Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft
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Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft
Obsidian 07
Sardaengars Botschaft von Mic...
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Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft
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Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft
Obsidian 07
Sardaengars Botschaft von Michael Marcus Thurner Die Greifklauen Litraks zuckten ein paarmal, so schnell, dass man die Bewegungen kaum ausmachen konnte. Drei meiner Begleiter sanken leblos zu Boden. Tamiljon wurde von einem herumwirbelnden Kristallsplitter am Hals getroffen. Wütend und ängstlich zugleich schrie er laut. Der Schwarzhäutige verlor das Bewusstsein. »Ich lebe!«, brüllte das gottgleich verehrte Wesen namens Litrak mit seiner tiefen Stimme und bäumte seinen stabförmigen, endlos langen Körper auf. Suchend schweiften seine Blicke aus tausendfach gebrochenen Facettenaugen umher. Vorerst ignorierte das Wesen seine Jünger, die Ordensbrüder und Großmeister des Inneren Zirkels. Litrak hatte mich ins Visier genommen. Mir blieb nicht einmal Zeit, Kontakt mit dem Wesen aufzunehmen, da fuhr auch schon ein dornenumrankter, spitzer Vorderarm auf mich herab ... Was bisher geschah: Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivilisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner der Milchstraße nur träumen können ... Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze QuaderPlattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten 2
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Der Zweite Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent Viina. Nachdem ihr Boot kentert, setzen die Gefährten ihren Weg ins Land der Silbersäulen mit einer Dampflokomotive fort. Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Sie werden in Zwistigkeiten der Alfaros verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit. Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamiljon muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle« in einen Hinterhalt. Sie können fliehen und erreichen die Taneran-Schlucht am Rand von Mertras, dem Land der Silbersäulen. Zur gleichen Zeit befindet sich Atlan auf Vinara Drei in höchster Not. Der Arkonide ist in Begleitung Tamiljons und von Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur CasoreenGletscherregion. Der Unsterbliche dringt mit den Ordensleuten durch ein Eislabyrinth in den Kerker des »Untoten Gottes« vor und enträtselt das Geheimnis von Litraks Identität ... 1.
Menzel sprach die rituelle Verabschiedungsformel und nickte höflich, während der Thronfolger längst damit beschäftigt war, an einem Erben für sein Königreich zu arbeiten. Langsam schlich der Büchermacher in seinen abgedunkelten Raum. Er schlug das Große Geschichtsbuch des Volkes auf, tauchte die Feder in Schweineblut und schrieb: »Der tapfere und edle Ezkoil musste heute die schwere Bürde der Königskrone von seinem überraschend verstorbenen Bruder übernehmen ...« Menzel schrieb Geschichte. Er schrieb die Wahrheit des Siegers.
Ezkoil erschlug Persephos, seinen Bruder. Dann wischte er das Blut mit einem Tuch, an dem hundert Weiber hundert Tage lang gestickt hatten, achtlos von der Schneide. Laut schnaufend ließ er sich auf den Thron fallen, der nunmehr ihm gehörte. Das Gesinde eilte herbei und erbot ihm hastig traditionelle Treueschwüre. Endlich hob auch Menzel, der Büchermacher, seinen alten, müden Körper und humpelte nach vorn. Der Thronfolger nahm einen Schluck vom Met und blickte ihn düster an. »Schreibe folgende Worte nieder – und lasse sie dem Volk verkünden!«, befahl Ezkoil. »Persephos, mein teurer, aber unglücklicher Bruder, wurde von einer schrecklichen Krankheit dahingerafft, die ihm der Uralte Sardaengar geschickt hatte, nachdem er vom wahren Glauben abgefallen war. Die Tempel des Ewigen, dem Persephos huldigte, werden geschleift. Der Name dieses Dämons darf im Lande bei Todesstrafe nicht mehr genannt werden. Gezeichnet und beschworen von, blablabla und so weiter.« Ezkoil rülpste vernehmlich, packte eine der Witwen an den Hüften und zerrte sie auf seinen Schoß.
Atlan: Im Innersten Die Spitze des Greifarmes, scharf wie ein Rasiermesser, verharrte abrupt, nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Sie zitterte und bebte, als würde der kristallene Litrak alle Energie aufwenden, nicht zuzustechen. Und so war es wohl auch; denn im nächsten Moment brüllte das abstruse Wesen hasserfüllt auf. »Ich kann dich nicht töten, Kosmokratenknecht. Du hast mich gerettet, nach all den Jahrmillionen.« Ein gequältes 3
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft des Schwarzhäutigen beiseite. Nichts. Kein Blut, nicht einmal eine Rötung der Haut. Das konnte unmöglich sein! Streiche das Wort unmöglich endlich aus deinem Vokabular!, riet mein Extrasinn. Rund dreizehntausend Jahre Lebenserfahrung – und noch immer hast du nicht begriffen, dass alles möglich ist. Ich ignorierte die Stimme in meinem Kopf, drehte Tamiljon in eine Seitenlage und schloss ihm die Augen. Äußerlich schien er gesund zu sein. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis er wieder zu sich kam. Falls er das Bewusstsein wiedererlangte. Wie ging es wohl den anderen? Acazar Cateireo, Erster des Inneren Zirkels, und Rusrala, Caraljon Imrey sowie Sanfei Zianil lagen apathisch auf ihren Fellen. Sie waren die ältesten Teilnehmer jener Expedition, die uns auf abenteuerlichem Wege hierher in die Eisgruft geführt hatte. Die anderen Großmeister, ebenfalls vier an der Zahl, richteten sich benommen auf. Ganz offensichtlich bemühten sie sich, eine Erklärung für all das zu finden, was sie soeben erlebt hatten. Eine Erklärung, die in ihr vom Glauben an den Ewigen Litrak geprägtes Weltbild passte. Sie würden, sie mussten scheitern. Nacheinander schleifte ich die Leichname der drei Ordensbrüder beiseite. Eine kleine Mulde abseits, die ich mit Eisbrocken voll schaufelte, erfüllte ihren Zweck. Es war dies eine Aufgabe, bei der mir die anderen nicht helfen konnten oder wollten. Für sie alle war eine Welt zusammengebrochen. Sie hatten mit dem Tod gerechnet und hätten ihn mit Freuden umarmt – wenn es in ihren Augen sinnvoll gewesen wäre. Doch der Ewige Litrak hatte sich als etwas entpuppt, mit dem die Gläubigen nicht rechnen konnten. Lebenslang antrainierte Mechanismen griffen bei den Glaubensbrüdern. Rusrala, der Akonenabkömmling und Dritter des Inneren Zirkels, stimmte monotonen Gesang an. Einer nach dem anderen fielen sie in das Gemurmel ein, schlossen die bizarre, eisige Umwelt aus ihrer Begriffswelt aus und fanden so zu einer
Stöhnen erklang, das einfach nicht zu diesem vier Meter langen Monstrum passen wollte. »Eine Ewigkeit lasst ihr mich allein, keiner hilft mir ... Was ich erleiden musste ...« Es blieb keine Zeit, irgendetwas zu erwidern oder auch nur eine Reaktion zu zeigen. Der dreieckige Kopf Litraks ruckte umher, als müsse er sich kurz orientieren. Dann stürmte er davon, vorbei an den in ihren Psalmen und Litaneien gefangenen Vinaranern. Er verschwand durch die Lücke, die wir geschaffen hatten. * Mein Zellaktivator-Chip sandte dringend benötigte Impulse aus, rasch beruhigte sich mein Kreislauf. Den Ordensbrüdern ging es wesentlich schlechter. Mehrere von ihnen waren an Ort und Stelle zusammengebrochen, nachdem der Ewige Litrak das Weite gesucht hatte. »Ranin«, rief ich laut. Der massige Überschwere, der apathisch vor sich hin starrte, zuckte zusammen. »Kümmere dich um die Großmeister. Schütze sie vor der Kälte. Reibe sie ab und wärme sie mit Tee.« Ranin nickte und gehorchte. Er hatte noch nicht verarbeitet, was hier soeben passiert war. Der Schock würde erst später kommen. Die beiden Blues, Mourlas und Tadyn, erhoben sich steif. Sie bereiteten Lager aus angehäuften Fellen. Ranin trug die zerbrechlichen Körper der meist älteren Großmeister heran. Er bettete sie sorgfältig auf die behelfsmäßigen Liegestätten. Sie waren wie Kinderpuppen in seinen breiten Armen. Ich wandte mich ab. Die drei Toten, deren Blut langsam in der eisigen Kälte kristallisierte, beachtete ich zunächst nicht weiter. Das Schicksal der Lebenden stand im Vordergrund. Und in erster Linie jenes von Tamiljon, meinem geheimnisvollen Begleiter. Ich beugte mich zu ihm hinab. Seine Augen waren geöffnet, doch er blickte in eine jenseitige Welt. Sein Atem ging stoßweise, sein Puls raste. Ein kristallener Dorn, ein Splitter von Litraks Körper, war, soweit ich es hatte verfolgen können, seitlich in seinen Hals eingedrungen. Vorsichtig drehte ich den Kopf 4
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft und Schutzherr der Milchstraßenvölker und der Menschenvölker im Besonderen, war auf die eine oder andere Art noch zu begreifen. Doch die darüber liegenden Entitäten, Materiequellen und Materiesenken, konnte unser Verstand nicht mehr erfassen. Und Kosmokraten? Abgesehen von seltenen Manifestationen im Standarduniversum wie Taurec und Vishna lebten sie in ihrem jenseitigen Reich nach abstrakten Zielsetzungen, die manchmal Jahrmillionen, dann wieder bloße Augenblicke umfassen mochten. Ich wusste es nicht, und ich wollte es auch nicht wissen. Die Visionen, die diese Entitäten Wirklichkeit werden ließen, waren einfach zu gewaltig, um mit arkonidischen oder menschlichen Sinnen nachvollzogen werden zu können. »Kosmokratenknecht«. Hm ... Es gab viele Feinde der Kosmokraten, und sie mussten nicht unbedingt zur Seite der »Bösen« gehören. Das Schwarz-WeißDenken früherer Jahre hatten wir Milchstraßenbewohner längst abgelegt. Ein Kosmokrat förderte das Leben, ein Chaotarch trachtete danach, es zu vernichten – so hatte es vor Ewigkeiten geheißen. Doch mittlerweile waren Hunderte Abstufungen auf dieser Skala von Plus nach Minus aufgetaucht, über die ich derzeit keine Muße hatte nachzudenken. Woran hatte Litrak erkannt, dass mich die Kosmokraten vor ihren Karren gespannt hatten? Was hatte er an mir gespürt, was hatte er gesehen? War es meine Aura, mein Status als ehemaliger Ritter der Tiefe oder das Wirken meines Zellaktivator-Chips? Hatte Samkar, jener Diener der Kosmokraten, dem ich vor wenigen Wochen im Kugelsternhaufen Omega Centauri begegnet war, mir einen unsichtbaren Imprint verpasst? Und, vor allem: Warum wusste ich selbst so gut wie nichts? Warum hatte ich keinerlei Informationen, und warum sprach niemand mit mir darüber, was zu tun war? Einzig die ominöse Bemerkung Samkars: »Du wirst noch gebraucht!« konnte ich als kleinen Hinweis auf meine jetzige Situation deuten. Ich fror. Nicht nur, weil sich die Kälte in der Eisgruft langsam wieder bemerkbar machte.
Form des inneren Friedens. Ich ließ sie gewähren. Wahrscheinlich würde ihr Erwachen umso schlimmer sein – doch für den Moment versprach die rituelle Reinigung Hilfestellung. Tamiljon lag nach wie vor steif und ruhig da. Mein durchaus ambivalentes Verhältnis zu meinem geheimnisvollen Begleiter hinderte mich nicht daran, Mitleid zu verspüren. Auch wenn er in manchen Dingen nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte – er war ein zuverlässiger Begleiter gewesen und hatte mir mehrmals die Haut gerettet. Nur mit Schaudern dachte ich an die Begegnung mit der Termitenkönigin in der Afal-Savanne zurück ... Konzentriere dich auf das große Bild, mahnte mich der Extrasinn. Er hatte Recht. Es gab Dinge, über die ich mir Klarheit verschaffen musste. Wichtige Dinge, die offensichtlich – wieder einmal – von den Kosmokraten gesteuert oder zumindest beeinflusst wurden. Litrak, der Kristalline, hatte die Vorläufersprache der Mächtigen verwendet. Der Extrasinn hatte sie identifiziert. Er hatte, bevor der Ewige sich in Form einer Gottesanbeterin stabilisierte, die Gestalt Samkars nachgeahmt; eines Roboters der Kosmokraten. Zudem hatte er mich verächtlich »Kosmokratenknecht« genannt. Die Hinweise auf »Jahrmillionen« und auf »eine Ewigkeit« waren gar nicht mehr notwendig gewesen, um zu wissen, dass ich einmal mehr in den Brennpunkt galaktopolitischer Geschehnisse geraten war ... Eine Menge Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Die Puzzlesteine wollten einfach nicht zueinander finden. Was hatten die Kosmokraten – manchmal auch Hohe Mächte genannt – mit diesem abgeschotteten Universum der Vinara-Spiegelwelten zu schaffen? Auch wenn ich lange Zeit in der einen oder anderen Form in ihren Diensten gestanden hatte – die Ambitionen der Kosmokraten entzogen sich jeglicher Bewertung. Kein Wunder – waren sie uns doch in der kosmischen Evolutionstheorie weit überlegen. Eine Superintelligenz wie ES, der Förderer 5
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft blutigen Schleifspuren, die zur Mulde hin führten. »Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?«, fragte ich besorgt. Kurzzeitige Amnesie konnte durchaus die Folge des heftigen Aufpralls auf dem eisigen Boden sein; ich hatte ein ungutes Gefühl, während ich meinen jungen Begleiter prüfend betrachtete. »Wir opferten unsere Kristallstäbe, um Litrak wieder zu erwecken«, sagte Tamiljon. »Dann erinnere ich mich an dein schallendes Gelächter, weil nichts geschah. Ja. Diese unerhörte Blasphemie war das Letzte, was ich bewusst wahrnahm.« Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Zornes. »Und natürlich fühlte ich maßlose Enttäuschung. All die Arbeit und Mühen vieler Jahrhunderte – umsonst. Tausende Leben, die für das große Ziel vergeblich gelebt wurden ...« Seine Stimme brach; er wandte sich ab. Die wichtigen Erlebnisse danach waren also aus seinem Gedächtnis gebannt. Tamiljon würden einige böse Überraschungen erwarten. Er war ein kluger Beobachter; angesichts der Blutspuren konnte er sich denken, dass Unerfreuliches geschehen war. Aber ich war es ja gewohnt, Überbringer von schlechten Nachrichten zu sein. Seufzend fing ich also an zu erzählen. »Ich ging hinein in diesen Wirbel aus Kristallen, in dem wir Litrak vermuteten. Als ich das Innere betreten hatte, formte sich Litrak ...« »Sterben!«, krächzte Acazar Cateireo erneut. »Wir werden ohne die Kristallstäbe alle sterben! Nur ihre Lebenskraft hielt uns am Leben. Ich spüre bereits, dass die Kraft meinen Körper verlässt ...« Mittlerweile waren alle Großmeister vollends erwacht und wärmten ihre Hände an den Bechern mit heißem Tee. Apathie hatte sie erfasst. Sie schienen mit ihrem Leben abgeschlossen zu haben. »Was meinst du damit, alter Mann?«, fragte ich ungehalten. Ich wollte unter keinen Umständen mit dem Greis Diskussionen über Symbole seines Gottes Litrak führen. Er krümmte eine Hand ums Ohr und sagte: »Wie bitte? Rede nicht so leise; ich kann dich nicht verstehen!«
Blutflecken, allmählich überdeckt von einer dünnen Schicht vieler verästelter Eiskristalle, schoben sich vor meine trüben Gedanken. Ich erwachte in der Wirklichkeit. Verzweiflung überkam mich. Das Gewicht so vieler Toter hing wie ein Stahlblock an meinen Beinen. Insgesamt fünf meiner Begleiter hatten mit ihrem Leben bezahlt; wenn ich mich umblickte und die völlig erschöpften Großmeister betrachtete, konnten es durchaus noch mehr werden ... Tat ich das Richtige? War mein Vorstürmen in das Innerste der Eisgruft nicht zu unüberlegt gewesen? Hatte ich ein Monster erweckt, das nicht mehr bei Sinnen war? Akzeptiere die Tatsachen, sagte mein Extrasinn nüchtern. Litrak existiert nunmehr wieder, offensichtlich dank deiner Unterstützung als Katalysator. »Sterben müssen wir«, flüsterte eine raue Stimme. Ich sah zur Seite. Acazar Cateireo, Erster des Inneren Zirkels, war erwacht und blickte mit angsterfüllten Augen umher. »Was haben wir nur getan?«, jammerte der Greis weiter. Einhundertdreiundsechzig Jahre war er, und in diesem Moment seines Erwachens zeigte er sein wahres Alter. Die beiden Blues kümmerten sich um ihn. Sie reichten ihm heißen Tee. Kleinere Schnittwunden, die von umherfliegenden Kristallspitzen stammen mochten und sein Gesicht zum Teil verunstalteten, wurden verarztet. »Was ist ... passiert?« Tamiljon setzte sich ächzend auf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er sich an den Hals. Dort, wo Litraks Kristall ihn getroffen haben musste ... »Wie fühlst du dich?«, fragte ich. »Ich habe Schmerzen an der Hüfte, und mein Hals ist gezerrt.« Er öffnete die Augen, blickte sich um. »Nochmals: Was ist passiert?« »Ein Kristallsplitter Litraks hat dich getroffen und ...« »Litrak?«, unterbrach er mich. »Kristallsplitter? Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!« Er richtete sich auf, seine rechte Hand presste er fest an den Hals. Erst jetzt erblickte der Schwarzhäutige die Großmeister und Ordensbrüder und sah die 6
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft weite Pendelbewegung führte ihn nach rechts, hinüber zur Felsnase, hinter der er Kythara wusste. Würde er die Varganin noch einmal sehen, bevor das Unvermeidliche geschah? Würde er ihr Gesicht vor Augen haben, während er Hunderte Meter tief in die Schlucht hinabstürzte? Einmal noch stieß er sich ab, beschleunigte die Bewegung hin zur Felsnase – dann folgte der unvermeidliche Ruck. Mit weitem Schwung trieb Lethem zur Seite, nur knapp am Fels entlang. Sein Magen wurde leicht und hob sich, sein Herz schlug so laut heftig und heftig, dass es die ganze Welt hören musste. Lethem prallte gegen die Felsnase. Er versuchte vergeblich, sich in Vinaras Erde und Fels festzukrallen. Dann rutschte der Arkonide die Senkrechte hinab, riss sich dabei Gesicht und Finger blutig. Sein Körper schleifte über Fels und Gestein. Tastend versuchte er, einen dünnen Ast zu greifen, doch er verfehlte ihn und fiel ... Ein Ruck – von seinem rechten Arm ausgehend, der plötzlich Widerstand gefunden hatte. Lethem krallte sich fest, schloss die Hand und verweigerte jeglichen Gedanken an Schmerzen. Er schrie seine Wut, Angst und Lebensgier hinaus. Leicht pendelte er hin und her, suchte blindlings mit der Linken nach einem weiteren Halt. Metallisch schmeckende Flüssigkeit – Blut – rann ihm über die Augen. Lethem sah nichts mehr, konnte nur noch tasten. »Meine ... Hand!«, hörte er eine Stimme über sich keuchen. »Nimm sie!« Kythara! Es war keine Zeit, sich zu wundern. Er streckte die Linke nach oben, parallel zum anderen Arm. Etwas tastete nach ihm, packte ihn am Gelenk. Es war ein stahlharter Griff, der keinesfalls zu einer Frau gehören durfte. Die hübsche, wohlproportionierte Kythara und dieser unglaubliche Kraftakt – dies passte einfach nicht zusammen! Lethem drehte seinen Kopf und wischte sich mit dem Oberarm Blut von Stirn und Augen, bis er wieder sehen konnte. Er schwebte nach wie vor im Nichts, gehalten von den zittrigen
Ich wiederholte meine Frage. So laut, dass ich meinte, versteckte Geister in dieser eisigen Landschaft zu erwecken. »Sieh her, Atlan!« Er hob einen meterlangen Kristallstab auf und deutete mit zitternden Fingern auf die Lücke, in der zuvor ein Mondsplitter eingesetzt gewesen war. »Die Splitter, die wir für Litrak opferten, versorgten uns mit Lebenskraft, ließen uns über Gebühr alt werden.« Er seufzte laut. »Ach hättest du nur jemals die kraftspendenden Impulse aus den Stäben spüren können! Das Gefühl, in ihnen zu baden, gestärkt zu werden, Zeit zu gewinnen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen!« Das war nun wirklich eine Überraschung! Die Mondsplitter in den Stäben hatten als eine Art ... primitiver Zellaktivator gewirkt! * Lethem: An der Taneran-Schlucht Dumm! Dumm! Dumm!, schimpfte er sich. Lethem musste nicht nach oben sehen, um zu wissen, dass das Seil reißen würde. Er konnte die feinen Rucke in seinen Händen fühlen. Zentimeterweise glitt er tiefer, während er in der Felswand hin- und herpendelte. Sein Zeitgefühl war durcheinander geraten, und jeder Sinneseindruck war von erschreckender Intensität. Er roch das Gras eines breiten roten Pflanzenbüschels, an dem er vorbeischwang. Der Arkonide hörte das einsame Kreischen eines der adlerähnlichen Muttertiere, das in weiten Kreisen über ihr Nest zog. Er sah silbern reflektierende und rostrote Einschlüsse in der Wand vorbeihuschen, ein kaleidoskopartiges Bild formend. Und Lethem spürte an seinen Oberschenkeln, dem Oberkörper und den Armen, wie das Seil riss. Dumm! Dumm! Dumm! Er hing an einem händisch geknüpften, vierschlägigen Seil, das in keiner Weise die Qualität und Reißfestigkeit eines arkonidischen HighTech-Produktes erreichte. Eigentlich hätte er daran denken müssen! Ein Strang nach dem anderen löste sich, bis nur noch der Hanfkern übrig blieb. Seine 7
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Händen der Frau. Wo konnte er sich festklammern und sie damit entlasten? Er blickte umher. Die Felsnase endete unter ihm. Weit und breit war nichts zu sehen, was ihnen weiterhelfen würde. Schräg links, drei Körperlängen unterhalb! Ein breiter Saum, leicht nach außen hin hängend ... »Kann ... nicht mehr«, stöhnte Kythara. Für einen Augenblick sah er zu ihr hoch. Sie hing in ihrem Seil wie eine Trapezkünstlerin mit dem Kopf nach unten. Das Seil war um ihre Hüfte geschlungen und konnte ebenfalls bald reißen. Er fühlte, wie ihr Griff abrutschte. »Schwingen! Nur zweimal«, sagte er zwischen hektischen Atemzügen. Langsam endete der Schockzustand. Das Wissen, wo er sich eigentlich befand, kehrte zurück. Lethem nahm mit den Beinen Schwung, spürte Bauchmuskeln und Brustplatten schmerzhaft. Einmal zurück, einmal vor. Kythara schrie unter der Belastung und den ruckenden Bewegungen – sie presste das letzte Quäntchen Energie aus ihrem Körper heraus. Noch einmal wippen und ... »Loslassen!«, brüllte Lethem und drückte seinen Oberkörper nach vorne. Der Zweite Pilot der TOSOMA spürte, wie der Griff der Frau erlahmte. Er wurde durch die Luft geschleudert, prallte gegen Felsgestein, rutschte daran hinab und landete auf festem Boden. Sofort rollte er, vom Schwung getragen, den leicht abschüssigen Felssaum hinab zur Kante. Er machte seinen Körper breit, bot Widerstand, wo es nur ging. Endlich kam er zum Liegen. Ein Bein und ein Arm hingen bereits wieder über dem Abgrund. Hastig kroch er zurück, hustete, spuckte einen Brei aus Blut, Schweiß und Staub aus. Sekundenlang meinte er, vor Überaktivität seines Körpers zu explodieren. Puls und Herzschlag rasten, alle Glieder zitterten unkontrollierbar. Die Kräfte, die auf seinen zerschundenen Körper eingewirkt hatten, forderten ihren Tribut. Alles verschwamm vor seinen Augen.
Es konnten nur wenige Sekunden vergangen sein, als Lethem wieder zu sich kam. Er stützte sich mühsam hoch und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Felswand. »Kythara«, wollte er rufen, doch mehr als ein entkräftetes Krächzen brachte er nicht zustande. Die Frau hing nach wie vor kopfüber, die Arme wie eine leblose Puppe nach unten hin weggestreckt. Mit der Hüfte schlug sie immer wieder gegen die braunrote Felsnadel. Ihr langes blondes Haar wirbelte im Wind. Sie musste bewusstlos sein – oder gar tot? Nein! Diesen Gedanken verdrängte er augenblicklich wieder. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sich Kytharas Körper stückchenweise nach oben hob. Ondaix, der bullige Springer, oder der Umweltangepasste Zanargun reagierten endlich! Warum erst so spät? Hätten sie nicht ihn und die Frau gemeinsam hochziehen können? Die Varganin verschwand endgültig aus seinem Gesichtsfeld. Fahrig wischte sich der Arkonide mit dem Handrücken stetig tropfendes Blut von der Stirn. Es stammte von einer länglichen Platzwunde. Gleichzeitig floss Tränensekret langsam und schwer über sein Kinn auf die Oberschenkel. Lethem versuchte aufzustehen, und immerhin: Beim dritten Versuch gelang es ihm, sich an der Felswand hochzuhangeln. Er stand auf einem Pfad. Auf dem Pfad! Dies war der Weg hinab zum Boden der Taneran-Schlucht! Links ging es bergab. Unterhalb der Felsnadel, an der er um sein Leben gekämpft hatte, führte der Weg steil in die Tiefe. Rechts, nur wenige Meter entfernt und aufwärts führend, erkannte er einen Tunnel! Müde torkelte Lethem los, den Bergsims hinauf. Er empfand die Schwärze, die ihn darauf umfing, als Erleichterung. Nach seinem Absturz gab sie ihm ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Hier war kein Absturz mehr möglich. Das Tageslicht hinter ihm verblasste. Der Gang krümmte sich entlang der Klippen. Vorsichtig tastete Lethem sich vorwärts. Die
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Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft äußerst attraktive, reizvolle, die Lethem da Vokoban bewusst machte, wie lange es schon her war, dass er ... »Na – wieder unter den Lebenden?«, drang die bemüht fröhliche Stimme Scaul Rellum Falks an sein Ohr. Verflixt! Wenn es eine Eigenschaft gab, die allen Terranern zu Eigen war, dann jene, immer im unpassendsten Moment aufzutauchen. Perry Rhodan hatte es mit dieser höchst zweifelhaften Begabung bereits vor Tausenden Jahren im damaligen Reich der Arkoniden vorgemacht, und der bullige Falk bildete keine Ausnahme. »Jetzt weiß ich endgültig, dass ich noch am Leben bin«, sagte Lethem seufzend. »Als ich Kythara erblickte, durfte ich noch hoffen, in einem jenseitigen Paradies zu sein und meine Ruhe zu haben. Aber nun ...« Der Terraner errötete und begann augenblicklich zu schwitzen. »Ich habe nur ... ich wollte nicht ...« Lethem da Vokoban lachte und spürte sogleich mehrere Dutzend schmerzende Körperstellen. »Ist schon gut, es war doch nur ein Scherz!« Kurz blickte er zur Maghalata, die ihn nach wie vor mit Interesse, aber ohne allzu viele Emotionen zu zeigen, betrachtete. Natürlich hätte ich mich lieber weiter mit dieser varganischen Schönheit beschäftigt, du terranischer Tölpel! Mit einem Mal fiel ihm siedend heiß ein, dass die Maghalata eine besondere Begabung hatte. Sie konnte ihre Empfindungen an andere Wesen weitervermitteln – aber auch das erfassen, was andere fühlten. Sie wusste möglicherweise, was er soeben gedacht hatte ... Ein Zeichen, ein Impuls, den man in etwa mit So ist es, mein Lieber! Und danke für die Komplimente! übersetzen konnte, bildete sich in seinem Kopf. Diesmal war das Grinsen der Frau breit und vollmundig. Lethem sah sich verzweifelt nach einer Schaufel um, mit der er sich begraben konnte ...
Kühle im Tunnel ließ ihn plötzlich zittern. Mehrmals musste er sich niederhocken und seiner Schwäche Tribut zollen. Doch irgendwann wurde die Neigung des Stollens flacher. Der Hauch eines Lichtes, dem er entgegenblickte, wies ihm nun den Weg. Eine frische Brise fuhr durch sein blutverklebtes Haar, und es wurde rasch heller. Stimmen drangen an sein Ohr. Männerstimmen. Jeder Zentimeter seines Körpers schmerzte. Lethem knickte um, sank auf alle viere, kroch vorwärts. Er sah, wie die Helligkeit zunahm und sein Gesichtsfeld trotzdem merkwürdigerweise schrumpfte. Irgendetwas stimmte nicht, doch sein verwirrter Geist erfasste nicht mehr, was es war. Die letzten Meter, eine letzte Kraftanstrengung. Er schob trockene, stachelbewehrte Sträucher beiseite – und befand sich inmitten ihres Lagers. »Lebt Kythara?«, flüsterte er, während schattenhafte Gestalten auf ihn zustürzten. * Lethem sah das müde Gesicht der Varganin vor sich. Sie umklammerte eine hölzerne Tasse. Das Aroma bitteren Kräutertees kroch in seine Nase. Sofort spürte er unbändiges Verlangen nach Wasser und Nahrung. Er setzte sich auf und lehnte sich so gegen einen Felsen, dass er Kythara weiterhin im Auge behalten konnte. Sie schien äußerlich unverletzt zu sein. Nur einige lange, rot entzündete Kratzer überzogen ihr Gesicht. Und die Handgelenke waren bandagiert. Lethems Finger ertasteten eine weitere Tasse neben dem Feuer. Mit zitternden Händen goss er sich ein und trank gierig. »Danke, Maghalata«, murmelte er danach. Er sprach Kythara bewusst mit jenem Ehrentitel an, den sie in der Stadt Viinghodor getragen hatte. Sie zeigte ein kurzes Grinsen. Eigentlich war es bloß ein Zucken um ihre Mundwinkel. Die Varganin ging mit ihrer Gestik ebenso sparsam um wie mit Worten und Taten. Wenn sie etwas tat, dann hatte es Hand und Fuß. Sie war eine schnörkellose Frau, ohne Haken und Ösen, die sehr genau wusste, was sie wollte. Und noch dazu eine
* »Alles nur Kratz- und Schürfwunden«, sagte Zanargun überzeugt, während sie die letzten 9
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft ihrer Habseligkeiten zusammenpackten. »Die paar lächerlichen Prellungen wirst du bald nicht mehr spüren. Vertraue auf meine Künste.« Der Umweltangepasste, an Bord der TOSOMA Chef der Landetruppen und ein richtiges Kampfschwein, hatte leicht reden! Seine dicke Haut war wahrscheinlich derart unempfindlich, dass er gar nicht wusste, was eine Prellung war. Lethem verdrehte die Augen und setzte sich humpelnd an die Spitze. Wäre ihre Mission nicht von größter Wichtigkeit, hätte er für Kythara und sich einen Ruhetag ausbedungen, um die schlimmsten Verletzungen zu kurieren. Doch sie alle spürten und wussten, dass es mit der Welt, die sie durchwanderten, zu Ende ging. Immer öfter stürzten Obsidian-Brocken, große und kleine, auf Vinara. Sie zogen über die Gruppe hinweg, zerfurchten den Boden oder sausten pfeifend und zischend über den Horizont hinaus, um an anderen, weiter entfernten Orten Unglück und Tod zu säen. »Aufbruch!«, befahl Lethem und betrat erneut den Stollen. Behelfsmäßige Fackeln wurden entzündet, der Abstieg begann. Es war wieder einer dieser Momente, da er nicht wusste, ob er überhaupt das Recht hatte, die Gruppe anzuführen. Kythara hatte ihn retten müssen, weil er einen kleinen, aber überlebenswichtigen Faktor nicht bedacht hatte. Würden nicht die anderen – Ondaix, Falk und Zanargun – an seinen Fähigkeiten zweifeln? Die Maghalata war mit ihrer Persönlichkeit und Ausstrahlung ebenso prädestiniert, an der Spitze des Zuges zu stehen, wie etwa Zanargun, der mehr als einmal Hundertschaften von Bodentruppen in den Kampf geführt hatte. Lethem verdrängte seine tristen Gedanken und führte die Xarran-Echse an ihren ledernen Zügeln bergab. Erst als sie den Höhlendurchgang durchquert hatten und die Hitze des Mittags über ihnen zusammenschlug, wurden die Tiere aktiver. Ihre Trägheit wurde zu Dynamik, ihre Griesgrämigkeit zu heiterer Ausgelassenheit. Eine gefährliche Situation, wenn man bedachte, dass es zu Lethems linker Seite 10
senkrecht hinabging. Er schlug seinem Tier mit einer Gerte mehrmals auf die empfindlichen Ohrmuscheln und zog energisch an den Zügeln, so dass sich das Gebiss hörbar zwischen den spitzen Zahnreihen verfing. Sofort wurde die Echse ruhiger. Sie passierten die Stelle, an der Lethem gelandet war. Eine feine Blutspur kennzeichnete den Weg. Instinktiv griff sich Lethem an den Kopfverband und ignorierte den kurzen Moment eines Schwindelanfalls. »Eine schöne Aussicht«, rief Falk, der hinter ihm ging. »Sieht aus wie der Grand Canyon.« Ja, Lethem hatte von diesem irdischen Naturparadies gehört. Über Jahrmillionen hinweg war Schluchtenwirrwarr durch Auffaltungen einerseits und durch die sedimentierende Wirkung des ColoradoFlusses andererseits geformt worden. Und in der Tat – es schien viele Parallelen zu geben. Die in Rot- und Gelbtönen gefärbten Schiefer-, Granit-, Kalk- und Sandsteinschichten, die sich je nach Sonneneinstrahlung unterschiedlich präsentierten; das labyrinthische Element mit seinen vielen Nebentälern und Einrissen; das Gefühl der Scharfkantigkeit, so dass Lethem glaubte, das ganze Land bestünde nur aus rasiermesserscharf abgegrenzten Felsformationen; die vom Fels reflektierte brütende Hitze; die klare, etwas zu dünne Luft; und nicht zuletzt der atemberaubende Blick, der einfach nicht in Worte zu fassen war. Mehrere der braunen, adlerähnlichen Vögel kreisten nun über ihnen. Sie würden sich wohl holen, was sie im Lager an Nahrungsresten und Ausscheidungen hinterlassen hatten. Da und dort huschte eine kleine Echse über die hochragende Wand. Sobald ein skorpionartiges Geschöpf ihren schmalen Saumpfad überquerte, fuhr eine lange, rosarote Zunge aus dem Maul von Lethems Xarran, um sich den Leckerbissen genüsslich einzuverleiben. Es wurde kaum ein Wort gewechselt. Lethem musste alle Konzentration aufbieten. Ein jeder Fehlschritt zur Seite würde seinen sicheren Tod bedeuten. Auch die landschaftliche Schönheit ließ ihn – und auch
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft lassen. In seiner Gegenwart. Vergessen war die Gefahr, vergessen war die Aufgabe. Auch wenn dies nur Momente anhalten würde – es waren Augenblicke des Glücks. »Wir schlagen unser Lager am besten zwischen diesen beiden großen Felsen auf«, beschloss Zanargun mit befehlsgewohnter Stimme. Der Zauber, der Lethem gefangen hielt, zerbrach augenblicklich. Übrig blieb eine urtümliche, fremde, unbekannte Landschaft, in der überall Gefahren stecken konnten. Der Arkonide seufzte schwer und machte sich daran, seinen Begleitern beim Aufbau des Lagers zu helfen.
seine Begleiter – ehrfürchtig schweigen. Es gab einfach nichts zu sagen, was dem Bild, durch das sie wanderten, würdig sein konnte. Ein Donnergrollen kam rasch näher. Ein Geräusch, an das sie sich gewöhnen mussten. Bald darauf wurde der Obsidianbrocken, der einen langen Feuerschweif hinter sich herzog, sichtbar. Er flog über die Gesteinskante hinweg ins Land hinein, zog eine flache Kurve nach unten und prallte nahe dem Horizont auf. Es dauerte eine Minute, bis der Lärm des Einschlags zu hören war, getragen von der dünnen, etwas verzerrt wirkenden Atmosphäre. Lethem drehte sich kurz um. Seine Begleiter starrten geradeaus an ihm vorbei. Sie ignorieren bewusst die Gefahr, dachte er. Schauen einfach weg – und das aus gutem Grund. Wenn man immer nur daran denkt, dass einem der Tod droht, macht man sich selbst das Leben zur Hölle.
* Die Dunkelheit war wie immer überfallartig über sie gekommen. Kein Stern leuchtete am Firmament; nur der soeben aufgehende Kristallmond sandte erste glitzernde Strahlen auf Vinara herab. Plötzlich waren Polarlichter im Norden zu sehen. Fein gewobene Bänder in Gelb und Rot, die sich gegenseitig überlagerten, teilweise ineinander verschwammen und die Ränder der Schlucht ausleuchteten. Waren es tatsächlich Ströme elektrisch geladener Teilchen, die vom Magnetfeld des Planeten abgelenkt wurden und Moleküle der Atmosphäre anregten? Bestand nicht eher ein Zusammenhang zum derzeitig fragilen Zustand dieses seltsamen Mini-Universums? Lethem kümmerte sich nicht weiter darum. Fast jede Nacht, seitdem sie auf diesem Planeten gestrandet waren, hatte sich das Leuchten gezeigt. »Prägt euch die Karte noch mal gut ein«, unterbrach Kythara Lethems Überlegungen. »Unser Weg führt uns nordwestlich entlang des Taneran-Flusses, dann die westliche Flanke der Schlucht hinauf ...« »Was hat es mit diesem Canyon der Visionen auf sich?«, fragte Zanargun ungeduldig. Mit seinem kurzen, breiten Zeigefinger deutete er auf Schriftzeichen, die den südlichen Teil der Taneran-Schlucht benannten. Kythara schwieg und blickte in die zuckenden Flammen des Lagerfeuers.
* Die Nacht kündigte sich bereits an, als sie endlich die Talsohle erreichten. Die XarranEchsen gingen steifbeinig und widerwillig die letzten Schritte bis zum Wasser. Dort tauchten sie kurz ihre Zungen ins Nass und versteckten sich, nachdem sie abgeschirrt waren, zwischen breiten Felsklötzen. Die Steine strahlten noch ein wenig die Wärme vom Tag ab. »Das ist ein eher trauriges Rinnsal«, sagte Lethem gut gelaunt. Er deutete auf das flache Gewässer, das kaum Gefälle hatte und vielfältig mäandernd die breite Ebene durchschnitt. Sanddünen, breite Schlammlöcher und Kieselbetten beherrschten das Land. Immer wieder hatten sich Inseln der Vegetation gebildet, und in der Ferne meinte er eine Herde hirschähnlicher Tiere äsen zu sehen. Die Luft war angenehm feucht. Das sanfte Gluckern des Taneran-Flusses erzeugte tiefe Zufriedenheit, fast ein Gefühl der Glückseligkeit im Arkoniden. Kythara blickte ihn mit sanften Augen an, sagte aber kein Wort. Lethem konnte auch so spüren, wie sie es genoss, diese nahezu unberührte Landschaft auf sich einwirken zu 11
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Es brannte mittlerweile lichterloh und schützte zumindest ein wenig vor der Kälte, die über das Land gekrochen kam. Knackend zersprang ein Ast. Gespenstischer, meterhoher Funkenflug leuchtete ihre Gesichter aus. »Nun, Maghalata?«, fragte Lethem nach. »Gibt es etwas, das wir wissen müssen? Es sollten keine Geheimnisse zwischen uns stehen. Unsere Mission ist schließlich überlebenswichtig; willst du sie wegen irgendwelcher Eitelkeiten gefährdet sehen?« Provokativ und mit einem spöttischen Lächeln fügte er hinzu: »Oder weißt du etwa nicht, was diese Bezeichnung bedeutet?« Diese Frau war ein einziges Geheimnis. Das Rätselraten hatte schon in der Stadt Viinghodor begonnen. Doch nun war es an der Zeit, ihr einige Informationen zu entlocken. Kurz presste sie ihre Kiefer aufeinander, dann sah sie ihn wütend an. Einen Augenblick später gab sich Kythara einen Ruck, und ihre Gesichtszüge wurden wieder so ausdruckslos, wie es Lethem von ihr gewohnt war. »Ich weiß wirklich nicht viel über den Canyon der Visionen«, antwortete sie schleppend. »Nur so viel: Es ist gefährlich, ihn zu betreten. Die Viin meiden diesen Ort.« Kythara fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Man sagt, dass es im Canyon eine riesige Ansammlung von Juwelen der Obsidian-Kluft gäbe. Ihr wisst mittlerweile, dass Geschichtenerzählung und Legendenbildung einen wichtigen Bestandteil unserer Lebensart ausmachen. Ich garantiere, dass jedes Stück Dichtung ein Körnchen Wahrheit in sich birgt.« Ondaix, der in letzter Zeit sehr schweigsam geworden war, meldete sich erstmals an diesem Abend zu Wort: »Die Juwelen der Obsidian-Kluft sind angeblich Tränen des Schmerzes. Überbleibsel einer der vielen und langen Auseinandersetzungen zwischen dem Uralten Sardaengar und dem Ewigen Litrak. Wer ihnen zu nahe kommt, verliert sich in Träumen und Phantasiegebilden. Er ist für immer in Halluzinationen gefangen und stirbt einen grausamen Tod.« »Ich hatte in Viinghodor die Möglichkeit, mit einem Mann zu sprechen, der kurz zuvor aus 12
Neugierde die Randbezirke des Canyons erkundet hatte«, setzte Kythara die Erzählungen ihres Vertrauten fort. »Er konnte glaubhaft machen, erst dreißig Jahre alt zu sein. Dennoch starb er als zahnloser Greis. Der Einfluss der Juwelen ließ ihn binnen weniger Monate altern, und jegliche Lebenskraft ging ihm verloren.« »Märchen!«, schnaubte Falk verächtlich. »... mit einem Körnchen Wahrheit!«, reagierte die Maghalata scharf. »Was auch immer dahinter steckt – wir sollten es nicht riskieren, auch nur einen Schritt in Richtung Süden zu machen.« Sie blickte Lethem da Vokoban streng in die Augen. Der Arkonide fühlte sich ertappt. Tatsächlich hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, seiner Neugierde nachzugeben und wenige Stunden ihrer wertvollen Zeit für einen kleinen Abstecher zu opfern. Er nickte verwirrt. Kythara konnte seine Stimmungsschwankungen mit ihren geheimnisvollen Sinnen natürlich spüren. Sie wusste, was ihn beschäftigte; sie empfand seine Unsicherheit wohl nur zu deutlich. Seine Selbstzweifel wuchsen immer mehr. War er der Richtige, um die kleine Gruppe anzuführen? Es war ihm, als würde das Hemd platzen. Lethem sprang hoch, murmelte eine kurze Entschuldigung und lief zum Taneran hinunter. Dort hockte er sich nieder, fernab des einsamen Lichtscheins. Leises Gelächter drang an sein Ohr. Ihm wollte es nicht gelingen, die Sache leicht zu nehmen. Die Belastung legte sich von Tag zu Tag schwerer auf seine Schultern. Lethem zog die Schuhe aus und streckte die müden Füße in das klare, kalte Wasser. Der riesenhafte Kristallmond schob sich soeben in seiner ganzen Größe über den Horizont. Leichter Wellengang verzerrte das sich widerspiegelnde Bild des riesigen Brockens. 1126 Kilometer ist er groß, dachte er. Genauso groß wie ein Leben bringendes Sporenschiff der Kosmokraten. Das kann kein Zufall sein! Aber was, bei Tran-Atlan, bedeutet es? Trübe hing er seinen Gedanken nach, während immer wieder Brocken des Obsidianrings mit dem Mond Vadolon
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft kollidierten. Mal waren es winzige Explosionen, klein wie Stecknadelknöpfe. Dann wieder solche, die selbst im Spiegelbild des Wassers gut zu erkennen waren. Weiße, kalte Lichtbögen sprangen vom Mond über zum Land der Silbersäulen, in dessen Grenzbereich sie sich nunmehr bewegten. Sie blieben eine Weile bestehen, brannten sich in die Netzhaut des Betrachters ein und verflüchtigten sich schließlich so abrupt, dass Lethem meinte, einer Sinnestäuschung aufgesessen zu sein. Der Arkonide zog die Beine aus dem Wasser und ging zurück zum Lagerfeuer. Ihn fröstelte. Aber es war mit Sicherheit nicht die geringe Temperatur des Taneran-Flusses, die ihn schaudern ließ.
Warum ich dauernd dieses Schauermärchen erzähle? Schauermärchen? Schäm dich, Mann! Diese Geschichte habe ich von meiner Großmutter, und die hatte sie von ihrer Mutter. Es müssen Hunderte Generationen sein, die die Geschichte von Litrak und Sardaengar an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben haben. Und ich schwöre dir, sie ist unverändert geblieben. Nie hat auch nur jemand ein Wort daran verändert. Bei meinem Leben – das ist die ganze Wahrheit! Atlan: In der Eisgruft Weit weg von diesem Ort mochte man den 27. April 1225 NGZ schreiben; doch hier, in diesem merkwürdigen Mini-Universum, auf den Vinara-Welten, besaßen Zahlen und Daten keinerlei Bedeutung. Ich blickte auf greis gewordene Großmeister hinab. Unangenehm berührt griff ich an mein linkes Schlüsselbein, unter dem ich meinen Zellaktivator-Chip wusste. Seit mehr als zehntausend Jahren arbeitete er bereits zuverlässig und ließ mich Tag für Tag das Wunder des Lebens erfahren. Lange war es statt des Chips ein Zellaktivator-Ei gewesen, das die gleiche Funktion erfüllt hatte. Zeit war ein Geschenk – und ein Fluch –, die mir höhere Mächte gemacht hatten. Warum die Kristallsplitter in den Gehstöcken der Großmeister ihren Alterungsprozess verlangsamt hatten, vermochte ich nicht zu sagen. Möglicherweise lag es an einer psionischen Komponente des Kristalls. Es war müßig, darüber zu spekulieren. Wenn Acazar Cateireo, Rusrala und die anderen eine Chance haben wollten, am Leben zu bleiben, mussten wir Litrak verfolgen. Er alleine hatte das Wissen, die Männer zu retten. Und was mir noch viel wichtiger erschien: Das Kristallwesen musste zur Vernunft gebracht werden. Wie willst du das erreichen?, fragte mich der Extrasinn spöttisch. Willst du ihm die Hände tätscheln, ihn beruhigen und ihm gut zureden? Ich wusste keine Antwort. Noch nicht. Allmählich wurde ich mir wieder der dröhnenden Kopfschmerzen bewusst, die uns
2. Ihr wollt eine Geschichte hören, Rasselbande? Aber es ist doch schon viel zu spät ... Na gut, aber nur, wenn ihr versprecht, danach gleich zu schlafen. Es war einmal ein böser, widerlicher Zauberer. Er verwandelte das Hausvieh in hässliche Schlagkröten, Taubenschlangen oder Flatterküken, sodass das Volk darben musste. Er vergiftete die Brunnen, er fraß die Jungfrauen, er stahl die Erstgeborenen. Sardaengar war der Name des Bösewichtes. Finster und hässlich sah er aus; er hatte sechs giftgrüne Facettenaugen, Tausende Warzen im Gesicht und am Körper, und Spinnen hausten zwischen seinen zerbröckelnden Zähnen. Wenn er ausatmete, regnete es grünen Schleim über dem Land. Wenn er furzte, ließen die Bäume ihre Blätter fallen. Doch eines Tages kam ein einsamer Wanderer, eine wunderbare Heldengestalt in hellblauem Gewand ins Königreich geritten. Litrak war sein Name, der Heilige Litrak. Er war stark wie der Wind und schön wie der Sonnenaufgang. Und Litrak befreite uns vom bösen Sardaengar ... Endlich sind sie eingeschlafen! Ich kann dir sagen, die Jungs wachsen mir langsam über den Kopf. 13
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft bereits auf dem langen Weg hierher zu schaffen gemacht hatten. Es war ein psychischer Druck, der jeden vernünftigen Gedanken überdeckte und die Schädeldecke zu sprengen drohte. Das Adrenalin, das ich in der letzten Stunde ausgeschüttet hatte, hatte alle anderen Empfindungen überdeckt. Aber nun, in der so genannten Normalität, kehrte der Schmerz zurück. An den Gesichtern der Ordensbrüder und Großmeister konnte ich ablesen, dass es ihnen keinesfalls besser erging. Im Gegenteil: Ihr Lebenswillen war wie weggewischt. Manch einer von ihnen war hierher gekommen in dem sicheren Wissen, nicht mehr zurückzukehren. Der Höhepunkt ihres Lebens wäre die Erweckung des Untoten Gottes Litrak gewesen, ihres Schutzherrn. Welch ein Irrtum! »Das Leben«, sagte ich bedächtig und richtete mich auf, »ist ein beständiger Prozess des Lernens. Wir lernen aus Fehlern. Ob als Baby, als Erwachsener oder als alter Mann«, ich blickte sie an, einen nach dem anderen, »der am Ende seines Weges erkennen muss, dass große Teile des Lebens umsonst gewesen sind.« Da war kein Feuer mehr in ihren Augen. Ich sah Resignation, Müdigkeit und den Wunsch, dass endlich alles vorüber sei. »Ihr wolltet den Viin einen Gott schenken und habt ein Monster erweckt. Ein Ungeheuer, dessen Ziele wir nicht abschätzen können. Wir können und dürfen uns der Schuld und der Verantwortung nicht entziehen. Das, was wir geweckt haben, muss gebändigt werden! Ich bitte euch inständig, mir bei meiner Suche zu helfen.« Ich machte eine kurze Pause und fügte hinzu, so eindringlich wie möglich: »Ich fordere euch auf, mir zu folgen!« Stille. Keiner antwortete. Alle Blicke waren zu Boden gerichtet. »Ich folge dir, Atlan!«, vernahm ich die Stimme, die ich gewünscht hatte zu hören. Tamiljon. Er legte mir schwer die Hand auf die Schultern. »Dieser Mann hat Recht, Brüder und Großmeister!«, setzte er hinzu. »Er hat für unsere Ziele gekämpft, hat uns geholfen – 14
und er trägt die Schuld, die wir ihm aufgeladen haben. Es ist die Pflicht des Ordens, ihm zu helfen. Und ... vielleicht finden wir dann auch Teile unseres eigenen Seelenheiles wieder ...« Lelos Enhamor, der Arkonide und Zweiter des Inneren Zirkels, richtete sich stolz auf. Er stellte sich zu uns. »Wer kommt noch mit?«, fragte ich. »Litrak kann noch nicht weit sein. Wir müssen seine Spuren verfolgen; überprüfen, ob er die Eisgruft bereits verlassen hat, und in Erfahrung bringen, was er vorhat.« Acazar Cateireo erhob sich müde. Der Erste des Inneren Zirkels hatte neue Kraft geschöpft. Er stand nicht umsonst an der Spitze des Ordens. Seine Tatkraft war bewundernswert – auch wenn zu sehen war, dass seine Lebenszeit nur noch in Stunden maß. Der humanoide Aundar-Aundar sowie die Ordensbrüder Mourlas, Tadyn und Ranin Rauva gesellten sich zur kleinen Gruppe, die sich um mich scharte. »Was willst du denn gegen dieses Monster unternehmen, wenn du ihm begegnest?«, fragte mich Lebriina, der Springer. Demonstrativ war er sitzen geblieben. Nervös fuhr er sich durch die brustlange, kupferrote Haarpracht, die er offen trug. »Ich weiß es nicht«, gestand ich ein. »Und ich möchte auch jeden bitten, keinen direkten Kontakt mit Litrak aufzunehmen. Er sieht etwas Besonderes in mir. Möglicherweise auch etwas, vor dem er Angst hat. Deshalb glaube ich, dass ich vor seinen Angriffen sicher bin.« »Was ist es, das dich so sicher macht?«, fragte Lebriina argwöhnisch. »Und wer bist du wirklich? War es vielleicht deine Ausstrahlung, die den Untoten Gott entartete?« Ich musste vorsichtig sein. Ein ungeschicktes Wort, und ich hatte vierzehn Feinde gegen mich. Dreizehn. Denn ich war sicher, dass sich Tamiljon nicht gegen mich stellen würde. »Ich wurde hierher verschlagen, und ich suche einen Weg zurück in meine Heimat«, sagte ich ausweichend. »Ich erhoffte mir von Litrak Antworten auf meine Fragen. Das ist
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft filigrane Schneebrückchen; bizarr überzeichnete Kanten, um die sich meterhohe Eisgebilde geformt hatten, und kleine Monumente, die so dick überbacken waren, dass sie alles Mögliche darstellen konnten. Ein Knacksen und Klirren war zu hören. Das Eis arbeitete heftig an den Relikten und würde den Kampf gegen die Stadt wohl über kurz oder lang gewinnen. Jedes laute Wort hallte merkwürdig verzerrt wider. Auch der leichte Wind, der aus einer unbestimmbaren Richtung kam, trug zur Unruhe unter meinen Kameraden bei. Mehr als einmal schreckte ich hoch, wenn ich ein Heulen oder Weinen zu hören vermeinte. Nicht alle Geräusche wollte ich Eisverschiebungen, Winden oder Temperaturschwankungen zuschreiben. Im Nacken standen mir feinste Härchen zu Berge; ich fühlte mich beobachtet – und mein Gespür trog mich selten. Das wenige, diffuse Licht, das im obersten Viertel die Energiekuppel durchdrang, erzeugte weiteren Schrecken. Es flackerte und veränderte sich, wenn im Freien Wind aufkam und Schnee über das Energiedach wirbelte. Litrak konnte überall lauern. Die Spuren, die er hinterlassen hatte, halfen nicht weiter. Er musste den Kegel, in dem er gefangen gewesen war, ein gutes Dutzend Mal umrundet haben. Einige Male hatte er sich zu Boden geworfen – oder war gestolpert. Vielleicht hatte auch Absicht dahinter gesteckt. Einerlei. Die schmalen und flachen Fußspuren, die wir fanden, führten in sieben verschiedene Richtungen. Wieder ein Knacken! Tamiljon duckte sich instinktiv, warf sich in den Schnee, während ich Deckung hinter dem Vulkankegel suchte. Meine anderen Begleiter standen still und schauten ratlos umher. Donnerndes Getöse erfüllte die Kuppel. Splitter unterschiedlicher Größe wirbelten durch die Luft, bohrten sich in weitem Umkreis wie Geschosse in den Schnee. Mit raschen Blicken überzeugte ich mich, dass keiner der Männer ernsthaft getroffen worden war; lediglich Aundar-Aundar zupfte sich
alles.« Noch bevor Lebriina etwas darauf erwidern konnte, stellte sich Tamiljon vor mich. »Atlans Beweggründe sollten zweitrangig sein. Er hat uns geholfen, also ist er Teil unserer Gemeinschaft! Das ist alles, was zählt.« Da war etwas Neues in seiner Stimme. Mehr Selbstsicherheit, mehr Abgeklärtheit, mehr ... Wissen? Was hatte ihn verändert, dass er so mit dem Vierten des Inneren Zirkels umsprang? »Was immer ihr denken möget – ich folge Atlan! Ich vertraue ihm!«, sagte Tamiljon, ohne sich nach mir umzuschauen. Zustimmendes Gemurmel drang an meine Ohren. Damit war es entschieden. * Ich nahm mir die Zeit, mit Hilfe des Extrasinns einen Grundriss der Eisgruft zu erstellen. Mein Dauermieter extrapolierte das, was ich während unseres Anmarsches gesehen und wahrgenommen hatte. Die zum größten Teil vom Eis bedeckte Anlage ähnelte einem achtzahnigen Sägeblatt mit einem Durchmesser von knapp neunhundert Metern. Auf jedem Zackenblatt stand ein Turm mit einer Höhe von etwas weniger als zweihundert Metern. Nirgends waren Fenster oder Türen zu sehen; der Zweck dieser Gebäude blieb mir verborgen. Auch die vier wuchtigen Zwiebelkuppeln, die wie breite, erstarrte Tropfen im Eis versunken waren, zeigten keinerlei Öffnungen. Imposant erschienen die beiden Kugelpyramiden. Sie ähnelten aufeinander gehäuften Bowlingkugeln mit einem Durchmesser von jeweils dreißig Metern! Neben dem Kraterstumpf, den wir mit Hilfe unserer Werkzeuge durchdrungen hatten, stand die erste von drei Silbersäulen, die ein gleichschenkeliges Dreieck um das Zentrum der Eisgruft bildeten. Einhundertfünfzig Meter ragten sie hoch. Zwischen all diesen wunderlichen, scheinbar sinnentleerten Monumenten regierten Eis und Schnee. Ab und zu waren in Dunkelheit getauchte Mulden zu sehen, dann wieder 15
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft feinste Eisstücke aus der Wange. Dann musste ich die Hände gegen die Ohren pressen. Der nachfolgende Lärm war einfach unglaublich! Ein meterlanger Stalaktit hatte sich irgendwo oben gelöst und war auf einem der Zwiebeltürme zersplittert. Das Echo des Aufpralls hallte von allen Seiten wider, x-fach gebrochen, gedehnt und verzerrt. Es war mir, als stünde ich im Inneren einer gusseisernen Glocke, deren Klöppel soeben abgerissen war. Irgendjemand schrie und übertönte damit sogar die tiefer werdenden Schwingungen. Es dauerte einige Sekunden, bis ich registrierte: Ich selbst war es! Instinktiv versuchte ich, den Druck zwischen Innen und Außen auszugleichen – auch wenn es kaum Linderung verschaffte. Nur allmählich ebbte der Lärm ab und verschwand schließlich ganz. Doch ein unangenehmer Druck, eine Art Betäubung, blieb an mir haften. Die Schwingungen im untersten Frequenzbereich mussten sich nachhaltig in meine Gehörgänge gelegt haben. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Tamiljon, der sich aufrichtete. Nur leise hörte ich ihn. Ich nickte kurz und sah mich um. Aundar-Aundar, der sich soeben noch um die kleinen Blessuren in seinem Gesicht gekümmert hatte, blutete aus einem Ohr. Der alte Acazar Cateireo stand bei ihm und versorgte ihn. Seine Hände zitterten heftig, ansonsten wirkte er unbeeindruckt. Wahrscheinlich hatte ihn die Alterstaubheit vor dem Gröbsten bewahrt. Meine anderen Begleiter, die sich vor Schmerzen am Boden gewunden hatten, kamen langsam hoch und blickten sich desorientiert um. Angst stand in ihre Gesichter geschrieben. Ein mehrere Meter langer Eisklumpen, das größte übrig gebliebene Fragment des zersplitterten Stalaktits, lag neben der Zwiebelkuppel. Vielleicht zwanzig Schritte entfernt. Lelos Enhamor stand in einigem Abstand daneben und betrachtete ihn ehrfürchtig. »Nichts anfassen!«, schrie ich und rannte sogleich auf den Arkoniden zu. Er hörte mich nicht, sosehr ich auch schrie. Dieser Narr! Sieht er denn nicht die braunen Wucherungen? 16
Der kurze Sprint verlangte mir alles ab. Meine Energiereserven waren aufgebraucht; selbst die belebenden Impulse, die der Zellaktivator ausstrahlte, konnten meinen Kräfteverschleiß nicht mehr ausreichend kompensieren. Kein Wunder, war es doch größtenteils eine psychische Schwäche, die durch diese Kopfschmerzen verursacht wurde. Keuchend erreichte ich Enhamor und riss ihn grob nach hinten. Irritiert blickte mich der kräftige Mann an. Doch als ich ihm bedeutete, auf die breite Rundung der Zwiebelkuppel zu sehen, wurde er übergangslos blass. »Was ist das nur für eine verdammte braune Pest?«, fragte mich Tamiljon, der mir gefolgt war. Ich musste die Worte mehr von seinen Lippen ablesen, als dass ich sie verstand. Braune Wucherungen bedeckten die Flanke der Kuppel mit einer mehrere Meter dicken Schicht. Sie ähnelten unregelmäßig geformten Schaumfladen. Luftige Einschlüsse erweckten den Eindruck, als wäre das Material porös und leicht. Doch das täuschte. Das Zeug war immens gefährlich, keine Frage. Es lebte, und es war besser, ihm, so gut es ging, auszuweichen. Mit Schaudern dachte ich an das Schicksal Limmor Revoons. Beim Eindringen ins Innerste der Anlage war er in einen formlosen Plasmahaufen verwandelt worden, nachdem er von herabstürzenden braunen Wucherungen überdeckt worden war. »Braune Pest«, sagte ich, »ein passender Begriff.« Immerhin, ich konnte meine eigene Stimme wieder hören. Langsam verebbte auch das Dröhnen in meinen Ohren. Ich ging näher auf die riesenhafte Kuppel zu und achtete nicht weiter auf Tamiljon, der mich zurückhalten wollte. Mir haftete irgendetwas an, das die braune Wucherung störte. Sie konnte – oder wollte – mir nichts antun. Es fiel mir schwer, der Pest Intelligenz zuzugestehen. Es musste sich um instinktbehaftetes Verhalten handeln. Die Zwiebelkuppel wuchs aus dem Boden und kragte nach außen, um in einer Höhe von sechs, sieben Metern weich gerundet nach oben zu ragen. In einer luftigen Höhe von sechzig oder mehr Metern befand sich die
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft scheinbar rasiermesserscharfe Spitze, die hin und wieder in eisigen Reflexionen glänzte. Dort, wo sie in den Boden überging, war Eis, hellblau und dick. In Kopfhöhe ragten da und dort erste Wucherungen der Braunen Pest wie Beulen aus dem stumpfsilbernen Material. Nach oben hin wurden sie zahlreicher, großflächiger – und bedrohlicher. »Wer kommt auf die Idee, solche Bauwerke in die Gegend zu stellen?«, fragte ich mich halblaut. War es denn ein Gebäude? Ein überdimensioniertes Schaustück architektonischen Wahnsinns? Ich wusste es nicht, konnte nicht einmal Vermutungen anstellen. Einhundert Meter maß die Kuppel im Durchmesser! Die TOSOMA, das Schiff, das ich so schmerzlich vermisste, war mit seinen einhundertfünfzig Metern eineinhalbmal so groß. Ich wagte nicht, an das Gewicht dieses Kolosses hier zu denken. Nirgendwo waren Durchgänge, Fenster oder Türen zu sehen. Die Zwiebel stand einfach nur da und wartete seit Jahrtausenden oder mehr, dass Sardaengar, der sie wohl errichtet hatte, sie mit irgendeinem Zweck erfüllte. Vorsicht!, mahnte mich der Extrasinn. Du fabulierst und machst die Dinge noch größer, als sie ohnehin schon erscheinen. Konzentriere dich auf das Wesentliche. Ich ging ein paar Schritte auf und ab. Tamiljon, der ebenfalls näher treten wollte, bedeutete ich, an Ort und Stelle stehen zu bleiben. Erneut zeigte sich das Phänomen, das ich schon beim Eindringen in Litraks Gruft kennen gelernt hatte: Die Braune Pest wich vor mir zurück. Zuerst zaghaft, dann immer rascher. Als könnte ich sie durch meine bloße Präsenz zurückdrängen. Doch kaum bewegte ich mich rückwärts, wuchsen auch die Flächen zurück, wurden wieder breiter und stärker. Es war so, als trüge ich einen Schutzschild, der den Pestfraß beiseite schob. Ich wagte mich noch weiter vor, bis ich die Wandung der Zwiebel fast berühren konnte – und streckte meine Hände aus. Der Pestfraß verschwand blitzschnell nach allen Seiten und hinterließ nichts anderes als dünnmanteliges, zernarbtes Metall, von kleinen und großen Löchern zersiebt. 17
Ich schreckte augenblicklich zurück. Achtung!, warnte mich der Extrasinn. Die Basis der Zwiebel ist derart angegriffen, dass sie wahrscheinlich nur noch von den braunen Wucherungen getragen wird. Mit deiner Neugierde bringst du die Kuppel zum Einstürzen, Narr! »Rennt!«, brüllte ich meinen Gefährten zu und begann zu laufen. Hoffentlich hörte Tamiljon mich, hoffentlich reagierte er und riss die anderen mit sich! Ich vermeinte ein Bersten zu hören, drehte mich aber nicht um. Jede Zehntelsekunde zählte, wollte ich nicht von tonnenschweren Gewichten erschlagen werden. Ich rannte nicht blindlings nach außen, sondern folgte der Rundung der Basis nach rechts. Die Zwiebel würde hier, wo ich gestanden hatte, einknicken und nach vorne kippen. Der hintere Teil des Körpers war voraussichtlich sicherer als alles andere – und auch am schnellsten zu erreichen. Selbst so war es ein Kraftakt sondergleichen. Immer wieder brach ich im dünnen Eis ein, blieb für wenige Momente stecken. Mühselig musste ich meine Beine aus dem Schnee hervorzerren. Ich spürte förmlich, dass die Kuppel neben mir in sich zusammenstürzte. Feinste Vibrationen erfüllten die von der strahlenden Kuppel geschützte Eisgruft – aber es war fast nichts zu hören. Lag es an meiner noch nicht ganz abgeklungenen Taubheit? Es mochten einhundert Schritte bis zur Rückseite der Zwiebel sein, doch mir erschienen sie wie ein Marathon über einhundert Kilometer. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sich das Gebäude aus dem Fundament löste, millimeterweise hochkippte. Die Schreie meiner Begleiter waren zu hören, doch das Monument zerbrach in unheimlicher Stille. Ein paar Meter noch – und ich war in relativer Sicherheit. Noch immer ragte dieses monströse Bauwerk so hoch, dass es fast mein ganzes Gesichtsfeld ausfüllte. Doch die metallene, ausgefranste Basis war bereits zu mehr als fünf Mannshöhen aus dem Fundament gehoben. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis Tausende Tonnen Metall zu Boden stürzten!
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft war es gar die Braune Pest? Es erschien mir wie ein Flüstern! Jemand oder etwas wollte sich mir mitteilen! Ich hockte mich nieder, ungeachtet des braunen Sees, der sich vor mir ausbreitete, winkelte die Knie an und konzentrierte mich auf mein Inneres. Ich war Dagorista und beherrschte Atemtechniken, die mir halfen, binnen weniger Sekunden der realen Welt zu entrücken. Innerliche Einkehr, der Friede mit sich selbst, war eines jener Ziele, die der Heroe Tran-Atlan uns Schülern mit seinem legendenbehafteten Leben gewiesen hatte. Und ich war einer der schlechtesten Schüler nicht. Ich suchte meinen Ruhepol, fand ihn rasch und ließ die Wirklichkeit Wirklichkeit sein. Wo war dieser Flüsterer in mir? Was wollte er? Es ist nicht nur dein Inneres, das schwingt, teilte mir der Extrasinn mit. Achte auch auf anderes. Sieh auf deine Hand! Ich presste die Kiefer aufeinander, entspannte mich und fand mich übergangslos in der Kälte des Lebens wieder. Meine rechte Hand. Sie glitzerte silbrig. Winzige Partikel krochen dort umher, reflektierten das schwache Licht von jenseits der Energiekuppel. Die Bewegungen ebbten ab und kamen dann wieder, diesmal heftiger. Doch ich spürte nichts. Denk an die Silbersäule!, mahnte mich der Extrasinn. Als könnte ich das vergessen! Vor sechs Tagen war ich in unmittelbarer Nähe des Basislagers II am Casoreen-Gletscher mit meiner Hand ins Innere einer Silbersäule getaucht. Ich hatte weder Hitze noch Kälte gespürt. Kein Widerstand war da gewesen, und nichts schien verändert, als ich den Arm wieder hervorzog. Oder etwa doch? Was waren diese Silberfusseln, die auf dem Handrücken hinund herwogten? Ein unangenehmes Überbleibsel meiner Unvorsichtigkeit? Eher das Ergebnis einer individuellen Imprägnierung, sagte der Extrasinn. Denke an Nanotechnik! Meine innere Stimme mochte Recht haben. Vielleicht waren es Nano-Module, die mir
Was mir bislang verborgen geblieben war: Die Braune Pest hatte nicht nur den Fuß, sondern auch den Großteil der Zwiebelkuppel befallen! Selbst unter dem Eis, das den obersten Bereich verkleidet hatte, klebten braune Flecken. Die Geräuschlosigkeit, mit der der Sturz vor sich ging, war unheimlich. Von der Basis, also von dort, wo das Metall einriss, kam ein Knacksen wie vom Brechen eines trockenen Astes. Das war alles. Sieh genau hin, forderte mich der Extrasinn auf, dann hast du des Rätsels Lösung. Das Metall reißt nicht – es zerbröselt! Tatsächlich! Noch in der Luft verlor der riesige Körper seine Konsistenz, verformte sich, löste sich auf. Gewaltige Mengen der nunmehr schlackigen Braunen Pest fielen zu Boden und spritzten umher. Im weiten Umfeld verwandelte sich alles in eine braune, wogende See, meterhoch. Darüber schwirrte Staub. Rostblättchen und rußige Fusseln. Die letzten Überbleibsel der ehemaligen Zwiebelkuppel, die binnen weniger Augenblicke von der Braunen Pest zerfressen worden war. Auf einmal ertönte ein Schrei, schrill und voller Panik. War es die Stimme des kleingewachsenen Humanoiden Lualayn Varra? Durch das Staubgewitter konnte ich am anderen Rand des neuen Sees eine Gestalt erkennen, die von matschigem Braun überzogen war. Sie schlug wild um sich und sank allmählich in sich zusammen. Tränen der Erregung traten in meine Augen. Und Wut, die sich gegen das Ungreifbare richtete. Was war das nur für eine unheimliche Plage? Wie konnte man ihr beikommen? Was hatten wir getan, dass sich alles gegen uns verschworen zu haben schien? Benommen stand ich da – und fühlte plötzlich, wie etwas nach mir griff. Ein Raunen oder Wispern, das mein Inneres zum Vibrieren brachte. Es war wie das Streicheln einer flaumigen Feder, die einen imaginären Punkt in mir kitzelte. Ich kannte das Gefühl. Mein Monoschirm sprach an! Was war das? Eine Attacke? War Litrak in der Lage, mich mit mentalen oder parapsychischen Kräften anzugreifen? Oder 18
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft »Kein schönes Land«, stellte Lethem fest und schloss den Kragen seiner Jacke. Er schwitzte vom stundenlangen Aufstieg, und seine Oberschenkel brannten. »Was hast du erwartet?« Kythara trat neben ihn. Die Echsen waren angepflockt und fraßen genügsam vom kargen Gras. Sie deutete nach vorne, nach Westen. »Mertras, das Land der Silbersäulen, ist von schroffen Gebirgszügen geprägt. Uns erwarten endlose Anstiege und tiefe Täler, bis wir den Gebirgsring durchquert haben.« »Was sagen die Karten? Wie weit ist es noch bis zu Sardaengars Bastion?« »Luftlinie sind es zweihundert oder etwas mehr Kilometer.« Lethem seufzte und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Schuhe scheuerten. Sand war überall in seinen Anzug gedrungen und rieb die Haut an den unmöglichsten Stellen auf. Er bewunderte die Maghalata über alle Maßen. Auch sie musste Schmerzen verspüren. Gestern noch hatte er gesehen, wie sehr ihre Knöchel wund gerieben waren, doch sie beschwerte sich mit keinem Wort. Ihr stets abweisender Gesichtsausdruck mochte auf andere Wesen distanzierend wirken, doch auf Lethem übte gerade dies einen besonderen Reiz aus. »Es wird Regen geben«, sagte die Frau. Eine weiße, geschlossene Wolkendecke wurde von starken Winden herangetragen. »Und es wird Feuer geben«, erwiderte Lethem düster. Er deutete in die entgegengesetzte Richtung. Neuerlich zog ein Asteroid über sie hinweg, diesmal aus südlicher Himmelsrichtung kommend. Er schlug irgendwo am Ostrand der Taneran-Schlucht ein und riss eine tiefe, staubverhangene Narbe. Nach etwa zehn Sekunden erreichten die Schallwellen die Gruppe, vielfach gebrochen und verzerrt. »Es wird immer schlimmer«, bemerkte Lethem beeindruckt. »Es muss schlimmer werden, damit es besser werden kann«, entgegnete die Frau kryptisch. Warum gefielen ihm immer wieder die kompliziertesten Frauen? Es musste sich um eine besondere Form des Masochismus handeln ... »Macht die Tiere bereit!«, rief er seinen Freunden und Begleitern ungehalten
sozusagen als Imprint angepasst worden waren. Eine Art Schlüssel oder Kodegeber, der jetzt, aus welchem Grund auch immer, ansprach. Ich musste nicht lange überlegen. Hier in der Eisgruft gab es drei mutmaßliche Gründe für die Aktivierung der Module: die drei Silbersäulen, im gleichschenkeligen Dreieck um das Zentrum der Eisgruft angelegt. Auch wenn es fahrlässig und gefährlich erschien, ich durfte keine Gelegenheit außer Acht lassen, mehr über diese geheimnisvolle Eiswelt mit ihren bizarren Besonderheiten zu erfahren. Falls die Silbersäulen so etwas wie ein Relais- oder Informationssystem darstellten, wollte ich mir Aufklärung verschaffen. Ich umkreiste die braune Brühe und achtete nicht weiter auf die lamentierenden Ordensbrüder. Es handelte sich tatsächlich um Lualayn Varra, der dem Pestfraß zum Opfer gefallen war. Mit großer Wahrscheinlichkeit war ich mit schuld an seinem Tod gewesen. Doch ich richtete meinen Blick nach vorne. Mein Augenmerk musste jetzt den überlebenden dreizehn Expeditionsmitgliedern gelten. Ihnen war ich verpflichtet. Ich trat an die Silbersäule, achtete nicht auf das Stimmengewirr der anderen und streckte meinen rechten Arm aus ... * Lethem: Am Rande der Taneran-Schlucht Der Aufstieg über die nordwestliche Flanke der Schlucht hatte ihnen neuerlich alles abverlangt. Hitze, stechwütige Moskitos und aggressive Riesensalamander waren ihre stetigen Reisebegleiter gewesen. Eine der Xarran-Echsen lahmte. Sie war ausgebrochen, nachdem ein feuerroter Salamander hinter einem Steinblock hervorgeschossen kam und nach ihr geschnappt hatte. Ondaix’ Tragetier war mit den linken Pratzen über den Abgrund geraten und hatte sich nur mit Müh und Not aus seiner misslichen Lage befreien können, während der Springer den Salamander mit einem wütenden Hieb zweigeteilt hatte. 19
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft zu und drehte sich beiseite. »Es geht weiter!« * Ein mühseliges Auf und Ab erwartete sie. Niedrig wachsende, latschenartige Bäume prägten das Land. Selbst in den schmalen Tälern, die sie passierten, gedieh kaum nennenswerte Vegetation. Auch die Tierwelt schien diesen Landstrich zu meiden. Möglicherweise eine Folge des Wirkens Sardaengars, über den nach wie vor nicht viel bekannt war. Wenn Kythara tatsächlich etwas mehr als Lethem, Falk und Zanargun wusste – nun, sie schwieg beharrlich. Ondaix war so maulfaul wie selten zuvor. Unermüdlich ging er neben seinem lahmenden Reittier her, nahm ab und zu seine beidseits geschliffene Axt zur Hand und zog weite Achter, als wolle er einen unsichtbaren Gegner filetieren. Es ist die Umwelt, die uns prägt, dachte Lethem da Vokoban philosophisch. In unserem, dem normalen Universum hätte Ondaix wegen seines springerunüblichen Verhaltens große Schwierigkeiten mit den raumfahrenden Sippen gehabt. Doch hier, geformt und geprägt vom vinaranischen Leben, nimmt man ihn, wie er ist. Er war Individualist. Ungehobelt, aber absolut vertrauenswürdig. Rau, aber herzlich. Keiner, der den Geschäftssinn wie so viele seiner Sippen in der Milchstraße auf sein Banner geschrieben hatte. »Sternschnuppen«, sagte Scaul Rellum Falk und deutete nach vorne, in Richtung der bereits wieder tief stehenden Sonne. Jetzt konnte auch Lethem sie sehen. Kleine, milchig weiße Punkte, die steil herabgeschossen kamen. Manche von ihnen färbten sich rot und blinkten auf, bevor sie sich in Luft auflösten. Andere schossen über den Horizont hinaus. »Dort ist noch etwas«, bemerkte Zanargun. Er hatte eine Hand auf die Stirn als Schutz gegen die Sonne gelegt und sah nach vorne. »Ein riesiges Objekt.« Lethem kniff die Augen zusammen. Ja, dieser Punkt in nordwestlicher Richtung mochte etwas größer sein, und vor allem schwebte er statisch. 20
Falsch. Der Punkt kam auf sie zu. Langsam und beharrlich. Was konnte das sein? Suchte sie jemand? Ein einzelner Lichtreflex ließ das Gebilde kurz aufblinken. In dieser Welt funktionierte doch keine Technik, außer der ... »Eine Technostadt«, meinte Kythara und schwieg dann wieder, als wäre damit alles gesagt. In der Nähe des Bahnhofs von Iszuma waren sie bereits einmal einer dieser Schwebestädte begegnet. Die Viin nahmen das sonst so ungewohnte Bild eines hoch technisierten Gebildes mit Gelassenheit hin. Schließlich waren sie unerreichbar. Die Goldenen Technostädte schwebten in geringer Höhe, scheinbar ohne Sinn und Zweck. Seit Jahrtausenden mochten sie existieren und waren so selbstverständlich für die gemischte Population der Spiegelwelten geworden, dass sie allenfalls noch Jahrmarktcharakter hatten. Nicht so für Lethem. Er musterte die Plattform, deren Unterkante golden schimmerte und ansonsten völlig glatt war. Faszinierend ... »Lager aufschlagen!«, befahl der junge Arkonide und deutete auf einen Platz, der von Dornenbüschen umkränzt war. An seiner westlichen Seite hing ein flach geschliffener Fels weit über, der aus einem schroffen Gebirgsklumpen herausragte. Ein Lagerfeuer, das sie wärmen würde, war damit trotz möglichen Regens garantiert. Nachdem er seine Echse abgeschirrt und versorgt hatte, teilte er sich selbst zum Feuerholzsammeln ein. Immer wieder schweifte sein Blick nach oben. Langsam kam die Technostadt näher, und immer mehr Details wurden sichtbar. Sie unterschied sich lediglich in Details von jener, die er vor einigen Tagen gesehen hatte. Die vielen Türmchen, die steil nach oben ragten, wirkten ein wenig schlanker, und ein einzelnes, weit gespanntes Viadukt aus glasähnlichem Material bildete das sichtbare Zentrum des Gebildes. Vereinzelt waren umherwuselnde Roboter zu sehen, die scheinbar unsinnige Tätigkeiten vollführten. Weiß glitzernde Ranken hingen über die Ränder der Stadt wie silbrige Fäden hinab. Sie bewegten sich unruhig im Wind.
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Die mannigfaltigen Gebäude mit ihren scharfen Ecken und Kanten sorgten für gehörige Verwirbelungen rund um die Stadt. Flirrende Luft ließ thermische Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtebenen erkennen. Schillernde Seifenblasen tanzten um die Goldene Stadt. Sie stiegen auf und ab, waren vielleicht dreißig Meter hoch und schwebten in Gruppen an den Rändern entlang, ohne jemals eine gewisse Distanz zu überschreiten oder gar zu Boden zu sinken. Wie das Spielzeug eines großen Kindes, dachte Lethem. »Ich bin mir sicher, dass sie mehr als einen Kilometer lang ist«, sagte Scaul Rellum Falk, der neben Lethem getreten war. Der Arkonide nickte bestätigend. »Und mehrere hundert Meter hoch. Wenn wir doch nur hinaufkönnten ...« Es war zum Haareraufen. Sie ritten im Schweiße ihres Angesichts Schluchten, Berge und Täler rauf und runter, während knapp oberhalb eine ganze Stadt vorbeischwebte und in wenigen Stunden die gleiche Wegstrecke abflog. Die Stadt war so nahe – und dennoch unerreichbar fern. Wenn sie nur hinaufkönnten ... vielleicht mit einem Heißluftballon. »Ich weiß genau, was du denkst«, flüsterte Kythara. Sie stand hinter ihm. So nahe, dass er den Hauch ihres Atems auf seinem Nacken spürte. »Es sind mehrere Versuche von Wagemutigen dokumentiert, die die Technostädte mit Heißluftballons erobern wollten. Alle scheiterten kläglich. Entweder stürzten sie ab – oder sie wurden von den goldenen Ovalrobotern abgesetzt.« Lethem erwiderte nichts, auch drehte er sich nicht um. Vielmehr genoss er die unerwartete Nähe der Frau, während der ewig lange Schlagschatten der Technostadt auf sie zuwanderte. »Ich schätze die Geschwindigkeit auf dreißig oder vierzig Stundenkilometer«, unterbrach Falk schließlich die Stille. »Schneller kann es bei dieser Masse auf keinen Fall sein«, erwiderte Lethem. »Es gibt keine sichtbaren Prallfelder, die für eine bessere Stromlinienförmigkeit der fliegenden Stadt sorgen.« »Was glaubt ihr? Wie hoch fliegt sie?«, fragte Zanargun, der zu ihnen getreten war. 21
»Die Städte bewegen sich in einer Höhe zwischen fünfhundert und zweitausend Metern«, entgegnete Kythara kurz. »Diese hier schwebt eher im unteren Bereich.« »Ist das nicht ein wenig niedrig?«, fragte Falk besorgt. »Ich glaube, dass der Hügel hinter uns fast genauso hoch ist.« »Du hast Recht«, murmelte Lethem und kniff abschätzend die Augen zusammen. Es war schwer, Dimensionen dieser Größenordnung richtig abzuschätzen, zumal die Goldene Technostadt bereits sehr nahe war. Wind kam auf. Böig und von vorne. Aus der Richtung der Stadt. »Irgendetwas stimmt nicht«, bemerkte nun auch Kythara. »Ich glaube, sie kippt vornüber!« Die Frau musste unglaublich feinfühlig sein, um eine Veränderung des Flugwinkels registrieren zu können. Die Stadt war soeben im Begriff, in ihrer ganzen Breite über sie hinwegzuschweben. Die Dämmerung machte absoluter Dunkelheit und frostiger Kälte Platz. Und Sturm. »Wir müssen verschwinden!«, schrie Ondaix. Sein massiger Körper war nicht viel mehr als ein Schatten in der Dunkelheit. »Komm mit mir, Maghalata!« »Es ist sinnlos«, antwortete die Frau unheilvoll. »Wohin willst du rennen? Wenn die Stadt abstürzt, reißt sie den Berg mit und wahrscheinlich einen großen Teil dieses Plateaus!« »Haltet euch fest!«, rief Lethem. Er packte seine Begleiter und rannte mit ihnen zum Nachtlager, in den Windschatten des vorragenden Felsens. Wo war Ondaix abgeblieben? Weiter vorne stand er. Er wusste nicht, was er tun sollte. »Sie kippt nicht«, brüllte er in seine Richtung. »Das ist bloß eine optische Täuschung! Aber sie fliegt viel zu niedrig über uns hinweg. Du musst in Deckung gehen, sonst reißt dich der Wind mit!« Sehr zögerlich folgte der Springer. Als er sich zu ihnen drängte, konnte Lethem kaum mehr seine Hand vor den Augen erkennen. Sand prasselte auf sie herab, schmirgelte die Haut blank. Felsen von der Größe eines Kindskopfes wirbelten vorbei, gefolgt von
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft entwurzelten Bäumen, zerfetzten Ästen und Buschrädern. Immer mehr drückten sie sich gegen die Felswand – und aneinander. Der Wind drehte binnen Sekunden. Eine zehn Mannshöhen große Windhose entstand vor Lethems Augen aus dem Nichts. Sie riss einen Nadelbaum aus dem Boden und zerfetzte das Gewächs mühelos, um selbst gleich danach wieder im Nichts zu verschwinden. Elektrostatische Entladungen zuckten nieder und setzten eine breite Buschhecke, die bislang allen Gewalten widerstanden hatte, lichterloh in Brand. Eine der Xarran-Echsen schrie in Todesangst. Niemand hätte in diesem Moment gewagt, ihr zu Hilfe zu eilen. Hier war nichts mehr von Bestand. Im Sekundentakt wechselte Schatten zu Licht, Windstille zu Sturm, tobender Lärm zu einem Flüstern, Trockenheit zu peitschendem Regen. Ein letzter, gewaltiger Donnerschlag fegte die Gruppe zu Boden. Es nutzte nichts, dass sie sich mit dicken Seilen aneinander gebunden oder mit Pflöcken im Boden verankert hatten. Hilflos waren Lethem, Kythara und die anderen diesen Naturgewalten ausgesetzt. Mit einem Mal kehrte trübes Dämmerlicht zurück. Ein leichtes Pfeifen, eine letzte Melodie des Abschieds, und die Goldene Technostadt war über sie hinweg. Die darauf folgende Stille war schmerzhafter als alles andere. 3. Er nannte sich »Tüylüyn, der Blue mit dem Blues«. Er war Mienensänger. Wahrscheinlich einer der besten dieser Welt. Mit seinen Verrenkungen, dem Aufblasen seines in vielen Stunden gedehnten Halsmundes und dem tiefen Zirpen der geübten Stimme sorgte er für Heiterkeit und auch Besinnlichkeit in den Höfen und Hallen vornehmer Häuser. Er verzauberte die Mienen seiner Zuhörer, wie es nur die Besten seiner Sippe schafften. Tüylüyn übte seinen Beruf bereits seit Jahrzehnten aus, und er kannte die mannigfaltigen Teilungen des Kontinents. 22
Hier herrschte der Glaube an den Uralten Sardaengar vor, dort vertraute man unbedingt auf den Ewigen Litrak. Er achtete beide Seiten, doch er bekannte sich zu keiner von ihnen. Er gab den Leuten, was sie hören wollten. Namen waren austauschbar – Geschichten hingegen nicht. Doch einmal hatte er zu viel getrunken und war zudem den Reizen einer bezaubernden Küchenmagd namens Eytügrülü erlegen. Als er am nächsten Morgen verkatert weiterreisen und sich vom fanatisch gläubigen Gutsherrn verabschieden wollte, nannte er den falschen Namen. Sardaengar statt Litrak oder Litrak statt Sardaengar – was spielte das für eine Rolle? Wenige Minuten später hing er am Ast. »Ich habe mich versprochen, das ist die Wahrheit!«, bettelte er ein letztes Mal. »Dann stirbst du für die Wahrheit!«, entgegnete der Herr und stieß ihn von der Xarran-Echse. »Der Mächtige wird es zu schätzen wissen, wenn du sein Reich betrittst, und dir einen Ehrenplatz zuweisen.« Tüylüyn starb, und seine lustigen Verrenkungen am Strick sorgten ein letztes Mal dafür, dass sich die Mienen des Publikums erhellten. Atlan: Die Silbersäule Die silbernen Partikel auf dem Rücken meiner rechten Hand verformten sich, je näher ich der Säule kam. Sie flossen zusammen und bildeten kurze feine Linien. Ein zierliches Geflecht entstand in Form verästelter Blattadern, aus denen Flüssigkeit abgezogen wurde. In der ungefähren Mitte meines Handrückens entstand ein quecksilberner Tropfen von der Größe einer Fingerkuppe. Das Raunen, das gegen meinen Monoschirm prallte, wurde erneut lauter. Ich spürte, dass hier keine negativen Kräfte am Werk waren. Vielmehr wurde Bereitschaft signalisiert! Und gleichzeitig war da ein gewisser Hunger. Das Warten auf Befehle. Nicht unterwürfig zwar, aber in gewisser Weise über alle Maßen eifrig. Ich stand noch einen knappen Meter vor dem breiten Rund der Silbersäule. Vergessen war
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft die eingestürzte Zwiebelkuppel, vergessen die Braune Pest, die hinter mir in einer Kloake vor sich hin dümpelte. Bedeutsames, Wichtiges geschah! Doch halt! Ich spürte, wie etwas anderes nach mir griff. Etwas nur all zu Bekanntes. Es waren die unheimlichen Kräfte Tamiljons. Er wandte seine telekinetischen Fähigkeiten an der Silbersäule an – doch er scheiterte. Hier halfen weder physische noch parapsychische Kräfte. Ich drehte mich um und grinste ihn an. Tamiljon mochte es für einen Zufall halten, dass ich gerade jetzt seine Konzentration unterbrach. Er wusste nicht, dass ich seine Begabung längst bemerkt hatte. Normalerweise hätte ich ihm die Freude, seine Kräfte heimlich und unbemerkt von den anderen einzusetzen, gelassen – doch in diesem Moment waren telekinetische Spielereien fehl am Platz. »Lasst mich bitte allein«, bat ich zweideutig und zwinkerte ihm zu. Tamiljon zuckte zusammen und wich ein paar Schritte zurück. Dann wechselte er leise einige Worte mit Lelos Enhamor, dem offiziellen Leiter der Expedition. Die Ordensbrüder sammelten sich um die beiden, tuschelten miteinander und blickten schließlich gespannt zu mir herüber. Noch hatten die Litrak-Anhänger den Tod von Lualayn Varra nicht verarbeitet, und der braune See in ihrem Rücken kam auch nicht zur Ruhe. Ich achtete nicht weiter auf sie, sondern konzentrierte mich wieder auf das Wispern, das gegen meinen Monoschirm brandete. Bereitschaft ... Einsatzmöglichkeiten ... Befehlsmodus ... Variationen. Immer mehr Begriffe tauchen in mir auf, und sie hatten demütigen, maschinenähnlichen Charakter. Es sind in der Tat Nanomodule auf deinem Handrücken, bestätigte mir der Extrasinn nüchtern. Sie warten auf deine Anweisungen. Sie wollten mir nichts Böses, dessen war ich mir sicher. Andernfalls hätten sie meinen Körper schon vor Tagen vernichten können. Zellaktivator hin oder her. Ich streckte abrupt die rechte Hand aus und achtete nicht auf den leisen Aufschrei hinter mir. Offensichtlich befürchteten die 23
Ordensbrüder, erneut eines dieser uralten Relikte fallen zu sehen. Aber diesmal war alles ganz anders. Ich durchfuhr die stumpfsilberne Wand, als wäre sie nicht vorhanden. Ich spürte nichts, keinen Widerstand. Nach wenigen Sekunden zog ich den Arm zurück und atmete einmal tief durch. Dann ein neuerlicher Versuch. Diesmal gab es keinen Abstoßungseffekt wie im Basislager II. Der Durchdringungseffekt schien hier permanent zu sein! Ich wurde wagemutiger, tat den Schritt nach vorne – und war übergangslos mit dem halben Körper hindurch. Noch einmal trat ich zurück und sagte laut zu meinen Begleitern: »Keine Angst, es wird mir nichts geschehen. Wartet hier auf mich, achtet auf jedes Geräusch, legt die Waffen griffbereit. Ich bin mir sicher, dass noch einige Überraschungen auf uns warten. Und habt ein Auge auf die Braune Pest.« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, drehte ich mich um, holte tief Luft – und glitt durch die Silbersäule. * Der Raum war klein. Vielleicht fünf Meter, rund, mit einer gewölbten Decke. Er war nüchtern und leer, von derselben Silberschattierung wie die Außenwandung der Säule – nur ungleich glänzender. Ich war mir sicher, dass ich tatsächlich im Inneren der Säule stand. Mein diesbezügliches Gefühl trog mich selten. Das Flüstern in mir wuchs an. Es gewann eine neue Dimension, die meine eigenen Empfindungen fast überdeckte. Die NanoModule in meiner Hand – sie feierten auf ihre abstrakte, streng logisch vorgegebene Art ein Freudenfest. Der Kontakt ist endlich hergestellt!, war die passende verbale Entsprechung dafür. Ich vermeinte zu spüren, wie der Tropfen an meiner Hand auf meinen bloßen Willensbefehl hin die Aufgabe einer Schaltstelle übernahm. Mehr, verlangte ich instinktiv. Die Schnittstelle war mir noch zu schwach und erforderte zu viel Konzentration. Ich wollte, dass meine
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft gedanklichen Übermittlungen leichter vor sich gingen, bevor ich mich näher mit den Möglichkeiten dieses merkwürdigen Instrumentes befasste. Der Tropfen veränderte sich. Er bildete einen winzigen Kubus, dann eine Kugel, rollte auf meinem Zeigefinger ein Stück nach vorne und formte schließlich einen Ring, der sich um mein hinterstes Fingerglied legte. Doch das war noch längst nicht alles! Überall im Raum tropfte zähflüssiges Silber von den Wänden, bildete formvollendete Körper und reflektierte Schatten einer Stimmung, die aus den Wänden der Säule selbst zu stammen schien. Es war schier unglaublich und kaum in Worte zu fassen. Viele Emotionen vermengten sich und bildeten ein buntes Potpourri, so dass ich größte Mühe hatte, das Gefühl für meinen Körper zu bewahren. Alles in diesem Raum schwappte über von positiven Eindrücken, dröhnte, schwelgte, jubilierte ... und endete abrupt. Ein messerscharfer, klarer Gedanke, kühl und maschinell formuliert, meldete: Volle Funktionsbereitschaft gegeben. Erwarte Befehle, Herr! * Das Unerwartete hatte stets einen großen Teil meines Daseins beherrscht. Oftmals waren Dinge eingetroffen, die nicht mit einer herkömmlichen Sicht des Lebens vereinbar waren. Nicht nur einmal war es darauf angekommen, scheinbare Unmöglichkeiten so rasch wie möglich zu akzeptieren. Ich war auf Überraschungen wie diese hier demnach recht gut vorbereitet. Die Silbersäule musste eine Art Informationszentrum sein. Ein riesenhaftes Terminal, das aber nicht von jedermann genutzt werden konnte. War es meine Ritteraura, der aktivierte Extrasinn oder die Ausstrahlung des Zellaktivators – irgendetwas befähigte mich allein, die Dienste der Nano-Module und der Silbersäule in Anspruch zu nehmen. Versuchsweise dachte ich konzentriert: Informationen. Schweigen. Allerdings war eine Art abstrakte Neugierde damit verbunden. Der Nano24
Komplex an meiner Hand reagierte nicht auf meine zu allgemeine Formulierung – doch er forderte mich auf, detaillierter zu fragen. Also spezifizierte ich: Litrak. Sardaengar. Auseinandersetzung. Diese Stichworte würden abdecken, was ich wissen wollte. Erneut wurde ich überrascht. Denn die Informationen bildeten sich nicht, wie erwartet, in meinem Bewusstsein. Eine groß gewachsene Gestalt erschien wie von Zauberhand knapp neben mir. Instinktiv ging ich in eine abwehrbereite Stellung. Kein Teleporter, sondern eine Holoprojektion, stellte der Extrasinn lapidar fest. Es war kein Lufthauch zu spüren. Du reagierst überreizt. Kein Wunder. Die Anstrengungen der letzten Stunden und Tage belasteten mein Gemüt. Ich entspannte mich, ohne in meiner Aufmerksamkeit nachzulassen, und musterte die Projektion des Mannes. Er war annähernd so groß wie ich. Ein Humanoider, athletisch, aber nicht übertrieben muskulös. Goldene Haare, die ähnlich den meinen bis auf die Schulter herabfielen, umrahmten ein bronzefarbenes Gesicht, aus dem golden schimmernde Augen hervorstachen. Sein Antlitz war zierlich und von zarten Linien beherrscht, ohne deswegen feminin zu wirken. Lediglich das halbkreisförmige Grübchen am Kinn war breit und markant. Ich hatte den Eindruck, einem äußerst energischen Mann gegenüberzustehen. »Ein Vargane!«, murmelte ich gedankenverloren, und mein Extrasinn bestätigte mit einem kurzen Impuls. Gleich darauf bildete sich in meinem Kopf der Name dieses Wesens: Sardaengar! * Vargane. Sardaengar. Sardaengar. Vargane. Teile fanden zueinander, Assoziationsketten formten sich. Mein Gedächtnis, dem nicht das kleinste Detail meines Lebens verloren ging, überschüttete mich mit einem Wust an Informationen, so dass ich mich desorientiert an die runde Innenwandung der Silbersäule
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Die Lebenserinnerungen des Nevus MercovaBan hatten mir gezeigt, dass ein gewisser Sardaengar vor mehr als 53.000 Jahren als Hoher Tamrat des 38. Tamaniums aufgetreten war. Die Umschreibung als »Uralter«, der ich hier immer wieder in Zusammenhang mit Sardaengar begegnete, mochte also durchaus ihre Berechtigung haben. Und manche Varganen hatten – was mir noch weitaus wichtiger erschien – paranormale Gaben! Viele der Sagen und Geschichten über Sardaengar konnten demnach einen wahren Kern haben. Telekinetische Fähigkeiten zum Beispiel hätten ihm einen unschätzbaren Vorteil gegenüber den anderen Bürgern der Spiegelwelten gebracht. Was spielte die geheimnisvolle Kythara für eine Rolle? Wie passte sie in das neue Bild, das sich vor mir ausbreitete? Einerlei. Es wurde Zeit, dass ich mich um die projizierte Gestalt kümmerte. Holo aktivieren, dachte ich intensiv. Der Kopf des Mannes pendelte suchend hin und her, bis mich seine goldleuchtenden Augen fixiert hatten. Der Mund bewegte sich, doch die volltönende Stimme setzte erst wenige Momente später ein. Anfängliche Synchronisationsmängel, meinte der Extrasinn überflüssigerweise. Ein weiteres kleines Indiz dafür, dass das technische Werk der Eisgruft seit langer Zeit nicht gewartet worden ist. Ich konzentrierte mich auf die Worte. Sardaengar benutzte ebenfalls jene Mundart, die hier allgemein üblich war. Interkosmo, lemurische sowie arkonidische Brocken vermengten sich zu einer exotisch anmutenden Sprachmelange, an die ich mich rasch gewöhnt hatte. »Nur wenige Wesen sind stark genug, die Wahrheit zu akzeptieren. Noch weniger sind willens, sie zu verstehen«, sagte Sardaengar würdevoll. »Die Tatsache, dass du in die Silbersäule vorgedrungen bist, beweist, dass du würdig bist. Wer auch immer du sein magst, du hörst nun die Wahrheit über die Auseinandersetzung zwischen Litrak und mir.«
lehnen musste. Die Varganen waren mit einer Flotte Expeditionsschiffen vor mehr als 800.000 Jahren in der Milchstraße aufgetaucht. Sie stammten aus einem anderen Universum; Unsterblichkeit haftete ihnen an – und die Unfähigkeit, Kinder zu zeugen. Der Großteil von ihnen war nach einiger Zeit wieder verschwunden, doch manche waren als Rebellen zurückgeblieben. Unter ihnen Ischtar, die Goldene Göttin. Die letzte Königin der Varganen. Die Mutter meines Sohnes Chapat. Die Last der Erinnerungen war überwältigend und drohte meinen Kopf zu sprengen. Der Druck, einen Teil meiner Erinnerungen unter Zwang wiedergeben zu müssen, wuchs und wuchs. Magantilliken, der Henker. Die Eisige Sphäre. Doppelpyramidenschiffe. Die versunkenen Welten ... »Nein!«, brüllte ich und schlug mit dem Hinterkopf heftig gegen das Rund der Silbersäule. Tränen flossen. Tränen der Erregung – und des Schmerzes. Es war nicht die Zeit und der Ort, um all den wunderbaren und wundersamen Geschichten meiner Jugend nachzuhängen. Eines Tages mochte ich sie einem Chronisten anvertrauen, der sie zu einem minuziösen Tagebuch meines Lebens verschneiden konnte. Vielleicht würden meine Abenteuer eine Hand voll Leser interessieren, wer wusste das schon. Doch die Erinnerungen mussten warten. Jetzt galt es, das Garn meines Lebens weiterzuspinnen. Benommen schüttelte ich den Kopf, drängte die Geister der Vergangenheit beiseite und blickte erneut auf die Holoprojektion. Sie flackerte ab und zu, stand aber sonst ungerührt da. Sie wartete. Noch hatte ich keine Zeit, sie zu aktivieren. Noch musste ich über manche Dinge nachdenken. Ich hatte bereits von Acazar Cateireo erfahren, dass eine geheimnisvolle Varganin namens Kythara auf der Insel Viinghodor auf Vinara lebte und wirkte. Sardaengar war offensichtlich der Zweite dieser unsterblichen Gattung, den es hierher verschlagen hatte.
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Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft »Ich habe diese und einige andere Silbersäulen mit der Stadt nach Vinara Drei transferiert, um für Litrak eine Falle zu errichten. Die Gründe, dass es dazu kommen musste, liegen tief in der Vergangenheit begraben. Als ich vor einer halben Ewigkeit durch unglückliche Umstände in die ObsidianSchlucht verschlagen wurde, war ich verzweifelt. Sollte ich in diesem merkwürdigen Mini-Universum meine restlichen Tage verbringen, ohne Chance auf ein Entkommen? Es dauerte lange, bis ich mich aus meiner Lethargie befreit hatte und mich mit dem Schicksal arrangierte. Ich begann zu forschen. Ich bediente mich selbstverständlich meiner Parakräfte – und musste zu meinem Erstaunen feststellen, dass ich unbewusst eine Verbindung zum Kristallmond Vadolon aufbaute. Die manifestierte Psi-Materie, aus der dieses Gebilde bestand, reagierte auf mich und meine Anwesenheit. Man stelle sich vor: ein Psi-Gebilde, 1126 Kilometer im Durchmesser! Doch Vadolon reagierte nicht nur auf mich – sondern auch auf die Vorstellungen, Phantasien, Wünsche, Träume aller anderen, die es nach Vinara verschlagen hatte. Wohlgemerkt, ich spreche alleinig von jener Welt, die heute Vinara Eins genannt wird. Denn sie ist die Ursprungswelt, auf der wir lebten. Die anderen Planeten, aus gutem Grund Spiegelwelten genannt, existierten damals noch nicht. Vinara Zwei wurde irgendwann aus unseren Wünschen geboren. Wir erträumten sie.« * Blindlings tastete ich über die Wand. Ich musste fühlen, ob sich tatsächlich Materie unter meinen Fingern befand. Ein erdachter Planet. Projektionen, geformte Begierden, die in einem nicht nachvollziehbaren Zusammenwirken mit dem Kristallmond Vadolon entstanden waren. Auch der Hinweis auf den Durchmesser des Gebildes von 1126 Kilometern ließ alle Alarmglocken in mir läuten. Sardaengars 26
Projektion fuhr fort ... * »So entstand etliche Jahre später Vinara Drei, und ich bin davon überzeugt, dass es noch mehr Planeten geben wird, die sich in den Reigen rund um die einzige Sonne dieses Mikroversums einreihen werden. Sie liegen auf derselben Umlaufbahn, haben eine identische Achsneigung und formen – derzeit – ein perfekt gleichschenkeliges Dreieck. Irgendwann einmal mag es ein Vier- oder Fünfeck geben, wer vermag das schon zu sagen? Bald nach der Manifestation von Vinara Drei geschah es, dass Litrak erschien. Ein Kristallwesen, das schlichtweg aus dem Nichts materialisierte. Sieh es als minderwertige Reinkarnation an. Minderwertig und dennoch unglaublich stark. Es existierte vom ersten Moment an eine paranormale Verbindung zu mir. Ein Strang, ein unsichtbares Band, das die anderen Bewohner der Vinara-Planeten nicht als solches erkannten. Litrak lockte, wollte mich beeinflussen, sich auf mentalem Wege mit mir vereinen. Aus gutem Grund: Erst wenn er und ich im Kristallmond mit unseren paramentalen Kräften die noch fehlende Hochrangberechtigung einspeisen würden, könnten wir das vorhandene Potenzial Vadolons richtig ausnutzen! Es lag mir nichts daran, immer mehr Macht zu gewinnen. Dafür lebte ich einfach schon zu lange. Ich wehrte mich erfolgreich gegen die Verlockungen und in weiterer Folge gegen die Beeinflussung Litraks. Das Kristallwesen versuchte mit allerlei Tricks, an mich heranzukommen. Mit unendlicher Ausdauer und unersättlicher Gier wollte es mich mit sich reißen und auf den Kristallmond überwechseln. Ich ging der Auseinandersetzung, so gut es mir möglich war, aus dem Weg. Ich wechselte auf die Spiegelwelten, entkam den Nachstellungen ein ums andere Mal, lieferte ihm einige Geplänkel ohne besondere Bedeutung. Doch der Kampf war unausweichlich. Schierer Gewalt, sowohl körperlich als auch
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft mental, musste ich mit List und Tücke begegnen. Ich wusste, dass ich Litrak nur bannen, aber nie töten konnte. Dazu reichten meine Fähigkeiten nicht. Es gelang mir, diese Falle hier zu präparieren und als Gefängnis auf den Kristallenen zu kalibrieren. Wie das im Detail vor sich ging, braucht dich nicht zu interessieren. Nur so viel: Ohne Nanotechnologie, der du dich soeben bedient hast, um meine Aufzeichnung zu aktivieren, wäre es mir niemals gelungen. Die Spiegelwesen, die der Kristallmond ausschickte, waren nicht in der Lage, das Gefängnis zu öffnen. Auch andere, die von Litrak geschaffen worden waren, verfingen sich wie der Kristallene selbst in der Eisgruft. Der Kampf, so blumenreich er von den hiesigen Einwohnern auch geschildert werden mag – er passierte abgelegen und ohne Augenzeugen. Die Auseinandersetzung fand auf einer Ebene statt, auf die Normalsterbliche nicht zugreifen können. Da du einer von denen bist, die wie ich Zugang zu den Silbersäulen erhielten, kennst auch du Segen und Fluch eines langen Lebens. Du wirst wissen, dass es Kräfte gibt, die viel stärker sind als die Wahrheit. Es ist dies jene merkwürdige Mischung aus Zeit, die vergeht, und dem gesprochenen Wort, das von einem Wesen zum nächsten weitergegeben wird. Geschichte und Geschichten verändern sich wie ein Sauerteig, der von mehreren Köchen platt gewalzt wird. Jeder hat sein eigenes Rezept. Der eine gibt mehr Salz dazu, der andere wässert ihn nachträglich. Er wird gedehnt, gezuckert, gestreckt, gebacken – und schließlich entsteht etwas, das keiner der Köche in dieser Form wollte. Wahrheit wird zur Geschichte, Geschichte wird zur Legende. Ich habe diese Kräfte anfänglich unterschätzt. Der Litrak-Orden, der erst lange Zeit nach der Niederlage des Kristallwesens entstand, ist eine Folge meiner Unvorsichtigkeit. Wenn du diesen Verblendeten begegnest, glaube nichts oder nur wenig von dem, was sie erzählen. Ich kann dir versichern, dass der erste echte Wächter Jahrhunderte nach der Auseinandersetzung zwischen Litrak und mir entstand. 27
Ja – entstand ist das richtige Wort. Diese ursprünglichen Wächter assimilierten als Initiationsritual einen Mondsplitter. Sie nahmen kristalline, psibehaftete Substanz in sich auf, die Litrak während der Zeit unserer Spielchen und Auseinandersetzungen ausgeschieden hatte, um sie auf den Spiegelwelten als Sonden oder Mentalrelais zu verwenden. Als seine verlängerten Augen und Ohren sozusagen. Als Einzelteile können diese Splitter bereits genug Unheil anrichten und normalen Wesen den Verstand aus dem Kopf brennen. Aber es darf niemals – ich wiederhole: niemals! – die größte Kristallansammlung auf den Spiegelwelten mit dem Kristallkörper des Eingekerkerten in Verbindung gebracht werden. Die Konsequenzen wären nicht abzusehen, Fremder! Präge dir deshalb den Namen des Ortes, wo die Steine lagern, genau ein: Canyon der Visionen. Er ist Teil der Taneran-Schlucht Vinaras, die du auf jeder Karte verzeichnet haben wirst. Der Canyon war Schauplatz einer unserer Schlachten, in der es mir durch Glück gelang, Litrak eines Teils seiner Substanz zu berauben. Alle Sternengötter mögen uns vor dieser Möglichkeit bewahren – aber es besteht die Gefahr, dass die Narren des Wächter-Ordens einen Weg finden, Litrak aus seinem Gefängnis zu befreien. Auch ich kann nicht immer präsent sein, um über das Gefängnis des Kristallenen zu wachen. Andere Dinge bedürfen ebenfalls meiner Aufmerksamkeit – und auch ich werde irgendwann einmal sterben. Irgendwann ... Sollte Litrak jemals der Falle entkommen, wird der Canyon der Visionen sein erstes Ziel sein. Ich beschwöre dich, Fremder. Tue alles in deiner Macht Stehende, ihn daran zu hindern. Vor allem darf er niemals den Kristallmond erreichen ... Niemals, hörst du? Ich spüre den Einfluss dieses Gebildes nur allzu deutlich. Ich weiß nicht, wie lange ich mich vor den verlockenden Einflüssen noch schützen kann. Denn der Kristallmond ist pure Macht, und er verspricht so vieles ... Ein paar letzte Informationen möchte ich dir noch geben. Die Silbersäulen, die Goldenen Technostädte und alles andere in der Obsidian-Kluft sind Materialisationen des
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Die Explosion einer Supernova würde wie das Aufglimmen eines Leuchtkäfers im Vergleich zur Wirkung einer Waffe mit den Dimensionen des Kristallmondes aussehen. Eine Galaxie oder gar ein ganzes Universum mochte in Gefahr sein ... Gegenüber mir öffnete sich ein Teil der Wand. Ein kleines Rechteck, vielleicht zwanzig Zentimeter. Alarmiert sprang ich auf die Beine und achtete nicht weiter auf das Hologramm Sardaengars. Es war keine Klappe, die sich auftat. Vielmehr löste sich ein schwach glimmernder Schatten von der Wand. Ein feines Gitter, aus dünnen Fäden gesponnen, glitt langsam auf mich zu. Es veränderte sich allmählich und nahm eine Rundform an, die immer weiter zusammenschrumpfte. Was passierte hier? »Streck die Hand aus und nimm es!«, sagte das Hologramm unvermittelt und verstummte gleich darauf wieder, erneut eingefroren. Die Technik der Silbersäule interagiert mit dem Hologramm, flüsterte der Extrasinn. Nicht alles, was Sardaengar dir gesagt, hat, stammt von einer äonenalten Aufzeichnung. Es mochten also durchaus neuere Informationen in den Bericht des Uralten eingeflossen sein. Vor allem die Hinweise zum Litrak-Orden deuteten darauf hin, dass die Silbersäulen Informationen sammelten und mit Hilfe der Nano-Module, die in der silbrigen Verkleidung der Wand steckten, auswerteten. Schenkte ich den Worten Sardaengars Glauben – und das tat ich mittlerweile uneingeschränkt –, waren auch die Silbersäulen reine Manifestationen des Kristallmondes. Doch der Vargane hatte offensichtlich gelernt, zumindest sie für seine Zwecke zu nutzen. Ich fluchte unbeherrscht, als ich daran dachte, dass ich mich an die Wand gelehnt hatte. Hatten sich weitere Mengen der NanoMaschinen an meiner Kleidung abgelagert? Das bläulich schimmernde Gitternetz war mittlerweile in die Mitte des Raumes geschwebt und verharrte dort. »Nimm es!«, sagte das SardaengarHologramm erneut. Zögernd gehorchte ich und streckte die Rechte aus.
Kristallmondes. Sie wurden zunächst aus Programmen und Speicherdaten geschaffen, besitzen aber längst einen hohen Grad an Eigenständigkeit. Mit dem von außen Hereingekommenen findet und fand Interaktion statt. Es entsteht Neues. Alles fließt, könnte man sagen ...« * Sardaengars Hologramm erstarrte, aber es verschwand nicht. Das Grinsen im Gesicht des Varganen war zu einer Grimasse geraten, die mich zu verhöhnen schien. Müde hockte ich mich nieder. Nach der langen Zeit, die ich über Eis und Schnee gewandert war, fühlte sich der metallene Untergrund warm an. Während mein Körper dankbar die belebenden Impulse des Zellaktivators annahm, rasten meine Gedanken. Die wichtigste Frage, die sich mir stellte, war: Konnte ich dem Varganen vertrauen? Hatte er die Wahrheit gesprochen? Instinktiv neigte ich dazu, ihm zu glauben. In vielen meiner Vermutungen fühlte ich mich durch den Bericht des Hologramms bestätigt. Auch manch neuer Aspekt hatte sich ergeben, der weitere, beunruhigende Fragen aufwarf. Glaubte ich Sardaengar, hatte ich einen unentschuldbaren Fehler gemacht. Dank meiner Hilfe war Litrak frei – und damit ein lange Zeit aufrechterhaltenes Gleichgewicht entscheidend verändert. Der Kristallmond hat 1126 Kilometer Durchmesser! Mein Extrasinn steuerte mein Augenmerk erneut auf die wichtigste Erkenntnis. Dies war ein ganz besonderes Maß, das unmöglich dem Zufall entspringen konnte. Nur ein Sporenschiff der Kosmokraten, das Leben im Universum aussäte, erreichte denselben Durchmesser! Hier war augenscheinlich entartete Kosmokratentechnik im Spiel. Gefrorene, kristallisierte Psi-Energie dieser Masse, sozusagen das Gegenstück zu einem Sporenschiff, stellte ein Gefahrenpotenzial dar, dessen Umfang nicht abzuschätzen war. Was konnte ein Wesen, das über solch ein Machtreservoir gebot, alles anstellen? 28
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Sekundenlang geschah nichts. Dann, plötzlich, schnappte das Netz zu. Es wickelte sich in rasender Geschwindigkeit um die Fingerglieder, nahm die Substanz des Quecksilbertropfens am Zeigefinger in sich auf, glitt weiter nach hinten – und zog sich am Handgelenk zusammen. Ich brüllte auf, mehr aus Überraschung denn aus Schmerz. Für einen kurzen Moment hatte ich geglaubt, dass mir dieses Produkt unheimlicher Technik die Hand amputieren wollte. Doch der Augenblick verging, und ein fingerdicker Quecksilberwurm formte sich aus dem Geflecht. Er schmiegte sich wie ein eng anliegendes Band um das Gelenk. Leistungsoptimum nunmehr erreicht, raunte eine gedankliche Stimme, stärker und sauberer als zuvor. Andockmodule erlauben vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Waffen- und Spionmodus aktiviert. Ich hatte, was die Nanomodule betraf, so meine Zweifel. Mehr als einmal während meines langen Lebens hatten sich Geschenke als Trojanische Pferde erwiesen. Nur zu gerne benutzten höherrangige Wesenheiten wie die Kosmokraten ihre Boten zugleich als Werkzeuge ihres Willens. Mein Misstrauen war auf jeden Fall geweckt. »Statusaktualisierung abrufbar!«, sagte Sardaengars Holo nüchtern. Diesmal war klar, dass der Vargane nicht selbst die Botschaft aufgezeichnet hatte. Die Nanomodule in Decke und Wand nutzten seine Erscheinung, um mir Zusatzinformationen zu vermitteln. »Sprich!«, forderte ich. »Die Silbersäulen und ihr schützender Einfluss haben lange Zeit ausgereicht, um unbefugte Eindringlinge von hier fern zu halten«, sagte das Hologramm. »Dieser Schutz droht nunmehr zu erlöschen. Das Shainshar breitet sich immer weiter aus.« Shainshar? Die Braune Pest, mutmaßte der Extrasinn. Hier in der Eisgruft prallen seit langer Zeit Dinge aufeinander, die sich nie berühren dürften. Litraks psi-orientierter Kristalleinfluss und die Wirkung der Nanomodul-Falle. Zwei Stoffe – oder zwei Ideen, wenn du so willst –, die einander diametral gegenüberstehen. So wie Feuer und Wasser? Immerhin entstand 29
dadurch heißer Dampf; etwas Neues, das weder flüssiges Wasser noch brennendes Feuer war, aber auf seine Weise von gewaltiger Kraft. Oder wie Dämon und Cherubim, die sich vereinen und etwas gänzlich Neues schaffen. Ich fragte mich, warum der Extrasinn ausgerechnet ein Beispiel mit Motiven aus einer altterranischen Schöpfungsgeschichte bemühte. Das Ergebnis war jedenfalls ein drastisches Bild, das mir gar nicht gefiel. Waren auch die braunen Wucherungen durch meinen Einfluss, durch die Befreiung Litraks oder durch die Präsenz meiner besonderen Aura im Wachstum beschleunigt worden? Ich kam nicht mehr dazu, den beunruhigenden Gedanken weiterzuverfolgen. Denn das Holo Sardaengars brach endgültig in sich zusammen, und ein Warnimpuls, von meinem quecksilbernen Armreif ausgehend, wies mich auf Gefahr hin. Alarm in der Eisgruft, meldete der Extrasinn nüchtern. Du musst dich um deine Begleiter kümmern ... Lethem: Nebelschwaden Das monumentale Gebilde der Technostadt schwebte weiter, als wäre nichts geschehen. Lethem blickte suchend umher. Kythara hatte ihre Arme um den Stamm eines dürren Baumes gekrallt und öffnete soeben die Augen. Auch die anderen – Falk, Ondaix und Zanargun – schienen wohlauf. »Ich war mir sicher, dass es um uns geschehen sei«, sagte der Arkonide, während er Kythara half, ihren Griff um den Baum zu lösen. »Ich habe so etwas auch noch nie erlebt«, erwiderte sie. »Dies war kein Effekt, wie wir ihn auf Vinara normalerweise erleben. Die Technostädte, so unantastbar sie auch sein mögen, bewegen sich stets so, dass kein Wesen zu Schaden kommt. Niemals zuvor habe ich ruckhafte Bewegungen beobachtet. Schon gar nicht, dass eine Technostadt jemals einem Berg zu nahe geraten wäre oder zu kippen schien.« »Alles ändert sich«, sagte Ondaix, der zu ihnen getreten war und einen prüfenden Blick auf Kythara warf. Missmutig sah er Lethem
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Richtig! Wo waren sie? Erneut war das Quietschen zu hören, schwächer und noch armseliger als zuvor. Der Arkonide folgte der ungefähren Richtung, aus der das Geräusch kam. Die rasch einsetzende Dämmerung erschwerte das Vorwärtskommen. Achtlos bog er Zweige beiseite, drang immer weiter in einen Dschungel aus Dornbüschen ein. Vor ihm lag die Echse. Es war seine, wie er unschwer am Zaumzeug erkennen konnte. Sie war von unzähligen Stacheln blutig gestochen. Die Augen waren geschwollen und von gelbem, eitrigem Sekret bedeckt. Die lange Zunge, grünblau verfärbt, ragte aus dem weit geöffneten Maul. So rasch wie möglich arbeitete sich Lethem durch weiteres Buschwerk an den langen Hals der Xarran-Echse heran – und erschrak. Sie musste sich im Ledergeschirr verheddert haben, voll Panik in den Dornendschungel gelaufen sein und sich schließlich an den langen, zähen Bändern selbst erdrosselt haben. Hastig und verzweifelt schnitt Lethem die Lederschnüre von Hals und Brust – doch da war kaum noch ein Lebenszeichen zu erkennen. Der Blick in ihren Augen war gebrochen, der blutige Körper zuckte nur noch schwach. Ein letzter, röchelnder Atemzug, und es war vorbei. Haltlos fiel der schwere Schädel zu Boden. »Verdammt!«, fluchte Lethem. »Was ist pass...« Ondaix war ihm gefolgt. Er verstummte augenblicklich und blickte betroffen beiseite. »Steh nicht herum!«, fuhr ihn Lethem an. »Hilf mir lieber, sie zu entwirren.« Er bückte sich, zog an den Riemenstücken und hoffte, dass der Springer die Tränen in seinen Augen nicht bemerkte. Es war ein tapferes Tier gewesen, das ihm gute Dienste geleistet hatte. Eine kaltblütige Echse zwar, aber mit einem gutmütigen Charakter. Sie hatte es nicht verdient, derart elendiglich zugrunde zu gehen. »Was ist das bloß für eine verfluchte Welt«, murmelte der Arkonide. »Und was haben wir hier verloren ...«
an, als hätte er kein Recht, Kythara als Erster auf die Beine zu helfen. Starker Beschützerinstinkt war eine weitere der ungewöhnlichen Eigenschaften, die dem Springer anhafteten. »Seien wir froh, dass die Stadt ihre Flugbahn wieder stabilisieren konnte«, murmelte Lethem. Das Lager hatte sich sprichwörtlich in Luft aufgelöst. Überall lagen Reste von Ballen, in denen Ausrüstung und Nahrung verpackt gewesen waren. Tuchfetzen flatterten im Sog der Technostadt hoch in der Luft und würden wohl erst kilometerweit entfernt zu Boden sinken. Kleidung, die sie zum Trocknen nahe dem Feuer über Büsche gelegt hatten, war ebenso verloren wie Messer, Petroleumlampen, Seile, Bimsstein, Verbandszeug und etliche andere Gegenstände des täglichen Bedarfs, die offen herumgelegen hatten. »Die Karten!«, platzte Lethem heraus. »Wo ...« »Beruhige dich«, sagte Zanargun müde grinsend. Er zog Folianten und pergamentenes Kartenmaterial unter seinem staubigen Hemd hervor. »Ich habe das Material an mich genommen, bevor es verloren gehen konnte.« Erleichtert atmete der Arkonide durch. Er hatte sich den Rest ihres Weges zwar ungefähr eingeprägt, doch man konnte nie wissen ... Zudem erinnerten ihn die wertvollen Pläne Tag für Tag daran, dass Enaa von Amenonter in der Schwarzen Perle von Helmdor ihr Leben lassen musste. Die groß gewachsene Akonin aus Kytharas Gefolge, die sich so sehr gewünscht hatte, die Spiegelwelten eines Tages verlassen zu können ... Dies war eine Erinnerung, die er unter keinen Umständen vergessen wollte. War sie doch ein Mahnbild für sein wiederholtes Versagen. Auch jetzt hatte er einen Fehler begangen. Sein Augenmerk hätte unbedingt den Karten gelten müssen. Zanargun hatte daran gedacht – er nicht ... Ein klägliches Quietschen durchbrach seine trüben Gedanken. Alarmiert blickte Lethem umher. »Die Xarran-Echsen«, sagte Kythara leise.
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Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft »Vier von sieben Tieren sind tot oder verschwunden; eines lahmt, und große Teile der Ausrüstung sind unwiederbringlich dahin.« Lethem warf ein weiteres Scheit in das hell lodernde Feuer. »Wir werden uns heute nahe zum Feuer legen und die übrig gebliebenen Decken teilen müssen, um nicht zu frieren.« »Ich habe eine dicke Haut«, murmelte Zanargun und streckte sich. »Ihr könnt ruhig meine Decke haben.« »Schön, weiter. Unsere Nahrungsvorräte sind nahezu erschöpft. Wir müssen morgen auf die Jagd gehen.« »Wir könnten die Kadaver der Xarran-Echsen ...« »Nein, Falk!«, entgegnete Lethem grimmig. »Unter keinen Umständen!« »Das Fleisch der Echsen ist eh nicht genießbar«, erklärte Kythara mit ihrer sanften Stimme. »Zäh, flachsig und mit einem fauligen Beigeschmack, der dir den Magen umdreht.« »Ist schon gut«, sagte Scaul Rellum Falk mit düsterem Gesichtsausdruck. »Ich dachte halt an meinen knurrenden Magen.« »Ich habe ein Rudel kleinerer Tiere inmitten der Dornbüsche gesehen«, warf Ondaix ein. »Wir kümmern uns morgen darum«, unterband Lethem jedes weitere Gespräch. »Wir sollten eine Mütze voll Schlaf nehmen. Zanargun – übernimmst du die erste Wachschicht?« »Wie immer.« »In Ordnung.« Die vier Gefährten rückten eng aneinander und teilten die groben, zerrissenen Überdecken, die ihnen geblieben waren. Lethem roch den süßlichen Duft Kytharas. Die Frau hatte ihm ihr Gesicht zugewandt, lag ganz nahe bei ihm. Ihre Augen waren geschlossen. Der Feuerschein beleuchtete ihre zarten Züge auf eigentümliche Weise. Es schien, als tanzten kleine Dämonen auf ihr herum. Sie war so nah – und doch so fern ... »Schlafe jetzt, Arkonide«, flüsterte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Folge deinen eigenen Ratschlägen.« Als wüsste sie, was er soeben gedacht hatte! Natürlich wusste sie es. Natürlich fühlte sie es. 31
Und obwohl er geglaubt hatte, nach diesem aufwühlenden Tag auf keinen Fall Schlaf zu finden, glitt er hinüber ins Reich der Schatten, bevor er es überhaupt registrierte. * »Wach auf!« Ein heftiger Schlag gegen die Wange brachte ihn übergangslos in die Wirklichkeit zurück. Lethem sprang hoch. Er war sofort kampfbereit und suchte seinen Gegner. »Ruhig, Arkonide«, flüsterte Zanargun. »Du hattest einen üblen Traum und hast um dich geschlagen wie ein geschundenes Reittier. Ich musste dich wecken, sonst hättest du alle anderen aus dem Schlaf gerissen. Im Übrigen bist du mit der Wache dran.« Wache? Ach ja ... Lethem war noch ganz benommen von den schrecklichen Alpträumen, die ihn gepeinigt hatten. »Danke, Zanargun«, sagte er. »Leg dich jetzt hin.« »Gerne geschehen.« Der Luccianer grinste vergnügt, während Lethem spürte, wie seine Wange von der deftigen Ohrfeige zu glühen begann. Er ignorierte das Brennen, warf ein weiteres Scheit Holz ins Feuer und setzte sich auf jenen runden Stein, auf dem es sich bereits Zanargun bequem gemacht hatte. Seine Wachschicht würde zweieinhalb Stunden dauern. Zeit genug, um sich über die Alpträume klar zu werden. Phantasmagorische, verzerrte Gestalten hatten ihn umschwebt und ihm schwere Vorwürfe gemacht. Wesen, Freunde, Gesichter, die er kannte, hatten sich darunter gemischt. Tasia Oduriam, die Bauchaufschneiderin, deren zerschmetterte Leiche er aus dem Wasser des Iblad-Meeres geborgen hatte. Cisoph Tonk, der dunkelhäutige Leiter der Schiffsverteidigung der TOSOMA. Hurakin, Leiter des Hauptrechners des Schiffes, ein emotionsloser Mathematiker aus Passion. Beide vom Meer verschluckt und als Tote an Land gespült. Enaa von Anemonter, enthauptet von einem Blue ... Sie alle hatten sich unter seine Verantwortung begeben. Sie alle lebten nicht mehr. Mit
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft welchen Worten auch immer Kythara und die anderen ihn trösten wollten – er trug eine Mitschuld am Tod seiner Begleiter. Atlan wäre das nicht passiert. Der Unsterbliche mit seiner schier unbegreiflichen Lebenserfahrung hätte die Aufregungen, Kämpfe und Anstrengungen der letzten Tage gemeistert, ohne Verluste unter seinen Begleitern hinnehmen zu müssen. Wahrscheinlich hätte er der Gefahr sogar ins Gesicht gelacht ... »Deine Wachschicht ist um, Lethem.« »Hm?« Er hob den Kopf und sah Kythara in die goldenen Augen. Hatte er geschlafen oder gedöst? Hatte ihn die Varganin dabei ertappt? Offensichtlich. Er ballte beide Hände zu Fäusten, presste sie so kräftig zusammen, dass seine Arme zitterten. Dann sprang er hoch, wich den prüfenden Blicken der Frau schamerfüllt aus und verkroch sich so rasch wie möglich unter seinen Decken. Nicht einmal eine Nachtwache konnte er übernehmen, ohne zu versagen! * Der Tag begann trüb und nebelverhangen. Eigentlich untypisch für das trockene Hochland, auf dem sie sich seit Tagen, abgesehen von kurzen Abstechern in karge Täler, befanden. Ohne viel zu reden, nippten sie am bittersüßen Tee und bereiteten sich rasch auf den Aufbruch vor. Eine neuerliche Suche nach weiteren verlorenen Ausrüstungsgegenständen erwies sich als wenig Erfolg versprechend. Die Nebelsuppe war einfach zu dick. Sie konnten nicht einmal die Himmelsrichtung genau erkennen, in die sie mussten. Zwei der drei übrig gebliebenen XarranEchsen wurden für den Lastentransport ausgesucht. Auf der dritten Echse würde Kythara reisen. Auch wenn sie sich beeilte zu sagen, dass sie es keineswegs besser haben wollte als ihre Begleiter – Lethem und die anderen spürten Ehrfurcht vor der Varganin. Es war ein unbeschreiblich tiefes Gefühl, eine archaische Ahnung, dass die Varganin sehr wertvoll war. Geheimnisvoll lächelnd beugte 32
sich Kythara dem Mehrheitsbeschluss der Männer. »Woher kennst du sie?«, wollte Lethem von Ondaix wissen. Dieser marschierte an seiner Seite mit weiten, federnden Schritten. »Sag nicht so abfällig sie«, wies ihn der riesenhafte Springer zurecht. »Sie ist die Maghalata. Die Gesegnete Ehrwürdige. Ihr Auftreten erheischt Respekt, wo auch immer sie sich befindet.« »Verzeih mir«, beeilte sich Lethem da Vokoban zu sagen. »Ich habe es nicht böse gemeint.« Ondaix lachte laut und unmotiviert. »Ich lernte sie auf einer Reise kennen, die mich von Narador Richtung Norden geführt hatte ...« Er blieb stehen und lauschte. »Sag mal, hörst du das auch?« Lethem konnte es nicht hören, aber spüren. Der Boden bebte, von Druckwellen erschüttert. »Ein Meteorit!«, schrie er, während das Vibrieren des Untergrundes weiter zunahm. Normalerweise müssten sie sich in Deckung begeben – doch wie hätten sie sich gegen den Aufprall eines Brockens aus dem Weltall schützen sollen? Zumal sie nicht einmal sehen konnten, aus welcher Richtung der Meteorit kommen würde. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten und zu den Sternengöttern zu beten. Dann ein Aufprall. Ein rötlicher Blitz, der weit nach oben stieg und für einen Moment den Dunst teilte. Es folgten weitere Erschütterungen – und schließlich eine Detonationswolke, die über sie hinwegstrich und sie von den Beinen fegte. Betäubende Ruhe, unterbrochen von leichten Nachbeben. »Das kann nicht weit gewesen sein«, überlegte Lethem laut. »Vielleicht zehn oder zwölf Kilometer, wenn man die Schallgeschwindigkeit und den Lichterschein zueinander in Relation setzt.« Er rappelte sich hoch. Sein Herz schlug so kräftig, dass er glaubte, seine Brustplatte würde platzen. Ein prüfender Blick; alle waren sie da, alle waren sie wohlauf. Kythara saß nach wie vor auf der Xarran-Echse und redete beruhigend auf das Reptil ein. Bemerkenswert ... andere Reiter hätten das verängstigte Tier wohl kaum
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft in den Zügeln halten können. »Da kommt noch etwas«, sagte Ondaix, der über scharfe Sinne verfügte. Ein Nachbeben, ausgelöst durch den Aufprall? Weitere Meteoriten? Auf einmal hörte und spürte Lethem es ebenfalls. Der Boden bebte erneut, in einem ganz bestimmten Rhythmus. Immer zehn – nein, zwölf! – kleine Beben, dann begann der »Takt« von vorne. Was ist das? »Ein Tier!«, antwortete Zanargun und blickte sich um. Der Nebel hatte verlorenes Terrain zurückerobert und umwaberte sie erneut. Die Sicht reichte maximal vierzig, fünfzig Meter weit. Geräusche erreichten sie verfälscht und scheinbar aus mehreren Richtungen zugleich. »Das muss aber ein sehr großes Tier sein, wenn seine Beine einen derartig lang gezogenen Rhythmus erzeugen«, bemerkte Falk voller Zweifel. Die kleinen Beben wurden immer stärker – und plötzlich spuckte der Nebel eine fantastisch anmutende Urgestalt aus. Dreißig Meter lang, mit zwölf Beinen. Hoch wie ein Haus. Ihre vier Tentakelarme schwangen hin und her. Das Tier hatte eine stachelbewehrte Keule am Ende des Schwanzes. Und kleine, dumme Augen, die rot vor Angst oder Wut aufleuchteten. Die alptraumhafte Kreatur stürzte genau auf sie zu ... 4. »Gelobet sei der Ewige Litrak, Hüter unserer Seelen, Bewahrer unserer Unschuld«, sagte Alphonses zum dreiundsiebzigsten Mal seit Beginn der Göttlichen Audienz. »Was ist Euer Begehr?« »Dieser Schuft hier, Antitep, hat mir meine Frau gestohlen!«, keifte der ältere der Männer sofort los. »Du hast sie schlecht behandelt, Peotrip! Du hast sie geschlagen und dich ihr zudem in den Nächten verweigert. Gemäß den alten Gesetzen ist es ihr erlaubt, sich bei Nichterfüllung des Ehegelübdes einen neuen Mann zu nehmen.« »Die alten Gesetze sagen auch, dass ein Weib 33
gerade so viel wert ist wie ein Stück Vieh zuzüglich eines Körnchens Weizen. Ich dresche mein Vieh, ich dresche mein Korn. Also darf ich auch auf mein Weib einschlagen, wann immer ich will. Und ich bin auf der Stelle bereit, zu beweisen, dass noch ausreichend Manneskraft in mir steckt. Bringe mir ein Frauenzimmer und ...« »Ja – bei den Dirnen schaffst du es, deine fantasielosen Liegestütze zu absolvieren, aber nicht bei deiner Ehefrau ...« »Genug jetzt mit eurem Geschwafel!«, donnerte Alphonses. »Ihr ruft also das Heilige Gericht des Ewigen Litrak an, um ein Urteil über euren kleinen Streit zu erwirken?« Die Männer schwiegen und nickten unisono. »Gut denn!« Alphonses, der Hohepriester, holte das Goldkettchen aus der diamantbesetzten Schatulle und ließ das Göttliche Relikt daran frei baumeln. Es war der wahrheitssagende, wunderwirkende, aber mittlerweile schwärzlich verfaulte Zehnagel Litraks, von vier heiligen Reisenden am Ende ihrer langen Reise hierher verbracht. »Du, manifester Beweis der Existenz Litraks«, sagte der Hohepriester mit sonorer, geübter Stimme, »wir bitten dich: Sprich die Wahrheit! Sage, wem der beiden Männer ich, dein bescheidenster aller Diener, Recht geben soll.« Stille kehrte ein. Der Nagel, in Gold gefasst, pendelte am Ende der langen, schweren Kette hin und her. »Nun?« Alphonses blickte die beiden Männer nacheinander an. Antitep zwinkerte ihm zu und machte eine vage Bewegung mit seiner linken Hand. Peotrip hingegen benutzte beide Hände für seine geheimen Zeichen. Damit war es entschieden. »So sehet her, ihr Sünder«, sagte Alphonses. »Das Pendel des Ewigen Litrak schlägt zu Gunsten des Ehemannes aus. Ich, als der Hohepriester seiner Göttlichkeit, bestimme hiermit, dass das Weib bei seinem Mann zu bleiben hat. Akzeptiert dieses Urteil – oder bekommt die Rache des Ewigen zu spüren.« Wütend und zähneknirschend stürmte Antitep nach knapper Verbeugung aus dem Audienzsaal. Peotrip blickte ihm triumphierend hinterher. »Der Zehnagel des Ewigen Litrak hat wieder
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft einmal die Wahrheit gesprochen«, schloss Alphonses rituell. »Der Nächste, bitte!« Und, leiser, an Peotrip gewandt: »Du kannst deine Schulden gleich beim Beutelschneider begleichen. Und versuche nicht, uns zu betrügen. Die Wahrheit kommt ja doch ans Licht.« Atlan: Litraks Diener Ich hatte noch längst nicht alles verarbeitet, was mir die Nanomodule und Sardaengars Hologramm mitgeteilt hatten, als ich die Silbersäule mit einem einzigen Schritt verließ. Unvermittelt stand ich der brutalen Wirklichkeit gegenüber. In der Kälte der Eisgruft wurde getrauert. Drei leblose Körper lagen auf dem eisigen Boden. Vertrocknet und kaum mehr wieder zu erkennen. Acazar Cateireo, der Erste des Inneren Zirkels. Caraljon Imrey und Sanfei Zianil, Sechster und Achter des Ordens. Die drei Ältesten unserer Expedition. Das Bild war schrecklich und rief Assoziationen in mir wach, die besser in den tiefsten Abgründen meines Unterbewusstseins geblieben wären. Ihr Schicksal war dasselbe, das auch mir mit hoher Wahrscheinlichkeit einmal blühen würde und das so viele meiner und Perry Rhodans Begleiter bereits getroffen hatte. Ras Tschubai. Fellmer Lloyd. Jennifer Thyron. Irmina Kotschistowa. Geoffrey Abel Waringer. Sie und noch einige andere waren bereits durch vorzeitige Alterung gestorben. Eingeholt von der Zeit ... Man konnte annehmen, dass ein alter Mann wie ich eines Tages an den Punkt gelangen würde, da er alles gesehen, gespürt, gerochen, geliebt und getan hatte. Der Moment, da ich mein Lebenswerk scheinbar vollendet und keine Ziele mehr vor Augen hatte. Doch etwas ließ mich zweifeln, dass ich diesen Moment in absehbarer Zeit erreichen würde. Immer wieder gab es Neues zu entdecken, Ungewöhnliches zu erforschen, anderes zu verstehen. Gierig hing ich an meinem Leben, immer auf der Suche nach Herausforderungen. Ich wollte noch lange nicht sterben. Vor allem 34
nicht so ... »Als hätte ihnen jemand die Lebenskraft entzogen«, murmelte Lelos Enhamor betroffen. Der vierzigjährige Arkonide war nunmehr der unumschränkte Befehlshaber innerhalb des Ordens. Meine Blicke suchten und fanden Rusrala. Der in etwa Hundertfünfzigjährige war wohl der Nächste, den das Schicksal der vorzeitigen Alterung ereilen würde – und er wusste es. Seine Augen sagten mir, dass er sich bereits auf diesen letzten Höhepunkt seines Lebens vorbereitete. »Wie lange war ich weg?«, fragte ich Tamiljon, der die eingefallenen, mumifizierten Körper sanft nebeneinander in den Schnee bettete und dabei geistesabwesend vor sich hin summte. »Vielleicht drei Stunden«, antwortete er zerstreut. »Es ist viel passiert ...« Drei Stunden ... Die Zeit in der Silbersäule war wie im Flug vergangen. Irritiert sah ich mich um. Der See der Braunen Pest waberte scheinbar hungrig, aber immer noch innerhalb seiner Grenzen. »Hierher!«, rief eine aufgeregte Stimme. Woher stammte sie? Echos von allen Seiten verzerrten jeglichen akustischen Eindruck. Endlich sah ich die dunkle, breite Gestalt winken, mehr als zweihundert Meter rechts von uns. Offensichtlich handelte es sich um Ranin Rauva. Der Überschwere, der sich mir gegenüber misstrauisch gezeigt hatte. Auch er half mittlerweile, die Eisgruft genauer zu erkunden und nach Litraks Spuren zu suchen. Tamiljon, ich und Mourlas stapften eilig los. Ich mochte den Blue. Er hatte sich als einer der treuesten und tapfersten meiner Begleiter erwiesen. Auch jetzt schien er besser als die meisten anderen zu verstehen, dass es hier nicht nur um den Sturz einer Legende ging, sondern um bedeutend mehr. »Hast du erfahren, was du wissen wolltest?«, fragte mich Tamiljon knapp. »Das – und viele Dinge, über die ich gar keine Auskünfte haben wollte.« Es wird Zeit, dass wir beide mal Klartext reden, mein Junge, dachte ich. Meine Augen haben mich nicht getrogen. Der Splitter Litraks ist in deinen Körper gefahren. Später, mahnte mich der Extrasinn. Dort
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft vorne passiert Bedeutsames ... Natürlich. Egal wo ich mich auch befand – ich erlebte Wunder und Katastrophe, manchmal auch beides. Wie lange war es her, dass ich einen meiner Freunde und Begleiter einfach friedlich und im Bett hatte sterben sehen? Wahrscheinlich im sechzehnten Jahrhundert alter irdischer Zeitrechnung ... Ein letztes Mal: Konzentriere dich, Kristallprinz! Der Extrasinn zeigte sich wütend und bereitete mir drückende Kopfschmerzen. Er hatte Recht. Defätistische Gedanken hatten zum jetzigen Zeitpunkt nichts verloren. Wir waren heran. Ranin Rauva stand da, blass und müde. Neben ihm der Lemurer Nunar Jhantar. Er deutete auf ein dunkles, zuckendes Bündel Leben, das sich mit langen Fangarmen um einen riesenhaften Stalagmit gewunden hatte. Ich kannte diese Form von Wesenheiten. Ich war einem von ihnen bereits begegnet. In der Nähe der Basis II auf unserer langen Reise zur Eisgruft. Dies war einer der Kraken, die sich in einer Vorgängersprache der Mächtigen verständigen konnten. Und gleichzeitig handelt es sich um einen jener Helfer Litraks, über die dir Sardaengars Hologramm erzählt hat, fügte der Extrasinn hinzu. * Ein neuer Puzzlestein hatte seinen Platz gefunden. Tamiljon war dabei gewesen, als ich den Kraken seziert und dabei ungewollt getötet hatte. Bleich stand er neben mir und schwankte leicht. Was war los mit ihm? Er wirkte immer wieder geistesabwesend, als wäre er nicht von dieser Welt. »Geht nicht zu nahe ran«, warnte ich Ranin und Nunar. »Diese Fangarme sind nahezu vier Meter lang, und der scharfe Schnabel sieht mir auch nicht allzu vertrauenswürdig aus. Ich habe zudem keine Ahnung, wie schnell sich der Krake bewegen kann.« »Du kennst diese Wesen?« Sofort war wieder ein Misstrauen in der Stimme des 35
Überschweren zu hören. »Ja!«, sagte Tamiljon scharf. Er war mit seinen Gedanken abrupt in die Gegenwart zurückgekehrt. Mit wenigen Worten schilderte er den beiden Ordensbrüdern, was sich vor Tagen in der Eishöhle nahe der Basis II ereignet hatte. Währenddessen konzentrierte ich mich auf das Wesen. Es zitterte. Es empfand, soweit ich es beurteilen konnte, Schmerzen. Die acht Arme zuckten immer wieder konvulsivisch, umkrampften den breiten Eiszacken. Ab und zu stieß der Krake einen leisen, spitzen Schrei aus. »Wo habt ihr ihn gefunden?«, fragte ich Nunar Jhantar. »Wenige Meter von hier, ganz in der Nähe der Braunen Pest«, antwortete der Lemurer. »Er kam aus einer Höhle gekrochen, die er wohl mit seinen langen Armen aufgebrochen hat.« »Mit der Erweckung Litraks muss er aus seinem Staseschlaf gerissen worden sein. Warnt die anderen, dass wahrscheinlich noch mehr der Kraken ihr Unwesen treiben. Und die sind möglicherweise aggressiver und gefährlicher als dieser hier ...« »Was hat er?«, fragte Tamiljon interessiert. »Sieh dir die Spitzen seiner Fangarme genauer an«, sagte ich. »Zwei von ihnen zeigen einen helleren Braunton.« »Ja, du hast Recht.« »Ich vermute, dass die Braune Pest in sein eisiges Gefängnis eingedrungen ist. Der Krake wird allmählich aufgefressen.« * Ich näherte mich vorsichtig dem Wesen und sprach beruhigend auf es ein. Wenn der Krake ähnlich gestrickt war wie jener, dessen Verfall wir miterlebt hatten, war eine Verständigung möglich. Wichtigste Voraussetzung war allerdings seine Bereitschaft. »Wir sollten ihn töten, bevor er uns angreift!«, rief Ranin Rauva hasserfüllt. Dieser engstirnige Kerl! Mit seiner Schreierei erschreckte er den sterbenden Kraken noch mehr, als er ohnehin schon war. Das Wesen zuckte zusammen. Sein Leib, ein riesiger
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Sack aus ledriger, eingefallener Haut, pumpte sich blitzartig auf. Drei seiner langen Fangarme schnalzten in meine Richtung – und prallten knapp vor meinem Körper an eine unsichtbare Mauer. Tamiljon! Mit seinen telekinetischen Fähigkeiten, die er – aus welchen Gründen auch immer – vor mir und den anderen zu verbergen versuchte, half er mir erneut. Ich vermied jede rasche Bewegung. Ich wollte den hochgradig nervösen Ordensbrüdern Ranin, Nunar und Mourlas keinen Vorwand geben, mit ihren primitiven Waffen über den sichtlich geschwächten Kraken herzufallen. »Srakenduurn«, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. Ich wiederholte das, was der Artgenosse des Kraken im Basislager II kurz vor seinem Tod gezwitschert hatte. Die unkoordinierten Bewegungen der saugnapfbesetzten Fangarme ließen abrupt nach. Das Wesen verstand mich! Srakenduurn. Ein Begriff aus dem Wortschatz der Mächtigen. Am ehesten mit Sammelplatz ins Interkosmo übersetzbar. Müde und erschöpft, wie es mir schien, öffnete der Krake seinen spitzen Papageienschnabel und begann zu sprechen. Es waren unzusammenhängende Silben, unverständliches Gestammel in meinen Ohren. Es ist wieder die Vorgängersprache der Mächtigen, teilte mir der Extrasinn mit. Allerdings kaum verständlich. »Litrakduurn«, hörte ich plötzlich aus den schrillen Tönen heraus. Der Platz des Litrak! Was war damit gemeint? »Rede langsamer und ruhiger«, forderte ich den Kraken mit Unterstützung meines Extrasinns auf. Und tatsächlich: Der Körpersack des Wesens zog sich zusammen, versank scheinbar in sich selbst, bis nur noch die Spitze des Schnabels hervorblickte. Die Fangarme waren gleich darauf aufgerollt und in Zopfform ineinander verknotet. Diese Stellung mutete wie die Basis für die Versetzung in einen tranceähnlichen Zustand an. »Ich bin Abs-Tel-Merkam«, sagte das Wesen, in einer durchaus verständlichen Stimmlage. »Ich bin ein Biophoren-Spiegelwesen, und 36
ich werde sterben.« * Biophoren-Spiegelwesen? Was hatte das zu bedeuten? Ich wusste, was Biophoren waren, aber ... »Litrak hat mich geschaffen«, durchbrach Abs-Tel-Merkam meine rasenden Gedanken. »Ich war lange Zeit sein Werkzeug, sein verlängerter Arm, so wie meine Artgenossen.« Die Worte sprudelten auf einmal wie ein Wasserfall hervor. »Wie so vieles, was hier auf den Spiegelwelten zu existieren begann, entwickelte ich nach und nach ein Eigenbewusstsein – selbst für mich ungewollt und von Litrak ungeahnt. Ich konnte klar erkennen, dass die Dinge falsch liefen, doch ich war meinem Herrn verpflichtet. In meinem absoluten Gehorsam dem Kristallenen gegenüber konnte ich nicht einmal Warnungen aussprechen. Erst jetzt, mit der Wiedererweckung Litraks, finde ich die Worte, die sich mir eingebrannt haben. Ich liege hier wie so viele meiner Artgenossen seit Ewigkeiten in der Eisstadt begraben. Eingefangen von Sardaengar und unfähig, etwas anderes zu tun, als zu denken.« Ich hatte das Gefühl, als taxierte mich AbsTel-Merkam intensiv mit seinen tellergroßen Augen. »Ich spüre, was du bist und dass du das Unglück aufhalten kannst«, sagte der Krake schließlich. »Hör gut zu, Litrak und Sardaengar dürfen den Kristallmond auf gar keinen Fall gemeinsam erreichen!« Eine neue Schmerzwoge ließ den Sackkörper unkontrolliert zittern. Die Stimme wurde schwächer. »... die zeitlose Stasisblase ist brüchig geworden, oh so brüchig ...«, hörte ich. Dann überraschend ein Satz, ganz klar, wie auswendig gelernt und über Ewigkeiten hinweg in Erinnerung behalten: »Die Hypertronik in ihrer starren Programmierung erwies sich als Hindernis, da Litrak sie nicht unter Kontrolle bekam. Denn er verfügte nur über einen Bruchteil seines ursprünglichen Wissens ...« Schweigen. Noch war Abs-Tel-Merkam nicht tot, noch
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft lagerte in einer ... Hyperraumblase. Gewisse Analogien waren einfach nicht zu übersehen. War auch das Miniaturuniversum der Obsidian-Kluft eine im Hyperraum eingelagerte Schutzblase? Drohte die Gefahr, dass die On- und Noon-Quanten unkontrolliert freigesetzt werden konnten? War das die Bedrohung, von der ich geträumt und auf die mich Samkar hingewiesen hatte? Ich erinnerte mich an die seinerzeitigen Konsequenzen, die sich aus dem Missbrauch der PAN-THAU-RA ergeben hatten. Die Materiequelle GOUR-DEL war von den Kosmokraten manipuliert worden, um die Gefahr einzudämmen. Als »Nebenwirkung« hatten Weltraumbeben, so genannte Gravitationsbeben, mit einer Stärke von mehr als 1000 Gravos die Milchstraße in Angst und Schrecken versetzt. Es geht zu Ende ..., riss mich der Extrasinn in die Realität zurück. Die braunen Wucherungen erreichten den Kopf-Körper des Kraken. Konvulsivische Zuckungen breiteten sich wellenförmig über den welken Sack aus. Im Todeskampf meldete sich Abs-TelMerkam mit einem mühseligen, piepsenden Aufschrei. Stotternd und unter großen Schmerzen brachte er hervor: »Sardaengar wird unwissentlich ... zu einer viel größeren Bedrohung für euch alle ... als Litrak es jemals gewesen ist ... Der kristallene Mond – mit seiner Hypertronik gewinnt er ... immer mehr Einfluss über ihn. Ich spüre ..., wie stark die Bindung bereits ist ... wie groß die Verlockung für Sardaengar geworden ist ...« Die weiteren Worte verloren sich in undeutlichem Zischen und Nuscheln. Brodelnde Bräune bedeckte das Wesen endgültig. Der Kopf-Körper sank in sich zusammen. Ein letztes Nervenzucken eines Fangarms, ein Hochpeitschen – und es war zu Ende. Mourlas schrie auf. Ich wirbelte herum. Die Stimme des Blues kippte in den Ultraschallbereich und war für Humanoide nur noch als immens störender Ton einzuordnen. Braune Pest klebte am Tellerkopf Mourlas’ und an seinem rechten Bein. Ringsum lagen weitere Teile des widerlichen Breis.
steckte ein Funken Leben in ihm. Er schien seine verbliebenen Kräfte zu sammeln, um sich noch ein letztes Mal mitteilen zu können. Ich beobachtete, wie das Shainshar Blasen warf und immer weiter über die Fangarme hinweg auf den Kopf-Körper des Kraken zukroch. Versuchshalber näherte ich mich Abs-Tel-Merkam. Vielleicht konnte ich mit meiner Präsenz die Braune Pest vertreiben? »Bleib weg!«, schnäbelte das merkwürdige Wesen entkräftet. »Es ist sinnlos ...« Ich blieb stehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als hilflos Abs-Tel-Merkams traurigen Todeskampf anzusehen. War er überhaupt ein Lebewesen im herkömmlichen Sinn? Er nannte sich selbst ein Biophoren-Spiegelwesen ... On- und Noon-Quanten, von den Kosmokraten und deren Dienern ausgestreut, ergaben eine brisante Mischung, die Lebensträger oder Biophor genannt wurde. In vereinfachten Worten: Hyperenergetische Entsprechungen von Lebensbereitschaft – On – sowie ein Grundstock organischer Intelligenz – Noon – ergaben, wenn sie mit Materie in Berührung kamen, Leben. Intelligentes, sich seiner selbst bewusstes Leben. Die Mächtigen waren im Auftrag der Kosmokraten im Universum unterwegs gewesen und besäten mit Hilfe ihrer Sporenschiffe unbewohnte Sterneninseln. Die dazu benötigten Biophoren wurden in hyperenergetischen Schutzblasen an Bord des jeweiligen Schiffes gelagert. Das Gefahrenpotenzial, das sie darstellten, war vielfältig und hochexplosiv. Der Kristallmond hat einen Durchmesser von 1126 Kilometern. War er ein wie auch immer pervertiertes Sporenschiff? Stammte Abs-TelMerkam von diesem Sporenschiff? Denke an BARDIOC, den Mächtigen, und sein Sporenschiff PAN-THAU-RA, lenkte mich der Extrasinn in eine bestimmte Richtung. Man hatte das Jahr 3586 geschrieben, als Perry Rhodan das Sporenschiff des entarteten Mächtigen in der Galaxis Algstogermaht gefunden hatte. Nur ein Dreizehntel des riesigen Objekts war im Normalraum verblieben. Der Rest seines Körpers hingegen 37
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft sich nicht weiter um mich. Sie fiel über die Reste des Blue her.
Weggeschleuderte Fetzen vom sterbenden Abs-Tel-Merkam. Mit seinen Händen versuchte der Ordensbruder, das Shainshar von seinem Körper zu wischen. Es half nicht, im Gegenteil. Augenblicklich verbuk die Masse mit den Daumen und Greiffingern, klebte zäh daran fest, fraß Löcher in sein Fleisch. Ich eilte zu Mourlas und fegte, ohne lange darüber nachzudenken, kleine Flächen der Braunen Pest beiseite. Tatsächlich, der Brei konnte gegen mich nichts ausrichten! Teile davon wichen zurück, andere wischte ich von der Haut des Blues. »Bleibt ja weg!«, herrschte ich Tamiljon und Ranin Rauva an, die ebenfalls helfen wollten. »Atlan«, wimmerte Mourlas, »wir werden umzingelt!« Mit seinen vier großen Augen, die ihm nahezu Rundumsicht erlaubten, hatte er die Situation wesentlich schneller erkannt als ich. Als hätte das Shainshar die fleischliche Beute gewittert, kam es nunmehr von allen Seiten heran. Ein Strom stammte vom Leichnam Abs-Tel-Merkams. Die Pest hatte lediglich gelatine-ähnlichen Matsch übrig gelassen. Auch der große See, der einmal eine Zwiebelkuppel gewesen war, wogte unruhig hoch und spie drei weitere Bäche der widerlichen Masse aus. Sie bewegten sich genau auf uns zu. »Wir müssen verschwinden!«, keuchte ich. »Ich ... kann nicht!«, stöhnte der Blue und knickte ein. Der Fraß hatte bereits sein rechtes Bein überwuchert und kroch stetig weiter hinauf. Wütend schlug ich Teile beiseite, kratzte sie von den Füßen. Das, was ich darunter zu sehen bekam, war rohes, weißes Fleisch. Bekleidung, Haut, Blut – alles war weg. »Ich nehme dich auf die Schultern, du kommst mit uns!«, schrie ich dem Gefährten verzweifelt ins Gesicht. Doch es war schon zu spät. Der Blue öffnete den Halsmund und spuckte Shainshar aus. Ich wich einen Schritt zurück. Tu es!, forderte mich der Extrasinn auf. Wie betäubt zog ich mein langes Messer. Ich erleichterte ihm den Tod. Dann wich ich zur Seite, ließ den Körper zu Boden sinken. Die Braune Pest kümmerte
Lethem: Das Ungeheuer Der keilförmige Körper des Sauriers wurde immer massiger, füllte Lethems Gesichtsfeld vollends aus. Er wagte nicht, die Beine zu bewegen. Vor dieser lebenden Dampfwalze in der Größe einer Space-Jet gab es einfach kein Entrinnen ... »... Tuddelit!«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Und nochmals: »Tuddelit!« Der Saurier bremste. Er streckte sechs seiner zwölf Beine seitwärts, rammte vier nach vorne und verwendete die beiden hintersten als Bremsblöcke. Die vier Tentakelarme wickelten sich um Bäume und Felsen. Wäre die Situation nicht so verdammt ernst gewesen, hätte Lethem wohl laut aufgelacht. Doch das Herz wollte ihm schier zerspringen, als der Saurier zwei Körperlängen vor ihm zum Stillstand kam. Er überschüttete ihn mit mehreren Kubikmetern feinsten Sandes und stieß einen klagenden Laut aus. Der Mundgeruch, der aus zehn Metern Höhe in einer giftgrünen Wolke zu ihm herabwehte, war unerträglich. »Verzeiht meine Aufregung und mein unangemessenes Verhalten«, quiekte der Saurier im hiesigen Idiom und furzte lang gezogen. »Dieser Meteorit hat mich schrecklich echauffiert, und mein Augenlicht ist auch nicht mehr das Beste. Litrak sei Dank, dass mein Gehör noch intakt ist und ich die wohllöbliche Stimme der Maghalata rechtzeitig erkannte, wiewohl ...« »Es freut mich, dich nach so langer Zeit wiederzusehen, Dismeeder Bonweerd«, unterbrach ihn Kythara. Sie stand neben ihrer Xarran-Echse und verbeugte sich höflich. »Ich soll dir schöne Grüße von Loemdect Boodist ausrichten.« »Loemdect!« Der Saurier stellte sich auf die beiden hintersten Beinpaare und jaulte vor Freude in den Himmel. Sein Kopf, rotweiß gefleckt und seltsam flach wirkend, verschwand in der tief hängenden Nebeldecke. Lethem hielt sich erschrocken die Ohren zu, 38
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft als der Saurier ein weithin schallendes Geheul ausstieß. Währenddessen trat Kythara näher an ihn heran. »Loemdect ist sein Cousinchen-Oheim achten Grades oder anders gesagt: sein Mann-MannFrau-Doppelneutrum.« Lethem da Vokoban klopfte den Sand von den Hosenbeinen. »Ich bitte dich inständig«, flüstere er, »versuche nicht einmal, mir die familiären Umstände dieses Riesenbabys zu erklären. Es reicht für mich zu wissen, dass es einer intelligenten Spezies angehört ...« »... dem Volk der Fonshoord ...«, warf Kythara sanft ein, »... dass es mehrgeschlechtlich ist ...« »... fünfgeschlechtlich, um genau zu sein ...« »... und dass es friedfertig ist«. Flehend blickte er die Maghalata an. »Bitte sag, dass es so ist!« »Friedliebender als du und ich.« Acht Säulenbeine polterten herab und lösten durch die Wucht eines dreißig Meter langen Körpers ein mittelschweres Beben aus. Lethem ging in die Knie und barg den Kopf schützend zwischen seinen Armen. Erst als sich der Staub erneut gelegt und die Erschütterungen aufgehört hatten, erhob er sich. Kythara war indes auf den Beinen geblieben. Wie sie das geschafft hatte, war ihm ein Rätsel. Dismeeders Kopf pendelte auf ihrer Höhe leicht hin und her. Die beiden ungleichen Wesen unterhielten sich, so leise, dass Lethem sich nur wundern konnte. Die feine Stimme, mit der der Fonshoord nun sprach, passte keinesfalls zu seiner monumentalen Erscheinung. Ondaix stand ein wenig abseits. Er machte einen etwas unschlüssigen Eindruck. Einerseits kannte er wohl das Volk der Fonshoord, andererseits war er sichtlich beeindruckt von dem Fleischberg, der vor ihnen hochragte. Mit einem einzigen Atemzug hob und senkte sich der gelbgrüne Bauch um mehr als eineinhalb Meter ... »Ich konnte Dismeeder davon überzeugen, dass er uns helfen muss«, unterbrach Kythara seine Betrachtungen. »Inwiefern?« »Nun – er war gerade auf dem Weg Richtung 39
Norden. Er schämt sich übrigens für sein unwürdiges Verhalten und entschuldigt sich tausendfach für den Schrecken, den er dir und den anderen zugefügt hat.« »Akzeptiert«, sagte Lethem knapp. »Und weiter? Wie glaubt er uns helfen zu können?« »Das, was Kythara mir erzählte, hat mich mit großer Sorge erfüllt«, sagte Dismeeder, dessen Kopf plötzlich weniger als einen Meter neben dem seinen auftauchte. Erschrocken sprang der Arkonide zur Seite. Der Fonshoord fuhr ungerührt fort: »Der stetig intensiver werdende Meteoritenfall. Die nahezu abgestürzte Technostadt. Die Zeichen am Himmel, die die Sonne teilen ... Unruhige Zeiten sind angebrochen. Die Maghalata bat mich, euch auf dem schnellsten Wege zur Gebirgsbastion zu bringen.« »Und wie, wenn ich fragen darf, willst du das anstellen?« Lethem blickte Kythara an. Bis ihm klar wurde, was gemeint war. »Nein!«, hauchte er und wurde blass. »Doch!« Kythara schenkte ihm ein Lächeln. Das Lächeln eines hungrigen Raubtiers, das mit seinem Opfer noch ein wenig spielen wollte. »Bitte nicht!« »Doch!« 5. Tatterlek war Perlenträger von Sardaengars Gnaden. Jahrein, jahraus bereiste er den östlichsten Teil der Afal-Savanne und ließ den Stämmen nach Gutdünken Obsidianperlen zukommen. Die Perlen waren ein wichtiges Steuerungselement im Weltbild, das der Uralte Sardaengar seit Ewigkeiten bestimmte. Mit Geld konnte man Waren, Wesen – und Anschauungen kaufen. Hochmut wurde zu Tatterleks Gütezeichen, ebenso wie sein stetig anschwellender Wanst. Nur jene Savannenreiter, die sich seinen Wünschen beugten, bekamen ausreichend Perlen zugeteilt, um sich Luxus und Annehmlichkeiten leisten zu können. Der Stamm der Buzals fiel den Illusionen, die er mit den Obsidianperlen verkaufte, irgendwann zum Opfer. Dekadent schwellten
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft sie in träge machendem Reichtum, und Tatterlek freute sich darüber. Zementierte diese verkaufte Glückseligkeit doch seine Rolle als Allmächtiger weiter ein und erleichterte ihm die Arbeit. Trägheit konnte aber auch Verderben bedeuten. Als der Perlenträger wieder einmal mit seinem Tross die Große Runde begann, um feiste Buzals noch weiter mit Obsidianperlen zu verderben, begegnete er Tod und Schrecken. Tuligs, die westlichen Nachbarn und verachtenswerte Anhänger Litraks, waren eingefallen. Sie waren auf schwachen Widerstand gestoßen. Hatten Dörfer und Ansiedlungen dem Boden gleichgemacht. Männer getötet, Frauen und Kinder verschleppt. Tatterlek fand kaum noch welche vom Stamm der Buzals, denen er seine Perlen überlassen konnte. Und wo auch immer er eine lebende Seele fand, wurde er gefragt: »Kann man die Perlen auch essen? Beschaffe uns lieber Dendibos, Nornen-Gift, Vieh und Korn!« In seiner Wut statuierte er manches Exempel – doch es half nichts. Die Buzals, die das Pogrom der Tuligs überlebt hatten, fielen vom Glauben an Sardaengar ab. Die Reiter seines Trosses, die Leibsklaven, Diener, Mägde, Krieger, Konkubinen – und selbst seine Söhne –, ließen ihn im Stich. Nach und nach stahlen sie sich davon. Heimlich, des Nachts. Oder gegen Ende seines weiten Weges verließen sie ihn gar in aller Öffentlichkeit, vor seinen Augen. Spuckten verächtlich aus, warfen ihm die Perlen zu Füßen und gingen ihrer Wege. Schlussendlich richtete sich Tatterlek ächzend in seinem luxuriösen Wagen auf, schimpfte mit schriller Stimme den letzten Dienern hinterher und sammelte die schweren Säcke mit den wertvollen Obsidiansteinen persönlich ein. Er schirrte die kräftigste Xarran-Echse aus, belud sie mühselig mit den Reichtümern und setzte seinen Weg reitend fort. Unbeirrt. Er war der Diener Sardaengars, und er verkündete die Wahrheit, die in den Perlen steckte. Als das Tier in der trockenen Savanne vor Durst verreckte, weinte er. 40
Denn er musste all das Geld zurücklassen. Bloß zwei Säcke konnte er auf seine schmalen Schultern laden und weitermarschieren. Welch ungeheuerliche Verschwendung! Wenige hundert Meter weiter versagte sein verfettetes Herz, und er fiel haltlos zu Boden. Obsidianperlen, hell gesprenkelt und wunderschön marmoriert, spritzten umher und bedeckten ihn. »In den Perlen steckt die Weisheit Sardaengars«, flüsterte Tatterlek. »Der Uralte hat gewollt, dass es so endet. Ich gehöre zu seinem göttlichen Plan. Ich bin Teil der Wahrheit, die er verkündet.« Er tastete umher, ergriff zitternd ein Dutzend der wertvollen Obsidiansteine und schluckte sie gierig. Tatterlek erstickte an seiner Wahrheit. Atlan: Jagd Ich beruhigte mich schnell wieder dank der Hilfe des Extrasinns. Nicht zu Unrecht wies er mich darauf hin, dass ich mich um die Lebenden kümmern und nicht den Verstorbenen hinterher weinen sollte. Ich drängte Tamiljon und Ranin Rauva beiseite. Das Shainshar brodelte unaufhörlich in jenem See, der die Zwiebelkuppel aufgefressen hatte. Und wer wusste schon zu sagen, wie es unterhalb der Eisschicht aussah, auf der wir uns bewegten? »Ich befürchte, dass die Braune Pest bereits große Flächen der Eisgruft untergraben hat«, mutmaßte ich Tamiljon gegenüber. »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden«, entgegnete er. »Mit unseren Mitteln können wir dieses braune Zeug nicht aufhalten. Und was Litrak betrifft, habe ich die gleichen Befürchtungen. Bis jetzt gibt es keinen Anhaltspunkt, wo er sich aufhalten könnte.« Er hatte Recht. Unsere Aktivitäten in dieser verfluchten Eishöhle hatten bereits zehn unserer Kameraden das Leben gekostet. Was hätte ich in diesem Moment für einen funktionstüchtigen SERUN, eine anständige Waffe und ein paar Energie-Packs in Reserve gegeben! Keine Tagträume, wies mich der Extrasinn zurecht. Verwende das Wenige, das dir
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft geblieben ist. Deinen Verstand. Wenigstens gab es einen, der seinen Sinn für Zynismus noch nicht verloren hatte. Wir, die zehn Überlebenden, sammelten uns nahe dem aufgebrochenen Zugang zu Litraks ehemaligem Gefängnis. Meine Augen suchten den Blickkontakt zu Lelos Enhamor, der nach wie vor offizieller Leiter der Expedition war. Der Arkonide wusste sofort, was ich sagen wollte, und nickte zustimmend. »Rückzug!«, ordnete ich an. Kollektive Erleichterung ging durch die Männer. Es war mir unmöglich, ein positives Resümee der letzten Tage zu ziehen. Ich hatte zwar wertvolle Kenntnisse erworben, die mir weiterhelfen würden, die Rätsel dieser Welten zu lösen. Aber wog das den Tod so vieler Kameraden auf? Und wie sollte man bewerten, dass wir Litrak, den Kristallenen, geweckt hatten? Wie sich die Ordensbrüder fühlten, konnte ich an ihren müden Gesichtern ablesen. Rusrala, der hundertfünfzigjährige Akone, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er wusste, dass er den langen Marsch zurück über den Casoreen-Gletscher nicht überleben würde. Sein einziges Ziel war wohl, nicht in der Eisgruft zu sterben. Müde packte ich meinen Ranzen zusammen und gab das Kommando zum Aufbruch. Tamiljon und ich gingen an der Spitze des Trupps und sicherten aufmerksam nach allen Seiten. »Was hast du in der Silbersäule erfahren?«, fragte er mich. »Und wie hast du es geschafft, in sie einzudringen?« »Später«, wich ich aus. Die Kopfschmerzen machten sich erneut bemerkbar, das Denken fiel mir schwer. In Wellen schwappten migräneähnliche Anfälle über uns hinweg, drohten, unsere Köpfe zu zersprengen, und ebbten dann für kurze Perioden wieder ab. Sie erreichten zwar nicht mehr jene Intensität wie bei unserem Marsch hierher, waren aber dennoch eine stetige Belastung. Ich fühlte das Nano-Armband an meinem rechten Handgelenk. Es war ein eigentümliches Gefühl, diesen quecksilberfarbigen Diener an meinem Körper zu wissen. Was konnten die NanoModule? Würde ich sie vollends beherrschen lernen? Ich musste mich so bald wie möglich 41
mit diesem Thema beschäftigen. Schließlich handelte es sich um das einzige hoch technologische Werkzeug, das mir derzeit zur Verfügung stand. Konnte es mich zum Beispiel gegen telekinetische Beeinflussung schützen? Wir näherten uns dem Eingang zum Eislabyrinth. Auch hier waren Spuren des Shainshar zu sehen. Es hing vermehrt an Stalagmiten oder bildete kleine, kreisrunde Pfützen. Es wuchs, das war nicht zu übersehen. Wie es sich reproduzierte, wussten wir hingegen nicht. »Da ist der Einstieg, durch den wir gekommen sind«, sagte ich bestimmt und deutete nach vorne. »Zündet die Fackeln an.« Ich blickte mich ein letztes Mal um. Vier der riesenhaften Murmeln ruhten nur einige Dutzend Meter von uns entfernt im Halbschatten, nahezu verborgen. Auf dreien, die jeweils einen Durchmesser von dreißig Meter hatten, thronte die vierte, ebenso große. Was auch immer die Kugeln für eine Funktion hatten – wir würden es nicht erfahren. »Die Fackeln«, murmelte Tamiljon und reichte mir ein brennendes Scheit. Ich ging erneut voran. Eine kleine Bodensenke erwartete uns. Der tiefste Punkt hier im Eis. Danach würde es aufwärts gehen, mehr als zweihundert Meter. Ich folgte der ersten Rechtsbiegung über scharfkantiges, unregelmäßig geformtes Eis und ... »Rückzug!«, rief ich. »Sofort!« »Was ist los? Warum geht es nicht weiter?« Die Männer protestierten lauthals, als ich sie zurückdrängte. »Es gibt kein Weiterkommen«, antwortete ich müde. »Die Braune Pest versperrt uns den Weg. Wir sind eingeschlossen.« * Unsere Laune war auf einem neuerlichen Tiefpunkt angelangt. Ich sah mürrische Gesichter, wohin ich auch blickte. Nein. Dies waren Gesichter von Männern, die sich aufgegeben hatten. Als seien sie bereits tot und warteten nur darauf, dass ihre Herzen zu schlagen aufhörten.
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Nur Tamiljon und Lelos Enhamor zeigten so etwas wie Entschlossenheit. Die Mimik des zweiten Blues, Caless Lilak Tadyn, konnte ich nicht deuten. Seit dem Tod seines Artgenossen sprach er kaum mehr und starrte wie seine übrig gebliebenen Ordensbrüder nur noch trübe vor sich hin. Wir entzündeten schweigend ein Stövchen, bereiteten Tee und wärmten unsere Hände. »Es gibt immer einen Ausweg.« Niemand widersprach mir, niemand antwortete. Ein schlechtes Zeichen. »Wir müssen eben unseren alten Plan verfolgen und Litrak finden. Wir werden ihn einfangen und uns mit ihm arrangieren. Er wird wissen, wie man die Eisgruft verlassen kann ...« »Bei allem Respekt«, fiel mir Ranin Rauva ins Wort, »du faselst Unsinn. Keiner kann den Ewigen Litrak , dieses Kristallmonster, stoppen. Woher nimmst du eigentlich die Sicherheit, dass er sich noch in der Eisgruft befindet?« »Ich habe am Eingang zum Eislabyrinth keinerlei Spuren gesehen«, antwortete ich. »An den Engstellen hätte er sich bei seiner Körpergröße mit Gewalt durchdrücken müssen. Auch wenn ich das Litrak mit seinen Körperkräften ohne weiteres zutraue – es wäre nicht unbemerkt vor sich gegangen.« »Der Ewige muss etwas planen«, warf Tamiljon ein. Ganz plötzlich war er hellwach und bei der Sache, während er die letzten paar Minuten geistesabwesend vor sich hin gestarrt hatte. »Wir dürfen nicht vergessen, dass diese ganzen Gebilde hier«, ich deutete nacheinander auf die Riesenmurmeln, eine der übrig gebliebenen Zwiebelkuppeln, die Silbersäulen und die hohen Spitztürme, »Überbleibsel einer hoch technisierten Umgebung sind.« Ich hielt meine Formulierungen sehr allgemein. Nach wie vor hatte ich keine Lust, über meine Erfahrungen in der Silbersäule zu plaudern. »Litrak wird möglicherweise versuchen, die strahlende Kuppel zu desaktivieren, um so entkommen zu können. Oder er bemüht sich, wie ich eine der Silbersäulen zu betreten ...« Aus der Ferne drang ein Klageton zu uns. Ein Zirpen, das ich heute bereits einmal gehört hatte. Es war der Todesschrei eines 42
Biophoren-Spiegelwesens. Neuerlich hatte das Shainshar ein Opfer gefunden. Würde es weiter wachsen? Wann würde es uns erwischen? Wir rückten näher zusammen und schwiegen, als könnten wir dadurch die Braune Pest von uns fern halten. Draußen, außerhalb der Energiekuppel, wurde es schlagartig dunkel. Eine unruhige, von Alpträumen geplagte Nacht lag vor uns. Rusrala, der alte Akone, nahm einen anderen Weg. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war er bereits tot und mumifiziert. * Am späten Vormittag fanden wir erste Hinweise auf den Kristallenen. Frische Kratzspuren an einer der aufeinander gehäuften Riesenmurmeln bewiesen eindeutig, dass er noch in unserer Nähe war. Ich wies meine Begleiter an, in zwei Vierergruppen nach weiteren Hinweisen zu suchen und dabei allergrößte Vorsicht walten zu lassen. Aus gutem Grund ging ich alleine auf die Suche. Ich begann in aller Heimlichkeit, die Möglichkeiten der Nano-Module auszuloten. Einfach formulierte Befehle ermöglichten es mir, Teile davon wegzuschicken. Einige wenige silbern reflektierende Partikelwolken befahl ich in den See der Braunen Pest – und sah sie nie wieder. Das Shainshar verhielt sich die meiste Zeit passiv, sobald es jedoch Beute roch, spürte, sah, wurde es unruhig. Nach mehreren Stunden der Übung gelang es mir, kleine Nano-Kolonien an markanten Punkten der Eisgruft zu platzieren. Sie klebten nahezu unsichtbar an Stalagmiten, bizarren Eisfiguren, Relikten und allen Gebäuden. Sie bildeten ein in sich geschlossenes Überwachungssystem, das mir binnen Bruchteilen einer Sekunde mitteilen würde, wann und wo Litrak sich blicken ließ. Ich sammelte die Ordensbrüder und ließ sie nahe einer der Silbersäulen ruhen. Meine Gefährten konnten mir nun nicht mehr helfen. Der Kristallene war allgegenwärtig – und dennoch bereits wieder verschwunden, wenn ich einem Alarm folgte, der durch meinen Geist gellte. Er ging mir aus dem Weg.
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Möglicherweise empfand er meine Gegenwart als lästig, oder er wollte sich mit einem minderen Wesen wie mir nicht abgeben. Es war zum Verrücktwerden! Es gelang mir einfach nicht, den Bereich von einem knappen halben Quadratkilometer zu kontrollieren. Ab und zu bekam ich schwache kristallene Reflexionen zu sehen. Einen Körper, der in wahrhaft gewaltigen Sprüngen hin und her hetzte, scheinbar sinnlose Tätigkeiten ausführte und schließlich spurlos verschwand. Ich schrie nach Litrak, verwendete das Idiom der Mächtigen und die Vorgängersprache – doch er reagierte nicht. »Gib es auf!«, riet mir Tamiljon nach dem vielleicht zwanzigsten Versuch. »Wenn der Gott es nicht will, wirst du ihn nie zu Gesicht bekommen.« »Das ist kein Gott!«, herrschte ich ihn an. »Vielleicht eine besondere, höhere Art von Leben. Aber auch Litrak ist nicht unfehlbar. Sonst hätte er nicht in dieser Falle, in diesem Gefängnis gesteckt.« Tamiljon schwieg. Ich sah, dass es unter seinem glatten, absolut haarlosen Schädel gehörig arbeitete. Ein Leben lang anerzogene Reflexe standen im Widerstreit zu seinem zweifellos stark ausgeprägten Intellekt. Und noch etwas vermeinte ich zu spüren: einen dritten Einfluss, der auf ihn einzuwirken versuchte. Etwas, das ihm immer wieder zuflüsterte. Erneut schrillten in meinem Bewusstsein die Alarmglocken. Die Nano-Module, mit denen ich in Verbindung stand, meldeten, dass Litrak in der Nähe einer Zwiebelkuppel aktiv wurde. Ich achtete nicht mehr weiter auf meinen Begleiter und eilte davon. Ich sah ihn! Ich konnte ihn erstmals richtig in diesem Halbdunkel erkennen, an das ich mich längst gewöhnt hatte. Was machte er für merkwürdige Bewegungen? Warum kratzte er über die Hülle der riesenhaften Kuppel? Wollte er mit Gewalt in sie eindringen? Sein vier Meter langer Körper stand auf den fragil wirkenden, tausendfach geschliffenen Facettenbeinen. Die glänzenden Mandibeln kratzten hin und her, verursachten ein enervierendes Geräusch an der Außenhülle der Kuppel. 43
Mit einem riesigen Satz, sicherlich mehr als zehn Meter weit, entfernte er sich. Blieb noch einmal stehen, drehte seinen Kopf zu mir, als amüsiere er sich über meine Bemühungen. »Litrakduurn!«, schrie ich ihm zu. Scheinbar interessiert verharrte er. Ich verlangsamte mein Tempo und näherte mich ihm ruhig, ohne hastige Bewegung bis auf zehn Meter. »Wir müssen miteinander reden«, begann ich ... und weg war er. Mit drei, vier weiten Sprüngen gewann er ausreichend Distanz, so dass ich ihn aus den Augen verlor. Ein Schaben, das durch Mark und Bein ging, war das Letzte, was ich hörte. Ich hätte schwören können, dass er mich auslachte. * Der Tag ging zu Ende, und mit ihm schwanden meine Hoffnungen weiter. Ich verteilte großzügig Teile unserer Nahrungsvorräte. Die Toten, denen ich sie abgenommen hatte, würden sie nicht mehr benötigen. Wir Lebenden mussten bei Kräften bleiben und an unsere Chance glauben. Lelos Enhamor, der Springer Lebriina sowie Aundar-Aundar meditierten. Die Ordensbrüder Ilvin Mouna, Nunar Jhantar, Tadyn und Ranin Rauva unterhielten sich leise, während Tamiljon etwas abseits saß und vor sich hin starrte. Mich ignorierten sie gänzlich. Sie entfernten sich immer mehr von mir, sowohl geistig als auch räumlich. Sie hielten mich für einen Narren. Nun – sie hatten nicht die Geduld eines Arkoniden, dem die Ewigkeit gehörte. Das Shainshar war den Tag über ruhig geblieben. Auch die Stärke der Kopfschmerzen hatte sich in einem Bereich eingependelt, in dem ich sie zwar spürte, aber kaum mehr als störend empfand. Nach wie vor kommunizierte ich mit den Nano-Modulen, die ich verteilt hatte. Meine Hand fühlte sich warm an. Eine besondere Form der Affinität zu ihren Ablegern schien von dem quecksilbernen Band auszugehen. Es fühlte sich an, als wäre ich die Spinne in einem fein gewobenen Netz. Spinnennetz ... Eine vage Idee formte sich in meinem Kopf. Etwas, mit dem ich am
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft »Niemand kann das«, entgegnete mir Ranin Rauva mürrisch und kaute weiter an seinem Streifen Dörrfleisch. Vorsichtig formulierte ich meine nächsten Worte. »Ihr wisst, dass ich gewisse Fähigkeiten habe. Schließlich gelang es mir, in die Silbersäule einzudringen. Nicht nur das; ich beherrsche nunmehr einen Teil der Substanz, aus der die Silbersäulen bestehen.« Ich hob meinen Arm und deutete auf den Silberring. Die Männer sahen nun doch interessiert zu mir herüber. Bislang hatte ich eisern geschwiegen, wenn es um meinen Aufenthalt in der Säule gegangen war. Diese Neuigkeit weckte ihr Interesse. »Was hast du vor?«, fragte mich Enhamor. »Und wie soll dir dieser Ring helfen?« »Ich habe Litrak mit Hilfe des Bandes eine Falle gestellt, und ich möchte euch alle bei mir haben, wenn sie zuschnappt.« Ich erwähnte nicht, dass ich sie bloß in meiner Nähe haben wollte, um sie, so weit es ging, vor dem Shainshar zu schützen. Wenn ich den Vermutungen und Berechnungen des Extrasinns vertrauen konnte – und das tat ich seit mehr als zwölftausend Jahren –, würde die Braune Pest heute oder spätestens morgen die Eisgruft gänzlich überschwemmt haben. Erneut bebte der Boden, und erneut meinte ich, Maschinen anlaufen zu hören. Litrak experimentiert mit den Aggregaten, die den Energieschirm steuern, mutmaßte der Extrasinn. Er will ihn zum Erlöschen bringen. Warum hat er nicht wie wir den Umweg durch das Eislabyrinth nach oben genommen?, hielt ich ihm entgegen. Ich bekam keine Antwort. Irgendetwas stimmte nicht an unseren Überlegungen ... »Wir kommen mit dir«, unterbrach Tamiljon meine Gedanken. Er und die anderen Männer hatten kurz beratschlagt und eine Entscheidung getroffen. »Dann folgt mir«, sagte ich grimmig. »Das ist wahrscheinlich unsere letzte Chance. Wir müssen sie nutzen.«
nächsten Morgen experimentieren wollte. Doch zuerst mussten wir die Nacht überstehen. Ich vermutete, dass sich die latente Bedrohung durch die Braune Pest jederzeit explosiv ausweiten konnte. Was auch immer sie zum Wachsen anregte – ich durchschaute es nicht, konnte keinen wie auch immer gearteten Ausbreitungsrhythmus erkennen. Ich hatte deshalb aus Sicherheitsgründen angeordnet, dass immer drei von uns gleichzeitig eine Wachschicht übernehmen sollten. Es wurde eine unruhige Nacht. Nicht wegen des Shainshar. Stetig stärker werdende Vibrationen und mechanische Geräusche drangen aus dem Boden zu uns. Litrak schien allmählich zu erreichen, was er sich vorgenommen hatte. * Der 29. April 1225 NGZ brach an. Ranin Rauva, Ilvin Mouna und ich hielten seit drei Stunden Wache. Ein Plan hatte in den letzten Stunden in meinem Kopf Form angenommen. Sobald sich die ersten Anzeichen von Helligkeit durch die Energiekuppel stahlen, verabschiedete ich mich vom Überschweren und dem Arkoniden. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Erneut hatte sich das Shainshar über Nacht unbemerkt weiter ausgebreitet. Überall standen nun kleine Tümpel, aus denen es hochblubberte. Noch war es ein gezügeltes Wachstum. Aber ich befürchtete, dass ein bloßer Funke, eine Art Initialzündung, genügte, um die Braune Pest erst richtig in Fahrt zu bringen. Ich erreichte die Kugelpyramide. Hier hatte ich bislang die stärksten Aktivitäten Litraks angemessen. Konzentriert erschuf ich meine Falle. Die Nano-Module benötigten einige Zeit, bis sie verstanden, was ich von ihnen wollte. Schließlich schwebten sie davon und formierten sich. Einigermaßen befriedigt kehrte ich in unser kleines Lager zurück. »Die Arbeit des gestrigen Tages war nicht umsonst«, rief ich meinen Begleitern von weitem zu. »Ich weiß jetzt, wie ich Litrak einfangen kann.«
* Es gab keinerlei Anhaltspunkte, ob und wie Litrak unsere Anwesenheit spüren konnte. Ich 44
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Vergiss nicht, wie du mich nanntest: Kosmokratenknecht. Ich bin tabu für dich«. Ich konnte nur hoffen, dass ich Recht hatte. »Du wirst mir nun zuhören müssen, ob du willst oder nicht!«, fügte ich hinzu, nicht ohne Genugtuung. Mittlerweile hatte ich größte Probleme, die fein gesponnenen Fäden an Ort und Stelle zu belassen. Litrak wehrte sich mit aller Vehemenz gegen meinen Zugriff. Ich spürte, dass ich den Kristallenen nicht lange würde halten können. »Das ist also der Gott, den wir verehrten«, sagte Ilvin Mouna verbittert. Der Arkonide und die anderen Ordensbrüder waren mir gefolgt und blickten mit weit aufgerissenen Augen auf das Monster, das ich gefangen hatte. »Bleibt weg!«, mahnte ich erschrocken. Diese Narren! »Seine Beine sind frei ...« Eine einzige Bewegung, ein Zucken mit dem Fuß, und der Leib Mounas war durchbohrt. Litrak zog den Körper zu sich heran und schleuderte ihn mit einem Ruck von sich. Vierzig oder fünfzig Meter weit. »Nein!«, brüllte Ranin Rauva unbeherrscht und stürzte sich wider jede Vernunft auf das kristallene Wesen. »Du wirst ...« Weiter kam er nicht. Litrak zerfetzte ihn. Und ließ dabei jenes schauriges Geräusch hören, das ich für ein Lachen hielt. Zwei weitere Kameraden waren gestorben. Binnen weniger Sekunden. Mit aller Wut, die in mir wuchs, band ich Litrak noch enger gegen die Wand. Ich befahl den Nano-Modulfäden, sich weiter um seinen Leib zusammenzuziehen. Ungeahnte Kräfte wurden in mir frei. Ich wollte ihm Schmerz zufügen, ihn quälen ... »Atlan!«, rief mir Tamiljon erschrocken zu. »Die Braune Pest!« Nicht jetzt! Ich wollte mich mit diesem lebensverachtenden Geschöpf beschäftigen, es ihm heimzahlen ... »Atlan!« Es war ein verzweifelter, ängstlicher Ruf, dem ich folgen musste. Warum nur gerade jetzt? Ich drehte mich um – und sah mich und meine verbliebenen Kameraden vom Shainshar eingekesselt. An allen Ecken und Enden brach das Eis auf. Fontänenartig
hatte eine zumindest optische Tarnung angeordnet. Wir alle lagen unter einer dünnen Schneedecke begraben, eingewickelt in wärmende Decken, keine fünfzig Meter von den Riesenmurmeln entfernt. Es ging bereits auf die Tagesmitte zu, und noch immer hatten wir den Kristallenen nicht zu Gesicht bekommen. Unweit von uns hatte sich die dünne Eiskruste gespalten und große Mengen der Braunen Pest ausgespien. Meine Theorie bewahrheitete sich. Unter unseren Körpern flossen aller Wahrscheinlichkeit nach große Mengen des Shainshar. Irgendwann in den nächsten Stunden würde das Eis gänzlich wegbrechen und Platz machen für den Tod. »Drei Stunden liegen wir hier schon«, murmelte der schlecht gelaunte Ranin Rauva. »Und das auf einen bloßen Verdacht hin.« »Still jetzt!«, zischte ich. In meinem Bewusstsein sprach der Alarm der NanoModule an! Sie hatten Litrak geortet. Ich hob den Kopf, lugte unter meiner Decke hervor – und sah die schemenhafte Gestalt Litraks wenige Meter vor mir. Er verharrte nur kurz. Mit hektischen, scheinbar willkürlichen Sprüngen umkreiste er die Kugelpyramide. Als ob er etwas suchte. Nur noch ein wenig mehr nach rechts, etwas näher an die Kugel heran ... Ein Aufschrei. Hoch, im Falsett-Bereich, und wütend. Ich sprang auf, eilte zu der Kugelpyramide. Bewegungslos stand Litrak da, gegen die Hülle einer Kugel gepresst. Feinste NanoBänder, so dünn, dass sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren, und dennoch stärker als Stahlbänder waren, umhüllten ihn. »Du reagierst auf die Nano-Module, nicht wahr?«, sagte ich, während ich den Kristallenen aus nächster Nähe betrachtete. »Du kannst sie spüren und ihnen ausweichen. Aber nicht, wenn sie gerade mal die Stärke eines Moleküls haben.« Wütend versuchte der Kristallene, sich zu befreien. Mit seinen langen, dünnen Eiskrallen trat er nach mir, rieb den tausendfach facettierten Oberkörper an der Kugel, schüttelte den Kopf, spuckte feine, kleinste Splitter in meine Richtung. »Du kannst mir nichts anhaben, Litrak! 45
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft spritzte die Pest hoch in die Luft, platschte schwer nieder und glitt dann auf uns zu. Waren es unsere Emotionen, die es derart aufpeitschten? Starke Vibrationen erschütterten den Untergrund. Einer der Spitztürme, in der Ferne gerade noch erkennbar, stürzte in sich zusammen. Ein einhundertfünfzig Meter hoher Koloss zerfiel zu Staub! Ich sah verzweifelt umher – und erblickte den Untergang der Eisgruft. Alles um mich herum wackelte und bebte. Ein Knistern, Krachen und Donnern ertönte, scheinbar auch von außerhalb des Höhlendoms. Weitere kleinere Relikte wurden binnen weniger Augenblicke vom Shainshar überwuchert. Ich verlor den Überblick und die Kontrolle über Litrak. Eine momentane Unaufmerksamkeit genügte dem Kristallenen, um sich loszureißen und die NanoMolekülbänder zu zerfetzen. Er blieb hoch aufgerichtet, schlug dreimal triumphierend auf die Zwiebelkuppel ein – und war mit einem einzigen Satz zwischen uns ... Lethem: Höllenritt Es gab kein einziges Argument, das für die Nutzung Dismeeder Bonweerds als Transportmittel sprach. Außer, dass sie in Eile waren. Deshalb saß Lethem gemeinsam mit Kythara, Falk, Ondaix und Zanargun auf dem monströsen Saurier und ließ sich westwärts tragen. Seit vier Tagen. Mittlerweile schrieb man den 29. April 1225 NGZ. Vor mehr als einem Monat waren sie von Viinghodor aus aufgebrochen, um Atlan zu suchen. Sie hockten auf behelfsmäßig gefertigten Sätteln, die sie zwischen vorstehenden Schuppenauswüchsen befestigt hatten. Einzig und allein die Maghalata ließ sich die Mühen der Fortbewegungsart nicht anmerken. Lethem hingegen hatte mehr als einmal seinen Magen erleichtern müssen. Das unrhythmische Schwingen des Körpers und der penetrante Eigengeruch des Fonshoord ergaben eine äußerst unvorteilhafte Mischung. Sie hatten einige Silbersäulen passiert, aber 46
nicht in sie eindringen können. Viele der Relikte waren defekt oder möglicherweise desaktiviert. Ab und zu tauchte die Goldene Technostadt in ihrer Nähe auf. Sie torkelte, kippte leicht vornüber, fing sich wieder und änderte vollkommen unmotiviert ihre Flugrichtung. Als Lethem daran dachte, dass er sich einmal gewünscht hatte, an Bord der Stadt zur Gebirgsfestung Grataar zu gelangen, wurde ihm schwindlig. Immer bedrohlichere Zeichen zeigten sich am Himmel. Die polarlichtgleichen Erscheinungen blieben nunmehr Tag und Nacht bestehen. Sternschnuppen fielen im Minutentakt vom Himmel. »Dort!«, rief Ondaix ihm zu. Der Springer saß drei Schuppenzacken vor ihm und deutete nach rechts auf einen lautlos herabstürzenden Meteoriten. Die Schallwellen würden sie erst in ungefähr einer Minute erreichen. »Das ist bisher der größte!«, bemerkte Lethem. Mehr wollte ihm dazu nicht einfallen. Seine Sinne waren abgestumpft. Was machte es noch für einen Unterschied, ob einer der Brocken zwanzig oder fünfhundert Meter im Durchmesser hatte? Rot glühend kamen sie heruntergeschossen und bohrten sich ins Gestein. Der nördliche Horizont brannte. Riesige schwarze Wolken trieben heran. Vulkane spien Feuer. Kythara näherte sich Lethem. Sie war die Einzige, die es wagte, sich während des Rittes über den Rücken Dismeeders hinweg fortzubewegen. Geschickt wie eine Bergziege sprang sie von Zacke zu Zacke, nutzte Hautfalten, um sich festzukrallen, oder balancierte freihändig über die zernarbte Lederhaut. Schließlich setzte sie sich neben Lethem. »Dort vorne ist die Festung!«, schrie sie ihm ins Ohr. »Wir haben es fast geschafft!« Die Varganin lachte verwegen. Lethem blickte nach vorne. Tatsächlich. Einige hohe Türme, grazil und kühn nach oben ragend, wurden zwischen schroff geformten Bergen sichtbar. Es waren vielleicht noch fünfzehn Kilometer Luftlinie zu überwinden. Lethem nahm einen zwei Meter langen angespitzten Stab zur Hand und stach ihn mit
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft aller Wucht ins Fleisch des Fonshoord. »Aiii!«, schrie Dismeeder auf, bewegte behäbig seinen pilzförmigen Schädel zu ihnen und wackelte mit dem Körper bedrohlich hin und her. »Ein bisschen mehr nach rechts, wenn’s beliebt«, sagte er, »dort juckt es mich!« »Wir möchten bitte eine kurze Orientierungspause machen!«, sagte Lethem. Der Fonshoord legte hohen Wert auf gute Umgangsformen. »Gerne! Mir soll’s recht sein ...« Der Saurier blieb stehen und legte sich platt auf den Bauch, alle Beine und Tentakel von sich gestreckt. Mit Hilfe eines langen Seils kletterte Lethem die mittlere Zackenreihe bis zum langen Schwanz hinunter, dicht gefolgt von Kythara und den anderen. Unten angekommen, bemühte sich Lethem, die Verspannungen mit ein paar Gymnastikübungen zu verscheuchen. Ihm schwindelte, und ihm war während der letzten vier Tage schlecht. Währenddessen verzog sich Dismeeder, um sein Geschäft zu verrichten. »Wir haben es geschafft!«, sagte Lethem schließlich. »Ich wagte schon nicht mehr, daran zu glauben.« Erleichtertes, befreites Lachen seiner Gefährten drang in seine Ohren. Sie schüttelten sich die Hände, umarmten sich, gratulierten sich gegenseitig. Die Gruppe hatte das nahezu Unmögliche vollbracht, hatte allen Gefahren getrotzt und war bis zu Sardaengars Gebirgsbastion vorgedrungen. Ondaix warf sich im Schatten eines hoch gewachsenen Nadelbaumes nieder und stillte seinen Durst aus einem riesigen Wasserschlauch. Die anderen gesellten sich zu ihm. Lethem summte leise vor sich hin. Er fühlte sich mit einem Mal wie befreit. Was auch immer nun kommen mochte – er hatte die Genugtuung, sein Ziel erreicht zu haben. Es mochte bessere Anführer geben – aber er hatte es geschafft! Wind kam auf, und es wurde dunkel. War dies einer jener Wetterstürze, von denen sie bereits mehrere erlebt hatten? Träge blieb er sitzen. Ein paar Sekunden noch, um den verknoteten Magen zu beruhigen ... 47
»Die Stadt!«, gellte Dismeeders Stimme. Mit weiten Schritten kam der Saurier auf sie zugepoltert. Die Stadt? Welche Stadt? Alarmiert sprang Lethem auf, ging einige Schritte zwischen den niedrig hängenden Nadelbaumästen nach vorne und schaute in Richtung der Gebirgsbastion. Nichts. Alles war in Ordnung. Erlaubte sich der sonst so ernste Fonshoord einen Spaß? Erst jetzt bemerkte er den nahezu ovalen Schatten, der sich über sie gelegt hatte. Die Goldene Technostadt. Sie schwebte erneut über ihnen, keine zweihundert Meter hoch. Sie kippte vornüber, direkt auf sie zu. Und diesmal gab es kein Entkommen mehr. Aus. Verloren. Gescheitert. Lethem schloss die Augen. 6. Atlan: Die Erkenntnis Zu vieles geschah auf einmal. Die Nano-Module gruppierten sich auf meinen konzentrierten Befehl hin neu und umschwirrten Litrak in Wolkenform. Sie schafften es, den Bewegungsspielraum des Kristallenen ein wenig einzuschränken. Für Nunar Jhantar, den Lemurer, kam diese Hilfe zu spät. Der Ewige hatte ihn wie ein Stück Fleisch beiseite geschleudert und ihm das Genick gebrochen. Ein rascher Tod. Möglicherweise schöner als jener, der uns bevorstand. Meterhoch ragte die Braune Pest vor uns auf und drohte über uns hinwegzuschwappen. Ob sie auch Litrak töten wird?, dachte ich. Ich hoffte es. Ohne mein bewusstes Zutun wurde ich von einer hauchdünnen Modulschicht eingehüllt, die wie Flüssigmetall glänzte. Ein Teil der Nano-Gruppierungen verteidigte mich selbständig! Die braunen Shainshar-Wucherungen fielen über mich her. Gleichmütig und in immer stärker werdenden Wellen brandeten sie gegen meine Verteidigung an, fraßen Partikel für Partikel aus der mich umgebenden Schicht, verdünnten meine glitzernde
Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Das Gebilde, auf dessen Oberkante wir uns befanden, war in Wirklichkeit eine Goldene Technostadt! Seit Ewigkeiten von Sardaengar im ewigen Eis geparkt und jetzt von seinem Widersacher reaktiviert. Weitere Teile des Eises, das die Plattform bedeckt hatte, brachen ab und rissen Litrak mit sich. Der Kristallene rannte immer schneller über sich verkantende Eisschollen von Hochhausgröße. Mächtige Brocken lösten sich von der aufsteigenden Stadt und krachten mit voller Wucht in den zurückbleibenden Krater unterhalb der Plattform. Litrak umkreiste einen Turm – und warf sich mit einem wagemutigen Satz nach unten. »Schnell!«, rief ich Tamiljon und den anderen über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg zu, »wir müssen zur Mitte der Stadt!« Der Boden neigte sich stärker nach hinten. Ich drehte mich um und sah, dass wir mittlerweile mehr als fünfzig Meter über der Oberfläche schwebten und noch immer höher glitten. »Haltet euch fest!«, schrie ich, rammte mein Messer mit aller Kraft in das Eis und hielt mich am Schaft fest. Alles wirbelte durcheinander. Die Goldene Technostadt drohte zu bersten. Aus den Augenwinkeln sah ich Tamiljon, der sich neben mir an den Stumpf eines Stalagmits geklammert hatte. Wo waren die anderen? Ein Körper prallte gegen den meinen, wurde weitergeschleudert, überschlug sich und fiel, immer weiter zur Kante der Stadt hin. Aundar-Aundar wirbelte über den Rand und stürzte ab. Ich konnte nichts tun ... Aber er konnte es. Der Telekinet. »Tamiljon«, schrie ich ihn an, »rette ihn ...!«
Rüstung. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln. Ich wusste Tamiljon, Lelos Enhamor, Lebriina, Aundar-Aundar sowie den Blue Caless Lilak Tadyn hinter mir. Wenn meine Rüstung endgültig platzte und mich das Shainshar auffraß, waren sie an der Reihe ... Ein Ruck ging durch den Eisboden. Ich fiel. Die Braune Pest verharrte, zog sich mit einem Mal ganz vorsichtig zurück. »Was passiert hier?«, rief Tamiljon. Er richtete sich wie ich langsam auf. Das Krachen, Scharren und Knacksen des Eises wurde unerträglich laut. Eruptiv flogen Teile der Eisplatte wie unter großer Spannung hoch und landeten irgendwo. Unsichtbare Aggregate brummten; der Boden unter uns bebte und legte sich schief! Versank die Eisgruft? Wurde sie endgültig vom Casoreen-Gletscher verschluckt? Im Gegenteil, sagte der Extrasinn mit aller Ruhe. Sieh nach oben! Litrak, das Shainshar, die zerbrechenden Eisplatten – alles war für einen Augenblick vergessen. Denn die Eisgruft hob ab! Sie sprengte das sie umgebende Eis beiseite! In torkelnden Bewegungen fuhr das riesige Gebilde unter hässlichen, scharrenden Geräuschen die mehr als zweihundert Meter bis an die Oberfläche des Gletschers empor. Kaum waren wir auf einer Höhe mit dem Eis, erlosch die strahlende Kuppel mit einem letzten Zischen. Litrak, den ich vollends vergessen hatte, schrie schrill und triumphierend auf. Mit weiten Sprüngen hetzte er davon, über geborstene, wegbrechende Eisplatten hinweg. Geschickt wich er den Shainshar-Seen aus.
Litrak ist aus seinem Gefängnis ausgebrochen und auf der Flucht. Atlan und die verbleibenden Ordensanhänger drohen von den abbrechenden Eisbrocken erschlagen zu werden. Sie retten sich in die Mitte der Stadt in der Hoffnung, dort Schutz zu finden. Bernd Frenz schildert in seinem Roman DIE TECHNOSTADT wie der Unsterbliche mit seinen Gefährten der Gefahr entgeht und die Verfolgung des Kristallenen aufnimmt.
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Obsidian 07 – Sardaengars Botschaft Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2004, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
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