ein gutes Verhältnis zu sämtlichen Lehrern der Akademie.« »Wobei Ihr Verhältnis zu Mr Williams offenbar besonders innig ist.« »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.« Sie stand entschlossen auf, doch es wirkte eher panisch als autoritär. »Ich denke, dass Sie jetzt besser gehen.« »Sicher, kein Problem. Dann fahren wir einfach zu Ihrem Mann in die Kanzlei und unterhalten uns mit ihm.«
»Warten Sie.« Als Eve aufstehen wollte, hob Allika eine Hand. »Warten Sie, ich weiß nicht, was Sie gehört haben oder was Sie vielleicht denken, aber ...« Sie blickte Richtung Flur und atmete tief durch, als sie hörte, dass Rayleen fröhlich mit Cora plauderte, während sie aus der Wohnung ging. »Es geht Sie nicht das Geringste an.« »Alles, was mit Craig Foster zu tun hat, geht uns etwas an.« »Das ist eine private Angelegenheit. Es gibt keinen Grund, mit Oliver über Gerüchte zu sprechen, die es möglicherweise gibt.« »Wusste Foster über Sie und Reed Williams Bescheid? Hat er Ihnen oder Williams erklärt, dass er Ihr Verhältnis melden wird?« »Es war kein Verhältnis. Es war ein Ausrutscher. Ich habe die Sache bereits vor Wochen beendet.« »Warum?« »Weil ich wieder zur Vernunft gekommen bin.« Sie schob sich die Haare aus der Stirn. »Ich hatte ... wegen der bevorstehenden Feiertage hatte ich Probleme mit Depressionen. Unser Sohn, unser Trev, ist vor drei Jahren am Weihnachtsmorgen gestorben.« »Das tut mir leid, Mrs Straffo«, mischte sich Peabody in das Gespräch. »Wie ist er gestorben?« »Er ...« Allika ließ sich wieder auf das Sofa sinken. »Wir haben die Feiertage in unserem Haus ... wir hatten ein Haus in Connecticut. Er war noch nicht mal zwei. Trev. Und er war so aufgeregt wegen des Weihnachtsmanns. Er stand ganz früh auf. Es war noch dunkel, als er ... er ist die Treppe runtergefallen. Er muss gerannt sein, haben sie gesagt, muss runtergerannt sein, um zu sehen, was ihm der Weihnachtsmann gebracht hat, dabei ist er gestürzt und hat sich das Genick gebrochen ...« »Das tut mir sehr leid«, wiederholte Peabody. »Ich glaube, für Eltern gibt es nichts Schlimmeres.« »Ich bin daran zerbrochen. Erst nach monatelanger Behandlung kam ich wieder halbwegs auf die Beine. Ich glaube
nicht, dass ich je wieder die Alte werde, oder ob ich das überhaupt sollte. Aber wir haben Rayleen. Wir haben noch ein Kind, das uns beide braucht. Das Haus in Connecticut haben wir nicht mehr, aber wir haben noch Ray, und sie hat ein normales Leben verdient.« »Sie haben sich mit Mr Williams eingelassen, weil Sie unter Depressionen litten«, fasste Eve zusammen. »Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Das wusste ich auch schon, als es passierte. Um Weihnachten herum leide ich immer ganz besonders, und wenn ich leide, versuche ich, dieses Gefühl in meinem Inneren zu blockieren. Reed - das mit ihm hat mir dabei geholfen, das war alles. Es war aufregend, und es war närrisch. Oliver und ich, wir sind einfach nicht mehr dieselben wie vor Trevors Tod. Trotzdem versuchen wir, so weiterzumachen wie zuvor. Ich war dumm und egoistisch, und falls er dahinterkommt, wird ihn das verletzen. Das möchte ich nicht.« »Und wenn Foster ihm davon berichtet hätte?« »Er wusste nichts davon.« Sie legte eine Hand an ihren Hals und rieb ihn sich, als täte er ihr plötzlich weh. »Ich wüsste nicht, wie er etwas davon mitbekommen haben sollte. Er hat mir gegenüber nie auch nur die kleinste Andeutung gemacht, obwohl er - wie ich bereits sagte - auf der Feier noch mit mir gesprochen hat. Es war ein Fehler, ja, aber es war nur Sex. Und nur zweimal. Zweimal. Es hat mir nicht mehr bedeutet als Reed.« »Hat Williams Ihnen gegenüber etwas über Foster gesagt?« »Wir haben nicht viel miteinander geredet. Es war eine rein körperliche Angelegenheit, eine oberflächliche Geschichte, und dann war es auch schon wieder vorbei.« »War er unglücklich oder wütend, als Sie die Sache beendet haben?« »Nicht im Geringsten - weshalb ich mir, ehrlich gesagt, noch dämlicher vorgekommen bin.« Sie schloss die Augen, straffte ihre Schultern und machte die Augen wieder auf. »Falls Sie Oliver aus irgendeinem Grund davon erzählen müssen, würde
ich gern vorher selber mit ihm sprechen. Ich würde gern versuchen, ihm die Sache zu erklären, bevor er von Ihnen etwas davon erfährt.« »Bisher sehe ich keinen Grund, um mit ihm darüber zu reden. Falls sich das ändert, gebe ich Ihnen vorher Bescheid.« »Danke.« Sie schafften es, auch alle anderen zu sprechen, die am Tag von Fosters Tod in der Schule gewesen waren, aber keines der Gespräche brachte sie auch nur den kleinsten Schritt voran, schließlich fuhren sie aufs Revier. »Wie oft, glauben Sie, war Allika Straffo während ihrer Ehe derart dämlich?« »Ich glaube, es war das erste Mal. Sie wirkte zu nervös, zu schuldbewusst, hatte zu viele Gewissensbisse, als dass sie ihren Mann gewohnheitsmäßig hintergeht. Wollen Sie meine Meinung hören? Dieser Williams hat ihr einfach angesehen, dass sie verletzlich war, und hat das schändlich ausgenutzt. Und ich glaube nicht, dass Foster etwas davon wusste.« »Warum nicht?« »Nach allem, was wir über ihn wissen, scheint er eine grundehrliche Haut gewesen zu sein. Ich kann mir deshalb einfach nicht vorstellen, dass er sich auf dieser Weihnachtsfeier ganz normal mit Allika unterhalten hätte, wenn ihm aufgefallen wäre, dass sie es mit Williams getrieben hat. Sie hätte es gespürt, wenn er es mitbekommen hätte. Hätte es instinktiv gewusst. Wahrscheinlich war sie gleichzeitig aufgeregt und schuldbewusst, und wenn Foster sie auch nur etwas seltsam angesehen hätte, hätte sie das ganz bestimmt bemerkt. Ich glaube, es war einfach ein einmaliger Ausrutscher, sonst nichts.« »Für Sie ist Ehebruch also einfach ein kleiner Ausrutscher?« Peabody zuckte zusammen. »Okay, es ist Betrug und eine Beleidigung. Sie hat ihren Mann mit Williams betrogen und
gleichzeitig beleidigt. Damit muss sie jetzt leben. Aber Roarke wird Sie niemals auf diese Art betrügen oder beleidigen.« »Es geht hier nicht um mich.« »Nein, aber in Ihren Gedanken überlappen die Dinge sich. Und das sollte nicht sein.« Ob es das sollte oder nicht, es war nun einmal so, auch wenn ihr das keineswegs gefiel. Trotzdem ging sie weiter ihrer Arbeit nach. Das Labor fand keine Spur Rizin in dem Pulver und der Schokolade, die aus Fosters Wohnung stammte. Also hatte irgendwer das Gift erst nachträglich in den Kakao gerührt. Eve ging nochmals den zeitlichen Ablauf des Geschehens durch und fügte dabei Einzelheiten aus den morgendlichen Zeugenbefragungen ein. In der Schule hatte reges Kommen und Gehen geherrscht. Ständig waren irgendwelche Leute reingekommen, rausgegangen, rumgelaufen, hatten andere gesprochen oder wenigstens gesehen. Sie brauchte eine Verbindung zu dem Gift. Sie trat vor die Tafel mit den Fotos, ließ sich wieder in ihren Schreibtischsessel fallen, machte die Augen zu, klappte sie wieder auf, ging nochmals ihre eigenen Notizen und auch die Berichte durch, stand wieder auf und lief in dem kleinen Zimmer auf und ab. Trotzdem schweifte sie gedanklich immer wieder ab. Um sich ein wenig aufzumuntern, schraubte sie ihren Computer auf, griff dorthin, wo ein Schokoriegel im Gehäuse klebte ... ... und musste erkennen, dass das Ding verschwunden war. »Das kann ja wohl nicht sein.« Sie sah noch einen Rest des Klebebands dort, wo der Schokoriegel abgerissen worden war. Der unverschämte Schoko-Dieb hatte schon wieder zugeschlagen. Nicht zum ersten Mal erwog sie, eine Überwachungskamera und eine Wanze in dem Raum zu installieren. Dann würde sie
etwas Schokolade irgendwo verstecken und nähme den Bastard endlich hoch. Doch sie wollte nicht auf diese Art gewinnen. Denn dies war ein Kampf des Willens und des Intellekts. Der Zorn darüber, dass ihr abermals die Schokolade direkt vor der Nase weggefressen worden war, lenkte sie während der nächsten Minuten ab. Dann aber holte sie tief Luft, rief in Dr. Miras Praxis an und zwang die Sekretärin zur Herausgabe eines Termins. Sie schickte Kopien sämtlicher Dateien an die Psychologin, informierte Whitney über ihre Absicht, die Profilerin in die Ermittlungen einzubeziehen, klappte abermals die Augen zu, überlegte, ob sie einen Kaffee trinken sollte, schlief dann aber einfach ein. Sie war in dem Raum in Dallas. Es war bitterkalt und über der Tür des Sexclubs auf der anderen Straßenseite blinkte pausenlos ein schmutzig rotes Licht. Sie hatte das Messer in den Händen und an ihren Händen klebte Blut. Er lag vor ihr auf dem Boden, der Mann, der sie gezeugt hatte. Der Mann, von dem sie jahrelang geschlagen, vergewaltigt und misshandelt worden war. Dann war sie mit einem Mal nicht mehr das Kind, sondern eine erwachsene Frau. Eine erwachsene Frau, deren Arm vor Schmerzen schrie, weil er ihr als Kind gebrochen worden war. Sie hatte getan, was getan werden musste. Hatte keine andere Wahl gehabt. Es roch nach Blut und Tod. Sie hielt ihren gebrochenen Arm vorsichtig umfasst, trat einen Schritt zurück und machte auf dem Absatz kehrt, um aus dem Raum zu fliehen. Die Tür des Schlafzimmers war offen. Drinnen räkelten sich zwei Gestalten auf dem Bett. Sie waren in das rote Licht getaucht. Sein Haar war seidig weich und rabenschwarz, seine blauen Augen leuchteten und die Konturen seines prachtvollen
Gesichts, seiner muskulösen Schultern, seines straffen Rückens waren ihr bekannt. Die Frau, mit der er schlief, stöhnte vor Vergnügen und ihr langes, goldenes Haar glänzte in dem widerlichen Licht. Der Anblick war viel schlimmer als der Schmerz ihres gebrochenes Arms, als die erlittene Vergewaltigung. Hinter ihr lachte ihr toter Vater heiser auf. »Du hast doch wohl nicht wirklich erwartet, dass er bei dir bleibt? Sieh ihn dir doch nur mal an. Sieh sie dir doch nur mal an. Einer Frau wie ihr kannst du niemals das Wasser reichen. Die Welt besteht nun mal aus Lüge und Verrat.« Dann war sie wieder das kleine Mädchen, das hilflos und vor Übelkeit und Schmerz am ganzen Körper zitternd in dem kalten Zimmer stand. »Los, zahl es ihnen heim. Du weißt, wie man das macht.« Immer noch hielt sie das Messer, dessen Klinge nass und rot vom Blut war, in der Hand.
9 Wenn Blicke töten könnten, wäre Eve wahrscheinlich auf der Stelle umgefallen, als der böse Blick des Drachens, der in Miras Vorzimmer regierte, auf sie traf. Sie überlebte ihn mit Mühe und fand Mira hinter ihrem Schreibtisch vor. Wie immer wirkte Mira ruhig und gefasst. Sie hatte ihre blonden Haare etwas wachsen lassen und trug sie seit Neuestem kess gewellt. Eve hatte diesen Stil noch nie an ihr gesehen und war wie jedes Mal, wenn sich ein Mensch veränderte, etwas erschreckt. Denn es holte die Leute aus ihren gewohnten Schubladen heraus. Die Frisur sah sportlicher und jünger aus und betonte ihr reizvolles Gesicht. Mira trug eins ihrer hübschen Kostüme, dessen Farbe, wie Eve annahm, grau zu nennen war, auch wenn sie einen eher an sanft wogenden Nebel erinnerte und Miras blaue Augen irgendwie dunkler aussehen ließ. Dazu trug sie silberne Spiralen in den Ohren und eine geflochtene Silberkette mit einem durchsichtigen Stein. Eve fragte sich, ob Roarke den Aufzug wohl als telegen bezeichnet hätte, und kam zu dem Ergebnis, dass er einfach nur perfekt zu nennen war. »Eve.« Mira sah sie lächelnd an. »Tut mir leid, ich hatte noch keine Gelegenheit, mir die Akte durchzulesen.« »Ich habe mich damit ja auch zwischen Ihre anderen Termine gedrängt.« »Ich habe immer noch ein bisschen Platz. Geben Sie mir einfach eine kurze Zusammenfassung«, fuhr sie fort, während sie sich erhob und vor den AutoChef in einer Ecke ihres Arbeitszimmers trat. »Ein besonders harter Fall?« »Die Fälle sind fast alle hart.«
»Sie sehen ungewöhnlich müde aus.« »Weil ich bisher ständig in irgendwelchen Sackgassen gelandet bin. Das Opfer war Geschichtslehrer an einer Privatschule.« Während Mira ihren Lieblingsfrüchtetee bestellte, fasste sie kurz zusammen, was es zu dem Fall zu sagen gab. Mira wies auf einen Stuhl, nahm auch selber wieder Platz und hielt Eve eine der Teetassen hin. »Gift ist distanziert«, bemerkte sie, bevor sie einen Schluck aus ihrer Tasse nahm. »Dabei bleiben die Hände sauber. Es ist kein direkter Kontakt erforderlich. Meistens ist es ein Mord ohne große Leidenschaft. Die Methode wird sehr oft von Frauen gewählt. Natürlich nicht ausschließlich, aber in den meisten Fällen schon.« »Ich finde einfach kein Motiv. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass ihn jemand zum Schweigen bringen wollte. Angeblich wusste er, dass einer seiner Kollegen sich gern an Kolleginnen und Mütter von Schülern heranmacht.« »Was zu disziplinarischen Maßnahmen und schlimmstenfalls sogar zu einer Entlassung führen kann. Eine Vergiftung mit Rizin«, überlegte Mira. »Ein bisschen altmodisch und beinahe exotisch. Vor allem nicht so effizient wie andere Methoden, aber leichter erhältlich, wenn man etwas Ahnung davon hat.« »Das Zeug hat geradezu hervorragend gewirkt.« »Dann wurde dieser Mord also sorgfältig geplant, getimt und durchgeführt. Der Mann wurde nicht aus einem Impuls, aus einer Laune heraus umgebracht, sondern die Tat war sorgsam kalkuliert.« Sie balancierte ihre Untertasse so geschickt auf einem Knie, dass Eve sie dafür bewunderte, und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Natürlich ist es möglich, dass das Gift bereits irgendwo in der Umgebung des Mörders war und dass er sich wegen des leichten Zugriffes darauf für diese Methode entschieden hat. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, war dem Opfer nicht bewusst, das er in Gefahr oder dass jemand wütend auf ihn war.«
»Er ist nicht von seiner Routine abgewichen«, bestätigte ihr Eve. »Niemand, der ihm nahestand, hat etwas davon gesagt, dass er beunruhigt war.« »Wahrscheinlich hat der Mörder seinen Widerwillen, seinen Zorn und sein Motiv eine Zeitlang genährt, während er äußerlich völlig normal geblieben ist. Er hat die Details der Tat geplant und sich eine Mordmethode ausgesucht. Für ihn war dieser Mord einfach etwas Unumgängliches. Er brauchte dem Opfer nicht beim Sterben zuzusehen, brauchte es nicht zu berühren, brauchte nicht mit ihm zu sprechen. Und anscheinend war es ihm egal, dass es wahrscheinlich ein Kind oder mehrere Kinder wären, von dem oder denen die Leiche gefunden wird.« Mira dachte kurz darüber nach. »Wenn es eine Mutter oder ein Vater war, müsste ich sagen, dass es jemand ist, der seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche über die des Kindes stellt. Und wenn es ein Lehrer war, muss es jemand gewesen sein, für den die Kinder einfach ein Teil von seiner Arbeit sind, sonst nichts. Der Mord war ein Mittel zum Zweck. Er wurde effizient und mit einem Minimum an persönlicher Beteiligung des Täters oder der Täterin geplant und durchgeführt.« »Es geht ihm oder ihr nicht um Aufmerksamkeit oder Ruhm. Er oder sie ist nicht verrückt.« »Ich würde sagen, nein. Meiner Meinung nach handelt es sich um einen Menschen, der seine Arbeit ordentlich erledigt und sich obendrein an Zeitpläne halten kann.« »Ich werde mir noch mal das Kollegium ansehen. Wenn ich mich recht entsinne, sind Zeit- beziehungsweise Stundenpläne das A und O des Schulsystems. Und ein Insider hat sich bestimmt auch mit dem Stundenplan des Opfers ausgekannt.« Sie stand auf und lief ein wenig hin und her. »Außerdem ist es normal, dass Lehrer in der Schule sind. Es ist vollkommen normal, dass sie morgens dort erscheinen, denn das ist schließlich ihr Job. Es waren auch ein paar Eltern und Kindermädchen da, die etwas gebracht haben oder einen Termin
mit einer Lehrkraft hatten, aber der Mörder muss gewusst haben, dass es bei genauem Hinsehen auffallen würde, wenn sein Name auf der Eingangsliste der Schule gestanden hätte, obwohl er dort nicht hingehört.« »Könnte jemand in das Gebäude gekommen sein, ohne dass es jemand merkt?« »Das werde ich noch prüfen. Es gibt immer eine Möglichkeit, aber ich halte es in diesem Fall für unwahrscheinlich.« Eve setzte sich wieder hin und stand dann so rastlos wieder auf, dass Mira verwundert verfolgte, was sie tat. »Möglicherweise käme dadurch der Name des Täters gar nicht erst ins Gespräch, aber es wäre nicht so effizient, als wenn man einfach ganz normal zur Tür reinkommt. Und vor allem wäre es riskanter als erforderlich. Der Mord war durchaus nicht unriskant, aber wie Sie selbst gesagt haben, war es ein kalkuliertes Risiko. Ich wette, dieser Hurensohn hat die Tat mehrmals geprobt.« Sie stopfte ihre Hände in die Hosentaschen und klimperte geistesabwesend mit ein paar losen Münzen. »Wie dem auch sei, danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.« »Ich werde die Akte so bald wie möglich lesen. Dann bekommen Sie ein ausgefeilteres Profil von mir.« »Das ist nett.« »Und jetzt erzählen Sie mir, was los ist.« »Das habe ich bereits getan. Es geht um einen toten Mann. Und darum, dass es bisher noch keine konkreten Spuren gibt.« »Haben Sie kein Vertrauen zu mir, Eve?« Genau das hatte Roarke sie gestern Abend ebenfalls gefragt, und zwar in genau demselben ruhigen Ton. Plötzlich war es um sie geschehen, und bevor sie sich zusammenreißen konnte, stieß sie mit erstickter Stimme aus: »Es geht um eine Frau.« Sofort war Mira klar, dass es um ein persönliches Problem und nicht um ihren Mordfall ging. »Setzen Sie sich nochmal hin.«
»Ich kann nicht. Ich kann nicht. Da ist diese Frau, die er von früher kennt und mit der er mal zusammen war. Vielleicht hat er sie sogar geliebt. Ich glaube, er hat sie geliebt. Gott. Und jetzt ist sie wieder da und er ist ... ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich mache alles nur noch schlimmer. Ich mache alles immer nur noch schlimmer, auch wenn ich das nicht will.« »Glauben Sie, dass Roarke Sie je betrogen hat?« »Nein.« Sie presste sich die Finger vor die Augen. »Sehen Sie, ein Teil von mir würde am liebsten sagen: »Noch nicht, während dem Rest von mir bewusst ist, dass das vollkommener Unsinn ist. Das ist nicht seine Art. Aber sie ist hier und sie ist... sie ist nicht wie die anderen.« »Lassen Sie mich als Erstes sagen, dass Roarke Sie meiner persönlichen und professionellen Meinung nach auf eine Weise liebt, die keinen Raum für jemand anderen lässt. Und ich gebe Ihnen recht, es ist nicht seine Art, Sie zu hintergehen. Nicht nur, weil er Sie derart liebt, sondern auch, weil er dafür viel zu großen Respekt vor Ihnen - und sich selber - hat. Und jetzt erzählen Sie mir von dieser Frau.« »Sie ist wunderschön. Sie ist wirklich wunderschön. Sie ist jünger und hübscher, hat mehr Klasse und größere Titten als ich. Ich weiß, das klingt völlig lächerlich.« »Das tut es ganz sicher nicht. Ich kann diese Frau nicht leiden, obwohl ich ihr noch nie begegnet bin.« Eve wischte sich die Träne, die sich Bahn gebrochen hatte, von der Backe und stieß ein leises Lachen aus. »Ja. Danke. Ihr Name ist Magdalena. Aber er nennt sie manchmal Maggie.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Mir ist schlecht. Ich kann nichts mehr essen und kriege nachts kaum noch ein Auge zu.« »Eve, Sie müssen mit ihm darüber reden.« »Das habe ich bereits getan. Wir haben bereits darüber geredet, uns dabei aber immer nur im Kreis gedreht und uns gegenseitig immer wütender gemacht. Ich habe einfach keine
Ahnung, was ich machen soll.« Hin- und hergerissen zwischen Frustration und Furcht raufte sich Eve das Haar. »Ich kenne mich mit solchen Sachen ganz einfach nicht aus. Summerset hat mir erzählt, dass sie gefährlich ist.« »Summerset?« »Ja.« Miras überraschter Ton hätte Eve beinahe amüsiert. »Das ist echt der Hit, finden Sie nicht auch? Ich bin ihm tatsächlich lieber als diese Magdalena. Zumindest im Moment.« »Was mich nicht im Geringsten überrascht. Weshalb meint er, dass sie gefährlich ist?« »Er sagt, dass sie andere Menschen ausnutzt. Und dass sie Roarke vor zwölf Jahren verlassen hat.« »Das ist ganz schön lange her. Da muss er noch ziemlich jung gewesen sein.« »Ja.« Eve nickte, denn sie sah, dass Mira sie verstand. »Es verletzt einen noch mehr, wenn man jung ist, denn dann hat man noch kein dickes Fell. Sehen Sie, sie hat ihn verlassen. Was das Ganze noch viel schlimmer macht. Weil die Sache für ihn nicht erledigt ist, weil sie nie zu einem natürlichen Ende für ihn kam. Sie hat ihn damals sitzen gelassen. Und jetzt ist sie plötzlich wieder da.« Endlich nahm sie wieder auf der Kante ihres Stuhles Platz. »Wir waren in diesem schicken Restaurant. Es war ein Geschäftsessen, und ich kam wieder einmal zu spät. Ich hatte diesen Fall hereinbekommen und mich noch nicht einmal umgezogen, deshalb sah ich - na, Sie wissen schon - wie immer aus. Und dann sagte sie seinen Namen. Er hat den Kopf gedreht, und sie sah wirklich fantastisch aus. Trug ein rotes Kleid und hatte eine lange, blonde Mähne. Er hatte einen ganz bestimmten Blick, nur für einen ganz kurzen Moment, aber so lange hatte er einen ganz bestimmten Blick. Bisher hat er immer nur mich so angesehen, aber dann mit einem Mal auch sie. Nur für eine Sekunde, nein, nicht einmal so lange, nicht mal einen halben Herzschlag lang. Aber es war da. Ich habe es gesehen.«
»Davon bin ich überzeugt.« »Zwischen den beiden ist etwas. Das spüre ich genau.« »Erinnerungen, Eve, haben eine ganz eigene Macht. Das wissen Sie. Aber es macht Gefühle nicht wieder lebendig, dass man sich an sie erinnern kann.« »Er hat sich mit ihr zum Mittagessen getroffen.« »Hm.« »Er hat es mir ganz offen erzählt und sich nicht heimlich hinter meinem Rücken mit ihr getroffen, oh nein. Er hat erzählt, sie hätte einen geschäftlichen Rat von ihm erbeten. Wohingegen sie behauptet hat - sie kam zu mir ins Büro.« »Sie war bei Ihnen auf dem Revier?« Eve musste wieder aufstehen, musste sich wieder bewegen, damit sie nicht vollends die Kontrolle über sich verlor. »Sie meinte, sie wollte mich auf einen Drink einladen und ein bisschen mit mir quatschen. Hat die ganze Zeit gelächelt und getan, als ob sie meine beste Freundin wäre oder so. Aber das, was sie gesagt hat, war eindeutig etwas völlig anderes als das, was sie gedacht hat. Gott, wie dumm das alles klingt.« »Das tut es nicht«, widersprach ihr Mira ruhig. »Sie sind dafür ausgebildet, das zu hören, was die Leute Ihnen verschweigen. Und selbst wenn es um eine persönliche Sache geht, hören Sie diese Dinge immer noch heraus.« »Okay.« Eve atmete auf. »Okay. Sie hat mich unter die Lupe genommen und ein paar Bemerkungen fallen lassen, die es so haben klingen lassen, als würden sie und Roarke zusammenarbeiten. Sie spielt mit mir, und irgendwie fehlt mir der Schwung, um ihr einen Tritt in den Hintern zu verpassen, der sie aus dem Rennen wirft.« »Auch wenn es sicher ausnehmend befriedigend wäre, würde Ihr Problem dadurch noch lange nicht gelöst. Weil Roarke ihr selber diesen Tritt verpassen muss. Haben Sie ihm gesagt, wie sehr es Ihnen wehtut, wenn er sich mit dieser Magdalena trifft?«
»Ich komme mir auch so schon total dämlich vor. Schließlich hat er nichts gemacht. Und er kann nichts dagegen tun, dass mal etwas zwischen ihnen war. Es ist ganz einfach so. Das weiß auch sie und nutzt es weidlich aus. Ich fürchte, dass letztendlich er eine Entscheidung treffen muss.« »Zweifeln Sie daran, dass er Sie liebt?« »Nein, aber sie hat er zuerst geliebt.« »Wollen Sie einen Rat von mir?« »Wahrscheinlich ja, denn sonst hätte ich Ihnen das bestimmt nicht alles erzählt.« Jetzt stand auch Mira auf, nahm Eve bei den Händen und erklärte ruhig: »Fahren Sie nach Hause, legen sich ins Bett und schlafen sich erst mal aus. Nehmen Sie eine Schlaftablette, wenn's nicht anders geht, aber machen Sie auf jeden Fall ein paar Stunden die Augen zu. Und dann sagen Sie Roarke, wie Sie sich fühlen. Sagen Sie ihm, dass Sie sich dämlich vorkommen, dass es Ihnen wehtut, dass Sie aber wissen, dass er nichts verbrochen hat. Gefühle sind nicht immer rational. Deshalb sind es ja Gefühle. Sie haben ein Recht auf die Gefühle, die Sie gerade haben, und er hat das Recht zu wissen, was das für Gefühle sind.« »Klingt nach einem guten Rat. Aber selbst wenn ich allen Mut zusammennehmen würde, um mit ihm zu sprechen, geht das heute Abend nicht. Schließlich muss ich nachher in die blöde Sendung von Nadine.« »Oh, natürlich. Die Premiere von Now. Dennis und ich werden sie uns gemeinsam ansehen.« Dann tat Mira etwas, was sie nur sehr selten tat, und was Eve noch seltener gestattete: sie strich Eve mit der Hand über das Haar, beugte sich ein wenig vor und küsste sie auf die Wange. »Sie werden Ihre Sache super machen, und danach fahren Sie heim, schlafen ordentlich und sprechen anschließend mit Roarke. Vielleicht muss er eine Entscheidung treffen, aber mein
Verstand und mein Gefühl sind davon überzeugt, dass er sich für Sie entscheiden wird.« »Sie spricht fließend italienisch und französisch.« »Was für eine ausgemachte Schweinerei.« Eve schaffte es zu lachen, und dann tat sie etwas, was völlig ungewöhnlich war. Sie lehnte ihren Kopf an Miras Stirn und machte die Augen zu. »Okay«, schloss sie die Unterhaltung leise ab. »Okay.« Auch wenn sie nach dem aufwühlenden Gespräch bohrendes Kopfweh hatte, hatte sich die Übelkeit etwas gelegt, und sie bekam auch wieder besser Luft. Als sie wieder in ihre eigene Abteilung kam, sah sie, dass Peabody mit einer kleinen, schwarzhaarigen Frau an ihrem Schreibtisch saß. Als ihre Partnerin sie entdeckte, tätschelte sie ihrem Gegenüber leicht den Arm und stand eilig auf. »Hier ist der Lieutenant. Dallas, dies ist Laina Sanchez. Wir haben bereits kurz miteinander gesprochen. Vielleicht gehen wir lieber in den Pausenraum?« »Sicher.« Als Laina aufstand, konnte Eve erkennen, dass die Frau hochschwanger war. »Ich dachte, ich sollte mich bei Ihnen melden.« Laina hatte eine raue Stimme und sprach mit einem leichten spanischen Akzent. »Ich habe mit Hallie gesprochen, nachdem Sie bei ihr waren. Und weil Detective Peabody an dem Tag, an dem ... Craig gestorben ist, mit mir in der Schule gesprochen hat, bin ich hergekommen und habe nach ihr gefragt.« »Gut.« Im Pausenraum saßen bereits das alte Schlitzohr Baxter und der junge unschuldige Trueheart an einem Tisch mit einem klapperdürren jungen Kerl, der am ganzen Körper zitterte und seine Augen hinter einer dicken Spiegelsonnenbrille verbarg. Ein Funkie-Junkie, dachte Eve. Wahrscheinlich einer von Baxters Informanten. Sie ging die Akten in Gedanken durch und
überlegte, welchen Fall die beiden gerade hatten, während Peabody Laina einen Platz anbot. Es ging um einen Mord im Untergrund, erinnerte sie sich. Um einen toten Touri, der versucht hatte, jemanden in einem der schlimmsten Drecklöcher unter den Straßen von New York über den Tisch zu ziehen. Obwohl Baxter nur ganz kurz zu ihr herübersah, konnte sie an seinem Blick erkennen, dass der Junkie irgendetwas hatte, was seine Ermittlungen voranzubringen schien. Also hatte wenigstens Baxter eine anständige Spur. Sie begnügte sich mit Wasser, weil der Kaffee auf der Wache außerhalb ihres Büros schlichtweg ungenießbar war, und gesellte sich zu den beiden Frauen. »Wir wissen es wirklich zu schätzen, dass Sie hierhergekommen sind, Laina«, begann Peabody das Gespräch. »Lieutenant, Laina ist mit der U-Bahn hergekommen, und ich habe ihr gesagt, dass sie nachher heimgefahren wird. Das ist doch wohl okay?« »Na klar.« »Laina, würden Sie noch einmal für Lieutenant Dallas wiederholen, was Sie mir bereits erzählt haben?« »Okay. Ich arbeite ab und zu für Hallie. Ich weiß, das hat sie Ihnen schon erzählt. Auch, dass ich das eigentlich nicht darf. Aber ich kann das Geld einfach gut brauchen, und Hallie ist immer sehr nett zu mir. Sie hat mir erzählt, dass Sie mit ihr gesprochen haben und worum es bei dem Gespräch gegangen ist.« »Warum erzählen Sie mir nicht einfach, weshalb Sie hierhergekommen sind, Mrs Sanchez?« »In Ordnung.« Laina nickte zustimmend. »Als Erstes möchte ich bestätigen, dass Hallie an dem Morgen bei mir in der Küche war. Wir haben zusammen Kaffee getrunken, kurz über die Änderung des Menüplans für das Fest gesprochen, für das ich
kochen soll, und dann ... nun, wir haben einfach ein bisschen geplaudert, wie es Freunde tun.« Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum und legte eine Hand auf ihren dicken Bauch. »Hallie hat mir erzählt, Sie hätten nach Mr Williams gefragt und hätten wissen wollen, ob er ... ob zwischen den beiden irgendetwas war. Was völlig ausgeschlossen ist, weil sich Hallie nicht für diese Art Männer interessiert. Aber wir haben noch über etwas anderes gesprochen, was sie Ihnen nicht erzählt hat, weil sie meine Freundin ist.« »Etwa, dass etwas zwischen Ihnen und Mr Williams lief?« »Nein.« Laina wurde rot und hob eine Hand an das kleine Silberkreuz, das sie an einer Kette trug. »Nein, nein. Ich bin eine verheiratete Frau. Das heißt, dass es Grenzen gibt, die ich oder mein Mann niemals überschreiten würden. Wobei diese Grenzen aus der Sicht von Mr Williams offenbar recht dehnbar sind. Er hat mit mir geflirtet, was ich aufgrund von unseren Positionen zwar nicht wirklich angenehm, aber ziemlich harmlos fand. Aber dann hat er mich berührt. Hat mir an die Brust gefasst.« Eve sah sie abwartend an. »Und?« »Ich habe ihm mit einem Löffel auf die Hand gehauen«, erklärte Laina ihr empört. »Und zwar möglichst fest. Was er unglaublich lustig fand. Ich habe meinem Mann nichts davon erzählt. Er hätte das bestimmt nicht amüsant gefunden. Ich habe es niemandem erzählt, denn ich brauche diesen Job.« »Hat er Sie danach noch einmal belästigt?« »Er hat mich zum Essen und auf einen Drink zu sich nach Hause eingeladen. Hat mich noch einmal berührt, und obwohl ich ihm beim zweiten Mal eine Ohrfeige gegeben habe, hat er nicht aufgehört. Ich weiß, ich hätte Anzeige erstatten sollen, aber als ich gesagt habe, dass ich das machen würde, wenn er mich nicht umgehend in Ruhe lässt, hat er nur mit den Schultern gezuckt und mir erklärt, er wäre schon viel länger als ich an der Akademie und deshalb würde die Rektorin eher ihm glauben als
mir. Er meinte, er würde einfach behaupten, ich hätte mich an ihn herangemacht, und dann würde ich gefeuert und nicht er.« »Was haben Sie getan?« »Nichts. Auch wenn ich mich entsetzlich dafür schäme, habe ich es einfach nicht gewagt, irgendwas zu tun. Er hat die Küche verlassen, und ich habe versucht weiterzuarbeiten. Aber dann bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Da kam plötzlich Craig herein, sah mich weinen und fragte mich, was los ist. Ich habe es ihm nicht gesagt, aber ich nehme an, es war ihm trotzdem klar. Er musste Mr Williams vor der Tür begegnet sein, also hat er es bestimmt gewusst. Und Mr Williams hat sich nach dem Tag nie mehr an mich herangemacht. Ich glaube, Craig hat ihm gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll.« Sie trank einen Schluck von ihrem Wasser und stieß einen Seufzer aus. »Ich hätte es Ihnen gleich erzählen sollen, als Sie zum ersten Mal mit mir gesprochen haben, Detective Peabody. Aber ich habe einfach nicht daran gedacht. Alles, woran ich denken konnte, war, dass Mr Foster nicht mehr lebt. Er war so ein netter Mann und plötzlich war er tot. Ich habe an dem Tag an nichts anderes gedacht.« »Wann ist das passiert? Wann hat Craig Sie weinend in der Küche angetroffen?« »Vor den Weihnachtsferien. Es ist also schon ein paar Wochen her. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass es etwas zu bedeuten hat. Trotzdem meinte Hallie, ich sollte es Ihnen sagen. Weil Sie alles wissen müssten, was möglicherweise eine Rolle spielt. Ich wünschte mir, Sie bräuchten meinem Mann nichts davon zu sagen. Denn er wäre sicher böse auf mich, weil ich es ihm verschwiegen habe, und vor allem wäre er so wütend auf Mr Williams, dass er sofort in die Schule fahren und dort einen Riesenaufstand machen würde, weil anscheinend niemand einem solchen Kerl das Handwerk legt.«
»Es gibt keinen Grund, aus dem wir es Ihrem Mann erzählen müssten, Mrs Sanchez, aber lassen Sie mich eines sagen. Wenn Sie von diesem Williams sexuell belästigt worden sind, sollten Sie ihn anzeigen. Denn das, was er Ihnen angetan hat, tut er ganz bestimmt auch anderen an. Er sollte nicht damit durchkommen und auch nicht länger die Position bekleiden, die er an der Schule hat. Außerdem könnten Sie sich einen Anwalt nehmen und ihn auf Schmerzensgeld verklagen.« »Wer würde mir schon glauben?« »Ich.« Während Peabody Laina nach draußen brachte und jemanden suchte, der die Frau nach Hause fuhr, blieb Eve noch kurz im Pausenraum. Williams, dachte sie. Auch wenn es bisher keinen Hinweis auf Gewaltbereitschaft bei ihm gab, schien er das reinste Sexmonster zu sein. Und von offenen sexuellen Übergriffen bis zu einem Mord war es aus ihrer Sicht kein allzu großer Schritt. Auf jeden Fall hatte der Hurensohn einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten verdient. Als sie sich zum Gehen wenden wollte, gesellte sich Baxter zu ihr an den Tisch. »Dallas«, fing er an, legte den Kopf ein wenig schräg und sah sie skeptisch an. »Mannomann, Sie sehen noch schlimmer aus als das, was meine Katze öfter fängt und mit nach Hause schleift.« »Für Sie immer noch Lieutenant Mannomann, und lecken Sie mich am Arsch.« »Womit man bei Ihrem Hintern recht schnell fertig wäre. Aber wie dem auch sei, wir haben eine heiße Spur im Fall Barrister.« »Der Tourist aus Ohio, stimmt's?« »Omaha. Was das Gleiche ist. Der besorgte Bürger, den Trueheart gerade rausbegleitet, hat sich als Zeuge zur Verfügung gestellt.« »Ist der Jammerlappen einer Ihrer Informanten?«
»Ja.« Baxter setzte sich gemütlich auf den Tisch. »Die Sache ist die, er hat gesehen, wie es passiert ist, ist dann aber erst mal abgetaucht, bevor er sich bei mir gemeldet hat. Das Opfer war im Untergrund, in Höhe Ecke Broadway-Achtunddreißigster. Im Fegefeuer. Kennen Sie den Laden?« »Ja, ein Sadomaso-Schuppen, in dem man obendrein alle Arten von Stimmungsmachern kriegen kann. Sie bringen dort allabendlich gespielte Menschenopfer dar. Nach einer langen Schicht fahre ich dort gern vorbei, um mich ein bisschen zu entspannen.« Baxter sah sie grinsend an. »Habe ich mir's doch gedacht. Das Opfer kommt also hereingeschlendert. Hat eine dicke Uhr am Arm, blank polierte Schuhe und kehrt den dicken Macker raus. Mietet sich einen Sklaven und zahlt für das Deluxe-Fesselungspaket.« »Deluxe?« »Ketten, Peitschen, Ball Gags in verschiedenen Farben, Mini-Elektroschocker, Halsband und Hundeleine. All das für drei volle Stunden.« »Was, keine Kostüme?« »Kostüme gehören zum Super-Deluxe-Paket. Aber er hat sich einen der Schaukästen geleistet, damit ihn jeder sehen kann.« »Wie nett.« »Nur will er sich vorher ein bisschen puschen, also macht er sich an Sykes heran.« Baxter war, was Kaffee anging, weniger verwöhnt als Eve, und so trat er vor den AutoChef und gab seinen Code in die Maschine ein. »Wollen Sie auch einen?« »Ich kann sehr gut leben, ohne dass ich ein Gemisch aus Dreck und Pferdepisse trinke. Vielen Dank.« »Aber er will eine Gratisprobe, bevor er irgendwas bezahlt. Sykes erklärt ihm, dass er sich verpissen soll, aber der Kerl gibt einfach keine Ruhe. Meint, er hätte jede Menge Geld dabei, wollte aber erst mal sehen, ob sich die Investition auch lohnt. Hält Sykes ein dickes Bündel Scheine hin. >Gib mir eine
Kostprobe, und wenn sie mir gefällt, nehme ich eine ganze Tüte von dem Zeug.< Daraufhin meint Sykes, der selbst schon jede Menge eingeworfen hat: >Hier hast du deine Kostprobe, du Arschgesicht, wollen wir doch mal sehen, wie sie dir gefällt.« Und dann rammt er ihm ein paar Dutzend Mal sein Messer in den Bauch.« Eve wartete, bis Baxter wieder saß. »Was der Kerl bestimmt verstanden hat.« »Haha. Nachdem er ihm eindeutig zu verstehen gegeben hat, dass es keine Gratisprobe gibt, schleift Sykes den toten Barrister aus dem Club und legt ihn einfach auf der Treppe Richtung Broadway ab. Wo er von zwei dämlichen Collegekids gefunden wird, denen der Sinn nach einem Abenteuer unter den Straßen von Big Apple steht.« »Eine urbane Fabel. Wissen Sie, wo dieser Sykes zu finden ist?« »Ich habe ein paar Adressen, wo er hin und wieder unterkommt. Ich denke, erst einmal versuche ich mein Glück da, wo der Kerl gemeldet ist. Schließlich will ich versuchen, meinen Kleinen oben auf der Straße zu behalten. Weil der Untergrund der reinste Dschungel ist.« »Schließen Sie den Fall am besten noch heute ab, egal auf welchem Weg.« »Ich dachte, wenn wir den Typen erst mal haben, lasse ich Trueheart die Vernehmung durchführen, damit er etwas Übung kriegt.« Wahrscheinlich täte es dem braven, unerfahrenen Trueheart wirklich gut, und vor allem würde Baxter darauf achten, dass dieses Verhör nicht aus dem Ruder lief. »Halten Sie das, wie Sie wollen. Und beziehen Sie die BTM-Abteilung in die Sache ein, damit auch wegen der Drogenkiste Anklage erhoben wird. Aber vorher bringen Sie die Mordanklage unter Dach und Fach.« »Genauso habe ich es vor. Oh, und Hals- und Beinbruch.« »Was?«
»Das wünscht man den Leuten vor einem Auftritt, auch wenn das in meinen Ohren ziemlich dämlich klingt. Ich spreche von Noiv. Von Ihrem Auftritt bei Nadine.« »Himmel«, war alles, was sie sagte, ehe sie den Raum verließ. Sie traf Peabody vor dem Süßigkeitenautomaten vor ihrer Abteilung an. Mit größter Konzentration ging ihre Partnerin die Angebote durch. »Energie- oder Goo-Goo- Riegel?«, überlegte sie. »Natürlich ist der Energieriegel ernährungstechnisch ausgewogen, aber der Goo-Goo- Riegel ist ganz einfach köstlich und ruft, bis die Schuldgefühle kommen, ein Gefühl der Freude in mir wach. Was von beidem soll ich also nehmen?« »Sie werden doch sowieso die künstliche Schokolade und den Zucker wählen. Warum also quälen Sie sich vorher so?« »Bitte, Lieutenant, die Qual gehört einfach dazu. Also gut, ich werde den Goo-Goo-Riegel nehmen. Wollen Sie auch einen?« Was sie wollte, war der Schokoriegel, der ihr dreist gestohlen worden war, aber das sollte nun einmal nicht sein. »Okay.« Während das Gerät die Goo-Goo-Riegel-Melodie erklingen ließ und die ernährungstechnischen Angaben herunterratterte, bis Eve am liebsten mit einem Hammer auf den Kasten eingedroschen hätte, standen die beiden Frauen einträchtig kauend da. »Ich will diesen Williams zu einer Vernehmung auf die Wache holen lassen. Am besten von zwei möglichst großen, kräftigen, grimmig dreinblickenden Kollegen in Uniform.« »Gute Idee. Macht ihm bestimmt ein bisschen Angst und wirkt gleichzeitig so, als hätten Sie selbst Wichtigeres zu tun, als ihn abholen zu gehen.« »Wir nehmen Verhörraum B. Baxter und Trueheart holen gerade einen Verdächtigen im Mordfall Barrister auf das Revier, also überlassen wir ihnen Verhörraum A.« »Ich kenne zwei Beamte, die wären perfekt dafür geeignet, Williams in der Schule abzuholen.«
»Schicken Sie sie hin.« Eve blickte auf den Rest von ihrem Goo-Goo-Riegel und runzelte die Stirn. »Wird Ihnen von den Dingern auch ein bisschen schlecht?« »Oh, ja, das gehört einfach dazu.« Eve drückte ihr die zweite Hälfte ihres Riegels in die Hand. »Los, hauen Sie rein. Während Sie die Kollegen instruieren, werde ich versuchen, Reo zu becircen, damit sie uns einen Durchsuchungsbefehl für Williams' Wohnung und seine elektronischen Geräte organisiert.« Eve rief die stellvertretende Staatsanwältin an und hörte, dass die hübsche Blondine bereits auf der Wache war. Also trafen sie sich in Eves Büro, denn da schmeckte wenigstens der Kaffee. »Wissen Sie«, fing Reo an, »man sollte meinen, dass bei diesem Wetter alles ein bisschen langsamer läuft als sonst. Aber trotz der Kälte, des Eises und des Windes machen die Vergewaltiger, die Mörder und die Räuber einfach weiter wie bisher.« Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und nickte anerkennend mit dem Kopf. »Irgendwie macht mich das stolz darauf, New Yorkerin zu sein.« »Wir lassen uns unsere Verbrechen nicht vom Winter miesmachen. Also, zu meinem toten Lehrer ...« Eve brachte sie auf den neuesten Stand und brachte ihre Bitte vor. »Wird diese Sanchez Anzeige erstatten?« »Das kann ich nicht sagen. Im Moment hat sie vor allem Angst, dass ihr Mann etwas davon erfährt und dann diesen Williams fertigmacht. Aber sie war freiwillig hier und hat es uns auch freiwillig erzählt. Dieser Kerl hat eine Schule zu seinem Jagdrevier gemacht.« »Haben Sie den Verdacht, dass er auch Jagd auf Schülerinnen macht?« »Ich habe nichts, was darauf hinweist, aber ausgeschlossen ist es nicht. Für mich sieht es so aus, als hätte das Opfer ein eindringliches Gespräch mit ihm geführt. Sonst hätte Williams keinen Grund gehabt, nicht weiter sein Glück bei Sanchez zu
versuchen. Anderen Aussagen zufolge hat Craig ihn in einer kompromittierenden Situation mit jemand anderem gesehen. Die Schule ist für einen Kerl wie Williams nicht nur ein guter Arbeitsplatz, an dem er ordentlich bezahlt wird, nette Vergünstigungen genießt und sich als Lehrer profilieren kann, sondern bietet obendrein einen unerschöpflichen Vorrat an mehr oder weniger willigen Gespielinnen.« »Himmel.« Reo trank den nächsten Schluck Kaffee. »Warum habe ich bisher noch nie einen so netten Typen abgekriegt?« »Sie können sich ja Briefe schreiben, wenn er erst verurteilt ist und hinter Gittern sitzt.« »Das wäre sicher nett.« »Also, falls das Opfer ihm damit gedroht hat, ihn auffliegen zu lassen, hat er vielleicht beschlossen, die Gefahr dadurch zu bannen, dass er ihn eliminiert.« »War er schon mal gewalttätig, hat er irgendwelche Vorstrafen, wurde er schon einmal angezeigt oder verklagt?« »Nein, aber irgendwo muss man schließlich anfangen. Die Indizien reichen allemal, um sich in seiner Wohnung umzusehen.« »Vielleicht. Ich kann auf jeden Fall versuchen, Ihnen den Durchsuchungsbefehl zu besorgen«, stimmte Reo zu. »Aber, dass der Kerl ein Schwein ist, heißt nicht, dass er auch ein Mörder ist. Also finden Sie einen Beweis dafür, dass er die Tat begangen hat.« Reo wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen. »Übrigens, ich freue mich schon drauf, Sie und Nadine nachher im Fernsehen zu sehen.« Eve legte einfach seufzend ihren Kopf zwischen den Händen ab. Dann rief sie ihren Freund und den Leiter der Abteilung für elektronische Ermittlungen, Captain Feeney, an.
Irgendwie empfand sie es als tröstlich, als sie sein angenehm verlebtes Gesicht mit den dicken Tränensäcken unter den Augen und dem wirren rötlichgrauen Haar auf dem Bildschirm sah. »Ja.« »Ich brauche einen deiner Leute, und da Peabody mich heute nicht geärgert hat, hätte ich, wenn möglich, gern McNab. Er soll mit uns zu einer Wohnung fahren und sich dort die elektronischen Geräte ansehen. Der Durchsuchungsbefehl ist unterwegs.« »Wer ist tot? Jemand, den ich kenne?« »Ein Lehrer von einer Privatschule. Wurde mit Rizin vergiftet.« »Ja, ja, davon habe ich bereits gehört. Unterrichten ist eben ein gefährliches Geschäft. Du kannst meinen Jungen haben.« »Danke. Äh ... ja, Feeney, hat dir deine Frau je Scherereien wegen ... anderer Frauen gemacht?« »Wegen was für anderen Frauen?« »Ich meine, zum Beispiel als du mich ausgebildet hast und auch später, als wir Partner waren, haben wir ziemlich eng zusammengearbeitet.« »Moment mal. Du bist eine Frau?« Diese Frage brachte sie zum Lachen und sie sagte sich, dass sie ganz einfach eine Närrin war. »So sieht's zumindest aus. McNab soll uns in einer Viertelstunde in der Tiefgarage treffen. Danke, dass du ihn mir borgst.« McNab sah von den Spitzen seiner langen, weich schimmernden Haare über die unzähligen kleinen Silberkugeln in den Ohrläppchen bis zu den plateausohlenbewehrten, violetten Airboots wie die reinste Modepuppe aus. Sein orangefarbener knöchellanger Parka trieb einem die Tränen in die Augen, und die Rollmütze, die er trug, wies ein Zickzackmuster in den beiden Farben auf.
Aber trotz seines aus Eves Sicht fragwürdigen modischen Geschmacks war er ein grundsolider elektronischer Ermittler, seine Finger waren flink und seine grünen Augen scharf. Er streckte sich auf der Rückbank ihres Wagens aus, und wenn Eve richtig sah und Peabodys verstohlenes Kichern richtig deutete, schob er heimlich seine Hand zwischen dem Vordersitz und der Beifahrertür nach vorn und kitzelte seine Lebensgefährtin fröhlich durch. »Wenn Sie diese Hand auch weiterhin benutzen wollen, Detective«, herrschte Eve ihn an, »rühren Sie meine Partnerin damit erst in Ihrer Freizeit an.« »Sorry. Ihre Partnerin beraubt mich einfach meiner Willenskraft.« »Machen Sie so weiter, und ich breche Ihnen jeden Finger einzeln«, warnte Eve, während sie vor dem Gebäude hielt, in dem Williams' Wohnung lag. Zwar gab es in dem Haus keinen Portier, dafür aber einen wirklich guten Scanner, der erst ihrer alle Dienstausweise überprüfte, ehe er die Tür mit einem leisen Klick aufgehen ließ. Außerdem war das Foyer nicht nur mit ein paar Stühlen und einer künstlichen Palme, sondern auch mit diversen Überwachungskameras bestückt. »Fünf-E«, erklärte Peabody. Sie betraten einen der beiden Fahrstühle und fuhren in den fünften Stock hinauf. »So schick hat Foster nicht gewohnt.« »Williams ist seit beinahe fünfzehn Jahren Lehrer. Außerdem hat er den Masterabschluss und deshalb wahrscheinlich gut das Vierfache verdient. Außerdem kann ein Lehrer leicht noch etwas nebenher verdienen, indem er Privatnachhilfe gibt.« Peabody und McNab verschränkten ihre kleinen Finger, ließen aber, als die Tür des Fahrstuhls aufging, wieder voneinander ab. »Rekorder an«, erklärte Eve und zog ihren Generalschlüssel hervor. »Lieutenant Eve Dallas, Detective Delia Peabody und
Detective Ian McNab betreten die Wohnung von Reed Williams. Sie haben einen gültigen Durchsuchungsbefehl.« Während sie sich um die Schlösser kümmerte, wies sie den elektronischen Ermittler an: »McNab, ich möchte, dass Sie sich sämtliche Daten- und Kommunikationsgeräte, Schreiben, Gespräche, Sachen, die er sich angesehen, und Sachen, die er gekauft hat, angucken. Das ganze Programm.« Stirnrunzelnd sah sie sich in der Wohnung um. Obwohl der Wohnbereich nicht gerade riesig war, kam er ihr mindestens so groß wie Fosters gesamtes Apartment vor. Die Aussicht war nicht gerade berauschend, aber es gab eine breite, schwarz schimmernde Gelcouch, Unmengen glänzenden Chroms, eine todschicke Entertainment-Anlage sowie einen Stimmungsmonitor. Die Bilder an den Wänden waren nüchtern und modern. Ein Kreis, eine Linie, alles in Primärfarben auf Weiß. Vor den Fenstern waren Sichtschutzblenden angebracht. Eve bog um eine Ecke und kam in die Küche, die genauso kühl und elegant wie der Wohnraum war. Weiß, schwarz, rot. Die Geräte, die es gab, wirkten neu und waren sicher alle hochmodern. »Übernehmen Sie die Küche, Peabody. Falls er mit Gift hantiert, ist er vielleicht dumm oder arrogant genug, es irgendwo hier zu verwahren. Ich gehe währenddessen rüber ins Schlafzimmer.« Ein wahrhaft beeindruckender Raum. Wahrscheinlich dachte Williams, dass er sexy war. Wohingegen sie ihn eher als etwas unheimlich empfand. Mittelpunkt des Zimmers war das breite Bett, auf dem eine rot schimmernde Tagesdecke lag. Links und rechts der Schlafstatt hatte Williams dicke schwarze Kunstfellteppiche gelegt. Der beleuchtete Spiegel, der unter der Decke hing, wirkte genau wie die Bleistiftzeichnungen von gut bestückten Männern und vollbusigen Frauen, die es in verschiedenen Positionen miteinander trieben, einfach lächerlich.
Sie hob die rot schimmernde Tagesdecke an, unter der ein schwarz glänzendes Laken über einer Gelmatratze lag, die sich unter Druck bewegte. Bäh. In den Schubladen des Nachtschranks fand sie jede Menge Sexspielzeug, ein paar Muntermacher sowie eine Reihe illegaler, sogenannter Date Rape Drugs, das hieß Drogen, mit denen eine Frau sich gegen ihren Willen sexuell gefügig machen ließ. »Du machst es uns erstaunlich leicht«, murmelte sie gut gelaunt, packte alles ein und trat vor Williams' Schrank. Auf der einen Seite waren seine Arbeitskleider - ein paar Anzüge, Sportsakkos, Hemden, Hosen - aufgehängt. Auf der anderen hing die Freizeitkleidung, die erheblich lässiger war. Ob es wirklich Frauen gab, denen es gefiel, wenn ein ausgewachsener Mann einen schwarzen Catsuit trug? »He, Dallas, das müssen Sie sich ...« Pfeifend blieb McNab in der Tür des Zimmers stehen. »Wow. Wilde Sexspiele.« Dann sah er sich eins der schwarz gerahmten Bilder aus der Nähe an. »Die beiden müssen Gliedmaßen aus Gummi haben.« Er kratzte sich am Hals und beugte sich ein wenig vor, um sich das Bild aus einer anderen Perspektive anzusehen. »He, was tun Sie da?« »Huh? Oh, tut mir leid, ich war kurzfristig abgelenkt. Sex scheint die Religion von diesem Kerl zu sein. Auf eine kranke Art durchaus bewundernswert. Er bringt jede Menge Zeit in irgendwelchen Chatrooms und auf irgendwelchen Websites zu, dabei geht es ausnahmslos um Sex. Außerdem bestellt er jede Menge Spielzeug der besonderen Art.« »Ja, er hat einen ziemlich großen Vorrat hier. Darunter auch ein bisschen Rabbit und ein bisschen Whore.« McNabs Belustigung verflog. »Das ist nicht bewundernswert. Nicht einmal auf eine kranke Art.« »Irgendwelche Mails von unserem Opfer?« »Auf diesem Computer nicht.«
»Nachforschungen über Rizin oder ein anderes Gift?« »Nichts. Aber ich kann die Kiste mit auf die Wache nehmen und sie mir genauer ansehen. Vielleicht hat er diese Dinge ja versteckt. Alles, was ich außer seinen Ausflügen in irgendwelche Chatrooms und seinen Bestellungen bisher gefunden habe, hatte mit seinem Job zu tun. Stundenpläne, Noten, lauter solches Zeug. Nichts, was nicht gepasst hätte.« Mit einem Mal sah er sich suchend um. »Ich wette, er hat irgendwo hier eine Kamera versteckt. « »Meinen Sie? Eine Kamera?« Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Spiegel. »Fünf zu eins, dass er hier irgendwo so ein Ding hat. Soll ich mich mal umgucken?« »Meinetwegen, tun Sie das.« Sie ging in das angrenzende Bad, um sich dort umzusehen. »Aber die Lade mit dem Spielzeug rühren Sie nicht an.« »Ah. Sie sind einfach eine Spielverderberin.«
10 Auch wenn sich Williams bisher weder mit dem Gift noch mit Craig Fosters Tod in Verbindung bringen ließ, fanden sie genug, um ihm ernsthafte Probleme zu bereiten, dachte Eve. Um die Sache abzuschließen, schickte sie ein Team der Spurensicherung in seine Wohnung und bereitete sich dann auf die Vernehmung vor. »Wir fangen mit dem Mord, mit ein paar Routinefragen dazu an«, erklärte sie ihrer Partnerin. »Bisher wollte er keinen Anwalt haben. Er ist ganz schön selbst- bewusst.« »Meiner Meinung nach denkt dieser Kerl fast ausschließlich mit seinem Schwanz.« »Da haben Sie wahrscheinlich recht. Also nutzen wir das aus. Spielen die harmlosen jungen Frauen. Die kurze Durchsicht der Disketten, die McNab gefunden hat, legt die Vermutung nahe, dass er es am liebsten mit mehreren Frauen gleichzeitig treibt. Also stellen wir erst mal ein paar Fragen nach dem Opfer, konfrontieren ihn dann mit den illegalen Drogen, die wir in seinem Schlafzimmer gefunden haben, und kommen danach noch mal auf den Mord zurück.« Sie müssten jonglieren, überlegte Eve, als sie in den Verhörraum ging. Müssten dafür sorgen, dass der Kerl das Gleichgewicht verlor. »Wurde auch allmählich Zeit. Wissen Sie, wie lange ich schon warte?«, wollte Williams wissen. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es sich für mich als Lehrer macht, wenn mich zwei Muskelprotze in Uniform vor den Augen meiner Schüler aus der Klasse zerren?« »Über Ihr Ansehen als Lehrer werden wir uns gleich noch unterhalten. Erst einmal muss ich den Rekorder einschalten und
Sie über Ihre Rechte und Pflichten aufklären. Weil dies schließlich eine offizielle Vernehmung ist.« »Sie müssen mich über meine Rechte aufklären?« Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm einen leichten elektrischen Schlag versetzt. »Bin ich etwa verhaftet?« »Oh nein, natürlich nicht. Aber wie gesagt, dies ist ein offizielles Verhör und die vorgeschriebene Verfahrensweise dient ausschließlich Ihrem Schutz. Möchten Sie noch etwas anderes trinken als das Wasser, das Sie bereits haben? Vielleicht einen Kaffee - er ist wirklich widerlich eine Limo oder so?« »Ich will endlich anfangen, denn umso schneller kann ich wieder gehen.« »Wir werden versuchen, möglichst schnell zu machen.« Sie gab die Namen aller Anwesenden in den Rekorder ein und klärte Williams über seine Rechte sowie seine Pflichten auf. »Haben Sie verstanden, Mr Williams?«, fragte sie am Schluss. »Natürlich habe ich verstanden. Was die Sache nicht weniger lästig macht.« »Das glaube ich Ihnen gern. Und jetzt lassen Sie uns darüber sprechen, wo Sie an dem Tag, an dem Craig Foster ermordet wurde, überall gewesen sind.« »Himmel! Das habe ich doch alles schon erzählt. Ich habe umfänglich mit Ihnen kooperiert.« »Hören Sie.« Eve nahm ihm gegenüber Platz und streckte gemütlich ihre Beine vor sich aus. »Es geht hier um Mord, und zwar um einen Mord, der an einer Schule begangen wurde, weshalb eine ganze Reihe Minderjähriger davon betroffen ist.« Sie drehte die Hände mit den Handflächen nach oben, wie um ihm zu zeigen, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als die ganze Sache noch einmal mit ihm durchzugehen. »Wir brauchen sämtliche Details. Menschen vergessen häufig Dinge, die für sie nicht wichtig sind, deshalb führen wir diese Gespräche routinemäßig mehrfach durch.«
»Tut uns leid, wenn Ihnen das Umstände bereitet«, fügte Peabody hinzu und sah Williams mit einem verständnisvollen Lächeln an. »Aber wir müssen nun mal gründlich sein.« »Also gut, in Ordnung. Aber versuchen Sie, heute alles richtig zu machen, ja?« Oh ja, das würden sie. Er war wirklich ungeheuer selbstbewusst und es offenbar gewohnt, Frauen einzuschüchtern, dachte Eve. »Wir werden unser Bestes geben. Ihrer und den Aussagen anderer zufolge haben Sie das Opfer am Tag seines Todes mindestens zweimal gesehen beziehungsweise gesprochen. Ist das korrekt?« »Ja, ja, ja. Ganz früh im Fitnessraum und dann, kurz vor Beginn des Unterrichts, noch mal im Lehrerzimmer. Aber das habe ich doch alles schon erzählt.« »Worüber haben Sie und Mr Foster im Fitnessraum gesprochen?« »Wir haben nicht gesprochen. Das habe ich auch schon gesagt.« Eve blätterte in ihrer Akte. »Mmm-hmm. Aber Sie und das Opfer hatten vorher häufiger Gelegenheit zu Gesprächen, stimmt's?« »Meine Güte, natürlich. Schließlich waren wir Kollegen. « »Gab es auch irgendwann mal Streit?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Eve faltete die Hände auf der Akte und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Dann lassen Sie mich deutlicher werden. Als Mr Foster Ihnen Vorhaltungen gemacht hat, weil Sie sowohl unter den Angestellten als auch unter den Müttern auf die Suche nach Sexualpartnerinnen gehen, war das doch bestimmt nicht allzu angenehm.« »Ich finde diese Unterstellungen beleidigend.« »Wir haben Aussagen von Frauen, die behaupten, Sie hätten sie belästigt oder gar verführt, in deren Augen ist Ihr Verhalten ebenfalls in höchstem Maß beleidigend gewesen.« Immer noch
lächelnd klappte sie die Akte wieder zu. »Kommen Sie, Reed, wir wissen doch, wie diese Dinge laufen, Sie und ich. Diese Frauen haben sich nicht beschwert. Sie haben sich über die Aufmerksamkeit gefreut, die Sie ihnen geschenkt haben, und die Aufregung hat ihnen gefallen. Sie haben sie nicht dazu geprügelt und sie vergewaltigt. Nein, die Frauen haben ausnahmslos freiwillig mitgemacht, und Foster hat ganz einfach seine Nase in eine Angelegenheit gesteckt, die ihn nicht das Geringste angegangen ist.« Williams atmete tief ein. »Eins will ich Ihnen sagen. Ich habe nie geleugnet, dass ich ein gewisses Maß an sexuellem Erfolg bei Frauen habe. Es ist nicht verboten, derartige Erfolge auch mit Kolleginnen oder mit Müttern von Schülern zu genießen. Höchstens ein wenig unethisch.« »Nun, es ist durchaus verboten, sexuelle Handlungen in einer Schule zu vollziehen, während Minderjährige anwesend sind. Falls Sie also derartige Erfolge während der Unterrichtszeiten auf dem Schulgelände hatten - wo Sie schließlich einen beachtlichen Vorrat an Kondomen aufbewahren -, haben Sie sich durchaus strafbar gemacht. « »Das ist ja wohl totaler Schwachsinn.« »Vielleicht ist es ein bisschen kleinlich, jetzt darauf herumzureiten, das gebe ich zu, aber ich muss mich an die Gesetze halten. Ich kann mit der Staatsanwaltschaft sprechen, dass sie das Verfahren einstellt, aber dafür brauche ich Details.« »Ich hatte nie irgendwo Sex, wo Schüler Zutritt hatten.« »Okay, das ist schon mal ein Plus. Aber Sie hatten Sex an Orten, zu denen das Opfer Zutritt hatte. Richtig?« »Könnte sein. Aber wir sprechen hier von einem erwachsenen Mann. Ich wüsste wirklich gerne, was Sie damit gemeint haben, als Sie behauptet haben, ein paar der Frauen, die etwas über ihre Beziehung zu mir zu Protokoll gegeben haben, hätten meine Avancen als beleidigend empfunden.«
»Ich darf Ihnen keine Namen nennen. Das ist Teil der Abmachung mit diesen Frauen. Wie gesagt, für mich ist offensichtlich, dass es immer nur mit ihrem Einverständnis zu sexuellen Handlungen gekommen ist. Wer weiß, warum sie plötzlich etwas anderes erzählen.« »Ich würde sagen, dieser Mord hat sie aus dem Gleichgewicht gebracht«, warf Peabody ein. »Diese Frauen sind es nicht gewohnt, mit der Polizei zu sprechen, vor allem nicht über etwas so Schockierendes wie einen Mord, deshalb ist ihnen manches vielleicht einfach rausgerutscht. Trotzdem müssen wir der Sache nachgehen, Mr Williams. Es ist nicht gerade die Art von Arbeit, die wir gerne tun. Leben und leben lassen, ist meine Devise auf diesem Gebiet. Nur ist es eben einfach Vorschrift, dass solchen Behauptungen von unserer Seite nachgegangen wird.« »Ich hatte Sex, wobei kein Mensch jemals zu Schaden kam. Schluss, aus.« »Was Craig Foster nicht gebilligt hat«, fügte Eve hinzu. »Für einen Mann mit einer derart heißen Frau konnte er ganz schön puritanisch sein.« »Haben Sie sich auch an sie herangemacht?« »Ich habe einmal bei ihr vorgefühlt, als er an unserer Schule angefangen hat. Aber damals hatte sie nur Augen für ihn. Vielleicht hätte ich es nochmal versucht, jetzt, da ihre Ehe allmählich Routine war. Aber neben ihr gibt es noch jede Menge anderer Frauen. Und ich bin wirklich gut.« »Davon bin ich überzeugt. Meinen Sie, dass Craig deshalb vielleicht ein bisschen eifersüchtig war?« Williams zog die Brauen hoch. »Der Gedanke ist mir nie gekommen, aber ja, vielleicht. Wahrscheinlich war es so. Er war ein netter Kerl und ein wirklich guter Lehrer, das muss ich ihm lassen. Im Grunde kamen wir auch prima miteinander aus. Aber dann wurde er etwas zu neugierig und hat sich in Dinge eingemischt, die ihn nichts angingen.« »Hat er Ihnen gedroht?«
»So würde ich es nicht nennen.« »Wie dann?« »Er hat mir einen Vortrag gehalten.« Williams rollte mit den Augen. »Haben Sie Ihre Aktivitäten infolge dieses Vortrags eingestellt?« »Vielleicht war ich etwas diskreter. Habe die Frauen und die Orte ein bisschen sorgfältiger ausgewählt«, räumte er schulterzuckend ein. »Schließlich hätte es keinen Sinn gehabt, weiter Aufsehen zu erregen.« »Aber Sie hatten keine Angst davor, dass er wegen dieser Angelegenheit vielleicht zu Ihrer Rektorin oder sogar über deren Kopf hinweg zum Verwaltungsrat der Schule geht?« Jetzt sah Williams sie mit einem gut gelaunten Lächeln an. »Das hätte er sich nie getraut. Er hat nie gern Aufheben um irgendwas gemacht. Im Grunde war mir vollkommen egal, dass er etwas von meinen Aktivitäten mitbekommen hat.« »Nun.« Eve zupfte an ihrem Ohr. »Vielleicht war es ihm ja nicht egal, vor allem, falls er wusste, dass Sie bei einigen Ihrer privaten Spielchen illegale Substanzen anwenden.« »Was?« »Drogen namens Whore und Rabbit, wie wir sie in der Spielzeugschublade in Ihrem Schlafzimmer gefunden haben. Oh, habe ich etwa vergessen zu erwähnen, dass wir dank der Informationen, die wir hatten, und der Aussagen der Frauen einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Apartment bekommen haben? Sie sind wirklich ein schlimmer Junge, Reed. Ein schlimmer, schlimmer Junge.« »Das ist einfach unglaublich! Sie haben mich in eine Falle gelockt!« »Hier ist der Durchsuchungsbefehl.« Eve zog den Ausdruck aus dem Ordner und schob ihn ihm über den Tisch. »Wir sehen es ziemlich eng, wenn jemand dieses Zeug besitzt und wahrscheinlich auch verwendet. Da hört bei uns das >Leben und
leben lassen« auf. Genau wie für den Staatsanwalt. Ich gehe jede Wette ein, dass sowohl die Sarah Child Akademie als auch die Lehrergewerkschaft das ähnlich sehen wird. Und hier ist noch etwas«, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort, und zum ersten Mal, seit er in dem Verhörraum saß, traten Schweißperlen auf Williams' Stirn. »Argwöhnisch, wie ich nun einmal bin, frage ich mich, ob ein Mann, der dieses Zeug besorgen kann, sich vielleicht auch das Gift beschaffen kann, um jemanden, der ihn bedroht, aus dem Verkehr zu ziehen. Er hat Sie unter Druck gesetzt, nicht wahr?« Sie stand auf, trat hinter ihn, beugte sich über seine Schulter und sah ihn von der Seite an. »Dieser neugierige kleine Bastard, der Ihnen seine puritanische Sicht der Dinge aufzwingen will. Dabei lief es für Sie wunderbar. Kolleginnen, Angestellte, Kindermädchen, Mütter. Da hat ein Mann wie Sie die freie Wahl. Dann mischt sich plötzlich Foster ein und bringt nicht nur Ihren Job bei Sarah Child, sondern Ihre gesamte Karriere in Gefahr.« »Nein, so war es nicht. Nein, das hat er nicht getan.« »Sicher hat er das. Vielleicht haben auch andere etwas gewusst oder vermutet, doch sie haben weggesehen. Denn schließlich ging es sie nichts an. Aber dieser Foster nimmt es auf sich, gegen dieses Treiben vorzugehen. Er hat Ihnen einen Vortrag gehalten, sagen Sie? Dazu hatte dieses Arschloch nicht das Recht. Aber trotzdem ist er da, Tag für Tag, und behält Sie im Auge, um zu sehen, ob Sie vielleicht wieder etwas tun, was ihm nicht gefällt. Sitzt jeden Tag mit seinem ordentlich gepackten Lunchpaket in seinem Klassenraum. Ein echter Langweiler. Und zugleich ein Stachel in Ihrem Fleisch. Also, Reed, woher hatten Sie das Rizin?« »Ich habe nie Rizin gehabt. Vor dieser ganzen Sache wusste ich noch nicht mal, was das ist. Ich habe niemanden umgebracht.« »Es hat Sie doch sicher fürchterlich gestört, dass Mirri Hallywell lieber mit ihm lernt, als mit Ihnen auf Ihrem breiten, roten Bett herumzutollen. Das ist eine verdammte Beleidigung.
Sie müssten diesen Typen loswerden. Sie hatten keine andere Wahl. Deshalb sind Sie aus Ihrer Klasse geschlüpft, als er nicht in seiner Klasse war, und haben es getan. Es ging total schnell und war das reinste Kinderspiel.« »Das ist eine Lüge! Das ist vollkommen verrückt. Sie sind vollkommen verrückt.« »Vielleicht war es ja gar kein echter Mord. Sagen wir, er hätte Sie erpresst. Hätte Sie verfolgt. War eine ständige Gefahr für Sie. Entweder er oder Sie selbst. Sie müssten sich schützen.« »Ich war an dem Tag noch nicht mal in der Nähe seines Klassenraums. Ich habe ihn nicht umgebracht, um Gottes willen. Ich war mit jemandem zusammen, als ich an dem Morgen nicht in meiner Klasse war. Ich habe eine Zeugin.« »Wen?« Er öffnete den Mund, klappte ihn dann aber wieder zu und starrte vor sich auf den Tisch. »Ich verlange einen Anwalt. Ich habe das Recht, mich mit einem Anwalt zu beraten. Solange ich keinen Anwalt habe, sage ich nichts mehr.« »Okay, aber nur zu Ihrer Information: Sie sind verhaftet, und zwar wegen des Besitzes und der Verabreichung verbotener Substanzen - das hat uns Ihre ungezogene Kamera gezeigt. Sie können Ihren Anwalt kontaktieren, bevor es in die Zelle geht.« Eve ging die Vernehmung in Gedanken nochmals durch und hängte Aufnahmen der Flaschen aus seiner Sexschublade an der Tafel auf. Außerdem zog sie Verbindungsstriche zwischen Williams, Laina Sanchez, Allika Straffo, Eileen Ferguson und Mirri Hallywell. An wen hatte er sich wohl noch alles herangemacht? Bei wem hatte der Kerl Erfolg gehabt und bei welchen Frauen war er abgeblitzt? Sie musste sich sämtliche Disketten der Kamera aus seinem Schlafzimmer ansehen. Das würde sicher amüsant. Wenigstens würde McNab die Disketten aus den Überwachungskameras des
Hauses durchgehen. Obwohl sie bezweifelte, dass sich darauf irgendetwas von Bedeutung fand. Sie trank noch eine Tasse Kaffee, doch er wirkte längst nicht mehr. Sie war einfach hundemüde, und noch nicht einmal das Koffein änderte etwas daran. Sie bat um die Erlaubnis, sich Williams' Finanzen anzusehen. Dank der bei ihm gefundenen Drogen würde sie ihr sicherlich erteilt. Sie hörte die Nachrichten auf ihrem Telefon und Handy ab und stellte fest, dass Nadine Fürst gleich zweimal bei ihr angerufen hatte, um sie an die Uhrzeit ihres Auftritts zu erinnern, sie zu bitten, etwas Ordentliches anzuziehen, und zu fragen, ob es irgendeine Spur im Fall Craig Foster gab. Nerv, nerv, nerv. Doch weshalb hatte Roarke nicht angerufen, um ihr auf den Keks zu gehen? Bestimmt war er noch immer sauer, weil sie ihn am Morgen einfach sitzen lassen hatte, dachte sie. Tja, aber schließlich war nicht sie diejenige gewesen, für die ein Anruf eines alten Liebhabers auf ihrem verdammten Handy eingegangen war. Gerade wollte sie sich schmollend hinter ihren Schreibtisch setzen, als Peabody bei ihr hereinsah und verkündete: »Williams' Anwalt ist eingetroffen. Raten Sie mal, wer es ist.« Eve brauchte nur einen Augenblick. »Sie wollen mich verarschen.« »Das kann ich nicht sagen, denn schließlich habe ich noch nicht gesagt, dass es ...« »Oliver Straffo? Das ist ja wohl einfach krank.« Peabody verzog beleidigt das Gesicht, weil ihr der ganze Spaß genommen worden war. »Tja, er stand plötzlich in Lebensgröße da und hat seinem Mandanten geraten, keine weiteren Aussagen zu machen und keine weiteren Fragen zu beantworten, bevor er sich mit ihm beraten hat. Jetzt will er uns beide sprechen.«
»Hm.« Eve blickte auf die Tafel, wo ein Foto von Allika Straffo neben dem von Williams hing. »Könnte interessant werden.« Wer wusste was von wem, fragte sich Eve und dachte dabei an Allika und das Kind. Wie fände sie das heraus, ohne dass dadurch eine ganze Reihe Unschuldiger Schaden nahm? Vielleicht hatte Straffo ja das Recht zu erfahren, dass auch seine Frau auf diesen Schleimer Williams hereingefallen war. Doch es stünde ihr nicht zu, eine törichte Ehefrau bei ihrem Angetrauten anzuschwärzen, solange es nicht für den Abschluss ihres Falles wichtig war. »Eier«, flüsterte Peabody ihr zu, als sie zum Verhörraum zurückging. »Was? Haben Sie etwa schon wieder Hunger?« »Nein, ich meinte, das wird gleich der reinste Eiertanz. Seien Sie ja vorsichtig.« »Ich dachte, es heißt, man könne kein Rührei machen, ohne dabei ein paar Eier zu zerbrechen.« »Bei dem Spruch geht es nicht um Rührei, sondern um Omelett. Der Eiertanz ist eher das Gegenteil. Dabei muss man aufpassen, dass man die Eier nicht zerbricht.« »Das ist ja wohl total bekloppt, denn wenn man auf Eiern tanzt, bleiben sie kaum ganz. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Also, gehen wir die Sache an.« Sie konnte sofort sehen, dass Williams wieder ganz der Alte war. So etwas hatte Eve bereits des Öfteren erlebt. Selbst wenn jemand schuldig war, hatte er, sobald ein teurer Strafverteidiger in seiner Nähe war, sofort wieder die Oberhand. Straffo saß in seinem konservativen, perfekt sitzenden Maßanzug mit sittsam gefalteten Händen da. Er sagte erst etwas, als der Rekorder lief. »Einer meiner Partner legt bereits Widerspruch gegen die Durchsuchung der Wohnung meines Mandanten ein. Sie haben die Erlaubnis dazu unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erwirkt, deshalb ist sie illegal.«
»Wir werden sehen, ob der Richter das genauso sieht.« Er verzog den Mund zu einem leichten Lächeln und sah sie aus seinen stahlharten, grauen Augen an. »Davon bin ich überzeugt. Des Weiteren sind Ihre Versuche, meinem Mandanten den Mord an Craig Foster anzuhängen, einfach lächerlich. Ein erfülltes Sexualleben ist weder ein Verbrechen noch der direkte Weg zu einem Mord.« »Sex und Mord gehen sehr häufig Hand in Hand, Straffo. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Das Opfer wusste über das erfüllte Sexualleben, das Ihr Mandant während der Unterrichtszeiten auf dem Schulgelände hatte, Bescheid. Eine Art Beschäftigung, die, wie Ihnen ebenfalls bekannt sein dürfte, nicht gestattet ist.« »Das ist kein Verbrechen, sondern höchstens ein Vergehen.« »Für das Ihr Mandant nicht nur von der Schule verwiesen, sondern generell aus dem Schuldienst entlassen werden kann. Sie sehen, ich habe mich ebenfalls kundig gemacht. Auch Selbstschutz ist ein guter Grund für einen Mord.« »Sie haben noch nicht einmal genug Indizien, um den Fall vor Gericht zu bringen, Dallas. Sie haben den Verdacht, dass sich mein Mandant eventuell unangemessen und unklug verhalten hat. Aber Sie haben keinerlei Beweis dafür, dass es zwischen meinem Mandanten und dem Opfer je auch nur den kleinsten Streit gegeben hat, ich dagegen werde Aussagen der Kollegen bringen, dass es nicht nur keinen Streit gegeben hat, sondern dass die beiden vielmehr bestens miteinander ausgekommen sind. Sie haben nichts, was meinen Mandanten mit der Mordwaffe in Verbindung bringt, und auch keinen Zeugen dafür, dass er die Klasse des Opfers an dem fraglichen Tag betreten hat, denn das hat er auch nicht getan.« »Er hat seinen Klassenraum vorübergehend während der zweiten Stunde verlassen, und es hätte niemand mitbekommen, wenn er in die Klasse des Opfers gegangen wäre, denn die war in jener Stunde nicht besetzt.«
»Er war in der Zeit nicht allein, und sollte es nötig sein, bekommen Sie von uns den Namen der Person, mit der er zusammen war. Da ich diese Person bisher nicht erreichen konnte, um mich mit ihr zu besprechen, wäre es mir und meinem Mandanten lieber, den Namen nicht jetzt schon zu enthüllen. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass sie Mr Williams' Aussage bestätigen wird.« »Sie hätten jede Menge Zeit, die Gelegenheit und vor allem ein ausreichendes Motiv gehabt, um sich heimlich in den Klassenraum zu schleichen«, wandte Eve sich Williams zu. »Ich ...« »Reed.« Mehr brauchte Straffo nicht zu sagen, damit Williams innehielt. »Alles, was Sie haben, Lieutenant, ist eine fragwürdige Durchsuchung der Wohnung meines Mandanten, die nichts ergeben hat, was ihn mit diesem Mord in Verbindung bringt.« »Die Durchsuchung und Beschlagnahme der illegalen Drogen waren nicht im Geringsten fragwürdig. Und das Opfer hat Ihren Mandanten wegen seiner abscheulichen Gewohnheiten zur Rede gestellt. Ihr Mandant hat selber ausgesagt, dass das Opfer etwas von seinem Treiben mitbekommen und ihn darauf angesprochen hat.« »Die beiden haben darüber gesprochen und danach ihre kollegiale Beziehung fortgesetzt.« Ohne dass er auch nur einen Blick in seine eigenen Unterlagen geworfen hätte, klappte Straffo die Akte wieder zu. »Wenn das alles ist, was Sie haben, werde ich darauf drängen, dass über meinen Antrag zur Verwerfung des Durchsuchungsbeschlusses heute noch entschieden wird. Es wäre mir lieb, wenn mein Mandant angemessen untergebracht würde, bis er entlassen wird.« »Ihre eigene Tochter geht auf diese Schule. Ihre eigene Tochter war diejenige, die Foster gefunden hat. Haben Sie sich die Aufnahmen vom Tatort angesehen? Trotzdem können Sie hier sitzen und den Mann verteidigen, gegen den in diesem Fall ermittelt wird?«
Straffos Blick und Stimme wurden tatsächlich noch kälter als bisher. »Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, dass jeder das Recht auf eine ordnungsgemäße Verteidigung hat, vor allem aber kenne ich Mr Williams seit über drei Jahren persönlich und bin von seiner Unschuld überzeugt.« »Er hatte Whore und Rabbit in seiner Nachttischschublade und ist dafür bekannt, dass er wahllos irgendwelche Frauen in der Schule fickt, während Ihre Tochter dort in ihrer Klasse sitzt.« »Angeblich.« »Angeblich, dass ich nicht lache. Ist er etwa die Art von Mensch, die Ihre Tochter unterrichten soll?« »Werden Sie bitte nicht unsachlich, Lieutenant. Ich sehe die Vernehmung als beendet an.« Damit stand er auf und klappte seinen Aktenkoffer zu. »Ich möchte, dass mein Mandant in seine Zelle überführt wird, bis über meinen Antrag entschieden ist.« Eve sah Straffo reglos an. »Peabody, bringen Sie dieses Stück Scheiße runter in den Zellentrakt. Wissen Sie, Straffo, manchmal kriegen Typen wie Sie genau das, was sie verdienen.« Natürlich wurde Straffos Antrag abgelehnt. Eve ging extra rüber zum Gericht, um Straffo und Reo die Sache ausfechten zu sehen. Die Durchsuchung des Apartments, die Beschlagnahme des Rabbit und des Whore und auch die Verhaftung wegen des Besitzes und der Weitergabe von verbotenen Substanzen waren rechtmäßig erfolgt. Wobei Straffo den Kampf um Freilassung seines Mandanten auf Kaution gewann. Vor dem Gerichtssaal stellte Reo schulterzuckend fest: »Es lief von Anfang an auf ein Unentschieden raus. Bringen Sie mir Beweise für den Mord, damit ich diesen Widerling wieder hinter Gitter bringen kann.« »Ich bin dabei.« »Straffo wird wegen der Drogensache einen Deal abschließen wollen, und mein Boss wird damit einverstanden sein.« Da sie
ahnte, was Eve sagen wollte, hob die Staatsanwältin abwehrend die Hand. »So laufen diese Dinge nun einmal, das wissen Sie genauso gut wie ich. Solange Sie nicht eindeutig beweisen können, dass er einer Frau diesen Dreck ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung verabreicht hat, wird er mit einer Geldstrafe und ein paar Sitzungen beim Psychologen davonkommen.« »Und was ist mit seiner Zulassung als Lehrer? Die wird man ihm doch wenigstens entziehen.« »Sie wollen ihn wirklich ganz aus dem Verkehr ziehen?« Eve dachte an Laina Sanchez, die weinend in der Schulküche gestanden hatte, und erklärte nachdrücklich: »Das will ich auf jeden Fall.« Reo nickte zustimmend. »Ich werde sehen, was ich machen kann. Wissen Sie, Sie fahren besser langsam los. In zwei Stunden fängt die Sendung an.« »Verdammt.« Während Eve sich widerstrebend auf den Weg zum Sender machte, räumte Roarke schnell seinen Schreibtisch auf, um dasselbe zu tun. Er hoffte, dass es für Eve leichter und nicht schwerer wäre, wenn er in der Nähe war. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn während der Sendung sehen wollte, und das störte ihn. Sie war unberechenbar, aber er hatte sich bisher eingebildet, sie zu kennen. Mit dem Rhythmus ihrer Stimmungen, ihren Gesten, ihrem Ton vertraut zu sein. Plötzlich aber war ihr Bild verschwommen Er wollte, nein er musste sie wieder so deutlich sehen wie bisher. Doch er wollte verdammt sein, wenn er absichtlich sein eigenes Bild verschwimmen ließ, nur um irgendeine absurde, imaginäre Beleidigung rückgängig zu machen, an die sie sich zu klammern schien. Sie hatte ihn gewarnt, hatte ihn befragt oder vielmehr regelrecht ins Kreuzverhör genommen, dachte er erbost. Hatte
an ihm gezweifelt und ihm das Gefühl gegeben, sich schuldig gemacht zu haben, obwohl es keinen Grund für Schuldgefühle gab. Er dachte an Magdalenas Hand auf seinem Bein und die Einladung, die dadurch wortlos ausgesprochen worden war. Nun, er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass so etwas nicht in Frage kam, oder etwa nicht? Unter anderen Umständen hätte er Eve vielleicht sogar von diesem Annäherungsversuch erzählt, und sie hätten gemeinsam darüber gescherzt. Aber es war völlig offensichtlich, dass er diese Information besser für sich behielt. Weshalb er tatsächlich Schuldgefühle hatte, verdammt noch mal. Verflixt. Er würde von ihr verlangen, dass sie ihm vertraute, dachte er, während er sich erhob und vor das breite Fenster trat. Das war nicht verhandelbar. Über beinahe alles andere ließ er mit sich reden, überlegte er, während er eine Hand in seine Hosentasche schob und den grauen Knopf berührte, den er immer bei sich trug. Der Knopf gehörte ihr. So wie sie, aus welchem Grund auch immer, ihm gehörte, seit er ihr zum ersten Mal begegnet war. Nichts und niemand hatte ihn jemals so beeindruckt wie sie, als sie in dem wahrhaft fürchterlichen grauen Hosenanzug vor ihm gestanden und ihn abschätzend aus ihren Polizistenaugen angesehen hatte. Nichts und niemand hatte ihn jemals derart in seinen Bann gezogen, nichts und niemand übte eine derartige Macht über ihn aus. Weshalb alles andere Verhandlungssache war. Er war in der Lage, ihr zu geben und zu geben, und tat trotzdem immer wieder einen neuen Brunnen auf, aus dem sich schöpfen ließ. Denn sie füllte diese Brunnen immer wieder auf. Er konnte es ertragen, wenn sie miteinander stritten, das wurde ihm jetzt bewusst. Schließlich hatten sie beide ein aufbrausendes Temperament. Aber er war sich nicht sicher, ob er
es ertrug, dass mit einem Mal eine solche Kluft zwischen ihnen war. Es musste ihnen irgendwie gelingen, sie zu überbrücken. Denn auf Dauer hielt er die Distanz, die es plötzlich zwischen ihnen gab, ganz bestimmt nicht aus. Gerade als er gehen wollte, klingelte das Link auf seinem Schreibtisch. Es war seine Sekretärin. »Ja, Caro?« »Entschuldigung. Ich weiß, Sie wollen gerade gehen, aber hier ist eine Ms Percell, die Sie sprechen möchte. Sie sagt, es geht um eine persönliche Angelegenheit. Tut mir leid, aber sie hat es irgendwie geschafft, an der Security vorbeizukommen. Ich habe sie vorne in den Wartebereich gesetzt.« Er erwog, Caro zu bitten, sie einfach wieder fortzuschicken. Falls es einen Menschen gab, der es schaffen würde, Magdalena abzuwimmeln, war sie das. Doch es kam ihm ihnen allen gegenüber unfair vor. Sich von einer Frau gegen eine zweite abschirmen zu lassen, nur weil eine dritte völlig unbegründet eifersüchtig auf sie war ... lächerlich. Er wollte verdammt sein, wenn er sich derart zum Narren machen ließ. Das durfte nicht einmal die Frau, der seine uneingeschränkte Liebe galt. »Schon gut. Schicken Sie sie rein. Ich brauche in zehn Minuten meinen Wagen.« »Also gut. Oh, richten Sie bitte Ihrer Frau aus, dass ich mir die Sendung ansehen werde.« »Ich glaube, damit werde ich warten, bis alles vorüber ist. Die ganze Sache geht ihr nämlich furchtbar auf die Nerven. Danke, Caro.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah sich um. Er hatte es in jeder Hinsicht wirklich weit gebracht. Zeit, einen Weg zu finden, den Frauen, die ihn augenblicklich in die Zange nahmen, deutlich zu verstehen zu geben, dass er nicht die Absicht hatte, je dorthin zurückzukehren, wo er einst gewesen war.
Als sie den Raum betrat, hatte sie sich einen goldenen Pelz über den Arm gehängt, ihr blondes Haar verführerisch zerzaust und ein energiegeladenes Leuchten im Gesicht. Und ja, sie rief die Erinnerung an damals in ihm wach. Was sich einfach nicht vermeiden ließ. »Sieh dich nur mal an! Sieh dir dieses Arbeitszimmer an!« Magdalena warf den Pelz lässig über einen Stuhl und drehte sich einmal um sich selbst. Roarke begegnete dem Blick von seiner Sekretärin, nickte knapp, und sie zog sich diskret zurück und machte die Tür hinter sich zu. »Die Höhle des globalen Moguls, elegant, luxuriös, ausnehmend geschmackvoll und in höchstem Maße männlich. Tja, in diesem Raum hast du alle deine Eigenschaften wunderbar vereint, nicht wahr?« Sie trat mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Da es sich nicht vermeiden ließ, ohne lächerlich zu wirken, nahm er ihre Hände kurz. »Wie geht es dir, Maggie?« »Im Augenblick? Vor allem bin ich unglaublich beeindruckt.« Sie warf einen Blick auf seinen Schreibtisch und wollte von ihm wissen: »Was genau machst du hier eigentlich?« »Ein paar Dinge, die ich machen muss, und jede Menge Sachen, die ich machen will. Was kann ich für dich tun?« »Du könntest mir einen Drink anbieten.« Sie setzte sich auf eine Sessellehne, schlug ihre langen Beine lässig übereinander und schüttelte ihre blonde Mähne. »Ich habe einen Einkaufsbummel gemacht, jetzt bin ich total erschöpft.« »Tut mir leid, aber ich wollte gerade gehen.« »Oh.« Sie machte einen hübschen Schmollmund. »Wahrscheinlich geht es ums Geschäft. Bei dir geht es schließlich immer ums Geschäft. Auch wenn ich das nie verstanden habe, arbeitest du offenkundig wirklich gern. Trotzdem ...« Sie stellte ihre Beine wieder nebeneinander, stand auf und schlenderte an eins der breiten Fenster, unterhalb derer
einem New York zu Füßen lag. »Wirklich nett.« Sie sah ihn über ihre Schulter an. »Ich nehme an, ich habe mir dich immer in Europa vorgestellt, in der Alten Welt.« »New York passt zu mir.« »So sieht es aus. Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich habe mich bereits mit ein paar Leuten getroffen, die du mir empfohlen hast. Es ist noch zu früh, um es sicher zu sagen, aber ich habe den Eindruck, dass es eine erfolgreiche Zusammenarbeit wird. Ohne deine Hilfe hätte ich gar nicht gewusst, wo ich anfangen soll.« »Ich nehme an, du hättest es auch ohne mich geschafft. Du warst ganz schön beschäftigt«, fügte er hinzu. »Einkaufsbummel, Geschäftsbesprechungen, ein Besuch bei meiner Frau auf dem Revier.« Magdalena fuhr zusammen, drehte sich dann aber, eingerahmt von der grenzenlosen Energie und den hoch aufragenden Türmen der New Yorker City, wieder zu ihm um. »Sie hat es dir erzählt. Das hatte ich befürchtet. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe - das heißt, natürlich weiß ich es. Ich war einfach neugierig auf sie und wollte sie ein bisschen näher kennen lernen. Wobei unser Treffen nicht besonders gut gelaufen ist.« »Ach nein?« »Ich habe es fraglos vermasselt. Sie konnte mich bereits nicht leiden, als ich ihr Büro betrat, und nachdem ich mich beruhigt und meine Wunden geleckt hatte, wusste ich auch, warum. Es war bestimmt nicht leicht für sie, als ich plötzlich durch die Tür geschlendert kam.« Sie breitete lächelnd ihre Arme aus. »Die ehemalige Geliebte ihres Mannes, die sie freundlich lächelnd ansieht und auf einen Drink einladen will. Wahrscheinlich hätte sie mir am liebsten eine Ohrfeige verpasst.« »Das tut sie nur sehr selten. Ein ordentlicher Kinnhaken entspräche eher ihrem Stil.«
»Es tut mir wirklich leid. Ich habe alles falsch gemacht. Aber sie war derart... barsch, dass ich völlig aus dem Gleichgewicht geraten bin. Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen soll. Ich hoffe, ich habe dir keine Schwierigkeiten zu Hause gemacht?« »Ich hatte dir gesagt, dass du sie nicht mögen würdest.« »Und du hattest, wie immer, recht. Trotzdem ist es seltsam, findest du nicht auch? Schließlich hast du uns beide gern. Aber wie dem auch sei, es tut mir leid. Ich nehme an, ich habe einfach den Kontakt, eine Verbindung zwischen uns gesucht. Ich hatte gehofft, wir beide würden uns verstehen und könnten vielleicht sogar Freundinnen werden. Schließlich ist das, was zwischen uns beiden war, seit einer halben Ewigkeit vorbei.« Wieder blitzte etwas in ihren Augen auf, und ihre Stimme wurde weich und verführerisch. »Oder nicht?« »Auf jeden Fall.« »Nun. Tja, nun. Ich nehme an, sie denkt, dass sich die Geschichte manchmal wiederholt, und ich gebe zu, dass das durchaus meine Hoffnung war. Ich glaube nicht, dass ich sie deshalb um Verzeihung bitten sollte.« »Das ist sicher nicht erforderlich. Und wäre auch nicht gerade klug. Natürlich wünsche ich dir alles Gute, Maggie, aber falls du über mich Kontakte, Beziehungen oder Freundschaften suchst, muss ich dich enttäuschen. Meine Frau ist nicht gerade begeistert davon, dass du plötzlich auf der Bildfläche erschienen bist.« »Oh.« Sie zog die Brauen hoch und ein selbstzufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wenn du jemand anderes wärst, würde ich sagen, deine Frau hat dich auf jeden Fall gezähmt.« »Statt darauf einzugehen, werde ich einfach sagen, dass sie mich unglaublich glücklich macht. Und jetzt muss ich wirklich gehen, Maggie.«
»Ja, das hast du bereits gesagt. Dann werde ich mich nur noch mal bei dir entschuldigen, falls du meinetwegen irgendwelchen Ärger hattest, und dir noch mal dafür danken, dass du mir geschäftlich den Weg geebnet hast.« Mit leicht zitternder Stimme fügte sie hinzu: »Ich sollte dich nicht länger aufhalten.« Sie trat vor den Stuhl, auf dem ihr Mantel lag. »Wenn du wirklich gerade gehen willst, könnten wir vielleicht zusammen runtergehen.« »Natürlich.« Als sie ihm ihren Mantel reichte, half er ihr hinein, bevor er seinen eigenen Mantel holen ging. »Bist du mit einem Wagen hier oder soll ich dir ein Taxi rufen lassen?« »Danke, ich bin mit einem Wagen hier. Roarke ...« Sie schüttelte den Kopf. »Noch einmal, es tut mir leid. Bevor wir runtergehen und das das Ende der Geschichte ist, möchte ich noch hinzufügen, dass es mir auch leidtut, dass ich nicht mehr die Frau an deiner Seite bin.« Sie drückte seine Hand und machte einen Schritt zurück. Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage, erklärte seiner Sekretärin, dass er jetzt das Haus verlassen und den Gast noch bis zur Tür begleiten würde, trat vor eine Wand, drückte mit dem Daumen auf einen unsichtbaren Knopf und machte so die Tür seines privaten Fahrstuhls auf. »Praktisch.« Magdalenas Lachen klang, als kämpfe sie gegen die Tränen an. »Du hattest schon immer eine Vorliebe für Spielereien. Ich habe gehört, dein Haus hier wäre einfach spektakulär.« »Wir fühlen uns dort sehr wohl. Erdgeschoss«, erklärte er, worauf der Lift lautlos hinunterfuhr. »Davon bin ich überzeugt. Deine Frau wird den Komfort dort sicherlich genießen.« »Offen gestanden, musste sie sich erst daran gewöhnen.« Seine Miene drückte Wärme aus. »Manchmal ist es ihr immer noch ein bisschen peinlich.«
»Ich habe gehört, dass es Leute geben soll, denen Reichtum peinlich ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mir das jemals passieren wird.« »Geld bedeutet ihr nicht so viel wie dir und mir.« »Ach nein?« Sie sah ihn aus feucht schimmernden Augen an. »Und was bedeutet er für uns?« »Freiheit, Macht und natürlich den von dir erwähnten Komfort. Aber vor allem«, er sah lächelnd auf sie herab, »ist es für uns beide ein Spiel, nicht wahr?« Sie erwiderte sein Lächeln, gleichzeitig jedoch drückte ihr Gesicht Bedauern aus. »Wir haben uns immer gut verstanden.« »Das haben wir ganz sicher nicht.« Als er aus dem Fahrstuhl trat, nahm er automatisch ihren Arm, um sie durch die große Eingangshalle mit ihren beweglichen Plänen, den belebten Geschäften und den Beeten voller echter Blumen zu dem Ausgang zu geleiten, an dem ihre Limousine neben seiner stand. Als er sie zu ihrem Wagen brachte, drehte sie sich noch mal zu ihm um, und ihre feuchten Augen glitzerten im Sonnenlicht. »Vielleicht haben wir uns nicht immer gut verstanden. Vielleicht hast du recht. Aber trotzdem hatten wir gute Zeiten miteinander, oder nicht?« »Doch, die hatten wir.« Sie legte ihre Hände sanft an seine Wangen, er umfass- te ihre Handgelenke und so blieben sie eine Zeitlang in der Kälte stehen. »Leb wohl, Maggie.« »Leb wohl, Roarke.« Tränen schimmerten in ihren Wimpern, als sie in die warme Limousine glitt. Er sah dem eleganten, weißen Wagen hinterher, wie er im Meer der anderen Fahrzeuge verschwand. Dann stieg er in seinen eigenen Wagen und machte sich auf den Weg zu seiner Frau.
11 Eve wurde von einer pfiffigen, kleinen Assistentin durch das Gebäude von Channel 75 gezerrt. Obwohl die Kleine Mercy hieß, zog sie sie ohne jede Gnade durch das Labyrinth der Flure, feuerte einen Monolog in ihre Richtung ab und sprang aufgeregt in ihren schicken, schwarzen Turnschuhen neben ihr herum. »Sie sind alle total aus dem Häuschen wegen der Premiere heute Abend. Nadine ist momentan die größte Nummer in den Medien, und der Sender ist hin und weg, weil sie sich dafür entschieden hat zu bleiben und jetzt diese Sendung macht. Und dass Sie ihr erster Gast sind, ist einfach der Hit. Ich meine, Sie beide sind einfach unglaublich heiß.« Mercy hatte ihr pinkfarbenes Haar mit Nadeln in der Form von Schmetterlingen hochgesteckt, die aussahen, als wären sie die Eltern des winzigen Flügelwesens, das aus ihrer linken Augenbraue herauszuflattern schien. Irgendwie beruhigend. »Sie müssen unbedingt den Produzenten, den Regisseur und den technischen Leiter kennen lernen, und dann gehen wir direkt in Ihre Garderobe. Ich kann Ihnen alles besorgen, was Sie wollen. Ich stehe Ihnen während der gesamten Sendung zu Diensten und kann Ihnen alles holen, was Sie wollen - Kaffee, Tee, Wasser, Limo oder irgendeinen Saft. Nadine sagt, Sie fahren auf Kaffee ab. Jetzt schauen wir ganz kurz beim Regisseur herein.« »Ich will aber nicht...« Ehe sie den Satz jedoch beenden konnte, wurde sie bereits durch die Tür eines Büros geschubst und jemand drückte ihr die Hand, bevor es gleich weiter ins Nebenzimmer ging, wo sie noch einmal die Hand gedrückt bekam.
Es herrschte eine derartige Hektik, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. Dann schleifte Mercy sie hechelnd wie ein Zwergspitz auf Zeus weiter in die Garderobe, wo ein hell erleuchteter Spiegel über einem endlos langen Tresen hing, auf dem eine schwindelerregende Ansammlung von Töpfen, Tiegeln, Bürsten und seltsamen Geräten lag, die wie bösartige Folterwerkzeuge aussahen. Aber noch schlimmer als der Gedanke, dass Job und Freundschaft sie dazu zwangen, im Fernsehen aufzutreten, noch schlimmer als Mercys Quasselei, noch schlimmer als das Wissen, dass die Töpfe und die Tiegel und die Folterinstrumente extra für sie dort lagen, war die Frau, die grinsend hinter einem schwarzen Stuhl mit einer hohen Rückenlehne stand. »Oh, heilige Mutter Gottes.« »Sie beide kennen sich, nicht wahr?«, plapperte Mercy unbekümmert weiter. »Trina, ich überlasse Lieutenant Dallas jetzt Ihren magischen Händen und hole ihr eine Tasse Kaffee. Nadine hat extra eine ganz spezielle Mischung für ihren Gast bestellt. Möchten Sie auch etwas?« Trina, deren Haare einen schwarz-weißen Turm auf ihrem Schädel bildeten und deren Augen in einem überirdischen Grün erstrahlten, riss einen leuchtend blauen Umhang von einem Haken an der Wand. »Ein Glas Wasser wäre gut. Ohne Kohlensäure.« »Bin sofort wieder da!« »Sie sehen wie Hundescheiße aus«, wandte Trina sich an Eve. »Das Ganze ist einfach ein Albtraum. Am besten, ich kneife mir selber ins Gesicht, bis ich aufwache.« »Sie haben auch so schon derart schwarze Ringe unter den Augen, als hätten Sie gerade eine wilde Prügelei gehabt. Aber das kriege ich problemlos hin.« »Warum sind Sie hier? Warum ausgerechnet Sie?«
»Erstens, weil ich die Beste bin und weil Nadine das weiß und immer die Besten kriegen kann. Zweitens wegen Ihnen. Schließlich hat mich Nadine erst bei Ihnen kennen lernt.« Trina schnalzte mit dem Umhang wie ein Matador mit seinem roten Tuch. »Aber sie ist wirklich nett.« »Dann habe ich mir dieses Unglück also selber zuzuschreiben.« »Sie haben wirklich Glück, dass ich hier bin. Weil ich, wie gesagt, die Beste bin und weil ich Sie kenne und anders als die meisten anderen dafür sorgen kann, dass Sie wie Sie selbst aussehen.« »Ich sehe doch schon wie ich selber aus.« »Nein, Sie sehen wie Hundescheiße aus. Aber irgendwo da drunter sind Sie selbst, und ich weiß, wie ich Sie finden kann. Außerdem muss ich Sie wegen der Kameras ein bisschen anmalen, aber wenn ich das mache, werden Sie nicht aussehen wie eine Straßendirne auf Kundenfang.« Es gab nur eine Handvoll Menschen, vor denen Eve sich fürchtete. Trina gehörte eindeutig dazu. Als wäre ihr das klar, klopfte Trina grinsend auf die Rücklehne des Stuhls. »Setzen Sie sich. Bevor Sie sich versehen, werden wir schon fertig sein.« »Vergessen Sie nicht, dass ich bewaffnet bin.« Trotzdem nahm sie Platz. Denn sie hatte schließlich keine andere Wahl. »Also, warum sehen Sie nicht so aus, als wären Sie gerade aus dem Urlaub zurückgekommen? Mavis hat erzählt, Sie und Roarke hätten ein paar Tage am Strand verbracht.« Sie fuhr mit den Fingern durch Eves Haar und runzelte die Stirn. »Die muss ich ein bisschen nachschneiden.« »Gott. Oh Gott.« Trina legte Eve einfach den Umhang um. »Und warum haben Sie Mavis und das süße Baby noch nicht wieder besucht, seit Sie aus dem Urlaub zurückgekommen sind?« Das Gute an dem Umhang war, dass sie die Hände ringen konnte, ohne dass es jemand sah. »Ich hatte keine Zeit.«
»Ihre beste und älteste Freundin hat ein Kind bekommen.« Trina beugte ihren Kopf neben das Gesicht von Eve und blitzte sie böse im Spiegel an. »Und ich musste sie beinahe fesseln, damit sie nicht heute Abend hierher zum Sender kommt. Weil es einfach zu kalt ist, um mit einem Baby unterwegs zu sein. Also nehmen Sie sich gefälligst die Zeit, um sie zu besuchen, ja?« »Also gut. Okay.« »Ich schwöre Ihnen, Belle ist das süßeste Baby aller Zeiten.« Trina richtete sich wieder auf, drückte ihre Daumen in Eves Nacken, glitt hinab auf ihre Schultern und stellte missbilligend fest: »Sie sind wieder mal total verspannt. « Eve machte einfach die Augen zu. Sie hörte, dass Mercy - hechel, hechel, hechel - wiederkam und gleich wieder verschwand. Hörte leises Schnipsen und Summen, während Trina irgendwas mit ihren Haaren machte, und zuckte zusammen, als die Rücklehne des Stuhls plötzlich nach hinten wegkippte. »Entspannen Sie sich, okay? Wenn Sie nachher nicht gut aussehen, stehe ich nämlich auch nicht gut da.« »Das wäre natürlich schlimm.« Wieder machte Eve die Augen zu. Es war nur ein einziger Abend, erinnerte sie sich, und den würde sie ganz sicher überstehen. Verglichen mit ihrem gesamten Leben war er vollkommen bedeutungslos. Trina drückte sanft an ihrem Kiefer, ihren Schläfen, ihrem Nacken, ihrer Schulterpartie herum, bis Eve dank der sanften Akupressur und weil sie einfach hundemüde war, in einem kurzen Schlaf versank. Dann wurde sie von leisen Stimmen sowie einem leichten Kribbeln im Gesicht wieder geweckt. Sie konnte riechen, dass er in der Nähe war. Ehe ihr Kopf klar genug war, um den Klang und Rhythmus seiner Stimme zu erkennen, roch sie ihn bereits. »Gleich bin ich fertig«, erklärte Trina ihm. »Ihre Klamotten sind okay - ich nehme also an, Sie haben sie ausgesucht -, aber
ich sehe mir trotzdem noch die anderen Sachen an, die Sie mitgebracht haben. Vielleicht ist ja noch was Besseres dabei.« »Ich ziehe mich bestimmt nicht um«, murmelte Eve. »Sie ist wieder wach.« Trina richtete die Rückenlehne wieder auf und drehte den Stuhl um hundertachtzig Grad, sodass Eve statt in den Spiegel in Roarkes Augen sah. »Morgen«, sagte er, nahm ihre Hand und strich mit seinem Daumen über ihren Handrücken. »Du wirkst erstaunlich ausgeruht.« »Ich bewirke täglich irgendwelche Wunder«, verkündete Trina stolz. »Warten Sie, ich bürste nur noch schnell ihr Haar.« Sie schien zu bemerken, dass zwischen den beiden irgendetwas nicht in Ordnung war, denn nach einem kurzen Augenblick legte sie ihr Werkzeug aus der Hand. »Wissen Sie, das machen wir besser direkt vor Beginn der Sendung. Ich muss mich noch um ein paar andere Dinge kümmern und Nadine zurechtmachen. Gehen Sie einfach in den grünen Raum, er ist direkt auf der anderen Seite des Ganges rechts. Er ist wirklich hübsch.« Sie nahm Eve den Umhang ab. »Wollen Sie noch einmal in den Spiegel sehen, bevor Sie gehen?« Eve stand auf und blickte auf ihr Spiegelbild. Wie Trina ihr versprochen hatte, sah sie wie sie selber aus. Vielleicht ein bisschen aufgebrezelt, dachte sie, denn sowohl ihre Augen als auch ihre Lippen wiesen ungewohnte Farbe auf, aber wenigstens erkannte sie sich noch. Die Hundescheiße hatte Trina wirklich gut versteckt. »Okay«, erklärte sie. »Okay?« Trina stieß ein empörtes Schnauben aus. »Jetzt sehen Sie so aus, als ob Sie Urlaub gemacht hätten. Machen Sie ja keine Flecken auf die Jacke, denn ich glaube, sie wollen, dass Sie sie während der Sendung anbehalten.« »Ich werde darauf achten, dass sie sich benimmt.« Wieder nahm Roarke Eves Hand und ging mit ihr in den grünen Raum hinüber, der in Wahrheit pfirsichfarben war.
Es gab einen riesengroßen Bildschirm an der Wand, auf dem das Programm des Senders lief, breite Sofas und bequeme Sessel in einem beruhigenden Meergrün sowie einen breiten Tresen, auf dem ein Tablett mit Obst, Käse und Crackern stand. »Ich habe nicht erwartet, dass du kommst.« Er zog eine Braue hoch. »Natürlich bin ich gekommen. Schließlich ist dies ein besonderer Abend.« »Und du hast mir auch noch frische Kleider mitgebracht für den Fall, dass ich die Sachen verhunzt habe, mit denen ich aus dem Haus gegangen bin.« »Das gehört zum Service dazu.« »Ich dachte, dass du sauer auf mich bist.« »Und ich dachte, du wärst sauer auf mich.« Jetzt nahm er ihre Hand und hob sie an seinen Mund. »Warum vergessen wir die Sache nicht einfach? Ich habe fast den ganzen Tag gegrübelt und bin es einfach leid.« »Ich dachte, du hättest mir erzählt, dass die Iren gerne grübeln.« »Oh, wir lieben es. Wir schreiben sogar Lieder und Geschichten über das Grübeln und finden sie wunderbar. Trotzdem habe ich vom Grübeln erst einmal genug. Von dir hingegen nie.« Ihr wurde leicht ums Herz. Wie hatte sie es überhaupt ertragen, als ihr Herz so schwer gewesen war? »Ich liebe dich.« Er zog sie an seine Brust, strich mit seinen Lippen über ihre Braue, ihre Wangen, das Grübchen in ihrem Kinn und legte sie am Schluss auf ihren Mund. Sie schmiegte sich so eng wie möglich an ihn an, schlang ihm die Arme um die Taille und erwiderte den Kuss. »Ich würde Ihnen ja mein Büro anbieten«, ertönte Nadines Stimme aus Richtung der Tür. »Aber Dallas ist bereits geschminkt.« Widerstrebend machte Eve sich von ihm los. »Sie haben mir Trina auf den Hals gehetzt.«
»Ich habe Ihnen Trina zur Verfügung gestellt«, verbesserte Nadine. »Sie ist wirklich unglaublich gut, weshalb sie von mir für die Sendung angeheuert worden ist. Außerdem dachte ich, dass Ihnen der Teufel, den Sie kennen, lieber ist.« »Da haben Sie wahrscheinlich recht.« »Sie sehen gut aus, und das ist das Einzige, was zählt. Stark, hellwach, clever, attraktiv.« Nadine ging einmal um Eve herum. »Durch und durch wie eine knallharte Polizistin. Weshalb mir der Glamour bleibt.« »Der Ihnen ausgezeichnet steht«, bemerkte Roarke. »Sie sehen elegant und strahlend aus wie ein Juwel, Nadine.« »Ja, nicht wahr?« Lachend schüttelte Nadine ihren schicken, blond gesträhnten Bob und drehte sich in ihrem leuchtend blauen Kostüm mit dem schmal geschnittenen Rock und der taillierten Jacke einmal um sich selbst. Die Absätze ihrer kilometerhohen, schwarzen Pumps wurden von der diamantbesetzten Kette, die sie um einen ihrer Knöchel trug, noch vorteilhaft betont. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich nervös wäre, aber jetzt bin ich es doch. Bei dieser ersten Sendung geht es um sehr viel. Dallas, ich will Sie nicht präparieren. Ich will nicht, dass die Unterhaltung abgesprochen wirkt, aber ein paar Punkte würde ich trotzdem gern mit Ihnen durchgehen.« »Dann räume ich das Feld«, erklärte Roarke, Nadine aber schüttelte den Kopf. »Nein. Sie können schneller rennen als ich in diesen Schuhen, falls sie abhauen will. Setzen wir uns einfach hin.« »Soll ich dann vielleicht wenigstens etwas zu trinken oder zu essen holen?«, fragte Roarke, wobei er auf den gut bestückten Tresen wies. »Nachher.« Nadine nahm auf dem Sofa Platz und legte eine Hand auf ihren Bauch. »Jetzt bin ich zu angespannt.«
»Ich möchte auch nichts«, meinte Eve. »Was gibt es für einen Grund, nervös zu sein? Schließlich tun Sie heute Abend, was Sie immer tun.« »Das sage ich mir auch die ganze Zeit, aber genau so eine Sendung habe ich noch nie gemacht. Das ist der dicke, goldene Reifen, und nun, da ich ihn in meinen verschwitzten, kleinen Händen halte, kann ich es mir nicht leisten, ihn fallen zu lassen. Also ...« Nadine rutschte an den Rand des Sofas, als liefe am liebsten sie im nächsten Augenblick davon. »Wir müssen über den Fall Icove sprechen. Der hat mir schließlich diese Sendung eingebracht. Aber wir werden ihn nur kurz antippen, bevor die erste Werbung kommt. Danach werden wir noch mal darüber sprechen. Auch das Geschäft mit den Babys ist noch immer im Gespräch, deshalb werden wir auch darüber kurz sprechen, ja? Apropos Baby, der Name Belle passt wirklich ausgezeichnet. Gott, die Kleine ist einfach zauberhaft, nicht wahr?« Eve zuckte zusammen. »Sicher.« »Ich habe ein Interview mit Tandy und mit Mavis zu dem Thema durchgeführt, und ein paar Ausschnitte davon blenden wir während der Sendung ein. Dann werden wir darüber reden, was Sie tun und wie Sie es tun, okay? Wie viel werden Sie mir über den Mordfall Foster erzählen können?« »Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.« Nadine nutzte die Gelegenheit zu grinsen. »Ich brauche mehr als das - Spuren, denen Sie nachgehen, wer alles an der Sache beteiligt ist, etwas über den Tatort und etwas über das Opfer selbst. Schließlich heißt die Sendung Now. Aber darüber werden wir sprechen, sobald wir auf Sendung sind. Natürlich wollen wir vor allem harte Fakten rüberbringen, aber trotzdem werde ich Sie auch auf Roarke ansprechen müssen.« Bevor Eve etwas sagen konnte, hob Nadine die Hand. »Ich kann mich kaum in einer solchen Sendung mit Roarkes Polizistin unterhalten, ohne wenigstens nach ihm zu fragen. Keine Angst,
ich will keine Plaudereien aus dem Nähkästchen, sondern nur etwas wie einen kurzen Überblick.« Der Blick, mit dem sie Roarke bedachte, war halb fragend und halb amüsiert, er schüttelte lachend den Kopf. »Wie Sie es schaffen, Ihre Arbeit mit Ihrem Privatleben in Einklang zu bringen«, fuhr die Journalistin fort. »Ob Sie aufgrund von Ihrer Ehe Ihre Arbeit anders machen oder sie aus einer anderen Perspektive sehen. Im Grunde lauter banales Zeug. Also ...« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich muss mich fertig schminken lassen. In ein paar Minuten wird Trina noch einmal nach Ihnen sehen, danach wird Mercy Sie ins Studio bringen, und dann fangen wir an. Dallas.« Nadine drückte ihre Hand. »Danke.« »Bedanken Sie sich lieber erst, wenn es vorbei ist. Denn vielleicht gefallen Ihnen meine Antworten ja nicht.« »Danke«, sagte sie ein zweites Mal, stand auf und wandte sich an Roarke. »Wie sieht's aus?«, fragte sie ihn und klopfte sich mit dem Zeigefinger auf den gespitzten Mund. »Vielleicht bringt mir das Glück.« Er küsste sie leicht auf die Lippen und erklärte: »Auf dass mindestens dreißig Prozent der Zuschauer die neue Sendung sehen.« »Ihr Wort in Gottes Ohr.« Letztendlich lief es ganz gut, fand Eve. Obwohl sie nie verstehen würde, weshalb jemand freiwillig unter glühend heißen Scheinwerfern vor einem Bild der City sitzen sollte, während sich eine Unzahl Robocams schlangengleich vor einem wand. Die Titelmelodie verklang und sie hörte, wie Nadine dreimal leise Luft holte, während irgendein Typ im Hintergrund die Finger hob. Dann lenkte die Reporterin den Blick auf einen der Roboter. »Guten Abend. Hier ist Nadine Fürst mit Now.«
Wie Nadine gesagt hatte, sprachen sie den Fall Icove an. Ja, Eve fand das Verbot des Klonens von Menschen richtig und gerecht. Nein, sie hielt die Klone selbst nicht für das verantwortlich, was die Icoves verbrochen hatten. Dann verfolgte sie die Ausschnitte aus den Interviews mit Tandy Applebee, deren Ehemann und ihrem kleinen Sohn sowie mit Mavis, Leonardo und der süßen Belle. Beide Frauen hatten Tränen in den Augen, als sie über ihre Freundschaft und darüber sprachen, wie Eve Tandys Leben gerettet, ihr Kind vor dem Verkauf auf dem Schwarzmarkt bewahrt und die Kinderhändler festgenommen hatte - nur wenige Stunden vor der Geburt des kleinen Quentin Dallas Applebee. »Wie fühlen Sie sich dabei?«, fragte Nadine. »Ich habe meinen Job gemacht.« »Mehr nicht?« Eve rutschte auf ihrem Platz herum. »Manchmal wird es persönlich. Das sollte nicht so sein, aber manchmal ist es trotzdem so. Und dieser Fall hat mich persönlich berührt. Mavis und ich kennen uns schon eine halbe Ewigkeit, und Sie und meine Partnerin sind gute Freundinnen. Mavis war diejenige, die mich oder uns bedrängt hat, nach Tandy zu suchen. Sie hat großes Lob dafür verdient, dass sie so für eine Freundin eingetreten ist. Man könnte sagen, dass in diesem Fall Freundschaft der Auslöser für unsere Ermittlungen und für das Lösen des Falles war. Wobei es bei meiner Arbeit nicht nur um das Lösen eines Falles geht, sondern auch um Gerechtigkeit. Und ich habe meinen Job gemacht.« »Einen schwierigen, gefährlichen und anstrengenden Job. Sie sind mit einem einflussreichen Mann verheiratet, dessen Arbeit ebenfalls sehr schwierig und anstrengend ist und den manche als gefährlich bezeichnen würden. Wie bringen Sie Ihre Arbeit mit Ihrem Privatleben in Einklang?« »Vielleicht ist das nur deshalb möglich, weil ich weiß, dass beides nicht immer in Einklang zu bringen ist, und weil das auch
mein Mann versteht. Sehr viele Polizisten ... manchmal kann es zu Problemen mit dem Partner kommen«, verbesserte sie sich, »weil man in unserem Job sehr häufig Überstunden machen muss und deshalb öfter irgendwelche Abendessen, Einladungen oder anderes kurzfristig absagen muss.« »Das mag harmlos klingen«, stimmte ihr die Journalistin zu, »aber in Wirklichkeit sind diese Essen, Einladungen oder anderen Termine das, woraus das Privatleben zum größten Teil besteht.« »Es gehört einfach zu diesem Job, dass er sich manchmal mit dem Privatleben überschneidet. Was für die zivilen Partner sicher äußerst schwierig ist. Meiner Meinung nach sind Cops für feste Beziehungen vollkommen ungeeignet. Aber manchmal haut es trotzdem hin. Und zwar, wenn der Partner das Problem versteht. Wenn er respektiert und wertschätzt, was der andere tut, oder es wenigstens versteht. Ich hatte in dieser Beziehung Glück.« Sie lenkte ihren Blick dorthin, wo Roarke hinter den Kameras im Schatten stand. »Ich hatte wirklich großes Glück.« Sie unterbrachen für die Werbung, die die Sendung finanzierte, und Trina kam mit ein paar Pinseln anmarschiert. »Prima«, meinte Nadine. »Ist es bald vorbei?« »Gleich haben Sie's geschafft.« Obwohl sie es nicht sagte, dachte die Reporterin, dass es für sie selbst ein Riesenglück gewesen war, als Eves Blick bei ihren letzten Worten abgeschweift und ihr das, was sie für Roarke empfand, überdeutlich anzusehen gewesen war. Dieser kurze Augenblick würde die Einschaltquoten in die Höhe schießen lassen. Davon war sie überzeugt. »Jetzt zu Ihrem aktuellen Fall«, begann Nadine, als die Sendung weiterging. »Der schockierende Mord an Craig Foster, einem jungen Geschichtslehrer. Was können Sie uns dazu sagen?«
»Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.« Eves Stimme und Gesicht waren völlig ausdruckslos, stellte Nadine zufrieden fest. Jetzt war sie wieder ganz der Cop, und der Gegensatz zu vorher war einfach perfekt. »Sie haben gesagt, dass man, um den Mörder zu finden, das Opfer kennen muss. Erzählen Sie uns etwas über Craig Foster. Was war er für ein Mensch?« »Er war, allen Aussagen zufolge, ein junger, engagierter Lehrer, liebevoller Ehemann und fürsorglicher Sohn. Er war ein Gewohnheitsmensch, sparsam, verantwortungsbewusst, ein Mann, der seiner Arbeit nachgegangen ist, sein Leben gelebt und beides genossen hat.« »Was sagt Ihnen das über seinen Mörder?« »Ich weiß, dass der Mörder Craig Fosters Gewohnheiten kannte und dieses Wissen ausgenutzt hat, um einem Lehrer, Sohn und Ehemann das Leben zu nehmen. Ich weiß, dass er ihn nicht spontan, aus einem Impuls heraus getötet hat, sondern dass die Tat sorgfältig geplant war.« »Was dieses Verbrechen besonders scheußlich macht, ist, dass es in einer Schule verübt wurde, die von sechs- bis dreizehnjährigen Kindern bevölkert ist. In der Tat wurde der Leichnam von zwei kleinen Mädchen entdeckt. « »Mord ist von Natur aus ein scheußliches Verbrechen. Der Ort, an dem dieses Verbrechen stattgefunden hat, deutet auf einen besonders rücksichtslosen Täter hin. Aber er ist gleichzeitig ausnehmend effizient.« Nadine beugte sich etwas vor. »Inwiefern effizient?« »Der Mörder brauchte das Opfer nur eine Zeitlang zu beobachten, sich seine tägliche Routine einzuprägen und sie für die Tat zu nutzen. Außerdem war es durchaus ein Vorteil, dass überall im Haus Schüler, Lehrer, andere Angestellte und auch Eltern herumlaufen. Das hat er ausgenutzt.« »Zu Ihren Verdächtigen. Sie haben bereits eine Reihe von Leuten verhört, und heute haben Sie Reed Williams, einen
anderen Lehrer dieser Schule, zu einer Vernehmung aufs Revier geholt.« »Wir haben Mr Williams eingehend befragt. Wobei jedoch nicht wegen des Mordes an Mr Foster, sondern wegen einer anderen Angelegenheit Anklage gegen ihn erhoben wird.« »Aber er ist Ihr Hauptverdächtiger?« »Wie gesagt, die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen«, wiederholte Eve. »Bis es so weit ist, werden wir weiter verschiedene Individuen vernehmen. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.« Nadine unternahm ein paar weitere Versuche, Eve aber blockte alle ihre Fragen ab. Als der Regisseur das Zeichen gab, dass nur noch eine halbe Minute blieb, beugte Nadine sich nochmals vor. »Eins noch: Falls der Mörder gerade diese Sendung sieht, was würden Sie ihm sagen?« »Dass jetzt meine Partnerin und ich für Craig Foster einstehen. Dass wir unsere Arbeit machen und dass wir damit äußerst erfolgreich sind. Dass er es genießen soll, in Ruhe fernzusehen, weil es nämlich in der Zelle, in der er den Rest seines Lebens verbringen wird, kein Fernsehen gibt.« »Danke, Lieutenant Dallas. Dies war Nadine Fürst mit Now«, sprach sie in die Kamera. »Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.« »Du warst einfach perfekt«, sagte Roarke zu Eve, als das Studio endlich hinter ihnen lag. »Es muss ziemlich gut gelaufen sein, denn sobald die blöden Kameras ausgeschaltet waren, hat Nadine einen Freudentanz vollführt.« »Du warst perfekt«, erklärte Roarke noch einmal, drehte sie zu sich um und gab ihr einen Kuss. »Abgesehen davon, dass du einmal ein falsches Pronomen verwendet hast.« »Wie bitte?«
»Du hast gesagt: >Ich hatte großes Glück<. Richtig hätte es heißen müssen: >Wir hatten großes Glück<. Er küsste sie erneut. »Wir.« »Da hast du wahrscheinlich recht. Kein Wagen?« Sie sah sich suchend auf dem Parkplatz um. »Ich habe mich herbringen lassen, damit ich mit meiner Frau nach Hause fahren kann.« »Wenn das so ist, fährst du.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich bin froh, dass du auf mich gewartet hast.« Sie stieg ein und streckte seufzend ihre Beine aus. »Nadine scheint diesen ganzen Zirkus wirklich zu genießen. Über manche Leute kann man sich nur wundern.« »Allerdings. Sicher fragen sich auch viele Leute, wie du jeden Tag aufs Neue deine Arbeit machen kannst. Also, glaubst du, dass dieser Williams euer Täter ist?« »Augenblicklich ist er unser Hauptverdächtiger. Aber weißt du was? Als Anwalt hat er Oliver Straffo engagiert.« »Ist Straffo nicht ein bisschen teuer für jemanden, der nur ein Lehrergehalt bezieht?« »Williams verdient nicht schlecht - immerhin ist er an einer Privatschule. Aber es war Straffos Tochter, die den Toten gefunden hat. Es sieht aus, als hätte dieser Typ Foster an der Schule seiner Tochter umgebracht. Um ein Haar wäre die Kleine in dem Blut und dem Erbrochenen ausgerutscht, und trotzdem vertritt er diesen Kerl. Aber wie gesagt, über manche Leute kann man sich nur wundern.« »Vielleicht denkt Straffo ja, dass dieser Williams den Mord nicht begangen hat.« »Vielleicht. Und vor allem hat er keine Ahnung, dass auch seine eigene Frau dem zweifelhaften Charme von diesem Kerl kurzfristig erlegen ist. Williams fischt gern im Kollegenkreis und unter den Müttern der Schülerinnen und Schüler der Akademie. Er hat die Moral eines Karnickels, wozu das Rabbit passt, das in einer Schublade von seinem Nachttisch lag. Bisher konnten wir
ihn nur wegen der Drogen drankriegen. Deshalb hat er auch Straffo einbestellt. Was mir wirklich auf die Nerven geht.« »Auch Anwälte tun einfach ihre Arbeit.« »Ja, aber nehmen wir an, du hättest eine Tochter und kämst dahinter, dass einer ihrer Lehrer in der Schule schmutzige Spielchen spielt.« Da sie die Befürchtung hatte, dass sie in der komfortablen Position jeden Moment einschlief, richtete sich Eve mit einem leisen Seufzer auf. »Dass er verbotene Substanzen zu seiner sexuellen Befriedigung einsetzt. Glaubst du, du würdest ihn verteidigen?« »Das ist schwer zu sagen, aber wahrscheinlich wäre es wohl nicht. Vielleicht ist es ja ganz einfach so, dass auch Straffo die Moral eines Karnickels hat.« »Ich wette, er würde sich nicht derart für seinen Mandanten engagieren, wenn er wüsste, dass er auch in seinem Territorium gewildert hat.« »Wirst du ihm das sagen?« Eve dachte daran, wie verängstigt und wie schuldbewusst Allika bei ihrem Gespräch gewesen war. »Nicht, solange es für unseren Fall nicht von Bedeutung ist. Falls ich jedoch herausfinde und beweisen kann, dass Williams Foster umgebracht hat, weil der was von dem Verhältnis wusste, ja, dann macht sich Straffo besser auf ein paar unschöne Nachrichten gefasst.« »Bist du sicher, dass er es nicht bereits weiß?« »Sicher bin ich mir da nicht. Ich würde auch ihn gründlich unter die Lupe nehmen, wenn es einen Hinweis darauf gäbe, dass er an dem Tag, an dem Foster ermordet wurde, in der Schule war. Er war an dem Morgen um halb neun im Büro. Er hätte also etwas Zeit gehabt, um die Tat zu begehen, aber es wäre ziemlich knapp geworden. Von halb neun bis neun hatte er eine Besprechung mit den Partnern seiner Kanzlei, und danach war er wieder in seinem Büro, wo ihn seine Assistentin, seine Sekretärin und mehrere andere Leute gesehen haben, bis er um zwölf zu
einem Termin das Haus verlassen hat. Er scheint also sauber zu sein.« »Ich bin mir nicht ganz sicher, weswegen du ihn überhaupt unter die Lupe genommen hast. Schließlich hat nicht Foster was mit seiner Frau gehabt. Nun, wenn dieser Williams ermordet worden wäre ...« »Es könnte ihm um seinen Ruf gegangen sein.« Eve zuckte mit den Schultern. »Es wäre durchaus vorstellbar, dass Foster ermordet worden ist, weil jemand seinen guten Ruf bewahren wollte. Wobei Williams abermals ganz oben auf der Liste dieser Leute steht. Aber ich glaube, auch Straffo hätte es nicht wirklich gern gesehen, wenn die Untreue seiner Frau öffentlich bekannt geworden wäre.« Sie kämpfte gegen ein Gähnen an. »Das wäre nicht gut für sein Image gewesen.« »Ich kann dir versprechen, Lieutenant, wenn ich an Straffos Stelle wäre, würde ich auf dich und deinen Liebhaber abzielen. Nicht auf irgendeinen unschuldigen Dritten, der rein zufällig was von dem Techtelmechtel mitbekommen hat.« »Ich würde andersrum dasselbe tun.« Da sie bei diesem Satz jedoch an Magdalena denken musste, ging sie nicht näher auf das Thema ein. »Aber wie dem auch sei, werden wir erst mal diesen Williams weiter in die Zange nehmen und sehen, was dabei rauskommt. Mir wurde übrigens aus mehreren Richtungen deutlich zu verstehen gegeben, dass wir - wobei in diesem Fall das Wir das einzig mögliche Pronomen ist - Mavis und das Baby mal wieder besuchen müssen.« »Okay.« »Das ist alles? Okay?« »Wird sicher kein Problem. Schließlich haben wir sogar die Geburt der Kleinen überlebt. Verglichen damit ist der Besuch bei einem Baby, das von Kopf bis Fuß in eine rosa Decke eingewickelt ist, ja wohl das reinste Kinderspiel. « »Wahrscheinlich hast du recht. Peabody meint, wir brauchten ein Geschenk. Einen Teddybären oder so.«
»Das hört sich ziemlich einfach an.« »Gut. Den Part übernimmst am besten du. Ich verstehe einfach nicht, warum man einem kleinen Kind einen Bären schenken soll. Ist ein Bär nicht etwas, dem die Menschen für gewöhnlich aus dem Weg gehen, damit er sie nicht frisst?« Als er lachte, blickte sie ihn von der Seite an. Und als sie das fröhliche Blitzen seiner Augen sah, wurde ihr wohlig warm. Sie legte eine Hand auf seinen Arm, als er durch das Tor des Grundstücks fuhr. »Nachdem mich Nadine vorhin gefragt hat, wie wir unser Privatleben mit unseren Jobs in Einklang bringen, sollten wir gucken, wie das geht. Lass uns heute Abend nicht mehr an die Arbeit oder irgendwelche anderen Sachen denken, sondern nur an uns.« »Das ist meine absolute Lieblingsbeschäftigung.« Kaum waren sie aus dem Wagen ausgestiegen, schlang sie ihm die Arme um den Hals, küsste ihn zärtlich auf den Mund, und die Wärme in ihrem Innern dehnte sich immer weiter aus. Jeder Zweifel, jeder Schmerz, alle Angst und alle Fragen lösten sich in Wohlgefallen auf. Wir beide, du und ich, dachte sie auf dem Weg ins Haus. In stummem Einverständnis nahmen sie den Lift. Wenn sie die Treppe genommen hätten, hätte es einfach zu lange gedauert, bis sie endlich oben im Schlafzimmer wären. Und so viel Zeit hatten sie einfach nicht. Sobald sie im Fahrstuhl standen, zogen sie sich gegenseitig ihre dicken Mäntel aus. Ihre Bewegungen jedoch waren nicht hektisch und verzweifelt, sondern weich und ruhig. Ihnen beiden war bewusst, dass sie etwas zurückgewonnen hatten, was ihnen für einen kurzen Augenblick entglitten war. Im Schlafzimmer fiel bläulich weißer Mondschein durch das Oberlicht über dem Bett. Sie zogen sich gegenseitig aus und lenkten sich dabei mit langen, sehnsüchtigen Küssen und langen, sehnsüchtigen Streicheleien ab.
Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Herz endlich wieder dort, wo es hingehörte, als es dicht an seinem Herzen schlug. »Du hast mir gefehlt«, erklärte sie, während sie ihn eng umklammert hielt. »Das >Wir< hat mir gefehlt.« »A ghra«, murmelte er und rief ein Gefühl der Freude in ihr wach. Sie gehörte wieder völlig ihm. Sie war wieder seine starke, komplizierte, unendlich faszinierende Frau. Sie gehörte wieder ihm, und sie war ihm nahe, ohne dass noch irgendetwas zwischen ihnen stand. Sie erfüllte ihn mit ihrem köstlichen Geschmack und rief mit ihrem langen, schmalen Körper glühendes Verlangen in ihm wach. Niemand, der diese Nähe nicht aus eigener Erfahrung kannte, würde sie je wirklich verstehen. Sie passten einfach zueinander, all die Ecken und Kanten, die sie beide hatten, griffen wie die Teile eines Puzzles ineinander und machten sie beide ganz. Sie legten sich aufs Bett, und sie schlang ihm erneut die Arme um den Leib und stieß einen leisen Seufzer aus. Ein Geräusch, das deutlich machte, dass sie jetzt endlich wieder zu Hause war. Er. hatte das Bedürfnis, ihr zu geben, und liebkoste sie mit seinem Mund und seinen Händen, bis ihr Seufzer einem lauten Stöhnen wich. Niemand, dachte sie, hatte sie je derart erreicht wie er. Als sie das Beben seines Körpers spürte, wurde ihr bewusst, dass es ihm mit ihr genauso ging. Nachdem sie den ersten Gipfel erklommen hatte, um- fasste sie sein Gesicht und gab ihm einen Kuss, der all die Zärtlichkeit enthielt, die sie für ihn empfand. »Meine Geliebte«, wiederholte er auf Gälisch. Meine Einzige. Mein Herz. Sie hörte seine Stimme, als er in sie hineinglitt, und sah seine Augen, als sie sich synchron bewegten. Langsam, liebevoll und wunderbar real.
All die brutalen Dinge, die in diese Welt gehörten, waren endlos fern. Sie verschränkten ihre Finger, küssten sich und schrien gleichzeitig leise auf. Später schmiegte sie sich eng an seine Brust, murmelte: »Wir haben wirklich Glück«, hörte, wie er leise lachte, und schlief selig ein.
12 Er war außer sich vor Zorn. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie diese Sache wirklich durchziehen würde. Sie bluffte, dachte er. Bestimmt bluffte sie nur. Reed Williams pflügte mit harten, wütenden Stößen durch das Wasser des schuleigenen Pools. Er hatte es mit Schmeicheleien, mit Zorn und Drohungen versucht. Aber diese verdammte Arnette blieb stur. Sie blieb ihren Prinzipien treu. Oder tat zumindest so. Diese elendige Heuchlerin. Sie bluffte, dachte er erneut, stieß sich von der Wand des Beckens ab und kraulte zurück. Er würde noch fünf Bahnen ziehen und sie ein wenig schmoren lassen. Er war sich sicher gewesen, dass sie zu ihm stehen würde, oder dass sie, falls sie schwankte, ihre Position genügend schätzen würde, um sicherzustellen, dass auch er seinen Posten weiterhin behielt. Es war dieser verfluchte Cop. Sie war sicher eine Lesbe - sie und ihre braunäugige Partnerin. Zwei fürchterliche Fotzen, dachte er. Das waren die meisten Frauen, man brauchte nur zu wissen, wie mit ihnen umzugehen war. Und das wusste er genau. Ebenso wie er wusste, wie er sich selbst am besten schützte. Wie er mit all dem fertig werden sollte, was noch vor ihm lag. Schließlich war er auch mit Craig fertig geworden, oder etwa nicht? Diesem armen Schwein. Nie im Leben würden sie ihm den Mord an diesem armen Schwein anhängen, nicht, solange Oliver Straffo auf seiner Seite war.
Was für eine wunderbare Ironie des Schicksals, dachte er. Nicht, dass Straffos Frau besonders aufregend gewesen wäre. Aber all die Schuldgefühle und das Elend, mit dem sie geradezu hausieren ging, hatten den Quickie auf der Weihnachtsfeier und den einmaligen mittäglichen Fick in seinem Apartment zu etwas Besonderem gemacht. Trotzdem hatte er, weiß Gott, schon Besseres erlebt. Wegen ein bisschen Sex würde er bestimmt nicht kündigen, oh nein. Er hatte Arnette gewarnt. Falls sie tatsächlich versuchen sollte, ihn zu feuern, würde er ganz sicher nicht alleine untergehen. Er musste sie nur noch mal daran erinnern, dann würde sie sich schon beruhigen. Etwas außer Atem machte er den letzten Zug, packte den Rand des Pools und schob sich die Schwimmbrille aus dem Gesicht. Im selben Augenblick spürte er ein leichtes Piksen im Genick. Er hob eine Hand, um die Mücke zu verscheuchen. Als plötzlich seine Finger seltsam kribbelten. Sein Herz begann zu rasen und sein Hals ging zu. Er blinzelte, als er verschwommen jemanden am Rand des Beckens stehen sah. Er versuchte, die Person zu rufen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. Also versuchte er, sich selbst aus dem Pool zu ziehen, aber seine Arme waren bereits taub. Er verlor den Halt und krachte mit dem Kiefer auf den Beckenrand. Er spürte keinen Schmerz. Keuchend versuchte er, den Kopf über dem Wasser zu behalten. Er ruderte wild mit seinen Armen und sagte sich, er müsste sich treiben lassen. Müsste sich ganz einfach treiben lassen, bis er wieder bei Besinnung war. »Ich werde Ihnen helfen«, erklärte die Person am Rand, streckte die lange Stange des Poolnetzes aus, tippte ihm damit leicht auf eine Schulter, drückte ihn unter Wasser und hielt ihn mühelos dort fest. Bis er schließlich reglos an der Wasseroberfläche trieb.
Eve fühlte sich wie neugeboren, als sie aus der Dusche kam. Sie war ein paar Tage aus dem Gleichgewicht gewesen, gab sie zu, ganz einfach schlecht drauf. Aber das war jetzt vorbei. Sie war dankbar, dass nur eine Handvoll Leute wussten, dass sie wegen irgendeines selbstherrlichen, manipulativen, blonden Vollweibs derart aus dem Tritt geraten war. Magdalena Percell, versprach sie sich, während die warme Luft des Trockners um ihren Körper wirbelte, war offiziell Geschichte und deshalb kein Thema mehr für sie. Sie schnappte sich einen Morgenmantel und beschloss, dass sie hungrig genug war, um das zu essen, was Roarke als vollständiges irisches Frühstück bezeichnete. Sie würde in aller Ruhe essen, ein paar Tassen Kaffee trinken und dann führe sie aufs Revier. Sie finge die Ermittlungen mit klarem Kopf noch einmal von vorne an. Vielleicht hatte sie aufgrund ihrer persönlichen Probleme ja irgendetwas übersehen. Sie verließ das Bad, und da saß Roarke, nippte an seiner Kaffeetasse und sah sich den Börsenbericht an, während ihn der Kater mit dem Kopf anstupste, als wollte er ihn fragen: »Willst du etwa nichts essen? Wann kommt endlich das Frühstück?« »Hast du den Fettarsch etwa noch nicht gefüttert?«, fragte sie. »Doch, das habe ich, obwohl er bestimmt das Gegenteil behaupten würde. Ich hingegen wollte warten, bis du kommst.« »Ich schätze, ich könnte was vertragen. Ein paar Eier oder so.« »Du brauchst eher >oder so<.« Er stand auf, trat neben sie, als sie die Schranktür öffnete, und kniff ihr leicht ins Hinterteil. »Du hast in den letzten Tagen abgenommen.« »Möglich.« »Ich kenne dich so gut, dass ich dir wahrscheinlich sogar sagen könnte, wie viel Gramm du abgenommen hast.« Er küsste sie zwischen die Augen. »Deshalb denke ich, dass ein vollständiges irisches Frühstück an der Tagesordnung ist.«
»Das ist natürlich jede Menge >oder so<.« Lächelnd blickte sie in ihren Schrank. Es war einfach gut, dass sie wieder im Takt waren. »Wenn ich heute keine Überstunden machen muss und du ebenfalls nichts vorhast«, fing sie an, während sie sich ein paar Kleider griff, »könnten wir vielleicht noch bei Mavis und Leonardo vorbeifahren. Ich kann sie nachher anrufen und fragen, ob es ihnen passt.« »Okay.« Er wechselte auf den Nachrichtenkanal und trat vor den AutoChef. »Was sollte ich noch mal besorgen? Einen Teddybären?« »Das hat Peabody gesagt. Oder etwas in der Art.« »Ich glaube, dass wir das vielleicht Caro überlassen sollten. Sie wird ohne Zweifel wissen, was sie besorgen muss. Melde dich einfach bei ihr oder bei mir und gib Bescheid, ob ich dich auf dem Revier oder bei Mavis treffen soll.« Sie legte gerade ihr Waffenhalfter an, als er in ihre Richtung sah. »Schade, dass du nicht in diesem Aufzug in die Sendung gehen konntest. In Hemdsärmeln und mit der Waffe siehst du sexy und zugleich gefährlich aus.« Schnaubend setzte sich Eve aufs Bett, um ihre Stiefel anzuziehen. Er trat an den Tisch, um ihre Teller abzustellen, und nach einem warnenden Blick in Richtung von Galahad zog er seine Gattin auf die Füße und stellte noch einmal fest: »Sexy und gefährlich und vor allem wie meine Frau.« »Sieh dich lieber vor. Schließlich bin ich bewaffnet.« »Genau, wie ich es liebe. Was hältst du davon, wenn wir am Valentinstag dem Klischee entsprechen, romantisch zu Abend essen, jede Menge Champagner trinken, tanzen und das Ganze mit unglaublichen Mengen einfallsreichen Sexes abschließen?« »Könnte durchaus sein, dass ich dafür zur Verfügung stehe.« Wann in aller Welt war noch mal Valentinstag?
Er lachte, denn er hatte sie sofort durchschaut. »Am Vierzehnten, du sentimentale Närrin. Also übermorgen. Falls die Arbeit dazwischenkommt, spulen wir das Programm einfach ein bisschen später ab.« »Okay.« Und da es sich einfach richtig anfühlte, lehnte sie den Kopf an seiner Schulter an. Die ersten ein, zwei Sätze des Berichts der zwitschernden Reporterin bekam sie gar nicht mit. Und selbst als erst Roarkes und dann ihr eigener Name genannt wurde, hörte sie nicht richtig hin. Da er aber erstarrte, drehte sie sich um, blickte auf den Bildschirm - und hatte das Gefühl, als ob im selben Augenblick alle Luft aus ihrem Körper wich. Er stand dort mit Magdalena und blickte auf sie herab. Er hatte die Spur eines Lächelns im Gesicht. Einem Gesicht, das Magdalena zärtlich zwischen ihren Händen hielt. »... wurde von unseren Informanten als europäische Salonlöwin Magdalena Percell identifiziert. Ms Percell wurde vor Kurzem von George Fayette, einem wohlhabenden französischen Unternehmer, geschieden, aber, wie es aussieht, hat sie bereits ein Auge auf einen anderen wohlhabenden Mann geworfen, denn erst vor ein paar Tagen wurde sie gesehen, als sie mit Roarke im exklusiven Restaurant Three Sisters zu Mittag aß. Das Paar soll Salate der Saison genossen und sich sehr vertraulich unterhalten haben. Wir fragen uns, ob Lieutenant Eve Dallas, eine der erfolgreichsten Polizistinnen New Yorks und seit anderthalb Jahren die Ehefrau von Roarke, in diesem Fall ermittelt.« »Verdammt«, murmelte Roarke. »Was für ein totaler Schwachsinn. Tut mir leid, dass sie ...« Dann aber brach er ab, denn sie machte sich ganz langsam von ihm los. Ihr Gesicht war kreidebleich und ihre vor Entsetzen dunklen Augen hoben sich von ihren fahlen Wangen ab. »Meine Güte, Eve, du kannst doch wohl unmöglich ...«
»Ich muss zur Arbeit.« Die Worte sprangen wild in ihrem Kopf herum und sie hatte keine Ahnung, ob wenigstens die Reihenfolge richtig war. »Unsinn. Das alles ist totaler Unsinn. Ich habe nichts getan, und das solltest du wissen - verdammt, das solltest du wissen, ohne dass ich es erst sagen muss. Ich habe sie zur Tür gebracht. Sie hat mich im Büro besucht, aber ich habe sie nach nicht mal zehn Minuten rauskomplimentiert. Ich kam mir deshalb ziemlich kleinlich vor, wenn du es wissen musst, aber ich hätte eher ihre Gefühle verletzt, als dich auch nur eine Sekunde unglücklich zu sehen.« Sie sprach genauso langsam, wie sie sich bewegte. »Ich brauche etwas Abstand.« »Blödsinn! Das ist absoluter Blödsinn, Eve. Willst du mich etwa verurteilen, nur weil irgendein Idiot im richtigen Moment eine Videokamera auf mich gerichtet hat? In einem Moment, in dem ich einer Frau, die ich einmal sehr gern hatte, Lebewohl gesagt habe? Glaubst du, ich hätte dich oder mich selbst jemals vorsätzlich derart in Verlegenheit gebracht?« »Du hast uns beide derart in Verlegenheit gebracht. Aber das ist nicht wichtig, darum geht es nicht.« »Ich werde mich ganz sicher nicht dafür entschuldigen, dass ich einer Frau mitten am helllichten Tag auf einer öffentlichen Straße in ihren Wagen geholfen habe.« Er raufte sich frustriert das Haar. »Du bist viel zu klug, um allen Ernstes zu denken, dass dahinter noch etwas anderes steckt. Du weißt, dass es Menschen gibt, die nichts lieber tun, als Leute wie uns mit Dreck zu bewerfen. Aber trotzdem hältst du mir allen Ernstes vor ...« »Ich habe dir gar nichts vorgehalten.« »Oh, doch, und zwar alles Mögliche.« Jetzt war er nicht mehr frustriert, sondern beleidigt und erbost. »Das tust du ohne Worte. Dabei wäre es mir lieber, wenn du etwas sagen würdest und sei es noch so hart -, als dir ins Gesicht blicken zu müssen
und dich derart leiden zu sehen. Das bringt mich um. Also lass uns die Sache ein für alle Male klären, und zwar jetzt sofort.« »Nein. Nein. Ich will jetzt nicht mehr hier sein.« Vorsichtig hob sie ihre Jacke auf. »Ich will im Augenblick nicht mit dir zusammen sein. Weil ich im Moment nicht kämpfen kann. Ich kann nicht einmal mehr denken. Ich kann gar nichts tun. Deshalb wirst du gewinnen, falls es das ist, was du brauchst. Weil ich nämlich völlig wehrlos bin.« »Es geht nicht darum zu gewinnen.« Das Elend, das in ihrer Stimme lag, dämpfte seinen Zorn. »Es geht darum, dass du mir glaubst. Dass du mir vertraust. Dass du mich kennst.« Sie konnte die Tränen nicht mehr viel länger zurückhalten. Deshalb zog sie ihre Jacke an. »Wir werden später darüber sprechen, ja?« »Sag mir nur eins«, bat er, als sie sich zum Gehen wandte. »Beantworte mir nur eine Frage. Glaubst du, dass ich dich mit ihr betrügen würde?« Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen und drehte sich noch einmal zu ihm um. »Nein. Nein, ich glaube nicht, dass du mich mit ihr betrügen würdest. Ich glaube nicht, dass du mich je betrügen würdest. Aber ich habe Angst und es macht mich einfach krank zu denken, dass du uns beide vielleicht vergleichst. Und dass du deine Wahl bereust.« Er trat auf sie zu. »Eve.« »Wenn du mich jetzt nicht gehen lässt, wird es nie wieder gut.« Sie lief aus dem Zimmer die Treppe hinunter und blieb auch nicht stehen, als Summerset sie rief. Raus, war alles, was sie denken konnte. Sie musste einfach raus aus diesem Haus. »Sie brauchen Ihren Mantel.« Sie riss bereits die Haustür auf, als Summerset ihr ihren Mantel sanft über die Schultern legte. »Es ist bitterkalt, Eve.« Er sprach ihren Namen leise aus, und um ein Haar wäre es vollends um sie geschehen. »Wollen Sie etwa zulassen, dass sie Sie beide derart benutzt?«
»Ich weiß nicht. Ich ...«, setzte sie an, als plötzlich ihr Handy klingelte. »Oh Gott, oh Gott.« Sie klappte das Handy auf. »Video aus. Dallas.« HIER ZENTRALE, LIEUTENANT EVE ... Sie schob ihre Hände in die Ärmel ihres Mantels, marschierte aus dem Haus ... ... und spürte, dass Roarke durch das Fenster ihres Schlafzimmers auf sie heruntersah, als sie in die Schule fuhr, um ihren Job zu tun. Eve stand über der Leiche von Reed Williams und blendete sämtliche Gedanken an die morgendliche Auseinandersetzung aus. Sie wusste, dass Eric Dawson - der Williams im Wasser hatte treiben sehen und in dem Bemühen, ihn zu retten, in den Pool gesprungen war - zusammen mit einem Beamten in der Garderobe saß. Die Sanitäter, die gerufen worden waren, hatten darum gekämpft, Williams wiederzubeleben, nachdem erst Dawsons und dann Schwester Brennans Bemühungen, ihm durch Mund-zu-Mund-Beatmung Leben einzuhauchen, fehlgeschlagen waren. Es waren also alle möglichen Personen am Fundort herumgelaufen und hatten Reed Williams berührt. Trotzdem war er mausetot. Sie hockte sich neben ihn und sah sich die Schwellung und die leichte Abschürfung an seinem Kiefer an. Davon abgesehen wies der Körper auf den ersten Blick keine Verletzungen auf. Er trug eine schwarze Badehose und im Becken trieb eine Schwimmbrille mit blauen Gläsern, die ihm offenbar vom Kopf geglitten war.
Da Peabody noch nicht erschienen war, drehte sie Williams alleine um und sah sich seinen Rücken, seine Beine und die Schultern an. »Außer der Abschürfung am Kiefer und ein paar kleinen Kratzern, die wahrscheinlich daher rühren, dass er rückwärts aus dem Wasser gezogen wurde, weist er keine sichtbaren Verletzungen oder Spuren eines Kampfes auf.« Sie richtete sich wieder auf und ging einmal um das Schwimmbecken herum. »Auch Blut ist nirgendwo zu sehen. Vielleicht wurde es ja weggespült.« Sie sah sich stirnrunzelnd nach einer Waffe um, die die Wunde am Kiefer verursacht haben könnte. »Das Opfer stand neben dem Becken. Jemand hat ihm einen Schlag versetzt, woraufhin er rückwärts ins Wasser gefallen ist. Ob er bewusstlos war und deswegen ertrunken ist? Möglich. Obwohl die Wunde nicht so schlimm aussieht, könnte es so gewesen sein.« Sie ging weiter und betrachtete den Rand des Pools. Kehrte dann zu dem Toten zurück, ging nochmals in die Hocke und sah sich die Wunde mithilfe einer MikroBrille und einer Taschenlampe ein bisschen genauer an. »Sieht weniger wie ein Schnitt als wie ein Kratzer aus. Vielleicht war er bereits im Wasser. Ja, so müsste es gewesen sein. Das Opfer hat seine Bahnen gezogen, den Beckenrand erreicht und sich kurz daran festgehalten. Dann ist er plötzlich abgerutscht, hat den Halt verloren und ist mit dem Kinn auf die Fliesen geknallt. Aber warum? Warum war er derart ungeschickt? So kam er mir gar nicht vor. Und ist er nur deswegen ertrunken, weil er mit dem Kinn auf den Beckenrand geschlagen ist? Oder hat möglicherweise jemand nachgeholfen?« Sie blickte auf den Toten und schüttelte den Kopf. »Er hat keine Hautpartikel unter seinen Fingernägeln. Keine Spuren von Versiegelungsspray, nichts. Sieht blitzsauber aus. Was macht man, wenn einem jemand den Kopf unter Wasser drückt? Man setzt sich zur Wehr, schlägt um sich, kratzt. Und wenn ich am
Rand des Beckens stehe und einen starken Mann, der regelmäßig Sport treibt, unter Wasser drücke, knalle ich, um ganz sicherzugehen, vorher seinen Kopf gegen die Wand. Schließlich würde jemand, der die Beule sehen würde, sicher davon ausgehen, dass es ein Unfall war.« Sie runzelte abermals die Stirn und tastete Williams' Schädel ab. Keine Beule, keine Abschürfung, kein Bruch. Es sah schlicht und einfach wie ein Unfall aus. Nie im Leben, dachte sie. »Nehmen Sie ihn mit«, wies sie die Sanitäter an und richtete sich wieder auf. »Und schicken Sie ihn in die Pathologie. Sagen Sie, dass Morris ihn sich möglichst gleich ansehen soll. Außerdem will ich, dass sich die Spurensicherung den Beckenrand ansieht. Ich suche nach Hautpartikeln oder Blut.« Dann ging sie weiter in den Umkleideraum, wo Daw- son in einem schlabberigen Jogginganzug auf einer der Bänke saß und heißen Kaffee trank. »Officer.« Eve nickte dem Beamten zu. »Detective Peabody müsste jeden Moment auftauchen. Bitte schicken Sie sie zu mir.« »Zu Befehl, Ma'am.« »Mr Dawson.« »Er trieb auf dem Wasser.« Dawsons Hände fingen an zu zittern. »Er trieb einfach auf dem Wasser. Erst dachte ich, er würde sich ... absichtlich treiben lassen, wie man es manchmal macht. Aber so war es nicht.« »Mr Dawson, ich muss unsere Unterhaltung aufnehmen. Verstehen Sie?« »Ja, ja.« »Mr Williams trieb bereits im Becken, als Sie ins Schwimmbad kamen?« »Ja, er ...« Dawson atmete tief ein und stellte seinen Kaffeebecher fort. »Ich hatte nach ihm gesucht. Ich hatte Arnette - Ms Mosebly - getroffen, sie hatte mich gebeten, Reed in der vierten Stunde zu vertreten - da habe ich normalerweise frei. Sie
meinte, er wäre suspendiert, und sie würde seine sofortige Entlassung veranlassen, wenn er nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden kündigt. Was ich schrecklich fand.« »Sie waren mit Mr Williams befreundet?« »Wir kommen hier alle prima miteinander aus. Es gab nie irgendwelche Probleme zwischen uns. Bis ... oh Gott.« Er senkte den Kopf und kniff sich in die Nase. »Ich hatte mich bereit erklärt, seine Klasse zu übernehmen, aber gefragt, ob ich vorher noch mit ihm sprechen kann, um ihn danach zu fragen, was er gerade mit den Kindern macht. Jetzt habe ich keine Ahnung, was ich mit der Klasse anfangen soll.« Er legte den Kopf mit dem noch feuchten Haar in seine Hand. »Sie meinte, wahrscheinlich würde er gerade seine Sachen zusammenpacken. Also habe ich im Lehrerzimmer nachgesehen, aber da war er nicht, deshalb bin ich in den Fitnessraum weitergegangen. Sein Spind war noch belegt, aber er war nicht an den Geräten. Also bin ich ins Schwimmbad, und dort habe ich gesehen ...« »Was haben Sie gesehen?« »Dass er mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser trieb. Erst ... Anfangs dachte ich - vielleicht habe ich etwas in der Art gesagt wie: >Verdammt, Reed, was hat das alles zu bedeuten?< Aber er trieb einfach weiter, und da wurde mir klar, dass ... also bin ich einfach reingesprungen. Eigentlich soll man in einem solchen Fall ein Schwimmbrett mitnehmen, aber daran habe ich nicht gedacht. Ich bin einfach reingesprungen, habe ihn umgedreht und an den Rand gezerrt. Dann habe ich ihn rausgezogen. Erst musste ich selber aus dem Becken klettern, und dann habe ich ihn rausgezogen. Ich habe es mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassagen versucht. Wir müssen alle wissen, wie das geht. Ich weiß nicht, wie lange ich es versucht habe, aber er hat nicht wieder angefangen zu atmen. Also bin ich zur Gegensprechanlage rübergerannt und habe Carin - Schwester Brennan
- angerufen. Ich habe ihr gesagt, dass sie einen Krankenwagen rufen und ins Schwimmbad kommen soll.« »Was sie auch getan hat.« »Ja. Sie kam sofort rüber. Sie hat ebenfalls versucht, ihn wiederzubeleben. Als sie hier war, hat sie es ebenfalls versucht. Und dann haben die Sanitäter es auch noch mal versucht. Aber sie meinten, dass nichts mehr zu machen ist.« »Wo sind Ihre Schuhe?« »Schuhe?« Er blickte auf seine nackten Füße. »Ich habe nicht an Schuhe gedacht. Ich hatte meine Arbeitskleidung an, als ich ins Schwimmbad kam. Der Polizeibeamte meinte, es wäre okay, wenn ich mich umziehe. Ich schätze, ich habe einfach vergessen, meine Schuhe wieder anzuziehen. Wenn ich früher hier gewesen wäre, nur ein oder zwei Minuten früher, vielleicht... wenn ich nicht vorher im Lehrerzimmer nachgesehen hätte ...« »Das glaube ich nicht. Ich glaube, Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende getan.« »Das hoffe ich. Ich wäre selber einmal fast ertrunken. Ich war damals zehn. Meine Familie fuhr im August immer nach Jersey an den Strand. Ich bin zu weit rausgeschwommen und kam einfach nicht mehr zurück. Die Wellen haben mich immer weiter rausgetragen, und ich konnte mich nicht mehr über Wasser halten. Mein Vater hat mich zurückgeholt. Er kam zu mir und hat mich den ganzen Weg zum Strand zurückgeschleppt. Erst hat er mir eine Ohrfeige gegeben, weil ich so weit rausgeschwommen war, und dann ist er in Tränen ausgebrochen. Hat sich einfach hingesetzt und ist in Tränen ausgebrochen. Das habe ich nie vergessen, ebenso wenig wie die Panik, die ich damals hatte. Es ist eine beängstigende Art zu sterben.« »Ja, aber das ist fast jede Art«, relativierte Eve. Dann befragte sie ihn weiter, aber sie fräße ihre Dienstmarke, falls er Williams getötet hatte, statt von seinem Tod traumatisiert zu sein.
Schließlich entließ sie ihn, öffnete noch einmal Williams' Spind und fand dort einen seiner guten Anzüge, ein Hemd, eine Krawatte und ein Paar auf Hochglanz polierter Schuhe. Er hatte also vorgehabt, sich heute richtig schick zu machen, dachte sie. Aber wenn man irgendwo kündigen wollte, richtete man sich doch sicher nicht extra so her. Vielleicht hatte er noch eine andere Verabredung gehabt. Sie durchsuchte den Kulturbeutel, fand dort aber nichts, was ihr verdächtig vorgekommen wäre, und zerrte gerade seine Aktentasche aus dem Schrank, als in ihrem Rücken das Poltern der Winterstiefel ihrer Partnerin erklang. »Williams«, meinte Eve, ohne sich umzudrehen. »Er trieb tot im Pool. Hat eine Abschürfung am Kiefer, die ihm jemand beigebracht haben könnte, obwohl es für mich so aussieht, als wäre er auf den Beckenrand gekracht. Und die paar kleinen Kratzer auf dem Rücken stammen offenkundig daher, dass er rücklings aus dem Wasser gezogen worden ist. Andere Verletzungen sind nicht zu sehen.« »Dann sieht es also nach einem Unfall aus.« »So sieht's aus, aber ich bin ein tanzender Affe, wenn es wirklich einer war. Dem Inhalt seiner Aktentasche nach hatte er die Absicht, heute wieder seinen Dienst zu tun.« Jetzt sah sie Peabody an. »Allerdings behauptet ein Zeuge, Williams wäre suspendiert worden und hätte, wenn er nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden selbst gekündigt hätte, entlassen werden sollen.« »Trotzdem ist er wie jeden Tag zum Unterricht erschienen und hat sogar noch den Fitnessbereich genutzt.« Peabody streckte den Kopf in seinen Spind. »So, wie es aussieht, hatte er die Absicht, einfach so zu tun, als wäre nichts geschehen. Wen hat er heute Morgen alles getroffen?« »Das müssen wir noch rausfinden, aber ich gehe jede Wette ein, dass er die ehrenwerte Ms Mosebly auf jeden Fall gesehen hat.«
Sie fanden die Rektorin in ihrem Büro. Sie marschierten einfach an der schniefenden, verheulten Sekretärin im Vorzimmer vorbei und trafen Mosebly an, die hinter ihrem Schreibtisch auf und ab marschierte und sich über ein Headset mit jemandem unterhielt. Als sie Eve und Peabody entdeckte, hob sie eine Hand zum Zeichen, dass sie warten sollten, während sie mit wem auch immer sprach. »Ja, natürlich, das werde ich tun. Die Polizei ist gerade da. Ich werde Sie sofort zurückrufen, nachdem ich mit den Beamtinnen gesprochen habe«, sagte sie, nahm das Headset ab und legte es vor sich auf den Tisch. »Das war der Vorsitzende des Verwaltungsrats«, erklärte sie und rieb sich die Stirn. »Wir machen augenblicklich sehr schwierige Zeiten durch. Falls Sie sich noch einen Augenblick gedulden würden - ich muss die Schüler noch nach Hause schicken.« »Niemand verlässt das Haus«, erklärte Eve. »Wie bitte? Wir hatten einen zweiten Todesfall. Sie können ja wohl nicht erwarten, dass die Schüler ...« »Niemand verlässt das Gebäude, bevor ich es gestatte. Und ohne meine ausdrückliche Erlaubnis kommt auch niemand herein. Um wie viel Uhr haben Sie heute Morgen mit Mr Williams gesprochen?« »Entschuldigung, aber mir platzt beinahe der Schädel.« Sie zog eine Schublade des Schreibtischs auf und nahm eine kleine Emailledose heraus, die, wie Eve erkannte, ein harmloses Schmerzmittel enthielt. Dann schenkte sie sich ein Glas Wasser ein, setzte sich und schob sich eine Tablette in den Mund. Die Pille würde gegen das Kopfweh helfen, dachte Eve und gab Mosebly gleichzeitig einen kurzen Moment, um sich zu sammeln und zu überlegen, was sie ihnen alles erzählen sollte, und wie sie es am besten tat. »Ich war um sieben oder kurz nach sieben hier. Ehrlich gesagt, hat Craig Fosters Tod für einige Unruhe unter der Elternschaft und im Verwaltungsrat gesorgt. Ich habe bereits eine Reihe von
Konferenzen deshalb abgehalten und kam heute extra etwas früher, um andere Verwaltungsaufgaben zu erledigen, die deshalb liegen geblieben sind.« »Einschließlich der Entlassung von Reed Williams.« »Ja.« Sie presste ihre Lippen aufeinander. »Das erscheint jetzt vielleicht ziemlich kalt, aber ich hatte keine andere Wahl. Gegen ihn sollte Anklage wegen des Besitzes verbotener Substanzen erhoben werden und, so wie es aussah, stand er unter dem Verdacht, auch der Mörder von Craig zu sein. Deshalb stellte er eine inakzeptable Gefahr für unsere Schüler dar. Das habe ich ihm, als er gestern wieder in die Schule kam, auch unmissverständlich klargemacht.« »Gestern? Er kam gestern nach der gerichtlichen Anhörung hierher?« »Genau. Erst habe ich ihm vorgeschlagen, dass er Urlaub nehmen soll, aber er hat darauf bestanden, so weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Obwohl die meisten Schüler das Gebäude um die Zeit bereits verlassen hatten, hatte ich die Befürchtung, dass er vielleicht eine Szene machen würde, und habe ihn deshalb zu einem Gespräch unter vier Augen in mein Büro gebeten.« Mosebly strich sich über das Haar und zog an der Jacke ihres Kostüms. »Ich will ganz ehrlich sein, es war alles andere als angenehm. Ich habe ihm erklärt, dass ich gezwungen bin, jeden weiteren Skandal zu vermeiden. Es wurden bereits drei Schüler von der Schule abgemeldet, und die Eltern haben eine Rückerstattung der Schulgebühr verlangt. Nachdem öffentlich bekannt wurde, dass einer unserer Lehrer verhaftet worden war ...« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Wie hat er es aufgenommen?«, fragte Eve. »Schlecht. Es ist mein Recht, einen Lehrer, der unter dem Verdacht steht, sich gesetzeswidrig oder unmoralisch zu verhalten, vom Unterricht zu suspendieren, aber eine Entlassung
ist ein bisschen schwieriger. Das hat er gewusst. Er hat behauptet, dass er jeden Versuch von mir - oder vom Verwaltungsrat -, ihm fristlos zu kündigen, gemeinsam mit seinem Anwalt und dem Vertreter seiner Gewerkschaft vereiteln würde, und ist dann einfach gegangen.« »Das hat Ihnen sicher nicht gepasst.« »Nein, das hat es nicht. Das hat es ganz sicher nicht«, wiederholte Mosebly mit zornblitzenden Augen. »Denn auch wenn ich glaube, dass wir mit einer Kündigung erfolgreich gewesen wären, wäre es doch eine ziemlich hässliche Angelegenheit geworden. Und hätte ohne Zweifel den Verlust weiterer Schüler und Schülerinnen zur Folge gehabt.« »Und Ihre Einnahmen geschmälert.« »Ja. Ohne entsprechende Einnahmen können wir nicht die Ausbildung bieten, die die Schüler erwarten und verdienen.« »Trotzdem ist er heute Morgen aufgetaucht, als wäre nichts geschehen. Haben Sie sich deshalb im Schwimmbad mit ihm gestritten, Ms Mosebly? Sie waren doch heute Morgen schwimmen.« Sie wartete, während die Rektorin blinzelte, und fügte dann hinzu: »Ich habe das feuchte Handtuch im Wäschekorb des Frauenumkleideraums gesehen.« »Wie ich bereits sagte, gehe ich morgens häufig schwimmen. Ich habe Reed gesehen, als ich aus dem Becken kam. Und, ja, wir haben uns gestritten. Ich habe ihm erklärt, dass er das Gebäude umgehend verlassen soll, und er hat mich darüber informiert, dass er eine Runde schwimmen und dann noch in aller Ruhe eine Tasse Kaffee trinken und einen Muffin essen würde, bevor sein Unterricht beginnt.« »Er hat sich Ihren Anweisungen also widersetzt«, stellte Eve mit ruhiger Stimme fest. »Er war äußerst selbstgefällig und entsetzlich arrogant. Ich leugne nicht, dass wir eine Auseinandersetzung hatten und dass ich sehr wütend war. Aber als ich aus dem Schwimmbad ging, war er noch quicklebendig und sprang gerade kopfüber in den
Pool. Ich habe geduscht, mich angezogen und bin dann direkt in mein Büro gekommen, um den Vorsitzenden des Verwaltungsausschusses anzurufen und ihm zu berichten, was vorgefallen war.« »Um wie viel Uhr haben Sie bei ihm angerufen?« »Das muss gegen acht gewesen sein. Nach Ende des Gesprächs habe ich Eric - Mr Dawson - gesucht und gebeten, Reeds Klasse in der vierten Stunde zu übernehmen. Außerdem habe ich mit Mirri und Dave gesprochen, damit jeder von ihnen eine Stunde in der Klasse übernimmt.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Was von der Planung her ein kleiner Albtraum ist. Ich wollte warten, bis Reed aus der Garderobe kommt, um ihm noch eine letzte Chance zu geben, freiwillig zu gehen. Wenn er dazu nicht bereit gewesen wäre, hätte ich auf Anweisung des Verwaltungsrats die Security gerufen und ihn aus dem Gebäude führen lassen. Ich wusste nicht, dass Schwester Brennan einen Krankenwagen gerufen hatte, bis plötzlich die Sanitäter an mir vorbeirannten. Ich wusste nicht ... ich hatte keine Ahnung, was geschehen war.« »Sie kennen die Routine ja bereits. Ich brauche die Namen aller, die zwischen sieben und halb neun im Haus waren. Meine Partnerin und ich fangen gleich mit den Vernehmungen der Leute an.« »Aber ... aber es war ein Unfall.« Eve sah sie mit einem schmalen Lächeln an. »Das haben Sie bei Foster auch gesagt.« Es hatten sich fast dieselben Angestellten zur Tatzeit in der Schule aufgehalten wie beim letzten Mal, erkannte Eve. Doch es war interessant, dass Allika Straffo zusammen mit ihrer Tochter um sieben Uhr zweiunddreißig ins Haus gekommen und erst um acht Uhr zwölf wieder gegangen war. Williams' Todeszeit hatte sie auf zehn vor acht geschätzt.
Sie grübelte darüber nach, während sie darauf wartete, dass Mirri Hallywell erschien. »Ich weiß nicht, wie viel wir noch aushalten können«, setzte Mirri an. »Dieses Haus erscheint mir wie ein Grab. Als wäre es verflucht. Das klingt vielleicht dramatisch, aber so fühlt es sich nun einmal für mich an.« »Warum sind Sie schon so früh hier aufgetaucht? Sie sind bereits seit Viertel nach sieben hier.« »Oh, wegen der Theater-AG. Wir treffen uns immer vor dem Unterricht. Im Kinosaal. Wir haben über ein paar Szenen aus Unsere kleine Stadt von Thornton Wilder diskutiert.« »Ich brauche eine Liste der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrer und möglicherweise Eltern oder Kindermädchen, die bei diesem Treffen dabei gewesen sind.« »Natürlich, kein Problem. Ich war die einzige Lehrerin.« »Haben Sie den Kinosaal irgendwann während des Treffens verlassen?« »Nein, ich v/ar von sieben Uhr dreißig bis acht Uhr fünfzehn durchgehend dort. Oder vielleicht sogar schon ein bisschen früher, weil ich die Diskette in das Abspielgerät gelegt habe, vielleicht bin ich auch etwas später rausgegangen, denn ich habe auch alles wieder abgebaut. Von der Sache mit Reed habe ich erst etwas gehört, als ich in meine Klasse kam.« »Sie wussten, dass Williams gestern verhaftet worden war.« »Das wussten alle.« Sie zuckte mit der Schulter. »Ich kann nicht behaupten, dass ich allzu überrascht gewesen wäre, und auch wenn ich das vielleicht nicht sagen sollte, hat es mich sogar etwas gefreut. Wissen Sie, ich dachte, dass er endlich die Quittung für sein Verhalten kriegt. Aber zu ertrinken, ist natürlich grauenhaft. Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte.« »Wir werden uns noch mal mit der zerbrechlichen, liebreizenden Mrs Straffo unterhalten«, meinte Eve, als sie sich
hinter das Lenkrad ihres Wagens schwang. »Ich frage mich, wie sie damit zurechtkommt, dass ihr Ehemann den Kerl vertritt, mit dem sie ihn betrogen hat. Und weshalb sie heute Morgen vierzig Minuten in der Schule war.« »Straffo stand nicht auf Hallywells Liste der Eltern, die bei dem Treffen der Theater-AG waren.« Peabody rutschte auf ihrem Sitz herum und starrte reglos geradeaus. »Also, wie stehen die Aktien?« »Was für Aktien?« »Ich, äh, habe zufällig heute Morgen die Nachrichten gesehen, als ich mit einem Bagel in der Küche saß. Dabei habe ich diesen schwachsinnigen Beitrag über Roarke und diese Blondine mitbekommen. Jeder konnte sehen, dass das totaler Blödsinn war.« »Warum sprechen Sie das Thema dann an?« »Tut mir leid.« »Nein«, sagte Eve nach einem Augenblick. »Es wäre ungerecht, meine schlechte Laune an Ihnen auszulassen. Es ist momentan einfach kein Thema, das ist alles. Und zwar ist es das deshalb nicht, weil es nicht zu unserem Job gehört. Okay?« »Ja, klar.« »Ich darf es nicht an mich heranlassen«, fügte Eve nach einem weiteren Moment schreiender Stille unglücklich hinzu. »Ich darf einfach nicht darüber nachdenken.« »Okay. Ich werde nur noch eines dazu sagen, und dann schließen wir das Thema ab. Das Ganze ist totaler Quatsch.« »Danke, das ist nett. Okay, warum hat nicht das Kindermädchen, sondern Mrs Straffo die Kleine heute in die Schule gebracht?« »Bei Leuten wie ihnen nennt man so etwas Au-pair. Gute Frage.« Eve hielt vor dem Apartmenthaus. »Also, stellen wir sie ihr.« Der Portier gab sich die größte Mühe, sie daran zu hindern, ihrer Arbeit nachzugehen. »Mrs Straffo möchte nicht gestört werden«, erklärte er in strengem Ton.
»Ich habe keine Ahnung, was für einen Weihnachtsbonus Sie von den Straffos kriegen, Kumpel, aber jetzt ist der Augenblick gekommen, an dem Sie sich fragen sollten, ob es sich tatsächlich lohnt, sich dafür wegen Behinderung der Polizei aufs Revier zerren zu lassen. Das hier ist meine Dienstmarke. Gucken Sie sie sich an und dann machen Sie endlich Platz, denn sonst sitzen Sie die nächsten Stunden auf der Wache fest.« »Ich mache nur meinen Job.« »Tun wir das nicht alle?« Sie schob sich an ihm vorbei, blieb dann aber noch einmal stehen und wollte von ihm wissen: »Haben Sie das Au-pair-Mädchen der Straffos heute Morgen irgendwann gesehen?« »Cora? Sie ist gegen neun einkaufen gegangen. Sie meinte, Mrs Straffo fühle sich nicht gut und wolle nicht gestört werden. Sie ist noch nicht zurück.« »Wie sieht es mit Mrs Straffo aus? Wann ist sie heute Morgen zurückgekommen?« »Gegen halb neun, vielleicht ein bisschen später. Sie sah ziemlich fertig aus.« »Kam sie zu Fuß oder mit dem Wagen?« »Zu Fuß. Sie hatte ihre Tochter zu Fuß zur Schule gebracht. Die ist schließlich nur zehn Minuten entfernt. Allerdings waren sie ziemlich in Eile. Die Kleine hat etwas davon gesagt, dass sie zu spät zu irgendeinem Treffen kommt, wenn sie nicht schnell machen.« »Bringt nicht normalerweise das Au-pair die Tochter in die Schule und holt sie dort auch wieder ab?«, wunderte sich Peabody. »Meistens, sicher«, bestätigte ihr der Portier. »Aber ab und zu bringt eben auch einer von den Straffos sie hin.« Auf dem Weg zum Penthouse dachte Eve über das Ti- ming nach. Allika hatte die Schule verlassen und war zu Fuß nach Hause zurückgekehrt. Sie hatte eine gute Viertelstunde für den Weg gebraucht, sich also nicht extra beeilt. Dann war sie wieder
in die Wohnung raufgefahren, hatte das Au-pair zum Einkaufen geschickt und erklärt, sie wolle nicht gestört werden. Oben angekommen drückte Eve den Klingelknopf. Das Sicherheitslämpchen blinkte und der Computer sprang mit einem leisen Klicken an. ENTSCHULDIGUNG. DIE FAMILIE STRAFFO MÖCHTE NICHT GESTÖRT WERDEN. FALLS SIE IHREN NAMEN UND IHRE NUMMER HINTERLASSEN MÖCHTEN, RUFT JEMAND AUS DER FAMILIE SIE SCHNELLSTMÖGLICH ZURÜCK. Eve hielt ihre Dienstmarke gut sichtbar vor den Scanner. »Polizei. Mrs Straffo möchte bitte aufmachen.« EINEN AUGENBLICK, BITTE. IHRE DIENSTMARKE WIRD ÜBERPRÜFT ... ÜBERPRÜFUNG ABGESCHLOSSEN. BITTE WARTEN SIE ... Gerade als Eve mit dem Gedanken spielte, einfach mit der Faust gegen die Tür zu trommeln, wurde ihnen aufgemacht. Der Portier hatte eindeutig recht gehabt. Allika Straffo sah erbärmlich aus. Auch wenn sie einen Hausanzug aus teurer Seide trug, war das Erste, was Eve auffiel, ihr hohläugiges, kreidiges Gesicht. »Bitte, kann das nicht warten? Ich bin krank.« »Sie waren fit genug, um Ihre Tochter heute Morgen zu Fuß zur Schule zu bringen. Ist dort irgendwas passiert, was Sie krank gemacht hat? Oder fühlen Sie sich vielleicht deshalb nicht so gut, weil Ihr Ehemann die Verteidigung Ihres Geliebten übernommen hat?« »Er ist nicht mein Geliebter. Das Ganze war ein Fehler. Bitte, lassen Sie mich wieder allein.« »Oh nein, ganz sicher nicht.« Eve legte eine Hand gegen die Tür, bevor Allika sie wieder schließen konnte. »Haben Sie diesen Fehler heute Morgen korrigiert?«
»Ich bin müde.« In Allikas Augen sammelten sich Tränen. »Ich bin einfach krank und müde. Ich will, dass das alles endlich aufhört.« »Haben Sie Williams deshalb zum dritten Mal einen besonderen Kick verschafft?« »Wovon reden Sie? Also gut, kommen Sie rein. Kommen Sie einfach rein. Ich bin viel zu müde, um noch länger hier zu stehen und mit Ihnen zu streiten.« Sie ging hinüber in den Wohnbereich, ließ sich auf eins der Sofas fallen und legte ihren Kopf in eine Hand. »Ich war so eine Närrin, so eine dumme Närrin, dass ich mich jemals mit ihm eingelassen habe. Wie viel muss ich denn noch für diesen Fehler zahlen?« »Hat er Geld von Ihnen erpresst?« »Geld?« Sie blickte wieder auf. »Nein, nein. Er hat mich dazu gezwungen, Oliver dazu zu bringen, dass er ihn verteidigt. Aber was ist dieser Williams für ein Mann? Hatte er wirklich dieses Zeug in seinem Schlafzimmer? Wie kann ich mir jetzt noch sicher sein, dass er es nicht auch mir gegeben hat? Bereits bei dem Gedanken wird mir schlecht.« »Haben Sie ihn heute Morgen deshalb zur Rede gestellt?« »Nein. Ich wollte es. Ich habe versucht, Oliver dazu zu bringen, das Mandat niederzulegen, aber Oliver kann sehr entschlossen sein. Ich wollte einfach wissen, was Reed zu ihm gesagt hat, und Reed dazu überreden, dass er sich einen anderen Anwalt sucht.« Eve setzte sich ebenfalls. »Lassen Sie mich unser Gespräch aufnehmen. Das dient unser aller Schutz. Ich werde Sie jetzt über Ihre Rechte und Pflichten aufklären.« »Aber ...« »Sie sind mit einem Anwalt verheiratet. Sie wissen, wie diese Dinge laufen. Rekorder an.« Während Eve die vorgeschriebenen Sätze sprach, sah sie Allika ins Gesicht. »Haben Sie alles verstanden?« »Ja, natürlich. Ja.«
»Sie haben Ihre Tochter heute Morgen in die Schule gebracht und kamen dort um sieben Uhr dreißig an.« »Ja, ich dachte, Reed wäre vielleicht dort, wenn ich sie hinbringe. Ein Blick auf die Liste der anwesenden Lehrer zeigte mir, dass er tatsächlich bereits in der Schule war. Also habe ich Rayleen zum Kinosaal gebracht und bin wieder in den Eingangsbereich zurückgegangen. Ich dachte, um diese Zeit wäre er bestimmt im Fitnessraum. Aber dort habe ich ihn nicht gesehen. Deshalb beschloss ich, im Schwimmbad nachzusehen. Ich hörte die beiden, als ich durch die Tür des Umkleideraums trat.« »Wen haben Sie gehört?« »Reed und die Rektorin Mosebly. Die beiden haben miteinander gestritten und sich richtiggehend angeschrien. Sie hat ihm erklärt, dass er, nach dem, was er getan hat, für die Schule nicht länger tragbar wäre. Und wenn er nicht von sich aus gehen würde, würde sie dafür sorgen, dass ihn der Verwaltungsrat entlässt.« »Weshalb sollte Sie das aus der Fassung bringen?«, fragte Eve. »Das hat es nicht - ich meine, es war nicht gerade angenehm, den beiden zuzuhören, aber das war es nicht, weshalb ich die Fassung verloren habe. Ich wollte gerade wieder gehen. Ich wollte nicht, dass sie mich dort sehen. Aber dann hat er gesagt: >Versuch es doch, Arnet- te.< Er klang richtiggehend amüsiert. Ich glaube, er hat sogar gelacht.« Sie erschauderte. »Ich habe ihn nie zuvor so reden gehört, so hart und so gemein. Mir gegenüber war er immer so charmant und sanft, selbst als ich ihm erklärt habe, dass das, was wir getan hatten, ein Fehler war. Er war sehr verständnisvoll. Aber heute Morgen ...« »Was haben Sie sonst noch gehört?« Allika befeuchtete sich die Lippen. »Er meinte, dann wäre er nicht der Einzige, der in hohem Bogen von der Schule fliegt. Wenn sie ihm Probleme machen würde, würde er ihr auch
Probleme machen. Denn was würde der Verwaltungsrat wohl sagen, wenn er von ihm hörte, dass sie sich von einem Lehrer hatte ficken lassen - genauso hat er es formuliert. Dass sie sich von ihm, von einem ihrer Lehrer, auf dem geheiligten Schulgelände hatte ficken lassen, und zwar genau dort, wo sie gerade stand. Wie auch in ihrem Büro. Es hat mich krank gemacht, zu hören, wie er anfing, die Dinge zu beschreiben, die er mit ihr getrieben hat.« »Und Mosebly?«, fragte Eve. »Wie hat sie auf diese Drohung reagiert?« »Das weiß ich nicht. Mir war schlecht, deshalb bin ich weggelaufen. Ich bin auf eine der Toiletten gerannt und habe mich dort übergeben.« Sie presste sich die Finger an die Lippen und kniff die Augen zu. »Ich habe mich fürchterlich geschämt. Habe mich geschämt und mich wegen der Dinge, die ich getan habe, vor mir selbst geekelt. Mit was für einem Wi- derling habe ich meinen Mann betrogen. Er hat auch meine Schwäche schamlos ausgenutzt, um mich dazu zu zwingen, Oliver dazu zu überreden, dass er ihn verteidigt, denn er weiß genau, dass ich zu feige bin, um Oliver meinen Seitensprung zu gestehen. Er weiß, dass ich auch weiter schweigen werde, und ich nehme an, dass auch Ms Mosebly schweigen wird. Also wird er sich einfach an die nächste Frau heranmachen ...« »Nein, das wird er nicht. Weil er nämlich nicht mehr lebt.« Allika starrte Eve entgeistert an, bevor plötzlich ihre Augen nach hinten rollten und sie leblos auf den blank polierten Marmorboden sank.
13 Als Allika wieder zu sich kam, wurde sie vollkommen hysterisch. Das Zittern, das Schluchzen und der wilde Blick konnten Zeichen eines Schocks, gut gespielt oder einfach Ausdruck ihrer Schuldgefühle sein. Eve konnte es nicht sagen, als plötzlich das Kindermädchen, beide Arme voller Einkaufstüten, angelaufen kam. »Was ist los? Was ist passiert? Oh Gott, ist etwas mit Rayleen?« »Der Kleinen geht es gut.« Eve wartete, während Cora ihre Tüten auf den Boden warf und eilig vor Allika trat. »Beruhigen Sie sie erst einmal. Flößen Sie ihr, wenn es sein muss, irgendein Beruhigungsmittel ein. Wir setzen das Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fort.« »Was ist mit Mr Straffo?«, fragte das Au-pair. »Er ist ebenfalls okay, soweit ich weiß. Beruhigen Sie Mrs Straffo und kommen dann noch einmal zu uns. Ich habe auch noch ein paar Fragen an Sie.« »Also gut, dann ... Pst, pst, es wird alles gut«, redete Cora mit der leicht singenden Stimme, die verriet, dass sie von Natur aus ein fürsorgliches Wesen war, auf Mrs Straffo ein. »Kommen Sie mit Cora, ja? Es wird alles gut.« »Nichts wird jemals wieder gut«, schluchzte Allika, während Cora sie auf die Füße zog. »Er ist tot. Mein Gott, er ist tot.« Cora wandte sich an Eve. »Ein weiterer Lehrer«, antwortete die. »Oh, grundgütiger Jesus. Ja, meine Liebe, kommen Sie und legen sich ein wenig hin.«
Cora führte sie statt zur Treppe Richtung Lift, legte einen Arm um ihre Taille und trug das Gewicht der anderen Frau, als wöge sie nicht mehr als ein kleines Kind. »Rufen Sie Mosebly an, Peabody«, bat Eve, während sie in Richtung der mittleren Etage sah. »Ich will, dass sie auf die Wache kommt. Seien Sie höflich, bitten Sie sie um Entschuldigung. Sie wissen schon.« »Nur noch ein paar Fragen, aber es ist für alle besser, wenn wir uns nicht noch einmal in der Schule unterhalten. Alles klar.« Während Peabody ihr Handy aus der Tasche zog, trat Eve beiläufig an den Fuß der Treppe. Sie sah nur nach einer potentiellen Zeugin oder vielleicht sogar Verdächtigen. Das war vollkommen verständlich, völlig akzeptabel, ganz legal. Und wenn sie ein bisschen trödelte und im Vorbeigehen durch ein paar offene Türen sah, wäre das ebenfalls okay. Sie warf einen Blick in einen Raum, der offensichtlich Straffos Arbeitszimmer war. Geräumig, elegant mit teurem schokoladenbraunem Ledermobiliar. Die Fenster boten einen schönen Ausblick, doch von außen konnte niemand in das Zimmer sehen, denn Straffo hatte die Scheiben mit Sichtblenden geschützt. Ein kleines Sofa, eindeutig nicht groß genug, um sich dort auszustrecken und ein Nickerchen zu machen. Nein, in diesem Raum ging es einzig um die Arbeit und sonst nichts. Direkt gegenüber lag das Zimmer seiner Frau. Es gab einen kleinen Schreibtisch mit dramatisch geschwungenen Beinen und dazu passendem Stuhl. Alles in Pastellfarben, bemerkte Eve. Rosa und lindgrün, selbst der hübsche kleine Kamin, auf dessen Sims eine Ansammlung gerahmter Fotos stand. Mehrere Aufnahmen der Tochter, der Familie, eine des - jüngeren, weicheren - Ehepaars. Nirgends aber war ein Bild von einem kleinen Jungen. Nirgends war ein Bild des verstorbenen Sohns. Auch hier waren an den Fenstern Sichtblenden montiert, sie wurden jedoch von weichen, grünen Vorhängen flankiert. Dann
gab es noch ein kleines Tischchen, auf dem neben einem hübschen Teeservice ein Strauß mit frischen Blumen stand. Das Zimmer nebenan schien ein Spielzimmer zu sein. Das Territorium der Tochter, dachte Eve. Neben einem kleinen Schreibtisch gab es jede Menge Spielsachen in vielen bunten Farben, darunter so viel grelles Pink, dass Eve davon Zahnschmerzen bekam. Die Kleine hatte ihren eigenen Computer, merkte sie, ihr eigenes Entertainment-Center und ihr eigenes Teegeschirr, das auf einem eigenen kleinen Tischchen stand. Die Umgebung des Schreibtisches sah aus wie ein Büro - für die Generation, die noch zur Schule ging. Diskettenkästen, Blöcke, Pinsel, Stifte, mit denen wahrscheinlich ein Teil der Bilder an den Wänden geschaffen worden war. Durch eine offene Tür sah Eve ein riesengroßes Bett. Auch das Schlafzimmer der Kleinen war erschreckend mädchenhaft mit jeder Menge pinkfarbener und weißer Rüschen sowie einer großen Puppensammlung, die auf Puppenmöbeln saß. Was Eve etwas merkwürdig fand. Wofür brauchten Puppen Stühle, Betten, Tische? Außer, die erwachten mitten in der Nacht zu Leben und benutzten dann das Mobiliar. Was ein eindeutig gespenstischer Gedanke war. Sie ging weiter an der Tür vorbei, hinter der das Kindermädchen mit begütigender Stimme mit Allika sprach, und entdeckte ein Gästezimmer, das den Test in jedem Fünf-Sterne-Hotel bestanden hätte. Damit gab es in der mittleren Etage drei Schlaf- und drei Badezimmer - ohne Zweifel kam man aus dem Schlafzimmer der Eltern in ein eigenes Bad -, ein Spielzimmer, das Wohnzimmer der Mutter sowie Straffos Büro. Sie hob den Kopf und wünschte sich, sie hätte einen Grund, sich auch noch die oberste Etage anzusehen. Stattdessen wartete sie ab, bis Cora aus dem Schlafzimmer geglitten kam.
Die junge Frau zog vorsichtig die Tür hinter sich zu, flüsterte: »Die Räume sind nicht schallgeschützt« und bedeutete Eve, wieder mit ihr hinunterzugehen. »Weshalb gibt es in einer solchen Wohnung keinen Schallschutz?«, fragte Eve. »Mir wurde gesagt, dass die gnädige Frau keinen Schallschutz will, damit sie Rayleen immer hören kann. Wissen Sie, sie hatten einen Sohn, der gestorben ist.« »Ja, davon habe ich gehört.« »Ich habe Ihren Rat befolgt und ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Jetzt wird sie erst mal schlafen. Ich habe ihr gesagt, ich würde ihren Mann anrufen, aber sie meinte, dass ich das nicht darf, und hat noch mehr geweint. Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll.« »Gab es zwischen den Straffos in den letzten ein, zwei Tagen Spannungen oder Streit?« »Tja, nun.« Cora schob sich die leuchtend roten Haare aus der Stirn. »Sie war ziemlich nervös. Ich schätze, da Sie von der Polizei sind, ist es nicht aus dem Nähkästchen geplaudert, wenn ich Ihnen erzähle, dass es ihr nicht gefallen hat, dass er den Lehrer, der verhaftet wurde, vertreten hat. Sie hat ihm gestern deshalb Vorwürfe gemacht. Sie war ziemlich aufgeregt und wollte von ihm wissen, was er machen würde, wenn gegen den Mann wegen des Mordes an Mr Foster Anklage erhoben wird. Darauf hat der gnädige Herr gesagt, dass sie sich nicht in seine Arbeit mischen soll. Wie gesagt, die Räume sind nicht schallgeschützt«, fügte Cora mit einem müden Lächeln hinzu. »Aber das war das erste Mal, dass ich die beiden in dieser Weise streiten gehört habe, seit ich hierhergekommen bin. Ich bin raufgegangen, um Rayleen vom Streit der Eltern abzulenken, aber sie saß am Schreibtisch in ihrem Spielzimmer und hat wie jeden Tag vor dem Abendessen ihre Hausaufgaben gemacht. Dabei hat sie Musik gehört.« Cora
tippte sich an die Ohren. »Sie hatte ihr Headset auf, hat also den Streit zwischen ihren Eltern nicht gehört.« »Und heute Morgen?« »War die Stimmung immer noch gespannt. Genau wie gestern beim Abendessen. Allerdings haben die beiden das Thema nicht angesprochen, solange Rayleen und ich am Tisch saßen.« Cora blickte auf die Tüten, die sie hatte fallen lassen, als sie hereingekommen war. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Taschen, während wir uns unterhalten, in die Küche bringe und auspacke?« »Nein. Das ist okay.« Eve gab Peabody ein stummes Signal und hob dann selbst eine der Tüten auf. »Die hier nehme ich.« Durch eine offene Bogentür gelangte man ins Esszimmer, das überwiegend schwarz und silberfarben eingerichtet war, und von dem aus man auf eine breite Terrasse kam. Die Küche lag direkt daneben und wies dieselben Farben sowie ein paar leuchtend blaue Tupfer auf. »Mrs Straffo hat Rayleen heute in die Schule gebracht.« Eve stellte ihre Tüte auf der breiten, verchromten Arbeitsplatte ab. »Vielen Dank fürs Tragen. Ja, sie hat sie heute zur Schule gebracht.« Cora fing an, Vorräte in schwarz schimmernden Schränken und dem riesigen, silbrigen Kühlschrank zu verstauen. »Manchmal bringt einer von den beiden Rayleen morgens weg. Obwohl das für gewöhnlich vorher abgesprochen wird. Die beiden sind wirklich rücksichtsvoll und geben mir immer rechtzeitig Bescheid, damit ich meine freie Zeit verplanen kann. Aber heute hat mir die gnädige Frau erst Bescheid gesagt, nachdem Mr Straffo bereits gegangen war.« Sie machte die letzte Schranktür zu. »Kann ich Ihnen oder Ihrer Partnerin etwas anbieten, Lieutenant? Vielleicht einen Tee?« »Nein, danke.« »Wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich mir eine Tasse. Ich bin nämlich ziemlich aufgeregt. Jetzt ist noch ein Lehrer tot,
haben Sie gesagt. Und nicht nur aller guten, sondern auch aller schlechten Dinge sind immer drei.« Während sie sich den Tee bestellte, sah sie Eve mit einem treuherzigen Lächeln an. »Ich weiß, dass das ein Aberglaube ist. Aber trotzdem. Oh Gott, Rayleen. Soll ich sie vielleicht aus der Schule abholen? Andererseits sollte ich die gnädige Frau jetzt nicht alleine lassen.« »Die Schule wollte ihren Vater verständigen.« »Also gut, das ist sicher das Beste.« Sie zog die Tasse aus dem AutoChef und stieß einen Seufzer aus. »Was für ein fürchterliches Durcheinander.« »Wie ging es Mrs Straffo, als sie heute früh wieder nach Hause kam?« »Sie sah ziemlich schlecht aus und meinte, sie fühle sich nicht wohl.« Cora glitt auf einen Hocker an dem kurzen Tresen und trank dort den ersten Schluck von ihrem Tee. »Sie hat mich gebeten, ein paar Besorgungen zu machen, und meinte, sie wollte nicht gestört werden, damit sie in Ruhe schlafen kann. Also habe ich ihr einen Tee gekocht und mich auf den Weg gemacht.« »Machen Sie oft Besorgungen für sie?« »Oh ja. Das gehört zu meinen Aufgaben. Womit ich nicht sagen will, dass ich mich hier halb totarbeiten muss, denn das muss ich ganz sicher nicht.« Eve dachte an den aufwändigen Spiel- und Schlafbereich im mittleren Stock. »Aber Sie verbringen viel Zeit mit Rayleen.« »Oh ja, das tue ich. Was mir große Freude macht. Zumindest meistens«, schränkte Cora lachend ein. »Aber die gnädige Frau überlässt mir nicht Rayleens Erziehung, falls Sie wissen, was ich damit sagen will. Es gibt andere Frauen, die so was tun. In dieser Familie verbringen sie sehr viel Zeit miteinander - sie spielen miteinander oder gehen gemeinsam die Hausaufgaben durch. Die gnädige Frau ist wirklich reizend und unglaublich freundlich, genau wie der gnädige Herr. Trotzdem muss ich sagen, dass er meiner Meinung nach diesen Mann nicht hätte
vertreten sollen, wenn das seine Frau so aufregt. Und jetzt ist der Mann tot. Sie hat mir erzählt, er wäre tot, als ich sie ins Bett gebracht habe. Das arme Lamm. All das hat sie total erschüttert.« Als sie das Penthouse wieder verließen und Peabody erklärte, dass Mosebly mit einem Gespräch auf der Wache einverstanden war, überlegte Eve, ob sich nicht noch jemand anderes an diesem Tag erschüttern ließ. Auch ihre eigenen Nerven waren angespannt und drohten zu zerreißen, als sie in ihre Abteilung kam. Mehrere Gespräche brachen plötzlich ab, ein verräterischer Augenblick der Stille senkte sich über den Raum, ehe man sich weiter unterhielt. Außerdem warfen ihr mehrere Kollegen und Kolleginnen verstohlene Blicke zu und wandten sich dann eilig wieder ab. Niemand machte eine vorlaute Bemerkung über ihren Auftritt bei Nadine. Weil das nicht die heißeste Neuigkeit des Tages war, dachte Eve, während sie in ihr Büro marschierte und sich zwang, die Tür möglichst geräuschlos hinter sich zuzuziehen. Die heißeste Neuigkeit war die vom Ehemann des Lieutenants und dem blonden Gift. Sie bestellte sich einen Kaffee, registrierte, dass sie Anrufe von Nadine, Mavis, Mira und der Journalistin hatte, von der das hässliche Gerücht verbreitet worden war. Eher würde die Hölle gefrieren, als dass dieses blöde Weib einen Anruf von ihr bekam. Auch wenn sie deshalb leichte Schuldgefühle hatte, löschte sie einfach die Nachrichten von Mavis und Nadine. Miras Nachricht aber hörte sie ab. »Eve, ich habe Ihnen ein detaillierteres Täterprofil geschickt. Ich hoffe, falls es etwas gibt, worüber Sie sprechen möchten, rufen Sie mich an. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.« »Ich will ganz sicher nicht darüber sprechen.« Damit drückte sie auch diese Nachricht weg.
Stattdessen rief sie den Commander an, um einen Termin für eine mündliche Berichterstattung zu erbitten. Den schriftlichen Bericht würde sie später schreiben, beschloss sie, als sie ihr Büro bereits wieder verließ. Außerdem müsste sie noch Morris kontaktieren, sich noch einmal in Williams' Wohnung umgucken und Feeney bitten, sich die Elektronik anzusehen. Sie wusste, was sie machen musste, wusste, wie man ermittelte und einen Fall abschloss. Mit dem Rest von ihrem Leben allerdings kannte sie sich einfach nicht mehr aus. Als sie auf dem Gleitband in das nächste Stockwerk fuhr, wurden ihr verstohlene Blicke zugeworfen, aber das war nicht so schlimm, wie von hinten von Blicken durchbohrt zu werden, während sie in einem der engen Lifte gefangen war. Whitneys Sekretärin allerdings wich ihrem Blick so gut wie möglich aus. »Sie können gleich reingehen, Lieutenant. Er erwartet Sie.« Whitney thronte breitschultrig wie immer hinter seinem Schreibtisch, hatte seine großen Hände auf der Platte abgelegt und sah sie ernst aus seinen dunklen Augen an. »Lieutenant.« »Sir. Ich glaube, dass es vielleicht einen Durchbruch im Fall Foster gibt, der mit dem Ertrinken von Reed Williams zusammenhängt.« Er lehnte sich zurück, als sie Bericht erstattete, und hörte ihr schweigend bis zum Ende zu. »Sie haben sich dagegen entschieden, Allika Straffo zum Verhör auf das Revier zu holen.« »Zumindest fürs Erste. Wir würden sowieso nichts aus ihr herausbekommen, Sir. Ich denke, es ist sinnvoller, Mosebly unter Druck zu setzen. Denn auch wenn sie beide ein Motiv und die Gelegenheit zu diesem zweiten Mord gehabt hätten, kann ich mir eher vorstellen, wie Mosebly dem Opfer ins Wasser beziehungsweise unter die Wasseroberfläche geholfen hat. Sie hatten beide etwas zu verlieren, aber der Ton, in dem Straffo ihre Aussage gemacht hat, bevor wir ihr erklärt haben, dass auch
Williams nicht mehr lebt, war glaubwürdig. Natürlich hätte sie die Zeit nach dem Mord ...« »Falls es überhaupt ein Mord gewesen ist.« »Ja, Sir, falls es ein Mord gewesen ist, hätte sie die Zeit bis zu unserem Erscheinen nutzen können, um sich zu überlegen, was sie bei einer Vernehmung sagen soll. Ich habe sie noch nicht von der Liste der Verdächtigen gestrichen, aber Mosebly passt einfach besser ins Bild.« »Und Foster?« »Es ist möglich, dass Williams ihn vergiftet hat. Williams hat es nicht gemocht, unter Druck gesetzt zu werden, und wie wir wissen, hat Foster das wegen seiner sexuellen Aktivitäten mindestens einmal getan. Inzwischen wissen wir, dass auch zwischen Williams und Mosebly etwas gelaufen ist, und falls wir beweisen können, dass Foster etwas davon wusste, rückt das die ganze Sache in ein völlig neues Licht. Dann hätte Mosebly am meisten zu verlieren gehabt. Fosters Mitwisserschaft hätte ihre Position gefährdet und ihre Autorität unterminiert. Niemand mag es, wenn seine privaten Angelegenheiten an die Öffentlichkeit gezerrt werden, vor allem nicht von Menschen, die ihm untergeordnet sind.« »Das stimmt.« Immer noch sah er sie völlig reglos an. »Nutzen Sie dieses Wissen aus und setzen die Rektorin damit unter Druck.« »Ja, Sir.« »Meine Frau und ich haben Sie gestern Abend in Nadine Fursts neuer Sendung gesehen.« Jetzt verzog er seinen Mund zu einem leichten Lächeln. »Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht. Ihr Auftritt und Ihre Antworten haben der Abteilung zur Ehre gereicht. Chief Tibble hat mich bereits heute Morgen angerufen und seine Anerkennung ausgedrückt.« »Danke, Commander.« »Das war eine gute Werbung für die Polizei, und wie gesagt, Sie haben Ihre Sache hervorragend gemacht. Manchmal kann es
... schwierig sein, im Rampenlicht zu stehen und mit dem unvermeidlichen Eindringen der Öffentlichkeit in das Privatleben zurechtzukommen, die die Kehrseite jeder Bekanntheit ist. Falls Sie das Gefühl haben, dass durch diese Einmischung Ihre Arbeit auf irgendeine Weise in Mitleidenschaft gezogen wird, hoffe ich, dass Sie mit mir darüber sprechen.« »Das wird nicht passieren, Sir.« Er nickte. »Wenn möglich, werde ich Moseblys Vernehmung aus dem Nebenzimmer mitverfolgen. Andernfalls werde ich mir die Aufzeichnung so bald wie möglich ansehen. Sie können gehen.« Sie machte auf dem Absatz kehrt. »Dallas? Gerüchte sind eine hässliche und heimtückische Art der Unterhaltung. Vielleicht können die Menschen ihnen deswegen nicht widerstehen. Ein guter Cop weiß, dass Gerüchte ab und zu auch ihren Nutzen haben, aber ebenso ist ihm bewusst, dass Tatsachen häufig verdreht werden, weil es für den, der sie verdreht, von Vorteil ist. Und Sie sind ein guter Cop.« »Ja, Sir. Danke.« Obwohl sie wusste, dass die letzten Sätze gut gemeint gewesen waren, wurde sie auf dem gesamten Weg zurück in ihr Büro von schmerzlicher Verlegenheit gequält. Bevor sie durch die Tür ihrer Abteilung trat, sprang die Mailbox ihres Handys an, und als sie das Gerät aus ihrer Tasche zog, tauchte auf dem Display Roarkes Name auf. Sie kam sich wie ein Feigling vor, weil sie die Nachricht am liebsten ungehört gelöscht hätte, und spielte sie fluchend ab. Sein Gesicht füllte den kleinen Bildschirm aus und seine todbringenden blauen Augen brannten sich in sie hinein. »Ich will dich nicht stören, Lieutenant. Falls du heute etwas Zeit erübrigen kannst, würde ich mich freuen, wenn du dich bei mir meldest. Falls das nicht möglich ist - oder falls du einfach zu stur bist, um es zu ermöglichen -, erwarte ich, dass du heute Abend Zeit für eine Unterhaltung hast. Zu Hause. Eins will ich noch
zum Abschluss sagen: Du gehst mir furchtbar auf den Geist, aber trotzdem liebe ich dich mit jeder Faser meines Wesens. Ich kann nur für dich hoffen, dass ich etwas von dir hören werde, Eve, sonst schwöre ich, dass ich dir in den Hintern treten werde, dass du einen Monat nicht mehr sitzen kannst.« Sie stopfte das Handy wieder in die Tasche. »Wir werden ja sehen, wer wem in den Hintern tritt, Kumpel.« Trotzdem zog sich ihr Herz abermals zusammen, wobei sie nicht hätte sagen können, ob aus Freude oder Schmerz. »He, Dallas.« Baxter stieß sich von seinem Schreibtisch ab und lief hinter ihr her. »Ihr Auftritt gestern Abend bei Nadine war wirklich gut.« »Haben Sie mir irgendwas zu sagen, was mit einem Fall zusammenhängt?« »Nicht wirklich. Ich ... hören Sie, Dallas, Sie sollten nicht auf irgendwelche blö...« Sie bemerkte seinen halb besorgten und halb mitfühlenden Blick und warf ihm ihre Bürotür vor der Nase zu. Dann versuchte sie, ihre Gefühle zu verdrängen, setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb an ihrem Bericht, bis sie das Signal bekam, dass Rektorin Mosebly im Verhörraum saß. Mosebly runzelte die Stirn, als Eve den Raum betrat. »Also wirklich, Lieutenant, ich hätte angenommen, wir würden dieses Gespräch in Ihrem Büro führen.« »Sie haben mein Büro noch nicht gesehen. Dort ist kaum genügend Platz für mich allein. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie gekommen sind.« »Ich möchte sowohl als Privatmensch als auch als Leiterin der Sarah Child Akademie alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen. Je eher die ganze Sache aufgeklärt und abgeschlossen ist, umso besser für die Schule.« »Ich habe den Eindruck, dass Ihnen die Schule sehr am Herzen liegt.«
»Natürlich tut sie das.« »Lassen Sie mich nur schnell alles vorbereiten. Rekorder an. Vernehmung von Arnette Mosebly durch Lieutenant Eve Dallas und Detective Delia Peabody bezüglich des heute eingetretenen Todes von Reed Williams.« Eve nahm ihr gegenüber Platz. »Ms Mosebly, Sie sind also aus freien Stücken hier?« »Natürlich bin ich das. Wie gesagt, ich möchte alles tun, um Ihnen behilflich zu sein.« »Das wissen wir zu schätzen. Zu Ihrem Schutz werde ich Sie erst einmal über Ihre Rechte und Pflichten aufklären.« »Meine Rechte und Pflichten? Ich verstehe nicht...« »Das gehört zur Routine«, erklärte Eve in beiläufigem Ton und fing mit ihrem kurzen Vortrag an. »Haben Sie verstanden, was für Rechte und Pflichten Sie in dieser Sache haben?« »Natürlich habe ich verstanden.« »Also gut. Nochmals, wir wissen Ihre Kooperationsbereitschaft zu schätzen.« »Reeds Tod ist für uns alle ein Schock und ein schrecklicher Verlust«, setzte Mosebly an. »Vor allem, da er so kurz nach dem Tod von Craig eingetreten ist.« »Sie sprechen von Craig Foster, der in der Schule, die Sie leiten, ermordet worden ist.« »Ja. Es war und ist eine Tragödie.« »Oh, tut mir leid. Möchten Sie einen Kaffee oder so?« »Nein, danke.« »Diese beiden Männer«, fuhr Eve fort, »Craig Foster und Reed Williams, waren Ihnen bekannt.« »Ja.« Mosebly faltete die Hände ordentlich auf dem Tisch. Ihre Nägel waren perfekt gefeilt und in einem blassen Korallenton lackiert. »Sie waren Lehrer an der Sarah Child Akademie, deren Leiterin ich bin.« »Ist Ihnen bekannt, dass Reed Williams wegen des Mordes an Craig Foster von uns vernommen worden war?«
Mosebly setzte die strenge Miene auf, unter der sich ein Schülermagen wahrscheinlich kurzfristig zusammenzog. »Das war uns allen bekannt, ja. Ich wusste, dass Sie mit ihm gesprochen hatten und dass wegen anderer Dinge Anklage gegen ihn erhoben werden sollte.« »Wegen des Besitzes verbotener Substanzen, vor allem zweier Drogen, die überwiegend im Zusammenhang mit sexuellen Aktivitäten verwendet werden.« »Vergewaltigungsdrogen.« Moseblys Mund bildete einen rasierklingenschmalen Strich. »Das ist einfach entsetzlich. Ich habe Reed als Lehrer geschätzt, aber diese Information über sein Privatleben ist ... schockierend.« »Sie haben Mr Williams deswegen zur Rede gestellt.« »Das habe ich.« Jetzt lagen wieder Stolz und Autorität in ihrem gereckten Kinn und dem kühlen und gleichzeitig erhabenen Blick. »Als er verhaftet und Anklage gegen ihn erhoben wurde, habe ich unseren Verwaltungsrat darüber informiert. Wir kamen darin überein, dass Reed umgehend suspendiert und, falls erforderlich, zur Kündigung bewogen werden sollte. Wenn er sich geweigert hätte, das zu tun, hätte ich sofort meinerseits die Kündigung einleiten sollen.« »Was kompliziert und oft sehr schwierig ist. Und was, unter den gegebenen Umständen, ein erhebliches Maß an unliebsamer Publicity für die Schule bedeutet hätte.« »Ja, aber wir hätten keine andere Wahl gehabt. Weil unser Hauptaugenmerk immer unseren Schülern und Schülerinnen gilt.« Peabody füllte einen Pappbecher mit Wasser und bot ihn Mosebly an. »Ein paar Eltern hatten ihre Kinder bereits abgemeldet, und wahrscheinlich mussten Sie zahlreiche andere Eltern beschwichtigen. Schließlich ist all das passiert, während Sie die Leitung der Schule innehatten. Deshalb hat der Verwaltungsrat Sie sicher ganz schön unter Druck gesetzt.«
»Natürlich ist auch der Verwaltungsrat besorgt. Aber er hat mich in jeder Hinsicht unterstützt.« »Trotzdem wäre alles noch schwieriger geworden, wenn Williams Ärger gemacht hätte. Wir wissen ja, wie so was ist, jemand fällt aus dem Rahmen und dann versucht er, alle anderen mit in den Abgrund zu ziehen«, meinte Peabody. »Solche Leute«, stimmte Eve ihr zu, »wollen nicht alleine untergehen, und es ist ihnen egal, wer oder was außer ihnen dabei alles Schaden nimmt. Sie haben bereits ausgesagt, Sie hätten Williams heute Morgen in der Schwimmhalle gesehen und gesprochen.« »Ja. Ich wollte gerade gehen, als er kam, und habe ihn nachdrücklich - daran erinnert, dass er suspendiert ist, dass wir seine Kündigung erwarten, und was eine Weigerung für Konsequenzen hat.« »Wie hat er darauf reagiert?« »Er hat mir erklärt, er wäre zuversichtlich, dass sein Anwalt und der Vertreter seiner Gewerkschaft eine Kündigung erfolgreich verhindern würden.« Sie schüttelte erbost den Kopf. »Also habe ich ihn einfach stehen lassen, um den Vorsitzenden unseres Verwaltungsrats zu kontaktieren und dafür zu sorgen, dass unsere Security Mr Williams aus dem Gebäude entfernt.« »Sie haben ihn also einfach im Schwimmbecken planschen lassen, nachdem er sich Ihren Anweisungen widersetzt hat?«, fragte Eve. »Ich hätte ihn wohl kaum eigenhändig aus dem Wasser zerren können.« »Nein, wahrscheinlich nicht.« Stirnrunzelnd blätterte Eve die vor ihr liegende Akte durch. »Sie haben nicht erwähnt, dass Sie beide sich angeschrien haben.« »Vielleicht habe ich meine Stimme etwas erhoben, aber als Anschreien würde ich das nicht bezeichnen.«
»Nein? Ich werde immer ziemlich laut, wenn ich mit jemandem streite. Vor allem, wenn der andere mir droht. Auch dass er Ihnen gedroht hat, haben Sie nicht erwähnt.« »Ich erinnere mich nicht, dass er mir gedroht hätte«, antwortete die Rektorin, sah Eve dabei aber nicht an. »Jemand hat Ihren Streit mit angehört. Williams hat Ihnen gedroht, Arnette. Er hat damit gedroht, bekannt zu machen, dass Sie beide den Pool nicht nur zum Schwimmen und Ihr Büro nicht nur für die Festlegung des Stundenplans benutzt haben. Wie, meinen Sie, hätte wohl der Verwaltungsrat auf diese Nachricht reagiert? Wie lange wären Sie wohl noch Schulleiterin geblieben, wenn Williams erzählt hätte, dass Sie auf dem Schulgelände Sex mit ihm hatten?« »Das ist vollkommen absurd.« Trotzdem musste Mosebly sichtlich schlucken, löste ihre Hände voneinander und presste die Handflächen auf den Tisch. »Das ist beleidigend. « »Wissen Sie, ich habe mich unweigerlich gefragt, weshalb eine starke Frau wie Sie - die so stolz auf ihren Ruf und auf ihre Schule ist - einen Schleimbeutel wie Williams als Lehrer behalten hat. Sie müssen doch gewusst haben, was er getrieben hat.« »Es gab nie eine Beschwerde ...« »Oh, vergessen Sie's, Arnette. Sie wussten ganz genau über seine Tätigkeiten außerhalb des Unterrichts Bescheid. Sie waren der Boss«, erklärte Eve, während sie mit ausgestrecktem Finger auf Rektorin Mosebly wies. »Es war Ihre Schule. Trotzdem haben Sie nichts unternommen. Aber wie hätten Sie dem Kerl auch einen Strick aus seinem Treiben drehen sollen, nachdem er auch mit Ihnen zugange gewesen war?« »Sie saßen in der Klemme«, stimmte Peabody Eve zu. »Entweder Sie wären mit der Sache zum Verwaltungsrat gegangen und hätten sich dadurch selbst an den Pranger gestellt, oder Sie hätten den Mund gehalten und sein Treiben weiterhin geduldet. Wobei die zweite Möglichkeit von Vorteil gewesen wäre.«
»Denn sie hätte Ihren Ruf und den der Schule vor Schaden bewahrt«, fügte Eve hinzu und rutschte etwas näher an Mosebly heran. »Hat Foster Ihnen erzählt, dass Williams Laina Sanchez belästigt hat? Hat er Sie gefragt, wie er sich in dieser Angelegenheit verhalten soll?« »Ich glaube ... ich glaube, ich sollte einen Anwalt anrufen, bevor ich noch irgendwelche Fragen beantworte.« »Das können Sie natürlich tun. Wobei die Sache dadurch für Sie selbst noch brenzliger wird. Was meinen Sie, Peabody, wie ihr viel gepriesener Verwaltungsrat darauf reagieren wird, dass Rektorin Mosebly plötzlich einen Anwalt braucht?« »Nicht gut.« Peabody spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht besonders gut.« »In Ordnung«, wehrte Mosebly ab. »Wir werden die Sache an Ort und Stelle klären. Es gibt keinen Grund, einen Anwalt oder den Verwaltungsrat in die Angelegenheit einzubeziehen.« »Dann wollen Sie also keinen Anwalt mehr, Arnette?« »Nein. Lassen Sie uns einfach ... ich werde Ihnen sagen, was ich weiß. Craig kam letztes Jahr zu mir. Er war erregt und sehr besorgt. Er meinte, Reed hätte Laina bedrängt, mit ihm zu schlafen, und hätte sie unziemlich berührt. Er meinte, er hätte selbst bereits mit Reed gesprochen und ihn gewarnt, dass er ihn melden würde, wenn er Laina nicht in Ruhe lässt, aber da er wüsste, dass Reed auch andere Angestellte auf diese Art belästigt hätte, wollte er, dass er eine offizielle Verwarnung seitens der Schulleitung bekommt.« »Und, haben Sie ihn offiziell verwarnt?« »Ich habe Reed zu einem Gespräch in mein Büro bestellt. Er war nicht gerade reumütig, aber zumindest hat er sich von da an von Laina ferngehalten. Er war wütend auf Craig und über mein Verhalten amüsiert, weil schließlich auch ich selbst, kurz nachdem ich die Leitung der Schule übernommen hatte, seinem zweifelhaften Charme erlegen war. Es war ein fürchterlicher Fehler, ein Augenblick der Schwäche. Es hätte nie passieren dürfen,
und ich hatte mir geschworen, dass es bei dem einmaligen Vorfall bleibt.« »Aber dann ist doch noch mal etwas passiert.« »Letzten Monat, als ich wie jeden Morgen vor Beginn des Unterrichts im Schwimmbad war. Er kam herein, sprang ins Becken und es - wir - irgendwie ist es einfach passiert.« Sie trank einen großen Schluck von ihrem Wasser und blickte vor sich auf den Tisch. »Ich habe mir schlimme Vorwürfe deshalb gemacht. Mein Mangel an Urteilskraft und Selbstbeherrschung hat mich richtiggehend krank gemacht. Inzwischen ist mir klar, dass er mir irgendwelche Drogen verabreicht hat.« Sie blickte wieder auf, und Eve konnte ihr deutlich ansehen, dass sie log. »Er hat mir diese Vergewaltigungsdroge verpasst, und ich bin mir inzwischen sicher, dass das bereits beim ersten Mal der Fall gewesen ist. Ich habe mich verantwortlich gefühlt für das, was zwischen uns geschehen war, aber das war ich nicht. Unter solchen Umständen ist niemand mehr verantwortlich für die Dinge, die er tut.« »Wie hat er Ihnen die Droge verabreicht?« »Er ... wenn ich mich recht entsinne, hat er mir eine Flasche Wasser angeboten.« »Sie haben also mitten im Schwimmen angehalten, Wasser getreten und einen Schluck Wasser getrunken?«, fragte Eve. »Ich war nicht mehr im Pool. Offensichtlich habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt. Ich hatte den Pool gerade verlassen, als er in die Schwimmhalle kam. Obwohl die Zusammenarbeit mit ihm als Lehrer durchaus in Ordnung war, habe ich mich nicht wohl gefühlt, als ich plötzlich mit ihm alleine war.« »Aber wohl genug, um eine Flasche Wasser von ihm anzunehmen.« »Ich hatte einfach Durst. Dann wurde mir plötzlich heiß und schwindelig. Ich kann mich kaum erinnern, was danach geschah.« Sie stützte ihren Kopf zwischen den Händen ab. »Wir waren wieder im Wasser und er ... und ich ...« Jetzt bedeckte
Mosebly ihr Gesicht mit beiden Händen und brach in Schluchzen aus. »Ich habe mich fürchterlich geschämt.« »Davon bin ich überzeugt. Sagen wir, Sie spielen diese Rolle weiter und wir kaufen sie Ihnen ab. Was passierte, nachdem Sie derart schamlos von ihm ausgenutzt worden waren?« »Wie können Sie nur derart herzlos sein?« »Jahrelange Übung. Craig Foster hat seiner Frau kurz vor seinem Tod erzählt, er hätte Williams mit jemandem gesehen, mit dem er ihn nicht hätte sehen sollen. Ich schätze, damit hat er Sie gemeint. Schließlich hat auch Foster das Schwimmbecken regelmäßig benutzt.« Mosebly schloss die Augen, und Eve fragte sich, was hinter den geschlossenen Lidern vorging. »Er hat uns gesehen«, gab die Rektorin schließlich zu. »Danach ... danach hat Reed gelacht und gemeint, diesmal wäre Craig ein besonders schönes Schauspiel geboten worden. Es war grauenhaft.« »Was haben Sie getan?« »Nichts. Nichts. Ich hatte gehofft, dass Reed gelogen hatte. Dass er das nur gesagt hätte, um mir noch mehr Angst zu machen und mir noch größere Schuldgefühle zu verursachen.« »Und dann trinkt Craig plötzlich den vergifteten Kakao. Was für Sie ganz schön praktisch war.« »Praktisch!« Mosebly richtete sich ruckartig auf und sah Eve aus blitzenden Augen an. »Craigs Tod war auf persönlicher Ebene eine Tragödie und für die Schule möglicherweise ein Desaster.« »Aber Sie hat er gerettet. Denn jetzt gab es keinen Menschen mehr, der etwas von Ihrem ... Fehltritt mit Williams gewusst hätte. Williams selbst hätte ganz sicher nichts gesagt, weil er viel zu sehr an seinem Job sowie an der Sicherheit und den Gelegenheiten, die er ihm zu bieten hatte, gehangen hat.« Sie trat hinter Moseblys Stuhl und beugte sich zu ihr herab. »Aber nachdem dieser Job urplötzlich gefährdet war, hätte er
kein Problem damit gehabt, Sie mit sich zusammen in den Dreck zu ziehen. Sie und die Akademie. Sie sind eine starke, gesunde Frau, Arnette. Eine starke, gesunde Schwimmerin. Ich wette, wenn Sie sauer sind, haben Sie genügend Kraft, um einen Menschen zu ertränken.« »Er hat noch gelebt, als ich die Schwimmhalle verlassen habe. Er hat noch gelebt.« Mit zitternder Hand hob sie ihren Wasserbecher an den Mund. »Ja, ich war wütend, aber trotzdem bin ich gegangen. Er konnte mir damit drohen, dem Verwaltungsrat zu erzählen, dass ich mit ihm Sex auf dem Schulgelände hatte, aber wie hätte er das beweisen wollen? Sein Wort hätte gegen meins gestanden. Das Wort eines Drogenbesitzers, der bereits mehrere Angestellte der Schule verführt oder zu verführen versucht hatte, hätte gegen das Wort einer Schulleiterin gestanden, die einen untadeligen Ruf genießt. Ich hatte die Absicht, ihn aus der Schule zu entfernen.« »Das glaube ich Ihnen. Und jetzt ist er ein für alle Mal von dort entfernt, nicht wahr?« »Ich habe niemanden umgebracht. Ich wurde vergewaltigt. Und als Opfer einer Vergewaltigung habe ich das Recht, meine Privatsphäre zu schützen und mich psychologisch betreuen zu lassen. Von diesen beiden Rechten mache ich Gebrauch. Falls Sie meine Vergewaltigung unter Verwendung meines Namens ins Protokoll aufnehmen, kann und werde ich Sie deswegen verklagen. Solange Sie mich keines Verbrechens im Zusammenhang mit dieser Vergewaltigung beschuldigen, sind Sie verpflichtet, meine Anonymität zu wahren. Ich will zu einer Psychologin. Ich kann jetzt keine Fragen mehr beantworten. Dafür bin ich zu erregt.« »Auf Verlangen der vernommenen Person wird die Vernehmung beendet. Peabody.« »Ich werde eine Psychologin einbestellen.« Peabody bleckte die Zähne, wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen. »Da der offizielle Teil unseres Gesprächs beendet ist,
kann ich jetzt sagen, was ich will. Sie sind eine Schande für unser Geschlecht«, sagte sie zu Mosebly. »Sie sind eine Beleidigung für jede Frau, die jemals das Opfer eines sexuellen Übergriffes war. Aber wir werden Sie auf alle Fälle drankriegen.« Als Peabody aus dem Vernehmungszimmer stürmte, reckte Mosebly empört den Kopf. »Es ist einfach entsetzlich, dass ein Opfer sexueller Gewalt immer noch die Schuld in die Schuhe geschoben bekommt.« Eve dachte an das Kind, das sie gewesen war, und an die fürchterlichen Träume, unter denen sie zeit ihres Lebens litt. »Sie sind ganz bestimmt kein Opfer«, meinte sie, bevor sie ebenfalls den Raum verließ. »Diese widerliche Hexe. Diese widerliche, verlogene Hexe«, schnaubte Peabody. »Aber wir werden sie am Arsch kriegen.« Als Peabody vor einem Getränkeautomaten stehen blieb, rechnete Eve damit, dass sie vor lauter Zorn gegen die Kiste treten würde. Hoffte es sogar. Am Ende aber fischte ihre Partnerin nur ein paar Münzen aus der Tasche, bestellte für sich selbst eine kalorienfreie Pepsi und drückte Eve eine normale Pepsi in die Hand. »Warum ist sie eine verlogene Hexe?«, fragte Eve. »Also bitte!« »Nein, sagen Sie es mir.« Peabody nahm einen Schluck aus ihrer Dose und lehnte sich an das Gerät. »Sie haben sie erschreckt, als Sie verkündet haben, dass sie Sex mit Williams hatte. Sie dachte, dass das niemand weiß. Und dann haben sich die Rädchen in ihrem Hirn in Bewegung gesetzt. Himmel, man konnte es praktisch sehen. Klack, klack, klack. Hexe«, wiederholte sie und nahm den nächsten großen Schluck. »Sie hat die Tatsache ausgenutzt, dass Williams wegen der Drogen in seiner Wohnung hochgenommen worden ist. Aber ihre Reaktionen waren grundverkehrt. Sie ist nicht das Opfer einer Vergewaltigung. Sie hat weder falsche
Scham oder Schuldgefühle, weder Zorn noch Furcht noch sonst etwas gezeigt, was darauf schließen lässt. Ihre Körpersprache, ihre Stimme, ihr Gesichtsausdruck - vielleicht lässt sich ihr toller Verwaltungsrat damit beeindrucken, aber die Geschichte ist totaler Müll.« Peabody holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, bevor sie einen erneuten Schluck von ihrer Pepsi trank. »Williams war ein Widerling, aber das ist diese Mosebly auch. Sie ist jemand, der andere benutzt und manipuliert, sie ist eine feige Heuchlerin. Einfach ein ekelhaftes Weib.« »Sie machen mich wirklich stolz.« Eve legte eine Hand auf ihre Schulter und nickte anerkennend mit dem Kopf. »Ja, sie ist ein ekelhaftes Weib. Sie hat freiwillig beim Synchronschwimmen mit diesem Typen mitgemacht. Auch wenn wir ihr kaum das Gegenteil beweisen können, weil ihr Partner aus dem Wettbewerb inzwischen ausgeschieden ist, wissen wir das genau. Aber ist dieses ekelhafte Weib auch eine Mörderin?« »Wahrscheinlich. Sie hätte in beiden Fällen ein Motiv und die Gelegenheit zur Tat gehabt.« »Wir hätten einfach gern, dass sie es ist. Als selbstgerechte Weiber würden wir das ekelhafte Weib gern wegen zweier Morde hinter Gittern sehen. Aber wir haben nicht einmal einen Beweis für einen Mord gegen diese Ziege in der Hand. Vor allem müssen wir erst mal sehen, ob unser untrüglicher Instinkt wirklich untrüglich ist und Williams tatsächlich ermordet worden ist.« »Oh, ja.« Peabody ließ die Schultern sinken. »Diese Kleinigkeit hatte ich kurzfristig vergessen.« »Es sind die kleinen Schritte, die den Menschen stolpern lassen, sodass er mit dem Gesicht zuerst auf den Gehweg knallt. Los, fahren wir in die Pathologie.«
14 Sie marschierte durch ihre Abteilung bis in ihr Büro, um ihren Mantel zu holen, blieb dort stehen und trat leicht gegen ein Schreibtischbein. Sie würde die Nachrichten nicht beantworten. Schließlich war sie keine Heilige. Aber eine andere Angelegenheit ließe sie doch lieber nicht einfach auf sich beruhen. Sie zog ihren Mantel an, verließ ihr Büro und marschierte schnurstracks auf Baxter zu, der mit einer Tasse widerlichen Kaffees aus dem Automaten und einem Bericht der Spurensicherung an seinem Schreibtisch saß. »Ich habe gesehen, dass Sie den Fall Barrister abgeschlossen haben. Sie haben den Kerl wegen Totschlags drangekriegt. Wie hat sich Trueheart während des Verhörs gemacht?« »Echt gut.« Sie blickte dorthin, wo der süße Officer diensteifrig hinter einem Berg von Akten saß. »Trueheart?« Sofort drehte er sich um und sah sie blinzelnd an. »Madam?« »Gratuliere zu der Vernehmung von Sykes.« Er wurde puterrot. »Danke, Lieutenant.« »Alles, was er kann, hat er von mir«, behauptete Baxter mit einem selbstzufriedenen Grinsen. »Hoffentlich belässt er's nicht dabei. Zu der Sache vorhin - ich weiß Ihre Empfindungen zu schätzen. Aber damit lassen wir's gut sein, ja?« »Okay.« Zufrieden lief sie weiter, um sich einen Toten anzusehen. »Abermals willkommen. Kann ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?« Morris war heute zinnfarben gekleidet, mit einem purpurroten Hemd und geflochtenem, zinngrauem Schlips. Beim
Anblick seines langen Pferdeschwanzes dachte Eve an einen schimmernden Vollbluthengst. »Lieber ein Urteil.« Eve blickte auf Williams' Leichnam, der vor ihr auf dem Stahltisch lag. »Ich will wissen, ob es Mord gewesen ist.« »Ich habe Karamellbrownies. Von den lieblichen Händen einer Südstaatengöttin fabriziert.« Eve kniff die Augen zusammen, denn als Morris von Brownies sprach, hätte sie schwören können, dass sie hörte, wie Peabody das Wasser im Mund zusammenlief. Dann riss sie bei dem Gedanken an die Südstaatengöttin die Augen wieder auf. »Etwa von Detective Coltraine?« Morris legte eine Hand an seine Brust, tat, als ahme er damit das Schlagen seines Herzens nach, und Eve fragte sich, weshalb Männer offenkundig ausnahmslos ihren Verstand verloren, sobald es um vollbusige Blondinen ging. Dann wackelte Morris auch noch vielsagend mit seinen schmalen, dunklen Brauen. »Anscheinend sieht unsere hierher verpflanzte Magnolie Backen als Entspannung an.« »Huh.« Eve legte ihren Kopf ein wenig schräg. »Sie scheinen ja völlig hin und weg zu sein.« »Wer wäre das wohl nicht?« »Einen, hm, halben Brownie könnte ich vertragen.« Morris sah Peabody lächelnd an. »Im Personalkühlschrank da drüben. Bedienen Sie sich.« Dann wandte er sich wieder an Eve. »Unfall oder Mord? Sagen Sie es mir.« »Es war eindeutig Mord.« »Nun.« Er trat einen Schritt zurück und zeigte auf den toten Mann. »Was sehen wir? Eine oberflächliche Wunde unter dem Kinn.« »Die stammt bestimmt vom Rand des Schwimmbeckens. Die Spurensicherung hat ein paar Hautpartikel von den Fliesen abgekratzt. Obwohl es durchaus schlau gewesen wäre, kann ich
mir nicht vorstellen, dass ihn jemand bewusstlos geschlagen und ertrinken lassen hat.« »Hm. Am Rücken weist er ein paar kleine Abschürfungen auf.« »Die daher stammen, dass er auf dem Rücken aus dem Pool gezogen worden ist. Das legen weitere gefundene Hautpartikel nahe. Aber die Abschürfungen wurden ihm erst nach Eintreten des Todes zugefügt.« »Sie sind wirklich eine gelehrige Schülerin. Abgesehen davon, dass er nicht mehr lebt, war der Mann wirklich fit. Er war anscheinend ziemlich durchtrainiert. Ihre Notizen vom Tatort weisen darauf hin, dass er ein guter Schwimmer war und dass es nirgends Zeichen eines Kampfes gab. Trotzdem sagen Sie, dass er ermordet worden ist.« »Oh ja.« »Und, da mir bewusst ist, dass ich von Ihnen Leichen niemals ohne guten Grund geschickt bekomme, habe ich mir Ihren Toten sofort angesehen. Der toxikologische Befund ist noch nicht da. Aber er kommt sicher bald, denn ich habe extra Dampf gemacht.« »Was glauben Sie, was er in sich hat und wie es in ihn hineingekommen ist?« »Was das Was angeht, sollten wir besser warten. Was das Wie betrifft, sehen Sie ihn sich mal an.« Er reichte ihr eine Mikro-Brille und winkte sie zu sich heran. Sie trat neben Williams' Kopf und sah, dass in Höhe des Scheitels eine Stelle kahl geschoren worden war. »Mann, das hätte er bestimmt gehasst. Der erste kahle Fleck. Aber hallo.« Sie beugte sich noch dichter über ihn und nahm dank der Brille eine winzige Einstichstelle wahr. »Jemand hat ihm irgendwas gespritzt«, erklärte sie. »Direkt auf dem Kopf, unter dem Haar versteckt, hätte man die Stelle mit bloßem Auge nie entdeckt.« »Die meisten Menschen sicher nicht.«
Jetzt sah sie Morris an und grinste. »Sie sind natürlich die Ausnahme. Ich habe es bei der ersten Untersuchung übersehen. Ich habe ihm sogar zwischen die Finger und die Zehen und in den Mund geguckt, es aber trotzdem nicht bemerkt. Gut gemacht.« »Ich habe einen ganzen Brownie gegessen«, gestand Peabody. »Wer kann Ihnen das verdenken?« Morris tätschelte ihr den Arm, als sie aus Richtung des Kühlschranks kam. »Wir haben unseren Mord, Peabody«, stellte Eve zufrieden fest. »Das Opfer hat seine Bahnen durch den Pool gezogen und war entweder damit fertig oder hat einfach angehalten, als er jemanden gesehen hat. Er hat den Beckenrand umfasst und vielleicht sogar noch was gesagt. Vielleicht: >Hallo, wie geht's?< Aber es ist keine Zeit für ein Gespräch. Der Täter muss die Sache durchziehen und sofort wieder verschwinden. Es ist ein Risiko, aber wie bei Foster ist es sorgsam kalkuliert. Der Täter braucht sich nur nach vorn zu beugen und ihm die Spritze zu verpassen.« Sie nahm die Mikrobrille ab und stellte es sich bildlich vor. »Er musste sich beeilen. Dieses Mal hat er kein Gift benutzt. Williams hat keine Anzeichen einer mir bekannten Vergiftung gezeigt. Vielleicht hat sich sein Griff wegen dem Piks in seinem Kopf gelockert, er ist abgerutscht und mit dem Kiefer auf den Beckenrand geknallt. Es war kein Beruhigungsmittel. Das hätte nicht schnell genug gewirkt. Vielleicht hätte er es dann noch aus dem Pool geschafft oder es auf jeden Fall versucht. Wenn er sich an den Beckenrand geklammert hätte, hätten wir Spuren davon an seinen Händen und Fingerspitzen gesehen. Das Zeug hat ihn also nur leicht, dafür aber sofort betäubt. Wie das Zeug, das Sanitäter und Ärzte nehmen, um Schmerzen zu dämpfen und Bewegungen vor einer Behandlung einzuschränken. Man ist wach und auf einer bestimmten Ebene bekommt man auch noch alles mit, nur dass man nichts mehr spürt und sich nicht bewegen kann.«
»Womit wir beide wieder einmal einer Meinung sind.« Morris nickte zustimmend. »Ich glaube, dass in dem toxikologischen Bericht etwas von einem normalen, durch den Skalp injizierten Anästhetikum stehen wird. Einem ziemlich starken Mittel, das schnell, aber nur sehr kurzfristig wirkt.« »Für ihn nicht kurzfristig genug. Er hat bestimmt gekämpft. War ein starker Mann und hätte es möglicherweise schaffen können, den Kopf eine Zeitlang oben zu behalten und vielleicht sogar zu treiben. Ungefähr anderthalb Meter von der Stelle entfernt, an der die Spurensicherung die Haut gefunden hat, gibt es eine Treppe. Wenn er daran gedacht und versucht hätte, die Stufen zu erreichen ... Vielleicht musste der Mörder noch ein bisschen nachhelfen und den Prozess beschleunigen, bevor jemand in die Schwimmhalle kam. Es gibt dort ein paar lange Stangen für Netze, Bürsten und so Zeug. Hätte nicht lange gedauert, ihn unter Wasser zu drücken, bis er erstickt oder ertrinkt.« »Danach hätte er nur noch die Schwimmhalle verlassen und sich unter die anderen Leute mischen müssen, damit ihn niemand mit der Sache in Verbindung bringt.« »Das ekelhafte Weib«, meinte Peabody genüsslich, Eve aber runzelte die Stirn. »Morris, glauben Sie, dass es in der Krankenstation einer Privatschule solche Betäubungsmittel gibt?« »Wahrscheinlich in geringen Dosen als Schmerzmittel. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Erlaubnis für ein Mittel in der Stärke haben, wie sie hier verwendet worden ist.« »Dann hat also der Mörder dieses Mittel mitgebracht. Es war also wieder keine spontane Tat. Der Mörder ist also ein beherrschter Mensch, der alles sorgsam plant, aber durchaus bereit ist, ein gewisses Risiko einzugehen.« Sie würde die zeitlichen Abläufe und Zeugenaussagen noch einmal von vorne durchgehen und den Computer errechnen lassen, mit welcher Wahrscheinlichkeit welcher der bisherigen
Verdächtigen der Täter war. Jetzt aber sah sie sich Williams noch einmal an. »Du warst ein widerlicher Hurensohn, aber ein Mörder warst du nicht. Wer auch immer Foster getötet hat, hat euch beide umgebracht.« Eve wies Peabody an, einen Durchsuchungsbefehl für Arnette Moseblys Wohnung zu beantragen, und trommelte auf dem Weg zurück zur Schule ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad ihres Dienstwagens herum. »Rufen Sie Reo noch mal an. Ich will auch einen Durchsuchungsbefehl für das Penthouse der Straffos«, meinte sie nach einem Augenblick. »Glauben Sie wirklich, dass Allika die beiden auf dem Gewissen hat?« »Ich glaube, dass schöne Frauen es verstehen, sich als Opfer darzustellen. Außerdem halte ich Oliver Straffo für eine wirklich harte Nuss. Vielleicht hat er ja rausgefunden, dass seine Frau was mit dem Lehrer hatte. Vielleicht hat er auch rausgefunden, dass Foster etwas davon wusste und die Sache an die große Glocke hängen wollte. Vielleicht wollte er die Fassade des glücklichen Ehepaars um jeden Preis aufrechterhalten und seinen Ruf und seinen Stolz bewahren.« »Das erscheint mir ein bisschen weit hergeholt.« »Ach ja?« Eve stieß einen Seufzer aus. »Wenn ich etwas von dem Nachrichtenbeitrag gewusst hätte, der heute Morgen kam, wäre ich durchaus versucht gewesen, den Kameramann, die Reporterin, den Produzenten oder wen auch immer aufzutreiben und ihm oder ihr ernsthaften körperlichen Schaden zuzufügen. Ich hätte diesen Leuten eher in den Arsch getreten, statt mich öffentlich demütigen zu lassen und danach auf das Revier zu kommen und das Ganze noch mal durchzustehen.«
»Tut mir leid. Hm, ist die Frage gestattet, warum Sie neben all den anderen Leuten dieses Flittchen Magdalena nicht erwähnt haben?« »Sie hätte ich mir bis zum Schluss aufgehoben.« Eve umklammerte das Lenkrad etwas fester. »Was heißt, dass ich wahrscheinlich bereits mein Pulver verschossen hätte, bis ich bei ihr angekommen wäre. Und genauso komme ich mir vor. Denn was soll es mir schon nützen, wenn ich mir die Tussi vorknöpfe?« »So dürfen Sie nicht reden, Dallas. Sie können doch wohl unmöglich ...« »Ich will überhaupt nicht darüber reden.« Am besten hätte sie es gar nicht erst erwähnt. »Ich habe die Sache nur zur Sprache gebracht, um Ihnen zu verdeutlichen, dass es Straffo vielleicht genauso geht. Er ist Anwalt, und eins muss ich ihm lassen, er ist wirklich gut. Er ist es gewohnt zu planen, zu kalkulieren, Strategien zu entwickeln. Als Strafverteidiger weiß er ganz genau, dass er diese Dinge häufig tut, um dafür zu sorgen, dass ein Angeklagter straffrei ausgeht, obwohl er schuldig ist.« »Was zeigt, dass er kein Gewissen hat.« »Wir beide sind Polizistinnen und sehen Strafverteidiger deshalb gerne als gewissenlose Menschen an. Aber es ist nun mal sein Job. Es ist das, womit der Mann sein Geld verdient. Es ist sein Job, und es gehört zu unserem Rechtssystem, dass er seine Arbeit macht. Trotzdem braucht man eine gewisse Skrupellosigkeit, um dafür zu sorgen, dass ein Mörder, Vergewaltiger oder Drogenhändler entweder freigesprochen oder diesem Kerl wenigstens ein Deal angeboten wird. Deshalb passt er ins Profil, und wir sehen ihn uns besser ein bisschen genauer an.« Nur, um ganz sicherzugehen, ging Peabody noch einmal ihre Notizen durch. »Er war heute Morgen nicht in der Schule.« »Egal, wie gut die Security dort ist, gibt es immer einen Weg, um sie zu umgehen.« Das hatte sie von Roarke gelernt. »Und die
Security in der Akademie ist ordentlich, aber nicht besonders ausgefeilt. Wir sollten also überprüfen, ob man unbemerkt ins Haus gelangen kann.« Normalerweise hätte sie Roarke gebeten, ihr dabei zu helfen. Sie hatte es sich angewöhnt, ihn in ihre Arbeit einzubeziehen. Dieses Mal jedoch fiel ihr ziviler Helfer aus. Sie zog ihren Generalschlüssel hervor, schloss die Eingangstür der Schule auf, betrat die Eingangshalle, stopfte die Hände in die Manteltaschen und sah sich den Scanner gründlich an. Die Schüler und das Personal wiesen sich mit ihrem Daumenabdruck aus. Gäste mussten sich ausweisen, bevor sie eingelassen wurden, Rucksäcke und Taschen wurden nach Waffen und Drogen durchsucht. An einem Ort wie diesem funktionierten die Scanner wahrscheinlich in neunzig Prozent der Fälle, überlegte Eve. In den staatlichen Schulen, in denen sie selber unterrichtet worden war, hatten sie in neun von zehn Fällen versagt. Also brachte Geld ein gewisses Maß an Sicherheit. Gleichzeitig aber nahm sie an, dass sich das System wahrscheinlich selbst von einem fünfjährigen Kind mit ein paar grundlegenden Kenntnissen lahmlegen ließ. »Am besten sehen sich die elektronischen Ermittler die Überwachungsanlage einmal an. Sie sollen gucken, ob sie irgendwann mal ausgefallen ist.« Ihre Schritte hallten laut, als sie durch die Flure lief. Leere Schulen waren einfach unheimlich. Wenn man die Ohren spitzte, konnte man die Stimmen und die Schritte von Generationen von Kindern hören, die in Schuhen, die dem jeweiligen Modetrend entsprochen hatten, hier herumgelaufen waren, dachte sie. Sie öffnete die Tür der Krankenstation, die mit einem kurzen, mit einem Computer bestückten Tresen, hinter dem ein Hocker
stand, vier Stühlen und zwei ordentlich bezogenen Betten praktisch eingerichtet war. Unter dem Tresen wurden die typischen Erste-Hilfe-Utensilien aufbewahrt. Pflaster, Tupfer, Mullbinden, Kühlbeutel und Wärmflaschen, Fieberthermometer, eine kleinere Version des Klebestifts, wie ihn Sanitäter zum Verschließen kleinerer Wunden verwendeten. Geräte zum Messen des Pulses und zur Untersuchung von Augen, Ohren, Hals wurden ordentlich in einer Schublade verwahrt. So unschuldig sie wirkten, lösten sie bei Eve einen Schauder aus. Medizin in jeder Form rief ein Gefühl der Panik in ihr wach. Sämtliche Medikamente - Schmerzmittel für Kinder und Erwachsene, Mittel gegen Durchfall und Erbrechen, Fieberzäpfchen und Erkältungsmittel - waren in einem Stahlschrank eingeschlossen, der sich nur mit einem Generalschlüssel, wie sie ihn in der Hand hielt, oder mit einem Code und einem Daumenabdruck öffnen ließ. Eve sah sich die einzeln verpackten Spritzen an. Doch ein Anästhetikum, wie es bei Williams verwendet worden war, war nirgendwo zu sehen. Schwester Brennan schien den Laden fest im Griff zu haben. Alles war sehr ordentlich und sicher aufbewahrt. Da der Computer mit einem Passwort gesichert war, sähen ihn sich am besten die elektronischen Ermittler an. »Irgendwie unheimlich hier drinnen, finden Sie nicht auch?«, fragte Peabody, die hinter ihr hereingekommen war. »Schulen sind immer unheimlich. Haben Sie irgendwas in Moseblys Büro entdeckt?« »Nichts, was mir aufgefallen wäre, aber ich habe die elektronischen Ermittler einbestellt und ihre Disketten eingepackt. Außer den Schmerztabletten, von denen sie eine genommen hat, als wir bei ihr waren, hat sie nur noch ein paar
Beruhigungspillen vorrätig. Zur Vorsicht habe ich auch noch die Sachen ihrer Sekretärin eingepackt.« »Gut. Lassen Sie uns noch einmal die Spinde im Umkleideraum durchgehen. Nur zum Spaß sehen wir uns auch die Spinde von den Kindern an.« »Alle? Das wird Stunden dauern.« »Dann fangen wir am besten sofort an.« Sie hätte ein Team der Spurensicherung bestellen können und wahrscheinlich sollen, denn sie fanden Berge von Disketten, auf denen öfter irgendwelche Comics als ernsthafte Lektüre waren, genug Süßes und Salziges, um die Regale eines Supermarkts damit zu füllen, Memowürfel, Computerspiele, halb verfaulte Äpfel, Taschenlampen, Bürsten, Lippenstifte, Wasserfarben, Pinsel, ein uraltes Sandwich unbestimmbaren Ursprungs, Kritzeleien, Skizzen, leeres Einwickelpapier, eine Reihe von Mützen, Schals und Handschuhen, Fotos, Musikvideos, stinkende Socken, modische und zerbrochene Sonnenbrillen, ein paar Münzen sowie einen ganzen Wald an abgenagten Bleistiften. Außerdem fanden sie eine Tüte Poppers und drei Zoner-Joints. »Meine Güte.« Peabody schüttelte den Kopf. »Die ältesten Schüler hier sind gerade einmal dreizehn Jahre alt.« Eve notierte sich die Spindnummern und beschlagnahmte das Zeug. »Als ich in der Fünften oder vielleicht in der Sechsten war, war der Topdealer unserer Schule ein achtjähriger Junge namens Zipper. Wenn du etwas wolltest, hat er es dir besorgt.« »Ich habe meinen ersten Popper erst mit sechzehn gesehen.« Als Eves Handy schrillte, brach Peabody ab. »Dallas.« »Hier ist Reo. Der Durchsuchungsbefehl für Moseblys Wohnung ist durch. Hat ein bisschen gedauert, denn sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. An dem Papier für Straffos Wohnung arbeite ich noch. Er versucht ebenfalls ihn
abzuwehren, deshalb kriegen Sie das Ding heute ganz bestimmt nicht mehr.« »Dann fangen wir eben mit Mosebly an. Danke.« Eve legte wieder auf. »Gucken Sie nach, welche Schüler die Spinde haben, in denen die Drogen lagen, Peabody. Aber nehmen Sie noch nichts in die Akte auf. Wir werden erst mit ihnen reden.« »Soll ich die Eltern verständigen?« Eve schüttelte den Kopf. »Wir werden erst mit ihnen reden«, wiederholte sie. »Oder am besten hetze ich ihnen Detective Sherry von der Drogenfahndung auf den Hals.« »Oh, die furchteinflößende Sherry.« »Ja, genau. Sie wird die Kiddies dazu bringen, dass sie ihr erzählen, wer das Zeug an sie verschachert hat, nur, damit sie sie wieder zu ihren Mamis lässt.« Eve sah auf ihre Uhr. »Lassen Sie uns noch zwei Leute bestellen, damit sie uns in Moseblys Wohnung helfen.« »Die Schicht ist fast vorbei.« Peabody rieb sich gut gelaunt die Hände. »Wessen Pläne für heute Abend wollen Sie vermasseln?« »Baxter und Trueheart haben gerade einen Fall erfolgreich abgeschlossen. Rufen Sie sie an. Und bitten Sie McNab, sich die elektronischen Geräte anzusehen, falls er nicht gerade an etwas anderem sitzt.« Es machte Mosebly wütend, eine kleine Armee von Polizisten ihre Wohnung auf den Kopf stellen zu sehen. Eine wirklich hübsche, teure Wohnung, merkte Eve. Leiterinnen von privaten Schulen lebten offenbar nicht schlecht - vor allem, wenn sie geschieden waren und keine eigenen Kinder hatten, für deren Ausbildung es jeden Monat ordentlich zu zahlen galt. Neben Arnette stand eine Anwältin, die den Durchsuchungsbefehl erst auswendig zu lernen schien, bevor sie etwas von mangelnder Rücksicht der Polizei und einer unzulässigen Belästigung ihrer Mandantin murmelte.
Es war interessant, dass Mosebly - dem Inhalt ihrer Schubladen zufolge - unter ihren konservativen Kostümen ausnehmend verführerische und zum Teil beinahe nuttenhafte Unterwäsche trug. Und dass ein Teil der literarischen Disketten und der Büchersammlung aus populären Liebesromanen bestand. Gleichzeitig war höchst bedauerlich, dass sich nirgends auch nur eine Spur von Drogen, Gift oder einem Betäubungsmittel fand. Sie verließen die Wohnung mit Kisten voll Disketten, elektronischer Geräte und Papier. Eve drückte der Anwältin die Quittung in die Hand und hörte, bevor sie die Tür hinter sich schloss, ein wenig überrascht, dass Mosebly in echte Tränen auszubrechen schien. »Laden Sie alles in meinen Wagen«, wies Eve die anderen an. »Ich bringe die Sachen aufs Revier. Baxter, Sie und Trueheart haben für heute frei.« »Lass uns was futtern gehen, Junge.« Baxter schlang einen Arm um Truehearts Schultern und sah ihn grinsend an. »Ich kenne ein Lokal nicht weit von hier, in dem das Essen fragwürdig, dafür aber die Bedienung einfach köstlich ist.« »Nun, ich könnte Ihnen doch noch helfen, das Zeug aufs Revier zu bringen, Lieutenant«, bot der >Junge< höflich an, Eve aber schüttelte den Kopf. »Gehen Sie essen und gaffen, Trueheart. Ich komme schon zurecht. Sie und McNab setze ich auf der Wache ab, Peabody.« Ihre Partnerin verkniff sich die Bemerkung, dass es viel sinnvoller wäre, wenn sie einen Streifenwagen bestellten und die Kisten auf die Wache brächten, weil der Leutnant schließlich ganz hier in der Nähe wohnte, und nickte einfach mit dem Kopf. »Okay.« Auf der Fahrt versuchte Eve zu ignorieren, dass sie nicht alleine war. Offensichtlich waren ihre Partnerin und deren Elektronik-Freak bereits ebenfalls nicht mehr im Dienst. Ihre Unterhaltung drehte sich um einen Film, den sie beide sehen
wollten, sowie darum, ob ihnen der Sinn eher nach Pizza oder etwas vom Chinesen stand. »Wir helfen Ihnen mit den Kisten, Dallas.« In der Tiefgarage des Reviers stieg Peabody aus. »Danach laden wir Sie zu chinesischem Bier, Moo Goo Gai Pan und gefüllten Teigtaschen ein.« Gott, war alles, was Eve denken konnte. Offenbar sah sie wirklich erbärmlich aus. »Ziehen Sie beide einfach los. Ich bringe die Sachen selber rauf, ich will nämlich noch ein bisschen arbeiten, wenn ich schon auf der Wache bin. Wir sehen uns dann morgen früh.« »Allein müssen Sie mindestens dreimal gehen.« McNab zog sein Handy aus der Tasche und klappte es auf. »Ich rufe ein paar Uniformierte an, die Ihnen beim Tragen helfen.« Eve wollte widersprechen, zuckte dann aber mit den Schultern, denn McNab hatte natürlich recht. Sie müsste dreimal gehen und das wäre eine Vergeudung von Zeit und Energie. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht was essen wollen?«, fragte Peabody. »Sie haben schließlich noch nicht mal einen von den Brownies gegessen, die uns Morris angeboten hat.« »Ich hole mir einfach hier etwas.« Peabodys Zögern zeigte Eve, dass sie sie hätte weiter bedrängen wollen, dann aber meinte sie nur: »Falls Sie es sich noch einmal anders überlegen - wir sind im Beijing South, nur zwei Blocks von hier entfernt.« Sie würde es sich nicht noch einmal anders überlegen, doch nachdem die Kisten alle ausgeladen waren, wurde ihr bewusst, dass sie vollkommen erledigt war. Sie konnte einfach nicht mehr weiterarbeiten. Heimzufahren aber wäre ebenfalls keine Option. Deshalb fuhr sie dorthin, wo sie, wie sie wusste, stets willkommen war. Zu der Frau, die ihre älteste und beste Freundin war.
Mavis lebte in einem Apartmenthaus, in dem sie selbst einmal gelebt hatte und das eine von Roarkes unzähligen Immobilien war. Eine weitere Verbindung zwischen ihnen, nahm sie an. Mavis und ihr Mann hatten ihre alte Wohnung übernommen, kurz nachdem sie selbst zu Roarke gezogen war, und hatten sie in Absprache mit Roarke durch Hinzunahme der Nachbarwohnung auf das Doppelte vergrößert und vollständig renoviert. Da Mavis ein Musikstar und ihr Gatte Leonardo ein erfolgreicher Designer war, hätten sie natürlich auch das Geld für ein schickes, eigenes Haus gehabt, doch sie wollten in der Wohnung leben, Tür an Tür mit Peabody und dem flippigen McNab. Sie selber hatte nie derart an der Wohnung gehangen, dachte sie. Hatte an keiner Wohnung je gehangen, hatte jede Bleibe immer nur als Ort zum Umziehen und Schlafen zwischen ihren Diensten angesehen. Auch an die Wärme und die Pracht von Roarkes Zuhause hatte sie sich nicht gewöhnen wollen, hatte diesen Kampf jedoch bereits nach kurzer Zeit verloren, denn obwohl sie sicher immer noch nicht jeden Winkel des Gebäudes kannte, liebte sie ihr neues Heim. Liebte jeden Raum, die ausgedehnte Rasenfläche, die hoch aufragenden Bäume, einfach alles, was von ihm an diesem Ort geschaffen worden war. Und jetzt war sie wieder dort, wo alles angefangen hatte, und brachte es nicht über sich, in das Haus zurückzukehren, das sie liebte. Oder zu dem Mann. Als sie klingelte, kam Leonardo an die Tür. Sie sah das warme Mitgefühl in seinem Blick, ehe er sie einfach wortlos in die Arme nahm. Bei der Geste schössen ihr die Tränen in die Augen, aber sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an. »Ich bin froh, dass du gekommen bist«, erklärte er, während er mit seinen riesengroßen Pranken zärtlich wie mit
Vogelschwingen über ihren Rücken strich. »Mavis wickelt gerade Belle. Komm rein.« Er umfasste ihr Gesicht und gab ihr einen aufmunternden Kuss. »Wie wäre es mit einem Gläschen Wein?« Sie wollte ablehnen. Wein, ein leerer Magen, Stress. Dann aber dachte sie, verdammt, was soll's, und nickte dankbar mit dem Kopf. »Das wäre schön.« Er nahm ihr ihren Mantel ab und - Gott segne ihn - fragte sie nicht, wie es ihr ging oder weshalb sie ohne Roarke gekommen war. »Warum gehst du nicht nach hinten durch zu Mavis und zu Belle? Ich bringe dir den Wein.« »Nach hinten durch?« »Ins Kinderzimmer«, klärte er sie strahlend auf. Sein Gesicht war groß wie alles andere an ihm, sah wie blank poliertes Kupfer aus und hob sich von dem blendend weißen Seidenpulli ab, den er über einer leuchtend blauen Hose mit Beinen weit wie Utah trug. Als sie zögerte, schob er sie an. »Los. Rechts durch die Bogentür und dann nach links. Mavis wird sich riesig freuen.« Die Wohnung sah vollkommen anders aus als zu ihrer Zeit. Sie wies so viele Farben auf, dass einem davon beinahe schwindlig wurde, und sah mit all dem bunten Schnickschnack ungeheuer fröhlich aus. Sie ging durch eine Bogentür, deren Stil wahrscheinlich marokkanisch war, und bog in das Kinderzimmer ein. Unweigerlich musste sie an Rayleens Kinderzimmer denken, das ganz in Pink und Weiß gehalten war. Auch hier gab es viel Pink und etwas Weiß. Dazu aber noch blaue, gelbe, grüne, violette Streifen, Tupfen, Dreiecke und Schlangenlinien. Es gab von allem etwas. Auch die Wiege und der Schaukelstuhl, den Eve Mavis geschenkt hatte, waren kunterbunt. Es gab Puppen, Stofftiere und hübsche kleine Lampen, an den Wänden tanzten Feen unter schillernden Regenbögen und um Fantasiebäume herum, an deren dicken Ästen schimmerndes Obst und Blumen hingen.
Und unter den Sternen, die unter der Decke funkelten, stand Mavis über einen hohen, gepolsterten Tisch gebeugt und sang einem zappelnden Baby etwas mit der schrillen Stimme vor, der das halbe Land verfallen war. »Jetzt hat meine kleine Bella Eve kein Aa mehr am Po. Du hast den schönsten Popo, den es je gegeben hat, meine wunderhübsche, kleine Belle, und jetzt ist er wieder blitzeblank. Meine wunderschöne, wunderschöne Belle. Mami ist in ihre wunderschöne Bellarina absolut verliebt.« Jetzt nahm sie das Baby, das ein weich fallendes, zart pinkfarbenes Kleidchen sowie ein paar Blumenschleifen in den weichen, dunklen Haaren trug, vorsichtig auf den Arm. Sie drückte es an ihre Brust, wiegte es zärtlich hin und her, drehte sich gut gelaunt im Kreis ... ... und entdeckte Eve. Ihr von Mutterliebe weich gezeichnetes Gesicht leuchtete vor Freude auf und sagte Eve, dass ihr Entschluss, die Freundin aufzusuchen, goldrichtig gewesen war. Sie hätte schon viel früher kommen sollen. »Aa? Du sagst inzwischen >Aa«, fragte sie. »Dallas!« In grünen Grinse-Frosch-Pantoffeln stürzte Mavis auf sie zu. Sie roch nach Babymilch und Puder, und da sie auf einem Arm weiter das Baby trug, schlang sie einfach den anderen um Eve. »Ich habe dich gar nicht kommen gehört.« »Ich bin gerade erst hereingekommen.« Eve bemerkte, dass es leichter als erwartet war, sich das Baby aus der Nähe anzusehen. »Sie ist größer geworden«, meinte sie. »Sieht mehr ...« Mavis zog eine schwarz schimmernde Braue hoch. »... wie ein menschliches Wesen aus?« »Okay, ja. Aber das tut sie wirklich, findest du nicht auch? Außerdem kann man inzwischen deutlich sehen, dass sie etwas von euch beiden hat. Wie fühlst du dich?« »Müde, glücklich, rührselig und furchtbar aufgeregt. Willst du sie mal halten?«
»Nein.« »Nur eine Minute. Du kannst auch die Zeit stoppen.« »Ich könnte sie zerbrechen.« »Das wirst du ganz sicher nicht. Aber wenn dich die Vorstellung nervös macht, setz dich besser erst mal hin.« Statt auf dem kunterbunten Schaukelstuhl nahm Eve in einem traditionellen, pinkfarbenen Sessel Platz und atmete tief durch, als sie das Baby in den Arm gelegt bekam. Wenigstens hatte die Kleine einen sauberen Po, erinnerte sie sich und sah das Baby an, das sie reglos anzustarren schien. »Es gefällt mir nicht, wie sie mich anguckt. Als würde sie irgendwas im Schilde führen oder so.« »Sie guckt dich einfach an, sonst nichts.« Strahlend drehte Mavis sich zu Leonardo um, als der mit den Getränken kam. Während er an einen Mammutbaum erinnerte, sah Mavis klein und zart wie eine Elfe aus. Ein winziges Energiebündel mit einer wirren Mähne, deren momentane Farbe Eve an reife Aprikosen denken ließ. Passend zu ihren Pantoffeln hüpften Frösche an den Hosenbeinen ihres Freizeitanzugs hinauf, und der allerdickste von den Kerlen krönte ihre Brust. »Du könntest sie ein bisschen schaukeln«, schlug sie ihrer Freundin vor. »Ich werde mich nicht rühren. Sonst passiert noch etwas.« Und im selben Augenblick schob Belle die Unterlippe vor, verzog ihr liebliches Gesicht und stieß ein jämmerliches Heulen aus. »Okay, die Zeit ist um«, erklärte Eve. »Los, nimm sie mir wieder ab, Mavis.« »Sie hat Hunger, weiter nichts. Ich wollte sie eben schon stillen, aber vorher musste ich sie noch frisch machen. « Zu Eves Erleichterung nahm Mavis ihr das Baby ab, setzte sich in den bunten Schaukelstuhl, zog an dem gekrönten Frosch, und als ihre Brust zum Vorschein kam, saugte sich die kleine Belle wie ein hungriger Egel daran fest. »Wow ...«
»So, mein Schatz. Mamis Milchzug ist in den Bahnhof eingelaufen. Trink, so viel du willst.« »Ihr beide habt den Bogen wirklich raus.« »Wir sind eben ein klasse Team. Leonardo, hättest du etwas dagegen, wenn wir eine Frauenstunde machen würden?« »Ganz und gar nicht.« Doch bevor er sich zum Gehen wandte, gab er Frau und Tochter einen sanften Kuss. »Meine beiden Schönen. Meine beiden Engel. Ich bin drüben in meinem Studio, falls ihr mich braucht.« Er stellte ein Glas mit einem schaumigen Getränk in den Halter des Schaukelstuhls und drückte Eve ihr Weinglas in die Hand. Danach senkte sich Stille über den Raum, die nur die kleine Belle mit ihren Sauggeräuschen unterbrach. »Also ...« Mavis stillte und schaukelte ihr Kind. »Warum habe ich noch nichts davon gehört, dass ein blondes Flittchen tot aus dem East River geborgen worden ist?« Eve hob ihr Weinglas an den Mund, stellte es dann aber, ohne was zu trinken, wieder ab. Und tat, wonach ihr schon den ganzen Tag zumute war. Sie weinte wie ein Kind. »Tut mir leid. Tut mir leid.« Als sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, fuhr sie sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich schätze, dass das einfach überfällig war.« Mavis rannen Tränen des Mitgefühls über die Wangen und sie hob Belle an ihre andere Brust. »Ich sollte dich nicht damit belasten. Wahrscheinlich wird die Milch davon sauer oder so.« »Meine Milch ist erste Sahne. Sag mir, was das alles zu bedeuten hat.« »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht. Er ... sie ... verdammt, Mavis. Verdammt.« »Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass Roarke was mit der Tussi hat. Das ist völlig ausgeschlossen. Das würde er niemals tun. Alle Männer haben einen kleinen blöden Kern,
sonst wären sie keine Männer. Aber nur ein paar von ihnen sind echte Arschlöcher. Er ganz sicher nicht.« »Nein, er hat nichts mit dieser Frau. Aber er hatte mal etwas mit ihr.« »Ich habe früher unschuldige Fußgänger beklaut. Deshalb hast du mich festgenommen.« »Das ist etwas anderes.« »Da hast du wahrscheinlich recht.« Eve erzählte Mavis von dem roten Kleid, von dem Blick, mit dem Roarke die andere kurz angesehen hatte, von deren Besuch auf dem Revier und all dem anderen Kram. »Dann ist dieses Ekelweib also hier aufgetaucht, um dich aus dem Rennen zu werfen.« »Ja.« Das zu wissen, machte es nicht besser, dachte Eve. »Und sie hat ihre Mission erfüllt.« »Erzähl mir was von ihr. Mit was für einem Typ haben wir es hier zu tun?« »Sie sieht umwerfend aus, ist intelligent, sexy, weltgewandt. Spricht mehrere Sprachen, hat ein dickes Konto, ist gewieft und elegant.« Eve stand aus dem Sessel auf und lief im Zimmer auf und ab. »Sie passt ganz genau zu ihm.« » Bullen-Aa.« »Du weißt, was ich meine, Mavis. Sie ist alles, was ich niemals war und niemals sein werde.« Eve warf hilflos ihre Hände in die Luft. »Sie ist das genaue Gegenteil von mir.« »Das ist gut. Das ist sogar hervorragend.« »Gut? Hervorragend? Warum denn das?« »Wenn ihr beiden euch in irgendeiner Weise ähnlich wärt, könnte man sagen - ich würde das nicht tun, aber man könnte sagen, dass sich Roarke für dich entschieden hat, weil du ihn an sie erinnerst. Dass du einfach dem Typ entsprichst, der ihm gefällt. Aber siehst du, du hast keine Ähnlichkeit mit ihr. Weshalb er sich für dich und nicht für einen Typ entschieden
hat. Ich wette, dass sie sich deshalb vor lauter Wut selbst in ihren vom Chirurgen geformten Hintern beißt.« »Dass sie ... oh.« Eve raufte sich das Haar. »Ich verstehe dieses ganze Frauen-Zeug ganz einfach nicht. Sie beißt sich in den Hintern, weil ich nicht so bin wie sie? Weil er sozusagen nicht die ganze Zeit Ausschau nach ihr gehalten hat?« »Genau.« Mavis legte sich Belle über die Schulter und rieb ihr sanft den Rücken. »Ich wette, sie hat sogar Schaum vorm Mund, wenn sie daran denkt. Stimmt's, Bellissima?« Als Antwort stieß die Kleine einen lauten Rülpser aus. »So ist's gut, mein Schatz. Deshalb hat sie auch diese Aufnahme inszeniert.« »Sie hat diese Aufnahme inszeniert?« Mavis quollen fast die froschgrünen Augen aus dem Kopf. »Meine Güte, Dallas, dein Hirn muss so verknotet wie eine Woche nicht gekämmte Haare sein, wenn dir das nicht aufgefallen ist. Ich bin vielleicht schon eine Weile nicht mehr im Geschäft, aber ich erkenne immer noch, wenn jemand andere verschaukeln will. Hast du die Aufnahme gesehen?« »Ich ... ich schätze, dass ich wirklich etwas durcheinander bin.« »Warte. Ich lege Belle schnell hin und hole dir noch etwas Wein. Dann sehen wir uns das Beweismittel zusammen an.« Sie wollte es ganz sicher nicht noch einmal sehen, gleichzeitig jedoch war ihre Neugierde geweckt. Deshalb gingen sie ins Wohnzimmer, Mavis stellte den Fernseher an, drückte auf den Wiederholungsknopf und rief die Nachrichten vom Morgen auf. »Jetzt sieh dir den Film mit den Augen einer Polizistin an und nicht mit denen der verletzten Ehefrau.« Noch während sie dies sagte, schlang sie tröstend einen Arm um Eve. »Er blickt auf sie runter, ja, denn sie sagt etwas zu ihm und sieht dabei zu ihm auf. Achte darauf, dass er sie ansieht, während die Kamera läuft. Siehst du? Sie dreht sich absichtlich so, dass die Kamera ihre beiden Gesichter in Großaufnahme kriegt. Und dann setzt sie noch eins drauf.«
»Sie setzt noch eins drauf?« »Sie dreht ihr Gesicht noch etwas mehr, damit die Kamera den seelenvollen Blick einfangen an, denn den hat sie extra deinetwegen aufgesetzt. Wirklich raffiniert, aber wenn man darauf achtet, trotzdem nicht zu übersehen. Sie spielt euch etwas vor. Sie spielt euch beiden etwas vor. Dafür solltest du ihr kräftig in den Hintern treten, Eve.« »So einfach ist das leider nicht. Denn wenn ich ihr in den Hintern trete, verleiht ihr das gegenüber Roarke zusätzliches Gewicht.« »Scheiße.« Mavis blies die Backen auf. »Da hast du recht.« »Außerdem empfindet er durchaus noch etwas für sie. Deshalb hat sie bereits einiges Gewicht. Und das weiß sie genau.« »Du hast deutlich mehr Gewicht als sie. Deshalb hat sie, wenn es hart auf hart kommt, nicht den Hauch von einer Chance.« »Vielleicht nicht. Aber bisher hat sie alle Punkte gemacht. Sie hat mich verletzt, Mavis, und das sieht er einfach nicht.« »Bring ihn dazu, es zu sehen.« Eve schüttelte den Kopf, aber Mavis marschierte bereits los und kam mit ihrem Mantel aus dem Flur zurück. »Allerhöchste Zeit, ihr das Heft aus der Hand zu nehmen, Dallas«, meinte sie. »Und nur damit du's weißt.« Sie drückte Eve den Mantel in die Hand. »Circa eine halbe Stunde, bevor du erschienen bist, hat Roarke hier angerufen.« »Ach ja?« »Hat ganz normal getan, nach dem Baby gefragt und so. Er ist wirklich gut, und wenn ich nicht genau darauf geachtet hätte, hätte ich es sicher nicht bemerkt. Aber du bist nicht die Einzige, die heute Abend leidet wie ein Schwein.«
15 Roarke griff wieder nach dem Link, schalt sich einen Narren und wandte sich entschlossen ab. Er würde ganz bestimmt nicht länger überall herumtelefonieren, bis er sie endlich fand. Das konnte sie vergessen. Sie würde nach Hause kommen, wenn sie kam. Oder vielleicht auch nicht. Großer Gott, wo steckte dieses Weib? Weshalb in aller Welt tat sie ihm das an? Er hatte nichts getan, um eine solche Behandlung zu verdienen. Er hatte, weiß Gott, genug Dinge getan, um ihren Zorn auf sich zu ziehen, diesmal aber nicht. Und schon gar nicht auf diese Art. Trotzdem hatte sich ihr Blick vom Morgen in seine Gedanken, seine Eingeweide und sein Herz gebrannt. Er hatte diesen Blick schon ein-, zweimal zuvor gesehen, ihn aber bisher niemals selber ausgelöst. Er hatte ihn gesehen, als sie in diesem verfluchten Raum in Dallas gestanden hatten, in dem sie Furchtbares erlitten hatte. Hatte ihn gesehen, wenn sie aus einem Albtraum aufgefahren war. Wusste sie denn nicht, dass er sich eher den rechten Arm abschneiden würde, als schuld daran zu sein, dass sie diesen Blick bekam? Sie sollte es, verdammt noch mal, auf alle Fälle wissen. Sollte ihn, verdammt noch mal, inzwischen so gut kennen, dass sie wusste, dass er niemals etwas täte, um ihr derart wehzutun. Sie selbst war schuld an ihrem Elend, und er konnte nur für sie hoffen, dass sie ihren Hintern möglichst bald nach Hause schwang, damit sie diese Angelegenheit auf die Weise klären
könnten, die bei ihnen üblich war. Sie könnte gegen irgendwelche Gegenstände treten. Auf irgendetwas eindreschen. Oder auch auf ihn, wenn die Sache damit abgeschlossen war. Sie brauchten einen anständigen Streit, dann wäre diese dämliche Geschichte endgültig geklärt. Wo zum Teufel steckte sie? Er hielt es für durchaus angemessen, dass er selber wütend war - und wollte sich nicht eingestehen, dass sich hinter seinem Zorn die nackte Angst verbarg, dass sie vielleicht nicht wiederkam. Sie sollte ja nicht wagen, einfach wegzubleiben, dachte er erbost. Falls das ihre Absicht war, hatte er eine Neuigkeit für sie. Verflucht, dann würde er sie auftreiben und dorthin zurückschleifen, wo sie hingehörte. Nämlich hierher in dieses Haus. Gottverdammt, er brauchte es, dass sie in diesem Haus an seiner Seite war. »Soll ich Ihnen etwas zu essen bringen?«, fragte Summerset aus Richtung Tür. »Nein.« »Dann haben Sie also noch nichts von ihr gehört?« »Nein. Und kommen Sie ruhig wieder von Ihrem hohen Ross herunter. Ich habe nämlich nichts getan.« Sein glühend heißer Zorn prallte an dem wie stets gefassten Butler einfach ab. »Aber Sie haben es auch nicht verhindert.« »Was?« Roarke wirbelte zu ihm herum. Endlich hatte er ein Ziel für seinen Zorn. »Dass sich meine Frau mit einem Mal in ein unvernünftiges, eifersüchtiges, von Stimmungsschwankungen geplagtes Wesen verwandelt hat?« »Ihre Frau hat einfach ganz normal auf die Manipulationsversuche einer äußerst cleveren Konkurrentin reagiert. Das wäre Ihnen klar, wenn Sie nicht so versessen darauf wären, wieder mal im Recht zu sein.«
»Schwachsinn. Es ist ganz sicher nicht normal sich einzubilden, ich könnte Magdalena ihr vorziehen. Und manipulieren lasse ich mich von nichts und niemandem.« »Die Aufnahme von Ihnen beiden kam genau zum rechten Zeitpunkt.« »Verdammt, was soll das schon wieder heißen?« »Sie kam genau zum rechten Zeitpunkt und war obendrein perfekt geplant und ausgeführt«, erklärte Summerset ihm kühl. »Sie war schon immer gut.« »Wollen Sie damit etwa sagen, sie hätte das alles inszeniert? Und zu welchem Zweck?« »Sie sind hier, allein und wütend, und machen sich Sorgen um Ihre Frau und Ihre Ehe.« Summerset ignorierte Galahad, der sich wie ein aufgeblähtes Band zwischen seinen Beinen wand. »Ich nehme an, dass es dem Lieutenant ähnlich geht. Sie hat ihr Ziel also erreicht.« »Das ist totaler Unsinn.« Doch der erste Zweifel war gesät. »Sie hat dadurch nichts zu gewinnen.« »Außer Rache und Amüsement.« »Rache wofür?« Roarke hatte das Gefühl, als würde er verrückt. »Auch wenn Sie das vielleicht vergessen haben, war sie diejenige, die mich verlassen hat. Sie hat mich verraten und im Stich gelassen.« »Das habe ich ganz sicher nicht vergessen. Und es freut mich, dass es auch Ihnen nicht entfallen ist.« »In diesem Haus ist bereits mehr als genug über sie gesprochen worden, dabei bin bestimmt nicht ich derjenige, der ständig die Sprache auf sie bringt.« Er marschierte aus dem Raum und ging hinunter in den Fitnessraum, um auf einen Sparring-Droiden einzudreschen, bis der in tausend Stücke brach. Am Schluss war er völlig erschöpft, aber es nützte nichts - das schmerzliche Ziehen seiner Eingeweide hatte sich noch immer nicht gelegt.
Er wusch den Schweiß und das Blut an seinen aufgerissenen Knöcheln unter der Dusche ab, zog sich um und zwang sich, in sein Büro zu gehen. Er würde einfach arbeiten, sagte er sich. Würde einfach arbeiten, und wenn sie in einer Stunde nicht zu Hause war, würde er ... Ja, was? Als er das Licht in ihrem Arbeitszimmer sah, wurde er vor Erleichterung so schwach, dass sich alles um ihn drehte und er einen Moment erschauderte. Durch diese ungewohnte Schwäche wurde der Zorn, der in ihm schwelte, abermals entfacht. Kampfbereit stapfte er durch die Tür. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, ihr Computer summte, und irgendwelche Daten rollten über den Monitor. Die Schatten unter ihren geschlossenen Augen hoben sich überdeutlich von den bleichen Wangen ab. Vielleicht hätte der Ausdruck unglücklicher Erschöpfung ihn seinen Zorn vergessen lassen, dann aber schlug sie plötzlich die Augen auf. »Lieutenant.« »Ich habe zu tun.« »Das wird warten müssen. Computer aus.« »He.« »Ist das neuerdings die Art, wie du mit den Dingen umgehst? Wie du mich für Verbrechen bestrafst, die ich deiner Meinung nach begangen habe? Indem du mich nicht einmal nach meiner Sicht der Dinge fragst?« »Hör zu, ich bin müde. Ich muss ...« »Das bin ich auch, verdammt noch mal.« Er sah wirklich müde aus, erkannte sie. Das kam nur sehr selten vor. »Dann geh ins Bett. Ich werde ...« »Falls du dir einbildest, du könntest mich noch einmal einfach stehen lassen«, meinte er mit gefährlich leiser Stimme, »überlegst du dir das besser noch einmal.«
Sie kannte die Hitze - und die noch tödlichere Eiseskälte seines Zorns und erschauderte. »Ich werde mir erst mal einen Kaffee machen.« »Das wird warten müssen, so wie ich die halbe gottverdammte Nacht darauf gewartet habe, dass du endlich nach Hause kommst.« Er trat auf sie zu und durchbohrte sie mit seinem Blick. »Woher hätte ich wissen sollen, dass du nicht tot in irgendeiner Gasse liegst und die nächsten Leute, die hier klingeln, ein Cop und ein Psychologe sind?« Sie hatte keinen Augenblick daran gedacht, dass er sich Sorgen machen könnte, dass ihr etwas zugestoßen war. Sie hatte ihn nicht bestrafen wollen. Ihr war es nur darum gegangen, irgendwie den Tag zu überstehen. Deshalb schüttelte sie unglücklich den Kopf. »Du solltest darauf vertrauen, dass ich auf mich aufpassen kann.« »Oh, jetzt soll ich dir also mit einem Mal vertrauen, obwohl du mir nicht das mindeste Vertrauen schenkst. Du hast weder das Recht noch irgendeinen Grund, mir so etwas anzutun.« »Du auch nicht«, antwortete sie. »Was, in aller Welt, tue ich dir denn an?« Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich zu ihr herab. »Was tue ich dir an oder was, zum Teufel, habe ich dir angetan? Erklär es mir.« »Du hast sie angesehen.« Während eines Augenblicks drückten seine blitzenden blauen Augen vollkommene Überraschung aus. »Nun, da ich in den letzten Tagen nicht erblindet bin, habe ich eine ganze Reihe Frauen angesehen. Du solltest mich kastrieren.« »Mach dich nicht über meine Gefühle, meinen Instinkt oder die Dinge, die ich weiß, lustig. Du solltest diese Sache und vor allem mich nicht ins Lächerliche ziehen. Du hast sie angesehen und während einer Sekunde, als du sie zum erstem Mal wiedergesehen hast, hast du sie so angesehen wie sonst nur mich.«
»Das ist totaler Unsinn.« »Ist es nicht!« Sie sprang von ihrem Stuhl auf, damit sie auf Augenhöhe mit ihm stand. »Ich bin dafür ausgebildet, zu beobachten, und ich kenne dein Gesicht und deine Augen. Ich weiß, was ich gesehen habe.« »Und deine Ausbildung als Polizistin sagt dir, dass der Blick, mit dem ich sie, wie du selbst gesagt hast, eine Sekunde lang angesehen habe, Grund genug ist, um völlig irrational zu reagieren und derart eifersüchtig zu sein?« »Es ist keine Eifersucht. Ich wünschte, dass es das wäre. Ich wünschte, es wäre so oberflächlich und so dumm. Aber es ist keine Eifersucht. Ich habe einfach Angst.« Sie ließ sich wieder in ihren Schreibtischsessel sinken, als ihre Stimme brach. »Ich habe fürchterliche Angst.« Er richtete sich wieder auf. »Kannst du wirklich glauben, dass ich jemals bedauern würde, was wir beide füreinander sind, was wir beide miteinander haben? Dass ich jemals bereuen würde, dass ich mich für dich entschieden habe statt für sie? Habe ich dir nicht oft genug gesagt und gezeigt, dass du alles für mich bist?« Sie kämpfte um Gelassenheit und um die rechten Worte. »Sie ist nicht wie die anderen. Es gibt immer noch eine Verbindung zwischen euch. Das weißt du, und das weiß ich. Und, was vielleicht noch schlimmer ist, sie weiß das ebenfalls. Die Verbindung, die gemeinsame Vergangenheit ist nicht zu übersehen. Sie war sogar so deutlich zu erkennen, dass ich heute ständig irgendwelchen mitleidigen Blicken ausgesetzt war. Dass es für mich erniedrigend war, durch meine eigene Abteilung bis in mein Büro zu gehen.« »Und was ist mit der Verbindung zwischen uns, was ist mit unserer Geschichte, Eve?« Ihre Augen glitzerten. Anders als viele andere Frauen würde sie niemals Tränen als Waffe einsetzen, sie kämpfte sogar jetzt dagegen an. Wobei ihr Kampf für ihn alles noch verschlimmerte.
Er trat ans Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Damit sie nicht weiterstreiten würden, bis es nichts mehr zu streiten gab. Sie müssten sich ganz vorsichtig an den Kern ihres Problems herantasten. Und dann müssten sie weitersehen. »Musst du wissen, was und wie es zwischen uns beiden war, und was und wie es jetzt zwischen uns beiden ist?« »Das weiß ich bereits.« »Du glaubst es bereits zu wissen«, korrigierte er. »Und vielleicht hast du weder völlig unrecht noch vollkommen recht. Willst du recht haben?« »Nein.« Gott, nein. »Aber ich muss es wissen.« »Tja, dann werde ich es dir sagen. Ich war damals wie alt? Dreiundzwanzig oder so, und habe Geschäfte in Spanien gemacht. Ich hatte ziemlichen Erfolg und vor allem hat es mir schon damals Riesenspaß gemacht, einen Fuß auf jeder Seite zu haben. Ich wollte Licht und Schatten, könnte man vielleicht sagen. Weil das eine interessante Mischung ist.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »In Barcelona liefen wir uns über den Weg. Wir hatten zufällig den selben Coup geplant.« Mit einem Mal war alles wieder da, als er aus dem Fenster in den dunklen Garten sah. Der Lärm und die bunten Lichter in dem Club. Es war eine schwüle Septembernacht gewesen und die Musik hatte das Blut zum Kochen gebracht. »Sie kam in den Club, in dem ich die Zielperson seit einer Weile im Visier hatte. Sie trug ein rotes Kleid und hatte einen stolz gereckten Kopf. Sie bedachte mich mit einem kurzen Blick und machte sich direkt an meine Zielperson heran. Bereits nach wenigen Minuten hat er ihr den ersten Drink spendiert. Sie war wirklich gut. Ich hätte beinahe nicht gemerkt, wie sie ihm die Schlüsselkarte aus der Tasche zog.« Er wandte sich vom Fenster ab. »Es ging um Rubine - blutrote Rubine. Die Prunkstücke einer Ausstellung. Um an sie
heranzukommen, brauchte man drei Schlüsselkarten, und ich hatte bereits zwei. Sie hat ihm seine Schlüsselkarte geklaut, ist kurz aufs Klo gegangen, hat eine Kopie davon gemacht und ihm dann die Karte wieder zugesteckt, ohne dass er irgendetwas davon mitbekommen hat. Jetzt kam keiner von uns beiden mehr an die verdammten Steine, das hat mich natürlich angekotzt.« »Ja, klar.« »Also wartete ich darauf, dass sie zu mir kommen würde, was sie am nächsten Tag auch tat. Am Ende haben wir den Coup gemeinsam durchgezogen und eine Zeitlang zusammen weitergemacht. Sie war jung, furchtlos und voller Leidenschaft, wir haben beide das schnelle Leben genossen und neben dem beruflichen Erfolg jede Menge Spaß miteinander gehabt.« »Hast du sie geliebt?« Er ging durch den Raum und holte ihnen beiden ein Glas Wein. »Damals dachte ich, dass ich sie liebe. Sie war kapriziös und unberechenbar. Sie hat mich ganz schön auf Trab gehalten. Die legitimen Geschäfte, die ich damals betrieben habe, haben sie gelangweilt.« Er stellte ein Glas Wein auf Eves Schreibtisch ab. »Sie konnte einfach nicht verstehen, weshalb ich das machte, weshalb ich die Dinge wollte, die ich wollte. Für sie ging es immer um das Spiel, um Geld, um Glanz und Glorie. Sie konnte nicht verstehen, wie es ist, aus dem Nichts zu kommen, weil sie selbst aus einer anständigen Familie kommt. Sie wollte einfach mehr als das, was die Familie ihr zu bieten hatte, weiterziehen und woanders noch mehr Kohle machen. Weiter nichts.« »Und was wolltest du?« »Ich wollte vor allem sie. Womit ich dich nicht verletzen will.« »Das tust du nicht.« »Und auch ich wollte aus verschiedenen Gründen mehr.« Ehe er den ersten Schluck aus seinem Weinglas nahm, starrte er versonnen in die goldene Flüssigkeit. »Ich wollte Ansehen und Macht und die Schutzschilde und Mauern und Waffen, die
verhindern, dass ich jemals wieder in der Gosse lande. All das weißt du bereits.« »Ja.« »Sie wusste es nicht. Sie hätte es auch nicht verstanden. Das war der Riss in dem Juwel, nehme ich an.« Der Makel, dachte er, der ihm schon damals aufgefallen war. »Trotzdem hat sie hell genug gestrahlt, dass ich mit ihr zusammengearbeitet habe und mit ihr zusammengeblieben bin. Bis zu der Sache in Nizza. Die dortige Zielperson hatte eine außergewöhnliche Kunstsammlung, darunter zwei Renoirs. Wir wollten die Renoirs und hatten auch schon einen Käufer dafür ausfindig gemacht. Wir hatten Wochen mit der Vorbereitung dieses Coups verbracht, wobei Maggie interne Informationen sichern sollte, indem sie die Zielperson verführt.« Eve hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Sie hat mit ihm geschlafen? Das hat dich nicht gestört? Es hat dich nicht gestört, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen hat?« »Es ging um unseren Coup, er war mehr als doppelt so alt wie sie, und die beiden Bilder waren sehr viel wert.« »Dann hat sie nie wirklich zu dir gehört«, murmelte Eve und spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Inneren löste. »Dann hat sie nie wirklich zu dir gehört.« »Hast du etwa etwas anderes gedacht?« »Ja.« »Wie gesagt, du hattest nicht ganz recht mit den Dingen, die du wahrscheinlich vermutet hast«, wiederholte er und nahm auf der Kante ihres Schreibtischs Platz. »Meine Gefühle für sie waren ziemlich kompliziert, genau wie das, was sie für mich empfunden hat. Ich dachte, dass ich ihr wegen dieser Gefühle und wegen unserer gemeinsamen Erfolge trauen kann. Aber da habe ich mich eindeutig geirrt.« Eve konnte deutlich sehen, dass er auf die damalige Zeit zurückblickte. »Am Abend, bevor wir den Coup landen wollten, kam sie nicht in die Villa zurück, in der wir damals wohnten.
Auch am nächsten Morgen kam sie nicht. Ich hatte Angst, dass etwas schiefgelaufen wäre, dass sie irgendetwas Dummes gemacht und man sie dabei erwischt hätte. Dann hörte ich, dass sie mit der Zielperson durchgebrannt war. Dass sie mich seinetwegen verlassen hatte. Und als hätte das nicht schon gereicht, hätten eine Reihe von Gendarmen auf mich gewartet, wenn ich die Sache in der Nacht wie geplant durchgezogen hätte.« »Sie hat dich also verraten.« »Wie gesagt, sie war ziemlich kapriziös. Ich war furchtbar wütend und verletzt. Vor allem in meinem Stolz. Wir hatten zusammen viele Leute ausgetrickst, und jetzt hatte sie dasselbe mit mir gemacht.« »Warum hast du nicht Jagd auf sie gemacht?« Er sah in ihre müden braunen Augen und nippte an seinem Wein. »Daran habe ich nie gedacht. Sie hatte mich über den Tisch gezogen, und das war's. Die Befriedigung, ihr deshalb hinterherzujagen, hätte ich ihr einfach nicht gegönnt. Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass ich heute Abend durchaus die Absicht hatte, Jagd auf dich zu machen, wenn du nicht innerhalb der nächsten Stunde heimgekommen wärst. Ich hätte Jagd auf dich gemacht und dich heimgeschleift. Mir wäre niemals der Gedanke gekommen, einfach tatenlos mit anzusehen, wie du mich sitzen lässt.« Sie atmete tief durch. »Hast du dir die beiden Renoirs jemals geholt?« Er verzog den Mund zu einem Lächeln. »Natürlich habe ich sie mir geholt. Drei Jahre später. Und in den drei Jahren und auch in der Zeit danach hatte ich jede Menge anderer Frauen. Ich hatte Spaß mit ihnen, und ich hätte keine dieser Frauen jemals absichtlich verletzt. Ich habe ihnen gegeben, was ich geben konnte, und habe mir genommen, was sie mir freiwillig gegeben haben. Aber etwas Ernstes war es nie.« »Weil du sie nie vergessen hast.«
»Damit hast du nicht ganz unrecht«, gab er unumwunden zu. »Weil ich sie nie vergessen habe. Sie hat eine leere Stelle in mir hinterlassen, Eve, und ich wollte das Risiko nicht eingehen, sie mit jemandem zu füllen, der noch einmal ein solches Loch in meine Seele reißt.« »Sie ...« Wieder musste sie nach den richtigen Worten suchen. »Sie hat großen Einfluss auf dich gehabt. Vielleicht ist das ein Teil von dem, was ich empfinde. Ein Teil dessen, was ich sehe«, meinte sie. »Ich kann und will nicht leugnen, dass das, was sie getan hat, dass die Macht, die ich ihr über mich gegeben habe, einen gewissen Einfluss darauf hatte, wie ich die nächsten Beziehungen angegangen bin. Ich habe gesagt, ich habe sie nie vergessen, aber ebenso wenig habe ich nach den ersten paar Wochen noch aktiv an sie gedacht. Verstehst du das?« »Ja. Das verstehe ich.« »Ich habe schon damals gern gearbeitet und hatte alle Hände voll zu tun. Im Verlauf der Zeit habe ich es zu einigem Reichtum, Ansehen und Macht gebracht. Ich habe dieses Haus gebaut und vieles mehr. Und ich habe die Frauen, mit denen ich zusammen war, durchaus gern gehabt, aber sie waren nie mehr als ein vorübergehendes Vergnügen.« »Sie hat dich sehr verletzt.« »Das hat sie auf jeden Fall, und als ich sie wiedergesehen habe, habe ich mich daran und an die Tatsache erinnert, dass die komplizierten Gefühle, die ich damals für sie hatte, sie erst in die Lage versetzt haben, mir derart wehzutun.« »Es hilft mir, dass du mir all das erzählst«, erklärte Eve. »Dass du alles offen darlegst und nicht einfach so tust, als wäre ich verrückt.« »Es fällt mir schwer, all das mir selbst oder dir gegenüber zuzugeben. Aber ich habe nicht gelogen, als ich dir erklärt habe, dass die Sache für mich abgeschlossen ist. Trotzdem ... und auch das werde ich dir erzählen ... erinnere ich mich auch an die
wunderschöne junge Frau in dem roten Kleid, die in den überfüllten Club geglitten kam. An diesen elektrisierenden Moment. Vielleicht war es das, was ich in der Sekunde gesehen habe, vielleicht war es die Erinnerung an das, was hätte sein können, auch wenn es niemals war. Diesen Gedanken und meine Erinnerungen kann ich nicht einfach auslöschen.« »Nein. Okay. Okay. Lass uns einfach ...« »Wir sind noch nicht am Ende. Hör mich bitte bis zum Ende an.« Wie, um sie daran zu hindern aufzustehen, nahm er ihre Hand. »Ich hatte dieses Loch in mir, diese leere Stelle. Damit hätte ich durchaus zufrieden leben können. Ich war nicht wirklich unglücklich.« Er sah ihr ins Gesicht, während er mit seinem Daumen leicht über ihren Handrücken strich. »Dann, eines Tages, spürte ich etwas - ein Kribbeln im Nacken, eine ungewohnte Hitze, die mir über den Rücken rann. Ich stand vor einem Denkmal für die Toten, habe mich umgedreht, und da warst du.« Er drehte ihre Hand herum und verschränkte ihrer beider Finger. »Da warst du, und meine Welt geriet vollkommen aus dem Gleichgewicht. Du warst alles, was ich nicht hätte haben, wollen oder brauchen sollen. Mein Gott, du warst ein Cop und hast mich mit deinen Blicken regelrecht durchbohrt.« Als er mit den Fingern über ihre Wange glitt, war es wie ein leises Flüstern, verriet jedoch zugleich eine wilde Leidenschaft und eine geradezu verzweifelte Intimität. »Ein Cop in einem schlecht sitzenden grauen Anzug und einem Mantel, der noch nicht mal richtig passte. In dem Augenblick hat sich die Leere in meinem Inneren gefüllt. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte nicht verhindern, was dort Wurzeln schlug und wuchs. Sie hat mir dieses Loch geschlagen, und du hast es wieder geschlossen. Kannst du verstehen, dass das ein Teil dieser Verbindung ist, über die du dir Gedanken machst? Kannst du verstehen, dass, was ich auch immer für sie empfunden habe, nichts mehr zu bedeuten hat? Im
Vergleich zu dem, was ich für dich empfinde, war das, was mich damals mit ihr verbunden hat, so fahl, dünn und schwach, dass nichts mehr davon übrig ist.« Jetzt brachen sich die Tränen Bahn. Er sah, wie sie ihr auf die Wangen tropften, sie selbst nahm es wahrschein- lieh gar nicht wahr. »Sie war ein Teil von meinem Leben. Während du mein Leben bist. Falls ich irgendetwas bedauere, dann, dass du auch nur für einen Augenblick etwas anderes denken konntest. Oder dass ich zugelassen habe, dass du etwas anderes denkst.« »Als ich dich mit ihr im Fernsehen sah ...« »Habe ich der jungen Frau, die ich einmal gerne hatte, und vielleicht auch dem Mann, der ich selber damals war, Lebewohl gesagt. Mehr nicht. Nicht weinen. Bitte.« Er strich ihr die Tränen mit den Daumen fort. »Nicht weinen.« »Ich komme mir so dämlich vor.« »Gut. Ich mir nämlich auch.« »Ich liebe dich. Was manchmal echt erschreckend ist.« Sie stand wieder auf, statt ihn aber stehen zu lassen wie am Morgen, schmiegte sie sich eng an seine Brut. »Was manchmal unglaublich erschreckend ist.« »Ich weiß.« Sie spürte, dass er zitterte, als er sein Gesicht an ihrem Hals vergrub. »Verlass mich nicht noch einmal. Gott. Gott. Verlass mich nicht noch mal.« »Das habe ich doch gar nicht getan.« »Ein Teil von dir.« Er schob sie ein wenig von sich fort und sah sie jetzt selbst aus tränenfeuchten Augen an. »Ein Teil von dir hat mich verlassen, und ich habe es einfach nicht ertragen.« »Ich gehe heute Abend nirgendwo mehr hin. Wir beide gehen heute Abend nirgendwo mehr hin.« Da sie ihn beruhigen musste, setzte sie ein Lächeln auf. »Außerdem würdest du mich ja sowieso wieder nach Hause schleifen.« »Allerdings.«
»Oder es auf jeden Fall versuchen.« Sie strich mit ihren Händen über seine aufgerissenen Knöchel und sah sie sich genauer an. »Wow! Hast du irgendwen verprügelt?« »Nur einen Droiden. Bei dir scheint das immer so gut zu funktionieren, wenn du sauer auf mich bist.« »Du solltest deine Entwicklungsabteilung darauf ansetzen, einen Droiden zu entwerfen, der sich selbst wieder zusammenbaut.« Sie küsste die aufgerissene Haut. »Du solltest etwas drauf machen.« »Das hast du gerade getan. Du siehst hundemüde aus«, antwortete er, während er ihr sanft über die Wange strich. »Meine Eve. Total erschöpft. Außerdem gehe ich jede Wette ein, dass du heute noch nichts gegessen hast.« »Ich habe einfach nichts runtergekriegt. Dabei hatte Morris sogar selbst gemachte Brownies. Karamell.« »Wir werden einen Teller Suppe essen.« »Ich bin zu müde, um zu essen.« »Also gut. Dann wird eben nicht mehr gegessen und gearbeitet, sondern erst einmal geschlafen.« Sie schlangen sich gegenseitig die Arme um die Taille und wandten sich zum Gehen. »Lässt du mich dir wieder helfen? Bei deinen Ermittlungen?« Sie hatte ihn ausgeschlossen, merkte sie. Sie hatten sich gegenseitig ausgeschlossen. Hatten jeder irgendwelche kleinen Türen vor dem anderen zugemacht. »Ja. Ich könnte etwas Hilfe brauchen. Ich habe nämlich ein paar Fragen zur Security der Akademie.« »Das fragst du genau den Richtigen.« Sie sah ihn lächelnd an. »Das tue ich auf jeden Fall.« Sie versank in einem tiefen Schlaf, doch bevor das erste Licht der Morgendämmerung durch das Oberlicht des Zimmers fiel, weckte er sie mit seinem warmen Mund. Süß, warm und
einladend. Berauscht von seinem herrlichen Geschmack, ging sie auf die Liebkosung ein. Seine Hände strichen derart zärtlich über ihren Leib, dass sie das Gefühl hatte, als stoße ihr Herz einen erleichterten Seufzer aus. Eingehüllt in vollkommene Stille und weiche, warme Dunkelheit bewegten sie sich sanft im gleichen Takt. Suchten und fanden Trost, gaben einander alles, was sie brauchten, und erneuerten wortlos ihren Schwur. Dann lag sie in seinem Arm und machte selig die Augen wieder zu. »Ich hätte dich schlafen lassen sollen.« »So, wie ich mich augenblicklich fühle, hast du genau das Richtige getan. Es war einfach perfekt.« So perfekt, dass sie während der nächsten tausend Jahre einfach so liegen bleiben könnten, dachte sie. »Wie spät ist es überhaupt?« »Kurz vor sechs.« »Wahrscheinlich musst du langsam aufstehen.« »Mir gefällt es dort, wo ich gerade bin.« Sie lächelte in der Dunkelheit. »Ich bin halb verhungert.« »Ach ja?« »Ach ja. Ich wünschte, ich hätte einen von diesen verdammten Karamellbrownies.« »Du brauchst etwas anderes als Karamell.« »Falls du noch mal mit mir schlafen willst, brauche ich vorher eine Tasse Kaffee.« Ah, sie ist wieder ganz die Alte, dachte er. »Gestern hat der Kater fast zwei ganze Portionen irischen Frühstücks von mir gekriegt. Warum versuchen wir es nicht noch mal und essen die Sachen heute selbst?« »Hast du gestern etwa auch nichts gegessen?«, fragte sie. »Nein.« Wieder lächelte sie. Es war einfach nett zu wissen, dass auch er gelitten hatte, überlegte sie, rollte sich dann aber auf den Bauch,
stützte sich auf ihren Ellenbogen ab und sah auf ihn herab. »Also, lass uns das Essen nachholen, okay?« Sie stellten die Teller zwischen sich aufs Bett und schaufelten Eier in sich hinein, als würde das Zeug innerhalb der nächsten Stunde auf die Liste verbotener Nahrungsmittel gesetzt. Sie hatte wieder Farbe im Gesicht, bemerkte er. Auch die dunklen Schatten, die Zeichen der Verletztheit, die in ihrem Blick gelegen hatten, waren nicht mehr da. Dann sah sie ihn an, und ihr Blick drückte etwas völlig anderes aus. »Was?« »Auch wenn ich das Thema nicht noch einmal aufwärmen will, möchte ich noch was erwähnen, was mir aufgefallen ist.« »Also gut.« »Das rote Kleid.« »Verdammt.« »Nein, nein.« Sie fuchtelte wild mit ihrer Gabel, denn sie war entschlossen, diese Unterhaltung hinter sich zu bringen, ohne dass es abermals zu einem Streit oder zu einer emotionalen Krise kam. »Hör mir einfach zu, okay? Du hast gesagt, sie hätte ein rotes Kleid getragen, als du sie zum ersten Mal gesehen hast. Glaubst du etwa, dass es ein Zufall war, dass sie ein rotes Kleid anhatte, als sie dir nach all der Zeit plötzlich wieder über den Weg gelaufen ist?« »Nun, ich wage zu bezweifeln, dass sie all die Jahre rote Kleider anhatte, für den Fall, dass sie mich zufällig irgendwo trifft.« »Du denkst nicht wirklich nach. Du hast immer noch Scheuklappen auf, wenn es um Magdalena geht. Nicht sauer sein.« »Es fällt mir wirklich schwer, das nicht zu sein.« Leicht verärgert pikste er eine Bratkartoffel auf. »Worauf willst du hinaus?« »Dass sie das Ganze inszeniert hat. Sie war nicht zufällig um diese Zeit in einem verdammten roten Kleid in diesem
Restaurant. Sie wusste, dass du dort warst, und wollte dich überraschen. >Erinnerst du dich, Schatz? Erinnerst du dich noch an mich?<« »Tja, woher hätte sie wissen sollen, wo ...« Plötzlich brach er ab, und sie sah, dass er die Scheuklappen verlor. Sie brauchte ihre gesamte Willenskraft, um nicht aufzuspringen und einen Siegestanz auf der Matratze zu vollführen. Doch sie schaffte es, sich zu beherrschen, und gratulierte sich dazu. »Du hast gesagt, sie wäre gut, und wahrscheinlich hast du ihr sehr viele Dinge beigebracht. Du kanntest den Typen, mit dem sie an dem Abend essen war, weil du ab und zu Geschäfte mit ihm machst. Wenn man sich ein bisschen Zeit nimmt, ist es nicht besonders schwer herauszufinden, wann es Reservierungen in irgendwelchen Restaurants unter deinem Namen gibt.« »Sie hätte es rausfinden können.« »Danach ruft sie dich in aller Frühe hier zu Hause an, ihr trefft euch zum Mittagessen und sie bittet dich um der alten Zeiten willen um einen geschäftlichen Rat. Ich wette, sie hat sich wortreich dafür entschuldigt und erklärt, wie sehr sie sich für ihr Verhalten damals schämt.« Sie machte eine Pause, kam dann aber zu dem Ergebnis, dass die Wunde immer weiter schwären würde, wenn sie nicht auch noch das Letzte sagte, was ihr durch den Kopf gegangen war. »Du willst mir doch wohl nicht erzählen, sie hätte sich nicht an dich herangemacht. Oder zumindest das Terrain sondiert.« »Wobei das Terrain nicht gerade empfänglich war.« »Wenn es das gewesen wäre, hätte ich sie schon längst in einem der Gewässer auf diesem Terrain ersäuft.« »Liebling, das ist einfach typisch ... du.« »Das solltest du lieber nicht vergessen«, warnte sie, bevor sie, da sie ihren gebratenen Speck bereits verschlungen hatte, noch ein Stück von seinem Teller stahl. »Das hat ihr sicher einen
ziemlichen Schlag versetzt. Ebenso wie die Tatsache, dass ich die totale Anti-Magdalena bin.« »Wie bitte? Du bist was?« Kopfschüttelnd kaute Eve auf ihrem Speck herum. »Das ist zu kompliziert, um es zu erklären. Also vergiss es einfach, ja? Aber nachdem du ihr Angebot, dir ihre Titten anzusehen, ausgeschlagen hast ...« »Dabei sind sie, wenn ich mich recht entsinne, wirklich schön.« »Vorsicht.« Als er grinste, wurde ihr vor lauter Freude warm ums Herz. »Also, was hat sie getan, nachdem du ihr großzügiges Angebot ausgeschlagen hast?« »Sie hat ihre bittere Enttäuschung in einem Wodka- Martini ertränkt.« »Nein. Meine Güte. Sie hat sich auf mich gestürzt und mir ein paar gezielte Seitenhiebe verpasst. Zum krönenden Abschluss kam dann noch die Aufnahme von euch, wie du ihr in den Wagen geholfen hast. Mavis hat gesagt ...« »Mavis?« Eve spielte mit den Resten ihrer Eier. »Ich war gestern Abend bei ihr. Allerdings habe ich an die Sache mit dem Teddy nicht gedacht.« »Ebenso wenig wie an mich.« »An dich habe ich die ganze Zeit gedacht. Aber ich musste Mavis einfach sehen. Musste mit ihr sprechen.« »Schon gut.« Er strich ihr über das Knie. »Das ist wahrscheinlich nur gerecht.« »Mavis hat jahrelang ihr Geld mit irgendwelchen Trickbetrügereien verdient. Und sie war wirklich gut. Deshalb hat sie sofort gesehen, was Magdalena getrieben hat, auch wenn es mir nicht aufgefallen ist. Sie hat diese Aufnahme von euch beiden inszeniert. Wenn du sie dir noch mal ansiehst, fällt es dir ganz sicher auf. Sie blickt direkt in die Kamera, sie reckt extra den Kopf, damit sie gut getroffen wird. Es war nicht einfach ein
Zufall, dass irgendein Idiot euch beide aufgenommen und den Film dann an den Sender verscherbelt hat. Sie hat das alles inszeniert.« »Das hat Summerset ebenfalls behauptet, wofür er eine von mir auf den Deckel bekommen hat. Obwohl ein Teil von mir gedacht hat: >Ja, natürlich hat sie das getan<, habe ich ihn dafür fertiggemacht.« »Sie will dich wiederhaben.« Eve stach zornig in ihr Ei, denn obwohl sie wusste, was sie wusste, und hatte, was sie hatte, stank ihr das. »Sie hat bereits zwei reiche Kerle durchgemacht und bis an ihr Lebensende ausgesorgt. Aber du ... Du bist der Hauptgewinn. Und sie hat sich schon mal verkalkuliert. Hat auf die Taube auf dem Dach verzichtet und den Spatz in der Hand gewählt. Inzwischen bist du keine Taube mehr, sondern ein ... nenn mir einen möglichst großen Vogel.« »Ein Strauß?« »Ja, auch wenn das ziemlich dämlich klingt. Aber wie dem auch sei, du bist der Vogel in dem großen, goldenen Nest, in dem sie es sich gemütlich machen will. Nur muss sie mich dazu vorher aus dem Weg schaffen. Und dann kann sie vielleicht gucken, ob ihr nicht da weitermachen könnt, wo sie die Sache damals unterbrochen hat.« »Wie gesagt, vielleicht hat sie diese Möglichkeit erwogen, die jedoch von mir als treuem Ehemann sofort verworfen worden ist. Und ja«, fügte er kopfnickend hinzu. »Vielleicht ist sie danach zu dir gegangen, um zu sehen, ob sie dort was ausrichten kann, und um Zweifel in dir zu säen. Alles in allem hat sie ihre Sache wirklich gut gemacht, denn sie hat uns beachtlichen Ärger und großes Unglück bereitet. Trotzdem kann ich dir versprechen, dass ich ihr deutlich zu verstehen gegeben habe, dass wir beide eine Einheit sind. Und dass es auch so bleiben wird.« »Vielleicht hat sie ja gedacht, sie könnte dich am Ende davon überzeugen, dass es nicht so ist. Und bis dahin hätte sie uns
weiter wütend und unglücklich gemacht. Weil sie schließlich nichts dabei zu verlieren hat.« »Ja«, stimmte er ihr unumwunden zu. »Das hätte ihr Spaß gemacht. Denn alles Normale oder alles, was sie als normal ansieht, findet sie langweilig.« Sie hatte ihre beiden Eheverträge erfüllt, hatte sie gesagt. »Eine Ehe ist für sie entweder Mittel zum Zweck oder einfach nur ein Spiel.« »Nach dem Motto, wie kann ich dafür sorgen, dass sie für mich funktioniert? Und falls sie das nicht tut, breche ich das Unternehmen einfach ab.« »Tut mir leid. Tut mir leid, dass ich sie nicht sofort durchschaut habe.« »Sie hat sich verrechnet.« Eve nahm seine Hand, und er drückte sie. »Das hat sie auf jeden Fall.« »Trotzdem würde ich ihr dafür gern noch in den Hintern treten.« »Wäre es unpassend, wenn ich dabei zusehen wollte?« »Männer wollen immer zusehen. Nur, wenn wir irgendein Aufheben um diese Sache machen, heizt das die Gerüchteküche noch weiter auf. Deshalb werden wir uns damit begnügen müssen, die Sache zu ignorieren und zu wissen, dass sie das entsetzlich ärgern wird. Vergessen wir sie einfach, ja?« »Okay.« »Und jetzt muss ich ... ans Telefon«, erklärte sie, als im selben Augenblick ihr Handy klingelte. »Video aus. Dallas.« »Hier ist noch mal Reo. Ich habe den Durchsuchungsbefehl für Straffos Wohnung. Dieser blöde Arsch. Als Entgegenkommen an ihn hat der Richter verfügt, dass niemand vor acht Uhr heute Morgen in die Wohnung darf.« »Damit kann ich leben. Danke, Reo.« »Finden Sie etwas, damit uns Straffo nicht den Medien zum Fraß vorwerfen kann.«
»Wir werden etwas finden.« »Oliver Straffo?«, fragte Roarke nach Ende des Gesprächs. »Du verdächtigst ihn, dass er diesen Lehrer ermordet hat?« »Seit gestern diese Lehrer. Der bisherige Hauptverdächtige wurde inzwischen nämlich ebenfalls umgebracht. « »Ah.« Er war eindeutig nicht auf dem neusten Stand, es war höchste Zeit, sich wieder in ihre Arbeit einzuklinken, merkte er. »Tja, warum beginnen wir den Tag nicht so, wie wir ihn oft beenden?«, meinte er deshalb. »Ich dachte, das hätten wir gerade getan. Schließlich warst du es, der eben auf mir gelegen hat, oder etwa nicht?« »Wenn ich mich recht entsinne, ja. Aber ich meinte nicht mit Sex, Lieutenant, obwohl das eine wunderbare Art ist, alles Mögliche zu beenden oder zu beginnen. Erzähl mir von dem Fall.« Während sie duschten, sich anzogen und sich in ihr Büro begaben, klärte sie ihn über den Stand der Dinge auf. Sie betraten das Büro, und als sein Handy klingelte, sah er kurz auf das Display und steckte es dann einfach wieder ein. »Willst du sie jetzt einfach ignorieren?«, fragte Eve. »Erst mal ja. Dann hast du also die Theorie, dass Straffo Foster ermordet hat, weil der etwas von dem Verhältnis wusste«, meinte er. »Ich würde es nicht als Theorie bezeichnen. Es wäre nur eine Möglichkeit. Genauso möglich wäre es, dass Straffos Frau die Taten aus demselben Grund begangen hat. Oder dass es Mosebly war, weil Foster auch von ihrer Affäre etwas mitbekommen hat.« »Dafür, dass es eine Schule ist, scheint es eine regelrechte Brutstätte illegitimer Verhältnisse zu sein.« »Es ist immer noch nicht ausgeschlossen, dass Williams Foster getötet hat, um seine Karriere und seinen Ruf zu wahren. Und dass entweder einer der beiden Straffos oder Mosebly die Sache durch den Mord an Williams abgerundet hat. Ich wollte gestern
Abend noch die Wahrscheinlichkeit dieser verschiedenen Möglichkeiten ausrechnen, bevor du mir dazwischenkamst.« »Und ich soll für dich überprüfen, ob Straffo die Schule an den Tagen der beiden Morde unbemerkt hätte betreten und verlassen können.« »Falls der Pfeil in seine Richtung weist, wäre es mir eine Hilfe, wenn ich ihn in der Tasche hätte.« »Köcher«, stellte Roarke geistesabwesend fest. »Man bewahrt Pfeile in einem Köcher auf. Ich werde die Secu- rity der Schule überprüfen, nur hat der Täter meiner Meinung nach durch die Reihenfolge dieser beiden Morde das Pferd von hinten aufgezäumt. Weil schließlich bei den drei von dir genannten Möglichkeiten Williams die größere Bedrohung für die Leute war.« »Das weiß ich, aber ich habe bisher keinen Beweis und noch nicht mal ein Indiz dafür, dass Williams irgendwem damit gedroht hat, die Verhältnisse auffliegen zu lassen, bis er am Morgen seines Todes mit Mosebly gesprochen hat. Es wäre also durchaus vorstellbar, dass Foster den Stein ins Rollen gebracht hat. Und dann hat Williams gesagt: >Zur Hölle mit dem Kerb und hat ihn umgebracht. Oder ...« »Einer der beiden Straffos oder diese Mosebly ist in Panik ausgebrochen und hat ihn um die Ecke gebracht.« Roarke dachte kurz darüber nach. »Zu viele Indianer und zu wenige Häuptlinge.« »Wie bitte?« »Es gibt jede Menge Verdächtige, aber keiner von ihnen hätte einen echten Grund gehabt.« »Ja. Das ist im Moment mein Hauptproblem. Foster. Ich finde einfach kein starkes, eindeutiges Motiv. Nicht wirklich. Deshalb gehe ich die schwammigen Motive durch. Er war eine grundehrliche Haut, aber er war niemand, der anderen Ärger machen wollte. Ich habe einen Zeugen, der die beiden am Morgen von Fosters Tot im Lehrerzimmer gesehen hat. Meiner
Meinung nach hätte sich Foster nicht noch nett mit Williams unterhalten, wenn es zwischen ihnen beiden richtig Ärger gegeben hätte, aber genau das hat er getan.« »Du hast gesagt, Foster hätte Williams bei Mosebly gemeldet, weil er diese Laina Sanchez belästigt hat«, rief Roarke ihr in Erinnerung. »Ja, aber das war ein Klaps auf die Hand, mehr nicht. Foster hatte ihm bereits vor Längerem gesagt, dass er die Finger von der Köchin lassen soll. Und das hat er getan. Damit war das Problem gelöst. Ich weiß, dass Foster Mosebly und Williams bei ihren neckischen Spielchen im Schwimmbecken gesehen hat, und er hat seiner Frau erzählt, er hätte Williams mit jemandem gesehen, mit dem er nicht hätte zusammen sein sollen. Aber er hat nicht erzählt, mit wem Williams zusammen war, und hat auch nicht davon gesprochen, dass er deshalb irgendwen zur Rede stellen will.« Roarke trat vor die Tafel mit den Fotos und sah sich die Aufnahme von Mosebly an. »Eine beeindruckende Frau. Eine Autoritätsperson. Wohingegen die Köchin nur eine kleine Angestellte ist. Williams' Avancen haben sie aus dem Gleichgewicht gebracht, Mosebly aber offensichtlich nicht.« »Ja, denn die Behauptung, dass der Kerl sie vergewaltigt hat, ist totaler Quatsch. Weshalb also hätte sie Foster umbringen sollen, wenn er sowieso beschlossen hatte, sich nicht in Dinge einzumischen, die ihn seiner Meinung nach nichts angehen? Weshalb hätte sie riskieren sollen, dass die Schule durch einen derartigen Skandal erschüttert wird?« Eve schüttelte den Kopf. Es passte einfach nicht, haute ganz einfach nicht hin. »Also bin ich wieder bei Rache oder Selbstschutz oder einfach Wut. Was mir alles nicht wirklich gefällt.« »Dann mach dir ein klareres Bild. Schließlich warst du in den letzten Tagen etwas aus dem Gleichgewicht.«
»Das ist noch milde ausgedrückt. Wir werden ja sehen, ob die Durchsuchung von Straffos Penthouse irgendwas ergibt.«
16 Es lag nicht nur daran, dass sie aus dem Gleichgewicht gewesen war, erkannte Eve, während sie auf ihre Partnerin und den elektronischen Ermittler wartete. Der Fall selbst war nicht solide auf den Punkt zu bringen, es gab nichts, worauf sich das Hauptaugenmerk richten ließ. Weil das mögliche Motiv noch immer schwammig war. Die Wahrscheinlichkeitsberechnungen ihres Computers brachten keinen konkreten Hauptverdächtigen hervor, siedelten jedoch Allika Straffo aufgrund ihres Profils ganz unten auf der Liste an. Trotzdem stimmte irgendetwas nicht mit ihr, und es hatte nicht nur was damit zu tun, dass sie auf dem Pfad der ehelichen Tugend einmal kurz gestolpert war. Was wusste sie? Was dachte sie? Was machte sie so verletzlich und nervös? Hatte vielleicht der Tod von einem ihrer Kinder sie derart in ihren Grundfesten erschüttert? Eve konnte es nicht sagen, denn sie hatte selbst noch nie ein Kind gehabt. Anscheinend hatte Oliver gelernt, mit dem Verlust zu leben. Was vielleicht für eine Mutter nicht so einfach war. Dabei hatte sie noch eine Tochter, die gesund und munter war. Aber das reichte Allika offenbar nicht aus. Das aufgeweckte Kind, der beruflich erfolgreiche und angesehene Mann, das Penthouse, das Au-pair - all das reichte offenbar nicht aus. Und Williams war zur Stelle gewesen, um sie aufzufangen, als sie deshalb abgeglitten war. Aber vielleicht war sie auch schon vorher einmal ausgerutscht. »Vielleicht«, murmelte Eve. »Und ... was würde das bedeuten?« Sie wandte ihren Kopf und sah, dass Roarke in der Verbindungstür zwischen ihren Arbeitszimmern stand. »Was
würde es bedeuten«, wiederholte sie, »wenn Allika nicht zum ersten Mal fremdgegangen wäre? Würde ein so scharfsinniger Mann wie Straffo so etwas nicht merken?« »Täglich gehen Menschen fremd, und nicht alle Ehemänner oder -frauen, egal, wie scharfsinnig sie sind, bekommen etwas davon mit. Oder geben zu, dass sie etwas davon mitbekommen. Oder«, fügte Roarke als dritte Möglichkeit hinzu, »stören sich daran, wenn sie wissen, dass ihr Partner oder ihre Partnerin sie mit jemand anderem betrügt.« »Er ist ein stolzer Mann, der sich sehr für die Familie engagiert. Es würde ihn auf alle Fälle stören, wenn er wüsste, dass Allika ihn betrügt. Aber würde er deshalb einen unschuldigen Zeugen umbringen? Und dann noch an einem Ort, an dem seine eigene Tochter von der Tat betroffen ist?« Eve schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das täte«, fuhr sie fort. »Aber wenn er wusste, dass ihn seine Frau mit Williams betrogen hat, weshalb hätte er sich dann bereit erklären sollen, den Mann zu verteidigen? Und weshalb sollte er es sich dann plötzlich anders überlegen und den Kerl ermorden, den er eben noch vertreten hat?« »Vielleicht, damit sich die Ermittlungsleiterin genau diese Fragen stellt.« »Hm. Das könnte durchaus sein.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und dachte kurz darüber nach. »Vor Gericht ist er aalglatt. Er hat immer alles genauestens durchdacht und weiß immer ganz genau, wie er es drehen muss, damit... warte. Warte. Was ist, wenn er Williams nur vertreten hat, um dafür zu sorgen, dass der Kerl verurteilt wird? Dazu hätte er den Ball noch nicht mal fallen lassen müssen, sondern nur dafür zu sorgen brauchen, dass er nicht im Tor landet.« »Du meinst, dass er das Mandat vielleicht nur übernommen hat, damit der Kerl schuldig gesprochen wird. Clever und unmöglich zu beweisen.«
»Wie gesagt, er ist aalglatt. Er hat versucht, den Haftbefehl umgehend aufheben und die Beweismittel für unzulässig erklären zu lassen. Dabei muss ihm bewusst gewesen sein, dass er gegen Reo keine Chance hat. Er hat also von Anfang an nicht gerade Bestleistungen erbracht.« Roarke griff nach ihrem Kaffeebecher und genehmigte sich einen Schluck. »Eine ausnehmend hübsche Form der Rache«, stellte er beinahe anerkennend fest. »Weshalb also hätte er den Kerl ermorden sollen, statt weiter aktiv dazu beizutragen, dass er hinter Gitter kommt?« Roarke stellte ihren Becher wieder fort und klopfte mit dem Zeigefinger gegen das Grübchen in der Mitte ihres Kinns. »Du drehst dich im Kreis, Lieutenant.« »Ja, ich drehe mich im Kreis, weil das noch nicht alles ist. Weil noch mehr dahintersteckt.« Sie stand entschlossen auf. »Ich brauche meine Tafel.« »Du hast sie sicher noch nicht auf den neusten Stand gebracht.« Er baute sich vor ihr auf und zog sie an seine Brust. »Weil dich das alles Zeit gekostet hat.« Froh, dass sie sich an ihn schmiegte, küsste er sie zärtlich auf die Stirn. »Weil dich das, was sich zwischen uns gedrängt hat, wertvolle Zeit gekostet hat.« »Die hole ich jetzt einfach nach.« Sie beide würden sie jetzt nachholen, verbesserte sie sich. Denn schließlich waren sie ein Team. Sie schlang ihm die Arme um die Taille und sah in sein lächelndes Gesicht. »Was hältst du von der Security in der Akademie?« »Ein ziemlich einfaches System. Du hattest recht. Man kann relativ problemlos durchschlüpfen.« Arm in Arm wandten sie sich ihrer Tafel zu. »Eine Waffe reinzuschmuggeln, wäre etwas schwieriger, aber nicht unmöglich, und ein Mensch alleine würde beim Betreten des Gebäudes kaum Aufsehen erregen, wenn er wüsste, wie er sich verhalten muss.« »Das ist schon mal etwas.«
»Ich werde mir die Disketten aus den Kameras ansehen, um zu gucken, ob jemand sie für ein, zwei Sekunden ausgeschaltet hat.« »Das kann auch McNab machen. Du hast schließlich selber alle Hände voll zu tun.« »Ich bin dir etwas schuldig.« »Oh.« Peabody trat durch die Tür. »Tut mir leid. Hi. Schön, Sie beide zu sehen«, stellte sie mit einem breiten Grinsen fest. »Lassen Sie den Mantel an, wir fahren nämlich sofort los. Bis später«, sagte Eve zu Roarke, bevor plötzlich sein Mund auf ihren Lippen lag. »Oh«, wiederholte ihre Partnerin. »Bis später, Lieutenant. Guten Morgen, Peabody. McNab.« »Hi! Wie geht's?« »Sprich nicht mit ihnen«, wies Eve ihren Gatten rüde an. »Sonst erbetteln sie nur wieder irgendwelche Teilchen oder so. Sie beide kommen mit. Und hören Sie auf zu grinsen«, wies sie die Kollegen an und marschierte aus dem Raum. »Was, wenn Sie eine Lähmung kriegen und den ganzen Tag so gucken? Ein schrecklicher Gedanke«, fügte sie hinzu. »Wir sind einfach gut gelaunt. Weil bei Ihnen offenkundig wieder Friede, Freude, Eierkuchen herrscht.« »Weitergehen«, sagte sie zu McNab, auch wenn sie selbst ihr Tempo etwas verlangsamte. »Lassen Sie uns das Thema damit abschließen, dass ich Ihnen für Ihr Vertrauen und Ihre Unterstützung danke.« »Dafür sind Freunde und Partner schließlich da.« »Ja, trotzdem danke.« Als sie an den Fuß der Treppe kamen, blieb Eve stehen. »Sie beide gehen schon mal vor. Ich komme sofort nach.« Sie nahm ihren Mantel vom Treppenpfosten, zog ihn an und wandte sich an Summerset, der lautlos im Foyer erschienen war. »Er ist wieder okay. Wir sind wieder okay. Sie wird kein Problem mehr für ihn sein.« »Und für Sie auch nicht?« »Für mich auch nicht.«
»Das höre ich sehr gern.« »Ich weiß. Das ist sehr nett.« »In Erwartung Ihrer Abfahrt habe ich das schreckliche Vehikel, das Sie noch zu Schrott fahren müssen, vor das Haus gebracht. Ich hoffe, dass es die Einfahrt nicht mehr lange verschandeln wird.« »Leck mich doch am Arsch, du elendige Vogelscheuche.« Er sah sie lächelnd an. »Es ist wirklich wieder alles normal.« Sie lachte schnaubend auf und marschierte aus dem Haus. Straffo machte ihnen persönlich auf. Er hatte keinen Kollegen als Rechtsbeistand herbeizitiert. Anscheinend ließ es sein Stolz nicht zu, dass er seine juristischen Angelegenheiten von jemand anderem klären ließ. Es überraschte Eve ein wenig, dass er seine Frau, das Kind und das Au-pair nicht fortgeschickt hatte. Doch auch das verbot ihm offenbar sein Stolz. Er wollte ihnen zeigen, dass er diesem lächerlichen Treiben umgehend ein Ende machen würde, dass er immer noch der Haushaltsvorstand war. Mit ausdrucksloser Miene las er den Durchsuchungsbefehl für das Penthouse durch. Trotzdem wusste Eve, dass es hinter der gelassenen Fassade brodelte, dass er stinksauer war. »In Ordnung«, meinte er und sah sie an. »Ich erwarte, dass Sie und Ihre Leute möglichst respektvoll und vorsichtig mit allen Sachen umgehen. Ich werde Sie nämlich für sämtliche Schäden haftbar machen.« »Okay. Der Rekorder ist eingeschaltet und wird es während der gesamten Durchsuchung Ihrer Wohnung bleiben. Detective McNab wird sich die elektronischen Geräte ansehen. Falls wir irgendwelche Gegenstände konfiszieren müssen, stellen wir Ihnen dafür eine Quittung aus. Möchten Sie während der Durchsuchung in der Wohnung bleiben?« »Selbstverständlich.«
»Das ist gut.« Sie nickte erst McNab und dann Baxter und Trueheart zu. »Baxter, Sie und Trueheart nehmen sich die untere Etage vor. Peabody, Sie kommen mit mir.« Auf dem Weg zur Treppe kamen sie an Straffos Frau vorbei. Sie hielt ihre Tochter an der Hand. »Entschuldigung, Lieutenant?« Eve blieb stehen und sah das Mädchen an. »Ja?« »Werden Sie mein Zimmer wirklich durchsuchen?« »Wir werden uns in allen Zimmern umsehen, auch in dem von dir.« »Wow. Könnte ich vielleicht...« »Rayleen«, herrschte Straffo seine Tochter an. »Lass die Leute ihre Arbeit machen, ja?« Rayleen blickte zu Boden und flüsterte: »Ja«, wirkte aber weniger zerknirscht als vielmehr aufgeregt. Eve fing in der obersten Etage an, in der es so etwas wie ein Familienzimmer mit zwei langen, bequemen Sofas, gemütlichen, extra breiten Sesseln und einem überdimensionalen Fernseher gab. Auf dem breiten, weißen Sims eines Kamins waren ein paar Kupferurnen sowie eine Reihe von Familienfotos in passenden kupfernen Rahmen aufgestellt. Die Familie am Strand, Rayleen in ihrer Schuluniform, Rayleen in einem pinkfarbenen Tutu, die Eltern in Abendgarderobe, glücklich und elegant. Neben diesem Zimmer lag ein Fitnessraum. Gut eingerichtet, merkte Eve, und mit einer langen Fensterreihe, die den Sporttreibenden einen wunderbaren Blick über die City bot. Außerdem gab es noch eine kleine, zweite Küche mit einem Minikühlschrank, einem kleinen AutoChef sowie einem kurzen Tresen, an dem man auf zwei Hockern sitzen konnte, und ein elegantes Bad, in dem es neben einer Dusche einen kleinen Whirlpool gab. Ein Arbeitszimmer gab es nicht.
Eve machte die Schubladen und Schranktüren auf, schüttelte die Sofakissen aus und nahm sogar die Bilder von den Wänden, um zu sehen, ob es irgendwo einen versteckten Safe oder einen Hohlraum gab. »Scheint alles sauber zu sein«, sagte sie zu ihrer Partnerin. »Um die Elektronik kümmert sich McNab.« »Der Rückzugsort der Familie.« Peabody sah sich noch einmal um. »Diesen Raum scheinen sie öfter zu benutzen als das Wohnzimmer unten. Hier sehen sie fern oder sitzen an dem Tisch neben dem Fenster und spielen irgendwelche Spiele. Unten das Wohnzimmer ist wahrscheinlich eher für Besuch gedacht. Das hier ist der Raum, in dem die Familie zusammenkommt.« »Das denke ich auch.« Eve blickte noch einmal in Richtung des Kamins und sah sich die Fotos an. »Gehen wir eine Etage tiefer, ja?« Unten angekommen teilten sie sich auf. Peabody bekam Olivers Arbeitszimmer zugewiesen, während Eve Allikas Zimmer übernahm. Wieder sah sie sich als Erstes die auf dem Kaminsims aufgereihten Fotos der Familie an und wandte sich erst dann den anderen Dingen zu. Das gesamte Zimmer hatte eine feminine Note. Zeitschriften und Disketten über Mode, Inneneinrichtung und Kindererziehung, Memowürfel, die daran erinnerten, sich für Einladungen oder Geschenke zu bedanken oder Einladungen zum Essen oder zu einer Cocktailparty auszusprechen, Gastgeschenke oder Geburtstagsgeschenke zu kaufen - lauter Dinge, wie sie Ehefrauen erfolg- und einflussreicher Männer taten, dachte Eve. Dinge, die sie selbst immer vergaß. Aber wer tat sie dann für Roarke? Machte er das vielleicht selbst, oder bat er Caro oder Summerset darum? Außerdem führte Allika drei verschiedene Terminkalender für sich selbst, für ihren Mann und für ihr Kind.
Straffos Golftermine, Essensverabredungen - wobei sie sorgfältig notierte, ob sie ihn begleiten würde oder nicht -, Arztund Friseurbesuche, Anproben bei seinem Schneider, berufliche Termine außerhalb der Stadt. Für März, wenn die Tochter Frühjahrsferien hatte, war ein Kurzurlaub mit der Familie geplant. Dann ging Eve Allikas eigenen Kalender durch. Verabredungen zu Einkaufsbummeln oder zum Mittagessen mit irgendwelchen Freundinnen, Termine im Schönheitssalon oder beim Friseur, Abendessen mit dem Ehemann, einige mit Mandanten oder Freunden, andere mit ihm allein. Zu den Zeitpunkten der Morde hatte keiner von den beiden irgendeinen Termin gehabt. Rayleens Terminkalender war ein echter Schock für Eve. Sie ging zweimal in der Woche zum Ballett und hatte dreimal in der Woche mit verschiedenen Kindern Sozialisierungs-Dates. Was das auch immer war, hatte sie allwöchentlich ein solches einstündiges Date auch mit ihrer Klassenkameradin Melodie. Wechselweise hier oder bei den Branchs. Einmal in der Woche spielte Rayleen Fußball, jeden Samstagvormittag ging sie zu den sogenannten Hirn-Joggern sowie zweimal in der Woche zu einer Organisation mit Namen Von den Kids. Neben diesen regelmäßigen Terminen gab es Einladungen zu Geburtstagspartys, Schulausflüge, Schulprojekte, Treffen der Theater-AG, Arzt-, Museums- und Bibliotheksbesuche, Kunstprojekte, Ausflüge mit der Familie. Wie es aussah, hatte dieses Kind mehr als die Erwachsenen zu tun. Kein Wunder, dass die Straffos ein Au-pair benötigten. Denn obwohl Allika keinen anderen Beruf ausübte, hatte sie den Titel der professionellen Mutter nur von Rayleens Geburt bis zum Tod des Sohns geführt.
Eve steckte die Terminkalender ein. Sie wollte sie sich noch genauer ansehen und all die Namen, Gruppen und Orte überprüfen, auf die sie darin gestoßen war. Dann sah sie sich den kleinen Schreibtisch an. Das mit einem Monogramm versehene Briefpapier wies darauf hin, dass Allika einen Teil der Einladungen und der Dankschreiben handschriftlich verfasste. Huh. Außerdem gab es noch eine Sammlung nach Anlass sortierter Karten zu Geburtstagen humorvoll, blumig, förmlich, kindlich - und Todesfällen, für allgemeine Glückwünsche und so weiter. Leere Disketten, Memowürfel, ein Adressbuch sowie ein paar Zeitschriftenausschnitte zum Thema Innendekoration. Auch auf Lissette Fosters Schreibtisch hatten solche Ausschnitte gelegen, erinnerte sich Eve. Hatten sich die Wege beider Frauen dieses gemeinsamen Interesses wegen vielleicht irgendwann einmal gekreuzt? Sie machte sich eine Notiz, der Sache nachzugehen, obwohl sie ernste Zweifel daran hatte, dass Craig Fosters Witwe Vorhänge und anderen Schnickschnack in denselben Läden wie Allika kaufen ging. Die Post, die Allika aufgehoben hatte, bestand aus hübschen Karten oder E-Mails irgendwelcher Freundinnen oder von ihrem Kind. Es gab Geburtstagskarten und Genesungswünsche von Rayleen, alle waren selbst gemacht. So stilvoll und gekönnt hätte Eve so etwas niemals hinbekommen, musste sie sich eingestehen. Auf hübschem Papier und in schönen Farben, teils am Computer angefertigt und teils handgemalt. SEI NICHT TRAURIG, MAMI! bat eine der Karten in großen, sorgfältig gemalten Druckbuchstaben auf schwerem, pinkfarbenem Papier. Dazu gab es die
Zeichnung eines Frauengesichts, auf dessen Wangen Tränen schimmerten. Im Inneren der Karte lächelte die Frau. Sie schmiegte ihr Gesicht an das von einem kleinen Mädchen, über ihren Köpfen schimmerte ein bunter Regenbogen, am Rand des Blatts leuchteten Blumen und unter dem Bild stand: ICH WERDE IMMER DA SEIN, UM DICH ZUM LÄCHELN ZU BRINGEN! ICH LIEBE DICH, DEINE RAYLEEN. 10. Januar 2.057 stand in Allikas Handschrift auf der Rückseite des Blatts. Im Schrank entdeckte Eve ein paar Malsachen, einen Malerkittel sowie durchsichtige Kästen mit Glasmurmeln, Steinen, Perlen, Bändern, Seidenblumen. Hobbyartikel, nahm sie an, genauso ordentlich verwahrt wie alles andere in dem Raum. Im obersten Regal, hinter den Kästen mit den Bastelsachen, stand eine mit herrlichem Stoff verzierte Schachtel mit einem juwelenbesetzten Verschluss. Sie nahm sie herunter, klappte den Deckel auf. Hier fand sie den toten Sohn. Hier waren die Fotos von dem Säugling und dem kleinen Kind. Von einer strahlenden, schwangeren Allika, einer Frau, die mit verträumtem Blick einen in eine blaue Decke eingehüllten Neugeborenen in den Armen hielt. Von dem Baby mit der großen Schwester, dem Vater und so weiter und so fort. Außerdem fand Eve ein Stück der blauen Decke, eine Strähne flaumig weichen Haars, einen kleinen Stoffhund sowie einen einzelnen kleinen Plastikstein. Mavis und Leonardo hatten ihr und Roarke zu Weihnachten eine Erinnerungsschachtel geschenkt. Offenbar bewahrte auch Allika die Erinnerung an ihren Sohn in einer Schachtel auf.
Wie oft nahm sie sie wohl heraus, fragte sich Eve. Wie oft sah sie sich all die Fotos an, rieb den blauen Stoff zwischen ihren Fingern oder hielt die Strähne vorsichtig an ihr Gesicht? Sie bewahrte diese Schachtel hoch oben in einem Regal hinter einer Reihe anderer Kästen auf. Sonst war in der Wohnung auch nirgendwo ein Bild des toten Sohns zu sehen. Warum? Eve nahm all die Einzelteile nacheinander in die Hand, legte sie dann wieder in die Box und stellte sie an ihren Platz zurück. Als sie mit dem Zimmer fertig war, ging sie in das Arbeitszimmer gegenüber, in dem Peabody gerade die letzten Gegenstände unter die Lupe nahm. »Ich bin sofort fertig. McNab ist schon mal ins Schlafzimmer gegangen, damit er mir hier nicht in die Quere kommt. Er hat bereits jede Menge Disketten und Akten eingepackt, wobei uns bisher nichts Besonderes aufgefallen ist.« »Haben Sie irgendwo ein Zeichen von dem toten Sohn entdeckt?« »Von wem? Oh, oh, richtig. Den hatte ich vollkommen vergessen. Nein, hier ist nichts von ihrem Sohn.« Peabody brach ab und runzelte die Stirn. »Nichts«, wiederholte sie. »Was ziemlich seltsam ist.« »Eins noch. In Allikas Wohnzimmer liegen ein paar Ausschnitte aus Zeitschriften über Innendekoration. Lissette hatte auch so was an ihrem Arbeitsplatz.« »Ja. Dann kennen sich die beiden also vielleicht doch?« Wieder legte Peabody die Stirn in Falten, stellte dann aber schulterzuckend fest: »Ausgeschlossen ist das nicht. Aber ich habe selber solche Zeitschriften zu Hause und gucke mir auch manchmal Seiten zu dem Thema auf dem Computer an. Machen Sie das ... Vergessen Sie, dass ich beinahe gefragt hätte«, bat sie, als sie Eves entsetzte Miene sah.
»Wir sollten der Sache nachgehen. Sollten Lissette ein Foto von Allika zeigen und sie fragen, ob sie ihr schon einmal irgendwo begegnet ist.« »Okay. Soll ich sie sofort anrufen?« »Ja, lassen Sie uns die Sache gleich abhaken, und dann sehen wir uns das Schlafzimmer zusammen an.« Damit ging sie hinüber zu McNab. »Haben Sie schon irgendwas gefunden?«, fragte sie. »Wirkt alles vollkommen normal. Jede Menge Anrufe und Mails, aber nichts, was mir besonders aufgefallen wäre. Auf den Computern unten findet sich vor allem persönlicher Kram Bankdaten, Einkaufslisten, Termine und so. Auf der Kiste von dem Kindermädchen sieht's genauso aus. Sie chattet ein paarmal in der Woche mit ihrer Familie und Freunden zu Hause in Irland, und sie tauschen auch regelmäßig E-Mails aus. Lauter harmloses Zeug, auch ein paar Anekdoten von den Straffos und dem Kind, aber nichts, was einen zusammenzucken lässt.« »Suchen Sie weiter.« Ein Blick in die Schränke reichte, um zu sehen, dass den Straffos viel an klassischer Garderobe aus guten Stoffen lag. Die Schränke waren groß, aufgeräumt und übervoll. Die Schuhe waren dem Typ und Farbton nach in durchsichtigen Plastikkästen angeordnet, und die Kleider waren offenbar nach Farben und nach Anlässen sortiert. Freizeit, Arbeit, Cocktail, förmlich-elegant. An den förmlicheren Outfits waren kleine Schilder festgemacht, auf denen das jeweilige Stück beschrieben und vor allem festgehalten wurde, wann und zu welchen Anlässen es getragen worden war. In den Nachttischschubladen fand Eve neben ein paar Memowürfeln und zwei kleinen Taschenlampen nur noch elektronischen Lesestoff. Falls die Straffos Sexspielzeuge mochten, hatten sie sie rechtzeitig vor der Durchsuchung aus dem Haus geschafft.
Allerdings besaß Allika ein paar höchst aufreizende Dessous sowie eine große Auswahl an Massageölen und duftenden Körpercremes, und da in ihrem Kalender ein Termin zur halbjährlichen Auffrischung ihres Verhütungsmittels stand, hatten sie und Straffo offenbar noch immer regelmäßig Sex. Allerdings bewahrte sie in der Schublade mit ihrer Unterwäsche jeweils eine Packung Schlaftabletten, Antidepressiva und Beruhigungsmittel auf. Eve nahm aus jeder Packung eine Probe und tütete sie ein. »Lissette hat weder Allikas Namen noch ihr Bild erkannt«, meldete ihre Partnerin. »Das überrascht mich nicht.« »Nein. Dallas, ich weiß, wir sollen diese Dinge nicht an uns heranlassen, aber diese Frau, Lissette, bricht mir regelrecht das Herz. Sie hat mich gefragt, ob wir irgendetwas rausgefunden haben, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt. Ich habe sie mit unserer Standardantwort abgespeist, und sie hat sie geschluckt.« Das Mitgefühl und all die anderen Emotionen, die man während der Ermittlungen verdrängen sollte, waren ihr bei diesen Worten deutlich anzuhören und anzusehen. »Sie hat sich daran geklammert, als wäre sie das Einzige, was ihren Kopf im Augenblick noch über Wasser hält.« »Dann sollten wir sehen, dass wir die Antworten finden, die sie braucht.« Eve ließ Peabody im Schlafzimmer zurück und ging in die untere Etage, wo Oliver Straffo vor dem Sofa auf und ab marschierte und über ein Headset mit jemandem sprach, während Allika tat, als wäre sie in die Lektüre eines Magazins vertieft. Sobald Straffo jedoch Eve entdeckte, beendete er sein Gespräch. »Fertig?« »Nein. Sie haben eine ziemlich große Wohnung. Deshalb dauert es, bis man sich alles angesehen hat. Im Schrank in Ihrem
Schlafzimmer befindet sich ein Safe. Jemand muss ihn mir bitte aufmachen.« Er presste zornig die Lippen aufeinander, aber als sich seine Frau erheben wollte, winkte er sie zurück an ihren Platz. »Ich werde mich darum kümmern«, sagte er zu ihr und wandte sich erneut an Eve. »Müssen Sie noch einmal in die oberste Etage?« »Nein.« »Allika, warum schickst du nicht Cora und Rayleen in das obere Wohnzimmer, wenn sie zurückkommen?« »Okay.« Er blieb noch einmal stehen und seine Miene wurde weich, als er ihr kurz über die Schulter strich. Okay, er liebt sie, dachte Eve. Aber was hieß das für ihren Fall? Erst als sie weit genug entfernt waren, damit ihn seine Frau nicht mehr verstand, wandte sich Straffo abermals an Eve. »Ich frage mich, wie Sie sich fühlen würden, wenn Ihr Zuhause derart auf den Kopf gestellt und Ihre persönlichen Dinge derart durchwühlt würden.« »Wir versuchen, möglichst nicht zu wühlen. Aber wir haben zwei Tote, Straffo, die Sie beide gekannt und von denen Sie einen sogar vertreten haben.« Ein wenig sarkastisch fügte sie hinzu: »Eine ziemlich unangenehme Art, einen Mandanten zu verlieren, finden Sie nicht auch?« »Eine idiotische Art, sich eines Mandanten zu entledigen«, gab er zurück. »Und ja, ich habe sie beide flüchtig gekannt. Vielleicht haben Sie ja die Theorie, dass ich mit Rayleens Ausbildung an der Akademie so unzufrieden bin, dass ich jetzt ihre Lehrer einen nach dem anderen kaltmache.« »Vielleicht frage ich mich einfach, weshalb Sie einen Widerling wie Williams als Mandanten angenommen haben. Wenn ich das wüsste, hätten wir Ihnen die Durchsuchung Ihres Penthouses vielleicht erspart.«
»Ich bin Strafverteidiger.« Sein Ton war genauso ausdruckslos und kühl wie der von Eve. »Meine Mandanten sind nicht immer die hellsten Sterne der Stadt.« »Davon bin ich überzeugt. Aber Sie machen natürlich nur Ihre Arbeit, weiter nichts.« »Ja, genau, ich mache nur meine Arbeit, weiter nichts. Aber das tun Sie schließlich auch.« Er betrat das Schlafzimmer und marschierte an Peabody vorbei schnurstracks in Richtung Schrank. »Den Safe in meinem Arbeitszimmer habe ich bereits für Ihren Kollegen aufgemacht. « Er drehte an dem Zahlenschloss und wies sich zusätzlich mit seinem Daumenabdruck aus. »Danke.« In dem Safe lag ihrer beider Schmuck. Glitzernde Steine, schimmernde Perlen, teure Armbanduhren, einige davon antik. Während er daneben stand, ging Eve die Sachen durch und suchte den Safe nach einem möglichen doppelten Boden oder einem Geheimfach ab. Als sie nichts entdeckte, trat sie einen Schritt zurück. »Sie können ihn wieder abschließen.« Was er umgehend tat. »Wie lange werden Sie noch brauchen?« »Vielleicht ein, zwei Stunden«, antwortete Eve. »Aber erst mal habe ich noch eine Frage. In der Wohnung stehen jede Menge Fotos Ihrer Familie herum. Aber nirgends steht ein Bild von Ihrem Sohn. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?« Während eines flüchtigen Moments flackerte etwas in seinen Augen auf, dann aber wurde seine Miene wieder völlig ausdruckslos. »Das ist eine schmerzliche und vor allem private Angelegenheit.« Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Eve sah ihm hinterher, dabei gingen ihr zahlreiche Fragen durch den Kopf. »Schicken Sie Baxter und Trueheart ins
Gästezimmer rüber, Peabody, und sehen Sie sich selbst die Badezimmer an. Ich übernehme das Zimmer von Rayleen.« Eve fand es interessant, dass Rayleen bei der Unzahl ihrer Termine überhaupt noch Zeit zum Nutzen des aufwändig eingerichteten Zimmers fand. Die halb fertig gemalten Bilder, die Disketten für die Hausaufgaben in dem pinkfarbenen, mit ihrem Monogramm versehenen Kasten aber machten deutlich, dass es ihr gelang. Ein Tischkalender aus Papier, auf dem zwei zuckersüße Welpen abgebildet waren, wies das korrekte Datum auf. Außerdem hing eine Reihe Fotos an der Wand. Eins, auf dem Rayleen und ihre Klassenkameradinnen und -kameraden der Größe nach in ihren adretten Uniformen nebeneinanderstanden, ein Schnappschuss aus dem Urlaub, auf dem sie wunderbar gebräunt und windzerzaust zwischen ihren ebenfalls gebräunten, windzerzausten Eltern stand, ein Bild von ihr allein in der Uniform der Schule und ein anderes von ihr in einem pinkfarbenen Rüschenkleid. Auf dem Fensterbrett waren ein paar Grünpflanzen in pinkfarbenen und weißen Übertöpfen aufgereiht. Offenbar konnte Rayleen - oder ihre Mutter - von diesen beiden Farben einfach nicht genug bekommen. Eve tippte auf das Mädchen selbst. Die Kleine hatte mehr Garderobe, als Eve während all der Jahre ihrer eigenen Kindheit insgesamt besessen hatte, doch ihr Schrank war geradezu erschreckend aufgeräumt. Ballett- und Fußballsachen, drei identische Uniformen für die Schule, Sonntagskleider, Freizeitkleider, Garderobe zum Spielen - wobei unter den jeweiligen Sachen immer das passende Schuhwerk angeordnet war. Unzählige Bänder, Klipse, Haargummis und Nadeln waren ordentlich in einer extra dafür vorgesehenen Schublade verstaut. Zwar gab es keine Schildchen mit dem Hinweis, wo sie welches Kleidungsstück getragen hatte, aber jede Menge Sachen - Hefte,
Taschen, Sticker, Stifte, Farbkästen - wiesen ihren Namen auf, und das große Kissen auf dem Bett, der flauschig weiche, pinkfarbene Morgenmantel und die farblich passenden Pantoffeln waren mit den Worten PRINZESSIN RAYLEEN bestickt. Sie hatte ihren eigenen Kalender, in dem sämtliche Termine festgehalten waren, und ihr eigenes Adressbuch, in dem Eve die Namen ihrer Schulfreundinnen, einiger Verwandter und verschiedene Telefon- und Handynummern ihres Vaters fand. Eve tütete beides ein. »Dürfen Sie diese Sachen mitnehmen?« Eve hatte bereits gewusst, dass Rayleen hereingekommen war, drehte sich aber jetzt erst zu ihr um. »Solltest du nicht woanders sein?« »Ja.« Die Kleine sah sie mit einem charmanten, verschwörerischen Lächeln an. »Bitte verraten Sie mich nicht. Ich wollte Ihnen nur ein bisschen bei der Arbeit zusehen. Vielleicht gehe ich eines Tages auch einmal zur Polizei.« »Ach ja?« »Daddy denkt, ich wäre eine gute Anwältin, und Mami hofft, dass ich einmal etwas mit Kunst oder mit Tanz mache. Ich tanze wirklich gern. Aber noch lieber gehe ich irgendwelchen Dingen auf den Grund. Ich glaube, deshalb werde ich vielleicht einmal Kriminaltechnik studieren. Ich weiß, dass das so heißt, denn ich habe extra nachgesehen. Kriminaltechniker studieren die Beweismittel. Sie sammeln die Beweise, aber dann studieren andere Leute sie. Ist das richtig?« »Mehr oder weniger.« »Ich finde, dass jeder Beweise sammeln kann, aber es ist noch viel wichtiger, sie zu studieren und zu analysieren. Nur verstehe ich nicht, weshalb mein Adressbuch und andere Sachen von mir Beweise sind.« »Deshalb bin ich die Polizistin und nicht du.«
Rayleen verzog beleidigt das Gesicht. »Es ist nicht besonders nett, so etwas zu sagen.« »Ich bin auch nicht besonders nett. Ich nehme diese Dinge mit, weil ich sie mir ansehen muss, wenn ich mehr Zeit habe. Dein Vater bekommt eine Quittung für alles, was die Wohnung verlässt.« »Ist mir egal. Ist schließlich nur ein blödes Buch«, stellte Rayleen schulterzuckend fest. »Ich habe die Adressen und Telefonnummern sowieso alle im Kopf. Weil ich mir Zahlen hervorragend merken kann.« »Schön für dich.« »Ich habe im Internet geguckt. Sie haben schon viele Fälle gelöst.« »Das heißt >abgeschlossen<. Wenn du mal Polizistin werden willst, musst du das richtige Wort verwenden. Wir schließen Fälle ab.« »Sie schließen Fälle ab«, wiederholte die Kleine wie ein Papagei. »Das werde ich mir merken. Sie haben auch den Fall abgeschlossen, bei dem diese Männer in ein Haus eingebrochen und alle außer einem kleinen Mädchen ermordet haben. Sie war noch jünger als ich und ihr Name war Nixie.« »So heißt sie immer noch.« »Hat sie Ihnen wichtige Hinweise gegeben? Hat sie Ihnen geholfen, den Fall abzuschließen?« »In der Tat. Solltest du nicht langsam mal zu deiner Mutter gehen oder so?« »Ich habe auch versucht, Hinweise zu finden.« Sie trat vor einen Spiegel, betrachtete ihr eigenes Spiegelbild und bauschte ihre Haare etwas auf. »Weil ich schließlich ganz in der Nähe war. Ich habe den Toten gesehen, und ich bin immer sehr, sehr aufmerksam. Deshalb könnte ich Ihnen ja vielleicht helfen, diesen Fall abzuschließen«, meinte sie in hoffnungsvollem Ton. »Falls dir irgendetwas einfällt, denk dran, dich bei mir zu melden. Aber jetzt hau endlich ab.«
Rayleens Augen blitzten auf, und sie fuhr zu Eve herum. »Das hier ist mein Zimmer.« »Und meine richterliche Erlaubnis, es mir anzusehen. Also zieh Leine, ja?« Rayleen kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde ganz bestimmt nicht Leine ziehen.« Sie baute sich trotzig, arrogant, zornig, selbstbewusst, vor allem aber herausfordernd vor ihrem Gegenüber auf. Versuch doch, mich zu zwingen, drückte ihre Miene aus. Eve ging langsam auf das Mädchen zu, packte sie am Arm und zog sie unsanft in den Flur. »Sich mit mir anzulegen ist ein Fehler«, erklärte sie dem Kind in ruhigem Ton, drückte die Tür ins Schloss, drehte den Schlüssel um und schloss, damit Rayleen nicht einfach durch das Schlafzimmer wieder hereingeschlendert kam, auch die zweite Tür zwischen den beiden Räumen ab. Dann fuhr sie mit ihrer Arbeit fort und wurde erst wieder gestört, als Peabody von draußen rief: »Warum haben Sie denn abgesperrt?« »Damit mir die Kleine nicht noch einmal in die Quere kommt.« »Oh. Tja. Ich habe die Jungs schon mal ein paar der Kisten runterschaffen lassen, die wir mitnehmen. Sie sind ordentlich beschriftet, und ich habe auch die Quittungen dafür schon ausgestellt. Unglücklicherweise haben wir weder Gift in den Gewürzgläsern noch Erpresserbriefe in der Bibliothek entdeckt. Aber trotzdem gibt es jede Menge Zeug, das wir uns ansehen müssen, wenn wir wieder auf der Wache sind. Haben Sie hier etwas gefunden?« »Dies und das. Aber eins habe ich nirgendwo entdeckt. Und zwar ihr Tagebuch.« »Vielleicht, weil sie keins führt.« »Nach dem Mord an Foster hat sie ihr Tagebuch erwähnt. Nur finde ich ganz einfach keins.«
»Manchmal verstecken sie die Dinger wirklich gut.« »Wenn es irgendwo hier wäre, hätte ich es längst entdeckt.« »Da haben Sie wahrscheinlich recht.« Peabody spitzte nachdenklich die Lippen und sah sich in dem Zimmer um. »Vielleicht führt sie ja doch kein Tagebuch. Zehnjährige Mädchen haben noch kein besonderes Interesse an Jungs, und Jungs sind das, worum es hauptsächlich in Tagebüchern geht.« »Sie hat einen für ihr Alter erstaunlich regen Geist. Wo also ist das Gejammere darüber, dass Mom und Dad ihr nicht erlauben, sich ein Tattoo machen zu lassen oder das große Glücksgefühl, weil Johnnie Dreamboat sie heute in der Pause angesehen hat?« »Das kann ich nicht sagen, aber ich kann auch nicht sagen, ob und inwieweit es uns weiterbringen sollte, wenn sie ein Tagebuch hätte und wir es finden würden.« »Es geht mir um die alltäglichen Dinge - was Mami zu Daddy sagt, was dieser oder jener Lehrer gemacht hat oder so. Die Kleine ist wirklich aufgeweckt. Wenn auch ein bisschen rotznasig.« »Sie halten alle Kinder für rotznasig«, stellte Peabody grinsend fest. »Weil sie das schließlich auch sind. Aber die Kleine hier ist alles andere als dumm.« Eve blickte noch mal in den Spiegel und sah wieder die Art, wie Rayleen sich selbst betrachtet hatte, bevor sie mit zornblitzenden Augen zu ihr herumgefahren war. »Falls etwas sie genervt oder ihre zarten Gefühle verletzt hat, gehe ich jede Wette ein, dass sie es aufgeschrieben hat. Also, wo ist das blöde Tagebuch?« »Nun, vielleicht findet ja McNab etwas in ihrem Computer. Sie ist schlau genug, um ihre Lästereien irgendwo zu verstecken, wo sie vor Mami, Daddy und Cora sicher sind.« »Sagen Sie McNab, dass die Suche nach dem Tagebuch erst einmal Vorrang hat.« »Sicher. Auch wenn ich mir, wie gesagt, nicht vorstellen kann, dass uns das wirklich weiterbringt.«
»Vielleicht nicht.« Eve drehte sich um und studierte abermals den Schnappschuss der Familie in den Ferien. »Aber vielleicht auch doch.«
17 Kaum waren die Kisten aus dem Penthouse auf der Wache, belegte Eve einen Besprechungsraum, breitete dort zusammen mit Peabody sämtliche Sachen aus und teilte sie nach Räumen sowie innerhalb der Räume nach Personen auf. Dann zog sie die Tafel an den Tisch und hängte dort Fotos einiger Gegenstände auf. Sie sah sich die Fotos an und lief nachdenklich vor der Tafel auf und ab. »Bitte, ich brauche unbedingt etwas zu essen.« »Was?« »Essen, Dallas. Ich muss dringend etwas essen, wenn ich nicht an meiner eigenen Zunge nagen soll. Ich kann etwas bestellen oder schnell runter in die Kantine laufen und was holen.« »Okay.« »Super. Was wollen Sie?« »Den Bastard festnageln.« »Essen, Dallas. Was wollen Sie essen?« »Egal, Hauptsache, Sie bringen mir auch einen Kaffee mit. Sie hat eine Schachtel voller Fotos.« »Wie bitte?« »Allika, in ihrem privaten Wohnzimmer. Eine hübsche, große Schachtel, oben in ihrem Schrank, nicht wirklich versteckt, aber auch nicht gleich auf den ersten Blick zu sehen. Sie ist voller Fotos von dem toten Sohn, und außerdem bewahrt Allika darin eine Strähne seiner Haare, zwei von seinen Spielsachen und ein Stück von seiner Babydecke auf.« »Himmel.« Peabodys weiches Herz zog sich zusammen. »Arme Frau. Muss wirklich schrecklich sein.«
»Nirgendwo sonst in der Wohnung gibt es auch nur ein Bild von diesem Kind, aber in der Schachtel bewahrt sie einen ganzen Stapel davon auf.« Eve ging um den Tisch mit den Gegenständen herum und blieb vor den Dingen aus Oliver Straffos Arbeitszimmer stehen. »Weder in Straffos Büro noch im Schlafzimmer noch in einem der Räume, in denen sich die Familie aufhält, erinnert irgendetwas an das tote Kind.« Peabody trat neben Eve und versuchte zu erkennen, was der Lieutenant vielleicht sah. »Ich hatte einen Cousin zweiten Grades, der als kleiner Junge ertrunken ist. Seine Mutter hat alle seine Sache entsorgt. Außer einem einzigen Hemd, das hat sie in ihrem Nähkorb aufbewahrt. Ich schätze, man kann nicht vorhersagen, wie jemand auf den Tod seines Kindes reagiert. Ich werde erst mal was zu essen und eine Kanne Kaffee holen.« Bevor Eve sie daran hindern konnte, lief sie eilig los. Eve umkreiste noch einmal die Tafel und den Tisch. Und dachte an das tote Kind. Der Junge war nicht nur wirklich süß gewesen, sondern hatte auf den Bildern aufgeweckt und fröhlich ausgesehen. Auf den meisten Fotos, die von ihm als Kleinkind aufgenommen worden waren, hatte er ein breites Grinsen im Gesicht gehabt. Eine gesunde, glückliche Familie, dachte sie beim Anblick der Kopie eines der Fotos aus Allikas Schachtel, auf der man die vier Straffos in die Kamera lachen sah. Die beiden Kinder standen in der Mitte, jeder von den vieren berührte irgendeinen Körperteil des anderen, und sie sahen wie eine attraktive Einheit aus. Irgendwie komplett. Sie verglich das Bild mit der Kopie der Aufnahme, die über Rayleens Schreibtisch hing. Auf ihr wurde nur noch ein Kind von Mutter und Vater flankiert. Und ja, obwohl Allika lächelte, hatte sie einen etwas müden Blick und wirkte ein wenig angespannt. Weil irgendetwas fehlte.
Versuchte sie die Leere mit Verabredungen, Einladungen, irgendeiner Routine, mit Medikamenten und mit Männern anzufüllen? Sei nicht traurig, Mami! Ein helles Köpfchen, diese Rayleen. Hatte eine gute Auffassungsgabe, war intelligent und ging ihr furchtbar auf den Geist. Aber das war vielleicht nicht ihre Schuld allein. Dann hatte sie sich also über sie und ihre Fälle informiert. Das war nicht weiter schwierig, überlegte Eve, aber eine interessante Beschäftigung für ein zehnjähriges Kind. Nixie, erinnerte sie sich. Auch Nixie war intelligent gewesen und hatte eine gute Auffassungsgabe und vor allem jede Menge Mumm gehabt. Auch sie hatte einen Bruder verloren und dazu ihre gesamte Familie und ihre gesamte Welt, in einer einzigen, grauenhaften Nacht. Nixie hatte jede Menge Fragen an sie gehabt, wie jetzt auch Rayleen. Vielleicht kamen die Kinder heutzutage ja einfach schlauer und vor allem neugieriger auf die Welt. In ihrem Alter hatte Eve kaum mit der richtigen Schule angefangen. War sie damals auch neugierig gewesen, überlegte sie. Vielleicht, aber selbst wenn, hatte sie keine Fragen gestellt. Während der ersten acht Jahre ihres Lebens hatten zu viele Fragen einen Fausthieb ins Gesicht bedeutet, oder Schlimmeres. Besser, man verhielt sich still, beobachtete nur und reimte sich die Dinge selbst zusammen, als dass man Fragen stellte und am Ende blutend auf dem Boden lag. Irgendetwas ging in der Familie vor. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem perfekten Trio, dachte Eve. Doch auch wenn sie keine Angst mehr davor hatte, Fragen zu stellen, müsste sie sich erst noch überlegen, was sie für Fragen stellen sollte, damit sie die gewünschten Antworten bekam. Sie setzte sich in ihr Büro, aß etwas, was vielleicht einmal ein Hühnchen hätte werden wollen und was zwischen zwei dicken
Schichten Pappe lag, die taten, als wären sie Brot. Dabei führte sie eine Reihe von Wahrscheinlichkeitsberechnungen an ihrem Computer durch. Sie wusste, sie fischte im Trüben, folgte verschiedenen Richtungen, die ihr die Logik wies, und einer undeutlichen Spur, die einzig in ihrem Instinkt begründet war. Der Computer sagte ihr, dass ihr Instinkt völlig idiotisch war, als sie aber ein paar Details beiseiteließ, nannte er sie plötzlich ein Genie. »Das wäre echt der Hit.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Natürlich war es vollkommener Schwachsinn, den Kasten ausrechnen zu lassen, wie wahrscheinlich eine Hypothese war, wenn bei der Berechnung wichtige Details einfach außer Acht gelassen wurden. Aber ihre Neugier war gestillt. Sie schickte Mira die Ergebnisse ihrer Berechnungen, bat sie um eine Stellungnahme, schickte eine weitere Kopie zu sich nach Hause, packte ihre Sachen ein, verließ ihr Büro und erklärte ihrer Partnerin, die noch an ihrem eigenen Schreibtisch saß: »Ich werde zu Hause weitermachen.« »Die Schicht ist gleich vorbei.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Nichts. Gar nichts.« »Ich fahre auf dem Heimweg noch mal an der Schule vorbei. Ich will einfach ein Gefühl für das Gebäude kriegen. Sagen Sie McNab, dass er sich die Computer aus dem Penthouse ganz genau ansehen soll. Ich will wissen, ob es irgendwelche Schatten oder irgendwelche seltsamen Dateien darauf gibt.« »Hm, morgen ist unser freier Tag. Ihrer, meiner, unserer. Außerdem ist Valentinstag.« »Meine Güte. Bleiben Sie trotzdem in Rufbereitschaft, seien Sie also bereit, irgendwas über das peinliche Outfit zu werfen, in das Sie sich zu McNabs perversem Vergnügen hüllen wollen, falls ich Sie anrufe.«
Peabody nickte ernst. »Ich habe extra für diesen Zweck immer einen Trenchcoat griffbereit.« Eve dachte kurz darüber nach. »Ich muss sagen: igitt. Sie fahren nicht eher nach Hause, als bis Sie Ihren Bericht geschrieben und an mich weitergeleitet haben. Außerdem will ich auch Ihre Notizen haben. Eindrücke, Meinungen.« »Sie haben eine Spur.« »Das weiß ich noch nicht so genau. Sehen Sie sich, wenn Sie sich nicht gerade auf eine Art körperlich ertüchtigen, an die ich nicht mal denken will, noch einmal die Schülerakten beider Opfer an - Noten, Elterngespräche und so weiter.« »Und wonach soll ich suchen?« »Lassen Sie es mich einfach wissen, wenn Sie es gefunden haben.« Damit wandte sich Eve zum Gehen. Sie nahm die Gleitbänder bis in die unterste Etage und bedachte den dort stehenden Getränkeautomaten mit einem wehmütigen Blick. Sie wollte eine Pepsi, ließe sich aber ganz sicher nicht auf eine Auseinandersetzung mit dem elendigen Kasten ein. Denn die Dinger hassten sie. Statt sich in den Lift zu quetschen, joggte sie die Treppe hinunter in die Tiefgarage, zog im Laufen ihr Handy aus der Tasche und rief als Erstes Caro an. Roarkes äußerst effiziente Sekretärin blickte sie mit einem warmen Lächeln an. »Lieutenant. Wie geht es Ihnen?« »Gut. Kann ...« Sie brach ab. Wenn einen jemand nach seinem Befinden fragte, war es ein Gebot der Höflichkeit, dass man dasselbe tat. Das waren Details, die sie ein ums andere Mal vergaß. »Und wie geht es Ihnen?« »Hervorragend. Ich wollte mich noch bei Ihnen bedanken, weil Sie uns Ihr Haus in Mexico zur Verfügung gestellt haben. Reva und ich haben dort ein wunderbares Mutter- TochterWochenende verbracht. Es ist dort einfach wunderschön, und das Wetter hätte nicht besser sein können. Es war für uns beide
eine perfekte Unterbrechung des hiesigen Winters, der schon viel zu lange dauert.« »Ah.« Eve hatte nicht gewusst, dass Roarke Caro und ihrer Tochter ein paar Tage in Mexico geschenkt hatte. »Das ist schön.« Jetzt musste sie sich auch noch nach Reva erkundigen, oder nicht? »Und wie geht es Reva?«, fragte sie. »Sehr gut, vielen Dank. Sie geht inzwischen wieder ab und zu mit irgendwelchen Männern aus. Es ist schön zu sehen, dass sie sich wieder gefangen hat. Sicher möchten Sie mit Roarke sprechen.« Wow, sie hatte den Small-Talk-Teil des Anrufs wirklich schadlos überstanden, dachte Eve. »Falls er gerade beschäftigt ist, könnten Sie ihm vielleicht einfach etwas von mir ausrichten.« »Lassen Sie mich nachsehen.« Ein wenig erschöpft von dem Gespräch stieg Eve in ihren Wagen, während Caro sie in die Warteschleife schickte, bevor sie wenige Momente später Roarkes blitzende blaue Augen auf dem kleinen Bildschirm sah. »Lieutenant.« Gott, er sah einfach fantastisch aus. »Tut mir leid, falls ich dich gerade bei irgendeiner Konferenz mit dem Ziel der Weltbeherrschung unterbreche.« »Die ist erst morgen dran. Heute bringen wir die Beherrschung der Satelliten und Planetoiden unter Dach und Fach.« »Dann ist es ja gut. Ich verlasse gerade das Revier und fahre noch mal bei der Schule vorbei.« »Zu welchem Zweck?« »Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich will mir einfach die Tatorte noch einmal ansehen.« Er verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, bei dem sich ihr Innerstes nach all der Zeit immer noch wohlig zusammenzog. »Hättest du dort gern Gesellschaft?« »Und was ist mit der Beherrschung der Satelliten und Planetoiden?«
»Ich glaube, die haben wir unter Kontrolle. Wir treffen uns am besten einfach dort.« »Gut. Super.« In der Tat war es sogar perfekt. »Also bis dann.« »Lieutenant?« »Verfluchter Verkehr«, murmelte sie, während sie sich auf die Straße kämpfte. »Was?« »Ich liebe dich.« Okay, das war perfekt. »Das habe ich schon mal irgendwo gehört. Und gerüchteweise liebe ich dich auch. Dieser gottverdammte Maxibus. Ich muss los.« Sie stopfte ihr Handy wieder in die Tasche und genoss den bewaffneten Kampf der Fahrt quer durch die Innenstadt. Dann erkämpfte sie sich einen Parkplatz, wofür ebenfalls ein großes Maß an Gnadenlosigkeit vonnöten war, und marschierte anderthalb Blocks bis zur Akademie. Sie war noch einen knappen halben Block entfernt, als er aus seinem Wagen stieg. Er war groß und schlank und sein langer schwarzer Mantel blähte sich im Wind. Dann fuhr sein Wagen wieder an - sicher ließ er ihn nach Haus bringen, um nachher mit ihr zusammen heimzufahren -, und er drehte sich zu ihr um. Genau wie damals, als sie ihm zum allerersten Mal begegnet war. Als hätte er gespürt, dass sie in seiner Nähe war, drehte er sich um, sah sie aus seinen wilden, blauen Augen an. Und wie beim allerersten Mal machte etwas in ihrem Inneren einen Satz. Es war nicht ihr Stil, es war nicht ihre Art, aber es gab einfach Augenblicke, in denen man seinen Gefühlen folgen sollte, dachte sie. Marschierte auf ihn zu, packte die Aufschläge seines Mantels und presste ihre Lippen hart und heiß auf seinen Mund. Er zog sie an. Er zog sie einfach magisch an. Und so standen sie, während um sie herum die reizbaren New Yorker Autofahrer ihrem Ärger durch Hupen und Schreien Luft machten, im eisigen Wind und wurden von der Hitze dieses Kusses angenehm gewärmt.
»Da ist sie«, murmelte er. »Ja, da bin ich.« Sie machte sich wieder von ihm los. »Du hast einfach einen phänomenalen Mund. Aber ich weiß, dass auch deine Hände wirklich clever sind. Also schaff uns ins Haus.« Er zog eine Braue hoch. »Willst du mich etwa dazu anstiften, in eine Schule einzubrechen?« »Als ziviler Berater unterstehst du ja wohl eindeutig meinem Befehl.« »Ich liebe es, wenn du so herrisch bist. Das ist einfach ungemein erregend.« »Du empfindest es schon als erregend, wenn eine hübsche Frau dir zuzwinkert. Jetzt mach dich endlich ans Werk.« Er schlenderte in Richtung Tür, zog ein kleines Gerät aus der Innentasche seines Mantels, drückte ein paar Knöpfe, hielt es vor den Scanner an der Wand. Lautlos gingen die Schlösser auf. »Angeber.« »Nun, ich hatte gestern Abend etwas Zeit, um mir die Schlösser anzusehen. Und da ich deinen Befehl bereits erwartet hatte, habe ich das Gerät schon einmal programmiert.« Er öffnete die Tür und winkte sie elegant an sich vorbei. »Nach Ihnen, Lieutenant.« »Was ist mit der Alarmanlage?« »Also bitte.« Schulterzuckend trat sie ein. »Was ist mit dem Scanner und den Überwachungskameras?« Er blickte auf den Scanner und tippte abermals an seinem Gerät herum. »So, jetzt ist er aus. Du hättest ihn auch mit deinem Generalschlüssel deaktivieren können, aber ich nehme an, du wolltest sehen, wie leicht man unbefugt und unbemerkt hier eindringen kann.« »Etwas in der Art. Sagen wir, jemand hätte nicht deine Ausbildung. Wie schwierig wäre es für ihn, das zu tun, was du eben getan hast?«
»Es wäre auf alle Fälle schwieriger für ihn, weil ich sozusagen Klassenbester war. Aber die Anlage ist nicht besonders kompliziert. Jeder durchschnittliche Endlosdichtmachende-Ramschladen in der Fünften hat ein besseres System.« Er klopfte auf die Waffe, die sie unter ihrem Mantel trug. »Allerdings ist es ein bisschen problematisch, dass du dieses Ding hier bei dir hast. Gib mir eine Minute Zeit, damit ich auch den Waffenscanner deaktivieren kann.« »Okay.« Es war einfach praktischer, wenn er das Ding ausstellte, dachte sie. Es ging ihr schließlich nicht darum zu sehen, ob man unbemerkt mit einem Stunner oder einer scharfen Waffe in das Gebäude kam. »Gift würde der Scanner nicht entdecken. Weshalb sollte er auch? Und auch eine Spritze würde er nicht sehen. Der oder die Mörder hätte oder hätten also jederzeit mit beidem hereinkommen können, ohne dass es jemand merkt.« »Alles klar.« Er blieb kurz stehen und sah sich um. »Also, was machen wir hier?« »Ich bin mir nicht ganz sicher.« »Dann bist du also leider nicht mit mir hierhergekommen, um Der-Lehrer-behält-die-unartige-Schülerin-nachUnterrichtsende-da mit mir zu spielen?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich finde Schulen tagsüber schon gespenstisch, aber abends, wenn sie leer sind, sind sie mir noch unheimlicher.« Sie schob die Hände in die Taschen ihres Mantels, während sie durch die Eingangshalle lief. »Dann werden sie von den Geistern ehemaliger Schüler heimgesucht. Schulen sind im Grunde wie Gefängnisse.« Lachend stieß sie ihn mit dem Ellenbogen an. »Da hast du eindeutig recht.« »Nicht, dass ich viel Zeit an einem solchen Ort verbracht hätte. Zumindest nicht, bis Summerset sich meiner angenommen hat. Er hat mich dann regelmäßig hingeschickt.«
»Die staatlichen Schulen, in denen ich war, waren nicht wie diese Schule hier. Sie waren total runtergekommen und die Sicherheitsbestimmungen waren viel strenger. Ich habe sie gehasst.« Neben der Tür eines Klassenzimmers blieb sie stehen. Ihr waren die Klassen wie die Zellen eines Knastes vorgekommen, erinnerte sie sich. »In den ersten Jahren hatte ich vor allem Schiss und kam mir total dämlich vor. Später dann habe ich mir gesagt: >Okay, ich habe alles gelernt, was ich hier lernen soll. Wann kann ich hier endlich raus?<« »Und als es dann so weit war, hast du sofort an der Polizeiakademie weitergemacht.« »Das war etwas anderes.« »Weil es dein freier Wille und weil es dir ein Bedürfnis war.« Er strich ihr sanft über den Arm. »Ja. Und niemanden an der Akademie hat es auch nur ansatzweise interessiert, ob man ein blödes Partizip erkannt hat oder einen brillanten Aufsatz über die soziopolitischen Folgen der Innerstädtischen Revolten schreiben konnte. Geometrie ist das Einzige, was mir noch heute etwas nützt.« »Geometrie?« »Von all den Linien und Räumen und dem ganzen Blablabla habe ich immer Kopfschmerzen gekriegt. Aber jetzt denke ich selbst in diesen Dimensionen. Es geht mir immer um Distanz, um die Positionen sämtlicher Beteiligten an einem Verbrechen, um den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten.« Sie ging die Treppe in den ersten Stock hinauf. »Die Klasse des ersten Opfers. Sie ist das - verdammt, wie nennt man noch mal die Mitte eines Dings?« »Was für eines Dings?« »Die Mitte eines Raums.« Sie hob ihre Hand und zog damit einen imaginären Kreis. »Tja, das kommt drauf an. Falls du einen Kreis meinst, ist es einfach der Mittelpunkt. Oder vielleicht meinst du auch den
Winkel, dessen Scheitelpunkt mit dem Mittelpunkt zusammenfällt.« Beim Scheitelpunkt blieb sie stehen und starrte ihn mit großen Augen an. »Oder, da jeder Winkel, dessen Scheitelpunkt auf dem Mittelpunkt des Kreises liegt, den Kreis in zwei Bögen teilt, meinst du vielleicht, wenn die beiden Bögen gleich groß sind, zwei gestreckte Winkel, oder wenn sie verschieden groß sind, einen stumpfen und einen überstumpfen Winkel, wobei der überstumpfe Winkel immer größer ist.« »Himmel.« Er zuckte mit den Schultern und stellte grinsend fest: »Ich habe Geometrie immer gemocht.« »Manchmal bist du mir wirklich unheimlich.« Stirnrunzelnd sah sie den Flur hinab. »Jetzt habe ich vergessen, was ich sagen wollte.« »Vielleicht suchst du auch die Tangente«, fuhr er unbekümmert fort. »Das ist eine Gerade, die eine gegebene Kurve in einem bestimmten Punkt berührt.« »Halt die Klappe.« »Du hast mich danach gefragt. »Wenn du natürlich ein Dreieck statt eines Kreises nimmst ...« »Wenn du nicht sofort die Klappe hältst, zücke ich meinen Stunner und sorge auf die Art dafür, dass du mir nicht länger auf die Nerven gehen kannst.« »Weißt du, was mir noch lieber war als Geometrie? Die Suche nach den blinden Flecken der Überwachungskameras«, meinte er. »Wobei mir die Geometrie durchaus geholfen hat. Und dann habe ich mir ein süßes junges Ding geschnappt und ...« Jetzt schnappte er sich sie, drehte sie zu sich herum, drückte sie mit dem Rücken gegen die Wand und küsste sie gierig mitten auf den Mund.
Seine Lippen machten sie genauso schwindelig wie sein vorheriges Gerede, doch sie machte sich entschlossen wieder von ihm los. »Erst die Arbeit, dann das Mandelhockey.« »Du bist einfach eine unverbesserliche Romantikerin«, stellte er grinsend fest. »Aber ich glaube, ich verstehe, was du herausfinden willst, und das hat vor allem etwas mit Schnittpunkten und dem zentralen Knotenpunkt zu tun.« Sie musste sich die Finger unter das Auge pressen, denn sonst hätte es gezuckt. »Das Wort Knotenpunkt kann es doch wohl unmöglich geben.« »Es ist ein mathematischer Begriff. Und ich glaube, dass in deinem Fall der zentrale Knotenpunkt die Klasse des ersten Opfers ist. Weil sie zwischen allen anderen Punkten liegt. Außerdem denke ich, dass sie die Stelle ist, an der sich die Linien dem ersten Theorem zufolge überschneiden.« »Lassen wir die höhere Mathematik am besten aus dem Spiel, denn sie trennt meinen Geist von meinem Körper, und das erlebe ich am liebsten nur beim Sex. Fosters Klasse.« Sie wies auf den offenen Raum. »Die am Tag seiner Ermordung zweimal mindestens fünfzig Minuten lang leer gestanden hat. Und zwar vor Beginn des Unterrichts und dann noch mal in der vierten Stunde, wodurch der Mörder ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, an der Thermoskanne herumzudoktern oder sie einfach zu vertauschen. Ich gehe von Vertauschen aus. Wenn ich damit recht habe, haben wir vielleicht Glück. In seiner Kanne war nämlich sein Name eingraviert. Aber wie dem auch sei ...« Sie löste das Siegel an der Tür und stieß sie auf. »In allen anderen Klassen war in der vierten Stunde Unterricht, auch in der des zweiten Opfers. Hier.« Sie ging ein Stückchen weiter und machte auch die Tür von Williams' Klasse auf. »Während der zweiten fünfzig Minuten, in denen Fosters Klasse leer gestanden hat, hat Williams seine Klasse circa zehn Minuten verlassen. Angeblich war er auf dem Klo.«
»Damit hätten wir eine gerade Linie von Punkt zu Punkt. Er hätte die Gelegenheit und ein Motiv für diesen ersten Mord gehabt.« »Ja. Wobei bisher noch nicht bewiesen ist, dass er im Besitz des Giftes war. Woher hätte er es haben, weshalb hätte er sich gerade für Rizin entscheiden sollen? Während der vierten Stunde waren außer ihm noch andere unterwegs. Auf der Schülertoilette war zu der Zeit ein Hausmeister und hat angeblich etwas repariert. Aber er ist sauber. Keine Vorstrafen, kein erkennbares Motiv, seine Arbeitgeber sind des Lobes voll, verheiratet, Vater von drei Kindern und Opa von zwei Enkelkindern, die auf diese Schule gehen.« »Aber er ist als weiterer Schnittpunkt anzusehen.« »Ja, ja. Er sieht Mosebly, Hallywell, Williams und Dawson und wird von ihnen ebenfalls gesehen. Danach auch noch von Rayleen Straffo und Melodie Branch. Alle gehen irgendwann aneinander vorbei, wobei auch Dawson auf die beiden Schülerinnen und eine Etage tiefer Hallywell auf zwei andere Schüler trifft.« »Vergiss nicht deine Unbekannte«, führte Roarke die Gleichung weiter aus. »Die Möglichkeit, dass jemand Unbekanntes parallel gelaufen ist. Als Segment, das sich mit keinem anderen überschnitten hat, aber trotzdem am zentralen Knotenpunkt angekommen ist.« »Irgendjemand Außenstehendes. Zum Beispiel Alliko oder Oliver Straffo, die beide nach vorheriger Planung den Knotenpunkt hätten erreichen können, ohne vorher die Sicherheitskontrolle zu passieren, um die Thermoskanne in der Klasse, die bekanntermaßen um die Zeit leer gestanden hat, zu manipulieren oder zu vertauschen und wieder zu verschwinden. Man braucht keine sechs Minuten, um herein- und hier heraufzukommen, die Klasse zu betreten, die Kannen zu vertauschen und wieder zu gehen. Ich habe die Zeit gestoppt.«
Sie brach ab, drehte sich einmal um sich selbst und atmete hörbar aus. »Einer der beiden hätte es tun können, ohne dass ihn jemand gesehen hat. Und selbst wenn sie jemandem begegnet wären, wäre das nicht weiter aufgefallen, weil schließlich ihre Tochter in die Schule geht. Niemand hätte sich gewundert, einen von ihnen hier zu sehen.« »Aber es hat sie niemand gesehen.« »Nein. Straffo war an dem Morgen in seinem Büro. Die Tür zum Vorzimmer jedoch war zu. Hat er sich vielleicht heimlich fortgeschlichen, ist hierhergekommen und hat die Kannen vertauscht? Die Zeit dafür wäre ziemlich knapp gewesen, aber ausgeschlossen ist es nicht. Und Allika hat Einkäufe gemacht. Hätte also auch heimlich einen Abstecher in die Schule machen können, ohne dass es jemand merkt. An dem Vormittag, als Williams ermordet wurde, wurde sie tatsächlich gesehen. Sie hat ihre Tochter zur Schule gebracht und sich noch kurz hier aufgehalten, bevor sie wieder gegangen ist.« Wieder führte er ihre Überlegung weiter aus. »Falls sie beschlossen hat, Lehrer zu ermorden, weshalb hätte sie dann in einem Fall eine parallele Linie und im nächsten einen Schnittpunkt bilden sollen?« »Genau. Ich habe noch andere Gründe, die dafür oder dagegen sprechen, aber dieser eine fällt auch mir besonders auf. Niemand hätte sich etwas dabei gedacht, wenn sie auch an dem Tag, an dem Foster ermordet wurde, in die Schule gekommen wäre. Sie hätte nur einen plausiblen Grund dafür gebraucht.« Sie kehrte zu Fosters Klassenzimmer zurück. Sah ihn wieder auf dem Boden liegen, in einer großen Pfütze seines eigenen Erbrochenen. »Diese Morde wurden weder aus Leidenschaft noch aus einem Impuls heraus begangen, und sie wurden äußerst clever ausgeführt. Wenn Allika sie begangen hätte, wäre es auf alle Fälle cleverer gewesen, auch am Tag des ersten Mordes offiziell kurz hier im Haus zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es war. Sie ist viel zu emotional, um so was
durchzuziehen. Straffo ist beherrscht und zielgerichtet, aber seine Frau ganz sicher nicht. Trotzdem ...« »... stört dich irgendwas an ihr.« »Ein paar Dinge kommen mir einfach seltsam vor, aber ich muss erst noch etwas darüber nachdenken, bevor ich darüber sprechen kann. Deshalb zurück zu Foster. Er kommt aus seinem Unterricht zurück in seine Klasse, macht die Tür hinter sich zu, damit er in Ruhe Mittag essen und die nächsten Stunden vorbereiten kann, trinkt den vergifteten Kakao. Wenn sich gleich in den ersten paar Minuten irgendwer um ihn gekümmert hätte, hätte er vielleicht gerettet werden können. Aber der Mörder hat darauf vertraut, dass das nicht passiert.« Sie betrat den Raum und sah wieder Foster vor sich. Dieses Mal jedoch lebendig, als hätte er getan, was er immer in der Mittagspause tat. »Er setzt sich an seinen Schreibtisch, schreibt eine gut gelaunte, kurze Mail an seine Frau, macht sich an den Test, den er seine Schüler schreiben lassen will, trinkt einen Schluck Kakao und stirbt.« »Unter fürchterlichen Schmerzen«, murmelte Roarke, da er wusste, was sie sah. »Unter fürchterlichen Schmerzen«, stimmte Eve ihm zu. »Dann kommen die beiden Mädchen rauf, sehen den Hausmeister, sprechen kurz mit Dawson, zeigen ihm ihre Erlaubnisscheine zum Verlassen ihrer Klasse und betreten den Raum.« »Ich hätte eine Frage. Weshalb erscheint dieser Dawson nicht auf deinem Radar?« »Er ist seit fünfundzwanzig Jahren Lehrer, davon seit fünfzehn hier, hätte kein erkennbares Motiv gehabt und ist eher der ... wie soll ich es formulieren? ... der Schildkröten-Typ, wenn du weißt, was ich damit sagen will.« »Ruhig und beständig.« »Ja, genau.«
»Auch von der Rektorin ist nicht mehr die Rede, dabei hätte sie nachweislich ein Motiv gehabt.« »Ja.« Eve raufte sich die Haare und trat wieder in den Flur hinaus. »Vielleicht liege ich total daneben, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie es war. Zwei Morde in ihren geheiligten Hallen, während sie die Oberaufsicht hatte? Das ist für sie der reinste Albtraum, noch schlimmer, als wenn herausgekommen wäre, dass da etwas zwischen ihr und Williams lief. Die Schüler laufen ihr in Scharen davon und ständig kommen unschöne Berichte über die Akademie. Vielleicht hat sie es getan, vielleicht hat sie gedacht, sie könne es so drehen, dass sich der Schaden in Grenzen hält. Aber ich glaube nicht, dass es so war. Trotzdem würde ich sie gern für die Behauptung drankriegen, dass sie von Williams vergewaltigt worden ist. Diese blöde Kuh.« Sie runzelte die Stirn. »Wo war ich stehen geblieben?« »Bei den beiden Mädchen, die ins Zimmer kommen.« »Richtig. Wenn sie fünfzehn Minuten früher raufgekommen wären, hätte Foster eine Chance gehabt. So aber war er bereits tot, als sie ins Zimmer kamen, und sie sind schreiend davongerannt. Dann kommt Dawson angelaufen, sieht, was geschehen ist, und ruft die Schulleiterin. « »Ein durchaus vorhersehbarer Ablauf der Ereignisse.« »Ja, nicht wahr? Und jetzt gucken wir, wie es bei Williams abgelaufen ist.« Sie führte Roarke nach unten, durch den Fitnessraum in die angrenzende Schwimmhalle. »Nicht übel«, stellte ihr Gatte anerkennend fest. »Ja, für eine Schule wirklich nett. Hier drinnen laufen sich Williams und Mosebly über den Weg. Auch Alliko Straffo ist im Haus, macht sich ihrer eigenen Aussage zufolge auf die Suche nach Williams, bildet dabei - um bei deinem Bild zu bleiben eine parallele Linie zu ihm und der Rektorin und bekommt deswegen zufällig den Streit der beiden mit.«
Eve blickte auf die nach Personal und Schülern ordentlich getrennten Ein- und Ausgänge des Poolbereichs. »Dann gehen die beiden Frauen wieder, und Mosebly läuft Hallywell und Dawson über den Weg. Dann kommt Dawson rein, sieht Williams im Becken treiben und findet zum zweiten Mal in einer Woche eine Leiche.« »Kann das Zufall sein?« »Es sieht auf jeden Fall so aus. Er und die Krankenschwester, die genau wie er bei beiden Toten war, sind bloße Randfiguren. Weil sich irgendjemand anderes bis zum Mittelpunkt geschlichen hat.« Eve starrte auf die Wasseroberfläche. »Und zwar beide Male.« »Bist du sicher, dass es nur ein Täter ist?« »Ja, ja. Genau, wie ich mir ziemlich sicher bin, dass ich weiß, wer unser Täter ist, nur habe ich bisher einfach noch kein Motiv. Und das brauche ich unbedingt.« »Wer soll der Täter sein?« Sie öffnete den Mund, schüttelte dann aber den Kopf und meinte: »Ich würde gerne sehen, zu welchem Ergebnis ein Freak wie du ohne Beeinflussung des ... äh ... Theorems gelangt. Außerdem will ich noch mit Mira darüber sprechen, denn bisher ist es nur ein Gefühl. Deshalb werde ich erst mal weiter nach soliden Beweisen suchen und der Spur der Thermoskanne nachgehen.« »Dann gehen wir also einkaufen?« »Ich will in die Geschäfte in einem Radius von zehn Blocks, in denen es diese Thermoskannen gibt.« »Du hast Radius gesagt. Bist du jetzt auch ein Freak?« »Klugscheißer.« Er nahm ihre Hand. »Danke für das Lob.« Wie der Großteil der Polizeiarbeit war die Suche nach der Thermoskanne eine anstrengende und mühsame Routinetätigkeit.
Sie sprach mit Geschäftsführern und Angestellten, mit Leuten, die keine Ahnung hatten, und mit Leuten, die wie die Vögel zwitscherten. Das fragliche Modell war ausnehmend beliebt, weder zu billig noch zu teuer, doch sein Geld auf alle Fälle wert. Praktisch, hübsch, robust. »Zwei Wochen vor Weihnachten mussten wir die Dinger extra nachbestellen«, erklärte ihr ein hilfsbereiter stellvertretender Geschäftsführer. »Konnte man super in die Strümpfe stecken, war ein tolles Reservegeschenk für den Fall, dass man jemanden vergessen hatte, und vor allem hatten wir die Kannen im Angebot. Sie wurden uns praktisch aus der Hand gerissen und verkaufen sich immer noch sehr gut. Schließlich ist morgen Valentinstag, und wir gravieren den Namen der zu beschenkenden Person gratis in ein Herz.« »Entzückend. Sie schreiben sich doch sicher auf, wer bei Ihnen welche Gravur bestellt. Ich interessiere mich für eine Kanne mit der Inschrift >Craig<.« Zur Vorsicht buchstabierte sie den Namen noch. »Sicher, ich kann gerne nachsehen. Hat der Kunde mit Kreditkarte oder per Bankeinzug bezahlt, haben wir den Namen im Computer. Bei einer Barzahlung natürlich nicht. Wobei kaum jemand bar bei uns bezahlt, denn wenn die Leute erst einmal im Laden sind, bleibt es selten bei einem Teil.« »Uh-huh.« Eve blickte sich um und sah, dass Roarke durch die Regalreihen wanderte und hin und wieder irgendeinen Gegenstand prüfend in den Händen wog. Dass er all die Dinge tat, die jemand tat, für den Einkaufen so etwas wie ein Hobby war. »Tut mir wirklich leid.« Tatsächlich machte der Verkäufer ein bekümmertes Gesicht. »In den letzten dreißig Tagen haben wir keine Kanne dieses oder eines anderen Modells mit einer solchen Gravur verkauft.« »Gehen Sie noch mal dreißig Tage zurück.«
»Oh. Hm.« Jetzt sah er noch unglücklicher aus. »Das wird ein paar Minuten dauern, außerdem muss ich dazu an unseren Hauptcomputer im Nebenzimmer, denn dieser Zeitraum reicht ins letzte Jahr zurück. Sie müssen mich bitte entschuldigen.« »Das tue ich. Ich werde hier vorne warten.« Jetzt drehte sie sich um und sah, dass Roarke tatsächlich irgendetwas erstand. Sie durchquerte das Geschäft, bahnte sich einen Weg an den Auslagen vorbei und sah ihn fragend an. »Was tust du da?« »Ich kaufe was.« »Wie? Warum?« Es musste eine Art von Krankheit sein, schloss sie. »Du besitzt doch bereits alles in sechsfacher Ausführung.« Er sah sie lächelnd an, als ihm der Kassierer seine Tüte gab. »Danke. Und jetzt sieht es so aus, als hätte ich noch mehr. Hast du schon irgendwas herausgefunden?« »Nein. Der Typ sieht noch im Computer nach. Aber ich denke sowieso, der Täter hat die Kanne bar bezahlt. Er ist ein klar denkender Mensch, der sicher keine unnötigen Spuren hinterlassen hat. Wahrscheinlich ist er einfach in einen dieser Läden gegangen, hat ein paar Dinge gekauft, ein paar Scheine über den Tisch geschoben und ist dann wieder gegangen, ohne dass sich irgendwer an ihn erinnern kann.« Endlich kam der Geschäftsführer zurück. »Es tut mir furchtbar leid«, entschuldigte er sich. »Ich habe nichts gefunden. Aber ich kann gerne unsere Angestellten fragen, ob sich einer von ihnen an so einen Verkauf erinnern kann.« »Ja, super. Danke. Falls Sie etwas rausfinden, rufen Sie mich bitte an.« Sie zog eine Karte aus der Tasche und drückte sie ihm in die Hand. »Auch diesen Laden können wir abhaken«, sagte sie zu Roarke, als sie wieder auf der Straße standen. »Aber ich musste einfach mein Glück versuchen.« »Hier.« Er zog ein Paar Handschuhe aus seiner Tüte. »Als Ersatz für die, die du verloren hast.«
»Ich habe die Handschuhe nicht verloren. Ich habe sie einfach verlegt.« »Natürlich. Die hier kannst du anziehen. Und diese hier«, er klopfte auf die Tüte, »kannst du in deinen Wagen legen, um die, die du anhast, zu ersetzen, wenn du sie verlierst.« »Und wenn ich auch die verliere?« »Dann bist du wieder so weit, wie du eben warst. Und jetzt, sollen wir was essen gehen oder weiterarbeiten?« »Wir könnten doch essen, während wir arbeiten.« »Was uns beiden am liebsten ist. Ich fahre.« Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie liefen auf ihren Wagen zu. Sie suchte das Lokal und er das Essen aus. Dabei hätte sie wissen müssen, dass er sich für Fisch entscheiden würde. Vielleicht lag es einfach daran, dass er auf einer Insel auf die Welt gekommen war, aber wahrscheinlich hatte er ihn eher gewählt, weil er gut für sie war. Er schmeckte überraschend gut, genau wie der hervorragend gewürzte Reis, in dem man die Stücke frischen Gemüses beinahe nicht sah, und das Glas erfrischenden Weißweins, das sie, um das Ganze herunterzuspülen, von ihrem Liebsten in die Hand gedrückt bekam. Sie erzählte ihm von der Durchsuchung des Penthouses der Straffos, denn sie wollte wissen, was für einen Eindruck er von der Familie hatte und wie er die ganze Sache sah. Sie berichtete ihm alles, was sie wusste, was sie gehört oder gesehen hatte, was ihr aufgefallen war. Nur die zunehmende Gewissheit, wer der Täter war, behielt sie auch weiterhin für sich. »Traurig«, meinte er. »Was?« »Wer. Straffos Frau. Sie kommt mir traurig vor. Führt neben ihrem eigenen Terminkalender auch die der beiden anderen, damit sie immer weiß, wo alle sind und was sie tun. Und weil ihre eigene Planung nicht mit den Plänen der anderen in Konflikt geraten soll. Dann ist da noch die Gedenkschachtel.«
»Ich dachte, dass es Erinnerungsschachtel heißt.« »Sie ist beides, oder nicht? Sie ist das, was die Erinnerung an ihren toten Sohn bewahrt, und das, womit sie seiner gedenkt. Und zwar sie ganz alleine. Was entsetzlich traurig ist. Der Tod eines Kindes muss für eine Mutter einfach schrecklich sein. Dann hast du gesagt, sie hätte ein paar Medikamente zwischen ihren Dessous versteckt. Weil sie offenbar nicht will, dass ihr Mann erfährt, dass sie die Sachen nimmt. Weil sie ihn nicht - was? aufregen, enttäuschen oder ängstigen will? Deshalb behält sie ihre kleinen Geheimnisse für sich.« »Ja«, stimmte Eve ihm zu. »Sie hat Geheimnisse.« »Und du glaubst, dass sie mit den beiden Morden in Verbindung stehen? Inwiefern?« »Sie will, dass alles so bleibt, wie es ist.« Da es ihr immer half, Dinge und Personen zu visualisieren, rief sie Allikas Foto auf dem Wandbildschirm des Arbeitszimmers auf. »Die Sache mit Williams hatte sie beendet. Sicher, sie hat ihren Mann betrogen.« Jetzt rief sie auch ein Bild des Ehemannes auf. »Aber vor allem hat sie sich dadurch selber aus dem Gleichgewicht gebracht. Das hat ihr Angst gemacht. Sie musste die Dinge wieder ins Lot bringen. Wobei ich glaube, dass sie das nicht wirklich sind. Zumindest nicht in ihrem Inneren. Sie tut nur so. Und sie braucht die Tabletten, weil sie nur mit ihrer Hilfe die Fassade aufrechterhalten kann.« »Aber was hat das mit deinen Ermittlungen zu tun?« »Es hängt alles miteinander zusammen. Sie verliert ein Kind.« Jetzt rief Eve die Aufnahme des unschuldigen, toten, kleinen Jungen auf dem Bildschirm auf. »Wirklich süß«, bemerkte Roarke. »Ja. Er versprüht eine unglaubliche Lebensfreude. Wie Allika, als er noch am Leben war. Sie, das heißt sie und ihr Mann, haben sich durch seinen Tod verändert. Das sieht man ihren Augen auf den Bildern an. Sie sind verwundet, haben aber einen Weg gefunden, trotzdem weiterzumachen wie bisher. Jeder auf seine
Art. Aber dann gerät sie aus dem Gleichgewicht und fängt diese Affäre an. Was er weiß oder auf alle Fälle ahnt. Ich glaube, er weiß auch, dass sie die Affäre wieder beendet, ohne dass er sie jedoch deshalb zur Rede stellt. Sie halten die Fassade der glücklichen Familie weiter aufrecht, rütteln nicht am Status quo. Schließlich haben sie bereits ein Kind verloren, und deshalb kämen weder sie noch das Kind, das sie noch haben, mit einer Scheidung klar.« Sie rief auch Rayleens Foto auf. »Aber dann geschehen diese beiden Morde. Sie hat eine Heidenangst und verliert erst einmal die Balance, während er vor allem wütend ist.« »Und das Kind?« Eve sah auf den Bildschirm. »Ist von all dem fasziniert. « »Ah. Kinder können furchtbar kaltblütig sein. Der Tod berührt sie nicht, denn sie sind noch viel zu weit davon entfernt. In ihrer Unschuld glauben sie, dass er ihnen selbst nichts anhaben kann, weshalb er für sie durchaus reizvoll ist.« »Liegt es wirklich an ihrer Unschuld, dass sie das so sehen?« »Vielleicht liegt es einfach daran, dass sie Kinder sind.« Er füllte ihre beiden Gläser noch einmal auf. »Und dass ihre Kindheit sich mit unserer Kindheit nicht vergleichen lässt.« »Oh nein, ganz sicher nicht. Roarke?« »Hm.« Sie wollte etwas sagen, überlegte es sich aber noch einmal anders und zeigte auf den Wandbildschirm. »Auch wenn es uns beiden sicher schwerfällt, bei der Beurteilung einer Familie objektiv zu sein, bin ich überzeugt davon, dass die Antworten auf meine Fragen dort zu finden sind. Jeder einzelne von ihnen, jedes Segment des Dreiecks, das einmal ein Viereck war - Mutter, Vater, Tochter.« Sie zeichnete ein Dreieck in die Luft. »Jeder von ihnen weiß etwas. Etwas, was sie miteinander verbindet und gleichzeitig voneinander trennt. Und ich werde jedes dieser drei Segmente einzeln untersuchen müssen, um herauszufinden, was es ist.«
18 Nach dem Abendessen begann Eve mit der Überprüfung aller Namen, die in den Adressbüchern verzeichnet waren, auf die sie bei der Durchsuchung des Penthouses gestoßen war. Während der Abgleich lief, ging sie nochmals sämtliche Termine der Familie durch. Schnittstellen und Parallelen, dachte sie erneut. Nur, dass dies kein Kreis, sondern ein Dreieck war. Gedankenverloren kritzelte sie ein Dreieck auf ihren Block, durch dessen Mitte sie eine horizontale Linie zog. »Wie würde man das hier nennen?« Roarke blickte über ihre Schulter. »Was du da hast, ist eine vom Mittelpunkt ausgehende Proportionale, ein Segment, dessen Endpunkte die Mittelpunkte zweier Seiten eines Dreiecks sind. Ein parallel zur dritten Seite verlaufendes Segment - das halb so lang wie die dritte Seite ist.« »Himmel, du bist echt ein Ober-Freak. Ich sehe es als eine Art Kasten innerhalb von einem Dreieck. Eine Verbindung, die einen anderen Ursprung hat.« »Das ist es natürlich ebenfalls.« »Huh.« Während er in die Küche schlenderte, stand sie auf, um ihre Tafel auf den neusten Stand zu bringen, doch bevor sie damit fertig war, signalisierte ihr Computer, dass er mit der ihm gestellten Aufgabe fertig war. »Ergebnisse auf den Bildschirm.« Sie wollte sich gerade wieder setzen, als Roarke mit einem Tablett in ihr Arbeitszimmer zurückkam. »Wir haben doch schon gegessen.« »Das haben wir.« Er stellte das Tablett auf ihrem Schreibtisch ab, nahm einen kleinen Teller herunter und hielt ihn ihr hin. »Und das hier ist ein selbst gemachter Karamellbrownie.«
Zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, dass ihr Herz bei diesen Worten schmolz. »Mann, du weißt, wie man Frauen glücklich macht.« »Du kannst dich später bei Summerset dafür bedanken. « »Uh-uh.« »Allerdings habe ich ihn darum gebeten, dass er Brow- nies backt. Weshalb du dich auch bei mir bedanken kannst.« Roarke hielt den Teller so, dass sie ihn nicht erreichen konnte, und klopfte mit dem Zeigefinger seiner freien Hand auf seinen Mund. Der Form halber rollte sie mit den Augen, beugte sich dann aber vor, küsste ihn flüchtig auf die Lippen und schnappte sich das Gebäck. »Aber ich will verdammt sein, wenn ich Summerset dafür auf seinen Schnabel küsse.« Sie biss in den Brownie und stöhnte wohlig auf. »Oh Gott, das ist wirklich ... gibt es davon noch mehr?« »Vielleicht.« »Ich teile mir den Brownie besser ein. Himmel, das ist das schokoladige Äquivalent zu Zeus.« Sie nahm einen zweiten Bissen und wandte sich gleichzeitig ihrem Bildschirm zu. »Verdammt! Verdammt, ich wusste es.« Er überflog die Daten auf dem Monitor. »Quella Harmon, weiblich, achtundfünfzig Jahre, wohnhaft in Taos, New Mexico. Zweimal verheiratet, zweimal geschieden, keine Kinder. Künstlerin.« »Was für eine Künstlerin?« Er reckte den Kopf und las weiter vor. »Hat sich auf Mode und Schmuck, Steine und Lederwaren spezialisiert. Lederwaren. Ah.« »Ah? Mehr nicht? Schließlich habe ich direkt ins Schwarze getroffen. Wenn das Rizin nicht daher stammt, küsse ich Summerset doch auf seinen grauenhaften Mund. Die Rizinuspflanze wächst wild in Wüstengegenden. Ich wette, dass es in New Mexico genug Wüstengegenden gibt. Und ich wette ebenfalls, dass eine dort lebende Künstlerin, die mit Leder arbeitet, das Öl aus den Samen benutzt.«
»Das kann natürlich sein, aber, um bei unseren mathematischen Ausdrücken zu bleiben, wo ist die Schnittstelle zwischen dieser Quella Harmon und deinen beiden Opfern?« »Sie ist Allika Straffos Tante mütterlicherseits«, antwortete Eve. »Das heißt, dass ich auf der Spur des Giftes bin. Computer, wann sind die Straffos allein oder zusammen in den letzten sechs Monaten, nein, im letzten Jahr, in New Mexico gewesen? Und wann war Quella Harmon während dieses Zeitraums in New York?« EINEN AUGENBLICK ... »Du denkst, dass sich einer von den Straffos eine Probe Rizin mit oder ohne das Wissen dieser Frau angeeignet, mit nach New York genommen und dann damit Foster vergiftet hat.« »Das denke ich auf jeden Fall.« »Also gut, sie hätten die Möglichkeit gehabt, sich die Mordwaffe zu besorgen, aber du hast noch immer kein Motiv. Und wenn es nicht innerhalb der letzten beiden Monate Kontakt zwischen einem der Straffos und dieser Harmon gab, hätte er stattgefunden, bevor Allika die Affäre mit Reed Williams hatte und bevor Foster das herausgefunden hat.« »Uh-huh. Ich denke eher an Parallelen.« AUFGABE AUSGEFÜHRT. OLIVER, ALLIKA UND RAYLEEN STRAFFO SIND AM SECHSUNDZWANZIGSTEN NOVEMBER LETZTEN JAHRES VON NEW YORK NACH TAOS, NEW MEXICO, GEFLOGEN. DIE RÜCKKEHR NACH NEW YORK ERFOLGTE AM DREISSIGSTEN ...« »Das war, bevor Allika den Aussagen zufolge was mit Williams hatte. Nicht?« »Ja.« Trotzdem hatte Eve ein grimmiges Lächeln aufgesetzt.
»Aber weshalb hätte sich Straffo - außer er hätte seherische Fähigkeiten - eine giftige Substanz besorgen sollen, bevor ihn seine Frau betrogen hat?« »Vielleicht war es damals ja noch keine giftige Substanz, sondern einfach eine Tüte Samen. Mir geht es um die Planung, um die Möglichkeit, die Gelegenheit. Und gleichzeitig um Neugier.« Während sie sprach, trat sie wieder vor die Tafel, machte weiter Fotos und Listen daran fest und schrieb ein paar neue Dinge auf. »Computer, ich brauche einen Ausdruck der Daten auf dem Monitor.« EINEN AUGENBLICK ... Während sie den Ausdruck holen ging, trat Roarke vor ihre Tafel und sah sie sich nachdenklich an. Es war klar, sie hatte eine Spur. Das konnte er an der Art, wie sie die Dinge an der Tafel arrangierte, sehen. Sie ordnete sie nach irgendeinem Muster an, das sich in ihrem Kopf gebildet hatte. Oder vielleicht folgte sie auch eher ihrem Gefühl. Ihr Hirn war gleichzeitig ein Labyrinth und linear, fließend, flexibel und geradezu erschreckend starr. Auch wenn er seine Funktionsweise wahrscheinlich nie wirklich verstehen würde, bewunderte er sie zutiefst. Und auch ihr Instinkt trog sie praktisch nie. Er trat einen Schritt zurück, atmete tief durch, konzentrierte sich erneut und versuchte zu sehen, in welche Richtung Eves Verstand oder Instinkt sie gehen ließ. Als er es erkannte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock. »Das kann ja wohl unmöglich dein Ernst sein.« »Dann siehst du es also auch?« »Ich sehe, was du da zusammenflickst, was für ein Muster es ergibt. Aber ich verstehe nicht, warum du in diese Richtung gehst.«
»Was? Glaubst du etwa nicht, dass ein zehnjähriges Mädchen eiskalt morden kann?«, fragte sie in beiläufigem Ton, während sie Harmons Foto und die Daten neben die Seite des Dreiecks hängte, das aus Oliver, Allika und Rayleen bestand. »Ich habe bereits mit acht gemordet«, erinnerte sie ihn. »Das war noch nicht mal ansatzweise Mord. Du hast dein eigenes Leben gerettet und einem Monster den Garaus gemacht. Aber jetzt sprichst du davon, dass ein Kind vorsätzlich und eiskalt die Ermordung zweier erwachsener Männer geplant und ausgeführt haben soll.« »Vielleicht sogar noch mehr.« Eve zog eine Aufnahme von Trevor Straffo aus der Akte und hängte sie in der Mitte des Dreiecks auf. »Mein Gott, Eve.« »Vielleicht ist er von selbst die Treppe runtergefallen. Könnte sein. Aber vielleicht hat auch jemand nachgeholfen. Vielleicht war es ein tragischer Unfall, in den seine Schwester verwickelt war.« Sie blickte in Rayleen Straffos veilchenblaue Augen. »Vielleicht waren die beiden einfach aufgeregt, sind zusammen losgerannt und dabei ist einer über den anderen oder über die eigenen Füße gestolpert. Was auch immer. Aber weißt du was?« Sie wandte sich ihm zu und sah ihn aus ihren reglosen Polizistinnen-Augen an. »Ich glaube nicht, dass es so war. Ich glaube, sie hat ihn geschubst. Ich glaube, sie hat ihn geweckt, als ihre Eltern schliefen, und hat ihn aus dem Bett gelockt. Pst, sei leise. Unten ist der Weihnachtsmann. Lass uns gucken, ob wir ihn sehen.« »Mein Gott«, murmelte Roarke erneut. »Und dann, als er am Rand der Treppe steht, versetzt sie ihm einen Stoß. Und schon gibt es keinen kleinen Bruder mehr in ihrem Revier. Keinen kleinen Bruder, der sich in den Mittelpunkt des Kreises drängt.« »Wie kannst du so was denken? Sie muss damals doch selber noch ein kleines Kind gewesen sein.«
»Sieben. Sie muss sieben gewesen sein. Fünf Jahre lang stand sie allein im Mittelpunkt, und dann musste sie plötzlich alles teilen. Vielleicht fand sie es erst noch aufregend, mit dem Baby zu spielen, die große Schwester zu sein. Aber dann wurde das langweilig, und ihr selber wurde nicht mal mehr annähernd die Aufmerksamkeit zuteil, die sie zuvor gewohnt gewesen war. Die kleine Prinzessin Rayleen. Deshalb musste sie was unternehmen, und das hat sie getan.« »Was du da sagst, ist regelrecht obszön.« »Das ist jeder Mord. Die Mutter weiß Bescheid«, fuhr Eve mit ruhiger Stimme fort. »Die Mutter weiß Bescheid. Es macht sie krank, sie ist völlig außer sich und versucht, dem Grauen auf verschiedenen Wegen zu entfliehen. Nur, dass ihr das einfach nicht gelingt.« »Du scheinst davon wirklich überzeugt zu sein.« »Ich habe es ihr angesehen. Ich weiß es ganz genau. Aber wissen und beweisen sind, vor allem in einem solchen Fall, zwei verschiedene Paar Schuhe.« Er musste darum kämpfen, nicht weiter instinktiv zu leugnen, dass Eves Vermutung vielleicht richtig war. »Also gut, selbst wenn wir davon ausgehen, dass deine Theorie zum Tod des kleinen Bruders vielleicht stimmt, weshalb hätte sie Foster und Williams töten sollen? Wegen der Affäre ihrer Mutter?« »Ich glaube nicht, dass die Affäre ihrer Mutter auch nur ansatzweise von Interesse für sie war. Sex ist nicht auf ihrem Radar. Da sie nicht direkt davon betroffen ist. Ich weiß nicht, warum sie es getan hat, und genau das ist mein Problem. Ich habe Peabody gebeten, sich noch einmal Fosters Unterlagen anzusehen. Vielleicht hat er sie ja beim Mogeln, beim Stehlen oder sonst was erwischt.« Aber auch das passte irgendwie nicht, dachte sie verärgert. Es haute irgendwie nicht hin. »Wir haben in ein paar Schülerspinden Drogen sichergestellt. Vielleicht dealt sie ja oder wirft die Sachen selber ein. Falls Foster irgendeine Bedrohung für
sie war oder sie den Eindruck hatte, dass er ihre perfekte Welt aus den Angeln heben könnte, hat sie ihn vielleicht vorsorglich umgebracht.« Sie stapfte vor der Tafel auf und ab. »Ich brauche Miras Einschätzung. Für mich passt die Kleine genau in das Profil. Aber das muss Mira noch bestätigen. Ich brauche ihre Bestätigung, dann muss ich Allika morgen irgendwie allein erwischen und den Schutzschild durchbrechen, den sie um sich herum errichtet hat. Ich brauche mehr, als ich bisher habe, denn wenn ich nicht völlig spinne, hat dieses Kind schon in den ersten Jahren seines Lebens drei Menschen umgebracht. Was, wenn man sie nicht stoppt, sicher erst der Anfang ist.« »Woher sollte sie wissen, was Rizin ist, und vor allem, wie man es benutzt?« »Sie ist clever. Clever genug, um zu beobachten, Schlüsse daraus zu ziehen und im Internet nachzusehen.« »Und das Anästhetikum, das bei Williams verwendet wurde? Wie soll sie daran gekommen sein?« »Sie arbeitet freiwillig bei einer Organisation mit Namen Von den Kids. Und weißt du, was die machen?« Sie tippte auf Rayleens vollen Terminkalender, der zeigte, dass sie immer samstags bei der Gruppe war. »Sie besuchen Kinder- und Altersheime und vertreiben den Kranken und Siechen dort ein wenig die Zeit. Ich wette, dort konnte sie sich alles besorgen, was sie brauchte. Denn wer achtet schon besonders auf ein süßes, hilfsbereites, kleines Mädchen, wenn es sich einmal in ein Schwesternzimmer verirrt? Ich muss ihr Tagebuch finden.« »Bist du sicher, dass sie eins besitzt?« »Es war ein kleiner Fehler, dass sie mir gegenüber ihr Tagebuch erwähnt hat, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das ist mir sofort aufgefallen. Dass sie immer nur von sich geredet hat. Ich habe gesehen, ich habe den Toten gefunden, ich denke, ich weiß. Nur war mir nicht sofort klar, was das zu bedeuten hat.«
Sie presste grimmig die Lippen aufeinander. »Aber ihr anscheinend auch nicht. Woher hätte sie auch wissen sollen, dass ich irgendwann in ihrem Zimmer schnüffeln würde? Es steht alles in ihrem Tagebuch, davon bin ich überzeugt. Denn wer kann ihr wegen dieser Taten anderes auf die Schulter klopfen als sie selbst? Und das kann sie nur tun, indem sie es notiert. Nur hat sie das Tagebuch rechtzeitig vor der Durchsuchung aus dem Haus geschafft.« Wieder trat sie vor die Tafel, nahm ein paar Zettel ab, mischte sie und ordnete sie neu. »Sie hatte jede Menge Zeit, um das Ding rauszuschmuggeln, während ihr Daddy die Anwaltsmuskeln spielen lassen hat. Verdammt, vielleicht hat sie es sogar zerstört. Sie wäre schlau genug, um es zu vernichten, damit man ihr nichts beweisen kann. Vielleicht muss ich erst einmal beweisen, dass es dieses Tagebuch überhaupt jemals gegeben hat.« »Du scheinst das alles ziemlich gelassen zu sehen«, bemerkte Roarke. »Das muss ich auch. Denn schließlich habe ich ein ums andere Mal die Augen zugemacht. Ich wollte es einfach nicht sehen. Himmel, wer würde das schon wollen? Ich wollte nicht dieses Kind mit den hübschen Locken anschauen und eine Mörderin dahinter sehen. Aber ich habe sie gesehen. Und sehe sie immer noch. Wenn ich dafür sorgen will, dass die Toten Gerechtigkeit erfahren, brauche ich sämtliche Details, damit ich dem Staatsanwalt das Paket mit einer hübschen Schleife versehen präsentieren kann. Weil schließlich niemand ein süßes Schulmädchen wegen mehrfachen vorsätzlichen Mordes drankriegen will.« »Wenn du tatsächlich recht hast. Was, wenn es weitere Opfer gab?« Eve atmete hörbar aus und rief Rayleens Foto auf dem Bildschirm des Computers auf. »Ja, das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen. Was, wenn es weitere Opfer gab? Kranke Kinder oder Senioren? Hat sie auch eins oder einen von ihnen
umgebracht? Sie hat ständig irgendwelche Termine. Mit wie vielen Menschen hat sie jeden Tag, jede Woche, jeden Monat zu tun? Gab es noch andere Unfälle, andere Todesfälle, andere ungelöste Morde? Ich werde es herausfinden.« »Sie muss sehr, sehr krank sein.« »Ich weiß nicht, was sie ist, aber ich weiß, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, damit sie für die Taten bezahlt.« Sie sah sein Gesicht und alles in ihr spannte sich an. »Du denkst, dass ich Mitleid mit ihr haben sollte?« »Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich bin mir nicht sicher, was ich denken soll, aber Tatsache ist, dass du nicht nur glaubst, sondern auch sehr überzeugende Argumente dafür hast, dass dieses Kind kaltblütig mehrere Menschen ermordet hat.« Er trat wieder vor das Dreieck, vor die Familiengalerie. »Hast du dir schon überlegt, dass es vielleicht einer oder ihre beiden Eltern waren, die die Morde begangen haben, und dass sie das irgendwoher weiß? Dass es das ist, was du spürst?« »Ich werde die Möglichkeit nicht ausschließen.« »Eve.« Er wandte sich ihr zu und sein durchdringender Blick bildete einen deutlichen Kontrast zu der sanften Zärtlichkeit, mit der er ihr über die Haare strich. »Ich muss dich einfach fragen: Ist irgendwas in dir, das will, dass sie es ist?« »Nein. Nein. Es ist etwas in mir, das nicht will, dass sie es ist. Deshalb habe ich nicht genau genug geguckt. Aber heute, als ich mit ihr in diesem perfekten Klein- Mädchen-Zimmer stand, konnte ich nicht länger wegsehen. Ich konnte die Augen nicht länger verschließen. Ich werde kein Mitleid mit ihr haben, Roarke. Aber es macht mich krank.« »Also gut, dann ...« Er legte seine Braue an ihre Stirn. »Also gut. Was kann ich tun?« »Kannst du wie ein mordendes zehnjähriges Mädchen denken?« »Das habe ich noch nie gemacht, aber ich kann es versuchen. «
»Wenn du ein Tagebuch geführt hättest, das du nicht zerstören willst, von dem du aber wüsstest, dass du es nicht im Haus behalten kannst, wo würdest du es hinbringen?« Wieder lief sie vor der Tafel auf und ab. »Sie hat Ballettstunden, hat also vielleicht einen Spind dort in der Umkleidekabine, oder vielleicht hat sie ein Versteck in einem der Kinder- oder Altersheime, die sie besucht. Die Schule wäre zu riskant, so unvorsichtig wäre sie ganz sicher nicht. Vielleicht ...« »Gibt es jemanden, mit dem sie wirklich dicke ist?« »Mit dem sie was? Ich halte sie für eine Mörderin, aber ich glaube nicht, dass sie schon was mit Jungen hat.« »Freundin, Eve. Ihre beste Freundin.« »Oh.« Eve kniff die Augen zusammen. »Wahrscheinlich Melodie Branch. Das ist das Mädchen, mit dem sie zusammen war, als sie Foster gefunden hat. Sie hat regelmäßig Verabredungen mit ihr. Wäre durchaus eine Möglichkeit. Ich werde Peabody anrufen und ihr sagen, dass sie morgen ihren freien Tag vergessen kann. Weil wir nämlich erst Melodie und dann Allika einen Besuch abstatten werden. Ich muss unbedingt mit Mira sprechen.« »Eve, es ist inzwischen kurz vor elf.« »Na und? Scheiße«, murmelte sie, als er einfach leicht die Brauen in die Höhe zog. »Okay, damit warte ich bis morgen früh. Ist wahrscheinlich auch besser. Denn dadurch habe ich Zeit, alles aufzuschreiben und noch einmal durchzugehen. Ich werde ihre und auch Whitneys Unterstützung brauchen, wenn ich die Kleine auf die Wache holen und dort offiziell verhören will.« Sie setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch, um mit der Arbeit fortzufahren, hob dann aber noch einmal den Kopf. »Also ... ich nehme an, ich sollte fragen, damit es nicht länger in der Luft hängt. Hat Magdalena dich noch einmal kontaktiert, nachdem du nicht an dein Handy gegangen bist?« »Nein.«
»Hast du dir schon überlegt, wie du damit - mit ihr - womit auch immer umgehen wirst, wenn sie es tut?« »Damit werde ich mich auseinandersetzen, falls sie mich noch einmal kontaktiert. Sie wird uns keine Scherereien mehr machen, Eve. Das verspreche ich.« »Gut. Tja, ich werde sicher noch ein paar Stunden beschäftigt sein.« »Ich muss selbst noch ein paar Dinge erledigen.« »Bleibt es bei unserer Verabredung für morgen? Schmalzige Herzen und Blumen, gefolgt von wildem Sex?« »Ich dachte, dass >einfallsreicher< Sex in meinem Terminkalender steht. Aber dann ändere ich das eben noch.« »Warum kann er nicht beides sein?« »Wie es sich für den Valentinstag gehört...« Er sah sie aus blitzenden blauen Augen an und ging in sein eigenes Büro. Obwohl sie den Albtraum erwartet hatte, war sie nicht dafür gewappnet, sich so, wie sie einmal gewesen war - ein kleines, dünnes Mädchen -, in Rayleens pink-weißem Spielzimmer stehen zu sehen. Sie mochte die Puppen nicht, mochte nicht, dass sie sie aus toten Augen anstarrten, gleichzeitig aber den Eindruck machten, als würden sie sie beobachten. Aber es war so herrlich warm und die Luft duftete so schön. Das Bett sah wie etwas aus dem Märchen aus, das sie einmal im Fernsehen gesehen hatte, als niemand da gewesen war, um es ihr zu verbieten. Das Bett einer Prinzessin. Nichts Schlimmes würde je in einem solchen Bett geschehen. Niemand käme im Dunkeln herein, um sich auf sie zu legen und ihr wehzutun. Nicht in diesem wunderschönen Bett. Sie lief darauf zu, wagte aber nicht, es zu berühren. Sie streckte eine Hand nach der hübschen Decke aus, zog sie dann aber wieder zurück. Wahrscheinlich würde er sie schlagen, wenn sie
es berührte. Wahrscheinlich würde er mit seinen Fäusten auf sie eindreschen, wenn sie etwas berührte, was so herrlich war. »Los. Du darfst es anfassen. Du darfst dich sogar drauflegen.« Sie wirbelte herum. Es war nicht er, sondern ein kleines Mädchen wie sie selbst. Und gleichzeitig vollkommen anders. Ihre Haare schimmerten, ihr hübsches, weiches Gesicht wies keine Schwellungen und blauen Flecken auf, und sie lächelte. »Dies ist mein Zimmer.« »Dann bist du die Prinzessin«, murmelte Eve. Das Lächeln des Mädchens wurde breiter. »Richtig. Ich bin die Prinzessin. Alles in diesem Zimmer gehört mir. Wenn ich sage, dass du etwas berühren kannst, dann kannst du es. Wenn ich das nicht sage und du fasst trotzdem etwas an, kann ich dich dafür in den Kerker werfen lassen. Wo es immer dunkel ist.« Eve riss ihre Hände zurück. »Ich habe nichts ange- fasst.« »Du musst erst fragen, dann werde ich dir die Erlaubnis geben. Oder vielleicht auch nicht.« Das hübsche kleine Mädchen trat an einen Tisch mit einem rosa-weißen Teeservice. »Ich finde, wir sollten erst einmal Kakao trinken. Meine Diener machen ihn mir, wann immer ich will. Magst du heißen Kakao?« »Ich weiß nicht. Ich habe noch nie welchen getrunken. Schmeckt er gut?« Rayleen schenkte ihr aus der Kanne ein. »Mordsmäßig.« Dann lachte sie und lachte. »Du musst ihn trinken, wenn ich dir das sage. Weil du in meinem Zimmer bist und weil ich die Prinzessin bin. Und jetzt sage ich, trink deinen Kakao.« Gehorsam - sie hatte gelernt, immer gehorsam zu sein - trat Eve an den Tisch, nahm eine der pinkfarbenen Tassen in die Hand und nippte vorsichtig daran. »Er ist... er ist wirklich lecker. So etwas habe ich noch nie getrunken.« Gierig trank sie aus und hielt der Prinzessin die Tasse hin. »Könnte ich wohl noch was davon haben?« »Also gut.« Rayleens Lächeln wurde kalt wie der Blick aus ihren veilchenblauen Augen. So kalt, dass sich Eves Innerstes
zusammenzog. Und als Rayleen ihr nachschenkte, floss aus der Kanne leuchtend rotes Blut. Mit einem unterdrückten Schrei ließ Eve die Tasse fallen, sodass die rote Flüssigkeit eine Pfütze auf dem weißen Teppich bildete. »Sieh nur, was du gemacht hast! Dafür wirst du bezahlen.« Rayleen stellte die Kanne auf den Tisch und klatschte zweimal in die Hände. Daraufhin kam er herein, lächelte sein kaltes Lächeln und sah sie aus seinen kalten Augen an. »Nein. Bitte. Das habe ich nicht absichtlich gemacht. Ich werde alles wieder sauber machen. Bitte. Bitte nicht.« »Ich habe dich gesucht, kleines Mädchen.« Dann schlug ihr Vater ihr so kraftvoll ins Gesicht, dass sie auf den Boden fiel, bevor er sich auf sie warf. Sie wehrte sich, sie bettelte und schrie, als ihr dünner Arm wie ein Bleistift brach. Während Rayleen lächelnd danebenstand und genüsslich aus ihrer eigenen Tasse trank. »Es gibt nur einen Weg, um ihn zu stoppen«, meinte sie, als er anfing, sich in Eve hineinzurammen und sie dabei fast zerriss. »Nur, wenn du ihn tötest, wird es aufhören. Also töte ihn. Töte ihn. Töte ihn.« Rayleens Stimme hatte vor Erregung einen schrillen Klang. »Töte ihn!« Und mit einem Mal hielt Eve ein Messer in der Hand und brachte ihren Vater um. »Pst. Pst. Es ist gut, Eve. Es war nur ein Traum. Du hast nur geträumt. Du musst jetzt aufwachen. Komm zu mir zurück. Ich halte dich fest.« »Es war Blut. Pink und weiß und rot. Überall war Blut.« »Jetzt ist es vorbei. Du bist wieder wach und bist bei mir.« Diese Albträume zerrissen ihm das Herz nicht weniger als ihr. Er wiegte sie zärtlich hin und her, küsste sie auf das Haar und auf
die Schläfen, bis sie aufhörte zu zittern, und als sie ihr Gesicht an seinem Hals vergrub, spürte er die Feuchtigkeit des Tränenstroms, der ihr über die Wangen rann. »Es tut mir leid.« »Nein, Baby. Nicht.« »Projiziere ich, Roarke? Ist das vielleicht alles? Sehe ich dieses Kind und sehe durch sie alles, was ich niemals hatte, was ich nie empfunden habe, was ich niemals kannte? Ist es irgendeine Form von Eifersucht? Ist das alles nur eine verdrehte Form von Neid? Vielleicht auch gegenüber Magdalena?« Er schob sie ein wenig von sich fort und machte Licht, damit sie sein Gesicht und seine Augen sehen konnte, als er sprach. »Nein, das ist es nicht. Das ist völlig ausgeschlossen. Weil du diese Dinge ganz einfach nicht in dir hast. Wenn du wegen Magdalena unglücklich gewesen bist, dann war das meine Schuld. Du bist immer vollkommen direkt, meine geliebte Eve. Du siehst die Dinge immer, wie sie sind, selbst wenn du das nicht willst. Und du siehst dir auch die Dinge an, von denen sich andere abwenden.« »Sie hätten mich für das, was ich ihm angetan habe, ganz sicher eingesperrt.« »Oh nein. Und wenn sie dich auch nur für eine Stunde oder fünf Minuten dafür eingesperrt hätten, hätte nicht mal mehr der liebe Gott Mitleid mit ihnen gehabt.« Er wischte ihre Tränen mit den Daumen weg. »Das weiß die Polizistin in dir ganz genau.« »Vielleicht. Ja. Meistens.« Seufzend ließ sie ihren Kopf an seine Schulter fallen. »Danke.« »Das gehört zum Service. Kannst du jetzt wieder schlafen?« »Ja.« Er legte sich neben sie, hielt sie weiter fest im Arm und machte die Lichter wieder aus. Wie die meisten Albträume hatte auch dieser sie erschöpft. Aber sie verdrängte ihre Müdigkeit, sodass sie um acht
angezogen, gestärkt und für die nächsten Arbeitsschritte bereit war. »Wie willst du die Sache angehen?«, fragte Roarke. »Ich gehe davon aus, dass sich sowohl Mira als auch Whitney bei mir melden, sobald sie den Bericht gelesen haben, den ich ihnen letzte Nacht noch geschickt habe. Bis dahin fahre ich erst einmal zu Melodie. Mit ein bisschen Glück gibt es ein Tagebuch und sie bewahrt es für ihre Freundin auf.« Sie setzte sich auf die Lehne des Sofas in der Sitzecke des Schlafzimmers und trank ihre zweite Tasse Kaffee. »Danach werde ich mein Glück bei Allika versuchen. Straffo hat heute Morgen eine Verabredung zum Golf - Abschlag ist um neun, dann isst er noch mit Freunden in seinem Club. Die Kleine hat um neun einen Termin bei den Gehirnjoggern, gefolgt von einem Besuch in einem Museum. Allika soll sie und das Au-pair um ein Uhr treffen und Rayleen dann übernehmen, denn Caro hat den Rest des Tages frei. Mutter und Tochter wollen in einem Lokal mit Namen Zoology zu Mittag essen und haben anschließend einen gemeinsamen Termin in einem Schönheitssalon.« »Ein ganz schön ausgefüllter Tag.« »Ja, sie füllen alle ihre Tage derart aus. Ich hoffe, dass ich Allika heute Morgen allein daheim erwische. Abhängig vom Ergebnis unseres Gesprächs hole ich danach entweder die Kleine ab oder spreche erst noch mit Mira und Whitney. Es wird bestimmt nicht leicht, die Kleine zu vernehmen. Ihr Vater wird versuchen, mich daran zu hindern, weil sie schließlich noch minderjährig ist. Deshalb brauche ich mehr als eine bloße Theorie und irgendwelche Indizien, wenn ich ihn aushebeln will.« »Dann hast du also auch einen ausgefüllten Tag.« »Sex und ein gemeinsames Abendessen kriege ich auf alle Fälle trotzdem hin.« Er lachte. »Die Reihenfolge sagt mir durchaus zu. Hier, nimm erst mal das hier.«
Er trat vor seinen Schrank, holte eine in Valentinsrot gewickelte, mit einer weißen Seidenschleife verzierte Schachtel daraus hervor und drückte sie ihr in die Hand. »Oh, Mann.« »Ich weiß, ja. Ein Geschenk.« Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. »Wirklich lästig. Aber mach es trotzdem auf.« Sie klappte den Deckel auf und fand eine weitere, goldfarbene Schachtel, in der auf einem roten Samtbett ein längliches, schlankes Fläschchen lag. Sie hatte mit Schmuck gerechnet, weil er sie mit Klunkern überhäufte. Da sie ihn kannte, waren die Steine, die das Fläschchen verzierten, sicher nicht aus Glas. Wer kaufte eine mit Diamanten und Rubinen reich geschmückte Flasche, wenn nicht Roarke? Sie nahm den Flakon heraus und betrachtete die goldfarbene Flüssigkeit. »Ist das vielleicht ein Zaubertrank?« »Kann sein. Auf jeden Fall ist es Parfüm. Und zwar speziell für dich kreiert - passend zu deiner Haut, deinem Stil, deinem Geschmack. Hier.« Er nahm ihr das Fläschchen aus der Hand, zog den Gummistopfen heraus und tupfte ihr etwas auf das Handgelenk. »Sag mir, was du riechst.« Sie schnupperte, legte die Stirn in Falten, schnupperte erneut. Es war subtil und vor allem nicht süß. Anders als gewöhnliche Parfüms, die sie als Blumensaft oder Komm- nagel- mich- andie- nächste- Wand- Wasser bezeichnete. »Und?« »Riecht gut. Ein weiterer Beweis dafür, dass du mich kennst.« Um ihm eine Freude zu machen, gab sie etwas von dem Duftwasser auf ihren Hals. »Du weißt, dass der Flakon vollkommen übertrieben ist, nicht wahr?« »Natürlich. Die Diamanten stammen aus dem Raub in der Siebenundvierzigsten.« »Ach ja?« Der Gedanke amüsierte und erfreute sie. »Das ist echt cool.« Sie stellte die Flasche auf der Kommode ab, denn die
war für Galahad zu hoch, so würde das kostbare Behältnis nicht von seinem beachtlichen Gewicht erdrückt. Dann kehrte sie zu Roarke zurück, reckte ihm ihren Hals entgegen, damit er schnuppern konnte, und wollte von ihm wissen: »Und?« »Typisch du.« Er zog ihr Gesicht zu einem Kuss herab. »Du Liebe meines Lebens.« »Heb dir die schmalzigen Gespräche für heute Abend auf. Ich muss allmählich los. Peabody wird jede Minute hier sein, wenn sie keinen Tritt in ihren Allerwertesten von mir verpasst bekommen will.« »Sagen wir, Abendessen um acht, außer, wenn die Arbeit dazwischenkommt?« »Okay. Ich werde versuchen, alles, was ich heute machen kann, bis halb acht zu erledigen.« Obwohl sie Eves Bericht anweisungsgemäß gelesen hatte, sträubte sich Peabody noch immer gegen den Gedanken an ein, wie sie es nannte, Killer-Kid. »Okay, ich weiß, in manchen Schulen werden Lehrer oder Schüler von Jugendlichen bedroht oder sogar attackiert. Mit Messern, Fäusten oder, verdammt, irgendwelchen Küchenutensilien. Aber das sind Ausnahmesituationen und sie betreffen meistens irgendwelche hartgesottene Kids aus schwierigen Verhältnissen.« »Dann ist also Rayleen, nur weil sie eine hübsche Schuluniform trägt und in einem Penthouse lebt, gegen so etwas immun.« »Nein, aber sie hat einen anderen Hintergrund. Und die Taten, von denen ich gesprochen habe, werden aus Rache oder aus spontaner, angeborener oder anerzogener Gewaltbereitschaft heraus verübt. In diesem Fall aber wurden die Morde ohne erkennbares Motiv sorgfältig geplant und kaltblütig ausgeführt.« »Das Motiv werden wir noch finden.« »Dallas, ich habe mir Fosters und Williams' Unterlagen angesehen. Es gab eine Handvoll Disziplinarmaßnahmen oder
Elterngespräche wegen schlechten Betragens, abfallender Leistungen, chronischen Zu-spät-Kommens und solcher Dinge. Wobei Rayleen Straffo nie betroffen war. Sie ist die Klassenbeste, hat überall super Noten und verhält sich immer vorbildlich.« »Vielleicht hat sie ja irgendwas an diesen Beurteilungen gedreht.« »Sie haben sie wirklich auf dem Kieker.« Peabody zuckte zusammen. »So habe ich es nicht gemeint. Nur kann ich Sie in dieser Sache einfach nicht verstehen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie es war. Es fühlt sich für mich einfach nicht so an.« »Lassen Sie uns die Gespräche führen. Vielleicht ändert ja dann eine von uns ihre Meinung«, meinte Eve. Eve hielt vor dem Haus der Branchs und im selben Augenblick schrillte das Autotelefon. »Dallas.« »Eve, ich habe Ihren Bericht gelesen.« Miras gerunzelte Stirn machte überdeutlich, wie besorgt sie war. »Wir müssen darüber reden. Und zwar ausführlich.« »Das habe ich mir schon gedacht. Aber jetzt passt es gerade nicht. Weil ich nämlich gerade ein Gespräch mit einer Zeugin führen will.« »Nicht mit Rayleen Straffo, hoffe ich.« »Dieses Mal nicht, nein. Ich kann Sie und den Commander der sicher ebenfalls der Meinung ist, dass wir darüber reden müssen - heute Nachmittag treffen, wenn Ihnen das passt.« »In Ordnung. Ich werde den Commander sofort anrufen und einen Termin mit ihm vereinbaren. Es wäre mir lieb, wenn Sie vor unserem Gespräch nicht noch einmal mit Rayleen Straffo sprechen würden.« »Sie ist heute sowieso schon ausgebucht. Mein Gespräch mit ihr kann warten. Sie klingen nicht, als ob Sie in dieser Sache meiner Meinung wären.«
»Darüber werden wir uns nachher unterhalten. Ich habe gewisse Vorbehalte, ja. Seien Sie vorsichtig, Eve.« »Ich werde mich bemühen.« Nach Ende des Gesprächs sagte Eve zu Peabody: »Klingt, als ob Mira in dieser Angelegenheit auf Ihrer Seite ist.« »Es geht hier nicht um Seiten, Dallas«, antwortete die. »Nein. Sie haben recht.« Aber es fühlte sich so an, dachte Eve, als sie aus dem Wagen stieg und das Haus in der Absicht betrat, ein junges Mädchen derart einzuschüchtern, dass es seine beste Freundin verriet.
19 Angela Miles-Branch kam persönlich an die Tür. In ihrer Tweedhose, dem cremefarbenen Angorarolli und den weichen, flachen Lederstiefeln, die denselben Ton wie ihr Pullover hatten, wirkte sie lässig-elegant. Sie führte Eve und Peabody in ein ebenso lässig-elegantes, stromlinienförmiges Wohnzimmer und bot ihnen zwei Plätze auf dem Sofa an. »Ich nehme an, es geht um die Geschehnisse an der Sarah Child Akademie. Melodie ist in ihrem Zimmer. Sie spricht augenblicklich nicht mit mir.« »Oh?« »Ich habe sie dort abgemeldet. Ich schicke meine Tochter nicht auf eine Schule, an der zwei Menschen ermordet worden sind. Jetzt ist sie beleidigt, weil ich ihre Sicht der Dinge nicht in die Rechnung einbezogen habe, wie, dass die besten Freundinnen des ganzen Universums weiter dorthin gehen und dass sie an keine andere Schule will, wo sie keinen Menschen kennt und an der sie mega- uncoole Uniformen tragen muss.« Angela ließ sich ermattet in einen Sessel sinken. »Wir können uns bei diesem Thema einfach nicht einigen, aber da ich während der nächsten Jahre für ihr Leben verantwortlich bin, gewinne ich.« Sie stieß einen Seufzer aus und schob sich die hellen Haare aus der Stirn. »Es ist schrecklich, zehn zu sein und zu denken, dass die gesamte bisherige eigene Welt um einen herum zusammengebrochen ist. Deshalb gebe ich ihr ein bisschen Zeit und Raum, um zu schmollen und wütend auf mich zu sein.« »Klingt, als täten Sie genau das, was Ihrer Meinung nach das Beste für sie ist«, bemerkte Peabody. »Was Kinder nicht immer verstehen. Und weswegen sie nicht selbst für sich verantwortlich sind.«
»Danke. Außer mir gibt es noch andere Eltern, die ihre Kinder bereits abgemeldet haben oder es ernsthaft in Erwägung ziehen. Was Melodie ebenfalls nicht versteht oder verstehen will. Ich hoffe, dass wenigstens ein paar der Kinder, die sie kennt und mag, ebenfalls an der West Side Akademie landen werden, an der sie seit gestern angemeldet ist. Bis dahin ...« Mit einem hilflosen Schulterzucken brach sie ab. »Hatte Melodie nach den Vorfällen Kontakt zu irgendwelchen Freundinnen von der Sarah Child Akademie?« »Ja, natürlich. Wir alle versuchen, dafür zu sorgen, dass der Alltag unserer Kinder möglichst erhalten bleibt. Auch wenn das nicht gerade einfach ist.« »Wie sieht es mit Rayleen Straffo aus?« »Gerade den Kontakt zu ihr versuchen wir möglichst aufrechtzuerhalten. Die beiden sind gute Freundinnen und stehen einander jetzt besonders nahe, denn schließlich haben sie diese schreckliche Erfahrung zusammen gemacht. Rayleen war vorgestern wie jeden zweiten Donnerstag zum Spielen hier. Allika und ich haben das Gefühl, dass es den beiden guttut, wenn sie sich auch weiter regelmäßig sehen. Weshalb Melodie gestern auch zum Abendessen bei den Straffos war.« »Ist es normal, dass sich die beiden an zwei aufeinander folgenden Tagen sehen?« »Die ganze Situation ist nicht normal. Ehrlich gesagt war ich erleichtert, meine Tochter ein paar Stunden los zu sein, nachdem wir beide diesen Riesenstreit hatten, weil sie ab Montag in die neue Schule gehen soll.« »Wir würden gerne mit ihr reden.« »Ich weiß, dass Sie Ihre Arbeit machen müssen, Lieutenant, und glauben Sie mir, ich will auf jeden Fall, dass Sie das tun. Nur möchte ich nicht, dass sich Melodie noch einmal wegen dieser Sache aufregt. Ich will nicht, dass sie die Einzelheiten dessen, was Craig Foster zugestoßen ist, noch einmal durchkauen muss. Sie hat furchtbare Albträume deshalb.«
»Wir werden versuchen, dieses Thema auszusparen. Es geht uns um etwas anderes.« »In Ordnung. Ich werde sie holen. Auch wenn es Ihnen bei der schlechten Laune, die sie augenblicklich hat, passieren kann, dass sie kein Wort sagt.« Angela stand auf, ging in den Flur hinaus, und einen Moment später drangen gedämpfte Stimmen durch die halb offene Tür. Obwohl der Ton der Mutter Ungeduld und der des Kindes beleidigten Trotz verriet, führte die grimmige Angela einen Moment später ein ebenso grimmiges kleines Mädchen in den Raum. »Setz dich, Melodie. Und falls du gegenüber Lieutenant Dallas und Detective Peabody ebenso unhöflich wie mir gegenüber bist, kannst du dich darauf gefasst machen, dass du während der kommenden zwei Wochen nicht mehr zum Spielen gehen wirst.« Melodie zuckte mit den Schultern und starrte vor sich auf den Boden, als sie sich in einen Sessel fallen ließ. »Es ist nicht meine Schuld, dass Mr Foster und Mr Williams nicht mehr leben. Aber ich werde dafür bestraft.« »Wir werden nicht noch mal mit diesem Thema anfangen«, erklärte Angela erschöpft. Eve beschloss, nicht lange um den heißen Brei herumzureden, und blickte das Mädchen an. »Melodie«, erklärte sie. »Ich brauche Rayleens Tagebuch.« Das Mädchen riss schockiert die Augen auf, bevor es wieder vor sich auf den Boden sah. »Tut mir leid. Ich verstehe nicht.« »Und ob du mich verstehst. Rayleen hat dir ihr Tagebuch gegeben. Ich brauche es.« »Ich habe Rayleens Tagebuch nicht.« »Aber sie hat ein Tagebuch.« »Sie ... ich weiß nicht. Tagebücher sind etwas Privates.« »Hast du auch eins?« »Ja. Aber das ist privat.« Sie sah ihre Mutter flehend an.
»Ja, das ist es.« Angela legte der Tochter die Hand auf die Schulter und nahm auf der Sessellehne Platz. Auch wenn sie eben noch gestritten hatten, bildeten sie jetzt eine gemeinsame Front. »Melodie weiß, dass sie alles, was sie loswerden möchte, in ihrem Tagebuch notieren kann und dass niemand es jemals lesen wird. Ich verstehe nicht, was Ihre Fragen sollen.« »Privatsphäre ist etwas Wichtiges«, stimmte Eve ihr zu und wandte sich wieder an das Kind. »Wobei Freundschaft mindestens genauso wichtig ist. Ich schätze, dass gute Freundinnen sich gegenseitig erzählen, was in ihren Tagebüchern steht. Hast du Rayleens Tagebuch gelesen?« »Nein, sie ... hm. Vielleicht hat sie gar kein Tagebuch.« Eve ging den nächsten logischen Schritt. »Sie hat es dir am Donnerstag gegeben, als sie zu dir kam. Was sollst du damit machen?« »Sie war nur zum Spielen hier, das war alles. Um ein bisschen mit mir rumzuhängen. Wir können nicht zur Schule gehen, weil Mr Williams dort im Schwimmbecken ertrunken ist.« In Melodies Augen stiegen Tränen auf. »Alles ist total ätzend, und jetzt werden Ray und ich nicht mal mehr in dieselbe Schule gehen. Aber sie ist meine beste Freundin. Und beste Freundinnen halten immer zusammen.« »Weißt du, was ein Durchsuchungsbefehl ist, Melodie? Ich kann mir einen besorgen«, fuhr Eve entschlossen fort, als das Mädchen einfach mit den Schultern zuckte und sie gleichzeitig mit bösen Blicken maß. »Dann darf ich dein Zimmer durchsuchen. Was ich aber gar nicht will.« »Lieutenant. Mein Gott, was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Angela schockiert. »Ich brauche das Tagebuch, Melodie. Und wenn es sein muss, stelle ich deshalb dein Zimmer auf den Kopf.« »Sie werden es nicht finden. Sie werden es nicht finden! Weil Ray ...« Melodie brach ab, umklammerte die Hand der Mutter
und fuhr schluchzend fort: »Ich habe es versprochen. Ich habe es versprochen, Mom. Und Versprechen muss man halten.« »Ja. Schon gut, Baby.« Sie nahm ihre Tochter in den Arm. »Ist Rayleen in Schwierigkeiten?« »Um das sagen zu können, brauche ich das Tagebuch. Es ist in Melodies eigenem Interesse, dass sie es mir gibt.« »Warten Sie. Einen Moment.« Als Angela die Augen schloss, war ihr deutlich anzusehen, wie sie mit sich rang. Dann umfasste sie Melodies Gesicht, zwang sie sanft, sie anzusehen, und sagte in ruhigem Ton: »Du musst der Polizei die Wahrheit sagen, Schatz. Es ist wirklich wichtig.« »Aber ich habe es versprochen!« »Die Wahrheit ist genauso wichtig wie ein Versprechen. Sag es mir, Schatz, hast du Rayleens Tagebuch?« »Nein! Nein! Ich habe es ihr gestern Abend zurückgegeben. Ich hatte es nur ganz kurz und habe nicht darin gelesen. Es ist abgeschlossen, aber ich hätte auch nicht darin gelesen, wenn es offen gewesen wäre. Das habe ich ihr geschworen.« »Okay, Baby, okay. Sie hat es nicht«, wandte sich Angela erneut an Eve. »Ich werde nicht darauf bestehen, dass Sie sich vorher einen Durchsuchungsbefehl besorgen, falls Sie denken, dass Sie danach gucken sollten. Aber ich sage Ihnen, wenn sie sagt, dass sie es nicht mehr hat, hat sie es nicht mehr.« »Wir brauchen uns nicht extra umzusehen. Melodie, was hat Rayleen zu dir gesagt, als sie dir das Tagebuch gegeben hat?« »Sie hat gesagt, die Polizei würde zu ihr nach Hause kommen und sich alle ihre Sachen ansehen.« »Oh, mein Gott«, murmelte Angela. »Sie haben die Wohnung der Straffos durchsucht? Das wusste ich ja gar nicht. Ich habe Melodie zu ihnen gehen lassen. Ich ...« »Melodie ist nichts passiert und ihr wird auch nichts passieren«, fiel ihr Eve ins Wort. »Sprich weiter, Melodie.« »Sie hat mich nur darum gebeten, es für sie aufzubewahren und niemandem zu sagen, dass sie es mir gegeben hat. Es ist
etwas Privates, es ist ein Tagebuch. Und es wäre nicht richtig, wenn irgendwelche Fremden ihre privaten Gedanken lesen würden. Mir konnte sie vertrauen, weil ich ihre beste Freundin bin. Gestern Abend habe ich es ihr zurückgebracht, genau, wie sie es wollte. Aber jetzt wird sie wütend auf mich sein, weil ich es doch erzählt habe.« »Nein, das wird sie nicht«, beruhigte Angela das Kind, starrte aber gleichzeitig die Polizistinnen mit großen Augen an. »Es wird alles gut werden, mach dir keine Gedanken.« Damit stand sie auf, zog auch Melodie auf ihre Füße und nahm sie in den Arm. »Ich bin stolz auf dich, weil du die Wahrheit gesagt hast. Denn damit hast du das Richtige getan, auch wenn das alles andere als einfach war. Los, geh schon mal rüber in die Küche und hol dir eine Kirschlimo. Ich komme sofort nach.« »Tut mir leid, dass ich so böse zu dir war.« »Mir tut es auch leid, Schatz. Hol uns beiden eine große Limo, ja?« Schniefend nickte Melodie und schlurfte mit hängenden Schultern aus dem Raum. »Ich verstehe nicht, weshalb Sie das Tagebuch eines kleinen Mädchens brauchen. Ich verstehe nicht, inwieweit Sie das bei den Ermittlungen weiterbringen soll.« »Es ist ein Element, das wir nicht außer Acht lassen dürfen.« »Sie wollen mir offenbar nicht sagen, was ich darüber wissen möchte oder muss, und da ich mich um meine Tochter kümmern muss, werde ich Sie bitten, jetzt zu gehen. Aber sagen Sie mir bitte, ob ich Melodie nicht mehr zu den Straffos schicken soll. Ob es für sie gefährlich ist, wenn sie mit Rayleen und der Familie zusammenkommt.« »Ich glaube nicht, dass Ihre Tochter in Gefahr ist, aber vielleicht fühlen Sie sich wohler, wenn Sie den Kontakt erst einmal beschränken.« Das wäre auf alle Fälle besser, dachte Eve und hoffte, dass Angela verstand. »Vor allem ist es wichtig, dass weder Sie noch Melodie den Straffos oder sonst jemandem
erzählen, dass wir wegen des Tagebuchs bei Ihnen gewesen sind.« »Ich glaube, Melodie und ich werden für den Rest des Wochenendes fortfahren. Wahrscheinlich kommen wir erst Montag wieder zurück.« Angela atmete zitternd aus. »Es reicht, wenn sie am Dienstag wieder in die Schule geht.« »Das ist eine gute Idee«, erklärte Eve. »Ich kenne mich nicht mit Kindern aus, Ms Miles-Branch, aber Ihre Tochter scheint ein wirklich tolles Kind zu sein.« »Danke. Das ist sie auf jeden Fall.« Da Peabody auf dem Weg nach unten und nach draußen ungewöhnlich schweigsam war, wartete Eve, bis sie in ihrem Wagen saßen, und blickte sie dann fragend an. »Gedanken? Anmerkungen? Fragen?« »Ich schätze, ich arbeite noch daran.« Peabody blies ihre Backen auf. »Ich muss sagen, auf den ersten Blick wirkt es ziemlich unschuldig und vor allem typisch, dass ein kleines Mädchen sein Tagebuch versteckt oder eine gute Freundin bittet, es für sie aufzubewahren, weil es Angst hat, dass jemand - ein Erwachsener, eine Autoritätsperson - es sonst möglicherweise liest. Mädchen, vor allem Mädchen, sind hypersensibel, wenn es um solche Dinge geht.« »Und wenn Sie genauer hinsehen?« »Ihrer Meinung nach verleiht die Tatsache, dass ein Tagebuch tatsächlich existiert und dass Rayleen sich große Mühe gemacht hat, es aus dem Haus zu schaffen, bevor wir mit der Durchsuchung angefangen haben, Ihrer Theorie ein gewisses Gewicht.« Trotzdem hörte Eve den Zweifel, der bei diesen Sätzen in Peabodys Stimme lag. »Aber aus Ihrer Sicht ist es einfach typischer Mädchen-Kram.« »Es fällt mir einfach schwer, es anders zu sehen. Tut mir leid, Dallas, aber sie ist nun mal ein kleines Mädchen.«
»Was, wenn sie sechzehn oder sechsundzwanzig wäre?« »Dallas, Sie wissen selbst, dass das was völlig anderes wäre.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, antwortete Eve, während sie vor dem Haus der Straffos hielt. Allika machte ihnen auf. Sie sah blass und müde aus, wie jemand, der mehrere Nächte nacheinander schlecht geschlafen hatte, sie hatte sich noch nicht zurechtgemacht, sondern trug einen langen, grauen Morgenrock. »Bitte. Können Sie uns nicht endlich in Ruhe lassen?« »Wir müssen mit Ihnen sprechen, Mrs Straffo. Warum gehen wir nicht in Ihre Wohnung? Dort können Sie es sich bequem machen und wir sind ungestört.« »Warum denkt die Polizei, die Leute fänden es bequem, wenn sie sie in ihren eigenen vier Wänden verhört?« »Ich habe gesagt, dass wir mit Ihnen sprechen müssen. Von einem Verhör war nicht die Rede. Gibt es einen Grund, aus dem Sie nicht mit uns sprechen wollen?« Allika machte kurz die Augen zu. »Ich muss meinen Mann anrufen.« »Haben Sie das Gefühl, dass Sie einen Anwalt brauchen?« »Er ist nicht nur Anwalt«, schnauzte sie sie an und presste den Handrücken an ihre Stirn. »Ich habe Kopfschmerzen und versuche, mich noch etwas auszuruhen, bevor ich meine Tochter abholen muss.« »Tut mir leid, dass wir Sie dabei stören, aber wir haben noch ein paar Fragen, auf die wir dringend Antworten brauchen.« Dann zielte Eve direkt auf ihre Schwachstelle und fügte gnadenlos hinzu: »Falls Sie das Bedürfnis haben, Ihren Mann zu kontaktieren, warum schlagen Sie ihm dann nicht vor, uns auf dem Revier zu treffen? Dann machen wir das Ganze eben offiziell.« »Das klingt fast wie eine Drohung.«
»Entweder wir unterhalten uns zu dritt in Ihrer Wohnung oder zu viert auf dem Revier. Sie können entscheiden.« »Oh, kommen Sie rein. Bringen wir es hinter uns. Sie haben wirklich das Talent, Opfern das Gefühl zu geben, sie wären die Schuldigen.« Sie stapfte ins Wohnzimmer, wo sie sich, ähnlich wie die schmollende Melodie, in einen Sessel fallen ließ. »Was wollen Sie?« »Wir haben Grund zu der Annahme, dass vor der Durchsuchung Ihrer Wohnung etwas von hier entfernt wurde, was für die Ermittlungen eventuell bedeutsam ist.« »Das ist einfach lächerlich. Es wurde nichts aus der Wohnung entfernt, und nichts, was je hier in der Wohnung war, kann für Ihre Ermittlungen bedeutsam sein.« »Ihre Tochter hat ihr Tagebuch aus der Wohnung geschafft.« »Wie bitte?« Allika richtete sich auf und in ihrer Stimme lag ein Hauch von Angst. »Was hat Rayleens Tagebuch mit alledem zu tun?« »Sie hat es vor der Durchsuchung aus dem Haus geschafft, inzwischen aber wieder in ihren Besitz gebracht. Wissen Sie, wo es ist?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Haben Sie es gelesen?« »Nein, habe ich nicht. Hier in diesem Haus respektieren wir die Privatsphäre der jeweils anderen.« »Wir müssen das Tagebuch sehen, Mrs Straffo.« »Was ist nur mit Ihnen los? Wie können Sie ein Kind so grässlicher Dinge bezichtigen?« »Ich habe Rayleen nicht beschuldigt. Was hat sie Ihrer Meinung nach getan? Wozu, glauben Sie, dass sie fähig ist?« Eve beugte sich vor. »Was macht Sie derart krank, was raubt Ihnen nächtelang den Schlaf, was macht Ihnen solche Angst?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Sie strich mit den Händen über ihren Morgenrock. »Hören Sie auf. Hören Sie endlich auf.« »Ich werde dafür sorgen, dass es aufhört. Ich werde dafür sorgen, dass sie aufhört. Sie wissen, dass es so nicht weitergehen kann.« »Sie müssen gehen. Ich möchte, dass Sie auf der Stelle gehen.« Eve zielte entschlossen auf die nächste Schwachstelle. »Warum haben Sie sämtliche Bilder Ihres Sohns versteckt? Warum haben Sie ein Stück von seiner Decke, seinen kleinen Stoffhund, all die Dinge von ihm versteckt? Warum, Allika?« »Er war mein Baby. Er war mein kleiner Junge.« Jetzt brachen sich die Tränen Bahn. »Aber Sie haben keine Fotos Ihres Babys, keine sichtbaren Erinnerungen an Ihren kleinen Jungen irgendwo hier in der Wohnung aufgestellt. Warum nicht?« »Weil es schmerzlich ist. Weil es ...« »... Rayleen aus der Fassung bringt. Weil sie es nicht will, nicht wahr? Weil sie nicht will, dass Sie oder ihr Vater Bilder eines anderen Kindes sehen. Weil es um sie gehen muss, um sie allein. Weil es ihr nie gefallen hat, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern mit irgendwem zu teilen.« »Es ist vollkommen natürlich, das ein erstgeborenes Kind eifersüchtig auf ein neues Baby ist. Dass es Zeit braucht, um sich daran zu gewöhnen. Das ist normale Rivalität, wie es sie unter Geschwistern immer wieder gibt.« »Aber es war mehr als das, nicht wahr? Und dann, an jenem Weihnachtsmorgen, hat sie schließlich etwas unternommen. Weshalb hätte sie all das schöne Spielzeug mit ihm teilen sollen? Weshalb hätte er weiter einen Teil von Ihrer Zeit beanspruchen sollen, obwohl sie zuerst da war. Sie hat ihn aus dem Bett geholt und zur Treppe geführt, nicht wahr?« »Es war ein Unfall.« Allika warf sich die Hände vors Gesicht und wiegte sich unglücklich hin und her. »Es war ein Unfall. Sie
hat geschlafen. Wir alle haben geschlafen. Oh Gott, bitte, tun Sie mir das nicht an.« »Sie hat nicht geschlafen. Sie wissen, dass sie nicht geschlafen hat.« »Es war keine Absicht... es kann keine Absicht gewesen sein ... bitte, Gott.« »Erzählen Sie mir, was an dem Morgen geschehen ist, Allika.« »Es war so, wie ich gesagt habe. Wir haben alle geschlafen, alle.« Jetzt ließ sie die Hände wieder sinken und sah Eve aus trüben Augen an. »Wie lange können Sie es noch für sich behalten, ohne daran zu zerbrechen? Wie lange können Sie es noch mit Pillen und Ablenkung verdrängen? Wie lange können Sie noch so tun, als wäre nichts geschehen? Bis zum nächsten Mr Williams?« »Nein. Nein. Das war ein einmaliger Ausrutscher. So etwas kommt nicht noch einmal vor.« »Allika, Sie wissen selbst, dass Sie nicht damit leben können. Sie müssen es mir sagen. Was hat sie Ihrem kleinen Jungen, Ihrem Baby angetan? Erzählen Sie es mir.« »Sie war damals erst sieben.« Peabody erkannte, dass Allikas Schutzschild einen Riss bekommen hatte, ging zu ihr hinüber und nahm auf der Sessellehne Platz. »Sie sind ihre Mutter und Sie wollen sie beschützen. Sie wollen das tun, was das Beste für sie ist.« »Ja, natürlich. Ja.« »Sie wollten auch Trevor beschützen. Auch für ihn wollen Sie tun, was das Beste für ihn ist. Und Sie müssen wissen, dass es für sie beide eindeutig das Beste ist, wenn Sie uns gegenüber ehrlich sind.« »Meine Babys.« »Was ist an dem Weihnachtsmorgen geschehen, Allika?«, fragte Eve. »Was ist mit Trevor passiert?« »Kinder wachen am Weihnachtsmorgen immer früher auf«, murmelte Allika, während ihr ein neuer Tränenstrom über die
Wangen rann. »Das ist ganz normal. Sie sind so voller Vorfreude, so furchtbar aufgeregt. Sie kam herein, Rayleen kam in unser Schlafzimmer, als es noch dunkel war, und sprang auf unser Bett. Sie war so glücklich und so aufgeregt. Also sind wir aufgestanden, Oliver und ich. Wir sind aufgestanden, und Oliver meinte, er würde Trev holen gehen.« Sie presste eine Hand an ihren Mund. »Im Jahr davor, an seinem ersten Weihnachten, war Trevor noch so jung, noch nicht einmal ein Jahr. Er hatte nichts verstanden. Aber inzwischen war er fast zwei und ... es wäre sein erstes richtiges Weihnachtsfest gewesen. Oliver meinte, er würde ihn holen und dann würden wir alle zusammen runtergehen und gucken, ob der Weihnachtsmann schon da gewesen war.« »Und wo war Rayleen?« »Rayleen war bei mir, während ich meinen Bademantel angezogen habe. Sie sprang auf dem Bett herum und klatschte in die Hände. Sie war einfach glücklich und hat so gestrahlt, wie ein kleines Mädchen am Weihnachtsmorgen strahlen soll. Aber dann sah ich, dass sie die kleinen, rosafarbenen Pantoffeln trug, die ich am Vorabend in ihren Strumpf gesteckt hatte. Die Pantoffeln, die sie gesehen hatte und unbedingt hatte haben wollen, als ich einmal mit ihr einkaufen gegangen war.« Allikas Miene wurde völlig ausdruckslos, als wäre alles in ihr ausgelöscht. »Rayleen hatte die Pantoffeln an«, wiederholte Eve. »Sie waren mit Glitzersteinen besetzt, mit lauter Glitzersteinen, die ihren Namen gebildet haben. Sie hat es geliebt, wenn ihr Name auf den Dingen stand. Ich wollte etwas sagen, wollte ihr erklären, dass sie nicht schon alleine hätte runtergehen sollen, dass Daddy und ich ihr versprochen hatten, gleich mit ihr runterzugehen, egal, wie früh sie wach wird. Aber dann hörte ich Oliver schreien. Er schrie, als hätte jemand ihm das Herz herausgerissen, und ich hörte, wie er die Treppe runterrannte. Also bin ich losgerannt, bin losgerannt und habe ...
mein Baby ... Oliver stand unten an der Treppe und hatte unser Baby auf dem Arm. Ich bin runtergerannt. Er war schrecklich kalt. Mein süßer, kleiner Junge. Er hatte Blut im Gesicht und war ganz kalt.« »Was hat Rayleen getan?« »Ich weiß es nicht. Ich ... ich kann mich nur noch undeutlich erinnern. Oliver hat geweint, und ich glaube, ich habe versucht, ihm Trevor abzunehmen, aber Oliver hat ihn nicht losgelassen. Er hat ihn so fest gehalten, dass ... ja, dann bin ich zum Telefon gerannt, um Hilfe zu rufen, und Ray ...« »Was hat sie getan?« Allika schloss die Augen und erschauderte. »Sie hat bereits mit dem Puppenhaus gespielt, das Oliver und ich unter den Baum gestellt hatten. Sie saß einfach in ihrem Schlafanzug und den pinkfarbenen Glitzerpantoffeln da und spielte mit ihren Puppen, als wäre nichts geschehen.« »Da war Ihnen klar, was geschehen war.« »Nein. Nein. Sie war ein kleines Mädchen. Sie hat es nicht verstanden. Sie konnte es gar nicht verstehen. Es war ein Unfall.« Nein, dachte Eve, das war es nicht gewesen. Und das wusste auch Allika, und es machte sie verrückt. »Allika, Sie haben keinen Schallschutz hier in Ihrer Wohnung. Aber nicht, weil Sie Angst haben, dass Rayleen etwas passieren könnte, ohne dass Sie etwas davon mitbekommen, sondern weil Sie Angst vor Ihrer Tochter haben und deshalb immer hören wollen, was sie gerade macht.« »Sie ist mein Kind. Sie ist auch mein Kind.« »Sie haben vor ein paar Monaten Ihre Tante in New Mexiko besucht. Sie arbeitet mit Leder. Wofür sie Rizinussamen, Rizinusöl braucht.« »Oh Gott, hören Sie auf. Sie müssen aufhören.« »Hat Rayleen Zeit mit ihr verbracht? Hat sie ihr bei der Arbeit zugesehen und ihr Fragen dazu gestellt? Sie will immer alles
wissen, stimmt's? Sie ist immer sehr an allen Dingen interessiert.« »Craig Foster war ihr Lieblingslehrer. Sie hat ihn sehr gern gehabt.« »Aber trotzdem haben Sie sich schon gefragt, ob sie es vielleicht war. Genau wie das mit Williams. Rayleen besucht regelmäßig Kinder- und Altersheime. Sie ist ein intelligentes Mädchen, und wenn sie eine Spritze mit einem Betäubungsmittel bräuchte, fände sie ganz sicher einen Weg, um sich diese Dinge zu besorgen, ohne dass es jemand merkt.« »Dann wäre sie ein Monster. Wollen Sie, dass ich das sage?« Allika bekam einen wilden Blick und ihre Stimme wurde schrill. »Soll ich sagen, dass meine Tochter ein Monster ist? Ich habe sie auf die Welt gebracht.« Sie schlug mit ihrer Faust auf ihren Bauch. »Sie ist mein und Olivers Kind, wir haben sie von ihrem ersten Herzschlag an geliebt.« »So wie Sie Trevor geliebt haben. Falls ich mich irre«, meinte Eve, als Allika in sich zusammensank, »tut es keinem Menschen weh, wenn ich mir ihr Tagebuch ansehe. Aber wenn meine Vermutung richtig ist, wird ihr geholfen werden, bevor noch jemand zu Schaden kommt.« »Also holen Sie es sich. Nehmen Sie es mit. Nehmen Sie es mit und lassen mich endlich wieder allein.« Sie suchten nach dem Tagebuch. Stellten das gesamte Spielund das gesamte Schlafzimmer des Mädchens auf den Kopf. Leerten Schubladen und Schränke aus, suchten zwischen den Spiel- und Malsachen. »Vielleicht hat sie es in irgendeinem anderen Raum versteckt«, schlug Peabody am Ende vor. »Oder hat es bei sich. Aber wie dem auch sei, wir werden es finden. Die Tatsache, dass es existiert, hat bereits einiges Gewicht. Wir müssen mit der Tante sprechen und die Kleine ab
sofort beschatten lassen. Wenn sie das Tagebuch tatsächlich mitgenommen hat, will ich nicht, dass ihre Mutter ihr vielleicht verrät, dass wir danach suchen. Lassen Sie uns - verflucht.« Sie brach ab und klappte ihr Handy auf. »Dallas.« »Lieutenant, ich erwarte Sie umgehend in meinem Büro.« »Ich bin gerade dabei, Beweise zu sammeln, von denen ich glaube, dass sie zu einer Verhaftung in den Fällen Foster und Williams führen werden, Sir.« »Ich erwarte Sie in meinem Büro, bevor Sie irgendwelche weiteren Schritte unternehmen, Lieutenant Dallas. Haben Sie verstanden?« »Ich habe verstanden, Sir. Bin auf dem Weg. Verdammt«, fügte sie nach Ende des Gesprächs hinzu, warf einen Blick auf ihre Uhr und rechnete eilig nach. »Jetzt müsste sie im Museum sein. Im Met. Ich setze Sie dort ab, damit Sie die Verdächtige beschatten.« »Aber, Dallas, der Commander hat Sie angewiesen ...« »Mich. Von Ihnen hat er nichts gesagt. Ich will, dass Sie die Verdächtige ausfindig machen und beschatten. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und passen Sie auf, dass sie Sie nicht sieht.« »Himmel, sie ist gerade mal zehn Jahre alt. Ich glaube, ich werde es gerade noch schaffen, ein kleines Mädchen zu beschatten, ohne dass es mich bemerkt.« »Das kleine Mädchen ist die Hauptverdächtige in zwei Mordfällen und hat wahrscheinlich auch noch seinen kleinen Bruder umgebracht. Sie beschatten kein harmloses kleines Kind, Peabody, merken Sie sich das.« Sie setzte ihre Partnerin vor dem eleganten Eingang des Metropolitan Museums ab, fuhr weiter zum Revier und rief von unterwegs eine gewisse Quella Harmon in Taos, New Mexico, an. Während Peabody vor dem Museum stand und sich fragte, wie in aller Welt sie ein Kind mit seinem irischen Au-pair in der
riesigen Kathedrale der Kunst ausfindig machen sollte, hielt Cora in der Einundachtzigsten ein Taxi an. »Aber Mom will uns im Museum treffen und dann mit mir Mittag essen gehen.« »Tja, aber jetzt hat sie mich angerufen und gesagt, dass ich dich sofort nach Hause bringen soll. Also fahren wir nach Hause, Schatz.« Rayleen stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus und drückte ihre hübsche pinkfarbene Felltasche an ihre Brust. Mira und Whitney erwarteten sie schon, sie sahen beide äußerst grimmig aus. »Setzen Sie sich, Lieutenant.« Da Eve keine andere Wahl hatte, nahm sie gehorsam Platz. »Wo ist Ihre Partnerin?« »Sie ist noch unterwegs.« Whitney presste die Lippen aufeinander. »Ich hätte angenommen, Ihnen wäre klar, dass ich Sie beide sehen will, statt dass eine von Ihnen einfach mit der Arbeit weitermacht.« »Ich bitte um Verzeihung für das Missverständnis.« »Versuchen Sie nicht, mich auf den Arm zu nehmen, Dallas. Dafür bin ich ganz bestimmt nicht in der Stimmung. Ich habe Ihren Bericht gelesen, und meiner Meinung nach haben Sie die Ermittlungen und auch diese Abteilung in eine äußerst schwierige Position gebracht.« »Bei allem Respekt, Sir, das sehe ich anders.« »Sie verfolgen eine Spur, auf der es nur so vor Landminen wimmelt, und das ohne solide Grundlage oder einen handfesten Beweis.« »Auch das sehe ich anders, Sir. Die Verdächtige ...« »Das Kind«, korrigierte er. »Die Verdächtige ist minderjährig. Aber das schließt nicht automatisch aus, dass sie fähig ist zu morden. Es ist schon öfter
vorgekommen, dass Kinder töten. Und zwar bösartig, mit Vorsatz und sogar mit Freude.« Whitney legte seine Hände auf der Schreibtischplatte ab. »Dieses Mädchen ist die Tochter eines der prominentesten Strafverteidiger der Stadt. Sie stammt aus einem privilegierten Elternhaus, genießt eine hervorragende Ausbildung und war, Ihrem eigenen Bericht zufolge, niemals in irgendeine kriminelle Handlung oder gar ein Gewaltverbrechen involviert. Sie war auch nie wegen emotionaler oder mentaler Probleme in Behandlung. Dr. Mira?« »Es kommt vor, dass Kinder Gewalttaten verüben«, setzte die Psychologin an. »Und auch wenn es natürlich Fälle gibt, in denen Kinder dieses Alters oder sogar noch jüngere Kinder töten, sind dabei meistens andere Kinder mit im Spiel. Diesen Taten gehen meistens kleinere Gewaltakte, zum Beispiel an Tieren, voraus. Rayleen Straffos Profil weist auf keine derartige Neigung hin.« Obwohl Eve damit gerechnet hatte, dass man ihr Knüppel zwischen die Beine werfen würde, war ihr deutlich anzuhören, wie frustriert sie war. »Dann soll ich also die Augen vor den Dingen verschließen, die ich weiß, nur weil ihr Vater reich ist, weil sie super Noten in der Schule hat und keine kleinen Hunde tritt.« »Was wissen Sie denn schon?«, fiel Whitney ihr ins Wort. »Sie wissen, dass dieses Mädchen eine Schule besucht, an der zwei Lehrer ermordet worden sind. Genau wie über hundert andere Kinder auch. Sie wissen, dass seine Mutter zugegeben hat, dass sie eine kurze Affäre mit dem zweiten Opfer hatte. Sonst wissen Sie nichts.« Eve hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl, und so stand sie wieder auf. »Ich weiß, dass die Verdächtige das erste Opfer gefunden hat, und dass sie in beiden Fällen die Gelegenheit zur Begehung der Taten gehabt hätte. Ich weiß, dass sie sich auch die Mittel dazu hätte besorgen können. Ich habe mit ihrer Tante
gesprochen und dabei erfahren, dass die Verdächtige Zugriff auf Rizinussamen hatte und sich zeigen lassen hat, wie man daraus Rizin herstellt. Ich weiß, dass sie tatsächlich ein Tagebuch hat, das sie vor der Durchsuchung der Wohnung ihrer Eltern aus dem Haus geschmuggelt und einer Freundin zur Verwahrung gegeben hat.« »Haben Sie dieses Tagebuch?« »Nein. Ich glaube, die Verdächtige hat es versteckt oder zerstört oder vielleicht auch einfach bei sich. Sie hat es aus dem Haus geschafft, weil es sie belasten kann.« »Eve, jede Menge junger Mädchen schreiben Tagebuch und betrachten es als ihr privates Heiligtum«, setzte Mira an. »Ein junges Mädchen ist sie nur dem Alter nach. Ich habe es ihr angesehen. Ich weiß, was sie in Wahrheit ist. Sie wollen es nicht sehen«, wandte sie sich wieder dem Commander zu. »Die Menschen wollen nicht ein Kind anblicken, das dem Alter und dem Aussehen nach die Personifizierung der Unschuld ist, und das Böse sehen. Aber genau das ist es, was sie ist.« »Auch wenn Sie Ihre Meinung voller Leidenschaft vertreten, ist sie noch kein Beweis.« »Wenn Sie zehn oder auch nur fünf Jahre älter wäre, würden Sie meine Meinung nicht in Frage stellen. Aber wenn Sie schon meinem Instinkt, meinem Intellekt und meinen Fähigkeiten als Ermittlerin nicht trauen, lassen Sie mich noch etwas anderes anführen. Ich selbst habe bereits mit acht einen Menschen umgebracht.« »Das wissen wir, Eve«, antwortete Mira sanft. »Denken Sie vielleicht, ich sähe mich selbst in diesem Kind? Ich würde irgendetwas auf sie übertragen?« »Ich weiß, dass Sie Probleme hatten, als wir zu Anfang der Ermittlungen miteinander gesprochen haben. Sie waren wegen einer privaten Angelegenheit unglücklich und sehr gestresst.« »Das hat nichts mit diesem Fall zu tun. Vielleicht hat es mich kurzfristig abgelenkt, was bestimmt nicht richtig war, aber es
hatte keinen Einfluss auf die Schlüsse, die ich in dem Fall gezogen habe. Und jetzt wollen Sie mich wegen dieses Schwachsinns daran hindern, weiter meiner Arbeit nachzugehen ...« »Vorsicht, Lieutenant«, warnte Whitney. Doch jetzt hatte sie die Nase voll. »Genau das ist es, worauf sie sich verlässt. Dass wir alle leisetreten. Dass wir sie nicht genauer unter die Lupe nehmen, weil sie ein nettes kleines Mädchen aus einer netten Familie ist. Dabei hat sie innerhalb von einer Woche zwei Menschen umgebracht. Und sie hat mich sogar noch übertrumpft, weil sie nämlich schon mit sieben jemanden getötet hat. Und zwar ihren zweijährigen Bruder.« Whitney runzelte die Stirn. »Die Information über den Tod von Trevor Straffo hatten Sie zusammen mit dem Bericht des damaligen Ermittlers und des Pathologen einem Ihrer ersten Berichte beigefügt. Es wurde von beiden als Tod durch Unfall deklariert.« »Ich habe mit Allika Straffo gesprochen. Sie haben sich beide geirrt.« Während Eve ihre Ermittlungen verteidigte und Peabody bei der Security der Met die Bildschirme nach der Verdächtigen absuchte, schickte deren Mutter Cora wieder fort. »Dies ist schließlich Ihr freier Nachmittag.« »Aber Sie sehen nicht gut aus, gnädige Frau. Ich bleibe gerne hier. Ich werde Ihnen erst mal einen Tee kochen.« »Nein. Nein. Ich habe nur Kopfschmerzen, sonst nichts. Rayleen und ich werden allein zurechtkommen. Wir werden einfach hier zu Mittag essen und danach in den Schönheitssalon gehen.« »Dann werde ich was kochen und ...« »Wir kommen schon zurecht, Cora. Gehen Sie los und treffen Ihre Freundinnen.«
»Wenn Sie sicher sind. Aber Sie können mich jederzeit zurückrufen. Ich habe nichts Besonderes vor.« »Genießen Sie Ihren freien Nachmittag. Machen Sie sich um uns keine Gedanken.« Beinahe wäre Allika zusammengebrochen, bevor sie Cora aus der Wohnung schaffen konnte, und als das Mädchen endlich ging, lehnte sie sich erschöpft gegen die Wand. »Rayleen«, murmelte sie. »Rayleen.« »Was ist los, Mami?« Rayleens Augen waren scharf wie Laser. »Warum können wir nicht im Zoology zu Mittag essen? Ich sehe mir immer so gerne die Tiere an.« »Wir können nicht. Wir müssen weg. Wir werden eine Reise machen. Eine Reise.« »Echt?« Sofort hellte sich Rayleens Miene auf. »Wohin? Wohin fahren wir? Gibt es dort auch einen Pool?« »Ich weiß nicht. Ich kann nicht nachdenken.« Wie könnte sie das jemals wieder tun? »Wir müssen los.« »Aber du bist noch nicht mal angezogen.« »Ich bin nicht angezogen?« Allika sah an sich herab und blickte auf den Morgenrock, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. »Bist du wieder krank? Ich hasse es, wenn du krank bist. Wann kommt Daddy heim?«, wollte das Mädchen wissen, da es das Interesse an der Mutter bereits wieder verlor. »Wann fahren wir los?« »Er kommt nicht mit. Wir beide fahren allein. Weil es so am besten ist. Wir müssen packen. Sie haben es nicht gefunden, aber sie kommen bestimmt noch mal zurück.« »Was haben sie nicht gefunden?« Sofort war Rayleens Aufmerksamkeit wieder geweckt. »Wer kommt noch mal zurück?« »Sie haben danach gesucht.« Allika blickte in Richtung der oberen Etage. »Aber sie haben es nicht gefunden. Was ist für dich das Beste? Was soll ich nur tun?« Rayleen machte wortlos auf dem Absatz kehrt, lief die Treppe hinauf, öffnete die Tür von ihrem Zimmer, sah, dass einige der
Sachen nicht an den gewohnten Plätzen lagen, und wusste sofort Bescheid. Sie hatte etwas in der Art erwartet. Tatsächlich hatte sie am Vorabend in ihr Tagebuch geschrieben, was sie machen könnte oder vielleicht müsste, und während sie den Flur hinab ins Schlafzimmer der Eltern ging, empfand sie leisen Zorn, weil nochmals jemand in ihr Zimmer eingedrungen und die Ordnung aus dem Gleichgewicht geraten war. Sie liebte es, wenn jedes Ding exakt an der ihm zugedachten Stelle lag. Erwartete, dass man ihre Privatsphäre respektierte. Entschlossen trat sie vor die Kommode, in der ihre Mutter ihre Medikamente versteckt hatte. Als ob irgendjemand etwas vor ihr verstecken könnte, dachte sie. Sie waren einfach dumm. Sie steckte die Flasche mit den Schlaftabletten zu ihrem Tagebuch in ihre rosa Felltasche, kehrte ins Wohnzimmer zurück und programmierte dort den AutoChef auf Kräutertee. Ihre Mutter trank am liebsten Ginseng, und obwohl sie nur sehr selten Süßstoff nahm, bestellte sie ihn extra süß. Dann kippte sie eine todbringende Dosis Schlaftabletten in den süß duftenden Tee und rührte gründlich um. Es war alles furchtbar einfach, sie hatte schon des Öfteren darüber nachgedacht. Sie würden denken, ihre Mutter hätte sich aus Schuldgefühlen oder einfach aus Verzweiflung selber umgebracht. Sie würden denken, ihre Mutter hätte nicht mehr damit leben können, dass sie schuld am Tod der beiden Lehrer war. Sie wusste, ihre Mutter hatte Sex mit Mr Williams gehabt. Das hatte sie an dem Abend zugegeben, bevor die Polizei gekommen war. Rayleen hatte das Talent, all die Dinge zu hören, von denen die Erwachsenen nicht wollten, dass ein Kind sie mitbekam. Ihre Mutter und ihr Vater hatten stundenlang geredet, ihre Mutter hatte fürchterlich geheult. Einfach widerlich. Und ihr Vater hatte ihr verziehen. Es war ein Fehler gewesen, hatte er gesagt. Aber jetzt fingen sie noch mal von vorne an.
Was genauso widerlich wie die blöde Heulerei gewesen war und wie die Geräusche, die danach aus ihrem Schlafzimmer gekommen waren, als sie Sex gehabt hatten. Falls jemand sie so belügen würde, wie es ihre Mom bei ihrem Dad getan hatte, würde sie ihn dafür bezahlen lassen. Zahlen, zahlen, zahlen. Genau das tat sie jetzt, überlegte sie, während sie nach dem großen Becher griff und ihn nach oben trug. Sie würde Mami dafür bestrafen, dass sie unartig gewesen war. Dann kehrte endlich wieder Ordnung in ihr Leben ein. Dann gäbe es nur noch sie und Daddy. Dann hätte er niemanden mehr lieb als sie allein. Jetzt müsste sie ihr Tagebuch in den Recycler werfen, und das machte sie wütend. Daran war allein diese gemeine, neugierige Lieutenant Dallas schuld. Aber eines Tages fände sie ganz sicher einen Weg, um auch sie dafür zahlen zu lassen, dass sie derart rücksichtslos gewesen war. Erst mal aber würde sie ihr Tagebuch am besten los. Daddy würde ihr sofort ein nagelneues kaufen, wenn sie darum bat. »Rayleen.« Allika trat durch die Tür des Schlafzimmers und sah sie fragend an. »Was machst du da?« »Ich finde, du solltest dich ein bisschen ausruhen, Mami. Sieh nur, ich habe dir einen Tee gemacht. Ginseng, weil du den am liebsten magst. Ich werde mich um dich kümmern.« Allika blickte auf die Tasse, auf das Bett und fühlte sich entsetzlich schwach. »Rayleen.« »Du bist müde und hast Kopfweh.« Rayleen schlug die Bettdecke zurück, strich das Laken glatt und schüttelte das Kissen aus. »Ich werde dafür sorgen, dass es dir gleich wieder besser geht. Ich werde mich ein bisschen zu dir setzen, während du dich ausruhst. Wir Mädchen müssen uns schließlich umeinander kümmern, oder nicht?« Sie sah ihre Mutter mit einem strahlenden Lächeln an.
Vielleicht war es so am besten, sagte sich Allika, während sie wie eine Schlafwandlerin durch das Zimmer lief. Vielleicht war es die einzige Möglichkeit. Sie legte sich ins Bett, Rayleen deckte sie zu und hielt ihr den Becher hin. »Ich liebe dich«, sagte sie zu ihrem Kind. »Und ich liebe dich, Mami. Aber jetzt trink deinen Tee, dann wird alles gut.« Allika sah ihrer Tochter ins Gesicht und trank.
20 Whitney hörte zu und versuchte, das Gehörte zu verdauen. Seine Hände, die bisher vollkommen ruhig vor ihm gelegen hatten, trommelten nervös auf der Kante seines Schreibtisches herum. »Die Mutter verdächtigt also die Tochter, den Sturz des Jungen verursacht zu haben.« »Die Mutter weiß, dass ihre Tochter den Sturz verursacht hat«, korrigierte Eve. »Vielleicht hat sie sich im Verlauf der Jahre eingeredet oder versucht sich einzureden, dass es tatsächlich ein Unfall war. Hat versucht, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen, sie wird aber bis heute regelmäßig von Depressionen oder Angstzuständen geplagt. Weil sie in ihrem tiefsten Inneren dasselbe weiß wie ich. Nämlich, dass es kein Unfall war.« »Es gibt keinen Zeugen für den Sturz.« Whitney hatte ein steinernes Gesicht und sah Eve reglos aus seinen dunklen Augen an. »Dr. Mira, ist es Ihrer Meinung nach bei dem gegebenen Szenario normal, dass ein kleines Mädchen über den Leichnam seines kleinen Bruders steigt, um mit einem Puppenhaus zu spielen, während seine Eltern vollkommen hysterisch sind?« »Das ist schwer zu sagen. Vielleicht stand sie unter Schock oder hat einfach geleugnet, was geschehen war.« »Sie hatte die Pantoffeln an. Pantoffeln, die sie unten holen musste, bevor sie ihre Eltern wecken ging.« »Ja.« »Dem Bericht des damaligen Ermittlers zufolge starb der Kleine kurz nach vier am Morgen des fünfundzwanzigsten Dezember«, fuhr Eve fort. »Beide Eltern haben ausgesagt, sie hätten bis gegen halb drei die Strümpfe der Kinder gefüllt und Geschenke unter den Baum gelegt. Danach hätten sie noch ein
Glas Wein getrunken und noch einmal nach beiden Kindern gesehen, bis sie schließlich gegen drei zu Bett gegangen sind. Rayleen hat sie gegen fünf geweckt.« Einen Moment lang dachte Mira an all die Weihnachtsfeste, an denen sie und Dennis bis in die frühen Morgenstunden auf gewesen waren, um alles zu richten, während ihre Kinder geschlafen hatten. Bevor sie erschöpft ins Bett gefallen und schon wenige Stunden später von den Kindern aus dem Schlaf gerissen worden waren, weil die in ihr Schlafzimmer gerannt gekommen waren, um sie mit ins Wohnzimmer zu nehmen und zu sehen, ob der Weihnachtsmann schon da gewesen war. »Es wäre möglich, dass sie sich, nachdem die Eltern ins Bett gegangen waren und der Bruder aufgestanden ist, hinuntergeschlichen hat. Wobei das mit den Pantoffeln wirklich seltsam ist«, stimmte sie Eve zu. »Ich finde es auch ein wenig eigenartig, dass sich ein Kind in diesem Alter ins Wohnzimmer geschlichen, die Pantoffeln angezogen und dann noch mal fast zwei Stunden geschlafen haben soll.« »Das hat sie auch nicht getan«, gab Eve tonlos zurück. »Sie ist aufgestanden - und ich garantiere Ihnen, sie hatte sich den Wecker gestellt, weil sie, was Ihrem Profil entspricht, immer alles sorgfältig plant und ihre Pläne zielstrebig verfolgt. Sie ist aufgestanden, ins Zimmer ihres Bruders gegangen, hat ihn geweckt und ihm gesagt, er soll ganz leise sein. Als sie dann oben an der Treppe standen, die sich, dem Bericht des Ermittlers zufolge, vom Elternschlafzimmer aus betrachtet, am entgegengesetzten Ende des Flurs befand, hat sie ihm einen Stoß versetzt.« Worauf der kleine Körper die Treppe hinuntergestolpert und zerbrochen war. »Dann ist sie runtergegangen, hat sich vergewissert, dass ihre Arbeit erfolgreich war, und hat nachgesehen, was für schöne Dinge sie vom Weihnachtsmann bekommen hat. Und was sie
jetzt auch noch bekommen würde, was ursprünglich für ihren Bruder vorgesehen gewesen war.« Das grauenhafte Bild, das sie mit diesen Worten zeichnete, hinterließ deutliche Spuren in Miras Gesicht. »Sie hat die Pantoffeln angezogen. Weil ihr Dinge gefallen, auf denen ihr Name steht. Was ein kleiner Fehler war«, fügte Eve gnadenlos hinzu. »Genau wie die Tatsache, dass sie mir gegenüber das Tagebuch erwähnt hat. Aber das konnte sie sich einfach nicht verkneifen. Wahrscheinlich hat sie eine Weile mit ihren Sachen gespielt. Bestimmt hat sie gedacht, ihre Eltern würden es nicht merken, wenn sie die Dinge ein wenig verrückt, und konnte der Versuchung ganz einfach nicht widerstehen. Denn schließlich gehörten jetzt all die schönen Dinge ihr. Dann ist sie wieder raufgegangen. Ich frage mich, ob sie ihren Bruder zu dem Zeitpunkt überhaupt noch wahrgenommen hat. Schließlich war er für sie kein Thema mehr.« Sie blickte Whitney an. Seine Hände lagen wieder ruhig auf der Schreibtischplatte, und auch sein Gesicht war völlig ausdruckslos. »Vielleicht hat sie versucht, noch ein bisschen zu schlafen, aber das gelang ihr sicher nicht. Schließlich lagen all die schönen Spielsachen dort unten, und es gab niemanden mehr, mit dem sie sie hätte teilen müssen. Also ist sie ihre Eltern wecken gegangen, damit sie weiterspielen konnte.« »Was Sie da beschreiben ...«, setzte Mira an. »Ist eine Soziopathin«, beendete Eve den Satz. »Und genau das ist sie auch. Eine mörderische Soziopathin, die nicht nur ausnehmend intelligent, sondern obendrein extrem narzisstisch ist. Deshalb hat sie das Tagebuch behalten. Weil sie sich nur darin ihrer Fähigkeiten und der Tatsache, dass sie mit ihrem Treiben durchkommt, rühmen kann.« »Wir brauchen dieses Tagebuch.« »Ja, Sir.« Sie nickte Whitney zu. »Warum Foster und Williams?«
»Foster weiß ich nicht, außer sie hätte ihn einfach umgebracht, weil es ihr möglich war. Obwohl sie mir nicht wie jemand vorkommt, der irgendetwas tut, nur weil es machbar ist. Williams war ein äußerst praktischer, wenn auch unerwarteter Sündenbock. Was ich auf meine Kappe nehmen muss. Ich habe ihn in die Enge getrieben, und sie sah die Gelegenheit, nicht nur abermals zu töten - woran sie meiner Meinung nach inzwischen durchaus Gefallen gefunden hatte -, sondern mir obendrein einen Verdächtigen auf dem Silbertablett zu servieren. Und zwar entweder ihn oder die Rektorin. Weil ich mir sicher bin, dass Rayleen wusste, dass zwischen den beiden was gelaufen war.« »Selbst wenn wir das Tagebuch bekommen, selbst wenn sie darin alles detailliert aufgeschrieben hat, dürfte es schwierig werden zu beweisen, dass sie diese Taten aus eigenem Antrieb oder ohne fremde Hilfe begangen hat. Weil ihr Vater Ihnen von jetzt an sicher jede Menge Knüppel zwischen die Beine werfen wird.« »Ich werde mich um Straffo kümmern, Sir, und ich werde Rayleen dazu bringen, dass sie alles gesteht.« »Wie wollen Sie das anstellen?«, wunderte sich Mira. »Ich werde sie dazu bringen, dass sie es mir erzählen will.« Als ihr Handy klingelte, sah sie den Commander fragend an. »Sie gestatten?« Als er nickte, klappte sie es auf. »Dallas.« »Sie hat das Museum wenige Minuten, bevor ich dort angekommen bin, verlassen. Ich habe mir sämtliche Räume auf den Überwachungskameras angesehen und mir, als ich sie nirgendwo gefunden habe, auch noch die Aufnahmen der letzten Stunde angeguckt. Das Kindermädchen hat einen Anruf auf dem Handy bekommen, dann haben sie das Gebäude fast im selben Augenblick, in dem ich aus Richtung Fünfter kam, in Richtung Einundachtzigster verlassen.« »Ihre Mutter. Verdammt. Fahren Sie zurück zur Wohnung der Straffos. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Ich werde Sie begleiten. Vielleicht kann ich mich nützlich machen«, bot ihr Mira an. »Ja, vielleicht.« Auch Whitney stand entschlossen auf. »Lieutenant, ich will sofort wissen, wenn Sie die ... Verdächtige gefunden haben. Wenn Sie das Tagebuch entdecken, geben Sie mir auch umgehend Bescheid.« »Ja, Sir. Los, wir müssen uns beeilen«, sagte Eve zu Mira und lief los. Cora fuhr mit der U-Bahn in die City, nahm dort aber den nächsten Zug wieder zurück. Für den Kinobesuch, den sie und ihre Freundinnen geplant hatten, war es noch viel zu früh, und wenn sie einen Einkaufsbummel machte, gäbe sie dabei nur Geld aus, das für andere Dinge vorgesehen war. Vor allem aber dachte sie die ganze Zeit an Mrs Straffos krankes, kreidiges Gesicht. Vielleicht hatte sie tatsächlich einfach Kopfweh, weiter nichts. Aber Cora wusste, dass sie ab und zu an Depressionen litt. Es war einfach nicht richtig, Ray mit ihrer Mum allein zu lassen, wenn die krank und traurig war. Sie würde nur noch einmal nach den beiden sehen. Eine Tasse Tee und einen Happen zu essen für die beiden machen, und falls die gnädige Frau ein bisschen Ruhe brauchte, sagte sie ihre Verabredung mit ihren Freundinnen eben noch ab und unternähme selbst was mit dem Kind. Denn schließlich war nicht einzusehen, dass das Unwohlsein der Mutter auch Rayleen den Tag verdarb. Fakt war, sie würde keine Ruhe finden und sich auch nicht amüsieren können, während sie in Sorge um die Missus und die kleine Kröte war. Nach den beiden fürchterlichen Morden an der Schule und nachdem die Polizei wie eine Schar Ameisen in ihrem Haus herumgewimmelt war, machte die Familie augenblicklich eine schlimme Phase durch. Kein Wunder, dass die arme Mrs Straffo derart fertig war.
Sie bräuchte eine Tasse heißen Tee, vielleicht einen Teller Suppe und ein kurzes Nickerchen, dann ginge es ihr sicher bald schon wieder gut. Cora stieg aus der U-Bahn, ging die Treppe zur Straße hinauf und marschierte flotten Schrittes durch die kalte Luft. Sie hatte wirklich Glück mit ihrem Job. Sie lebte bei einer reizenden Familie, in einer wundervollen Wohnung, in einer herrlich aufregenden Stadt. Die Kleine war aufgeweckt und amüsant - ab und zu ein wenig nervig, sicher, aber sauber und ordentlich. Und so interessiert an jeder Kleinigkeit. Außerdem hörte man nie erhobene Stimmen oder musste sich vor irgendwelchen Tellern oder Tassen ducken, die urplötzlich durch die Gegend flogen wie bei ihr daheim. Wenn sie ehrlich war, fehlten ihr das Geschrei und der Tumult von Zeit zu Zeit. Aber einen besseren Job bei einer netteren Familie gab es sicher nicht. Sie bedachte den Portier mit einem Lächeln und flirtete etwas mit ihm. Wenn er sie ins Kino eingeladen hätte, hätte sie die Sorge um die gnädige Frau vielleicht sogar verdrängt. Sie zog ihren Schlüssel aus der Tasche, als sie mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage fuhr, und als sie in die Wohnung kam, war es dort so ruhig, dass sie sich fragte, ob Allika vielleicht doch noch mit Rayleen ins Restaurant und danach in den Schönheitssalon gegangen war. Dann würde sie sich selbst vor Ärger in den Hintern treten, denn dann hätte sie das Geld für die beiden U-Bahn-Tickets ganz umsonst bezahlt! Sie rief Mrs Straffos Namen, und als keine Antwort kam, rollte sie mit den Augen und stellte verärgert fest: »Mensch, Cora, du bist einfach blöd.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, um wieder zu gehen, beschloss dann aber, erst noch an der Garderobe nachzusehen. Wenn die gnädige Frau das Haus verlassen hätte, hätte sie doch
sicher einen Mantel angezogen, doch soweit sie sehen konnte, hingen noch alle Mäntel da. Sie rief erneut nach Mrs Straffo, ging die Treppe hinauf in die mittlere Etage. Dort saß Rayleen an ihrem Schreibtisch, hatte ihr Headset auf und malte an einem Bild. Es hätte keinen Sinn, das Kind zu stören, dachte Cora, zog aber die Brauen hoch, als sie ein Stück Schokoladenkuchen und ein Glas mit Limonade auf dem Schreibtisch stehen sah. Darüber würden sie später reden, dachte sie, denn erst mal sähe sie nach der gnädigen Frau. Wahrscheinlich hatte sie sich wegen ihres Kopfwehs etwas hingelegt. Ohne vorher etwas zu essen, das wäre nicht gut. Da die Schlafzimmertür geschlossen war, klopfte sie vorsichtig an und schob sie einen Spaltbreit auf. Mrs Straffo lag im Bett. Auf ihrem Schoß lag ein Tablett mit einer umgekippten Tasse. Wahrscheinlich war das arme Lamm im Sitzen eingeschlafen und hatte dabei seinen Tee verschüttet. Sie würde das Tablett zur Seite räumen, dachte Cora und lief leise durch den Raum. Dann sah sie das leere Pillenfläschchen, das auf der geblümten Decke lag. »Oh, heilige Mutter Gottes, grundgütiger Jesus! Gnädige Frau!« Sie packte Allika bei den Schultern, schüttelte sie kräftig und schlug ihr, als sie nicht reagierte, kraftvoll ins Gesicht. Dann griff sie panisch nach dem Link, das auf dem Nachttisch stand. »Macht Ihnen diese Situation persönlich zu schaffen?«, fragte Mira Eve. »Das kann ich noch nicht sagen.« Eve hatte die Sirene eingeschaltet und trat das Gaspedal bis auf den Boden durch. »Ich weiß nicht, ob ich sie nicht sofort ins Visier genommen habe, weil ich es nicht wollte, weil ich persönliche Probleme
hatte oder weil es einfach nicht klick gemacht hat. Wahrscheinlich werde ich es nie erfahren.« »Wollen Sie wissen, was ich denke?« »Ja, sicher. Du dämlicher Hurensohn, hörst du die Sirene nicht?« »Ich denke ...« Mira beschloss, einfach die Augen zuzumachen, um nicht von dem Bild des verkehrsbedingten, bevorstehenden Todes abgelenkt zu werden, und fuhr fort: »Niemand hätte sie anfangs ins Visier genommen. Schließlich sind wir darauf programmiert, Kinder zu beschützen und für unfähig zu halten, eiskalt geplante Morde zu begehen. Vielleicht haben Sie mit allem, was Sie von ihr denken, recht. Ich glaube, dass der Tod von ihrem kleinen Bruder tatsächlich kein Unfall war. Allerdings tippe ich bei den beiden Morden in der Schule eher auf die Rektorin.« »Fünfzig.« »Fünfzig was?« »Fünfzig Dollar, dass auch diese Taten auf das Konto von der Kleinen gehen.« »Sie wollen um zwei Morde wetten?« »Es ist doch nur Geld.« »Also gut«, stimmte die Psychologin schließlich zu. »Fünfzig, dass es Arnette Mosebly war.« »Okay. Und jetzt werde ich Ihnen sagen, warum sie es nicht war. Die Schule ist ihr Leben und ihr ganzer Stolz. Vielleicht könnte sie einen Mord begehen, aber das würde sie dann außerhalb des Schulgeländes tun. Diese Art Publicity würde sie ihrer geliebten Akademie ersparen. Diese Sache hat die Schule bereits mehrere Schüler gekostet, und sie kostet sie am Ende vielleicht auch noch ihren Job.« »Ein gutes Argument, aber der Selbsterhaltungstrieb ist für gewöhnlich stärker als die Liebe zu egal welchem Beruf. Falls Foster etwas von ihrer Beziehung zu Williams wusste, war er eine direkte Gefahr für sie. Vielleicht hat er ihr sogar gesagt, dass
er die Sache melden will. Das hat Williams ihrer eigenen Aussage zufolge ebenfalls getan, und zwar bei dem Versuch, sie zu erpressen, damit sie ihn seinen Job behalten lässt.« »Wollen wir auf hundert erhöhen?« Bevor Mira ihr eine Antwort geben konnte, klingelte Eves Handy abermals. »Was ist denn jetzt schon wieder? Dallas?« »Dallas, Allika Straffo ist auf dem Weg ins Parkside Hospital. Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt, ihr Zustand ist kritisch.« »Wo ist das Kind?« »Das Au-pair hat Rayleen mitgenommen. Die beiden haben ein Taxi genommen und sind dem Krankenwagen hinterhergefahren. Ich habe sie zum zweiten Mal ganz knapp verpasst. Der Beamte, der zuerst im Penthouse war, meinte, dass das Kind total hysterisch war.« »Davon bin ich überzeugt. Sie sind noch im Penthouse?« »Ich wollte noch mit den Beamten sprechen, die auf den Notruf hin gekommen sind. Das Au-pair hat den Krankenwagen gerufen, als die Sanitäter von der Überdosis hörten, haben sie unsere Kollegen informiert.« »Ich will das Tagebuch. Finden Sie es. Ich fahre direkt ins Krankenhaus.« »Es ist nicht Ihre Schuld«, wandte Mira sich an Eve, die einen U-Turn machte und dorthin zurückraste, woher sie gekommen war. »Falls diese Frau die Vorstellung, dass ihre Tochter gemordet hat, nicht mehr ertragen konnte und deswegen nicht mehr leben wollte, ist das eindeutig nicht Ihre Schuld.« »Dass ich nicht damit gerechnet habe, dass das Kind sogar die eigene Mutter töten würde, ist ganz sicher meine Schuld. Falls Allika Straffo eine Handvoll Schlaftabletten intus hat, dann, weil dieses kleine Monsterkind sie ihr gegeben hat. Gottverdammt.« Abermals trat sie das Gaspedal bis auf den Boden durch. »Wenn sie sich hätte umbringen wollen, hätte sie einen Abschiedsbrief geschrieben. Sie hätte ihr Kind beschützen wollen
und einen Brief geschrieben, in dem sie die Morde auf sich nimmt. Denn wenn sie einfach aufgegeben hätte, wenn sie es nicht mehr ertragen hätte, hätte sie das Kind doch nicht vorher heimgerufen, damit es mit ansieht, wie die eigene Mutter stirbt.« »Also ist Rayleen anscheinend klar geworden, dass Allika alles weiß und ihr deswegen gefährlich werden könnte. Durch die Überdosis Schlaftabletten war diese Gefahr gebannt. Ihre eigene Mutter.« Mira schüttelte den Kopf. »Sie hat auch ihren kleinen Bruder, der einen Schlafanzug mit Füßen anhatte, am Weihnachtsmorgen die Treppe runtergeschubst. Da ist es nicht allzu weit hergeholt, dass sie ihrer eigenen Mom eine tödliche Dosis Pillen verpasst.« »Was, falls Allika Straffo stirbt, vielleicht nie bewiesen werden kann. Und selbst wenn sie überlebt, sagt sie vielleicht nicht gegen die eigene Tochter aus.« »Darauf verlässt sich sicher auch Rayleen. Nur, dass es so nicht laufen wird.« Eve marschierte in das Chaos und das Elend der Park- sider Ambulanz und sah sich zwischen den geschundenen, den blutenden und den gebrochenen Menschen um. Dann schnappte sie sich eine vorbeieilende Schwester und hielt ihr, um das Verfahren abzukürzen, ihre Dienstmarke vor das Gesicht. »Allika Straffo, Überdosis. Wo?« »Behandlungszimmer drei. Aber auch mit Dienstmarke können Sie da jetzt nicht rein. Dr. Dimatto hat auch so schon alle Hände voll damit zu tun, ihr Leben zu retten, ohne dass sie jemand bei der Arbeit stört.« Louise Dimatto, dachte Eve. Manchmal machten Freundschaften sich tatsächlich bezahlt. »Aber Sie können dort rein. Also gehen Sie rein und sagen Louise, dass Dallas wissen muss, wie es der Patientin geht. Und wo ist das Kind? Die kleine Straffo?«
»Sie sitzt mit ihrer Kinderfrau im Warteraum. Der Vater wurde verständigt und ist unterwegs. Sie kennen Doktor D?« »Ja, schon eine ganze Weile. Wo finde ich den Warteraum?« »Kommen Sie mit.« Als Bekannte von Louise wurden Eve Und Mira direkt zum Behandlungsraum geführt. In einer gegenüber einer doppelten Schwingtür gelegenen Nische kauerte Rayleen im Arm ihres Au-pairs. Sie hatte rote, geschwollene Augen und ein vom Weinen fleckiges Gesicht. Gratuliere, dachte Eve. Die Theatergruppe hat sich tatsächlich gelohnt. Cora entdeckte Eve zuerst, sofort stiegen ihr Tränen in die Augen und sie schluchzte: »Lieutenant Dallas. Es ... es geht um die gnädige Frau.« Eve aber hatte nur Augen für Rayleen. Das Mädchen erstarrte und schmiegte sich noch enger an die Kinderfrau. Mich hast du hier nicht erwartet, stimmt's? »Ich will nicht mit ihr reden. Ich will mit niemandem reden. Ich will nur meine Mami.« »Ganz ruhig, Schätzchen. Mach dir keine Sorgen. Der Lieutenant ist nur hier, weil er versucht, zu helfen. Alle sind hier, um deiner Mom zu helfen. Keine Angst.« Eve sah Mira an, und diese machte einen Schritt nach vorn. »Rayleen, ich bin Dr. Mira. Ich weiß, du bist völlig durcheinander und hast vor allem große Angst.« Rayleen schniefte, hob den Kopf und sah Mira an. »Sind Sie eine Ärztin? Werden Sie meine Mutter wieder gesund machen?« »Ja. Ich bin Ärztin, und ich kenne auch die Ärztin, die gerade deiner Mutter hilft. Sie ist sehr, sehr gut.« Mira ging vor der Kleinen in die Hocke und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Gut, fand Eve. Mira machte ihre Sache wirklich gut. Sie stellte sich nicht auf ihre Seite, sondern kehrte die einfühlsame, mütterliche Ärztin heraus. Während sie sich mit dem Mädchen
unterhielt, sah Eve durch die Scheibe in der Tür des Behandlungsraums. Drinnen sah es so aus, als pumpten sie etwas aus Allika heraus und anderes in sie hinein. Louise trug einen Kittel, hatte sich die blonden Haare streng aus dem Gesicht gekämmt, und ihre rauchgrauen Augen verrieten ein Höchstmaß an Konzentration. Falls Allika eine Chance hatte, würde Louise ihr helfen, sie zu nutzen, das wusste Eve. Hinter ihr erklärte Mira teilnahmsvoll und gleichzeitig bestimmt: »Du musst jetzt ganz tapfer sein, Rayleen.« »Ich versuche es, aber ...« »Ich weiß, das ist nicht leicht. Kannst du mir sagen, was passiert ist?« »Ich weiß es nicht. Meine Mom ... wir wollten im Zoology zu Mittag essen und dann in den Schönheitssalon gehen. Samstag ist unser Frauentag.« »Das klingt wirklich nett.« »Wir haben immer jede Menge Spaß, wenn wir zusammen sind. Aber sie hat angerufen, als wir im Museum waren, und hat gesagt, wir müssten nach Hause kommen, statt dass sie uns dort trifft. Warum, hat sie nicht gesagt. Sie sah schrecklich müde aus und hat sich seltsam benommen.« »Seltsam?« »Sie meinte, Cora sollte gehen, denn es wäre schließlieh ihr freier Nachmittag. Nachdem sie gegangen war, hat Mom schrecklich geweint.« »Ich hätte nicht gehen sollen. Ich hätte bleiben sollen.« »Es ist nicht Ihre Schuld, Cora. Meine Mom meinte, es täte ihr leid, und ich sollte ihr nicht böse sein. Dabei war ich gar nicht böse. Sie konnte nichts dazu, dass sie mal wieder krank war. Sie ist manchmal krank, dann muss sie sich ausruhen.« »Verstehe.« »Sie hat mich ganz fest in den Arm genommen. So, wie wenn sie und Daddy irgendwohin verreisen und ich nicht. Eine
Abschiedsumarmung. Sie hat gesagt, dass ich ihre Prinzessin bin, der beste Teil von ihrem Leben, und dass sie mich liebt.« Rayleens Mundwinkel fingen an zu zittern, sie zog ein mit ihrem Namen besticktes Taschentuch hervor und tupfte sich damit die Tränen fort. »Sie meinte, sie wüss- te, dass ich stark und tapfer bin, was auch passiert.« Sie blickte kurz auf Eve. »Sie meinte, ich sollte mich immer daran erinnern, dass sie mich am allerliebsten hat. Dann hat sie gesagt, ich könnte mir was Süßes holen und damit in mein Zimmer spielen gehen. Sie hat gesagt, ich sollte brav sein, weil sie etwas schlafen will. Also war ich ganz leise.« In ihren Augen stiegen frische Tränen auf. »Ich wollte sie schließlich nicht aufwecken.« Die Krankenschwester kam vorbei, warf einen mitfühlenden Blick auf das weinende, kleine Mädchen und zog Eve mit sich in den Korridor hinaus. »Ihr Zustand ist noch immer kritisch. Falls es Dr. D gelingt, sie zu stabilisieren, wird sie danach auf die Intensivstation verlegt. Ihre Chancen stehen ziemlich schlecht, aber Dr. D gibt trotzdem noch nicht auf.« »Okay. Danke für die Information.« Eve blickte über die Schulter der Krankenschwester und erklärte: »Da kommt der Ehemann.« Mit angstverzerrtem Gesicht stürzte Straffo an ihr vorbei, sofort sprang Rayleen auf, warf sich ihm in die Arme, und auch das Au-pair brach in erneutes Schluchzen und in unzusammenhängendes Gebrabbel aus. Straffo zog die Tochter eng an seine Brust, murmelte ihr etwas zu, drückte sie auf ihren Stuhl zurück und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie nickte und blieb wieder neben Cora sitzen, während Straffo an die Tür des Behandlungszimmers trat und durch die Scheibe zu seiner Frau sah, die auf einer Bahre lag. Eve stellte sich neben ihn. »Was wissen Sie?« »Ich kenne die Ärztin, die sich um sie kümmert«, antwortete Eve. »Sie ist wirklich gut und gibt nicht so einfach auf.«
Straffo holte Luft und atmete krächzend wieder aus. »Danke.« »Ihr Zustand ist noch immer kritisch. Sobald sie stabil genug ist, wird sie auf die Intensivstation verlegt. Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen.« »Oh Gott, oh Gott.« Er lehnte seine Stirn gegen das Glas. »Wie war ihre Stimmung, als Sie heute Morgen aus dem Haus gegangen sind?« »Sie war gestresst. Um Himmels willen, wir beide waren gestresst. Aber ... dafür ist jetzt keine Zeit. Um Gottes willen, Dallas, das da drin ist meine Frau.« »In Ordnung. Ich muss sowieso noch mit Cora reden.« »Ja, ja, meinetwegen.« »Straffo?« Sie wartete, bis er den Blick vom Behandlungszimmer löste und ihr in die Augen sah. »Ich bin auf Ihrer Seite. Ich bin auf Ihrer und der Seite Ihrer Frau. Das müssen Sie mir glauben.« In seinen Augen schwammen Tränen, doch er nickte mit dem Kopf. »Danke.« »Dr. Mira war zufällig mit mir zusammen, als wir von der Sache hörten. Sie kennen sie und wissen, dass sie eine gute Psychologin ist. Sie kann bei Ihrer Tochter bleiben und sich mit ihr unterhalten, während ich mit Cora spreche und Sie sich auf Allika konzentrieren«, bot sie an. »Mira.« Geistesabwesend sah er sich um und entdeckte Mira, die ein wenig abseits stand. »Ja, ja, das wäre nett. Ich will nicht, dass Rayleen alleine ist, aber ich muss ...« »Sie müssen zu Ihrer Frau. Verstehe.« Eve kehrte zu dem Kindermädchen zurück. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Cora. Dr. Mira kümmert sich solange um Rayleen.« »Ich will zu meinem Daddy.« Zwei konnten dieses Spielchen spielen, dachte Eve und bedachte das Kind mit einem mitfühlenden Blick. »Ja, ich weiß, aber er läuft dir ja nicht weg. Versuch, dir keine allzu großen
Sorgen zu machen, ja? Ich muss kurz mit Cora über deine Mutter sprechen.« »Wird das meiner Mami helfen?« »Das hoffe ich.« Ganz die tapfere, kleine Soldatin, richtete Rayleen sich auf. »Ich komme schon zurecht.« »Das tust du ganz bestimmt. Wie wäre es, wenn Cora und ich dir was zu trinken holen würden?« »Dürfte ich wohl bitte einen Saft haben?« »Na klar. Also, lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen, Cora«, forderte Eve das Kindermädchen auf und konnte deutlich Rayleens selbstgerechte Freude spüren, als sie den Raum verließ. »Erzählen Sie mir, was passiert ist, Cora«, bat sie, als sie draußen stand. »Ich hätte sie nicht alleine lassen sollen. Es war nicht zu übersehen, wie schlecht sich die gnädige Frau gefühlt hat, aber ich bin trotzdem einfach los.« »Wie lange waren Sie fort?« »Eindeutig zu lange. Vielleicht eine knappe Stunde, ich weiß es nicht genau.« Cora trat vor den Getränkeautomaten und wählte einen Saft für ihren Schützling aus. »Dann habe ich das Pillenfläschchen gesehen«, fuhr sie schließlich fort. »Ich wusste sofort, was geschehen war, aber ich habe sie einfach nicht wach gekriegt. Ich habe sie geschüttelt und ihr ins Gesicht geschlagen, aber sie ist nicht aufgewacht. Also habe ich einen Krankenwagen gerufen und ihnen schon am Link gesagt, worum es geht. Ich hatte keine Ahnung, ob sie noch geatmet hat, also habe ich Herz-Lungen-Wiederbelebung gemacht, bis die Sanitäter kamen. Dann bin ich runtergerannt und habe ihnen aufgemacht.« »Was hat Rayleen währenddessen gemacht?«
»Oh, grundgütige Maria, das arme Kind.« Cora warf sich beide Hände vors Gesicht. »Sie kam aus ihrem Zimmer, als ich die Tür aufmachen wollte. Aber ich wusste, ich musste mich beeilen, deshalb bin ich nicht mal stehen geblieben, sondern einfach weitergerannt.« »Hat sie irgendwas gesagt?« »Tja. Ich nehme an, sie war verwirrt, denn ich habe sicher furchtbar ausgesehen und hätte vor allem gar nicht da sein sollen. Genau das hat sie auch gesagt. >Was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie hätten Ihren freien Nachmittage« »Hat sie ärgerlich geklungen?« »Allerdings. Sie hat es gern, wenn immer alles ganz genau nach Plan verläuft, und jetzt war ich plötzlich wieder in der Wohnung, obwohl es ihr Nachmittag mit ihrer Mutter war. Oh, Lieutenant, es ist einfach schrecklich, wenn ein Kind so etwas miterleben muss. Als die Sanitäter angelaufen kamen, wurde sie vollkommen hysterisch.« »Davon bin ich überzeugt.« »Wenn ich nicht weggegangen wäre ...« »Sie sind zurückgekommen«, fiel ihr Eve ins Wort. »Wenn Sie nicht zurückgekommen wären, wäre sie jetzt tot. Falls sie diese Sache übersteht, werden nicht nur die Ärzte ihr Leben gerettet haben, sondern auch Sie.« »Danke. Danke, dass Sie das sagen. Ich kann einfach nicht aufhören zu heulen.« Cora wischte sich die Tränen fort. »Die gnädige Frau ist immer furchtbar nett zu mir. Sie ist immer furchtbar nett.« Sie gingen zurück in Richtung Warteraum, und plötzlich packte Cora Eve am Arm. »Sie bringen sie raus.« »Ja.« Das Bett, in dem Allika lag, wurde aus dem Behandlungsraum in Richtung der Fahrstühle gerollt. »Das heißt, ihr Zustand ist stabil.« Zumindest für den Augenblick. »Hören Sie mir zu, Cora. Sehen Sie mich an«, wandte sich Eve erneut dem Kindermädchen zu. »Was?«
»Haben Sie Freunde in der Stadt?« »Ja.« »Ich will, dass Sie bei ihnen übernachten.« »Oh, aber ... ich bleibe lieber bei der kleinen Ray. Das arme Mäuschen wird mich sicher brauchen.« »Nein.« Eve würde nicht riskieren, dass noch einem unschuldigen Menschen irgendwas passierte. Nachdem ihr jüngster Anschlag fehlgeschlagen war, ließe Rayleen ihren Zorn vielleicht an Cora aus. »Wenn Sie das Krankenhaus verlassen, fahren Sie direkt zu Ihren Freunden und bleiben heute Abend dort. Ich kümmere mich um Mr Straffo und Rayleen.« »Ich verstehe nicht.« »Das brauchen Sie auch nicht. Aber wenn Sie mir nicht versprechen zu tun, was ich Ihnen sagen, lasse ich Sie auf die Wache bringen und dort als wichtige Zeugin festhalten. Sie haben die Wahl.« »Das ist ganz schön hart.« »Ich kann Ihnen versichern, dass es noch viel härter werden wird. Straffo und das Kind sind gerade auf dem Weg in die Intensivstation. Sie können auch kurz raufgehen, Rayleen ihren Saft bringen, mit den beiden reden und sich davon überzeugen, dass mit ihnen alles in Ordnung ist. Dann will ich, dass Sie gehen und tun, was ich Ihnen gesagt habe.« »Also gut, okay. Ich nehme an, dass sie ihm Augenblick sowieso nur ihren Daddy will.« Zufrieden machte Eve sich auf die Suche nach Louise. »Dallas. Die Welt ist wirklich klein.« »Was machen Sie hier im Krankenhaus?« Louise blickte sie lächelnd an. »Ich helfe hier hin und wieder aus und habe mich freiwillig für die Schicht am Valentinstag gemeldet. Charles ist heute ausgebucht, deshalb haben wir unser romantisches Rendezvous einfach auf morgen verlegt.«
Der Mann in Louises Leben verdiente als hoch bezahlter Callboy seinen Lebensunterhalt und war deshalb am Tag der Liebe natürlich ausgebucht. »Sie sehen ziemlich fertig aus.« »War auch ein ganz schön harter Kampf. Und sie ist immer noch nicht über den Berg. Sie atmet noch nicht allein und fängt möglicherweise nie mehr damit an. Aber wenn sie auch nur zehn Minuten später hier gelandet wäre, hätte sie gar keine Chance gehabt.« »Ich brauche eine Probe von dem Zeug, das sie im Magen hatte, für unser Labor.« »Kein Problem. Das Au-pair hat einen überraschend kühlen Kopf bewahrt. Hat den Sanitätern den Namen des Medikaments genannt und ihnen sogar noch die Flasche mitgegeben. Deshalb wussten wir sofort, womit wir es zu tun hatten, was uns eine große Hilfe war. Außerdem hat sie sofort mit Herz-Lungen-Wiederbelebung angefangen und die Patientin dadurch vor dem Herzstillstand bewahrt. Eine wunderschöne Frau, unsere Patientin. Verheiratet und Mutter eines süßen kleinen Mädchens. Man kann eben niemandem hinter die Stirn gucken.« »Nein, das kann man nicht.«
21 Louise musste hinauf in die Intensivstation, und Eve wandte sich Mira zu: »Und?« »Sie ist eine hervorragende Schauspielerin.« »Sie ist in der Theater-AG der Schule.« »Das überrascht mich nicht. Natürlich müsste ich mich noch länger mit ihr unterhalten, um ganz sicher zu sein, aber wahrscheinlich haben Sie mit Ihrer Analyse recht. Sie hat es genossen, dass ich mich auf sie konzentriert habe, obwohl sie genau darauf geachtet hat, was Sie währenddessen tun. Sie wollte ganz sicher sein, dass Sie ihr zuhören.« »Das habe ich getan. Die Wiedergabe des Gesprächs, das sie angeblich mit ihrer Mutter hatte, war erstaunlich detailliert. >Ich liebe dich am allermeisten. Ich weiß, du wirst tapfer sein.< Und dann hat sie extra noch eingeflochten, dass sich ihre Mutter öfter nicht gut fühlt. Sie hatte alles sorgfältig geplant, aber dann musste sie mit einem Mal improvisieren, nachdem Cora ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.« »Vielleicht sieht sie Coras Eingreifen ja auch nur als Verzögerung, denn möglicherweise wacht Allika Straffo nie mehr aus dem Koma auf. Sie hat Riesenspaß an dieser ganzen Sache, Eve. Daran, im Krankenhaus zu sitzen, an der Krise, daran, wie nett die Leute zu ihr sind, an der Angst und Sorge ihres Vaters, der besonderen Zuwendung, die sie durch ihre Kinderfrau erfährt.« »All das nutzt sie nach Kräften aus. Nur wird dieses Glück bestimmt nicht lange währen. Sie und Louise müssen Ihren Einfluss geltend machen, damit Straffo und die Kleine heute Nacht eins der Familienzimmer kriegen. Ich will nicht, dass das Kind zu seiner Mutter kommt.«
»In einer Situation wie dieser, und da der Zustand der Mutter kritisch ist, wird das Personal die Familie noch ermutigen, Zeit mit der Patientin zu verbringen.« Mira dachte eilig nach. »Falls Sie die Schwestern alarmieren, wird man ihnen das wahrscheinlich ansehen«, stellte Mira fest. »Dann würde sie sicher merken, dass etwas nicht stimmt.« »Ja, ja, das stimmt.« Eve marschierte den Korridor ein Stück hinab und kam dann wieder zurück. »Okay. Ich werde Allika rund um die Uhr bewachen lassen. Ich werde jemanden besorgen, der über medizinische Kenntnisse verfügt und der sie nicht eine Sekunde aus den Augen lässt.« »Weil Sie denken, dass Rayleen versuchen könnte, zu Ende zu bringen, was sie angefangen hat.« »Wahrscheinlich nicht, oder zumindest nicht sofort, aber ich werde kein Risiko mehr eingehen. Ich werde Louise bitten, dafür zu sorgen, dass die Kleine mitbekommt, dass ihre Mutter aus medizinischen Gründen durchgängig unter Beobachtung steht. Dann werde ich Straffo das Messer ins Herz rammen und ihm erklären müssen, dass Allika zweier Morde verdächtigt wird, und einen Beamten vor ihrer Zimmertür postieren.« »Der Mann hält sich nur noch mühsam auf den Beinen.« »Genau darauf zähle ich«, antwortete Eve. »Ich muss einfach darauf hoffen, dass er irgendwann zusammenbricht. Rayleen tut nichts spontan oder aus Verzweiflung, weshalb Allika meiner Meinung nach erst einmal sicher ist. Ich stelle nur deshalb jemanden vor ihrem Zimmer auf, weil ich auf Nummer sicher gehen will.« »Und wie wollen Sie die Sache weiterführen?« »Ich werde Rayleen das Gefühl geben, dass sie mit ihrem Treiben durchgekommen ist. Sie soll sich entspannen und denken, sie hätte mich erfolgreich hinters Licht geführt. Das arme Kind - erst bringt seine Mom zwei Leute um und dann versucht sie auch noch, sich selber umzubringen. Aber erst mal
muss ich Straffo davon überzeugen, dass es so gewesen ist, das wird bestimmt nicht leicht.« »Er wird Ihnen nicht glauben.« »Keine Ahnung, vielleicht nicht. Warten wir es ab.« Daddy war wütend. Rayleen konnte nicht alles hören, was er mit dem Lieutenant sprach, doch sie wusste, dass er wütend war. Trotzdem riefen die paar Worte, die sie hören konnte, wenn ihr Vater lauter wurde, ein Gefühl der Freude in ihr wach. Diese dumme Polizistin, dachte sie, während sie zusammengerollt auf dem Sofa in dem Wartezimmer lag und so tat, als ob sie schlief. Dieser Lieutenant hielt sich für besonders schlau, nur war es einfach so, dass sie selbst noch viel schlauer war. Wenn die neugierige Cora nicht zurückgekommen wäre, wäre ihre Mutter bereits tot. Wobei das, was jetzt geschah, vielleicht sogar noch besser war. Denn die angespannten Mienen all der Schwestern und der Ärzte, die an ihr vorüberliefen, machten deutlich, dass sie alle wussten, dass es keine Rettung für Allika gab. Deshalb war das alles noch viel interessanter als erhofft. Es war wie das, was Ms Hallywell darüber sagte, wenn man auf der Bühne stand. Falls jemand einen Satz vergaß oder etwas Falsches sagte, musste man improvisieren, damit es ohne Störung weiterging. Sie kniff die Augen weiter zu und lächelte innerlich, als ihr Vater wieder sprach. »Meine Frau kämpft um ihr Leben.« »Ihre Frau hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Tut mir leid«, entgegnete der Lieutenant ruhig. »Ich hoffe, dass sie es schaffen wird. Ehrlich.« »Damit Sie Anklage wegen zweier Morde gegen sie erheben können? Allika könnte niemals einem Menschen etwas antun.« »Abgesehen von sich selbst? Hören Sie, es tut mir wirklich leid. Ich sage nicht, dass wir Anklage gegen sie erheben werden. Schließlich müssen wir diesen Selbstmordversuch mit in die
Beurteilung einbeziehen. Aber falls sie jemals wieder sprechen kann, werde ich sie vernehmen müssen. Ich weiß, das ist nicht leicht für Sie und für Ihr Kind. Deshalb versuche ich, Ihnen ein wenig Zeit zu geben, um sich für all das zu wappnen.« »Gehen Sie. Verschwinden Sie und lassen mich mit meiner Familie allein.« »Ich werde gehen, aber falls sie aufwacht, komme ich zurück. Passen Sie auf sich und Ihre Tochter auf. Die Kleine hat mehr durchgemacht, als ein Kind durchmachen sollte, Oliver.« Auch als ihr Vater sich zu ihr aufs Sofa setzte, ihr ganz sanft über die blonden Locken strich und dabei leise schluchzte, kniff Rayleen die Augen weiter zu. Und fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis endlich die Pizza und die Limo für sie kamen. Auf dem Weg nach unten zog Eve ihr Handy aus der Tasche, doch noch während sie den Kurzwahlknopf für Peabodys Nummer drückte, klingelte es schon. »Dallas?« »Können Sie reden?«, fragte ihre Partnerin. »Ja, ich verlasse gerade das Krankenhaus. Allikas Zustand ist noch immer kritisch. Sie wird noch künstlich beatmet und ihre Chancen stehen weiterhin ziemlich schlecht. Ich habe einen Beamten vor die Zimmertür gestellt und einen anderen mit medizinischen Kenntnissen direkt neben dem Bett postiert. Als Allika eingeliefert wurde, hatte Louise zufällig gerade Dienst.« »Praktisch.« »Allerdings. Sie hat Straffo geraten, so viel Zeit wie möglich an Allikas Bett zu verbringen, mit ihr zu sprechen, ihr gut zuzureden. Wer weiß, vielleicht kriegt sie es ja wirklich mit. Die Kleine macht ihre Sache wirklich ausgezeichnet, aber dieses Mal hat Mira ihr die Schau nicht abgekauft. Das verleiht unseren Argumenten zusätzliches Gewicht.« »Genau wie das Tagebuch. Ich habe es nämlich entdeckt. «
Am liebsten hätte Eve einen Freudentanz vollführt, als sie durch die Tür des Krankenhauses auf die Straße trat. »Ich wusste, es gab einen Grund, warum Sie in der Wohnung bleiben sollten.« »Allerdings. Auch wenn es Stunden gedauert hat, bis ich endlich erfolgreich war.« »Wo hat das Ding gesteckt?« »Im Recycler in der Küche. Ich habe das gesamte Penthouse auf den Kopf gestellt und extra die uniformierten Kollegen dabehalten, um mir dabei zu helfen. Warum in aller Welt bin ich nicht sofort darauf gekommen, dass das Ding vielleicht einfach im Recycler steckt?« »Wie viel ist von dem Tagebuch noch übrig?« »Ich würde sagen alles, weil es nämlich in einer hübschen, mit ihrem Namen beschrifteten Metallbox lag. Ich weiß ganz sicher, dass das Buch in diesem Kasten steckt, das verrät mir das Gewicht und das Geräusch, wenn ich den Kasten schüttele. Offenbar war der Recycler nur einmal kurz angestellt. Der Kasten ist verbeult und das Schloss so eingedrückt, dass ich es nicht öffnen kann. Wahrscheinlich müssen wir den Kasten aufschneiden.« »Ich komme vorbei und hole den Kasten ab. Roarke kriegt das Schloss bestimmt problemlos auf.« »Super. Dann rufe ich McNab an und sage ihm, dass er den romantischen Abend verschieben soll.« »Nein.« Eve stieg in ihren Wagen. »Es wird eine ganze Weile dauern, bis ich alles zusammenhabe, was ich brauche. Schließlich ist das hier eine verdammt kniffelige Angelegenheit. Ich werde das Tagebuch abholen, als Beweismittel melden und dann mit nach Hause nehmen.« »Gemeldet habe ich es schon.« »Umso besser. Dann fahren Sie nach Hause, trinken was und haben, wenn es sein muss, wilden Sex.« »Es muss sein. Es muss sogar auf alle Fälle sein.«
»Achten Sie darauf, die Videoübertragung auszuschalten, wenn ich nachher anrufe. Sonst werde ich wahrscheinlich blind. Wir werden die Puzzleteile zusammensetzen und dann bringen wir die Sache unter Dach und Fach.« Damit legte sie auf und murmelte: »Tja, Rayleen, du kleines Miststück. Jetzt habe ich dich erwischt.« Während Eve nach Hause fuhr und sowohl Whitney als auch Mira telefonisch davon in Kenntnis setzte, dass das Tagebuch gefunden worden war, wählte Roarke in Ruhe den Champagner für das Abendessen aus. Er hatte fast den ganzen Tag am Schreibtisch zugebracht und freute sich auf ein paar wunderbare Stunden nur mit seiner Frau. Das von ihm gewählte Essen würde ihr gefallen und sie amüsieren, das wusste er. Für ihr intimes Valentinstagsmahl hatte er Peperonipizza ausgesucht. Weil das eine ihrer Lieblingsspeisen war. Auch die passende Garderobe für den Anlass hatte er bereits für sie herausgelegt. Sie würde sich darüber ebenfalls nach Kräften amüsieren, und er selber würde sich daran erfreuen, wenn sie in einem roten Seidennegligee mit weißem Hermelinbesatz vor ihrer Pizza saß. Da sie ihn nicht angerufen hatte, um zu sagen, dass sie aufgehalten worden war, finge ihr für acht geplantes Abendessen vielleicht wirklich pünktlich an. Und zwar, dank des Holo-Raums, im winterlichen Prag. Die romantische Architektur, der dicht fallende Schnee, die Zigeuner, die wehmütige Weisen auf ihren Gitarren spielten, waren vielleicht etwas übertrieben aber, warum zum Teufel nicht? »Roarke.« »Hm«, antwortete er seinem Majordomus und schloss seine Auswahl ab. »Magdalena ist draußen am Tor.« »Sie ist was?«
»Draußen am Tor«, wiederholte Summerset. »Sie hat Tränen in den Augen und bittet um Einlass. Sie behauptet, dass sie nur kurz mit Ihnen sprechen muss. Soll ich ihr erklären, dass Sie nicht erreichbar sind?« Das wäre die bequemste Lösung, dachte Roarke, und am liebsten hätte er sie auch gewählt. Aber entweder er brächte diese Sache sofort hinter sich oder müsste es zu einem anderen Zeitpunkt tun. Vor allem war er auch ein wenig neugierig. Wie würde Maggie dieses Mal erklären, was geschehen war? »Nein, lassen Sie sie rein. Führen Sie sie in den Salon. Ich werde mit ihr reden.« »Wenn ich mich nicht irre, ist der Lieutuant bereits auf dem Weg nach Hause.« »Also machen Sie möglichst schnell. Lassen Sie sie herein, und dann bringen wir die Sache hinter uns.« Schon immer hatte Magdalena es geliebt, Unruhe zu stiften, dachte Roarke, als Summerset den Raum verließ. Eine Eigenschaft, die er vor Jahren durchaus attraktiv gefunden hatte. Doch er hatte damals nicht oder nicht klar genug gesehen, wie ausgeprägt ihr Hang zum Säen von Zwietracht war. Inzwischen war ihm klar, wie er mit ihr umzugehen hatte. Er würde dafür sorgen, dass sie ein für alle Mal verstand. Und dann würde er sie niemals wiedersehen. Er ließ sich Zeit, als er nach unten ging. Es täte Magdalena gut, wenn sie ein wenig warten müsste, dachte er. Summerset würde verhindern, dass sie die Silberlöffel stahl, während er selbst nicht in der Nähe war. Wie erwartet, war der Butler im Wohnzimmer geblieben und hatte Magdalena ein Glas Wein serviert. Sie trug elfenbeinfarbenen Satin, wirkte blass und zart und hatte sich so vor den Kamin gestellt, dass das Licht der Flammen ihren makellosen Teint und ihr weich fließendes Kleid besonders vorteilhaft zur Geltung kommen ließ.
Sie hatte schon immer das Talent gehabt, sich in Szene zu setzen, dachte er. Nur hatte sie dabei früher immer andere im Visier gehabt. »Roarke.« Sie senkte vorgeblich beschämt den Kopf. Aber erst, nachdem ihm ein gewisser feuchter Glanz in ihren Augen aufgefallen war. »Oh, Roarke, kannst du mir je verzeihen?« »Würden Sie mich wohl bitte kurz entschuldigen?«, wandte er sich seinem Butler zu. Als Summerset den Raum verließ, stellte sie ihr Weinglas mit leicht zitternder Hand auf dem Kaminsims ab. »Ich fühle mich einfach schrecklich wegen dieser Sache. Ich ... Roarke, ich war in den letzten beiden Tagen unterwegs und bin gerade erst zurückgekommen. Aber ich habe von der dummen Geschichte gehört und den Bericht gesehen. Ich habe versucht, dich anzurufen, bevor ich weggefahren bin, sofort, als ich ... Aber ...« »Ich hatte zu tun.« »Du bist mir ausgewichen«, stellte sie mit tränenerstickter Stimme fest. »Und auch jetzt war ich mir nicht sicher, ob du mich überhaupt empfangen würdest. Diese verdammten Paparazzi. Man sollte sie alle aufhängen.« »Selbst sie müssen sich irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen.« »Aber anzudeuten, eine so völlig unschuldige Begegnung hätte eine so ... verruchte Bedeutung. Wir sollten sie verklagen. Wodurch allerdings alles nur noch schlimmer würde. Ich weiß, ich weiß.« Sie hob eine Hand und winkte ab. »Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, wie fertig dich das macht. Und vor allem deine Frau. Ist sie sehr wütend deshalb?« Er legte seinen Kopf leicht auf die Seite. »Was glaubst du?« »Ich an ihrer Stelle wäre außer mir vor Zorn. Sie haben es so aussehen lassen, als ... dabei haben wir nur auf Wiedersehen gesagt. Du und ich wissen, dass wir nur auf Wiedersehen gesagt haben, sonst nichts.« »Stimmt, wir haben Lebewohl gesagt, sonst nichts.«
»Vielleicht, wenn ich versuchen würde, es ihr zu erklären. Ist sie da? Ich könnte versuchen ...« »Du weißt ganz genau, dass sie nicht zu Hause ist.« Magdalena klappte ihre tränenfeuchten Augen zu. Sie dachte eilig nach, erkannte er. Entwickelte im Handumdrehen eine neue Strategie. »Also gut, ja. Ich gebe es zu. Ich wollte erst mit dir alleine sprechen, deshalb habe ich vorher auf der Wache angerufen. Dort haben sie mir gesagt, sie wäre dienstlich unterwegs, da habe ich mich sofort auf den Weg hierher gemacht. Gott. Ich bin ein solcher Feigling.« Sie hob ihre Fingerspitzen leicht an ihre Lippen. »Aber wenn es auch nur im Geringsten helfen würde, würde ich versuchen, ihr alles zu erklären.« »Ich glaube nicht. Sie weiß nämlich bereits genau über alles Bescheid.« »Oh. Gut. Gut. Das ist eine große Erleichterung für mich.« »Sie weiß genauestens darüber Bescheid, dass du das alles inszeniert und den Kerl dafür bezahlt hast, dass er die Aufnahme von uns beiden macht und an den Sender schickt.« »Was? Das ist ja wohl total lächerlich. Das ist ... Roarke«, stieß sie seinen Namen mit einem verletzten Unterton und genau dem richtigen Maß an Entsetzen aus. »Wie kannst du glauben, dass ich so was tun würde? Ich kann verstehen, dass du aufgewühlt und wütend bist - das bin ich schließlich auch -, aber mich zu beschuldigen, absichtlich versucht zu haben, dir und deiner Frau so wehzutun. Was hätte ich davon?« Es war wirklich kein Wunder, dass sie in den Monaten ihrer Zusammenarbeit zumindest auf beruflichem Gebiet so erfolgreich gewesen waren, dachte er. Sie war einfach brillant. »Ich würde sagen, der Spaß an der Freude wäre dir bereits genug.« »Wie kannst du so etwas Abscheuliches sagen?« Sie nahm ihr Weinglas wieder in die Hand. »Das ist wirklich widerlich.«
»Glaubst du, ich würde es nicht schaffen, den Typen ausfindig zu machen, der die Aufnahme gemacht hat, und ihm genug zu bezahlen, damit er mir alle Einzelheiten eures Deals erzählt? Du unterschätzt mich, Maggie.« Sie trug ihren Wein ans Fenster und wandte ihm den Rücken zu. »Nein, nein«, sagte sie ruhig. »Ich könnte dich niemals unterschätzen. Vielleicht wollte ich, dass du es weißt. Mir war völlig klar, dass du es am Ende wissen würdest. Du unterschätzt mich, Roarke. Du unterschätzt das, was ich für dich empfinde. Mein Bedauern.« Sie blickte über ihre Schulter. »Mein Verlangen. Ich gebe es zu. Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe, aber ich werde mich auch nicht dafür schämen. Ich habe getan, was ich meiner Meinung nach tun musste. Ich hätte alles getan, um dich zurückzugewinnen. Alles andere war mir egal. Es ging mir einzig darum, wieder mit dir zusammen zu sein.« »Schwachsinn.« Er sah sie reglos an. »Wie kannst du dich derart über meine Gefühle lustig machen?« Sie schleuderte ihr Weinglas durch die Gegend und die Scherben flogen durch den Raum. »Wie kannst du es wagen, während ich hier stehe und mich derart vor dir entblöße?« »Wie kann ich mich über Gefühle lustig machen, die du gar nicht hast? Du hast nie etwas für irgendwen empfunden als für dich allein.« Er stieß ein halbes Lachen aus. »Auch wenn es ein bisschen gedauert hat, bis mir das klar geworden ist.« Dann verstummte auch das halbe Lachen, und er fuhr mit kalter Stimme fort: »Du bist hierher nach New York gekommen, um dir einen möglichst dicken Fisch zu angeln, weiter nichts. Ich habe inzwischen deutlich mehr, als ich damals hatte, und du hast auf ein Stück dieses Kuchens gehofft. Aber weißt du, sie hat dich sofort durchschaut. Auf den ersten Blick.« Magdalena warf den Kopf zurück und marschierte auf ihn zu. »Und ich habe auf den ersten Blick gesehen, dass sie dich an der Kandare hat. Ich hätte mich am liebsten totgelacht. Der
mächtige und reiche Roarke hat sich von einer klapperdürren Bullenschlampe ohne jeden Stil und ohne jede Schönheit zähmen lassen.« »Seltsam. So, wie ich es sehe, hat sie deutlich mehr Stil, Schönheit und vor allem Klasse, als du je besessen hast.« Sie holte kraftvoll aus, doch er zuckte nicht einmal zusammen, als ihre Hand auf seine Wange traf. »Das solltest du nicht noch einmal tun«, erklärte er so leise, dass sie ihre Hand erschrocken sinken ließ. »Roarke ...« »Du warst es, die mich an die Kandare nehmen wollte, Maggie, du warst diejenige, die dachte, dass sie dazu einfach mit den Fingern schnipsen muss. Und als ich nicht darauf eingegangen bin, hast du alles in deiner Macht Stehende getan, um mich und meine Ehe zu schädigen und meine Frau zu verletzen.« »Und wenn schon. Es ist schließlich alles nur ein Spiel. Früher hattest du noch Sinn für Humor, aber den hat sie dir anscheinend genauso ausgetrieben wie deine Männlichkeit.« »Du wirst weder sie noch mich jemals verstehen. Du wirst nie verstehen, was wir beide haben. Und noch trauriger für dich, du wirst niemals etwas Vergleichbares haben. Weil du dazu ganz einfach nicht fähig bist. Und jetzt werde ich dir sagen, wie es weitergehen wird. Hör gut zu. Du wirst nie wieder einen Fuß in mein Heim oder ein anderes Gebäude oder Unternehmen setzen, das mir ganz oder auch nur teilweise gehört. Weder in eins meiner Hotels, einen meiner Flieger, eins meiner Geschäfte oder Restaurants. Und ich kann dir versichern, dass es eine ganze Reihe solcher Orte gibt.« »Oh, um Himmels willen. Du kannst mir ja wohl nicht verbieten ...« »Oh doch, ich kann. Und werde es auch tun«, verbesserte er sie so kühl, dass sie noch bleicher wurde als zuvor. »Du wirst nicht nur diese Stadt, sondern dieses Land innerhalb der nächsten drei Stunden verlassen.«
»Du kannst kaum das ganze verdammte Land kontrollieren«, schnauzte sie zurück. »Ich könnte es auf jeden Fall versuchen, und sei es nur, um dich in Schweiß ausbrechen zu sehen. Aber das ist gar nicht erforderlich. Denn wenn du nicht in spätestens drei Stunden aus diesem Land verschwunden bist, werden Interpol und die Zentrale Aufklärungsstelle für internationale Verbrechen ein paar äußerst interessante und vor allem detaillierte Informationen über dich erhalten.« Er warf einen vielsagenden Blick auf seine Armbanduhr. »Die Zeit läuft.« Jetzt wurde sie totenbleich. »Du würdest mich verraten?« »Ich würde dich wie ein Insekt zertreten dafür, dass meine Frau infolge deines Tuns auch nur einen Augenblick lang unglücklich gewesen ist. Das solltest du mir glauben und davor solltest du dich fürchten«, erklärte er ihr ruhig. »Wenn du so etwas versuchen würdest, würde ich dafür sorgen, dass du mit mir untergehst.« Jetzt sah er sie lächelnd an. »Das kannst du gern versuchen. Aber ich kann dir versichern, dass du keine Chance hättest und dass du vor allem merken würdest, dass die Unterbringung und der Service in einem Gefängnis ganz eindeutig nicht deinem Geschmack entspricht.« Er sah, dass ihre Lippen zitterten, bis sie die Zähne aufeinanderbiss. Sie musste den Schock darüber verdauen, dass das, was er sagte, eindeutig die Wahrheit war, dann aber stellte sie mit einem nonchalanten Schulterzucken fest: »Ich brauche dich nicht. Ich habe dich noch nie gebraucht.« Sie schlenderte lässig durch den Raum. »Ich dachte nur, wir könnten vielleicht etwas Spaß zusammen haben, aber offensichtlich weißt du gar nicht mehr, wie man sich richtig amüsiert.« »Die Uhr tickt«, warnte er in ruhigem Ton, und sie wirbelte zu ihm herum. »Ich lebe sowieso viel lieber in Europa. New York langweilt mich. Du langweilst mich.«
Im selben Augenblick sah sie durch das Fenster des Salons die Scheinwerfer von einem Wagen, der in Richtung Haus gefahren kam, wandte sofort eine neue Taktik an und stieß ein raues Lachen aus. »Ach, was soll's. Du bist mir auf die Schliche gekommen und hast mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da nützt es mir auch nichts zu jammern. Zeit, meine Verluste zu begrenzen und weiterzuziehen. Schließlich gibt es neben dir noch jede Menge anderer großer Fische, die ich an die Angel nehmen kann.« Sie sah ihn lächelnd an. »Ich werde nie verstehen, weshalb du sie willst und nicht mich.« »Nein, das wirst du nie verstehen.« Sie machte einen Schritt nach vorn, um nach dem Pelz zu greifen, den sie über eine Stuhllehne geworfen hatte, drehte sich geschmeidig einmal um sich selbst, drückte ihm den Mantel in die Hand und warf sich ihm mit perfektem Timing an die Brust. Der Zobel fiel zu Boden, als er ihre Schultern packte, um sie von sich fortzuschieben. Als Eve den Raum betrat, sah sie Magdalenas Arme um Roarkes Hals, seine Hände auf ihren nackten Schultern und einen der elfenbeinfarbenen Spaghettiträger ihres Kleides, der in Höhe ihres Ellenbogens hing. »Verdammt.« Magdalena wirbelte zu ihr herum und starrte sie gespielt entgeistert an. »Oh Gott. Oh ... es ist nicht so, wie es aussieht.« »Davon bin ich überzeugt.« Eve ging auf die beiden zu. Das hieß, sie marschierte auf sie zu. Roarke genoss den Anblick während des Moments, der ihm noch blieb, bevor ihre geballte Faust auf seine Unterlippe traf. »Verflucht.« Sein Kopf krachte zurück, und er schmeckte Blut. Magdalena schrie, wobei jedoch ihr unterdrücktes Lachen selbst für einen Tauben nicht zu überhören war. »Roarke! Oh, mein Gott, du blutest. Bitte lass mich ...«
»Stellen Sie sich vor«, erklärte Eve. »Er ist nicht der Einzige.« Jetzt verpasste sie auch Magdalena einen gut gezielten Schlag und fügte, als sie ohnmächtig zu Boden ging, ein gut gelauntes »Ekelweib« hinzu. Roarke blickte auf die Frau, die vor ihm lag. »Verflucht noch mal.« »Ich gehe davon aus, dass du dieses Miststück umgehend aus meinem Haus entfernen willst.« Damit marschierte Eve bereits wieder in den Flur hinaus. Als sie an Summerset vorüberlief, kam es ihr so vor, als hätte er ein Grinsen aufgesetzt, völlig sicher aber war sie nicht. »Passen Sie auf. Wenn Sie den Mund derart verziehen, reißt vielleicht Ihr Gesicht in der Mitte durch.« »Lautstarker Applaus kam mir ein wenig unangemessen vor.« Schnaubend ging sie in den oberen Stock hinauf. Mit schmerzendem Gesicht und angeschlagenem Stolz stieg Roarke über die ohnmächtige Magdalena hinweg in den Flur und wies seinen Butler eisig an: »Kümmern Sie sich um sie.« »Mit dem größten Vergnügen.« Trotzdem blieb der Butler noch kurz stehen und sah Roarke hinterher, wie der hinter seiner Frau im ersten Stock verschwand. Sie war bereits im Schlafzimmer, als er nach oben kam. »Verdammt und zugenäht, du weißt ganz genau, dass das eine Falle war. Ich hätte sie niemals von mir aus angefasst, das ist dir doch wohl klar.« »Ja, ja, sicher.« Eve zog ihren Mantel aus und warf ihn achtlos fort. »Ich erkenne eine Falle, wenn ich eine sehe, und ich kenne vor allem dein Gesicht. Darin habe ich keine Leidenschaft, sondern nur Verärgerung gesehen.« »Ach ja? Ach ja? Tja, aber wenn du wusstest, dass es eine Falle war, warum hast du mir dann einen Kinnhaken verpasst?« »Hauptsächlich, weil du ein Mann bist«, gab sie seelenruhig zurück.
Er versuchte, die Blutung seiner aufgerissenen Lippe mit dem Handrücken zu stillen, und sah sie böse an. »Und wie oft darf ich in Zukunft damit rechnen, dass du mir einzig wegen meiner blöden DNA einen Kinnhaken verpasst?« »Das kann ich dir nicht sagen.« Er sah so herrlich wütend und so wunderbar beleidigt aus - am liebsten hätte sie ihn umgehend vernascht. »Obwohl du es auf jeden Fall verdient hättest, dass dir jemand ordentlich das Hinterteil versohlt.« »Das ist lächerlich. Allmählich habe ich von Frauen einfach die Nase voll.« Doch trotz seines noch immer heißen Zorns ging ihm allmählich auf, wie lächerlich das alles war. »Weil ihr Furcht einflößende, irrationale Wesen seid.« Sie wippte auf den Füßen, ging kurz in die Knie und richtete sich wieder auf. »Hast du vielleicht Angst davor, es mit mir aufzunehmen? Los, Heißsporn, du hast eine verpasst gekriegt, weil du ein Mann bist. Also verhalt dich jetzt auch wie ein Mann.« »Du willst dich mit mir schlagen?« Auch er nahm eine kampfbereite Haltung ein. »Ich werde dich fertigmachen.« »Ich zittere vor Angst.« Sie täuschte mit der Linken an, wirbelte herum und trat nach hinten aus. »Oder vielleicht eher, weil ich mir das Lachen kaum verkneifen kann.« Er wehrte ihren Fuß mit einem seiner Arme ab, zwang sie, über sein ausgestrecktes Bein zu springen, trieb sie vor sich her in Richtung Bett, nahm kurz aus dem Augenwinkel Maß, drehte sich einmal um die eigene Achse und warf sie rückwärts um. Sie landete weich auf der Matratze, aber ehe er sich auf sie stürzen konnte, rollte sie sich schon wieder vom Bett und nahm eilig wieder eine Angriffshaltung ein. »So einfach wird es nicht, Kumpel.« »Hat irgendwer gesagt, dass ich es einfach haben will?« Auch er rollte sich wieder vom Bett, und obwohl sie anerkennend nickte, weil er wirklich schnell und ausnehmend geschmeidig war, tänzelte sie einen Schritt zurück und täuschte
mit der Linken an, bevor sie ihren rechten Ellbogen in seine Magengrube krachen ließ. Jedoch nicht mit ganzer Kraft. Denn schließlich hatte sie an diesem Abend noch etwas mit ihm vor. Aber falls er etwas hinkte, wäre das nicht weiter schlimm. Und geschähe ihm vor allem recht. Sie hob ihren Fuß, um ihm mit dem Absatz ihres Stiefels kräftig auf den Spann zu treten, doch er drehte sich blitzschnell um und brachte sie auf diese Weise aus dem Gleichgewicht. Gemeinsam rollten sie die Stufen des Podests hinunter auf den Teppich, wo sie auf ihm liegen blieb. »Und, gibst du jetzt endlich auf?«, fragte sie ihn atemlos. »Nein.« Er klemmte ihre Beine zwischen seinen Beinen ein und rollte sich mit ihr herum, bis er auf ihr lag. »Du?« »Nie im Leben.« Sie riss an den Knöpfen seines Hemds. »Dafür wirst du bezahlen.« »Versuch doch, mich dazu zu zwingen.« Er schob eine Hand in den Kragen ihres Hemds, riss es ihr vom Leib und sah den Diamanten und das Amulett des Heiligen, die sie darunter trug. Die Ärmel ihrer Bluse hingen an dem Waffenhalfter, das sie trug, eilig machte er es auf. »Verdammter Cop«, murmelte er. »Verdammter Krimineller.« »Ehemalig, und niemals verurteilt.« Er versuchte sie zu küssen, zog aber - da die verletzte Lippe höllisch brannte - seinen Kopf mit einem leisen Fluch zurück. »Du hast einen wirklich harten Schlag.« Angesichts des Blitzens ihrer braunen Augen und des selbstzufriedenen Lächelns, das auf ihren Lippen lag, fügte er hinzu: »Aber trotzdem liebe ich dich mehr als alles andere.« »Das kann ich nur für dich hoffen, Kumpel.« Lachend zog sie ihn auf sich herab. Sie würde ihn verschlingen, würde gierig an ihm nagen und ihm ihre Nägel in den Rücken bohren, hätte sie ihm endlich das
zerfetzte Hemd vom Leib gezerrt. Als sich Magdalena an ihm festgeklammert hatte, hatte er nicht nur verärgert ausgesehen. Vielleicht hätte sie es nicht bemerkt, wenn sie und Roarke so dumm, verrückt oder blind gewesen wären, an dem Tag, an dem sie sich begegnet waren, aneinander vorbeizugehen. »Ich liebe dich.« Sie knabberte an seinem Oberarm und rang erstickt nach Luft, als er mit seinen Zähnen über ihre Kehle glitt. Dann schlang sie ihm die Beine um die Taille, rollte sich erneut mit ihm herum, bis sie wieder auf ihm lag, und glitt mit ihrem fiebrig heißen Mund über seine Lippen und sein Fleisch. Dann würde es also nicht romantisch und verträumt, es würde kein Schnee vor Butzenscheiben fallen und die Luft wäre nicht mit süßem Geigenklang erfüllt. Es würde verzweifelt, etwas rau und genauso drängend und real wie das Schlagen ihres Herzens, das an seine Rippen drang. Er hatte das Gefühl, als hinge auch sein eigenes Überleben vom Geschmack und der Textur ihres Körpers ab. Weshalb er wie ein Besessener an ihren Kleidern zog und riss. »Du wirst mir alles von dir geben. Alles.« »Nimm es«, antwortete sie und rollte sich abermals mit ihm herum. Sein Mund plünderte ihre Brust und seine Hände ... seine Hände, seine Hände ... Sie schrie gellend auf, hatte das Gefühl, als zucke ein gleißend heller Blitz durch ihren Leib, hörte, dass er etwas auf Gälisch murmelte, und spürte das Zittern seines Körpers, weil er selber noch nicht kam. Doch das ließe sie nicht zu. »Du wirst mir genauso alles von dir geben. Alles«, sagte sie. Ihre Hände und ihr Mund nahmen ihn so, wie er sie zuvor genommen hatte, raubten ihm die Beherrschung, nahmen ihm die Willenskraft und jeglichen Verstand. Kurz vor dem Delirium presste er ihr seine Lippen auf den Mund und sog ihren herrlichen Geschmack begierig in sich auf.
Lippen, Zähne, Zungen forderten und nahmen, bis es beinahe schmerzhaft war. Ihre Lungen brannten und das Blut in seinen Adern kochte, während sie sich alles von ihm nahm und ihm alles von sich gab. »Jetzt, jetzt, jetzt.« Sie bäumte sich begehrlich auf, und als er endlich in sie eindrang, schrie sie nochmals schluchzend auf. Trotzdem pumpten ihre Hüften schnell und kraftvoll weiter, bis auch er in wundervoller Dunkelheit versank. Ihre Hände lockerten den Griff um seine Hüften, glitten matt zur Seite und trafen mit einem leisen Krachen auf dem Boden auf. Er hatte auf sie eingetrommelt, sie erschöpft und aus dem Gleichgewicht gebracht, bis sie herrlich weich und schlaff geworden war. Am liebsten hätten sich die Nägel ihrer Zehen vor Vergnügen aufgerollt, nur fehlte ihr dazu die erforderliche Energie. »Himmel«, stieß sie mühsam aus. »Heiliger tanzender Jesus.« »Wenn ich irgendwann in ferner Zukunft wieder stehen kann, werde ich mir noch mal einen Kinnhaken von dir verpassen lassen, um zu sehen, ob es dann so weitergeht.« »Okay.« »Oder vielleicht probieren wir doch das romantische Abendessen aus. Danach kannst du mir schließlich immer noch eine verpassen, wenn du willst.« Er konnte spüren, dass sie zusammenfuhr. »Gibt es irgendein Problem?« Er hob den Kopf und sah ihr an, dass wirklich irgendetwas nicht in Ordnung war. »Was ist?« »Es tut mir wirklich leid.« »Ich finde, dass eine Entschuldigung angesichts des Zu- stands, in dem wir uns momentan befinden, irgendwie nicht nötig ist.« Dann aber sah er ihren Blick und stellte richtig fest: »Es geht nicht darum, dass du mich geschlagen hast. Geht es um den Fall?« »Ich habe dich nicht angerufen, um das Abendessen zu verschieben, weil ich dachte, dass es besser ist, wenn ich dir
gegenüberstehe und dir alles sage. Und jetzt liegst du sogar direkt neben mir. Es gibt sehr viel zu erklären, und das werde ich auch tun. Es gibt da etwas, was ich tun muss, wobei du mir helfen kannst.« »Okay.« »Vielleicht kriegen wir das mit dem Kerzenschein und so nachher noch hin, aber ...« »Kein Problem, wenn nicht. Versprochen, Eve.« Oh ja, wir haben wirklich Glück, ging es ihr durch den Kopf. Gott, sie hatten wirklich alles Glück der Welt. »Ich habe ein Geschenk für dich.« »Ach ja?« »Ein Gedichtband - lauter romantisches Zeug. Ich dachte, schmalziger geht's einfach nicht mehr, deshalb kam es mir passend vor. Aber dann habe ich es mal wieder vermasselt und das Ding auf dem Revier in meinem Schreibtisch liegen lassen.« Lächelnd beugte er sich über sie und gab ihr einen sanften Kuss. »Trotzdem vielen Dank.« Sie berührte seine Wange. »Ich werde kurz unter die Dusche springen und dann weitermachen. Eigentlich wollte ich die Sache sofort erledigen, damit wir vielleicht später noch hätten zusammen essen können, aber dann musste ich ja dir und deinem blonden Flittchen eine verpassen, und so hat eins zum anderen geführt.« »Natürlich. Tja, also werden wir zusammen duschen und dabei kannst du mir erklären, worum es geht.« Er sagte kaum ein Wort, während sie erzählte, was geschehen war. »Also«, meinte er am Schluss, als sie in eine lockere Flanellhose und ein Sweatshirt stieg. »Dann hast du mit deiner Einschätzung der Kleinen recht gehabt.« »Sie ist keine Kleine, aber ja, ich hatte recht. Das Tagebuch wird einer der Nägel zu ihrem Sarg. Ich hätte die Blechkiste, in der es steckt, aufschneiden lassen können, aber ...« »Ich verspreche dir, das wird nicht nötig sein.«
»Lass uns in mein Arbeitszimmer gehen.« Sie griff nach ihrer schweren Aktentasche und lief los. »Ich will alles aufzeichnen. Vielleicht könntest du also so tun, als ob du mit dem Schloss leichte Schwierigkeiten hast.« »Das werde ich ganz sicher nicht.« »Okay, okay.« »Ich würde dir gern erklären, was Magdalena hier gemacht hat.« Sie sah ihn von der Seite an. »Abgesehen davon, dass sie mit dir knutschen wollte?« »Oder genauer gesagt«, verbesserte er sich, »weshalb ich sie in unser Haus gelassen habe.« »Das ist mir bereits klar«, antwortete sie, während sie das Schlafzimmer verließen. »Du musstest die Sache endgültig zum Abschluss bringen. Musstest ihr eindeutig zu verstehen geben, dass sie sich verziehen soll, und ihr ein bisschen Roarkefurcht einflößen.« »Ich habe wirklich Glück, dass ich mit einer Frau gesegnet bin, die mich so gut versteht. Ein bisschen Roarkefurcht einflößen?«, wiederholte er. »Es gibt doch so was wie Gottesfurcht, aber weißt du, Gott kann man nicht sehen, und die meisten Menschen haben das Gefühl, dass er ihnen nicht wirklich was anhaben wird, ganz egal, was sie auch immer tun. Du hingegen bist ein Mensch aus Fleisch und Blut und hättest kein Problem damit, jemanden fertigzumachen, der es deiner Meinung nach verdient. Weshalb du viel furchteinflößender bist als Gott.« »Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das verstehen soll«, meinte er nach einem Augenblick, »aber würdest du vielleicht gerne wissen, wie's gelaufen ist?« »Auf jeden Fall.« Während er es ihr erzählte, stellte sie die Tasche auf dem Boden ihres Arbeitszimmers ab, nahm das Tagebuch heraus, richtete sich wieder auf und starrte ihn mit großen Augen an.
»Siehst du? Siehst du? Heiliges Kanonenrohr. Gott hätte sie niemals derart innerlich erbeben lassen, du kannst deinen irischen Knackarsch darauf verwetten, dass sie vor Angst geschlottert hat. Kannst du ihr wirklich den Zutritt zu all diesen Orten verwehren? Das sind doch sicher um die achtzig Prozent der bekannten Welt.« »Du übertreibst, es sind bestimmt nicht mehr als fünfzig, aber, ja.« Er sah sie mit einem kalten Grinsen an. »Das kann ich auf jeden Fall.« »Und du hast Informationen über sie, die für die internationalen Strafverfolgungsbehörden von Interesse wären?« »Wofür hältst du mich? Natürlich habe ich derartige Infos über sie.« Er wartete einen Moment und fügte dann hinzu: »Aber ich werde sie dir ganz bestimmt nicht geben, Eve. Wofür es gleich zwei Gründe gibt.« »Hoffentlich sind diese Gründe gut.« »Erstens gehen diese Infos dich nichts an, und denk am besten gar nicht erst daran, noch mal deine Faust gegen mich zu erheben, nur, weil dir das vielleicht nicht passt. Auch wenn ich es auf meine Kappe nehmen muss, dass sie hierhergekommen ist und Unruhe gestiftet hat. Und zweitens wird sie eine ganze Weile nachts kein Auge zubekommen, weil sie pausenlos darüber grübeln wird, was genau ich weiß und was ich vielleicht mit diesem Wissen machen kann, falls mich der Wunsch nach Rache überkommt.« »Ich finde, dass der erste Grund idiotisch ist, aber der zweite ist derart gemein und deshalb so gut, dass ich sagen würde, wir sind quitt.« »Gut. Tja, dann werde ich jetzt mal den Kasten für dich öffnen und danach können wir unser Valentinsessen zu uns nehmen und uns ansehen, was in dem Kasten ist.« »Hm ...« »Pizza. Ich hatte Pizza und Champagner vorgesehen.« »Wirklich?«
»Ich kenne meine Frau nicht schlechter als sie mich.« Er stupste ihre Nase an. »Aber da wir noch arbeiten müssen, sollten wir wohl besser Kaffee zu der Pizza trinken und den Schampus einfach aufheben, bis der Fall abgeschlossen ist.« »Oh, Mann, ich liebe dich.«
22 Bevor sie die Plastiktüte öffnete, in der der Kasten lag, stellte Eve ihren Rekorder an und gab die erforderlichen Daten ein. Dann erst nahm sie die mit großblütigen Blumen verzierte Kiste in die Hand und stellte sie auf ihrem Schreibtisch ab. »Peabody hat sie aus dem Küchen-Recycler gefischt.« »Clever«, antwortete Roarke und nahm ein kleines Werkzeug in die Hand. »Wenn sich die Dinge nicht so schnell entwickelt hätten wenn das Au-pair nicht zurückgekommen wäre, Allika gefunden und den Krankenwagen gerufen hätte, und Peabody nicht praktisch extra mit dem Ziel, das Tagebuch zu finden, in dem Penthouse geblieben wäre -, hätte dieser Kasten vielleicht schon morgen nicht mehr existiert. Für ein Ding von dieser Größe und aus diesem Material muss man den Recycler öfter anstellen, damit er es zermalmt. So aber wurde die Kiste nur etwas verbeult.« »Was wirklich schade ist. Denn sie ist hübsch. Aus gutem Material und hervorragend verarbeitet, weshalb sie nicht sofort kaputtgegangen ist. Das Mädchen hätte das Buch rausnehmen sollen. Ohne das Metall drum herum wäre es vielleicht zerstört worden, bevor man es gefunden hat.« »Sie weiß ganz schön viel, aber eben nicht alles. Es gibt jede Menge Sachen, die wir im Labor wieder zusammensetzen können. Und ... okay, gut gemacht«, fügte sie hinzu, als das Schloss bereits nach weniger als zehn Sekunden offen war. »Schließlich ist es kein Titantresor«, tat Roarke ihr Lob mit einem Schulterzucken ab. Eve hatte ihre Hände bereits vorsorglich versiegelt, jetzt nahm sie das leuchtend pinkfarbene Buch aus der offenen Box. Es war
ledergebunden und wie viele andere Gegenstände mit Rayleens Namen in glitzernden Silberbuchstaben verziert. Es hatte ebenfalls ein Schloss, das mit einem altmodischen, kleinen Schlüsselchen zu öffnen war. »Der Computer wäre schneller gewesen, als alles handschriftlich festzuhalten«, meinte sie. »Ich gehe jede Wette ein, dass ihre Eltern, so nachsichtig sie auch in vielen Dingen sind, ihr niemals erlauben würden, irgendwas auf ihrer Kiste mit einem Passwort zu versehen. Wohingegen das hier«, er klopfte mit einem Finger auf das Buch, »völlig harmlos und altbacken erscheint, wie etwas, woran ein junges Mädchen seine Freude hat.« Eve trat einen Schritt zurück und wartete, bis auch das zweite Schloss geöffnet war. »Ich will Kopien von allem, was sie aufgeschrieben hat.« »Bevor du es selbst liest?« »Nein. Als Erstes will ich die letzten paar Seiten filmen und danach die Kopien machen. Aber vor allem will ich selber wissen, was Rayleen geschrieben hat.« Sie blätterte die Seiten um, bis sie den letzten Eintrag fand. Dann richtete sie den Rekorder auf die ordentlichen Buchstaben, mit denen die blass pinkfarbenen Seiten mit den goldenen Rändern beschrieben waren, und las gleichzeitig laut vor. Heute Morgen hatte ich meinen pink-schwarzen Faltenrock, meine pinkfarbenen Stiefel und den weißen Pullover mit Blumen am Saum und an den Bündchen an. Ich habe sehr hübsch ausgesehen. Zum Frühstück habe ich Obst, Joghurt und Siebenkorn-Toast gegessen und Cora gebeten, mir echte Orangen auszupressen. Dafür wird sie schließlich bezahlt. Danach war ich bei den Gehirn- joggern. Allmählich wird es dort ein bisschen langweilig, also suche ich vielleicht nach einem Weg, damit ich nicht mehr hingehen muss. Trotzdem macht es mir Spaß zu wissen, dass ich schlauer als die anderen Kinder bin.
Genau, wie ich besser als all die anderen Mädchen in meinem Tanzkurs bin. Wenn ich wollte, könnte ich eines Tages eine Primaballerina werden. Nach den Gehirnjoggern sind Cora und ich mit einem Taxi ins Metropolitan Museum gefahren. Ich verstehe wirklich nicht, warum wir keinen Fahrdienst nehmen konnten. Ich werde Daddy danach fragen. Ich mag die Bilder, obwohl fast alle, die irgendwas gemalt haben, längst gestorben sind. Wenn ich wollte, könnte ich auch eine berühmte Künstlerin werden und meine Gemälde im Met ausstellen lassen. Dann würden die Leute sehr viel Geld bezahlen, um sich meine Bilder anzusehen. Aber ich denke, ich verkaufe meine Bilder lieber an reiche Sammler. Ich will nämlich nicht, dass Leute, die keine Ahnung haben und es deshalb nicht verdienen, vor meinen Werken stehen und sie anstarren. »Interessantes Ego«, stellte Roarke beiläufig fest und Eve blickte kurz auf. »Sie muss das alles aufgeschrieben haben, nachdem ihre Mutter sie nach Hause kommen lassen hat. Trotzdem ist es voller ich, ich, ich. Mira wird ihren Spaß mit der Lektüre haben.« Dann blickte sie wieder auf das Buch und las weiter daraus vor. Ich hätte meine Mutter im Zoology zum Mittagessen treffen sollen. Das ist mein Lieblingsrestaurant, und wir mussten drei Wochen im Voraus reservieren. Eines Tages, wenn ich berühmt bin, werde ich keine blöden Reservierungen mehr brauchen, wenn ich irgendwo hingehen will. Die Leute werden dankbar sein, wenn ich mich dazu herablasse, in ihrem Restaurant zu essen. Danach hätte ich in den Schönheitssalon gehen sollen, um mir die Haare stylen und eine Pediküre machen zu lassen. Ich hatte mir schon die Karnevalslackierung mit dem Glitzer ausgesucht. Aber dann hat Coras Handy geklingelt, es war meine Mutter, die
uns heimgerufen hat. Dabei hatten wir doch jede Menge Pläne! Wir hatten Reservierungen, aber trotzdem musste ich nach Hause kommen, mir war der ganze Tag vermiest. Meine Mutter war noch nicht mal angezogen, als wir heimgekommen sind. Sie denkt eben immer nur an sich. Aber es ist vor allem die Schuld von diesem neugierigen Lieutenant Dallas. Erst dachte ich, sie wäre interessant, aber das ist sie nicht. Sie ist einfach gemein, aufdringlich und dumm, jetzt musste ich alles in Ordnung bringen. Schon wieder. Aber das ist okay. Meine Mutter ist so schwach und dumm, und mein Daddy hat ihr in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als mir. Also habe ich mich um die Sache gekümmert. Es war superleicht. So leicht war es noch nie. Sie hat Pillen in der Wäschekommode versteckt. Als ob ich die nicht finden würde! Ich brauchte ihr also nur einen Tee zu kochen und die Pillen darin aufzulösen. Wie bei der stinkenden alten Mrs Versy letztes Jahr im Kinley- Pflegeheim. Wobei ich für Mami mehr Tabletten brauchte, weil sie nicht alt und schon halb tot wie Mrs Versy war. »Mein Gott«, entfuhr es Roarke. »Ja. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, ob es vorher schon andere Opfer gab.« Dann fuhr Eve mit der Lektüre fort. Sie hat sich wie ein Baby für mich ins Bett gelegt. Ich habe dabei zugesehen, wie sie den Tee getrunken hat. Das war der beste Teil. Sie hat ihn getrunken, wie ich es ihr gesagt habe, und dann habe ich gewartet, bis sie eingeschlafen ist. Ich habe die leere Flasche einfach auf der Decke liegen lassen, damit Daddy sie dort findet, wenn er in ein paar Stunden nach Hause kommt. Dann werde ich furchtbar weinen. Ich habe vor dem Spiegel geübt und bin wirklich gut! Alle werden mich fürchterlich bedauern und mir alles geben, was ich will. Alle werden denken, meine Mutter hätte diesen idiotischen Mr Foster und diesen
ekelhaften Mr Williams umgebracht. Was für eine Tragödie! Ich lache mich noch tot. Jetzt werde ich ein bisschen malen und Musik hören. Ich werde einfach in meinem Zimmer sein, wenn Daddy nach Hause kommt. Sein allerbestes Mädchen, das mucksmäuschenstill an seinem Schreibtisch sitzt, damit seine Mutter schlafen kann. Und schlafen und schlafen. Jetzt muss ich dieses Buch in den Recycler werfen. Das ist wirklich ärgerlich, und auch das ist Lieutenant Dallas' Schuld. Aber, es ist okay. Daddy wird mir ein neues Tagebuch kaufen, ein noch viel schöneres. Jetzt wird er mir alles kaufen, was ich haben will, und mich überallhin mitnehmen, wohin ich will. Ich denke, wir sollten irgendwo hinfliegen, wo es warm und schön ist, an irgendeinen wirklich hübschen Strand. Roarke schwieg einen Augenblick. »Sie hat das geschrieben, während ihre Mutter ihrer Meinung nach tot oder sterbend im Nebenzimmer lag«, stellte er schließlich mit rauer Stimme fest. »Oh ja.« »Sie sollte ihre Zeit nicht mit Kunst oder Ballett vergeuden, sondern überlegen, ob sie nicht als Profikillerin ihr Geld verdienen will. Die Konstitution dafür hat sie auf jeden Fall.« »Ich werde dafür sorgen, dass sie jede Menge Zeit bekommt, um über ihre Möglichkeiten nachzudenken - in einem Hochsicherheitsknast.« Sie blickte wieder auf das Buch und die ordentliche Kinderschrift. »Lass uns die Seiten kopieren. Ich will, dass Mira und Whitney sie so schnell wie möglich sehen. Und dann lese ich den Rest.« Es war alles da, sorgfältig dokumentiert: die Motive, die Pläne, die Mittel, die Gelegenheiten und die Ausführung. Rayleen hatte nicht an Details gespart.
Wäre dies das Tagebuch einer erwachsenen Mörderin gewesen, hätte Eve ihre Ermittlungen umgehend abgeschlossen und die Festnahme der Täterin organisiert. Wie aber behandelte man eine derart junge Mörderin, deren Vater obendrein einer der besten Strafverteidiger des Landes war? Um neunzehn Uhr saß Eve mit Peabody und Mira in ihrem heimischen Büro, wo das Hologramm ihres Commanders zugeschaltet war. »Ich halte sie nicht für unzurechnungsfähig«, fing sie an. »Konnte und kann sie Recht und Unrecht unterscheiden? Höchstwahrscheinlich ja«, stimmte ihr die Psychologin zu. »Sie hat ihre Verbrechen sorgfältig geplant und ausgeführt, und ihre Motive sind immer egoistischer Natur. Allerdings sind sie gleichzeitig der Grund, aus dem ein von der Verteidigung engagierter Psychologe auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren wird.« »Wären Sie bereit, für die Staatsanwaltschaft in den Zeugenstand zu treten?« »Ja. Natürlich werde ich sie erst noch gründlich untersuchen müssen, aber so, wie es bisher aussieht, kann ich die Argumente der Gegenseite sicherlich entkräften. Aber selbst wenn nicht, gehört sie einfach eingesperrt, denn sonst hört sie garantiert nicht auf.« Mira atmete tief ein, als sie auf das hübsche, lächelnde Gesicht an Eves Tafel sah. »Wenn sie nicht vom System gestoppt wird, hat sie keinen Grund, ihr Treiben zu beenden. Weil es für sie funktioniert. Es erfüllt sie mit Befriedigung und beweist vor allem ihre Überlegenheit. Es verschafft ihr, was sie haben will, und die Dinge zu bekommen, die sie will, ist ihr allerhöchstes Ziel.« »Ihre eigene Mutter«, fügte Peabody hinzu. »Sie schreibt über den Mord an ihrer eigenen Mutter, ohne dass es auch nur einen
Augenblick der Reue oder des Zögerns gibt. Sie hat nichts dabei empfunden.« »Ich will sie auch wegen ihres kleinen Bruders dran- kriegen. Er wird nicht in dem Tagebuch erwähnt. Weil er für sie nicht mehr von Bedeutung ist.« Eve sah Mira an, und die nickte mit dem Kopf. »Es ist nicht nur so, dass er es nicht wert ist, dass sie einen Teil von ihrer Zeit oder von ihren Gedanken auf ihn verwendet, sondern sie hat vollkommen verdrängt, dass es ihn jemals gegeben hat oder dass er von ihr getötet worden ist. Ihr geht es ausschließlich um das Hier und Jetzt.« »Sie haben gesagt, Sie würden sie dazu bringen, diese Taten zu gestehen, ihnen davon zu erzählen«, fuhr Mira fort. »Aber ...« »Ich werde ein Geständnis von ihr kriegen. Wobei der größte Haken an der Sache Straffo ist. Falls er beschließt, sie zu beschützen, oder falls sie glaubt, ich könnte die Dinge, die sie mir erzählt, gegen sie verwenden, wird sie dichtmachen. Ich muss also erst einmal an ihm vorbei.« »Er ist ein Vater, der sein Kind instinktiv beschützen will.« »Aber er ist auch ein Vater, dessen Sohn ermordet worden ist, und er ist ein Ehemann, dessen Frau vielleicht das nächste Opfer wird.« Genau das war ihre Chance. »Es wird für ihn also nicht leicht. Er wird sich entscheiden müssen, für welchen oder welche dieser Menschen er letztendlich Position beziehen soll.« »Wenn Sie ihm diese Informationen geben«, warf der Commander mahnend ein, »geben Sie der potenziellen Verteidigung dadurch einen Vorsprung. Dann könnte er einen Schild um seine Tochter herum errichten, der monatelang halten wird.« »Ja, Sir, das könnte er. Aber selbst wenn ich ihm diese Dinge nicht vor den Latz knallen und ihm den Boden unter den Füßen wegziehen würde, während er noch wegen seiner Frau erschüttert ist, könnte er das tun. Er muss Rayleen so sehen, wie sie ist. Vielleicht könnte ein ziviler Berater dabei nützlich sein.« Sie blickte auf Roarke.
»Erzählen Sie uns, was Sie machen wollen«, bat Whitney sie. Es brauchte Zeit, und Eve kämpfte vergeblich gegen ihre Ungeduld. Außerdem mussten sie größte Vorsicht walten lassen, und Eve musste sich zwingen, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, wie sie es normalerweise tat. Es war beinahe zehn, bis sie, Peabody und Mira endlich in Richtung des Krankenhauses fuhren, lange, nachdem Roarke, Feeney und McNab bereits im Spiel waren. Als ihr Handy schrillte, klappte sie es eilig auf. »Dallas.« »Lieutenant? Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Billy Kimball, den stellvertretenden Geschäftsführer von Kline's? Sie waren vor Kurzem wegen einer Thermoskanne hier.« »Ich kann mich an Sie erinnern. Haben Sie etwas herausgefunden?« »Eine unserer Teilzeitkräfte kam gestern Abend kurz vor Ladenschluss vorbei. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich die Frau an irgendwas erinnern kann, habe ich ihr von der Kanne erzählt. Und sie wusste wirklich noch etwas.« »Was?« »Sie konnte sich noch ganz genau an den Verkauf erinnern. Es war nach den Feiertagen. Sie hat während des Ausverkaufs im Januar gearbeitet und meinte, ein junges Mädchen wäre mit seiner Kinderfrau hereingekommen. Oder zumindest sah die Frau so aus wie eine Kinderfrau. Da das Mädchen etwas als Überraschung kaufen wollte, hat sie die Kinderfrau gebeten, kurz in einen anderen Teil unseres Geschäfts zu gehen. Das gab einen kurzen Kampf, weil die Kinderfrau nicht gehen wollte, aber ...« »Bitte fassen Sie sich kurz, Billy.« »Tut mir leid. Nun, die Angestellte versprach der Kinderfrau, das Mädchen im Auge zu behalten, woraufhin die Kinderfrau in eine andere Abteilung ging. Das Mädchen wollte die Thermoskanne, nach der Sie sich erkundigt haben, und wollte auch eine Gravur. Die Angestellte konnte sich deshalb so genau
daran erinnern, weil das Mädchen so intelligent, charmant und höflich war. Nun, bezüglich des Namens ist sie sich nicht hundertprozentig sicher, aber sie wusste noch genau, dass das Mädchen ihr erzählt hatte, es würde ein Abschiedsgeschenk für seinen Lieblingslehrer. Sie hat bar bezahlt. Da das nach dem ersten Januar war, war es das reinste Kinderspiel für mich, in den Büchern nachzusehen. Dort war eine schwarze Thermoskanne der Marke und des Modells, nach dem sie gefragt hatten, unter den Barverkäufen aufgeführt, und dazu eine Gebühr für eine Gravur in Roman Script. Hilft Ihnen das irgendwie weiter?« »Oh ja.« Manchmal passte einfach alles zusammen, dachte Eve. »Gut gemacht, Billy. Ich verbinde Sie mit meiner Partnerin. Geben Sie ihr bitte den Namen und die Adresse Ihrer Angestellten. Ich möchte, dass sie sich ein paar Bilder ansieht, um zu gucken, ob sie das kleine Mädchen identifizieren kann.« »Sie wird Ihnen sicher gerne helfen. Sie hat erwähnt, dass das Mädchen hübsch war, mit langen, blonden Locken und außergewöhnlichen, beinahe violetten Augen.« »Allmählich gerät ihr schönes Kartenhaus ins Wanken«, murmelte Eve, während Peabody die Daten der Verkäuferin entgegennahm. »Damit hat sie sich selber ausgetrickst. Sie hätte die Kanne einfach kaufen sollen, ohne noch die Verkäuferin in eine Unterhaltung zu verstricken. Aber sie musste eben wieder einmal angeben.« »Die ursprüngliche Kanne hat sie wahrscheinlich entsorgt«, stellte Mira fest. »Ja, wahrscheinlich hat sie sie direkt vor unseren Nasen aus der Schule getragen. Gottverdammt.« »Sie sind dafür ausgebildet, kein Detail zu übersehen«, meinte Mira. »Und das bin ich auch. Ich bin spezialisiert auf Menschen mit einer anormalen Psyche, aber Sie können mir glauben, sie wäre auch direkt vor meiner Nase mit dem Ding aus dem Haus spaziert.« »Aber damit ist jetzt Schluss.«
Eve fand Straffo im Krankenzimmer seiner Frau. Er hielt Wache neben ihrem Bett und sah Eve aus trüben, müden Augen an. »Falls Sie hier sind, um sie zu verhaften, können Sie ...« »Wie geht es ihr?«, fiel ihm Eve ins Wort. Er raufte sich das Haar, bevor er abermals Allikas Hand ergriff. »Ihr Zustand ist noch immer kritisch. Sie werden bald weitere Tests bei ihr durchführen.« Während er sprach, streichelte er sanft die schlaffe, bleiche Hand. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb sie dieses Zeug genommen hat. Aber Sie werden ihr nicht auch noch diese Morde anlasten.« Eve trat von der anderen Seite an Allikas Bett und sah ihn fragend an. »Wie sehr lieben Sie Ihre Frau?« »Was für eine blöde Frage.« Plötzlich kehrte etwas von dem alten Stahl in seinen Blick und seine Stimme zurück. »Egal, wie sehr ich sie auch liebe, brauche ich sie nicht zu decken oder irgendeinen juristischen Zauber anzuwenden, um sie zu beschützen. Weil sie nämlich ganz einfach nicht fähig ist, einem Menschen wehzutun. Und ich will verdammt sein, wenn sie tatsächlich versucht hat, sich das Leben zu nehmen, vor allem, während sie alleine mit Rayleen zu Hause war. Das hätte sie unserer Tochter niemals angetan.« »Das sehe ich genauso.« Er hob überrascht den Kopf. »Was hat das dann alles zu bedeuten?« »Wie sehr haben Sie Ihren Sohn geliebt?« »Wie können Sie es wagen, ausgerechnet jetzt zu mir zu kommen und derart schmerzliche Erinnerungen in mir zu wecken?« »Ich wette, Sie haben ihn sehr geliebt. Obwohl Sie keine Fotos von ihm bei sich zu Hause haben, und obwohl Ihre Frau die Aufnahmen von Ihrem Sohn in ihrem Schrank versteckt.« »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr sein Verlust uns schmerzt. Das können Sie unmöglich verstehen. Bilden Sie sich
etwa ein, ich hätte ihn vergessen? Es geht nicht darum, wie sehr ich ihn geliebt habe, sondern wie sehr ich ihn noch immer liebe.« Er sprang auf, zog eine kleine Ledermappe aus der Jackentasche und hielt sie ihr hin. »Ist dies eins der wichtigen Details, die Sie noch brauchen, Lieutenant?«, fragte er. »Also dann, hier. Hier. Hier bewahre ich ihn auf. Sehen Sie sich das Gesichtchen an.« Er hielt ihr die Mappe mit dem Schnappschuss eines lächelnden kleinen Jungen hin. »Er war der süßeste kleine Kerl, den man sich vorstellen kann. Immer hat er gestrahlt. Man konnte nicht mit Trev zusammen sein, ohne selbst zu strahlen. Egal, wie schlimm der Tag auch war, fünf Minuten mit ihm zusammen, und alles war wieder gut. Der Tag, an dem er ... der Tag, an dem wir ihn verloren haben, war bis heute der schlimmste Tag in meinem Leben. Ist es das, was Sie hören müssen?« »Ja. Ich habe eine schlimme Mitteilung für Sie. Etwas, was man keinem Menschen jemals sagen müssen sollte. Ich möchte, dass Sie sich daran erinnern, was Sie für Ihre Frau und Ihren Sohn empfinden, wenn Sie das hier lesen.« Sie hielt ihm Ausdrucke der letzten Seiten aus dem Tagebuch von seiner Tochter hin. »Was ist das?« »Ich glaube, dass Sie die Schrift erkennen. Und ich glaube, dass Sie wissen, was das ist. Ich zeige Ihnen diese Seiten ihretwegen.« Sie nickte in Richtung seiner Frau. »Und weil ich die Fotos von Ihrem Sohn gesehen habe. Ich habe sein Bild im Kopf.« Wodurch Trevor auch ihr gehörte, dachte Eve. Genau wie Craig Foster und sogar der Widerling Reed Williams gehörte Trevor ihr. Straffo nahm die Blätter und überflog die erste Zeile. »Das ist die Handschrift von Rayleen. Aus ihrem Tagebuch? Was ...« »Den letzten Eintrag hat sie geschrieben, bevor sie das Tagebuch mitsamt seiner Schatulle in den Recycler in Ihrer
Küche geworfen hat. Das Datum steht oben auf dem Rand. Sie sollten diese Seiten lesen.« Während er es tat, wich ihm alle Farbe aus dem Gesicht, seine Hände fingen an zu zittern, und er stieß mit rauer Stimme aus: »Das kann einfach nicht sein.« »Irgendwo in Ihrem tiefsten Inneren wissen Sie, dass es so ist. Ihre Frau hat es gewusst, und trotz ihrer Trauer und ihres Entsetzens hat sie sich bemüht, Rayleen zu beschützen. Rayleen hat ihr das angetan, um sich selbst zu schützen, um den Verdacht auf ihre Mutter umzulenken, und damit sie Sie in Zukunft ganz für sich alleine hat.« »Nein.« »Es gibt noch andere Einträge. Darin schildert sie ausführlich, wie sie Foster und Williams getötet hat. Und auch eine Frau mit Namen Versy im Kinley-Pflegeheim.« »Nein. Nein. Sie sind vollkommen verrückt.« Er schwankte wie ein Mann, dessen gesamte Welt urplötzlich aus dem Gleichgewicht geraten war. »Ich werde gleich verrückt.« Mach weiter, dachte Eve. Denn sie hatte keine andere Wahl. »Was nicht in dem Tagebuch steht, weil sie es erst vor sieben Monaten bekommen hat, ist, wie sie Ihren Sohn getötet hat.« Jetzt wich sogar der graue Ton aus seinem Gesicht. »Das ist völlig krank.« »Sie beide wussten, dass Rayleen schon eine Zeitlang wach gewesen war, bevor sie Sie geweckt hat.« »Sie ...« »Trotzdem beschlossen Sie, dass es ein Unfall gewesen war welche Eltern täten das wohl nicht? Dass er gestolpert war und sie unter Schock gestanden und deshalb alles geleugnet hat. Sie haben sämtliche Erinnerungen an ihn aus dem Haus verbannt, weil sie sich aufgeregt hat, wenn sie sie gesehen hat. Vor allem, wenn Sie oder ihre Mutter vor einem der Bilder gestanden und es angesehen haben. Stimmt's?«
»Um Gottes willen. Sie war damals sieben Jahre alt. Sie können doch wohl unmöglich glauben ...« »Doch, ich kann. Sehen Sie sich Ihre Frau an, Oliver. Hat sie das, was ihr angetan wurde, verdient? Und sehen Sie sich auch das Foto Ihres Sohns noch einmal an. Hatte er es vielleicht verdient, dass sie ihn die Treppe hinuntergestoßen hat? Sie hat, ohne mit der Wimper zu zucken, die Leben dieser Menschen ausgelöscht oder auszulöschen versucht. Ich habe handfeste Beweise gegen sie, darunter den Kauf einer Thermoskanne, in die sie Craig Fosters Namen eingravieren lassen hat.« »Was? Was?« Er packte dicke Strähnen seines Haars und riss daran herum. »Ich habe eine Zeugin«, fuhr Eve unbarmherzig fort. »Die Angestellte, die Rayleen bedient hat. Sie hat sie bereits anhand von ihrem Foto identifiziert. Cora kann bestätigen, dass sie an dem fraglichen Tag auf Rayleens Bitte hin mit ihr in diesem Geschäft gewesen ist. Außerdem habe ich eine Aussage von ihrer Großtante Quella Harmon aus New Mexico, dass Rayleen sich von ihr erklären lassen hat, wie Rizin gewonnen wird. Denken Sie am besten gar nicht erst daran, mir zu erzählen, dass das alles nur Indizien sind«, schnauzte sie ihn an. Tritt ihn und tritt weiterhin auf ihm herum, wenn er bereits am Boden liegt, sagte sich Eve. Denn es gab keine andere Möglichkeit. »Sie hat es selber aufgeschrieben, Oliver.« Sie bückte sich und hob die Blätter, die er fallen gelassen hatte, auf. »Hat ausführlich aufgeschrieben, wie sie beschlossen hat, ihre Mutter umzubringen, und wie sie sie sterbend im Nebenzimmer liegen lassen hat, während sie Musik gehört und sich etwas zu essen zubereitet hat. Sie hat es getan und dabei nicht mal eine Spur von Gewissensbissen gehabt.« »Ich kann einfach nicht ... Sie können doch wohl unmöglich von mir erwarten, dass ich Ihnen glaube.«
»Sie glauben es bereits. In Ihrem tiefsten Innern wissen Sie bereits, dass es so ist. Und das macht Sie so krank. Aber Sie müssen sich zusammenreißen, denn ich werde Ihnen sagen, wie es weitergehen wird. Sie ... sehen Sie mich an, Oliver. Sehen Sie mich an.« Schock und Schmerz hatten seine Augen glasig werden lassen, aber letztendlich sah er sie an. »Sie hat es aufgeschrieben«, stellte er tonlos fest. »Sie hat es aufgeschrieben, während ihre Mutter ...« »Ja genau. Weil Allika wie auch Trevor ein Hindernis für sie waren.« Verwende ihre Namen, sagte sich Eve. »Allika und Trevor standen ihr im Weg und deshalb hat sie sie entfernt.« »Sie ist meine Tochter, mein Kind. Sie ...« »Ich werde Ihnen einen Deal vorschlagen. Falls ich Ihnen nicht beweisen kann, dass alles, was ich sage, stimmt, werde ich mich nicht querstellen, falls statt des Erwachsenen- das Jugendstrafrecht auf sie angewendet werden soll.« »Sie ist zehn Jahre alt. Sie ist gerade mal zehn Jahre alt.« »Mehrfacher vorsätzlicher Mord. Deshalb wird sie vor Gericht wie eine Erwachsene behandelt werden, wenn ich mich nicht zurückhalte. Wie gesagt, ich werde Ihnen beweisen, dass sie Ihre Frau - dass sie Allika hierher an diesen Ort gebracht hat, an dem eine Maschine für sie atmet, ich werde Ihnen beweisen, dass sie Trevor an dem verdammten Weihnachtsmorgen die Treppe hinuntergestoßen hat, und ich werde Ihnen beweisen, dass sie Foster und Williams und eine kranke, alte Dame in einem Pflegeheim ermordet hat. Und zwar, ohne dass auch nur der Schatten eines Zweifels bleibt. Wenn mir das nicht gelingt, haben Sie genügend Munition für ihre Verteidigung. Das ist der Deal, den ich Ihnen vorschlage. Entweder, Sie akzeptieren ihn, oder ich nehme Rayleen sofort an Ort und Stelle fest.« Rayleen saß im Familienraum der Intensivstation und malte an einem Bild. Als Eve den Raum betrat, hob sie den Kopf und sah sie aus tränenfeuchten Augen an. »Meine Mami ...«
Eve zog die Tür hinter sich zu. »Ich kenne die Ärztin, die sie behandelt hat. Sie geht davon aus, dass deine Mutter diese Sache überstehen wird.« Sie schlenderte in Richtung der Anrichte. Krankenhauskaffee war fast so tödlich wie das Zeug auf dem Revier. Aber es wäre eine nette Requisite, und so schenkte sie sich eine Tasse ein und drehte sich dann erst wieder zu dem Mädchen um. »Keine besonders gute Neuigkeit für dich.« »Was?« »Wir beide sind hier ganz alleine, Ray. Und die Tür ist zu.« Eve zog ihre Jacke aus und drehte sie um. »Ich bin nicht verkabelt und hier ist mein Rekorder.« Sie machte ihn vom Aufschlag ihrer Jacke ab und stellte ihn vor sich auf den Tisch. »Er ist aus. Außerdem habe ich dich noch nicht über deine Rechte aufgeklärt. Dein Vater ist Anwalt, und du bist gewitzt, also ist dir klar, dass ich nichts, was du mir erzählst, gegen dich verwenden kann.« Sie setzte sich, streckte die Beine aus und nippte an ihrem Kaffee. Vielleicht war die Brühe hier sogar noch schlimmer als auf dem Revier. »Ich habe schon des Öfteren mit trickreichen Gestalten zu tun gehabt, wobei niemand so trickreich war wie du. Selbst, wenn deine Mutter diesen Anschlag überlebt, wird sie dich nicht belasten. Trotzdem muss es dich genervt haben, als Cora plötzlich wiederkam und sie gefunden hat, bevor die Sache erledigt war.« »Ich will nicht mit Ihnen reden.« Jetzt kullerten ihr dicke Tränen über das Gesicht. »Sie sind so gemein.« »Also bitte. Ich mache dir ganz sicher keine Angst. Du weißt ganz genau, dass ich nichts gegen dich in der Hand habe. Und es kommt sogar noch besser.« Eve zuckte mit den Schultern und wagte den nächsten, vorsichtigen Schluck. »Mein Commander und die Psychotante auf der Wache halten mich für völlig durchgeknallt. Vielleicht habe ich auch selber dazu beigetragen, denn schließlich habe ich versucht, sie davon zu überzeugen,
dass du diese Morde begangen hast. Aber ich weiß meine Karriere zu schätzen und werfe sie bestimmt nicht deinetwegen weg. Für mich ist diese Sache abgeschlossen. Die Akte wird noch eine Zeitlang offen bleiben und dann irgendwann still und leise zugeklappt.« Sie beugte sich über den Tisch. »Ich lasse ganz bestimmt nicht zu, dass mir meine Vorgesetzten und die Psychofuzzis deinetwegen über die Schulter sehen und meine hervorragenden Aussichten auf eine weitere Beförderung den Bach hinuntergehen. Ich bin gerade auf Erfolgskurs. Icove und die Sache mit dem Babyhandel - beides Riesenfälle, deren Lösung auf mein Konto geht. Weshalb ich es mir leisten kann, wenn es bei dir nicht klappt.« Rayleen legte ihren Kopf ein wenig schräg. »Sie dürfen lügen, wenn Sie einen Verdächtigen vernehmen.« »Ja. Aber eine minderjährige Verdächtige darf ich ohne die Erlaubnis ihrer Eltern nicht einmal befragen. Deshalb bin ich offiziell auch gar nicht hier.« Rayleen wandte sich wieder ihrem Gemälde zu. »Warum sind Sie hier? Ich kann zu meinem Daddy gehen, und dann sitzen Sie in der Tinte.« »Meinst du? Ich bin einfach gekommen, um zu sehen, wie es dir geht. Es gibt keinen Grund, weshalb er etwas anderes denken sollte. Aber wenn du jetzt Theater machst, weil ich gekommen bin, wird er sich sicher fragen, weshalb ich dich belästige.« Lächelnd stellte Eve die Tasse mit dem grässlichen Kaffee vor sich auf den Tisch. »Warum gehst du nicht zu ihm, Ray? Dann kommt ihm vielleicht der Gedanke, dass es etwas seltsam ist, dass deine Mutter angeblich versucht hat, Selbstmord zu begehen, während du allein mit ihr zu Hause warst. Los, geh zu ihm. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, saß er an Allikas Bett und hielt ihre Hand.« »Er hätte mich nicht alleine lassen sollen. Er sollte bei mir sein. Während sie stirbt ...«
»Falls. Es heißt immer noch falls.« Eve drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. »Freu dich lieber nicht zu früh. Ich könnte ihr die beiden Morde anhängen und käme damit vielleicht sogar durch. Nur, dass ich nicht ganz so praktisch veranlagt bin wie du. Ich schließe meine Fälle gerne ab, aber wenn ich es auf diese Weise täte, stieße mir das sauer auf. Deshalb lasse ich die Sache einfach auf sich beruhen.« »Sie geben auf?« »Wir nennen so was >wissen, wann man verloren hat<. Zwei tote Lehrer interessieren die Leute sowieso nicht allzu sehr.« Eve kreuzte lässig ihre Knöchel. »Ich kann mir vorstellen, wie die Sache mit Allika abgelaufen ist. Ich kann es nicht beweisen, kann mir aber trotzdem vorstellen, wie du vorgegangen bist. Du hast den Tee gekocht und die Tabletten darin aufgelöst. Hat sie es gewusst?« Rayleen zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter hat versucht sich umzubringen, das ist schrecklich. Vielleicht bin ich bis an mein Lebensende davon traumatisiert. Daddy und ich werden eine lange Reise machen müssen, nur er und ich allein, damit ich mich daran gewöhnen kann, dass es jetzt nur noch uns beide gibt.« »Warum hätte sie dich vorher nach Hause bestellen sollen? Warum hat deine Mutter dich erst heimgeholt, statt einfach die Tabletten einzunehmen, während sie alleine war?« »Ich nehme an, sie wollte sich noch von mir verabschieden.« Rayleen flatterte mit ihren Lidern. Sie lächelte ein wenig, während sie die nächste Träne aus dem Auge zwang. »Sie hat mich mehr als alles andere geliebt.« Sie sprach bereits in der Vergangenheit von ihr, bemerkte Eve. Weil es ihre Mutter längst schon nicht mehr für sie gab. »Könnte funktionieren«, stimmte sie der Kleinen zu. »Los, Ray, für ein cleveres Mädchen wie dich muss es doch ätzend sein, dass du niemandem erzählen kannst, wozu du alles in der Lage bist. Ich weiß, wie es abgelaufen ist, nur ist es leider so, dass mir die
Hände gebunden sind. Das heißt, dass du gewonnen hast. Aber, gottverdammt, ich bin einfach neugierig.« »Sie haben eine äußerst schlechte Ausdrucksweise. Bei uns zu Hause billigen wir keine Flüche.« »Scheiß drauf«, sagte Eve, worauf das Mädchen kicherte. »Warum hast du Foster umgebracht? Wie, kann ich mir vorstellen. Du hast dir das Rizin irgendwo besorgt. Zwar kann ich nicht sagen, wo, aber du hast es dir besorgt und in seine Warmhaltekanne gekippt.« »In seine Thermoskanne«, korrigierte Ray. »Genau. Du bist in die Klasse gegangen, während er woanders war, und hast seinen Kakao gepanscht. Dann hast du deine Freundin dazu überredet, mit dir während des Unterrichts irgendwohin zu gehen, damit du ihn finden konntest. Wirklich schlau.« »Wenn Sie recht hätten, dann nur zum Teil. Sie wissen längst nicht alles.« »Leider nicht. Weshalb hättest du ihn töten sollen? Hat er versucht dir wehzutun? Hat er versucht dich zu missbrauchen? Hat er dich berührt?« »Bitte. Das ist widerlich.« »Ich kaufe dir nicht ab, dass du ihn nur aus einer Laune heraus ermordet hast. Dafür hast du dir zu viel Arbeit mit der Sache gemacht und sie zu gut geplant.« Rayleens Mundwinkel zuckten. »Wenn Sie clever wären, wüssten Sie alles. Nur, dass Sie nicht wirklich clever sind.« »Auch damit hast du sicher recht.« »Vielleicht - tun wir einfach so, als ob ich es gewesen wäre vielleicht war er einfach gemein und dumm und hat einen wirklich blöden Fehler gemacht und mir noch nicht mal zugehört, als ich ihm die Chance gegeben habe, ihn wiedergutzumachen.«
»Was für einen Fehler? Da wir gerade so tun, als ob du ihn getötet hättest, hast du doch bestimmt auch darauf eine Antwort. Oder nicht?« »Er hat mir eine Eins minus für mein Referat gegeben. Eine Eins minus. Ich kriege immer eine Eins oder Eins plus. Er hatte nicht das Recht, mir ein Minus an die Eins zu hängen, nur, weil ihm meine Ausarbeitung nicht so gut gefallen hat. Ich habe geübt und geübt. Ich war immer die Klassenbeste und mit etwas Schlechterem als einer glatten Eins wäre ich mit Pech auf den zweiten Platz gerutscht.« »Du hast ihn vergiftet, weil er ein Referat von dir mit einer Eins minus benotet hat?«, wiederholte Eve. »Ich habe ihm gesagt, dass er die Note ändern muss, und zwar mindestens in eine glatte Eins. Weil ich nicht plötzlich nur die Zweitbeste aus meiner Klasse sein wollte und weil ich mich echt angestrengt habe. Wissen Sie, was er gesagt hat?« »Ich bin ganz Ohr.« »Er meinte, dass die Note nicht so wichtig wie das Lernen und die Erfahrungen wäre, die man bei der Ausarbeitung eines Vortrags macht. Können Sie sich so was Gemeines vorstellen? Dümmer und gemeiner geht's ja wohl nicht mehr.« »Unglaublich.« »Und dann hat er auch noch Melodie eine glatte Eins gegeben, jetzt ist sie fast so gut wie ich. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass auch sie mir nicht mehr in die Quere kommen kann.« All diese Details standen auch in dem Tagebuch. Trotzdem war es faszinierend und erschreckend zuzuhören, wie das Mädchen laut darüber sprach. »Indem du dafür gesorgt hast, dass sie sieht, was mit Mr Foster geschehen ist?« »Seitdem hat sie Albträume.« Rayleen lachte auf. »Und hat jede Menge Fehlstunden. Sie ist eben noch ein Baby«, stellte sie verächtlich fest. »Und warum Mr Williams?«
Jetzt rollte Rayleen mit den Augen. »Wenn Sie nicht völlig verblödet sind, ist Ihnen das doch wohl klar.« »Damit ich denke, er hätte Mr Foster umgebracht? Aber ...« »Das ist ja wohl echt lahm.« Rayleen stand auf, trat vor den kleinen AutoChef, kramte ein paar Münzen aus der Tasche ihrer pinkfarbenen Jeans, warf sie in den Schlitz und zog eine Zitronenlimonade aus dem Schacht. »Warum ist das lahm?« Rayleen holte sich einen Strohhalm von der Anrichte, schob ihn sich in den Mund und nahm den ersten Schluck von ihrem Getränk. »Sie sollten denken, Ms Mosebly hätte beide umgebracht. Weil sie Sex mit Mr Williams hatte. Auch das ist widerlich, und sie sollte dafür bezahlen. Außerdem ist sie einfach zu streng, ich hatte langsam die Nase voll von ihr.« »Ich habe sie überprüft«, stimmte Eve ihr lässig zu. »Anfangs dachte ich, Williams hätte Foster umgebracht, damit der nicht erzählen kann, dass er ein Perverser ist, und dann hätte Mosebly Williams umgebracht, weil der sie damit erpressen wollte, dass er mal mit ihr geschlafen hat. Nur hat das Timing einfach nicht gepasst, und jedes Mal, wenn ich die Sache durchgegangen bin, kam dabei heraus, dass es in beiden Fällen nur einen Täter gab. Doch den Mord an Foster konnte ich Mosebly schwerlich anhängen. Das hätte ganz einfach nicht hingehauen.« »Sie hätten es gekonnt, wenn Sie nur gewollt hätten. Schließlich hat er diese blöde Thermoskanne jeden Tag in seiner hässlichen alten Aktentasche in der Klasse aufbewahrt, sie hätte also durchaus die Gelegenheit gehabt, das Gift in den Kakao zu tun. Tja, aber ich nehme an, jetzt werden Sie niemanden verhaften.« »So sieht's aus.« Wieder nahm Eve einen Schluck von ihrem grässlichen Kaffee. Zwei Mädels, die etwas zusammen tranken und sich dabei unterhielten, dachte sie. »Aber woher hattest du das Mittel, das du Williams verabreicht hast? War eine echt gute Idee, ihn im Schwimmbad abzupassen.
Um ein Haar hätten wir das Betäubungsmittel gar nicht mehr gefunden, weil es nur eine winzig kleine Menge war. Nur hat dir das Timing dabei einen Streich gespielt.« »Dieser dumme Mr Williams. Das Zeug soll schon nach zwei Stunden nicht mehr nachzuweisen sein. Ich hatte es aus diesem Heim für hässliche, alte Leute, in das ich regemäßig gehen muss, obwohl ich am liebsten brechen würde, weil es da immer so schrecklich riecht. Ich singe und tanze für die Leute, lese ihnen etwas vor und höre mir ihre todlangweiligen Geschichten an. Ich kann dort überall herumlaufen, weil mich dort jeder kennt. Sie haben das Zeug unter Verschluss, aber es ist ganz leicht, die Schwester oder den Pfleger für ein paar Minuten abzulenken und dann heimlich an den Schrank zu gehen.« Sie blickte auf Eves Waffe. »Haben Sie damit schon mal jemanden umgebracht?« »Ja.« »Was war das für ein Gefühl?« »Ich kam mir irgendwie mächtig vor.« »Uh-huh. Nur hält das Gefühl nicht lange an. Es ist, wie wenn man Eis isst und dann ist die Schüssel leer.« Rayleen stellte ihre Limoflasche fort und drehte ein paar Pirouetten. »Sie können der ganzen Welt erzählen, was ich gesagt habe, und kein einziger Mensch wird Ihnen glauben.« »So wird's sein. Denn wer würde mir schon glauben, wenn ich sagen würde, du hättest zwei Menschen umgebracht und vielleicht erfolgreich - versucht, auch noch einen dritten Menschen aus dem Verkehr zu ziehen. Dabei auch noch die eigene Mutter. Ein zehnjähriges Kind.« Rayleen vollführte ein geschmeidiges Plie. »Das ist noch nicht alles«, stellte sie mit gut gelauntem Singsang fest. »Was denn noch?« »Vielleicht werde ich es Ihnen sagen, vielleicht aber auch nicht. Man würde Sie im Irrenhaus einsperren, wenn Sie je behaupten würden, ich hätte es getan.«
»Wenn du es mir nicht erzählen willst, okay. Es ist sowieso schon spät und meine Schicht ist längst vorbei.« Eve stand lässig auf. »Ich habe bereits mehr als genügend Zeit mit diesem Quatsch verbracht.« Mit über dem Kopf erhobenen Armen tänzelte Rayleen auf Zehenspitzen um Eve herum. »Sie werden es nie, nie, nie erraten.« »Ich bin zu alt für irgendwelche Spielchen, Kind. So wie die Dinge stehen, vergesse ich am besten möglichst schnell, dass es dich überhaupt gibt.« Krachend ließ Rayleen sich auf die Fußsohlen fallen. »Sie lassen mich nicht einfach stehen! Ich bin noch nicht fertig! Ich bin diejenige, die Sie geschlagen hat! Sie sind eine schlechte Verliererin.« »Verklag mich doch.« Eve wandte sich zum Gehen. »Das erste Mal habe ich einen Menschen umgebracht, als ich erst sieben war.« Eve blieb wieder stehen und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. »Schwachsinn.« »Wenn Sie weiter fluchen, werde ich Ihnen nicht erzählen, wie ich meinen kleinen Bruder getötet habe.« »Er ist die Treppe runtergefallen. Ich habe die Berichte der ermittelnden Beamten, ihre Aufzeichnungen, die Akte zu dem Fall gelesen.« »Die Polizisten waren genauso dumm wie Sie.« »Erwartest du etwa allen Ernstes, dass ich glaube, du hättest auch diese Sache durchgezogen, ohne dass es irgendeinem Menschen aufgefallen ist?« »Ich kann alles, was ich will. Ich habe ihn ganz früh geweckt. Ich musste ihm den Mund zuhalten, als er gekichert hat. Aber er hat auf mich gehört, er hat immer auf mich gehört. Denn er hat mich geliebt.«
»Davon bin ich überzeugt«, antwortete Eve und schaffte es nur noch mit Mühe, weiter so zu klingen, als wäre sie nur mäßig interessiert an dem, was Rayleen von sich gab. »Er war ganz leise, wie ich es ihm gesagt hatte. Ich habe zu ihm gesagt, wir würden nach unten gehen und uns die Spielsachen angucken und vielleicht sogar den Weihnachtsmann noch sehen. Er hat an den Weihnachtsmann geglaubt. Es war einfach lächerlich. Aber eigentlich war alles ihre Schuld.« »Wessen?« »Mein Gott, die Schuld von meinen Eltern. Sie hätten ihn nie bekommen sollen. Er war immer nur im Weg, und sie haben ständig Zeit mit ihm verbracht, die sie mit mir hätten verbringen sollen. Weil ich schließlich die Erste war.« »Also hast du ihn die Treppe runtergestoßen?« »Es war total leicht.« Rayleen machte einen kleinen Sprung, bevor sie wieder nach ihrer Limonadenflasche griff. »Nur ein kleiner Stoß, und schon ist er losgepurzelt. Schnapp! Dabei hat er sich den Hals gebrochen, und ich war ihn los.« Kichernd trank sie einen Schluck - während sich Eves Magen schmerzlich zusammenzog. »Alles war wieder so, wie es sein sollte. Jetzt gehörten wieder alle Sachen mir. Ich brauchte nur zu weinen, als Daddy anfing, Trevors Sachen wegzuräumen. Also habe ich alles bekommen und bekomme noch immer alles, was ich will.« Sie drehte die nächste Pirouette, gefolgt von einem Plie, verbeugte sich und fügte stolz hinzu: »Ich wette, dass Sie noch nie von einem Kind geschlagen worden sind. Ich bin besser als die anderen. Besser als alle anderen. Sagen Sie's. Sagen Sie, dass Rayleen besser und klüger ist als jeder andere, dem Sie je begegnet sind.« »Merk dir deine letzten Sätze«, meinte Eve, denn im selben Augenblick klopfte jemand an die Tür. Sie öffnete ihrer Partnerin und die drückte ihr das Tagebuch des Mädchens in die Hand.
»Aber hallo, was haben wir denn da?« »Wo haben Sie das her? Das gehört mir!« Keine Spur mehr von dem selbstzufriedenen Kind. Stattdessen stürzte eine zornbebende Killerin auf die Beamtinnen zu. »Geben Sie das her. Sofort!« Eve ließ den bösen Stoß und selbst die ausgefahrenen Krallen über sich ergehen, während sie das Tagebuch weiter in die Höhe hielt. »Tja, nun, das nennen wir tätlichen Angriff auf eine Polizistin. Rayleen Straffo, ich nehme dich fest wegen ...« »Halten Sie die Klappe. Halten Sie sofort die Klappe, oder es wird Ihnen leidtun. Das ist mein Tagebuch, ich will es wiederhaben! Dafür wird mein Vater Sie bezahlen lassen.« Eve warf das Buch in Richtung ihrer Partnerin, packte Rayleens Arme, drehte sie zu sich herum und legte dem schreienden, tobenden, tretenden Kind Handschellen an. »Du wirst dafür bezahlen, und zwar für alles. Du hattest recht, Ray. Ich kann während einer Vernehmung lügen. Ich war nicht verkabelt, dafür aber der Raum.« »Sie haben mich nicht über meine Rechte aufgeklärt.« »Stimmt. Aber ich brauche auch nichts von dem, was du mir hier erzählt hast. Das alles habe ich nämlich bereits. Und zwar aus dem Tagebuch, das wir gestern aus dem Recycler gezogen haben, von der Angestellten, die dir die Thermoskanne verkauft hat, die du gegen die von Mr Foster eingetauscht hast, von deiner Mutter, die uns - bevor du versucht hast, sie umzubringen - noch erzählt hat, dass sie wusste, dass du in der Weihnachtsnacht früher aufgestanden warst.« »Niemand wird Ihnen glauben.« Rayleens Gesicht war rot vor Zorn, verriet jedoch nicht eine Spur von Angst. »Dafür wird mein Daddy sorgen.« »Da irrst du dich schon wieder.« Eve nahm einen Arm des Mädchens, während Peabody den anderen ergriff.
Ein paar Meter entfernt stand Oliver Straffo wie ein Mann, der immer noch in einem schlimmen Traum gefangen war. »Rayleen.« Er starrte seine Tochter an. »Daddy! Daddy! Sie tun mir weh. Mach, dass sie damit aufhören.« Er machte zwei Riesenschritte auf sie zu. »Er war doch nur ein Baby. Er war doch nur ein kleiner Junge. Und er hat dich so geliebt. Wie konntest du das tun, Rayleen, wie konntest du das Menschen antun, die dich so geliebt haben?« »Das sind alles Lügen, Daddy. Diese Polizistin lügt. Ich bin dein bestes Mädchen. Ich bin ... Mami war's. Ich habe gesehen, wie sie es getan hat, Daddy. Sie hat Trev geschubst, und dann hat sie Mr Foster und Mr Williams umgebracht. Ich wollte sie nicht verraten, Daddy. Ich wollte nicht, dass sie sie uns wegnehmen. Ich ...« »Hör auf. Oh Gott.« Er warf sich die Hände vors Gesicht. »Oh Gott.« »Nehmen Sie sie mit, Peabody. Fahren Sie mit ihr, Mira und dem Menschen vom Jugendamt auf das Revier. Ich komme so bald wie möglich nach.« »Dafür werden Sie bezahlen«, murmelte Rayleen Eve zu, während Peabody einem Beamten winkte, damit er ihr beim Abführen des Mädchens half. »Dafür werden Sie bezahlen, genau wie die anderen. Nur dass es mir bei Ihnen noch mehr Freude machen wird.« »Verwöhnte Bälger machen mir ganz sicher keine Angst. Klären Sie sie über ihre Rechte auf, Peabody, und sorgen Sie dafür, dass sie wegen dreifachen Mordes sowie eines versuchten Mordes hinter Gitter kommt. Den Mord an Adele Versy fügen wir später noch hinzu.« »Daddy! Lass sie mich nicht mitnehmen! Daddy!« Eve wandte sich ab und marschierte, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf Oliver Straffo zu. »Setzen wir uns, Oliver.«
»Ich bin völlig leer. Ich bin völlig ausgebrannt. Das ist mein Kind. Sie ... ich habe sie zu dem gemacht, was sie anscheinend ist.« »Das haben Sie ganz sicher nicht. Manchmal bringen anständige Menschen Unaussprechliches hervor. Und manchmal ist es möglich, dass das Unaussprechliche etwas Anständiges gebiert. Damit kenne ich mich aus.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm und blieb einfach stehen, als sie Louise in ihre Richtung kommen sah. »Mr Straffo.« Er blickte die Ärztin an und stieß tonlos aus: »Allika. Sie ist tot.« »Nein, sie ist wieder bei Bewusstsein. Sie ist noch nicht wirklich ansprechbar, und ich kann Ihnen auch nichts versprechen. Aber jetzt braucht sie erst einmal Sie. Sie ist verwirrt und desorientiert, deshalb braucht sie Sie. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrer Frau.« »Allika.« Dann drehte er sich noch einmal um und sah Eve verzweifelt aus tränennassen Augen an. »Rayleen.« »Wie sehr lieben Sie Ihre Frau, Oliver? Wie sehr lieben Sie Ihren Sohn?« Er nickte schluchzend, dann folgte er Louise.
Epilog Nach dem langen, elenden Vorgang kehrte Eve auf das Revier zurück. Dort saß ihr Gatte hinter ihrem Schreibtisch und drosch auf die Tasten ihres klapprigen Computers ein. »Das Ding ist Eigentum der Polizei, Kumpel«, klärte sie ihn auf. »Mmm-hmm. Ich habe mir nur die Zeit etwas vertrieben und ein paar Sachen getippt, die jetzt auf dem Weg zu meinem Computer zu Hause sind.« Er drehte sich mitsamt dem Stuhl zu ihr herum. »Diese Sache muss dir ganz schön an die Nieren gegangen sein, Lieutenant«, meinte er. »Ich habe mir die ganze Zeit gesagt, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Du hättest nach Hause fahren sollen.« »Und ich habe mir gesagt, dass du mich vielleicht brauchst.« Er stand auf und nahm sie in den Arm. »Und, brauchst du mich?« »Oh ja.« Sie stieß einen lauten Seufzer aus. »Ich dachte oder hatte wenigstens gehofft, dass ich mich besser fühlen würde, wenn dieser Teil der Arbeit erst vorüber ist. Wenn ich die Antworten auf meine Frage habe, alles zu einem ordentlichen Paket verschnüren, sie verhaften und hinter Gitter bringen kann. Dass ich dann irgendwie zufriedener wäre oder so. Aber ich kann nicht sagen, wie es mir jetzt geht.« »Du hast Mitleid mit Oliver und Allika Straffo, der Gedanke macht dich krank, dass ein armer, unschuldiger, kleiner Junge, eine alte Frau und ein guter Ehemann und Lehrer sterben mussten, einzig, weil ein Kind so egoistisch war, und du leidest mit der Frau, die noch lange um ihn trauern wird.« »Ich habe bei ihr angerufen, bei der Frau, und habe ihr gesagt, dass wir den Fall abgeschlossen haben und ich zu ihr kommen
würde, um ihr alles zu erklären. Himmel.« Sie klappte erschöpft die Augen zu. »Du solltest wirklich nach Hause fahren.« »Nein, ich werde dich begleiten.« »Ja.« Sie seufzte ein zweites Mal. »Das würde auf alle Fälle helfen. Sie hat gegenüber der Person vom Jugendamt, die bei der Verhaftung in der Klinik war, auf die Tränendrüse gedrückt. Natürlich hat es funktioniert. Bei Mira aber funktioniert es nicht. Der Haftprüfungstermin ist für morgen angesetzt. Bis dahin wird sie wegen der schrecklichen Natur ihrer Verbrechen, und da keiner ihrer Eltern etwas dagegen hat, in den Erwachsenentrakt gesperrt, dort aber von den anderen getrennt. Du hast es gehört, nicht wahr? Du hast alles mit angehört.« »Ja. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben nie zuvor etwas gehört, bei dem es mir so kalt den Rücken runtergelaufen ist.« Roarke presste seinen Mund auf ihre Haare, weil das ihnen beiden half. »In dem Raum, in dem wir ihr Geständnis mitgeschnitten haben, hat niemand auch nur einen Ton gesagt. Es gab kein dämliches Gequatsche und auch keine blöden Witze, wie man sie normalerweise bei Einsätzen hört. Niemand hat auch nur ein Wort gesagt, während du mit ihr gesprochen hast und sie sich mit ihren Verbrechen gebrüstet hat. Straffo hat dagesessen wie ein Geist, wie ein Mann, dem bei lebendigern Leib die Eingeweide und das Herz herausgerissen werden.« »Jetzt hat sie einen Pflichtverteidiger. Vielleicht fühlt ihr Vater sich verpflichtet, ihr jemand anderen zu besorgen, aber das spielt keine Rolle mehr. Ihr Geständnis kann ich nicht verwenden, aber ich habe alles andere. Und weißt du was? Ich werde es noch einmal aus ihr herausholen, und zwar ganz offiziell.« »Wie das?« »Indem ich an ihr Ego appelliere. Denk dran, Ray, du bist die Allerbeste. Und nicht nur die Beste, sondern auch die Einzige, der so etwas gelungen ist. Du wirst berühmt werden, die einzige so junge Serienmörderin.«
»Und du sagst, dass ich Furcht einflößend bin.« Er küsste ihre Braue. »Dabei bist du mindestens genauso schlimm. Aber vor allem gibt es dich kein zweites Mal. Und du gehörst nur mir allein.« »Ich werde nicht zulassen, dass mich diese Angelegenheit auf Dauer fertigmacht. Ich werde mich nicht immer weiter fragen, wie das alles möglich war. Weil es ganz einfach auf manche Fragen keine Antwort gibt und man sie deshalb ruhen lassen muss.« »Allika Straffo wurde von der Intensivstation in einen normalen Raum verlegt. Ich habe mit Louise gesprochen.« »Das ist wenigstens ein kleiner Trost. Ich werde sie vernehmen, sobald sie mit mir sprechen kann. Lass uns noch die letzten Arbeiten erledigen und dann nach Hause fahren, die Champagnerflasche oder besser gleich für jeden eine Flasche öffnen, ein bisschen oder auch viel zu viel von dem Zeug trinken und einfach sehen, was dann passiert.« »Ein hervorragender Plan.« Er holte ihren Mantel und half ihr hinein. »Ich habe schon eine ganze Reihe von Ideen.« »Du bist eben wirklich einfallsreich.« Sie nahm seine Hand. »Und vor allem gehörst du mir allein.« Sie würden wieder zur Besinnung kommen, etwas Frieden und die Einheit finden, die für sie inzwischen lebenswichtig war.