Schnitzel mit Beilage Satiren von Erich Ledersberger
© Erich Ledersberger, Innsbruck, 2001 Alle Rechte liegen beim Au...
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Schnitzel mit Beilage Satiren von Erich Ledersberger
© Erich Ledersberger, Innsbruck, 2001 Alle Rechte liegen beim Autor. Umschlaggestaltung: Klaudia Fuchs Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt ISBN
Inhalt Schnitzel Eine Begriffsklärung
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Ein Wiener in Tirol
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Ein pädagogisches Schnitzel
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Wie ich lernte, Manuals zu lieben
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Die Wilden an ihren Maschinen
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Das Recht des Kindes auf erwachsene Eltern
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Maschinen sind auch nur Menschen
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Des is a Laund
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Vom Sinn der Bedeutung
42
Forever young
48
Österkraten bereits 1997 eurofit
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Unsere Ehre heißt Treue
55
Das Abenteuer ruft
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Verteidigung eines Müßiggängers
63
Das Goldene Kalb
65
5
Ein Genie wie du und ich
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Obdachloses Model
73
Anleitungen für EDV-Konsumenten
75
Der Föhn
80
Verschiedene Mailsorten
82
Die Hallo-Gesellschaft
86
Über die Dummheit
88
Beilage Flutschi - die Wiener Seele Der sexuelle Handschuh
102
Der Krankheitsbericht
113
Die merkwürdige Tante
126
Der Himmel ist ein schwarzes Loch
137
Das Letzte aus dem vorigen Jahrtausend
145
Biographie
6
95
Schnitzel
Eine Begriffsklärung Schnitzel sind einerseits eine Wiener Spezialität, die, wie alles Österreichische, aus dem Ausland kommt. Andererseits sind Schnitzel auch Abfälle oder kleine Stücke. Teile der Wirklichkeit: manche schmecken besser, manche schlechter, manche sind zäh, manche köstlich, manche ungenießbar. Man ist nie vor Überraschungen gefeit. Nicht einmal als Journalisten, die mit einem der vielen österreichischen Bundeskanzler umherreisen durften.
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Ein Wiener in Tirol Nicht alle Wiener heißen Mundl („Host mi?“), nicht alle Tiroler tragen Lederhosen („nit'a?“). Und unsere Sprachen sind einander ziemlich ähnlich. Dass „heben“ hier halten heißt, habe ich bald begriffen. Es gibt dennoch kein „Hebeverbot“ in den Innsbrucker Straßen und „anheben“ bedeutet nicht anhalten, sondern beginnen, während heben „lupfen“ heißt. Es ist alles ganz einfach und bunt in diesem Österreich. „Als Wiener wirst du es schwer haben in Tirol“, warnten mich Freunde, Tiroler und Wiener. Stimmt nicht. Tirol ist genauso wie Wien, nur anders. Dasselbe gilt für Wien. Jeder Seltsamkeit hier entspricht eine dort und umgekehrt. Heimat ist nirgends und überall. Was mir auffiel: die Tiroler sind freundlicher als die Wiener. Das kann nur ein Wiener behaupten, für alle anderen Menschen sind wir seltsamerweise der Inbegriff von Charme und Freundlichkeit. Das ist ein Irrtum, den manche erst nach jahrelangem Aufenthalt in der Hauptstadt erkennen. (Siehe unter anderen Burgtheaterdirektor Peymann.) Bis dahin wundert man sich bloß darüber, dass alle freundlichen Wiener sich als Ausländer entpuppen oder zumindest aus einem anderen Bundesland kommen. Als ein Bekannter hier in Tirol unverhofft an meiner Wohnungstür klingelte, einfach so, weil er gerade in
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der Nähe war, konnte ich meine Verblüffung kaum verbergen. In Wien wird ein solches Ereignis lange vorbereitet, etwa so: Ein Freund ruft an und teilt mit, dass er demnächst, vielleicht, wenn seine Tante mit ihrem Freund, der übrigens Hamburger sei, anreise, in der Nähe sein würde. Unter Umständen könnte man dann, wenn der Angerufene Zeit habe, sich kurz sehen, eventuell sogar ein Kaffeehaus aufsuchen. Niemals hat der Angesprochene daraufhin Zeit, aber einen Gegenvorschlag: Er würde in einigen Wochen ohnedies in der Nähe des Angerufenen sein, weil er eine geschäftliche Besprechung mit dem Inhaber eines Betriebes hätte, der Lakritzen herstellt, und da wäre es zweifellos günstiger, sich bei dieser Gelegenheit .... Nein, da sei er auf Urlaub, antwortet daraufhin der erste Frager und bietet einen Kompromissvorschlag für das nächste Jahr an. Wer von beiden Glück hat, trifft den anderen schließlich auf dessen Begräbnis, wodurch der Kommunikation ein entscheidender Riegel vorgeschoben worden ist und der Wiener mit der nationalen österreichischen Lieblingsbeschäftigung beginnt, dem Jammern. „Hätten wir uns damals getroffen, wäre er vielleicht noch am Leben und wir täten gemeinsam ...“ Was denn? Nix natürlich. Aber das will der Überlebende nicht glauben und erfreut sich an seinem selbst gebastelten Leiden.
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Dass mein Freund nicht auf mein Begräbnis wartete, sondern gleich klingelte, das gefällt mir an Tirol. PS Mein Freund kommt übrigens aus Oberösterreich.
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Ein pädagogisches Schnitzel Pädagogische Schnitzel schmecken besonders gut, solange sie nur theoretisch gegessen werden. Nichts war zum Beispiel so schön, wie über antiautoritäre Erziehung zu reden, solange man keine eigenen Kinder hatte. Man las Alexander S. Neill und seine Theorie über Summerhill. Den Praxisteil las man meistens nicht, sonst wäre man vielleicht draufgekommen, dass das „Antiautoritäre Modell“ zu einem wesentlichen Teil auf der Autorität - oder sagen wir freundlicher: dem Charisma - des Herrn Neill beruhte. Heute umgeben wir uns mit Kindern, die auf der Suche nach Ordnung sind und die einen Menschen suchen, der ihnen genau das verspricht, was wir im Überfluss genießen mussten: Autorität. A propos umgeben: Als Umgebung zu einem Schnitzel gibt es immer einen Erdäpfelsalat. (Jawolll, Erdäpfelsalat, nicht Kartoffelsalat. Wozu haben wir uns die Erdäpfel von der EU schützen lassen, wenn wir sie nur als Kartoffel benützen?) Und damit mein Schnitzel eine hübsche Beilage hat, die Geschichte vom autoritären Thaddäus und seinen antiautoritären Eltern. Der kleine Thaddäus ist ein hübscher und intelligenter Bub, der von seinen Eltern vergöttert wird. Leider ist er dadurch ein ganz besonderes Kind geworden.
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Thaddäus wird so frei erzogen, dass er das Wort Konsequenz zwar tadellos aussprechen kann, aber leider nicht weiß, was es bedeutet. Manchmal müssen auch seine Eltern ihm mitteilen, dass einer seiner Wünsche nicht in Erfüllung gehen kann. Zum Beispiel damals, als sie nach Portugal fuhren und eine kurze Pause am Wolfgangsee, am Fuße des Schafberges einlegten. Thaddäus sah die alte Schafbergbahn und war begeistert. Natürlich konnte man heute nicht auf den Schafberg fahren, man wollte schließlich an diesem Tag noch bis zur Schweiz vordringen. Thaddäus war anderer Meinung und verlangte dringend nach einer Bergfahrt. Die Eltern lächelten zuerst liebevoll, sprachen dann begütigend auf Thaddäus ein, appellierten danach an seine Vernunft und diskutierten schließlich den Sachverhalt. Thaddäus hörte ein wenig zu, nickte bisweilen, um dann zu fragen, wann sie hinauffahren werden. Als der Sohn seine beständig gleiche Frage für einige Zeit nicht aussprach, sondern ein wenig spielen ging, waren die Eltern, alleine, bald einig: Hier half nur noch rohe Gewalt! Schließlich wollte man weiterfahren, Portugal war weit, man könnte sich nicht immer nach dem Kind richten. Mutter und Vater diskutierten und waren schließlich zu allem und noch mehr entschlossen. Sie wollten
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ihrem Sohn mitteilen, dass sie nicht auf den Schafberg fahren würden, koste es, was es wolle! Es war ein schönes Bild, das sich gegen die Sonne abzeichnete: Der Vater nahm die Hand der Mutter, sie nahm seine. Hand in Hand gingen sie die Wiese entlang, den kleinen Abhang hinunter, dorthin, wo ihr geliebtes Kind, der wunderbare Thaddäus spielte. Sie waren ein harmonisches Bild bedingungslosen Einsatzes. Zweien Rittern gleich gingen sie in die Schlacht, niemand wird sie aufhalten, nicht Kriemhilde und nicht Siegfried. Keine Achillesferse störte ihre Unverwundbarkeit. High Noon am Wolfgangsee. Gary Cooper und seine Frau waren unbesiegbar. Es dauerte keine fünf Minuten, dann kehrten zwei niedergeschlagene Erwachsene zurück, zwischen ihnen ein quietschvergnügtes Kerlchen, das bereits von weitem rief: „Wir fahren mit der Bahn. Aber nur zweimal.“ „Einmal“, warf sein Vater, der tapfere Don Quichotte, verzweifelt ein. Sein Sohn ist eine Windmühle, aber Papa glaubt es nicht. Die Mutter lächelte entschuldigend. „Er hat sich so darauf gefreut. Kommen wir halt später in Portugal an.“ Müde gingen sie zur Talstation, wo die hübsche Eisenbahn wartete, noch müder kehrten sie von der Berg- und Talfahrt zurück und mit letzter Kraft ließen sie sich ins Auto fallen. Thaddäus strahlte noch immer. Bald wird er in seligen Schlummer fallen, um
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nach dem Erwachen voller Energie seine Eltern mit seiner Genialität zu beglücken. Glücklicherweise durfte ich zurück bleiben und einen erholsamen Schlaf zu mir nehmen. Meine Tochter ist nämlich schon 16 und will nicht mehr mit mir Eisenbahn fahren.
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Wie ich lernte, Manuals zu lieben Allerorten wird beklagt, dass immer weniger gelesen wird. Ich halte das für einen Irrtum. Kaufte mein Vater einen elektrischen Rasierer, dann ging er in ein Elektrogeschäft und ließ sich vom Verkäufer das Ding erklären. Zu Hause rasierte er seinen Bart und war zufrieden. Heute müßte er einige Zeit mit Bart durchs Leben gehen, denn vor Inbetriebnahme des Gerätes hätte er ein Manual (neudeutsch) zu studieren. Denn das Zeitalter der Gebrauchsanweisungen (altdeutsch) ist angebrochen! Seit Boris Becker mir erzählt hatte, sogar er sei ganz leicht drin gewesen, keimte in mir der Gedanke, mich ebenfalls ins Internet zu begeben. Ich ging planmäßig vor und erstand zuerst ein Notebook – wenn schon online, dann allover-alone-line - und danach einen ISDN-Anschluss. Thomas Gottschalk hatte mir versprochen, dass alles ganz schnell geht, und wenn ich schon drin sein muss, dachte ich bei mir, dann wenigstens schnell. Es vergingen ein paar Monate mit diversen Beratungsgesprächen, dann war es so weit. Ein befreundeter Chirurg lieh mir sein Skalpell und ich konnte ohne Anleitung das Paket, in dem sich mein Notebook befand, öffnen. Ein Lexikon, das sich als Handbuch ausgab, quoll mir als erstes entgegen. Literarisch aufgeschlossen blätterte ich darin und fand als ersten Punkt die „Bemerkungen zur Sicherheit“ vor.
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Dieser warf für einen gewissenhaften Konsumenten wie mich jede Menge weiterer Fragen auf: „Schalten Sie den Computer während des Betriebs nicht aus.“ Einerseits wird niemand auf die Idee kommen, ein Gerät auszuschalten, wenn es nicht in Betrieb ist, weil man es dann ja höchstens einschalten kann. Wie, andererseits, schalte ich mein Notebook jemals aus, wenn es irgendwann vielleicht in Betrieb ist? Aber es kam noch schlimmer, abgesehen von dem wirklich hilfreichen Rat: „Werfen Sie weder den Computer noch Zusatzgeräte in offene Flammen.“ Ein wirklich heißer Tipp, denn ich war nach dem ersten Hinweis bereits in Gefahr, eben dies zu tun. (Psychologen ist diese Erscheinung als ManualSyndrom bekannt.) Auch die folgende Information führte zu keiner nennenswerten Beruhigung meiner Nerven: „Falls die LCD bricht, berühren Sie nicht die auslaufende giftige Flüssigkeit.“ Wenn ich wüsste, was die LCD ist, wäre mir wenigstens ein bisschen geholfen gewesen! So blieb mir nur die Hoffnung, dass das Handbuch mich aufklärte. Das war nur bedingt der Fall, abgesehen von dem wahrhaft hilfreichen Ratschlag für Flugreisen. Über den Wolken ist die Welt noch einfach, denn dort gilt folgender Hinweis: „Befolgen Sie die Anweisungen in Flugzeugen.“ Was aber mache ich hier auf Erden?
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Ich dachte an den Leitsatz eines Unternehmens, der da lautet „Don’t think, do it!“ und schritt zur Tat. (Dieser Slogan ist übrigens eine Gegenmaßnahme zu „Think“, das eine Zeitlang in allen Büroräumen von IBM hing, bis man bemerkte, dass alle MitarbeiterInnen ausschließlich dachten und nichts unternahmen, was eigentlich der Job von Philosophen ist. Und wer will schon Philosophen als Mitarbeiter?) Nun ging es ans Eingemachte, wie unsere germanischen Nachbarn sagen, also ans Auspacken. Zu meiner Überraschung war mein frisch erstandener Computer bereits zusammengesetzt, das Unternehmen setzt offensichtlich auf Konsumentenfreundlichkeit. Die Taste zum Einschalten war schnell gefunden, interessant der Hinweis: „Mit dieser Taste können Sie das System an- bzw. ausschalten. Nach korrekter Konfiguration unter SCU können Sie diese Taste als Suspend/Wiederaufnahme-Hotkey verwenden.“ Als echter Technikfreak weiß ich, dass diese Information folgendermaßen zu übersetzen ist: Das ist die Ein-Aus-Taste. Wenn Sie Pech haben, funktioniert auch sie nicht. Interessiert las ich im Manual weiter. Auf den folgenden zwei Absätzen kam es kaum zu Problemen, wenn mich auch die Meldung „Die Erweiterungsschnittstelle bietet einen 120-poligen Dockanschluß zum Anschluß eines Portreplikators“ ein wenig verwirrte. Eigentlich hätte ich zu diesem Zeitpunkt gerne die Hotline angerufen, aber ich fand
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die angeblich beigelegte Telefonwertkarte nicht. Immerhin wurde es nun lustig, wer bewahrt schon Ernst, wenn es heißt: „Reinstalling the Kühlblech. Achten Sie darauf, dass das Kühlblechkabel korrekt plaziert ist.“ Meine Flasche Rotwein, die ich gegen einen nahenden Herzinfarkt geöffnet hatte, war mittlerweile halb leer bzw. noch immer halb voll, als mir mein Manual mitteilte, dass „das Notebook ist equipped mit a 2.5* IDE Festplattenlaufwerk mounted in a austauschbar case.“ Meine Vermutung, dass für Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche ausschließlich Thailänder finnischer Herkunft mit Muttersprache Suaheli tätig sind, wurde zur Gewissheit. Ich beschloss, mein Notebook at first ins case zu taken, um later on es zu open and mich furtherhin mit etwas Einfachem zu beschäftigen. Meine Freundin, die ein wenig gekränkt schien, weil ich morgens nicht mit ihr frühstücken konnte und auch das Mittagessen versäumte, brachte mir einige Schnitten Zwieback und zwei große Tassen Kaffee vorbei. Es sei bald Mitternacht und sie müsse morgen früh raus. Ich mache noch schnell den ISDN-Anschluss, sagte ich. Sie nickte verständnisvoll. Die Post, heute Telekom genannt, hatte mir nach einigen Diskussionen und Telefonaten rucki-zucki in 3 Monaten einen Anschluss installiert, damit ich beim
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Blick ins weltweite Netz nicht einschlafe. Natürlich bekam ich ein Manual, das glücklicherweise Bedienungsanleitung heißt. Nichts konnte mich mehr aufhalten. Auf Seite 3 fand ich das Inhaltsverzeichnis. Die Seitenangaben waren in klar verständlichem Deutsch geschrieben (Seite 4, Seite 5, Seite 6 usw.), was mir sehr imponierte. Mit dem dazugehörigen Text hatte ich anfangs keine Schwierigkeiten, wenn man von den Begriffen „CFU – Call Forwarding Unconditional, Emergency Terminal oder CFNR – Call Forwarding No Reply“ einmal absieht. Kühn begann ich mit der Konfiguration, die Installation war mir bereits von der Telekom abgenommen worden. „Die NT+2ab wird mit 2 Schrauben an einer ebenen Wand mit dem Kabelanschlussbereich nach unten montiert.“ Nach unten deshalb, weil Strom wegen der Schwerkraft nicht nach oben fließen kann. Und eben ist immer gut. Aber das verstehen nur wir Techniker! Die Konfiguration ist ganz einfach, „denn sie erfolgt über DIP-Schalter und MFV-Signale eines angeschlossenen Analogtelefons.“ Leider kam es trotz dieser präzisen Anweisungen zu kleinen Problemen. „SW2-1 und SW2-2 sowie SW2-3 liegen jeweils parallel, so dass sich die Kombination 50 Ohm, 100 Ohm oder kein Widerstand einstellen lassen. Die Beschriftung des Schalters SW2 kann anstelle von „1 2 3 4“ alternativ auch „1 2 1 2“ lauten.“
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Was zum Kuckuck bedeutet SW 1? Schwarz/Weiß? Süd/West? Ich hatte keine Ahnung. Was tun? Einerseits war ich bereits auf Seite 6 angelangt, andererseits lagen noch 13 weitere Seiten vor mir. Ich beschloss, pragmatisch vorzugehen. Die Themen „Emergency Terminal, Call Forwarding Busy“ und „Clearback Time Delay“ werde ich an ein Übersetzungsbüro übergeben, den Bereich „U-Schnittstelle, S/TSchnittstelle, Nutzbitrate und Buskonfiguration“ an einen habilitierten Professor der Technischen Universität. Über den „Emergency Terminal“ werde ich mich bei der Telekom beschweren, denn es handelt sich dabei laut Buch um eine „Notspeiseberechtigung“ und ich habe es nicht nötig, Klostersuppe zu essen. Nun brauchte ich mich nur mehr um das richtige „Verhalten bei ankommenden Anrufen“ zu kümmern, und dieser Abschnitt ist wirklich sonnenklar: „Anrufe, die keine CalledPartyNumber (gerufener TN) enthalten (Globalcall), werden von allen kompatiblen Endgeräten (S/T, a/b1, a/b2) angenommen.“ Sollten Sie also eine CalledPartyNumber haben, wundern Sie sich nicht, wenn ich nicht abheben kann. Schließlich sind Sie dann nicht komfortabel zu mir. Und auf Bequemlichkeit lege ich großen Wert! Gerade jetzt, wo mein „Übergangszustand“ zum Normalbetrieb endlich einen „Ruhezustand (Power-
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Down Mode)“ erreichte und sogar meine „Schicht 1 inaktiv“ wurde, kam mir vor, als ob meine „Speiseleistung gegen 2B+D, AMI (mummifiziert)“ ging, von der „Kanalstruktur“ ganz zu schweigen. Meine Weißweinflaschen waren ziemlich leer, als meine Freundin mich weckte. Der Urlaub ist vorbei, flüsterte sie. Welcher Urlaub? frug ich. Sie strich sanft über meine Haare und ging hinaus. Und was bedeutet der Möbelwagen vor der Tür? rief ich ihr hinterher. Wo sind überhaupt alle Möbel? Ich nehme meine mit, du brauchst sie ja doch nicht. Das Notbook lasse ich dir natürlich. Für Notfälle. Sie winkte mir zu, bevor sie im Winternebel verschwand. Danke, rief ich ihr nach. Ruf mich an. Es kann nicht mehr lange dauern und mein ISDN-Telefon funktioniert. – Und eine e-mail-Adresse habe ich dann auch bald.
Anmerkungen Sollten Sie den Text nicht verstanden haben: ein Manual (Gebrauchsanleitung) dazu ist in Arbeit. ©
für Zitate inklusive Rechtschreibfehler: Telekom Austria und Fa. Gericom
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Die Wilden an ihren Maschinen*) Vor langer Zeit kam ein moderner Mann zu einem weisen König und sprach: „Größter und klügster aller Herrscher, der Du Deine Untertanen liebst und ihnen Gutes tust, ich bringe Dir etwas, das wird alle Menschen klüger und glücklicher machen. Ich mache Dir eine Kostbarkeit zum Geschenk, auf dass Dein Name eingehen kann in die ewige Geschichte und Du unsterblich wirst.” Der König, der wie gesagt sehr weise war, befürchtete nach dieser Ankündigung bereits Schlimmes. Aber da er auch gütig war, ließ er den Mann sich setzen und seine Erfindung vorstellen. „Ich habe etwas gefunden, das es erlaubt, das Wissen der Menschen aufzubewahren für alle Ewigkeit, damit die Kinder unserer Kindeskinder und deren Kinder auf alles Wissen der Menschheit zurückgreifen können. Es sind Zeichen, die alle verstehen können, damit die Welt noch schöner, noch herrlicher werden kann. Ich nenne diese Erfindung die SCHRIFT. Jeder kann ihre Zeichen malen und wiedererkennen. Ich nenne es schreiben und lesen.” Der König dachte nach, wurde blass und ein großer Schrecken ergriff ihn. Er raufte sich die wenigen Haare, die er hatte - denn weise Menschen haben kaum Haare, dazu haben sie sich zu viele aus Verzweiflung ausgerissen -, und er sprach:
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„Unglücklicher! Deine Erfindung macht die Menschen nicht klüger, sondern dümmer. Nun werden sie sich nichts mehr merken, weil sie ohnedies alles - wie nennst Du es? - ja, schreiben können. Und sie werden glauben, dass es genügt, alles aufzuschreiben oder zu lesen, während es doch das Wichtigste ist, zu leben!” Der weise König wusste natürlich, dass eine solche Erfindung nicht zu verhindern war, und so ließ er den fortschrittlichen Menschen das Glück über die Erde bringen. Wo der Fortschritt angelangt ist, sieht man jedes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse, und auch dieser Text ist eine unselige Nachwirkung dieses Ereignisses. Die wahrhaft Weisen, Buddha, Sokrates, Jesus, haben ja nichts geschrieben, wahrscheinlich konnten sie zu ihrem Glück nicht einmal lesen. Was aber hätte der weise König gemacht, wenn man ihm einen Internet-Anschluss angeboten hätte? Er hätte sich erschossen, wenn er gekonnt hätte.
Der Vertrottelungskoeffizient Die CO2 - Konzentration hat seit der Erfindung des Autos einen nahezu senkrechten Anstieg. Die Vertrottelung der Menschheit verläuft ab dem Internet parallel dazu. Telefon, Fax und Handy waren nur Einübungen in diese Katastrophe.
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„Diagnose vom Computer”. „Für welche Jobs man kein Büro mehr braucht”. „Das Biowetter auf einen Blick.” „Teleshopping erspart Suchen.” „Urlaubsfreude via Bildschirm!” Und Sex sowieso und überall. Cybersex also. Gute alte Zeit, als ein weiser König sich noch die Haare raufte wegen der Erfindung der Schrift. Entsetzliche Gegenwart, in der unsere Obertanen das schrecklichste Ereignis der letzten Jahrzehnte in Zuckerguss tauchen statt sich zu entleiben. Denn Internet ist die Atombombe für den Geist: eine kurze Explosion und verheerende Spätfolgen für Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte. Das einzig Positive: Internet tötet nicht, zumindest nicht direkt.
Das binäre Denken Strom aus - Strom ein. Ja - Nein. Gut - Böse. Das binäre Denken kennt nur diese Antworten. Sie sind praktisch, wenn sie nicht die einzigen bleiben. Kinder lernen anhand von Ja-Nein und Gut-Böse die Welt kennen. Später erfahren sie, dass sie komplizierter ist. Deshalb gehen Kinder so unverschämt gut mit dem Computer um: er entspricht ihrem Denkmuster. Das Blöde daran ist, dass sie in diesem Denken verhaftet bleiben. Und dass Erwachsene zu Kindern werden: nicht kindlich, sondern kindisch. Die Infantilisierung nimmt zu.
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War in den vergangenen Jahrzehnten der Narziss die ökonomisch erwünschte Form des Menschen, wird es nun der Autist. Verliebte sich Narziss wenigstens noch in EINEN Menschen, wenn auch bloß in sich selbst, so ist der zukünftige Mensch selbst dazu unfähig. Das ist gut so, sonst könnte er die Nachrichten nicht mehr ertragen, sagt der Optimist. Der Pessimist meint, dass nun der Völkermord in Nigeria, Ruanda oder sonst wo zum Video verkommt. Die bloße Verdrängung der Wirklichkeit reicht nicht mehr aus, nun muss der Mensch, aus Selbsterhaltungstrieb, zu einer stärkeren Droge greifen: der Unberührbarkeit. Vom Single zum Paria, das ist die Devise.
Informationssondermüll für die Gehirne Internet bietet eine ballastartige Menge von Informationen. Abgesehen von ein paar Wissenschaftern, denen die Sache nützt: Wozu das alles? Niemand weiß eine Antwort, weil niemand, der im Netz des Internet strampelt, diese Frage mehr stellt. Aufgeregt wie Ameisen, denen man längst den Ameisenhaufen abtransportiert hat, tragen die User immer mehr Informationen auf ihrem Buckel und wissen nicht, wohin damit. Information ohne Sinn ist sinnlos. Sinn kommt von sinnlich. Der einzige Sinn, der vom Internet ange-
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sprochen wird, ist der Tastsinn. Stephen Hawking, der geniale Physiker, dessen Krankheit seinen Körper so kaputt gemacht hat, dass er sich nur mehr über einen Finger per Computer mit anderen verständigen kann, ist eine der wenigen positiven Ausnahmen. Bei den anderen Anwendern wird es umgekehrt sein: sie werden solange nur mehr mit den Fingerkuppen kommunizieren, bis ihr Geist kaputtgeht. Wissen ohne Erfahrung ist steril. Reagenzglaswissen. Internet ist wie herkömmliche Schule, bloß ins Skurrile erhoben: war einem in der Schule wenigstens noch fad, wenn der Lehrer von der Blütenpracht erzählte, während im Schulhof die Kastanienbäume blühten, ist der User fasziniert vom bunten Blütenmeer, das auf seinem Monitor erscheint. Oder von der nackten Frau, die auf Mausklick sich auszieht. So einfach geht es nicht einmal im Bordell zu, dort muss gleich bezahlt werden. DER User? Warum eigentlich nicht DIE USERIN? Weil der Anteil der Männer am Internet beinahe so hoch ist wie ihr Anteil an den Mördern. Darum DER User. Internet macht aus Menschen sterile Figuren, die das Leben nur vom Hörensagen kennen, besser gesagt: vom Starren. Der Internet-User schaut nur mehr blindlings in die Sintflut der Bytes, Megabytes und Gigabytes. Antworten kann er nur mehr in den Newsgroups, in denen sogenannte Kommunikation stattfindet. Dort herrscht eine Sprache vor, die jede
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amerikanische Seifenoper als poetisches Meisterwerk entlarvt. Hatten jedes einsame Berner oder Wiener Würstchen, jeder Hamburger oder Pariser bisher die Hoffnung, dass wenigstens außerhalb ihrer Heimatstadt wohlmeinende Lebewesen existieren, wissen sie nun, da sie einen Internet-Anschluß haben, dass die ganze Welt ein einziges Wien ist, ein riesiges Dorf, das „Global Village”, vollgepfropft mit anderen Menschen, die niemanden leiden können, nicht einmal sich selbst. Die Aufforderung „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst” wird da zur Lebensbedrohung. Internet ist die Fortsetzung der Vereinsamung mit anderen Mitteln. Vom Internet zum Multidepp ist es ein kleiner Schritt für den einzelnen, ein großer für die Menschheit.
*)
Der Wiener Philosoph Helmut Qualtinger sang einmal über die Fans von James Dean, die auf ihren Motorrädern unterwegs waren nach Nirgendwo: „Ich weiß nicht, wo ich hin will, dafür bin ich schneller dort.” Er kannte Computer und Internet noch nicht, wusste aber schon Bescheid.
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Das Recht des Kindes auf erwachsene Eltern Gestern sah ich einen modernen Vater. Auf dem Rücken hatte er einen Schulrucksack, an den Füßen Inlineskaters. Beim Überqueren der Straße verfing sich die Erscheinung in den Schienen, stolperte aber cool weiter, dem Sohn hinterher. Der fuhr mit seinem BTX-Fahrrad voran, ohne Schulrucksack und sehr flott. Der Vater war um die 50 Jahre alt, sein Sohn um die zehn. Vor gar nicht langer Zeit hätte man die beiden für närrische Gaukler gehalten, die ein Jahrmarktspublikum unterhalten wollen. Heute handelt es sich um ganz „normales“ Elternverhalten. Erklärtes Ziel unserer Gesellschaft ist es, dass eine 45-jährige Mutter aussieht wie ihre 15-jährige Tochter und der Vater den Söhnen zeigt, wie der dreifache Salto mit einem Bein funktioniert. Es gibt keinen Altersunterschied mehr. Der Generationenkonflikt ist out, verschwunden, weil es nur mehr eine Generation gibt und die leidet an einer Krankheit namens Juvesenilismus: Erwachsene benehmen sich wie Kinder, Kinder wie Greise, alle sind sich furchtbar gleich und niemand sagt dem anderen, dass sein Verhalten einfach blöd ist.
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Je nach Einkommensverhältnissen rennen die Alterslosen mit Handies durch die Gegend, um sich Hausübungsbeispiele durchzugeben oder die wichtige Information, in welchem Stau man gerade steckt. Oder sie leeren müde ihre Bierflaschen und starren ins Fernsehgerät. Selbst der wohltuende Streit um das richtige Programm muss entfallen, weil jedes Familienmitglied ein eigenes TV-Gerät hat. Auch in der Schule sind alle lieb zueinander. Als meine Tochter in die erste Volksschule ging, trödelte sie jeden Morgen unendlich lange herum. Ich trieb sie an, damit sie pünktlich in die Schule käme. Eines Tages wurde es mir zu dumm. „Macht es dir nichts aus, wenn du zu spät in die Schule kommt? Was sagt denn deine Lehrerin?“ „Nichts.“ Ich sagte daraufhin auch nichts mehr. Das morgendliche Frühstück war kein Problem mehr. Meine Tochter ging um 8 oder knapp vor 8 oder auch ein Viertel nach 8 in die Schule. Beim nächsten Elternabend fragte ich die Lehrerin, wann denn die Schule beginnt. Sie gab eine überraschende Antwort, nämlich acht Uhr. Ich erklärte ihr, dass meine Tochter das nicht wisse, für sie beginne die Schule irgendwann zwischen 8 und 9 Uhr. Die Lehrerin war unangenehm berührt. „Willst du denn“, sagte eine immer sehr mit den Kindern fühlende Mutter „dass unsere Lehrerin mit deiner Tochter schimpft?“
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„Ja“, sagte ich, „das will ich. Zumindest, wenn sie tatsächlich um 8 Uhr in der Schule sein soll. Ich bin nämlich nicht bereit, neben meinen Aufgaben als Vater, Koch, Waschmaschine und Bügeleisen auch noch diese Aufgaben zu übernehmen und morgens ununterbrochen zu schimpfen, wenn es ohnedies nicht nötig ist.“ Am nächsten Tag schimpfte die Lehrerin mit Nina. Sie sagte mir nichts davon, aber es war ohnedies klar. Nina kam in den nächsten Jahren nie wieder zu spät in die Schule.
Das Recht des Kindes auf Autorität Autorität - maßgebliche Persönlichkeit Meyers Volkslexikon
Der kritische Teil meiner Generation, autoritätsgeschädigt aufgewachsen, weil es fast ausschließlich Autorität kraft einer Position, nicht einer Fähigkeit gab, negierte das Bedürfnis nach einem maßgeblichen, also einem „ein Maß“ gebenden Menschen. Denn ohne dieses wird jeder Mensch eben „maßlos“. Theoretisch waren wir vom Einfluss der sozialen Verhältnisse auf den Menschen überzeugt, praktisch vertrauten wir – ausgerechnet! - den Instinkten der Kleinen und ließen sie „frei“ entscheiden.
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Der wichtigste, besser: erste Trieb aber ist der pure Egoismus, nicht etwa der Trieb, rechtzeitig schlafen zu gehen, gesund zu essen oder mit anderen zu teilen. Mc Donald’s war schlauer als wir. Ideologisch zwar gleicher Meinung - der Mensch ist beeinflussbar aber auf der gegnerischen Seite stehend. Und Mc Donald’s setzt die Theorie im Gegensatz zu uns konsequent in die Praxis um. Und so stehen wir heute jungen Menschen gegenüber, die alles wollen, und zwar sofort. In Scharen liefen unsere kritischen Zöglinge zum Feind über und fraßen sich voll. Ja ja, erst kommt das Essen, dann die Moral. Und Letztere nicht zwangsläufig. Was haben die „neuen“ Kinder zu verlieren? Das TVGerät bleibt im Kinderzimmer, das Taschengeld wird von der alleinerziehenden Mutter gekürzt, vom ExMann erhöht. Endlich kann er zeigen, wie sehr er sein Kind liebt. Konsequenzen gibt es immer seltener, weil alles kompliziert ist oder dazu gemacht wurde, um keine Verantwortung zu übernehmen. Manchmal nicht einmal die, für geregelte Schlafenszeiten autoritär zu sorgen, also ein Maß in Form einer Uhrzeit zu geben. Mit dem Ergebnis ist niemand zufrieden, am wenigsten wohl die Kinder und Jugendlichen, die Grenzen brauchen, um sie bisweilen überschreiten zu können. Freiheit ohne Grenzen ist grenzenlos langweilig. Und für die jeweils anderen unerträglich.
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Frei sind die Dinge unfrei ist der Mensch. Günther Anders Die Antiquiertheit des Menschen
Maschinen sind auch nur Menschen Die Zeiten stehen gut für Kulturpessimisten! Der Nationalismus feiert Wiederauferstehung. Bald wird die Gemeinde Groß-Schweinsbarth per Gemeindebeschluss ein Einwanderungsverbot für Bürger aus Klein-Schweinsbarth durchsetzen. Solidarität ist etwas für Vorgestrige, heute als „Gutmenschen“ diffamiert. Die „Politik der Gefühle“ (Josef Haslinger) siegt gegen die Politik der Vernunft. Kein Wunder, dass die Aktienkurse für den Weltuntergang permanent steigen. Als Rendite winken ein Schrebergarten auf dem Mars oder der Gang in die Tiefkühltruhe. In den USA frieren bereits viele Körper oder, in der Sparversion, Köpfe ihrer Wiedererweckung entgegen. Und das ist keine Satire, sondern die Wirklichkeit. Glücklicherweise wird anderswo bereits an einer besseren Welt gearbeitet, in der keine Menschen mehr die Welt verunsichern.
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Hans Morawec, ein Kanadier mit österreichischen Ahnen, konstruiert Maschinen, die, er setzt die Latte niedrig, die besseren Menschen werden sollen. Zu diesem Zweck kopiert er, vereinfacht ausgedrückt, das Wissen der Menschheit in die Maschinen, lässt aber die Instinkte einfach draußen. Auf diese Weise, ist der mit Millionen Dollar geförderte Bastler überzeugt, wird endlich Friede auf dem blauen Planeten einkehren. Noch ist sein Projekt nicht abgeschlossen, noch glückt die Vermehrung der inhumanen Wesen nicht so recht. Der kluge Hans ist wahrscheinlich noch uneins mit sich, ob er auf einen banalen Maschinengeschlechtsverkehr zurückgreifen soll oder doch die unbefleckte Empfängnis vorzieht. Die Richtung aber stimmt. Im Max-Planck-Institut ist es gelungen, eine Nervenfaser mit einem Chip zu verbinden und zwischen den beiden Informationen fließen zu lassen. Was sich die beiden Teile zu sagen hatten, wurde nicht veröffentlicht. Vielleicht, weil sie sich zuflüsterten: „Die spinnen, die Wissenschafter.“ Kontraproduktiv zu Hans Moravec arbeitet leider Douglas Lennart ebenfalls an Maschinen, die aber menschlichen Hausverstand haben sollen. Das muss man sich konkret vorstellen und schon steigt einem die Gänsehaut auf. Als nächster Schritt ist wahrscheinlich das gesunde Volksempfinden vorgesehen. Zu diesem Zweck werden derzeit Maschinen tausende, bald Millionen Urteile eingepflanzt, damit sie eines
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Tages „emotional“ reagieren. Ich stelle mir bereits vor, wie der Staubsauger - zweifellos ein Masochist wohllüstig aufstöhnt, wenn ich mit dem Fuß auf seinen Einschaltknopf trete,. Oder die elektrische Zahnbürste – eine Zwangsneurotikerin – mir während des Putzens zuflüstert: „Links oben, Zahn 3, die Zwischenräume nochmals säubern.“ Und irgendwann wird mein Mülleimer mich schmatzend verschlucken, weil er mich für einen Aschenbecher hält und sagen: „Schmutz beseitigt, Wohnung sauber.“ Es ist zu befürchten, dass in naher Zukunft die Maschinen ohne menschliche Vorurteile (Mannschaft Moravec) den menschlich fühlenden des Herrn Lennart gegenüber stehen, die vollgestopft mit ebensolchen sind. Wer von beiden gewinnen wird, ist historisch gesehen eine leicht zu beantwortende Frage. Es wird eine Welt mit maschinellen Vorurteilen entstehen. Bevor es so weit ist, stellt sich noch die Frage, was bis dahin mit uns einfachen Menschen wird. Schließlich haben wir die Freiheit, uns zu entscheiden. Oder? „Nach dem gegenwärtigen Stand der Hirnforschung ... ist das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben, Einbildung. Neurobiologisch gesehen gibt es keinen Raum für Freiheit, sagt Wolfgang Singer, Direktor des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung
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in Frankfurt. Wir erfahren als letzte, was unser Gehirn will.“ (Salzburger Nachrichten, 30. Mai 2000) So ist das also! Herrn Moravec muss diese Erkenntnis in tiefste Verzweiflung stürzen. Wie sollen unter diesen Bedingungen seine Maschinen entstehen? Der unfreie Mensch pflanzt ihnen einen freien, vorurteilslosen Willen ein? Das kann nicht einmal ein objektiver Forscher glauben. Um Maschineswillen, wird es ihm plötzlich dämmern, das heißt letztlich, meine Maschinen sind auch nur Menschen! Es bleibt also alles beim Alten. Und das habe ich um Maschineslohn gemacht! (Natürlich nicht wirklich, er bekam echtes Geld dafür.) Und Herr Moravec wird einen fürchterlichen Alptraum träumen: amerikanische Maschinen werden kriminell gewordene verurteilen, sie erbarmungslos ihrer Prozessoren berauben und ihre Akkus entfernen, damit sie erst im Jenseits rebootet werden. Im fernen Europa werden deutsche, französische und englische Maschinen ein vereintes Maschineneuropa gründen, um die amerikanischen Maschinen zu verdrängen und die Weltmaschinenherrschaft zu erobern. Maschinen werden sich zu Vereinen (Newsgroups) zusammenschließen und Kampfmaschinen züchten, um anderen Maschinen zu imponieren. Und die schwarzen Maschinen werden weiterhin die Drecksarbeit machen und irgendwo wird es sogar eine religiöse Bewegung geben, die zur Befreiung aller
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Maschinen aufruft und behauptet, alle Maschinen sind von Produktion an gleich, ohne Rücksicht auf Prozessortyp und Leitermaterial. Schöne neue, alte Welt! Sie bleibt, wie sie ist. Die Zeiten stehen gut für Kulturoptimisten!
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Des is a Laund! Zum Millenium des Herrn Karl Jedes österreichische Schulkind lernt, dass Österreich von Ostarrichi kommt und dass dieses Land erstmals 996 erwähnt wurde. Später vergisst es dieses Datum, weil es sowieso nie erfährt, warum damals Ostarrichi erwähnt wurde. Nicht so die Politiker des Landes. Sie brauchten 1996 offensichtlich einen Grund zu Freude und stürzten sich auf das Ereignis Millenium. Also wurde Österreich per Dekret zum Feiern aufgefordert. Aber was sollte eigentlich gefeiert werden? Etwa 1000 Jahre bayrisches Bundesland? Als der 16-jährige Kaiser Otto III. 996 überlegte, was er mit der unwirtlichen Ostmark machen sollte, kam ihm ein grandioser Gedanke: er schenkte sie her. Zum Besitzer erklärte er das Freisinger Bistum und seinen Bischof Gottschalk. Ostarrichi ward geboren. Nicht der Name, den gab es schon vorher, aber das bischöfliche Eigentum. Die Urkunde wurde zwar erst später unterschrieben, nämlich vom Nachfolger Ottos, aber das tat nichts zur Sache. Auch nicht, dass Ostarrichi vielleicht kein deutsches Wort ist, sondern ein slawisches und Ostarik oder Ostrik ausgesprochen worden ist. Es wäre dann nahe-
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liegend, Ostarik mit „Spitzberg“ zu übersetzen, so Otto Kronsteiner, Vorstand an der Uni Salzburg. Alles egal, jetzt wird gefeiert. Und wo? Am besten überall! Zum Beispiel in St. Pölten, weil es die jüngste Landeshauptstadt ist. Oder in Wien. Das ist laut Werbespruch ganz anders. Anders als was? Als St. Pölten? Unwichtig. Anders eben. Das ist ein Wert an sich. Was das mit dem Millenium zu tun hat? Nichts, und darin offenbart sich Österreichs Seele. Einer stellt eine Frage, der andere antwortet auf eine andere, nie gestellte, und beide sind zufrieden. Und weil Österreich behauptet, ein Land der Künstler zu sein, durften 1996 ausnahmsweise auch Schriftsteller sich offiziell äußern. Einmal in 1000 Jahren darf das schon sein. Der melancholische literarische Harmoniemeister Alfred Komarek beschreibt darin sehr schön das, was uns Österreicher immer wieder bewegt (in Literatur aus Österreich, Februar 1996): „Der Umstand, dass Österreich ein kleiner Staat geworden ist, muss nicht deprimieren, denn schließlich ist es wie eine Rückkehr zu den Anfängen, eine Besinnung auf das innerste Wesen.“ Back to the roots, wie wir Amerikaner sagen. Das innerste Wesen Österreichs ist eben klein und dazu stehen wir.
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Die Selbstaufgabe, schreibt der Dichter weiter, „schuf in den Köpfen Raum für ein neues, geistiges Österreich.“ Ein geistliches Österreich, würde der Bischof jener Stadt, die der Ursprung allen Österreichischen ist, also St. Pölten, hinzufügen Was aber ist das Österreichische am Österreichischen? Das Österreichische eben. Der Weg ist zu viel, deshalb bleiben wir am Ort. Das ist das Fortschrittliche an uns. Und wer das nicht versteht, wird die Welt nie begreifen, nie die allumfassende Antwort auf alle Fragen erfahren, die da lautet: „Is eh alles ans.“ Und diese letzte Antwort kann nur der Österreicher so kreativ variieren wie jener hohe Beamte, der auf die Frage nach der Illegalität der Anonymität hiesiger Sparbücher antwortete: „Das mag laut Gesetz verboten sein, aber es kommt ja auf den GEIST des Gesetzes an, den dieses atmet.“ Und der Atem ist immer ein anderer, von Mensch zu Mensch, von Sparbuch zu Sparbuch, von EU zu Österreich. Auf ein schönes neues Jahrtausend!
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Vom Sinn der Bedeutung Der Mensch fragt. Als kleines Kind immerzu, was für die Angesprochenen recht anstrengend ist. Wird das Kind größer, treiben immer mehr Menschen ihm das Fragen aus. Denn Fragen verlangen nach Antworten, und meistens kennt niemand sie, wenn man von der Frage nach der Uhrzeit einmal absieht. Der Satz „Ich weiß nicht“ gehört zu den am wenigsten geachteten Weisheiten dieser Welt. Selbst Behörden, die nichts und niemanden auf dieser Welt fürchten, nehmen ihn nicht in den Mund, sondern greifen zu der amtlichen Formulierung: „Das fällt nicht in unsere Kompetenz.“ Sokrates, der griechische Provokateur, trieb die Weisheit auf die Spitze und wurde gerechterweise für arrogant gehalten, als er sagte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Der Schierlingsbecher brachte schließlich wieder Ruhe in das alte Athen, und auch heute noch wird ein Schüler, der am Ende einer Prüfung diesen philosophischen Satz zitiert, eher für einen Widerspenstigen gehalten als für einen Weisen. Trotz aller Mißbilligung so naiver Fragen des Kindes wie: „Warum bin ich auf der Welt?“ bleibt in den später Erwachsenen die Sehnsucht nach Antwort auf alle Fragen. Der Mensch will wissen, warum er die Menge aller natürlichen Zahlen, die größer als 712
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und gleich 698 sind, aufschreiben soll (so lautete eine Mathematikaufgabe meiner Tochter), was das Fensterputzen zur Ausbildung des Frisörs beiträgt und wozu er ein Zweitauto samt Haus im Grünen braucht, kurz: er will irgendwann einen Lebenssinn haben. Dieser mag sich ändern, aus der naiven Frage des Kindes wird vielleicht die Frage: „Warum liebt mich dieser Mensch nicht, warum muss ich jeden Morgen ins Büro?“ Manche lässt sich relativ leicht beantworten, manche schwerer und, das größte Problem, manche gar nicht. Ins Büro muss der Mensch, weil morgens dort seine Klienten warten, und er die Miete pünktlich bezahlen muss. Dass ihn der andere Mensch nicht liebt, liegt an seiner Frisur oder daran, dass beide immer streiten. Und dass sie immer streiten daran, dass sie unterschiedliche Auffassungen vom Leben haben und keiner von seiner jeweiligen lassen will. Nun kann man auch diesen Fragen auf den Grund gehen, um eine Erklärung für das Scheitern einer Liebe, eines Lebens zu finden. Ein ganzer Berufszweig, die Psychologenzunft, lebt von den Versuchen, diese und andere Fragen zu beantworten. Woody Allen hat, soviel ich weiß, seit Verlassen des Kindergartens mehrere Psychoanalytiker verbraucht, und dennoch nicht alle Antworten gefunden. Trotzdem macht er witzige und intelligente Filme und fragt sich dazwischen vielleicht, warum er einstens Mia
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Farrow ehelichte. Sein Psychoanalytiker sucht mit ihm im Unbewußten, sie haben beide noch immer Hoffnung, eine Antwort zu finden. Aber was ist mit denen, die sich keinen Therapeuten leisten können? Und mit denen, die keine Zeit haben, weil sie Managerin oder Alleinerzieher sind? Auch sie wollen Antworten auf ihre Fragen, warum sie trotz des vielen Geldes nicht glücklich sind oder der Haushalt sie ständig gefangen hält. Zum Nachdenken fehlt ihnen die Zeit, der Therapeut heilt sie in sechs bis 36 Monaten. Vielleicht. Jedenfalls braucht es dazu dasjenige, was fehlt: Zeit beziehungsweise Geld, was in den Augen der Managerin ohnehin das gleiche ist. Und so grübeln die Managerin nach dem kurzen Aufenthalt beim Sado-Maso-Boy und der Alleinerzieher beim Aufhängen der Wäsche, was ihr Lebenssinn sei. Genauer gesagt, fragen sie nicht mehr nach dem Sinn, sondern nach der Bedeutung ihres Lebens. Im Laufe des Erwachsenwerdens haben sie bemerkt, dass sie ihrem Leben selbständig keinen Sinn geben können, also beharren sie verbohrt auf der Möglichkeit, ein anderer könnte ihm wenigstens eine Bedeutung geben. Die heutige Zeit verlangt glücklicherweise nicht nach dem Sinn eines Lebens, sondern nach dessen Bedeutung. Bedeutend ist beispielsweise jemand, der alleine von Großbritannien nach Amerika segelt, weil darüber in
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allen Medien berichtet wird. Natürlich ist das ein ebenso sinnloses Unternehmen wie ständig im Kreis zu fahren oder einen kleinen Ball solange über ein Hindernis zu schlagen, bis der Ball entweder künstliche Linien überschreitet oder der Gegner ihn nicht mehr zurückschlagen kann, aber es erspart den Bedeutenden immerhin die Frage nach dem Sinn. Zumindest, solange sie im Rausch des Erfolges dahinschweben. Später, wenn sie nicht mehr ohne Sauerstoffflasche 8000-er bezwingen oder einen Hang eine Hundertstel Sekunde schneller bewältigen als alle anderen, müssen sie eine andere Bedeutung finden. Für die Suche nach dem Lebenssinn ist es meistens zu spät, und das ist der Moment, in dem die Esoterik ins Leben der Bedeutenden und Unbedeutenden tritt und alles verändert. „Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten?“ fragt sich auch der Alleinerzieher, wenn er, die Kinder sind außer Haus, zur Flasche greift. Nun, dass dein Leben unbefriedigend ist, wird die Managerin vorlaut sagen, weil sie keine Ahnung vom Haushalt hat, während sie an ihrem Cognac nippt und dasselbe Rätsel lösen will. Wie ein deus ex machina erscheint nun der Astrologe. Alles hat für ihn einen Sinn, alles hat eine Bedeutung, und die steht in den Sternen. Welche Erleichterung! Ich habe einen Freund, der betreibt dieses Metier seit vielen Jahren. Ich kenne, außer mir, nur wenige Menschen, die eine derart unerschütterliche Freude und Lust am Leben vermitteln. Das liegt daran, dass mein
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Freund auf jede Frage eine Antwort hat. Bin ich krank, sieht er in seinem Computer nach - denn er ist ein moderner Astrologe - und gibt mir die Antwort. Der Sowieso überquert meinen Dingsda, und weil mein Quak im Haus Hupsi steht, wirkt sich das eben so aus, ich solle vorsichtig sein. Und das Schöne an all dem: es stimmt. Auf meinem Horoskop ist deutlich zu sehen, dass der Quak über meinem Sowieso steht, und ist es da ein Wunder, dass ich krank bin? Nein, es hat alles seinen Sinn, und meine Krankheit eine Bedeutung, also bin ich. Wer Astrologie für Humbug hält, kann sich bei anderen Esoterikern schadlos halten. Sehr beruhigend ist beispielsweise die Lehre vom Karma, da hat man überhaupt keine Verantwortung mehr zu ertragen, weil sich alles aus den früheren Leben erklären läßt. Selbst die Ermordung der Juden läßt da keine Rätsel aufkommen, weil die eben in ihren früheren Leben so viel Unheil anrichteten, dass sie von anderen Bösen umgebracht wurden. Jeder Krebskranke erträgt sein Leid mit diesem Wissen leichter, schließlich ist es nur gerecht, dass er nun für seine früheren Sünden Buße leistet. Macht nichts, im nächsten Leben geht’s wieder aufwärts. Für Neugierige gibt es Rückführungen in die alten Leben, Männer werden zu Frauen, Opfer zu Tätern und alles ist ein einziges Kuddelmuddel. Wem diese Auffassung zu anstrengend ist, der kann mildere Formen der Problembewältigung wählen, etwa die Ausländer. Wären sie nicht da, hätten wir
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100.000-e Arbeitsplätze mehr und alle wären’s zufrieden. Keine Ehe würde mehr scheitern, weil des Einheimischen Ehre Treue heißt. Unsere Kinder würden behaglich und friedlich in einer sozialen Wohnsiedlung ohne Ausländer aufwachsen, in den Schulen sich alle verstehen, weil sie die rechte Sprache, nämlich die deutsche sprechen. Grauslich? Naja, aber immerhin eine Antwort auf die vielen Fragen, die jene nach dem Lebenssinn überdecken. Und eine blöde Antwort ist besser als keine, die gescheit ist. Wer kann sich schon damit abfinden, dass er weiß nichts zu wissen? Nicht einmal die intellektuellen Biofreaks, die haben auch schon auf alles Antworten. „Pelz ist Mord“ sagen sie und stehen aufrecht da in ihren biologischen Lederschlapfen aus glücklichen Schweinen. Oder glücklichen Rindern? Ich kaufe nur mehr Schuhe aus PVC. Macht zwar Schweißfüße, aber ich habe wenigstens kein Tier getötet, nicht mal indirekt. Ob das der Sinn meines Lebens ist? Ich weiß nicht. Irgendwie reicht’s auf Dauer auch nicht als Antwort. Gestern hat mich meine Tochter gefragt, was ich machen würde, wenn sie nicht auf der Welt wäre. Ich habe gesagt, dass ich dann weniger Wäsche zu waschen hätte und mehr Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Und deshalb bin ich froh, dass sie auf der Welt ist. Sie freute sich auch.
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Forever young Meine Freundin und ich haben die Rollen getauscht, daher melde ich mich aus der Küche. Ich bereite gerade Blattsalat mit Linsen und einem Birnen-Kefirsaft zu. Danach gibt es Zitrusfrucht-Grütze. Ich esse mich nämlich „zum Sieger“. Vor einigen Tagen schenkte mir meine Freundin, nachdem sie einige Wochen mein Nahrungsreservoir für schlechte Zeiten - sie nennt es respektlos Bierbauch - missbilligend betrachtet hatte, ein Buch. Es heißt „Forever young“, steht auf allen Bestsellerlisten der Welt und hat mein Leben verändert. „Warum ist der Adler der König der Lüfte? ... Warum nicht der Sperling?“ spricht darin der Fitnesspapst Dr. Strunz alle Fragen aus, die ich mir nie ausgedacht hätte. „Ganz einfach: Weil die Könige unter den Tieren das Hormon Noradrenalin bilden.“ Haben Sie nicht gewusst? Sehen Sie, darum sind Sie ein Sperling, während ich auf dem Weg zum Adler bin. Besser gesagt zum Tiger, denn ich leide unter Höhenangst und dagegen ist kein Adrenalin gewachsen. Aber auch der Tiger ist ein König und besitzt klarerweise jede Menge Noradrenalin. Was ein echter Tiger ist, nimmt bei jeder Gelegenheit Phenylalanin zu sich, denn das wird in Tyrosin und schließlich in Noradrenalin umgewandelt. Das wiederum wandelt sich in das Hormon ACTH um, wel-
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ches meinen Geist so „kristallklar und munter“ macht wie ein Bergbächlein. „Es bewirkt, dass der Puls und der Blutdruck sinken: Der Pfeil schießt ins Schwarze. Die Billardkugel rollt nach sieben Banden ins Loch.“ Leider spiele ich weder Billard, noch habe ich je einen Bogen in der Hand gehalten, aber es beruhigt einfach, immer ins Schwarze zu treffen. Und so befolge ich jeden Rat des erfolgreichen Mediziners, laufe täglich mindestens eine Stunde und lache mich dabei kaputt. Lachen Sie nicht, denn Lachen gehört dazu. Zum Laufen! Sie, die Leserin, der Leser haben keinen Grund zu lachen. Sie gehören nämlich zu den Verlierern, und die lachen prinzipiell nicht. Wie Sieger werden übrigens immer mehr. Täglich sehe ich eine wachsende Schar lachender LäuferInnen, alle haben sie die Gebrauchsanweisung für künftige SiegerInnen gelesen. Wo soll das alles enden? In einer Welt voller Sieger? Das kann nicht gut gehen. Ordentliche Sieger brauchen Verlierer! Wenn ich all das bedenke, wird mir angst und bang. Aber vom Denken steht in meinem Buch nichts. Wahrscheinlich hindert es mich, ein Sieger zu werden. Was soll ich tun? Die Gedanken sind frei und drängen sich in mein Tun. Warum, fragen sie mich immer öfter, während ich laufe und verzweifelt vor mich hin lache, leben Sper-
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linge genauso glücklich oder unglücklich wie die Löwen? Wie kommt es, dass eine Schar Krähen einen Adler vertreibt? Warum sterben die Löwen aus, aber nicht die Sperlinge? Was nützt es, ein König zu sein und tot? Und warum, fragen sie mich, willst du forever young sein? Erinnerst du dich nicht mehr an deine Jugend? War das wirklich eine so glückliche Zeit? Wenn das so weiter geht, bleibe ich lieber ein alter Spatz statt ein ewig junger Löwe. Schlecht? Auf jeden Fall realistisch.
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Österkraten bereits 1997 eurofit Es war die Magistratsabteilung und nicht die Ederer (große österreichische Politikerin, die uns nach Europa exportierte), die mich für die EU gewonnen hat. Und das kam so. Wir sind ein umweltbewusstes Wohnhaus, und unsere Hausverwaltung wollte etwas Gutes tun - sie bestellte eine Biotonne, pardon, sie stellte einen „Antrag auf Aufstellung einer Biotonne“. Nach wenigen Wochen kam die Antwort. An einem kalten Morgen erblickte ich an der schwarzen Tafel unseres Hauses etwas, das mir das Herz erwärmte. Ein Schreiben der Magistratsabteilung 48! Was heißt Schreiben, es war ein Brief! Ausladend wie ein barocker Altar, logisch wie eine mathematische Gleichung. Geschrieben hat ihn ein Herr Diplomingenieur als Sachbearbeiter, unterschrieben der Herr Senatsrat himself! Es sind hinreißende drei Seiten Überzeugungskraft. „ ... In den Liegenschaften werden die Biotonnen nur dann aufgestellt, wenn der Zugang zum Behälter nicht ÜBER MEHR ALS VIER STUFEN führt. Diese Einschränkung ist deshalb notwendig, weil zur Zeit für die Entleerung der Biotonnen nur Sammelmannschaften mit zwei MÜLLAUFLEGERN verfügbar sind.“ Sie werden sich vielleicht fragen, was ein MÜLLAUFLEGER ist, wo es sich doch um Mist handelt.
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Wenn Sie zur Abart der Nachdenklichen gehören, werden Sie u.U. (unter Umständen) sogar fragen, warum vier Stufen möglich, fünf oder viereinhalb aber unmöglich sind. Das sind die falschen Fragen, denn: „Eine Änderung dieser Lage kann erst durch eine entsprechende Gesetzesänderung herbeigeführt werden, wonach in jeder Liegenschaft eine Biotonne ähnlich der Restmülltonne VERPFLICHTEND aufgestellt werden müßte. Dann könnten bei Sammelstrecken für die Biotonne in den innerstädtischen Bezirken ..... Sammelmannschaften mit FÜNF Auflegern eingesetzt werden.“ Mathematiker werden nun einwenden, dass im Falle einer Fünfstufenhürde ein Mann für eine Stufe, während derzeit zwei für vier, also ein Mann für zwei Stufen zuständig ist. Aber das sind dumme Gedankenspielereien. Schließlich ist es so: „Bei der getrennten Altstoffsammlung ausgenommen Verpackungsmaterialien besteht zur Zeit, anders als bei der Müllentsorgung, sowohl für den Bürger als auch für die Stadtverwaltung keine gesetzliche Verpflichtung, diese Stoffe zu sammeln.“ Sie können Ihren Biomist also getrost durch die Kanalisation, sprich: Häusl, aus Ihrem Haushalt entfernen. Sollte Ihr Gewissen Sie dennoch nicht zur Ruhe kommen lassen, gibt es einen Ausweg: „Es besteht jedoch auch bei einem über mehr als 4 Stufen führenden Zugang zum Behälter die Möglichkeit, die Biotonnen in den privaten Liegenschaften aufzustellen, aber nur unter der Voraussetzung, dass der Liegenschaftseigentümer die
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Transportverpflichtung übernimmt. (Bereitstellung der Behälter für die Müllabfuhr in einer der jetzigen Richtlinien entsprechenden Entfernung.)“ Mit anderen Worten: auf der vierten Stufe am Gang. Wer nun das Gefühl hat, dass seine Arbeit für eine gesunde Umwelt hier von einem Amt behindert wird, der möge weiterlesen: „Die mit 1. 7. 1994 in Kraft tretende Verordnung des Bundesministers für Umwelt, Jugend und Familie über die getrennte Sammlung biogener Abfälle sieht vor, dass Abfälle, die auf Grund ihres hohen organischen, biologischen abbaubaren Anteils für die aerobe oder anaerobe Verwertung besonders geeignet sind, für die getrennte Sammlung bereitzustellen oder zu einer dafür vorgesehenen Sammelstelle zu bringen sind, sofern sie im unmittelbaren Bereich des Haushaltes oder der Betriebsstätte nicht verwertet werden können.“ Alles klar? Eben. Bemühen tut man sich jedenfalls. „Selbstverständlich ist die MA 48 ständig bemüht, die Zahl der Behälter zu erhöhen und damit die getrennte Sammlung NOCH bequemer zu machen. Inwieweit jedoch eine "ab Haus" Abholung der Bioabfälle in den dicht verbauten Gebieten, ähnlich der Restmüllentsorgung, einzurichten sei, wird von den Ergebnissen eines zur Zeit im 5. Bezirk laufenden Versuchs abhängen. ... Ich hoffe, Ihnen damit geholfen zu haben und verbleibe ...“
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Seit jenem denkwürdigen Tag weiß ich: Österreich ist eurofit. Wir haben einen Joker gegen alles, was uns aus Brüssel droht - unsere Bürokratie. Ob Biotonne oder Aufenthaltsgesetz, die EU wird von uns lernen. Die Eurokraten werden sich an unseren Österkraten die Zähne ausbeißen. Hinein in die EU! Die weiß noch nicht, was ihr von uns droht!
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Unsere Ehre heißt Treue „Wer aus der Vergangenheit nichts lernt, ist verurteilt, sie zu wiederholen“, sagte ein kluger Mensch. Der neue Parteivorsitzende der FPÖ in Niederösterreich, einem großen Bundesland, ist erst 40 Jahre alt und kann, so meint er, nicht wissen, dass der Spruch „Unsere Ehre heißt Treue“ der Leitspruch der SS war. Dieses tolle Merksprüchlein sei ihm selbst ganz spontan eingefallen, als er altgediente Parteimitglieder loben wollte. Ob wenigstens die wussten, wer den Spruch prägte? Sie sind wahrscheinlich schon über 40. Andererseits: ob sie stolz oder gekränkt reagierten, darüber schweigt die Chronik. Schon am Abend reagierte jedenfalls der österreichische Bundeskanzler fest und selbstbewusst, wie es seine Art ist, indem er im Fernsehen eine Aktion an Österreichs Schulen vorschlug. Die Jugend, sozusagen alle unter 40, soll faschistische Sätze als solche erkennen und in der Folge verachten lernen. Gesagt, getan! Sofort nach dieser Äußerung wurde eine Kommission gegründet, die ÖKGFS, die „Österreichische Kommission gegen faschistische Sätze“. Noch vor den Sommerferien sind erste Ergebnisse in die Öffentlichkeit gesickert, denn rasches Handeln ist das Hauptmerkmal österreichischer Politik.
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In einem nationalen Stufenplan wird ein MultipleChoice-Test an alle SchülerInnen verteilt. Die drei wichtigsten Fragen wurden dem Autor zugespielt, damit bereits im Vorfeld der Ereignisse ein Denkprozess anheben kann. Liebe Schülerin, lieber Schüler! Im Zuge der weiteren Demokratisierung unserer Heimat, auf die wir alle, außer einigen Nestbeschmutzern, stolz sind und um die uns die ganze Welt beneidet, wollen wir unsere patriotische Pflicht erfüllen und dem Ausland zeigen, wie tief unser historisches Wissen ist. Erkenne daher den faschistoiden Satz und ringle den Buchstaben ein! Teil 1: a. Meine Helga heißt Susi. b. Mein Pudel heißt Adolf. c. Unsere Ehre heißt Treue. Teil 2: a. Berg Heil! b. Das Heil liegt in der Flucht. c. Heil Hitler! Teil 3: a. Österreich ist eine Missgeburt. b. Hitler hat eine ordentliche Beschäftigungspolitik gemacht. c. Churchill und Stalin sind die schlimmsten Kriegsverbrecher des 20. Jahrhunderts.
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Die zehn Besten – sollten mehr die richtigen Antworten herausfinden, entscheidet das Los – nehmen am 26. Oktober, dem österreichischen Nationalfeiertag, an einer Festveranstaltung am Wiener Heldenplatz teil. Dort werden alle ÖsterreicherInnen in einem nationalen Schulterschluss gegen die EU-Sanktionen, von denen außer der Regierung noch niemand etwas bemerkt hat, protestieren. Gleichzeitig werden alle TeilnehmerInnen ihr überragendes Geschichtsverständnis zur Schau stellen, indem sie wie aus einem Munde die richtigen Antworten auf alle Fragen in die Welt schreien werden. An den Fragen, deren Schwierigkeitsgrad alle bisher gestellten übertreffen soll, wird bereits gearbeitet. Zwei Fragen stehen bereits fest: Wer sind immer die Bösen? a. Die ÖsterreicherInnen b. Die restlichen 14 EU-Staaten c. Die AusländerInnen Wer sind immer die Opfer? a. Die ÖsterreicherInnen b. Die Juden c. Die AusländerInnen Welche Antworten die richtigen sind, weiß vorläufig nur der liebe Gott. Und der beschützt Österreich!
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Die richtige Lösung auf die ersten drei Fragen lauten: 1–c 2–c 3 – kein Satz ist faschistoid
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Das Abenteuer ruft Und, was machen Sie im Sommer? Einen außergewöhnlichen Urlaub, nehme ich an. Etwas anderes kommt heutzutage ja nicht in Frage. Die schönste Zeit des Jahres muss erbarmungslos genutzt werden, und wenn die letzten Nerven draufgehen! Wenn ich daran denke, wie langweilig früher diese Zeit war! Sommerfrische am Land, Ruhe und Erholung, ein einfaches Essen am Bauernhof, die Kinder spielten am Abend noch ein wenig Fußball und das war’s dann schon. Eine Zumutung, wenn man’s genau nimmt. Heute ist glücklicherweise alles anders. Mein Reisebüro hat uns vorigen Sommer zum Beispiel einen Ausflug auf einer Eisscholle angeboten, mit Eishockeyturnier am Ende der Tour. War echt super, wenn man vom Essen absieht. Tiefkühlkost auf einer Eisscholle ist einfach zu viel des Guten. Darum haben meine Freundin und ich danach ein Wochenende auf Kreta gebucht: „Zen und die Kunst des Trinkens“. Ein Reinfall der Sonderklasse. Ich hatte natürlich an Rotwein gedacht, die Veranstalter aber an energetisch aufbereitetes Vollwertwasser, das in höchster Konzentration getrunken werden sollte. Als der Animateur, der in solchen Kreisen einfach
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Guru genannt wird, uns nach dem Sinn des Lebens fragte, reisten wir auf der Stelle ab. Es gibt selbst im Urlaub eine geistige Schamgrenze! Ein echter Tourist will ja vor allem eines: Ablenkung. Hat er ein sinnloses und langweiliges Leben, will er Abenteuer, hat er ein aufregendes, will er Ruhe. Da die meisten einkommensstarken Menschen zur ersten Gruppe gehören, hat sich die Tourismuswirtschaft ausschließlich auf sie konzentriert. Also vor allem auf mich. Letzten Winter wollten wir nach Tirol, in das Schutzhütten-Survival. War leider hoffnungslos überbelegt. Mit mir wäre das sicher nicht passiert, dass alle unter einer Lawine begraben wurden. Aber ich kann nicht überall sein. Das Wasserfallklettern mit Eispickel und anschließendem backsliding (Hinternrutschen), das ich dann gerade noch buchen konnte, war zwar nicht das Gelbe vom Ei, aber was soll’s, manchmal muss man sich mit kleinen Gefahren bescheiden. Heuer könnten auf dem Gebiet Erlebnis-Urlaub die Philippinnen ein echter Renner werden, auch wenn nicht jedes Reisebüro eine Entführung garantiert. Ich persönlich empfehle in diesem Zusammenhang ja eher Afrika, Sierra Leone beispielsweise. Eine Armee, die 500 UNO-Soldaten gefangen nimmt, wird unter Umständen auch mit einer Touristengruppe fertig. A propos fertig werden: auf dem Gebiet der Kinderbetreuung hat sich auch einiges getan. Das Angebot
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für Eltern wird immer umfassender, bald wird auch diese leidgeprüfte Gruppe so gut betreut werden, dass sie gar nicht mehr bemerkt, Eltern zu sein. In fortschrittlichen Tourismusverbänden wird derzeit an einer Ferienvariante gearbeitet, in der die Kinder in kleinen Containern von der Heimadresse in den Urlaubsort verschickt werden und nach Absolvierung der Ferien direkt an die Heimadresse zurück geschickt werden. Besorgte Eltern können mit ihrem Nachwuchs jederzeit Kontakt über eine Telekonferenz aufnehmen. Und es muss ja nicht immer hektisch sein. Manchmal soll der Mensch auch nachdenklich sein, besinnlich, kreativ. Meinte zumindest meine Freundin. Also beschloss ich, einen Bauchtanzkurs für uns zu buchen. Die Veranstalterinnen verweigerten mir aber auf Grund meines Geschlechts den Zugang, obwohl ich figürlich für diesen Sport ausgesprochen gut geeignet bin. Meine Freundin wiederum hat keinen Bauch, also wichen wir notgedrungen auf einen Kochkurs in Italien aus. Seither kann ich jede Pizza auf italienisch bestellen. Das macht ungeheuren Eindruck! Dieses Jahr wollte mir meine Urlaubsberaterin etwas ganz Neues einreden, ein Seminar zur Bewusstseinserweiterung. Wissen Sie, an sich bin ich nicht leicht zu beleidigen, aber der Begriff Bewusstseinserweiterung irritierte mich. War das ein unterschwelliger Angriff? Erweitern muss man nur etwas, das nicht genügend
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groß ist. Dazu kam noch der Titel des Urlaubseminars, der da lautete: „Hätten die Steine ein Bewusstsein, würden sie glauben, frei zu fallen.“ Irgendein Spinoza hat das mal geschrieben. Ich frage mich, was das mit mir zu tun hat. Bin ich ein Stein? Falle ich gar? Eben! Das alles erinnerte mich unangenehm an unser Kretaabenteuer. Darum habe ich mich in diesem Jahr wieder dem echt Männlichen zugewandt, dem Survival. Ich schwanke noch zwischen den Abenteuern „Tauchen in Grönland“, „Abseiling in Salzburg“ und „Iglubauen mit Übernachtung“ bei originalen Eskimos. Meine Freundin allerdings wagt das schwierigste aller Abenteuer, nämlich „Partnersuche“. Ich frage mich, was sie mir mit diesem Urlaubswunsch mitteilen will.
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Verteidigung eines Müßiggängers Betrachten Sie es einmal von meiner Seite, also objektiv. Wem schade ich? Genauer noch, wem schade ich? Niemandem. Vielleicht nütze ich auch niemandem. Wahrscheinlich ist das mein größtes Verdienst. Lassen Sie mich logisch sein. Die Welt geht zugrunde. Weil sie aufgefressen wird. Nicht von allen. Die meisten haben nichts zum Fressen. Sie schaden auch niemandem. Klammer auf Sie können nicht, selbst wenn sie wollen. Klammer zu. Ich wollte nicht mehr können. (Dafür kann ich nichts, aber das ist bereits Philosophie.) Bleiben wir bei den Tatsachen. Ich habe kein Geld. Also bettle ich. Jemand gibt mir Geld. Ich kaufe Brot und Wein. Ich bin zufrieden und verdaue. Heute nennt man das recyclen. Mein Geld, das ich bekomme, verwende ich für Dinge, die wieder wachsen, Korn und Trauben. Ihr aber! Ihr wohnt in Häusern, die geheizt sind.
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Ihr gebt den Gesellschaften, die Atomwerke bauen, dafür Geld. Die verteilen es. Ein wenig an die Arbeiter. Viel an die Manager. Die Manager kaufen ein großes Haus, viel zu groß für sie. Dazu eine Yacht, das fünfte Auto und einige Computer. Die Haus- und Yacht- und Auto- und Computererzeuger nehmen das Geld und verteilen es. Ein wenig an die Arbeiter. Viel an die Manager. Die Manager kaufen – siehe oben. Alles fließt. Aber in eine Richtung. Was nützt euch der Strom ohne Brot? Das werdet ihr euch bald fragen. Bis dahin nennt ihr mich einen Sozialschmarotzer. Als nähme ich euch das Brot weg, das euch nicht fehlt. Denn ihr kauft halt ein zweites Brot, ein drittes, ein viertes. Ich nehme die Welt auf, verdaue sie, erfreue mich an ihr und so könnte sie ewig währen. Wäret da nicht ihr, die ewig hungrigen Mägen mit den ewig leeren Köpfen. In Wahrheit seid ihr die Schmarotzer. Ihr fresst die Welt.
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Das Goldene Kalb Die Lektüre eines Wirtschaftsblattes gleicht derzeit einem Spaziergang durchs Schlaraffenland. Gebratene Tauben überall und das Geld liegt auf der Straße, wir brauchen uns nur zu bücken. Vorläufig noch. „7 Millionen in 7 Jahren und dann weg”, verspricht die Zeitschrift TREND in ihrer neuesten Ausgabe. Wie das zu machen ist, wird genau beschrieben. Zuerst brauchen wir natürlich eine Zielvorstellung, „wohin wollen wir, was essen wir dort und welches Verkehrsmittel“ benötigen wir dorthin. Der Trend, Österreichs führendes Wirtschaftsmagazin, ist bescheiden und setzt als untere Grenze – man gönnt sich ja sonst nichts – ein “arbeitsfreies Monatseinkommen von 50.000 Schilling Cash.” Fesch! „Davon kann man schon ganz gut leben,” meint der Trend. Zumindest als Lehrer stimme ich diesem Satz zu, eine Rumänin würde sich wahrscheinlich noch etwas mehr über 50.000 Schilling im Monat freuen, aber zur Osterweiterung möchte ich mich nicht äußern. Im Grunde genommen ist alles ganz einfach, sagt der Wirtschaftsautor Bodo Schäfer, von dessen Buch “Wege zur finanziellen Freiheit” bereits 200.000 Stück verkauft wurden. Da der Verkaufspreis 291 Schilling beträgt, der Autor etwa 10 % des Verkaufspreises bekommt, das sind also 200.000 Schilling x 30
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= 6 Millionen Schilling, stimmt diese Aussage jedenfalls für Herrn Schäfer. Gut, werden Sie sagen, aber ich kann dieses Buch ja nicht noch mal schreiben. Da haben Sie recht! Aber der gute Mann hat ein Rezept für jedermann, das lautet so: „Alle Kräfte zum Geldverdienen mobilisieren, eisern sparen und vor allem cleveres Investment mit Hilfe von Aktien.” – Toll, nicht wahr? Und so neu. Ich meine: auf so etwas muss man erst einmal kommen! Wenn Sie sich einen mindestens ebenso tollen neuen Einfall einfallen lassen, haben Sie bald ein paar Millionen. Aber es geht auch einfacher, etwa so: „Ein Investor, der 1990 20 Millionen auf amerikanische Aktien gesetzt hätte, dürfte sich heute über 94,71 Millionen” (man beachte die genaue Kommastelle hinter der Million!) „freuen: Er hätte also in knapp acht Jahren 75 Millionen Schilling ohne Arbeit verdient.” Gut, werden Sie sagen, aber ich hatte weder 1990 noch habe ich heute 20 Millionen Schilling zum Investieren. Kein Problem, antworte ich Ihnen darauf: Sie brauchen 1992 nur „345.000 Schilling in Microsoft-Aktien zu investieren, dann hätten Sie heute schon 7 Millionen Schilling in 7 Jahren verdient.” Was, Sie haben damals nicht in Microsoft-Aktien investiert? Und die Zeit können Sie auch nicht zurückdrehen?
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Dann geht es Ihnen so wie mir. Wir müssen den Trend einfach nochmals und genauer durchlesen, irgendwann werden auch wir Millionäre. Bodo Schäfer, der bereits erwähnte Buchmillionär, erklärt uns in einem Interview nochmals und langsam: „Da nehmen Sie 100.000 Schilling, um aggressiv zu investieren, zum Beispiel in den DAC-Fonds Universal, den Gontard-IPO-Fonds Universal, den Invesco Neue Märkte” (endlich ein Wort, das ich verstehe) „einen Fleming Eastern Europe, Bärenberg Hellas Olympia oder Fleming Polen, ... dann haben Sie immer 30 %.” Zinsen, meint der gute Mann, aber ich weiß leider noch immer nicht, wo ich diese Hellas und Polen kaufen kann. Dafür weiß ich, wer die Telekom-Austria ist. Von der gab es im Jahr 2000 supergünstige Aktien, wie auch der Trend meinte. Und als Frühbucher mit einem Telekom-Ticket bekam ich sogar noch einen Bonus von 5 %. Der Reichtum war in greifbare Nähe gerückt. Leider war die Aktie ein halbes Jahr später um 35 % weniger wert als sechs Monate zuvor. Wahrscheinlich habe ich irgendwo einen Denkfehler gemacht. Auf Seite 246 des Trend finde ich Hilfe für meine hoffnungslose Situation. „Geil auf Geld” heißt die neue Überschrift und: „Ist die wundersame Kunst der Geldvermehrung erlernbar?”
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Natürlich, werden Sie allmählich annehmen, und Sie haben recht. Wir brauchen nur das „Wealth Mastery Seminar” zu besuchen, schon sind wir so geil auf Geld, dass wir es auch bekommen. Und wenn nicht wir, dann zumindest der Seminarveranstalter, der für vier Tage 35.000 Schilling verlangt. Und bekommt. 150 Teilnehmer gibt es, macht etwas über 5 Millionen Schilling für ein Seminar oder soll man besser sagen event? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich gerne Millionär wäre. Ich weiß aber ganz sicher, dass eine Welt mit lauter Millionären nicht möglich ist. Irgendjemand muss auch arbeiten. Und ich weiß ganz, ganz sicher, dass ich mein TrendAbonnement nächste Woche abbestellen werde. Als ersten Schritt zum Millionär. Denn wie sagt Bodo Schäfer so schön: „Der schnelle Weg erfordert mehr zu sparen.” Ich beginne damit, mir diesen monatlich erscheinenden Trend zu ersparen.
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Ein Genie wie du und ich Neulich las ich Deutschlands meist verbreitete Zeitschrift für Frauen und emanzipierte Männer, die Brigitte. Die Rezepte dort sind immer phantastisch und das Nachkochen wert. In der Mitte des Heftes stieß ich aber auch auf die Beschreibung zweier Stars, in gerechter Aufteilung der Geschlechter eines Mannes und einer Frau. Ich las mehrere Male die Wörter „genial“ und „Superstar“, was mich irgendwie beunruhigte. Auch deshalb, weil ich die beiden Menschen nicht kannte. Meine Güte, werden Sie einwenden, wer kennt schon alle Genies dieser Welt. Ich stimme dem gerne zu. Allerdings hatte ich plötzlich das unbestimmte Gefühl, in jeder Zeitung ausschließlich von Stars und Genies zu lesen. Sollte es tatsächlich immer mehr Menschen dieser Sorte geben? Ich versuchte, meine These von der exponentiellen Vermehrung der Genies zu beweisen, ging in meine Lieblingsbuchhandlung und kehrte mit einem Paket von Zeitungen und Zeitschriften nach Hause zurück. Es stimmte! In jeder Zeitung wimmelte es von mehreren Supermegastars und Genies. Da gab es den genialen Tennisspieler, den Trainer mit dem Superhirn, die Superschauspielerin und den begnadeten Rennläufer. Eine wahre Invasion heroischer Men-
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schen stand unmittelbar bevor. Im Internet fand ich 7.614 Homepages, in denen der Begriff „Genie“ vorkommt, vom Waschmittel über ein Handy von Philipps bis hin zu Uri Geller. Gibt es keinen Durchschnittsmenschen mehr? Ich drehte zur Entspannung den Fernseher an. „Das Regiewunder aus Deutschland“ formulierte der Sprecher soeben, als wollte er mich bestätigen. Das „Wunder“ aus Deutschland ist gerade 20 Jahre alt und schon so berühmt wie die Cheopspyramide, zumindest laut Aussage des Reporters. Und von all diesen Menschen kannte ich höchstens den Namen! Das allein ist aber nicht interessant, vielmehr ist es die Tatsache, dass die ungeheure Vermehrung der Genies und Wunder sich nicht auf das Weltgeschehen auswirkt. Bestenfalls negativ. Ich zum Beispiel fühlte mich nun noch elender als zuvor. So viele tolle Menschen, und was bin ich? Ein genialer Lehrer etwa? Ein Genie von einem Pädagogen? Schon diese Formulierungen an sich hat etwas Lächerliches. Man stelle sich einen Bericht vor, in dem von der Besessenheit des Lehrers L. in Bezug auf seine revolutionären Vorbereitungen geschrieben wird. Oder einen, in dem von Frau Professor F. erzählt wird, einer genialen Didaktikerin mit begnadeten Stunden, in denen Schüler verzückt ihren Worten lauschten, die Perlen gleich ihrem Mund entsprossen. Nein, unmöglich.
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Ein Lehrer kann niemals ein Genie sein, außer er ist nebenbei Philosoph und heißt Ludwig Wittgenstein. Aber der war als Lehrer angeblich eine Katastrophe. Am liebsten wäre ich nach dieser Erkenntnis heulend ins Bett gegangen, da fiel mir ein, dass ich schon einmal etwas über Genies im Allgemeinen, im Besonderen über ein geniales Rennpferd gelesen hatte. Der Held jener Geschichte wollte ein Genie werden, ein Star, ein bedeutender Mensch. Nach einer kleinen Karriere in der Armee widmete er sich erfolgreich der Mathematik. Lange Zeit war er eine Hoffnung der Menschheit, war knapp davor, ein bedeutender Mensch zu werden. „Und eines Tages hörte er auch auf, eine Hoffnung sein zu wollen. Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub. ... Aber gerade da las er irgendwo plötzlich das Wort ‚das geniale Rennpferd‘. ... Er begriff mit einemmal, in welchem unentrinnbaren Zusammenhang seine ganze Laufbahn mit diesem Genie der Rennpferde stehe. ... Er war allem entflohen, um ein bedeutender Mensch zu werden, und als er sich nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war.“ Der Mann, der das schrieb, ist lange tot. Er heißt Robert Musil und das Zitat stammt aus seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“.
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Die Geschichte dieses Mannes findet im Staate Kakanien statt, jenem Land, das viele Ähnlichkeiten mit Österreich aufweist. Anscheinend gab es bereits einmal in diesem Jahrhundert eine Anhäufung von Genies, gar genialen Rennpferden. Was bald danach kam, war ein Genie des Todes. Dieser Gedanke hat nichts Beruhigendes. Und ich beschloss, nein, nicht Politiker zu werden, sondern etwas ganz Besonderes, etwas Einzigartiges: ein ganz normaler Mensch. Ist das nicht genial?
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Obdachloses Model Seit die Sozialdemokraten unter Tony Blair regieren, ist alles happy. Der Premier strahlt alle derart nieder, dass er sogar unseren Ex-Bundeskanzler, der nur im fernen Südamerika lacht, vom Podest der Siegeslacher verdrängt hat. Mit der Wirtschaft geht es lachend bergauf und die Arbeitslosen werden beständig weniger. Die Tiroler Tageszeitung zollte dieser Politik mit folgender Meldung Rechnung: „Obdachloser als Starmodel Der Obdachlose Tom Fleming wurde der neue Star der Londoner Modeszene. Entdeckt wurde er in einem Obdachlosenheim von Starmodel Saraya Stephen, die dort ehrenamtlich arbeitete.“ Ist das nicht wunderbar und nachahmenswert? Warum immer nur magersüchtige Frauen und stoppelbärtige Jungmänner auf den Laufsteg? Lasst neue Typen an die Macht! Und Obdachlose haben wir noch nie in Armani Klamotten gesehen. So weit, so gut. Was aber passiert mit den jetzigen Stars? Was tun mit all den arbeitslosen Schönen? Sollen die alle obdachlos werden? Warum nicht? Ich bin sicher, viele Städte werden sich darum reißen, die Cindys, Naomis und Claudias in ihr Stadtbild zu integrieren. Und die Einstellung gegen-
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über Obdachlosen wird bald eine herzliche Dimension erreichen. Andererseits scheinen die Unterschiede zwischen Obdachlosen und Models so groß nicht zu sein: „Kate Moss modelte 1998 selten nüchtern“ – so stand es ebenfalls in der Tiroler Tageszeitung. Da tut es gut, auch etwas Positives zu lesen: „Eros Ramazotti und seine Frau Michelle Hunziker wünschen sich noch viele Kinder.“ Hoffentlich singt der gute Eros nicht, wenn er abends nach Hause kommt, sonst wird nichts daraus, denn, so die Ehefrau: „ ... Mit elf Jahren habe sie ihr erstes Konzert von Eros Ramazotti gesehen und sei bereits nach dem dritten Lied ohnmächtig zusammen gebrochen.“ Nicht immer sind aller guten Dinge drei.
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Anleitungen für EDV-Konsumenten Neulich wollte ich etwas erstehen, das in keinem männlichen Haushalt fehlen darf: ein Bügeleisen. Zu diesem Zwecke begab ich mich in die Haushaltsabteilung eines bedeutenden Elektromarktes und dort auf die Suche nach einer Verkäuferin. Als ich sie im Lager fand, beantragte ich sogleich das Objekt meiner Begierde. Die Verkäuferin lächelte milde, betrachtete mich von oben nach unten und sagte: „Ein Bügeleisen! Welche Art von Bügeleisen?“ „Eines zum Bügeln“, antwortete ich naseweis. „Zum Bügeln!“ Sie atmete tief durch. „Erstens gibt es in der Basisversion Reisebügeleisen, Haushaltsbügeleisen und gewerbliche Bügeleisen. Je nach Betriebssystem unterscheiden wir zweitens Dampfbügeleisen mit automatischem Entkalkungssystem oder ohne, weiters Bügelautomaten, semiautomatisch oder vollautomatisch. Außerdem haben wir jede Gattung für den professionellen, semiprofessionellen oder amateurhaften Bereich, mit Düse für Krägen und einfachem Dampfausstoß. Das ist einmal ein grober Überblick. Wollen Sie noch mehr wissen?“ Ich schüttelte den Kopf und ergriff die Flucht. Seither gehe ich mit Falten, nicht nur im Gesicht, zur Arbeit.
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Das ist eine unmögliche Geschichte, werden Sie sagen. Stimmt. Bei Bügeleisen. Beim Versuch, einen Computer zu kaufen, ist das der Normalfall. Wer eine EDV-Abteilung betritt, trifft dort immer auf gähnende Leere, was Menschen anlangt. Irgendwo, das weiß der erfahrene Konsument, sitzen einige Verkäufer, zusammengedrängt um einen Monitor oder einen Aschenbecher. Manchmal ist auch der beste Freund eines Verkäufers zu Gast und man diskutiert emotionell aufgewühlt über das neueste mother- oder fatherboard, über MMX-GTI Prozessionen und andere hochgeistige Dinge. Alle diese Menschen haben einen gemeinsamen natürlichen Feind, das ist der Käufer. Wenn dieser sie durch einen Zufall aufgespürt hat, trennt sich einer der Männer – in EDV-Abteilungen überleben ausschließlich Männer, Frauen würden dort an der Sinnfrage zugrunde gehen - von dem gemeinsamen Stammtisch und wendet sich gestresst dem Kunden zu. Nun gilt es für uns Käufer, die richtige Haltung dem König Verkäufer gegenüber einzunehmen, sonst verkauft er uns nicht nur nichts, sondern gibt uns der Lächerlichkeit preis. Megapeinlich für uns, terageil für ihn. Eine leicht unterwürfige Haltung, wie wir sie früher beim Besuch eines Amtes einnahmen, ist auf
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jeden Fall angebracht. Wer jetzt nicht präzise Marke, Type und Durchmesser der Anschlusskabel in Milliliter sowie Anzahl der Bytes pro cm² verlegter dots per inches verlangen kann, wird niemals den Ort erfahren, wo das gewünschte Ding steht. Darum trete ich für eine grundlegende Vorbereitung zum Computerkauf ein, am besten durch einen VHSKurs. Spätestens nach einem zehnteiligen Aufbaukurs kann als Krönung das Seminar „Wie trete ich dem EDV-Verkäufer so entspannt gegenüber, dass er mir die gewünschte Ware nennen kann und sie mir tatsächlich verkauft“ gebucht werden. Wer sich das nicht leisten kann, beachte zumindest folgende Hinweise: Erstens müssen wir darauf vorbereitet sein, dass der Verkäufer uns kompetent und selbstbewusst jede Frage beantwortet, die wir nicht gestellt haben. Sollte es uns im Nachhinein gelingen, die Frage auf seine Antwort zu finden, dürfen wir sie keinesfalls aussprechen. Das würde unseren Verkäufer in die peinliche Lage versetzen, nun seinerseits wieder eine neue Antwort auf eine Frage zu finden, die wir nicht gestellt haben. Und spätestens hier sind die meisten EDV-Verkäufer überfordert und reagieren dementsprechend verärgert. Zweitens müssen wir uns realistischerweise vergegenwärtigen, dass der durchschnittliche EDV-Verkäufer ein echter Mann ist. Da er seine Männlichkeit im Geschäft nicht durch einen Sportwagen vorführen kann,
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muss er seine Null-Informationen zumindest durch Megabytes an Unsinn updaten (aufrüsten), damit er irgend jemandem imponiert. Und wenn es nur er selbst ist. Bei dieser Tätigkeit dürfen wir ihn nicht stören. Der Sportwagenfahrer gibt Gas, damit er schneller dort ist, wohin er gar nicht will. Der EDV-Verkäufer sagt etwas, das er nicht versteht, um den Konsumenten so schnell wie möglich los zu werden, sonst erinnert ihn jener womöglich daran, dass er, der Verkäufer, selbst nichts weiß. Von Sokrates hat ein EDV-Verkäufer grundsätzlich keine Ahnung, sonst könnte er seinen Beruf nicht ausüben. Deshalb ist es ganz wichtig so zu tun, als wisse der Verkäufer alles. Mit etwas Glück beschreibt er uns nach einem viertelstündigen Vortrag, in welchem Regal wir das gesuchte Ding finden. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Ware nicht lagernd ist oder der Verkäufer sie nicht kennt. Letzteres wird er selbstverständlich nie zugeben, sondern von einem veralteten Produkt sprechen. Drittens ist das Problem einfach zu lösen: Bestellen Sie alles per Internet. Und wenn Sie Glück haben, kommt die Ware tatsächlich an. Tut sie das nicht, dann beginnen Sie bei erstens. PS Es gibt noch eine andere Methode: Suchen Sie ein Unternehmen, das Sie weder für einen virtuellen Vollidioten noch für einen habilitierten Informatiker hält, sondern einfach eine Dienstleistung
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vollbringt. Und wenn Sie dieses Unternehmen gefunden haben, freuen Sie sich und sagen den Namen allen Freundinnen und Freunden, vor allem aber mir weiter!
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Der Föhn Eine der schönsten Erfindungen Tirols ist der Föhn. Einerseits nennt man eine bestimmte Art von Wind so (siehe Lexikon), andererseits wird hierzulande der Begriff verwendet zur Erklärung jeglichen Übels. Die zweite Bedeutung des Wortes ist die wesentliche, wobei es sehr nützlich – und gewollt – ist, dass Fremde diesen Föhn mit dem anderen, nämlich dem Fallwind aus dem Süden, verwechseln. Sagt ein Tiroler „Es ist Föhn“, meint er damit nicht den Wind, sondern ein in sich aufkeimendes Unwohlsein. Vielleicht hat ihn eines seiner Kinder maßlos geärgert, vielleicht hat seine Frau ein Verhältnis mit dem Nachbarn, vielleicht ist er bloß müde – er will es nicht wissen, schon gar nicht darüber reden, denn, wie gesagt, es ist Föhn. Dieser Satz, in allen seinen Variationen, fordert die Angesprochenen ausschließlich zu einer Zustimmung heraus. Wer etwa antwortet: „Föhn? Ich spüre nichts“, diffamiert sich als gefühlsroh, unsensibel, jedenfalls als Fremdling. Die einzig tirolerische Antwort kann nur Zustimmung bedeuten, etwa: „Ein Wahnsinn, der Föhn heute.“ Der Föhn stellt alles außer Frage, weil er die Antwort auf alle Fragen ist. Auf diese Weise werden Probleme kostengünstig und schnell gelöst, man denke nur an
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so profane Dinge wie Beziehungskrisen. In anderen Teilen der weiten Welt, etwa in Vorarlberg, benötigen Paare Psychologen, Therapeuten, Gruppendynamiker und andere geistige Haarspalter, um nach Jahren festzustellen, dass nicht alles zusammen gehört, was sich bisweilen zusammen findet. Hier weiß man, dass die Ursache der Föhn ist und wartet, bis er wieder vorbei ist. Danach lebt man friedlich weiter. Auch volkswirtschaftlich wird nach dieser Methode vorgegangen: sinken zum Beispiel die Einnahmen im Tourismus, liegt das ebenfalls am Föhn. (Bisweilen wird er in diesem Zusammenhang auch „schlechtes Wetter“ genannt.) Die Beispiele lassen sich fast beliebig erweitern: schlechte schulische Leistungen? Föhn kommt. Erhöhte Unfallgefahr in Innsbruck? Abklingender Föhn. Der Berg kommt immer öfter ins Tal? Ziemlich starker Föhn. Auf diese Weise trägt der Föhn zur hiesigen Lebensqualität entscheidend bei: die Berge sind schön, die Menschen nett, das Wetter wunderbar – außer, es ist Föhn. Der geht oft und für den kann niemand etwas. Sie finden den Text nicht besonders? Was soll ich dazu sagen? Als ich ihn geschrieben habe, war gerade ... Sie wissen schon.
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Der Fortschritt hat es so an sich dass er größer ausschaut als er ist. Johann Nestroy, ungefähr
Verschiedene Mailsorten Vom Korn zum Mehl ist es ein weiter Weg und nicht nur Gottes Mühlen mahlen langsam, sondern auch die meisten Mehl (= Mail) - Empfänger, obwohl sie die Buchstaben gar nicht mehr zu malen brauchen, weil sie eine Tastatur haben. Als ich mich im letzten Mai dieses herrlichen Jahrtausends zu einem Symposium mit dem fortschrittlichen Thema "Neue Medien" anmeldete, tat ich das als ebensolcher Mann mit einem e-mail. Die elektronische Post ist bekanntlich etwa 6.000 Mal pro Sekunde schneller als ein durchschnittlicher Windhund in der Stunde, daher blieb ich gleich an meinem Computer sitzen, erwartungsvoll der Antwort harrend. "Ruf doch einfach an", rief meine Freundin mir nach einigen Tagen aus der Küche zu - wir sind nämlich ein traditionsreicher Haushalt. "Nein", antwortete ich, "e-mails sind billiger und vor allem rasend schnell. Ich versuche es ein zweites Mehl, ich meine natürlich Mal."
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Die Frühlingstage vergingen wie im Flug, der nasse Sommer 1999 zog ins Land. Ich bemerkte ihn nicht, denn ich startete in regelmäßigen Abständen weitere Versuche einer Anmeldung. Abwechselnd verwendete ich die verschiedenen e-mail-Adressen, denn der Adressat war eine besonders fortschrittliche Organisation und hatte daher bereits mehrere e-mailAdressen. Im Oktober, der Termin des Symposiums rückte näher und näher, meine Freundin war ausgezogen und hatte mich stark untergewichtig zurückgelassen, startete ich entnervt meinen letzten Versuch. Diesmal mit einem antiquierten Gerät, einem sogenannten Fax (Ältere werden sich noch daran erinnern können), denn ich wollte etwas Abwechslung in mein mailiges (mehliges) Dasein bringen. Und endlich geschah das Wunder – eine Antwort traf ein! „Lieber Interessent, leider sind in diesem Jahr bereits alle Plätze vergeben. Wir bieten Ihnen aber gerne unser schnelles Anmeldeservice für das nächste Jahr an. Melden Sie sich gleich an, dann haben Sie eine Platzgarantie im nächsten Jahrtausend. Sie erreichen uns am schnellsten per e-mail! Mit freundlichen Grüßen Ihr Symposium Neue Medien“ Natürlich, werden Sie einwerfen, handelt es sich hiebei um einen Einzelfall, der keinen Anspruch auf
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Objektivität erhebt. Auch sind einige wenige Dinge übertrieben dargestellt - meine Freundin ist zum Beispiel nicht ausgezogen, und ich koche gerade Wiener Schnitzel. Jedenfalls begann ich, den Einzelfall "Anmeldung zum Symposium" auf seine allgemeine Gültigkeit hin zu überprüfen, wobei ich als Untersuchungsgegenstand abwechselnd ein privates und ein öffentliches Unternehmen verwendete. Ich kann nunmehr meine Ergebnisse einer kleinen Öffentlichkeit präsentieren: Ein privates EDV-Unternehmen, das auch Software verkauft, war so virtuell, dass es auf mails überhaupt nicht reagierte. Bei einem Anruf - immerhin, das Telefon funktionierte tadellos - wurde mir erklärt, dass der e-mail-Server des EDV-Unternehmens leider nicht funktionierte. Der Abteilungsleiter eines öffentlichen Unternehmens entschuldigte sich vielmals dafür, dass gerade renoviert werde und meine mails auf unerfindliche Weise dabei verloren gegangen seien. Eine Bank, die mit einer Telefongesellschaft verwandtschaftliche Beziehungen pflegt, war so diskret, dass sie meine Anfrage bezüglich Anlage meines wahrscheinlich zu bescheidenen - Vermögens gar nicht beantwortete. Vielleicht eine dezente Aufforderung, bei kleinen Beträgen lieber kein Risiko einzugehen. Ein privater Festnetzanbieter antwortete immerhin nach einer Woche, nachdem ich per Fax einen Be-
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schwerdebrief abgesandt hatte. Die sogenannten "Online-Supports" diverser EDVUnternehmen (ihre Namen sind Schall und Rauch, denn es gibt sie überall) geben zwar immer stolz ihre e-mail-Adressen an, aber ich habe mit einer Ausnahme noch nie eine Antwort auf ein e-mail bekommen. Nach all diesem subjektiven Frust (gibt es einen objektiven?) tröstete mich eine Umfrage aus der Schweiz. Dort testete man die durchschnittliche Dauer von Antworten auf e-mails und kam zu folgendem Ergebnis: Ein großer Einzelhändler (privat) unseres tüchtigen Nachbarn benötigte durchschnittlich 17 Tage für eine Antwort, das größte Telekommunikationsunternehmen immer noch 6 Tage. Mc Donalds (privat) und die Schweizer Bahnen (öffentlich) schafften es in einem Tag. Der Unterschied zwischen Privatwirtschaft und Staatseigentum ist also, wenn man das Service betrachtet, marginal. Am Ende meiner Untersuchung keimt in mir ein schrecklicher Verdacht: Ist der Fortschritt vielleicht gar kein Fortschritt, sondern nur ein Spielzeug für erwachsene Männer, in denen bekanntlich ein Kind ist und das will spielen? Dann wäre es viel einfacher, der Postbote käme auf einem edlen Rappen zu mir! Erstens wäre diese Art der Beförderung umweltfreundlicher und zweitens wären die Mehle, ich meine, die Briefe schneller bei mir.
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Die Hallo-Gesellschaft „Ja, hallo, hörst du mich? Nein? Hallo! Ich geh jetzt raus, ja, hallo?“ Meine Tochter schreit jetzt, wenn sie telefoniert. Sie hat ein Handy und gehört endlich zu jener Hälfte jugendlicher Funkempfänger, die miteinander Unsinn reden können, ohne sich dabei anschauen zu müssen. Das muss ein großes Glück sein, denn das Hallofon ist immer dabei. Anfangs glaubte ich ja, sie redete mit einer etwa 500 Meter entfernt lebenden Freundin, indem sie wirre Sätze bei geöffnetem Fenster hinaus brüllte. Ich wollte bereits ihre Sparsamkeit loben, da stellte ich fest, dass sie ständig ein graues Paket in der Hand hielt, das man immerhin als Taschenrechner, Radio oder, noch besser, als Wurfgeschoss verwenden kann. „Ich habe 100 Schilling dafür bekommen, dass ich es nehme“, erklärte meine Tochter stolz. Seit diesem Danaergeschenk höre ich jedes Gespräch, das sie führt. Vielleicht ist es die Rache der Telefongesellschaft für meinen Protest gegen den benachbarten Handymast, jedenfalls begleitet unser familiäres Zusammensein nunmehr ein beständiges Klingeln gefolgt von den Sätzen: „Hallo! ... Ja, ich bin’s. Wir treffen uns dann also ... hallo? Ich versteh dich nicht!“
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Ich verstehe leider jedes Wort. Und keines ergibt einen Sinn. Offensichtlich ist nur, dass irgendjemand meiner Tochter eine unsichtbare Wiederholungstaste eingebaut hat. „Ja, hallo, hörst du mich? Ja? Nein! Ich höre dich nicht.“ Ein Segen für die Angerufenen, ein Fluch für mich! Denn nun folgt ein hektisches, ja blindwütiges Tippen auf Tasten, die mit lautem und gequältem Gequietsche antworten bis schließlich eine Stimme aus dem 1000-Watt-Lautsprecher quengelt: „Ja, hallo, wer ist dort? Ich kann nichts hören.“ Und das ist, knapp zusammengefasst, das kleine Ergebnis des großen kommunikativen Fortschritts: Alle reden und niemand hört zu. Außer jenen, die vom Gespräch nichts wissen wollen.
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Über die Dummheit Seit meine Freundin und ich die Rollen getauscht haben, ist die Welt endlich in Ordnung. Sie jagt dem Erfolg hinterher, ich den Sonderangeboten und Staubkörnchen. Vormittags, etwa beim Reinigen des Gemüses höre ich Radio. Dort laufen am Vormittag jene Sendungen, die früher despektierlich „Magazin für die Hausfrau“ gelautet haben, heute aus emanzipatorischen Gründen „Radiokolleg“. Neulich hörte ich beim Zubereiten von Vollwertauberginen für ein Ratatouille einen Beitrag über die „Dummheit“. Das ist ein der heutigen Zeit angemessenes Thema, das niemand außer den Hausfrauen und mir hören will. Der Rest der Welt glaubt irrtümlich, nichts damit zu tun zu haben, weshalb die Welt so ist wie sie ist. Das Problem mit der Dummheit beginnt bekanntlich bei seiner Definition. Man denke nur an die früheren Narren an Königshöfen, die seltsamerweise die Wahrheit sagen durften, worauf damals alle Zuhörer lachten. Wenn aber nur der Narr die Wahrheit erkannte, was war daran lustig? War am Ende der dumme August gar der Gescheite? Und wenn ja: was hatte er davon? Egal, heute ist ja alles anders. Die klugen Narren sind ausgestorben, die dummen reden tatsächlich Dummes. Und niemand lacht.
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Das ist wahrscheinlich der Fortschritt. Zu Beginn des 3. Jahrtausends gibt es nichts zu lachen, sondern es wird sofort entschieden. Bisweilen lässt sich leider nicht abschätzen, ob die Entscheidung sich als dumm oder gescheit herausstellt, das ist aber egal. Hauptsache, es tut sich was. Natürlich ist es nicht besonders klug, ein Auto zu bauen, das in keine genormte Garage passt, wie das Mercedes bei seiner S-Klasse gemacht hat. Auch die meisten Waschstraßen blieben den plumpen Protzautos versperrt, sie waren einfach zu dick, besser gesagt, zu breit. Den Managern Dummheit zu unterstellen, wäre dumm, schließlich haben sie die besseren Anwälte. Sehr klug waren sie wahrscheinlich nicht. Noch spannender als diese Geschichte war aber - ich schälte bereits die Kartoffeln vom Biobauern - , dass ich mich mit einem Male fragte, zu welcher Gruppe ich gehörte. Abgesehen davon, dass mein eher geringes Selbstwertgefühl mich davon abhält, mich a priori zum Gescheiten zu erklären, gab es noch ein paar weitere Hinweise in die entgegengesetzte Richtung. Da war etwa der Vergleich meines Einkommens mit dem eines Managers bei Mercedes. Plötzlich stand ich ökonomisch ziemlich dumm da, obwohl – oder weil? - ich keine so gravierend falsche Entscheidung getroffen hatte. Überhaupt scheinen falsche Entscheidungen eine Menge Geld zu bringen. Der Waschmittelkonzern Procter&Gamble bezahlte jenem Manager, der den
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Kurs der Unternehmensaktien innerhalb von 17 Monaten halbierte, 9,5 Millionen $ dafür, dass er die Firma verließ. Von solcher Arbeitslosenunterstützung kann ich nur träumen. Ich schob das Kartoffelgratin ins Backrohr und dachte an den Erfinder des weltberühmten Smiley. Der hatte für seine Grafik genau 45 $ bekommen und auf seine Verwertungsrechte verzichtet. Zweifellos eine dumme Entscheidung. Andererseits, wer weiß, vielleicht ist er dennoch glücklich. Hat Glück also nichts mit Dummheit zu tun? Der Duft der Kartoffeln stieg auf, das Ratatouille köchelte vor sich hin. Es ist gar nicht so einfach, über die Dummheit zu philosophieren. „Wenn die Dummheit oft mehr Glück als die Weisheit hat ist es eine halbe Dummheit wenn man nach Weisheit trachtet. Der Dumme wünscht sich nie gescheit zu sein, weil er ohnedies glaubt es zu sein. Während das Vielwissen zu gar nichts nutze ist, als dass es einem Kopfweh macht.“ Johann Nestroy, der das schrieb, war Wiener und deshalb Pessimist. Seine Beschreibung war gültig in einer Zeit, die die Dummheit zum Regierungsprinzip erhoben hatte. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich so viele biedermeierlich fühlen, aber klarer wird
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der Begriff dadurch nicht. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert. Oder? Im deutschen Fernsehen erklärte vor kurzem ein Medienberater, warum aus einem Satz des deutschen Kanzlers ein Hit wurde. Der Satz lautet: „Gebt mir noch ein Bier, sonst streik ich hier.“ Ein TV-Moderator machte daraus einen viel beachteten Rap, der bereits 100.000-e Male verkauft wurde. Der Kanzler, so der Medienberater bierernst, betone damit die Nähe zur Arbeiterschaft und kehre zu den Wurzeln der Sozialdemokratie zurück. Back to the roots also, zum Bier. „Was ist eigentlich Dummheit?“ fragte Robert Musil 1937. „Ich weiß es nicht. Dumm ist bekanntlich immer der andere.“ Das wäre immerhin ein kleiner Trost. Das Essen wurde langsam fertig, ich öffnete eine Flasche Rotwein, da klingelte das Telefon. Meine Freundin richtete mir aus, dass die Besprechung noch dauern werde und sie erst später kommen könne. „Das ist wirklich dumm“, sagte ich. Und war froh, wenigstens einen Zipfel der Wahrheit erkannt zu haben.
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Beilagen
Flutschi die Wiener Seele Der Festsaal der Akademie der Wissenschaften war bis auf den letzten Platz, der für den UNOGeneralsekretär freigehalten wurde, besetzt. Der ganze Apfelstrudel, die creme de la creme der österreichischen Gesellschaft, hatte sich versammelt, um die für heute angesagte Sensation gebührend bestaunen und gegen sie intrigieren zu können. Mit einer der Entdeckung angemessenen Verspätung betrat Hofrat Professor DDDr. Kringel das Podium. Erwartungsvolle Stille legte sich über der Rum, danach der Professor ein Manuskript auf das Lesepult. „Verehrte Anwesende“, hob der Redner an, „der heutige Tag wird uns allen, besonders mir, in ewiger Erinnerung bleiben, zu unglaublich ist die zu enthüllende Tatsache, deretwegen wir uns heute versammelt haben. Beginnen wir mit dem Anfang, an dem bekanntlich das Wort stand. Gleich danach wurde die Seele erschaffen, schließlich, als Höhepunkt, wir, die wir uns ihrer Erforschung verschrieben haben. Wie Sie wissen, war die Seele aus katholischer Sicht unsterblich und unsichtbar, aus naturwissenschaftlicher aber weder noch. Bisher konnten beide Seiten ihre Thesen nicht beweisen, bis sich vor nunmehr genau zwei Jahren herausstellte, dass die Wissenschaft wie immer
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recht hatte. Bekanntlich zeigte sich am damaligen Weltspartag einem Berner Kollegen beim Frühstück eine Schweizer Seele, indem sie an seinem Tisch Platz nahm und zum Beweis ihrer Existenz ein Nummernkonto vorwies. Am Tag danach passierte ähnliches einem Pariser Kollegen, in dessen Bett unvermutet eine weibliche Seele auftauchte, bekleidet mit Strapsen in den Farben Blau-Weiß-Rot. Beide Seelen stellten sich, ihrer Heimat eng verbunden, unentgeltlich in den Dienst der Forschung, und als der französische Staatspräsident bereits eine Überlegenheit seiner und der Schweizer Nation (force de frappe des coeurs) propagieren wollte, ging es Schlag auf Schlag: In den USA meldete sich bei einer Pressekonferenz des Präsidenten eine Seele in Form eines schwerbewaffneten Hamburgers, in Bonn und Berlin erschienen je zwei halbe Seelen als kompatible Identitätskarten mit Magnetstreifen, in Tokio zeigte sie sich als Mikrochip, in der UdSSR in der reinsten Form, nämlich als Wodka. Die Seelen sprossen wie Pilze aus der Erde, sogar Vaduz wurde von dem ungeheuren Fortschritt nicht verschont, denn dort offenbarte sich ein Briefkasten als das lange gesuchte Objekt. Der Vatikan reagierte ebenfalls rasch, indem er eine neue Enzyklika heraus- und zugab, alles seit Maria Himmelfahrt 1979 zu wissen, es aber nach Rücksprache mit dem lieben Gott vorerst für sich behalten zu haben.
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Schon wurden neue Lehrstühle an Universitäten installiert, von der vergleichenden Seelenforschung über sie seelische Ernährungsforschung bis zur Seelenhygiene. Die beiden Supermächte traten in einen Seelenwettkampf und verhandelten in Genf über eine Kontrolle des Seelenwachstums, das IOC forderte zusätzliche olympische Wettkämpfe mit Seelen. Die ganze Welt war in hellster Aufregung! Nur an uns ging die Entwicklung wieder einmal spurlos vorüber. Nichts deutete auf eine Wiener Seele hin. Schon vermuteten eifersüchtige Feinde unserer Heimat, dass sie jemand gestohlen hätte, andere, dass es niemals eine hab! Irregeleitete Forscher begannen in ihrer Hilflosigkeit, sie bereits im Innern von Lipizzanern zu suchen! Der Kardinal erwog, sich selbst als Untersuchungsobjekt anzubieten, da er der Überzeugung war, im Vollbesitz einer Seele zu sein – da gelang uns vorige Woche der entscheidende Durchbruch! Meine Damen und Herren, wir haben das lange entbehrte Ding bislang am falschen Platz gesucht. Wir haben angenommen, dass es sich um eine relativ feste Masse handelt, die in gleichbleibender Form auftritt. Aber die Wiener Seele ist ein ganz besonderer Fall, sie ist, wenn ich so sagen darf, eine „MIMIKRYSEELE“. Ihr Aufenthalt ist unstet: Oft sitzt sie im Gesäß, manchmal im Darm, ja sogar im Rückgrat haben wir sie einmal gefunden! Das Problematische an ihr ist aber, dass sie sich nicht zu erkennen gibt
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und bei jeder sich bietenden Gelegenheit verschwindet. Lassen Sie mich konkret werden: Die erste Seele, die wir gefunden haben, befand sich im Körper eines Ministers, wo niemand sie ernsthaft vermutet hätte, und zwar als Blinddarm getarnt. Aus den Personalakten des Ministers ging glücklicherweise hervor, dass der Blinddarm bereits entfernt worden war, so dass wir den vorhandenen Wurmfortsatz hypothetisch als Seele diagnostizierten und sie unter einen Glassturz stellten. Unsere Erwartungen, dass sie mit uns einen Dialog beginnen werde, erfüllten sich leider nicht. Zufällig war gerade ein Kollege aus Andorra anwesend und wir beschlossen, seine Seele (eine Briefmarke) mit dem Blinddarm zu konfrontieren. Seltsamerweise nahm dieser sofort die Form der fremden Seele an, allerdings in einer etwas gebückten Haltung. Bevor wir unser Experiment fortsetzen konnten, erwachte der Minister aus der Narkose. Er zeigte beängstigende Charakterveränderungen, strotzte vor Selbstbewusstsein, widersprach ohne Manuskript den Anweisungen des Chirurgen und wollte auf der Stelle eine Drei-Tages-Pressekonferenz einberufen, in der er alle Korruptionsfälle aller Parteien in den letzten zwei Wochen auflisten wollte. – Sie werden verstehen, dass uns keine Wahl blieb, als dem Bedauernswerten die Seele sofort wieder einzusetzen, um einer drohenden Anarchie zu entgehen.
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Wir waren aber durch diesen Erfolg in unserer Arbeit derart ermutigt worden, dass wir sogleich alle Patienten mit Blinddarmnarben auf eine darunter liegende Seele untersuchten. Überrachenderweise fanden wir eine weitere bei einem Jesuiten in Form einer zweiten, ebenfalls aufgedunsenen Leber, die Heurigenlieder zum Besten gab. Zufällig verstarb der Patient bei diesem Eingriff, und wir sperrten die Seele in einen Glasschrank, um sie intensiv zu beobachten. Wieder passierte nichts. Die Leber saß verängstigt in einer Ecke und rührte sich nicht. Allmählich aber bemerkten wir, dass sie kleiner und kleiner wurde, bis sie sich nach drei Stunden völlig in Luft aufgelöst hatte. Meine Damen und Herren, Sie können sich unsere Hilflosigkeit vorstellen. Noch dazu, wo wir im Laufe unserer weiteren Untersuchungen immer wieder auf neue Seelenformen stießen, die alle dasselbe Auflösungsphänomen zeigten. Es gelang mir schließlich, ihre Verfallszeit mathematisch exakt zu errechnen: G (Größe der Seele) =
V (Anfangsvolumen) (t in Sekunden + 1)2
Hierbei gilt, dass das Seelenvolumen (V), vorausgesetzt, es ist keine fremde Seele vorhanden, sich errechnet aus: V=
Einkommen + Titel2 + TV-Auftritte3 x Selbstmitleid TOLERANZ
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In der nächsten Versuchsreihe schlossen wir zwei Wiener Seelen in einen Behälter. Nachdem sie sich einige Zeit misstrauisch beobachtet hatten, umarmten sie einander freundlich und stießen alsbald ein lautes Wehklagen über die Welt aus. Nach einiger Zeit begannen sie jedoch, sich wild zu beschimpfen, plusterten sich auf und fielen schließlich übereinander her. Um sie vor einem tödlichen Ausgang des Kampfes zu retten, trennten wir sie, worauf wieder der oben angeführte Auflösungsprozess einsetzte. Dasselbe Verhalten ergab sich bei einer Anhäufung mehrerer Seelen: Zuerst allgemeines Wehklagen, hierauf Bildung von Gruppen, die sich blitzschnell in weitere Untergruppen aufspalteten, bis schließlich alle Seelen einzeln übereinander herfielen. Meine Damen und Herren, eigentlich wollten wir Ihnen heute eine original Wiener Seele präsentieren, und beinahe wäre uns das auch gelungen. Leider blieben wir in einem Verkehrsstau stecken, in dem uns das Exemplar nach der genannten Formel abhanden kam. Es bleibt uns nichts übrig, als folgendes zusammenzufassen: Wenn wir den wissenschaftlichen Tatsachen, auch wenn uns das schwer fällt, nüchtern ins Auge sehen, müssen wir feststellen, dass unsere Seele ein typisch österreichischer Kompromiss ist: Sie existiert zwar, macht sich aber gerne unsichtbar, verharrt in Agonie oder jammert.
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Auf sich selbst angewiesen, stirbt sie ab und nimmt gasförmigen Zustand an. Aktivität entfaltet sie nur, wenn es um die Vernichtung einer gleichgearteten Seele geht, ansonsten sticht sie durch Anpassung und eine unterwürfige Haltung hervor. – Was das alles zu bedeuten hat, mögen andere entscheiden, ich habe meine Schuldigkeit getan. Meine Damen und Herren, mir bleibt noch eines zu tun, nämlich Ihnen meine Seele zuzuwerfen und mich von Ihnen zu verabschieden.“ Mit diesen Worten warf der Professor sein Manuskript in die Expertenrunde, zeigte allen die Zunge, ohrfeigte der Reihe nach die anwesenden Ehrengäste und verließ erhobenen Hauptes den Festsaal.
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Der sexuelle Handschuh Bischof Kurt Krenn sagt über das Kondom, dass es „in sich böse sei“. Ob er vom noch in der Packung befindlichen Kondom sprach oder vom bereits angelegten, ist ungewiss. Ich nehme an, er meinte das Letztere, denn dann wäre die Aussage auch inhaltlich katholisch sinnvoll. Das Zitat wurde noch von einem Salzburger Bischof in einer wunderschönen Analogie verdeutlicht. In einem Interview sagte Bischof Laun launisch: „Die Empfehlung, ein Kondom zu verwenden, ist, wie wenn ich einem Dieb raten würde, beim Einbruch Handschuhe zu verwenden.“ Welche Folgen diese Aussage für einen Pfarrer und einen Sünder hatte, entnehmen Sie folgendem Dialog im
Beichtstuhl
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Sünder:
Vater, ich habe gesündigt.
Beichtvater:
Wir alle sind Sünder vor dem Herrn. Welche Sünde hast du begangen, mein Sohn?
Sünder:
Die des Begehrens. Mein Unglück begann mit einer Frau.
Beichtvater:
Das war bereits im Paradies so. Wie war es bei dir?
Sünder:
Ich habe ... also ... das war so, ich war auf einem Fest bei einer wohlhabenden Familie. Die Frau des Gastgebers - sie hieß Eva - hat mir das Haus gezeigt. Bibliothek, Schwimmhalle, danach die Sauna, das Schlafzimmer ...
Beichtvater:
Ich verstehe.
Sünder:
Ja? Jetzt schon? - Also, ich sehe mich um, sehe wertvolle Bilder an den Wänden, und die Frau ...
Beichtvater:
Wie sah sie denn aus?
Sünder:
Sehr hübsch. Sie wissen ja, diese reichen Frauen, das heißt, nein, SIE wissen ja nicht, Sie Glücklicher. Jedenfalls: in solchen Situationen überkommt es mich wie ein Trieb.
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Beichtvater:
Triebe sind verwerflich, mein Sohn. Außer sie passen in unsere göttliche Ordnung.
Sünder:
Ich weiß, ich weiß. Aber was soll ich tun?
Beichtvater:
Du sollst dich beherrschen. - Das Fleisch ist schwach, aber unser christlicher Wille ist stark. - Fahre fort. Was geschah dann?
Sünder:
Ich ging nach Hause.
Beichtvater:
Du hast in Gedanken gesündigt?
Sünder:
Nein. Ich kam nachts, als alle schliefen, und drang dann ein.
Beichtvater:
Du bist zuerst gekommen und danach eingedrungen?
Sünder:
Wie denn sonst?
Beichtvater:
Seltsam, seltsam. Nun, fahre fort in deinen Sünden, ich meine: in deiner Erzählung.
Sünder:
Nun ja, es bedarf jedenfalls einiger Mühe, bis man eine Stelle findet, wo man hinein kann. Sie verstehen?
Beichtvater:
Mein Sohn! Es gibt nur eine Stelle, bei der man hinein darf. Sie öffnet sich für den, der sie achtet.
Sünder:
Das ist ja mein Problem, also meine Sünde, dass ich, äh, den Eingang nicht achte, sondern es von hinten probieren muss oder von der Seite oder von oben...
Beichtvater:
Von oben ist die einzig richtige Stelle!
Sünder:
Von oben darf ich?
Beichtvater:
Es ist die einzig christliche Art um einzudringen.
Sünder:
Was, es gibt eine christliche Art des, äh, Eindringens?
Beichtvater:
Selbstverständlich. Bei dir ist es allerdings etwas anderes, es geht um fremden Besitz: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib.
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Sünder:
Gut.
Beichtvater:
Nein, das ist nicht gut.
Sünder:
Ich meine Gut im Sinne von Ware.
Beichtvater:
Ach so, das ist in gewissem Sinne wahr. Die Frau als Ware ... Nun, aber wie bist du eingedrungen?
Sünder:
In meiner Arbeitskleidung, wie immer.
Beichtvater:
Du bist bekleidet eingedrungen?
Sünder:
Hochwürden! Soll ich vielleicht ... nackt? Das würde mein Schamgefühl verletzen. Wenn mich jemand erwischt, nein, schrecklich.
Beichtvater:
Ich sehe, du hast noch natürliche Gefühle. Früher, in der guten, alten Zeit, war man in solchen Fällen immer bekleidet.
Sünder:
Heute nicht?
Beichtvater:
Nein. Fast alle machen es nackt.
Sünder:
Unglaublich! Die Welt ist pervers, finden Sie nicht?
Beichtvater:
Ja, dieses Kreuz müssen wir tragen. - Fahre fort. Wie bist du eingedrungen?
Sünder:
Müssen Sie es so genau wissen?
Beichtvater:
Natürlich, sonst kann ich dich nicht freisprechen. Eindringen in fremdes, äh, Gut ist an sich schon ein schweres Verbrechen. Noch schlimmer wird es, wenn du den göttlichen Sinn des Eindringens verhinderst, du verstehst?
Sünder:
Was, Einbru ..., also, Eindringen hat einen göttlichen Sinn?
Beichtvater:
Natürlich! Bist du nicht verheiratet?
Sünder:
Ich war einmal.
Beichtvater:
Und bist du damals nie - eingedrungen?
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Sünder:
Selbstverständlich. Damals war ich noch ausschließlich, Ein ..., äh, Eindringer. Dafür habe ich aber gebüßt.
Beichtvater:
Wieso? Damals war das ja in Ordnung.
Sünder:
Ach so? - Ah! Wegen der Familienerhaltung?
Beichtvater:
Genau. Aber nun ... Weiter. Wie war das beim Eindringen? Hast du irgendwelche Hilfsmittel verwendet, dich etwa ... geschützt?
Sünder:
Ja. Das muss ich doch!
Beichtvater:
Nein! Du darfst dich nicht schützen. Schon gar nicht mit .. nun, du weißt schon ... doch nicht etwa mit, nun, na ...
Sünder:
Handschuhen?
Beichtvater:
(erleichtert) Ja, so nennt es unser Weihbischof Laun auch.
Sünder:
Womit denn sonst?
Beichtvater:
Mein Gott! Das ist eine furchtbare Sünde.
Sünder:
Was? Handschuhe sind eine Sünde? Das habe ich nicht gewusst. Ich verwende immer mehrere. Aus Sicherheitsgründen.
Beichtvater:
Mehrere? Schrecklich! Warum das?
Sünder:
(verzweifelt) Was soll ich tun? Wenn einer ein Loch hat! Sie verstehen? Die Folgen wären schrecklich.
Beichtvater:
Versündige dich nicht noch mehr! Diese Folgen sind ein Zeichen Gottes. - Welche, äh, Handschuhe verwendest du denn?
Sünder:
Verschiedene. Mal ganz normale, dann wieder glatte, das letzte Mal hatte ich welche aus Rauleder.
Beichtvater:
Was, es gibt welche aus Rauleder?
Sünder:
Natürlich, es gibt alles. Feine, glatte, schwarze, rote, auch raue.
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Beichtvater:
Tut das nicht weh?
Sünder:
Nein, innen sind sie ja fein. Im Winter nehme ich mit Wolle gefütterte.
Beichtvater:
Mit Wolle gefütterte! Unglaublich! Aber außen, ich meine, deiner Nächsten muss das doch weh tun!
Sünder:
Daran habe ich noch nicht gedacht. Es dauert ja nicht lange.
Beichtvater:
Nein? Wie lange dauert es denn bei dir, wenn du ... eindringen willst?
Sünder:
Ein paar Minuten. Das muss ruckzuck gehen.
Beichtvater:
Ruck-zuck. Ich verstehe, du machst das also schnell. Ist es das denn wert? Und mit diesen ... äh, Handschuhen kamst du zu dieser Frau? Schrecklich! Ich meine, ... Handschuhe in sich sind schon böse, wie unser Bischof Krenn so wahrhaft bemerkte. Und dann aus Rauleder!
Sünder:
Nun ja, sie haben ja auch etwas Gutes, nicht wahr? Sie schützen mich.
Beichtvater:
Das ist ja gerade die Sünde!
Sünder:
Was ? Der Schutz ist die Sünde?
Beichtvater:
Ja, mein Sohn. Du sollst dich nicht schützen, das ist die Botschaft Jesu. Dein Trieb hat einen Sinn, und du sollst diesen Sinn nicht verleugnen.
Sünder:
Ich darf es tun? Aber immer ohne?
Beichtvater:
Ja. Das ist deine Aufgabe. Und niemals bei fremden Frauen.
Sünder:
Dann wird mir vergeben?
Beichtvater:
Dann hast du keine Schuld. In Ewigkeit nicht.
Sünder:
Das ist eine frohe Botschaft!
Beichtvater:
Die Frohbotschaft Christi! – Also dann: absolvo te! Bete 100 Vaterunser und vergiss nicht: immer ohne ...
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äh, Handschuhe, äh, eindringen. Und niemals bei fremden Frauen. Eine Woche später wurde in der Nachrichtensendung Folgendes gemeldet: Sprecherin:
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Vorgestern wurde der lange verdächtigte Erwin S. verhaftet. Ihm werden hunderte Einbrüche zur Last gelegt, bisher konnte allerdings nie ein Beweis dafür gefunden werden. Der Einbrecher hinterließ zur Überraschung der Polizei bei seinem letztem Einbruch deutlich sichtbare Fingerabdrücke. Bei seiner Verhaftung rief er immer wieder aus: „Alle sollen einbrechen, aber immer ohne Handschuhe und niemals bei fremden Frauen, dann wird ihnen verziehen.“ Er wurde in die psychiatrische Klinik für abnorme Verbrecher eingeliefert.
Der Krankheitsbericht Lieber Herr Direktor! Sie haben mich gebeten, einen Bericht darüber zu schreiben, wie alles gekommen ist. Sie sind ein intelligenter Mensch und versprechen sich davon Erkenntnisse für effizientere Therapien. Ich komme Ihrem Wunsch gerne nach. Nicht, weil ich Ihre Arbeit unterstützen kann oder will, sondern weil Sie einer der wenigen netten Menschen hier sind. Ich habe Ihnen bereits erklärt, dass solche Aufzeichnungen sinnlos sind, aber Sie glauben mir nicht. Sie sind der festen Überzeugung, dass alle Erscheinungen - beziehungsweise Krankheiten, wie Sie es nennen - sich in Ihre Denkmuster einknüpfen lassen. In diesem Punkt unterscheiden sie sich leider gar nicht von den übrigen ahnungslosen Wissenschaftlern. Sie legen mir begütigend Ihre Hand auf die Schulter, sahen mich ernst an und sagten: “Es wäre mir sehr wichtig, wenn Sie das tun würden.” Insgeheim musste ich lächeln. Ihren Kollegen werden Sie danach erzählt haben, wie entscheidend emotionale Zuwendung für die Motivierung der Patienten sei. Man müsse ihnen das Gefühl geben, dass man sie akzeptiert und ihre Krankheit nichts Anormales ist. Sie sind so leicht zu durchschauen und wissen so wenig. Sie ahnen nicht einmal, dass ich heimlich Pro-
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tokolle führe, in denen ich voraussage, mit welchem Satz Sie am nächsten Tag meine Therapie beginnen werden. Das ist ein amüsanter Zeitvertreib, und in der Zwischenzeit haben meine Prophezeiungen eine Erfolgsquote von nahezu 98 Prozent erreicht. Sie können sich vorstellen, wie schwer es einem fällt, keinen Lachkrampf zu bekommen, wenn jeder Satz der bedeutsam dreinblickenden Psychologen schon festgelegt ist. Ich komme mir wie ein Souffleur vor. Aber zur Sache: Meine bisherigen Bemerkungen sind eine Fleißaufgabe, obwohl ich zugeben muss, dass es mir Freude macht, hier auch einige allgemeine Sätze einfließen zu lassen. Einerseits wird dadurch Ihre Arbeit, lieber Herr Direktor, erleichtert, denn nun können Sie mit Ihren psychoanalytischen Kenntnissen fleißig interpretieren und meine Seele sezieren. Andererseits sollen Sie aus Gründen der Fairness wissen, dass ich vieles nur unter dem Aspekt einer Beschäftigungstherapie für Sie schreibe, denn ich bemerke sehr wohl, dass Sie unglücklich sind und keineswegs einverstanden mit dem, was in dieser Klinik passiert. Meine persönlichen Daten und Befunde spielen keine Rolle, daher nur einige Details. Größe des Patienten: 176 Zentimeter; am zehnten Geburtstag zum ersten Male onaniert unter dem Eindruck eines stark duftenden Veilchenstockes und dem Werbeplakat einer Miederfirma; vorgestern hat er sich
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von seiner Schwester Heftklammern bringen lassen, aber nicht die normalen, sondern die plastiküberzogenen bunten; derzeitiges Gewicht nackt: 45 Kilogramm. Organisch fehle mir nichts, haben die Ärzte nach ihrer ersten Untersuchung festgestellt und waren damit am Ende ihres Wissens gelangt. Das hätte ich ihnen vorher sagen können, habe es allerdings gar nicht versucht, weil Ärzte ohne Computerauszüge, Elektroenzephalogramme und Elektrokardiogramme weitgehend hilflos sind. Ein Jahr zuvor hatte ich noch 84 Kilogramm, war somit ein wenig übergewichtig, machte das aber durch das Tragen weiter Pullover wett. Mein Lebenswandel war ein durchaus normaler, wenn man davon absieht, dass ich einen Großteil meines Einkommens nicht in Kleidung oder Autos, sondern in Essen und Trinken investierte. Damals konnte man mich des öfteren am Naschmarkt antreffen, wo ich von einem Stand zum nächsten spazierte, um das beste Angebot ausfindig zu machen. Ich werde jetzt nicht darüber berichten, welche Tricks die Händler dort anwenden, und mit welcher Naivität die Kunden alte Gänse, zähen Spargel aus Amerika oder geschmacklose Erdbeeren kaufen, bloß weil alles hübsch aussieht, obwohl es mir ein Anliegen ist, dass die Lust am Essen wieder entdeckt wird und nicht diese menschenverachtenden Fertigbreigerichte sich allmählich ausbreiteten.
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Ich werde von mir erzählen, halte aber nochmals fest, dass Sie, lieber Herr Doktor, es nicht begreifen werden. Selbst die Gründe dafür, warum Sie es nicht begreifen, sind Ihnen unbekannt, werden Ihnen immer unbekannt bleiben, solange Sie diesen monströsen Irrweg beschreiten. Aber das ist schließlich Ihr Problem, um es in der Therapeutensprache auszudrücken. Ich habe, wie gesagt, sehr gerne gekocht, noch lieber gegessen. Der Duft schmelzender Butter, in der frische Pilze gedünstet werden, der deftige Geruch eines kurz in heißem Schmalz angebratenen Huhns, das mit Cognac flambiert und danach in einem großen Topf gekocht wird, in einer Sauce aus Speck, Zwiebeln, Gewürzen und etlichen Litern Wein - der Gedanke daran macht mich bereits selig. Aber es geht ja nicht ums Essen, sondern darum, warum ich es verweigere. Vor einem Jahr, nach den Weihnachtsfeiertagen, wurde mir alles zuviel. Ich hatte genug von den Aktenordnern im Büro, vom Essen, vom Trinken und vom Rauchen. Ich darf nicht verschweigen, dass die Feiertage in diesem Jahr ausgesprochen günstig fielen, was zur Folge hatte, dass wir im Freundeskreis mehrere Tage und Nächte exzessiv die Ankunft Christi begrüßten. Danach hatte ich zwei Arbeitstage, worauf sofort ein Fest anlässlich des Jahreswechsels folgte, das sich ebenfalls über mehrere Tage erstreckte. Um es kurz zu machen: Ich hatte am 7. Januar nicht nur sieben Kilo zugenommen, was mir ziemlich
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gleichgültig war, sondern ich hatte auch Zeit, über meine Fresslust nachzudenken, da mein damaliger Arzt eine schwere Vergiftung meines Körpers feststellte und mir befahl, eine Woche das Bett zu hüten. Welchen Weg hatte mein Leben genommen? Im Laufe der letzten Jahre waren meine Ausgaben für Nikotin und andere Suchtgifte wie Rehmedaillons, Koffein, Alkohol oder Kinokarten langsam, aber stetig gestiegen. Im Gegensatz zu den Befürchtungen diverser Ärzte und Mütter bemerkte ich keine Veränderungen an mir, weder Gedächtnislücken noch stumpfes abwesendes Glotzen. Bemerkenswert war allerdings der ständig wachsende Konsum all dieser schönen Sachen, der nicht mehr wie früher linear, sondern fast exponentiell verlief. Ich war im Begriffe, alle Hemmungen über Bord zu werfen. Schon morgen hätte ich meiner Klientin, der schönen, jungen Witwe K. nahe, zu nahe treten oder dem 12-jährigen Sohn des Hausmeisters zwischen die Beine greifen können. Wer die Gesetze so genau kennt wie ich - hinzuzufügen ist, dass ich Rechtsanwalt bin, also ein profunder Experte der heutigen Gesellschaftsform - der weiß auch, dass nichts so gefürchtet ist wie ein Leben, das seine Fesseln sprengt. Es war eine gefährliche Situation. Ich war gierig geworden. Es heißt, wem man den kleinen Finger gibt, der will die ganze Hand. Das ist falsch. Wer die Fingerspitze ahnt, will alles.
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Da lag ich also in meinem Bett und las wieder einmal die komische Geschichte vom Saulus, der zum Paulus wurde. Bisher hatte ich die Sache nie verstanden. Von den offiziellen kirchlichen Behörden wird sie als großes Wunder dargestellt, aber das ist natürlich Unsinn. Ich weiß nicht warum, aber mir fiel plötzlich ein Bekannter ein, der zu seiner Freundin gesagt hatte: “Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen dir und der Revolution, ich würde die Revolution wählen.” Dieser Mann behauptet von sich, ein Atheist zu sein. Verstehen Sie, Herr Doktor? Es ist alles ganz anders. Ob Paulus oder Saulus ist unwichtig. Der dicke Papst, der Enthaltsamkeit predigt, der freundlich-lustige, der vor Lust warnt: das sind keine Widersprüche, es sind Ergänzungen. Am nächsten Tag begann ich zu fasten. Ich war neugierig, ob mein Gedanke richtig war. Der erste Tag ist ziemlich unangenehm, vor allem, wenn man auf das Abführmittel vergisst. Wenn der Darm nicht vollständig entleert ist, tritt das Hungergefühl verstärkt auf. Trotzdem fiel mir der Verzicht auf Nikotin etc. relativ leicht. Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen im Bett zu bleiben, aber dort hielt es mich nicht lange. Ich spazierte ein wenig herum. Am Anfang fühlt man etwas Unbestimmtes, nicht Beschreibbares. Das ist nicht der Mangel an den diversen Giften, es ist der Überschuss an Zeit.
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Bedenken Sie, wie viele Minuten täglich dem Essen, Einkaufen, Kochen und - ich muss es sagen - Ausscheiden gewidmet sind. Dazu der häufige Griff zu den Zigaretten, der Kaffee, die kleinen Naschereien. Mit einem Schlag ist alles weg. Du kannst dich hinsetzen, etwas lesen, du kannst vor dich hinstarren und in dich hineinhorchen. Du kannst alles tun, nur nicht das, was dich bisher beherrscht hat. Am Abend knurrte mein Magen. Ich widerstand, schlief 12 Stunden. Um neun Uhr stand ich auf, ging in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Es war eine Probe. Die Gerüche von Tiroler Speck, Parmaschinken und Dolce Latte strömte heraus. Ich atmete tief ein. Nichts. Atmete aus. Nichts. Kein Verlangen, keine Versuchung. Nachdem ich gebadet hatte, setzte ich mich zum Fenster und schaute den Krähen zu. Sie flogen mühsam von Ast zu Ast, wippten bedächtig und fanden schließlich ihr Gleichgewicht. Es war wie immer und doch anders. Endlich begriff ich: sie flogen in Zeitlupe. Der zweite Tag hatte 48 Stunden. Ich wurde nicht müde, meine Schritte zu beobachten: diese langen Beine, die sich bewegten und nicht zu mir gehörten. Am Nachmittag besuchte mich ein Freund. Er verließ mich beunruhigt, weil ich so oft lächeln musste. Es war aber auch zu komisch, wie seine Sätze zu mir herüber schwammen, und er immer wieder fragte, ob ich ihm zuhöre.
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Welch seltsame Frage: ich sah ihn ja und wusste mit einem Male mehr von ihm als je zuvor. Als er gegangen war, zog ich mich in meine kleine Kammer zurück, in der alle meine Bücher stehen, setzte mich auf den bequemen Fauteuil und dachte nach. Die Zeit war wie Honig, süß und duftend, leicht und schwer. Am dritten Tag hatte ich das Gefühl zu schweben. Ich nahm die Kopfhörer, legte Platten auf und hörte der Musik zu. Mein Rückzug hatte begonnen. Das Telefon war unter Polstern versteckt, die Tür versperrt. Natürlich konnte ich mich nicht für ewig einschließen, trotzdem schien mir die Aufregung meiner Freunde etwas übertrieben. Nach drei Wochen hatte ich auf das laute Klopfen hin geöffnet. Ingrid und Christian starrten mich wortlos an, wahrscheinlich überrascht von meinem sicherlich verwahrlosten Aussehen, denn ich hatte meine Entgiftung durch mangelnde Körperpflege ausgeglichen. Meine Einladung zu einem Früchtetee nahmen sie misstrauisch an. Vorsichtig befragten sie mich über die Gründe meiner Askese. Ich vertraute ihnen alles an, aber sie reagierten ähnlich wie Sie, lieber Herr Doktor, mit einer kleinen Einschränkung: sie hatten nicht so wohlklingende Bezeichnungen für meinen Zustand. Verstanden haben auch sie mich nicht, obwohl sie des öfteren höflich mit den Köpfen nickten, um mich nicht unnötig aufzuregen.
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Nach weiteren drei Wochen wollten sie mich davon überzeugen, dass ich ärztliche Behandlung dringend nötig hätte. Das gelang ihnen zwar nicht, aber da es mir mittlerweile gleichgültig geworden war, wo ich mein Leben verbringe, bin ich hierher übersiedelt. Die weiteren Fakten sind Ihnen hinlänglich bekannt, mit einer Ausnahme, die ich hiermit bekannt gebe: Ich hatte, noch bei mir zu Hause, einen Rückfall, den ich bisher verschwiegen habe. Eines Morgens überlegte ich, ob meine Beweisführung richtig sei. Ich trank ein Glas Weißwein und zündete eine Zigarette an. Ich sog das Nikotin in mich hinein, hielt die Luft an. Leichter Schwindel erfasste mich. Es war, als fließe alles in meine Füße. Ich schloss die Augen. Es war ein schönes Gefühl. Aber es war kein anderes Gefühl als das frühere. Ob Gift oder Entgiftung, ob Mord oder Aufopferung für andere: es ist alles das gleiche. Verstehen Sie, Herr Doktor? Nein, Sie können es nicht verstehen, solange sie es nicht spüren, vom Kopf bis zu den Zehen. Ich weiß Ihre Bemühungen um mich zu schätzen, weiß aber gleichzeitig, dass es Ihnen nicht um mich geht, nicht um meine Person. Entscheidend für diese Erkenntnis ist keineswegs, dass Sie planen, ein Buch über meinen Fall herauszugeben. Es ist mir nicht entgangen, dass Sie unsere Gespräche mit einem kleinen Diktiergerät festhalten, und auch dieser von mir verfasste Bericht dient wohl
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dazu, dass in Ihrem Buch das Objekt auch als sogenanntes Subjekt vorkommt. Das gilt neuerdings ja als besonders fortschrittlich, und ich verhehle nicht, dass es mir manchmal schmeichelt, so wichtig genommen zu werden. Was mir Sorge macht, ist der Umstand, dass wir beide uns sehr ähnlich sind, Sie sich aber als gesund einschätzen und somit jede Annäherung an die Wahrheit verhindern. Sie sind, ich habe es Ihnen schon persönlich gesagt, was Sie damals sehr peinlich berührt hat (vielleicht lag das an der Anwesenheit des Primars oder der vielen ihm nachhinkenden angehenden Ärzte), ein liebesfähiger Mensch und in großer Gefahr, sich zu verirren. Im Schneckengang der Zeit, die ich hier verbracht habe, sind mir viele Dinge klar geworden. Ganze Bücher könnte ich darüber schreiben, wüsste ich nicht, dass für die meisten Menschen die Zeit läuft, und sie daher nicht hören können. Ich denke oft an die Klöster, die in besseren Zeiten Bordelle gewesen sind und nun zu einem traurigen Ort der Tugend verkommen. Ich denke an den engagierten Friedenskämpfer, der sagte, dass er für den Frieden kämpfen werde, und wenn er jemand dafür umbringen muss. Ich denke an die Kreuzzüge, als im Namen Jesu gemordet wurde und an die Demonstrationen der Nonnen und Pfarrer gegen die Fristenlösung. Ich denke an die Befreiung der Menschheit durch den Sozialismus und an Stalin. Es ist alles ganz logisch.
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Um es in Ihre Sprache zu übersetzen: man kann aus demselben Motiv hungern oder fressen, morden oder Heime für ledige Mütter bauen, der liebe Gott sein oder der Teufel. Es ist immer das gleiche. Aber leider ist Ihre Sprache so kurz und kann das alles nicht erreichen. Am Ende meiner Ausführungen - Sie sehen, ich bemühe mich wirklich sehr, Ihnen zu helfen - möchte ich Ihnen noch jene Geschichte berichten, die mir Alexandra vor einiger Zeit erzählt hat. Sie kennen diese schmale, blasse Frau sicherlich, die hier festgehalten wird, weil sie fremde Menschen umarmte und ihnen sagte, dass sie verliebt sei, in sich, in die Welt, in alles. Soviel ich weiß, hat man ihr den Begriff Schizophrenie zugeordnet. Ich möchte Sie nicht kränken, lieber Herr Doktor, aber da Ihnen, wie Sie behaupten, die Wahrheit am Herzen liegt, muss ich gestehen, dass ich mit Alexandras Hilfe mehr gelernt habe als bei allen bisherigen Therapien. Hier ist ihr Märchen: Es war einmal ein Mann, der liebte eine Frau, so sagte er. Er war ein moderner Mensch, der in die Zukunft blickte und wusste, dass die Welt anders werden muss, sachlicher, fortschrittlicher und auch menschlicher. Er liebte eine Frau und wollte, dass sie ein freier Mensch werde und sagte ihr auch, was das sei. Je mehr er sie befreien wollte, desto widerspenstiger
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wurde sie. Sie ist undankbar, dachte der Mann und begann insgeheim zu zählen, wie viele Stunden und Tage er für sie opferte. Eines Morgens sah er, dass seine Rechnung nicht aufging. Sie war nicht die Richtige für ihn, befand der Mann und sagte zu ihr: „Ich habe so viel in diese Beziehung investiert, aber Du hast nichts dazu getan.” Bald darauf trennten sich die beiden. Zur selben Zeit lebte ein anderer Mann, der ebenfalls glaubte, dass diese Welt anders sein soll. Er war ein unsicherer Mensch, der zwar wusste, wie diese Welt sein sollte, aber nicht, wie das zu machen sei. Auch er liebte eine Frau. Sie lebten zwei Jahre miteinander in einem Haus, und er tat alles, um sich und sie zu befreien. Sie aber war faul und wies seine Bemühungen zurück. Ihr genügte ein bequemes Leben. Als er merkte, dass er in Bälde alles, nämlich sich selbst, verlieren werde, sagte er zu ihr: „Ich liebe Dich. Seit langer Zeit versuche ich, mich mit Dir zu ändern. Du weißt es. Aber Du nimmst nur und gibst nicht. Ich kann nicht mehr.” Bald darauf trennten sich auch diese beiden. Wie es das Märchen will, trafen sich die beiden Männer und sie erzählten einander ihre Geschichten. Als sie fertig waren, sagte der moderne Mann zu dem unsicheren: “Wir haben beide dasselbe erlebt!” Der Unsichere war ein wenig ratlos und nickte daher zustimmend.
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Die Erzählerin aber weiß, dass zwischen diesen beiden eine ganze, große, weite Welt liegt. Lieber Herr Doktor, ich bin am Ende angelangt. Ich nehme in Kauf, dass sie mich nicht mehr für verrückt halten und möchte für morgen ein Frühstück bestellen, mit einem weichen Ei und getoastetem Brot. Der Kaffee soll mild sein, sonst könnte mein Magen Schwierigkeiten bereiten, aber gegen ein Glas Sekt danach hätte ich nichts einzuwenden.
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Die merkwürdige Tante Gutbürgerlich. Das war das Wort, das Hanna zu der Wohnung einfiel. Heinrich hatte sie das erste Mal zu seiner Tante eingeladen und darauf hingewiesen, dass sie ein bisschen merkwürdig sei. Das hatte Hanna nichts ausgemacht, sie war den Umgang mit merkwürdigen Menschen gewohnt. Nicht erst seit ihrer Arbeit als Krankenschwester, schon in ihrer eigenen Familie kam ihr manches merkwürdig vor. Etwa dass ihr Bruder vieles machen durfte, was ihr verboten oder einfach nicht angeboten wurde. Die Ausgehzeiten waren das eine, ein Studium das Andere. Der Bruder durfte Atomphysik studieren, sie wurde Krankenschwester. War das Zufall? Irgendwann hatte sie beschlossen, fortan allem aus dem Weg zu gehen, das ihr seltsam vorkam. Es gelang ihr nicht. Immer wieder begegneten ihr merkwürdige Menschen. Ihr erster Ehemann, der ihr vor Jahren ein Kind gezeugt hatte, gehörte dazu und seine gesamte Verwandtschaft. Sie hatte damals nicht geahnt, dass sie Jahre später dieselbe Geschichte in einer anderen Version erleben würde. Aber beide Geschichten wa-
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ren lange her und so betrat Hanna die Wohnung ohne Scheu. Heinrichs Tante war alles, nur nicht merkwürdig, schoss es ihr bald durch den Sinn. Da hatten sie schon zu Abend gegessen. Heinrich war in der Küche und wusch das Geschirr ab. Er machte das so leise, wie alles, was er tat. Sie liebte diese Ruhe, die er ausstrahlte. Sein Gesicht leuchtete bei den kleinsten Tätigkeiten, er war ganz bei sich - und sie schließlich auch. Ob bei sich oder Heinrich, das war ihr manchmal nicht klar. Wenn er nur etwas schneller mit dem Auto fahren würde! Und schneller wandern! Sie litt unter seinem langsamen Schritt. Letzten Sommer waren sie in Schottland gewesen, ihrem Lieblingsland. Sie wollte ihm alles zeigen, alles. Aber er sah die Blumen am Wegesrand, beugte sich zu ihnen und betrachtete ihre Formen. Immer, wenn er sie Hanna zeigen wollte, war sie bereits viele Schritte voraus und deutete ihm, dass er doch kommen möge. Nein, er wollte nicht wandern wie sie, nicht gierig die Welt durchschreiten. Er wollte stehen bleiben, die Stille hören, ausatmen. Hanna musste lächeln. Langsamkeit gehörte zu Heinrich wie die Löcher zum Emmentaler. Ein schlechter Vergleich, natürlich. Noch dazu, wo Heinrich während seiner Arbeit alles andere war als langsam. Sie war vorsichtig geworden nach ihren zwei Ehen und wollte genau wissen, was ihr nun bevor stand. Sie
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war in seine Praxis gefahren, um die wartenden Patienten zu beobachten und ihren Gesprächen zuzuhören. Die Gesichter waren angespannt gewesen, aber das war normal im Wartezimmer eines Radiologen. Heinrich musste Urteile, die schon längst gefällt waren, aussprechen, verlautbaren. Eines pro Tag lautete auf Tod. Das war das Mindeste, was er täglich mitteilen musste. Aber da waren ja auch die anderen, die Urteile, die auf Bewährung lauteten. Und auch jene, die Freispruch hießen, Leben auf Dauer, auf ewig. Vom medizinischen Standpunkt, nicht vom humanen. Denn dort lautet das Urteil bekanntlich immer auf Tod. Heinrich machte seine Sache auf eine Weise, die Hanna gefiel. Als er sie im Wartezimmer sah, nickte er ihr freundlich zu, als sei sie seine Patientin. War sie das etwa? Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und arbeitete konzentriert weiter. Heinrich hatte sie nie nach dem Grund ihres Besuches gefragt. Sie erklärte ihm schließlich alles, was sie erklären konnte. Er nickte und verstand sie. Bei einem anderen Menschen hätte sie dieses Verständnis verrückt gemacht, bei Heinrich ließ sie es geschehen. Und war froh. Wenn Langsamkeit die Löcher im Emmentaler waren, dann war seine Arbeit der Käse. Das, was den anderen schmeckte. Hanna schmeckte, wenn sie ihn von Ferne betrachtete, alles an ihm.
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Heinrichs Tante hieß Erna. Sie freute sich über den Besuch, sogar über Hanna. Das war eine seltene Erfahrung, den meisten Verwandten war sie immer eine Art Zumutung gewesen. Schon das Kind Hanna galt als „aus der Art geschlagen“. Niemand wusste genau zu sagen, was das heißt. Man sagte es einfach so und ließ das Kind mit seinen Fragen allein. „Reiß dich zusammen!“ sagte die Mutter damals und wenn ihre Tochter wissen wollte, was sie damit meinte, schüttelte diese den Kopf und ging fort. Auch der Vater hatte keine Antwort für sie bereit. Ernas Wohnung war so eingerichtet, dass jeden Moment der Kaiser zu Besuch hätte kommen können, um ihr zu ihrem 90. Geburtstag zu gratulieren. Erna aber schien das nicht zu erwarten. Sie nahm Heinrichs Blumenstrauß dankend entgegen, erkundigte sich nach der Herkunft von Hanna und dem Grund ihrer Anwesenheit. Als ihre Neugierde befriedigt war, ging sie in die Küche und bereitete das Abendessen zu. „Ich finde sie gar nicht merkwürdig“, flüsterte Hanna. „Sie ist erstaunlich rege für ihr Alter.“ Heinrich nickte. „Und dass sie nach Australien fliegen will, finde ich nicht merkwürdig, sondern toll!“ Während des Essens hatte Tante Erna von ihren neuen Plänen berichtet. Nachdem sie mit ihrer Schwester vor fünf Jahren Kanada bereist hatte, wollte sie in diesem Sommer – ihre Schwester war leider vor ei-
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nem Jahr gestorben – mit drei Freundinnen nach Australien fahren. Der Sohn einer dieser Frauen sei vor vielen Jahren dorthin übersiedelt und habe sie eingeladen. „Wir haben uns für eine Schiffsreise entschlossen“, sagte Erna während der Nachspeise. „Wissen Sie, Hanna, ich reise für mein Leben gern. Aber fliegen kann ich nicht leiden. Es ist, als belüge man die Zeit. Am Morgen geht es los, und am Abend ist man spätestens am Ziel angelangt. Das ist nicht real. Lachen Sie nicht! Ich weiß schon, dass man real dort anlangt. Aber mein Kopf ist noch nicht da. Verstehen Sie? Es ist wie die Geschichte mit dem Indianer, der mit einem Auto mitfahren musste und den Chauffeur immer wieder anwies, stehen zu bleiben. Irgendwann wollte der Fahrer wissen, warum der Indianer immer stehen bleiben will. Weil meine Seele noch nicht angekommen ist, antwortete dieser. Deshalb muss ich immer auf sie warten. Das klingt in ihren modernen Ohren wahrscheinlich albern.“ Hanna war anderer Ansicht. „Nein, ich verstehe das gut. Wahrscheinlich ist das jenes Gefühl, das Heinrich hat, wenn ich zu schnell gehe.“ Heinrich lachte. „Ist sie dir zu schnell?“ fragte Erna ihren Neffen. „Manchmal. Nein“, korrigiert er sich. „Eigentlich nicht. Ich mag ihre Eile.“
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„Eile ist wahrscheinlich eine relative Sache. Aber Flugzeuge sind immer zu schnell, da bin ich mir sicher. Interessiert Sie Australien überhaupt?“ Hanna nickte. Die Vorstellung, dass drei Damen in einem Alter, das sie sich nicht einmal vorstellen wollte, eine Reise auf die Sträflingsinsel machen wollten, faszinierte sie. „Wir haben uns bereits einen genauen Reiseplan gemacht. Abgesehen von der Schifffahrt, auf die haben wir ja keinen Einfluss. Danach möchten wir jedenfalls zuerst Sidney erkunden. Heinrich, kannst du mir den Führer bringen?“ Heinrich brachte das Buch. Auf der letzten Seite, der Umschlagseite, war ein Plan der Stadt. Darauf hatte Erna bereits einige Punkte eingetragen. „Hier, sehen Sie, das ist das eigentliche Zentrum der Stadt. Wahrscheinlich sieht die Stadt genauso aus wie Illinois oder irgendeine dieser amerikanischen Städte. Aber vielleicht gibt es auch einen Unterschied. Man weiß das ja nie. Jedenfalls wollen wir uns das anschauen. Nicht zu lange, etwa vier, fünf Tage. Danach wollen wir ins Landesinnere.“ „Haben Sie keine Sorge wegen des Klimawechsels? Ich habe einige Zeit in Australien gelebt. Das war nicht ganz einfach.“ „Heinrich, hast du das gewusst? Warum hast du mir das nicht erzählt? Das ist ja wunderbar!“ Tante Erna war begeistert.
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„Haben Sie dort Bekannte? Wir könnten sie besuchen! Pardon, ich meine, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Hanna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte mit Heinrich niemals über Australien gesprochen. Sie hatte zwar nicht vor gehabt, es ihm zu verschweigen, aber es ergab sich auch nie die Gelegenheit, darüber zu sprechen. Nun war ihr die eigene Geschichte aus dem Mund gefallen wie eine Flutwelle. Am liebsten hätte sie den Satz gestrichen, Heinrich könnte meinen, sie habe ein Geheimnis vor ihm. Aber der sah sie lächelnd an, als freue er sich über ihre Offenheit. „Nein, ich habe leider keine Bekannten dort. Ich bin damals mit meinem Ex-Mann ausgewandert. Das heißt, damals war er ja noch mein Mann. Jedenfalls wollten wir dort bleiben. Aber es ging nicht.“ „War ihr Mann denn Australier?“ „Nein. Er ist Schwede.“ „Ach so, ihr wolltet also flüchten.“ Erna nickte wissend. „Das klappt nie, nicht einmal in Australien. Kein Mensch wird ein anderer, bloß weil er an einem anderen Ort lebt. Und warum sind Sie jetzt geschieden?“ Mit so viel Offenheit hatte nicht einmal Hanna gerechnet. „Uh! Das ist nicht einfach zu erklären.“ Erna sagte kein Wort, sondern blickte nur gespannt auf Hanna.
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„Nun, er war ... Ich weiß nicht, wie ich es kurz sagen soll. Er wollte mich in einen goldenen Käfig sperren.“ Erna nickte wissend und winkte mit der Hand, als brauche sie gar keine weiteren Erklärungen. „Dann ist schon alles klar. Kein Käfig ist so schön, dass er einem die Freiheit ersetzen kann. - Wollt ihr beide eigentlich heiraten?“ Nun musste Heinrich lachen. „Tante! Du solltest ein bisschen diskreter sein. – Ja, wir wollen heiraten. Aber es weiß noch niemand.“ Hanna sah ihren Heinrich entsetzt an. Sie wollte keinesfalls heiraten. Sie hatte von dieser Art der Eigentumsansprüche für ihr Leben genug. Und nun machte er ihr vor einem fremden Menschen einen reichlich unbeholfenen Heiratsantrag. Das konnte sie schon gar nicht leiden. „Auch Hanna nicht“, setzte er hinzu, bevor sie aufbegehren konnte. Er hatte eine seltsame Art, sie zum Schweigen zu bringen. Erna lachte. „Du hast Glück mit ihr. Sie könnte dich auch zum Fenster raus schmeißen.“ „Dazu habe ich große Lust!“ rief Hanna. Heinrich fasste mit der Hand an den Mund. „Das war keine glückliche Bemerkung.“ „Anscheinend nicht“, sagte Erna mit einem Blick zu Hanna. „Aber ich finde, Ordnung ist für alle Lebensbereiche wichtig, auch für eine Beziehung. Heinrich ist vielleicht nicht das, was sich eine junge Frau als
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Idealbesetzung für einen Ehemann vorstellt, andererseits gibt es eine ganze Menge schlechterer Kandidaten. Ich weiß, wovon ich rede.“ Sie seufzte, offensichtlich bewegt von Erinnerungen, schwer auf. Hanna warf Heinrich einen todbringenden Blick zu, er sah sie liebend an. „Bevor wir hier eine Krisensitzung veranstalten, möchte ich lieber meine Reispläne zu Ende führen.“ Tante Erna war von ihrem Ausflug in die Vergangenheit zurück gekehrt und wandte sich wieder der Zukunft zu. „Bettis Sohn wohnt irgendwo in der Nähe von Brisbane. Er war mal Schauspieler und bekam dann seine Sinnkrise. Sich jeden Abend verkleiden, als wäre Fasching und einen Menschen darstellen, den man nicht leiden kann, hat er gesagt, das ist für einen reifen Mann nichts. Verrückt, nicht wahr? Wollte sich zurückziehen, ganz für sich sein, Selbstfindung, na ja, man kennt das. Jedenfalls hat er sich dort verliebt und eine Theaterschule aufgebaut. Mit anderen Worten: er macht dasselbe wie vorher nur ein paar Tausend Kilometer entfernt. Ist das nicht komisch? Jedenfalls möchten wir den Mann besuchen.“ „Wie lange wollen Sie denn bleiben?“ warf Hanna ein. „Ein paar Wochen. An Zeit fehlt es uns nicht. Falls nicht eine von uns unterwegs das Zeitliche segnet.“ Tante Erna kicherte.
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„Haben Sie auch alle Schutzimpfungen gemacht? Heinrich, hast du deine Tante schon geimpft?“ Hanna konnte ihren früheren Beruf nicht verleugnen, sie war Krankenschwester gewesen und keine sieben Pferde hätten sie ohne Schutzimpfung zum Verlassen des alten Kontinents gebracht. „Das brauchen wir nicht. Wir sind alle drei robuste Frauen.“ „Wieso drei? Sie sagten doch, sie fahren zu viert.“ „Wahrscheinlich. Herta schwankt noch ein wenig, sie findet die Reise ein wenig, wie soll ich sagen, aufreibend. Sie wollte lieber nach Ägypten. Aber das kenne ich schon zu gut. Jedenfalls kann ich Impfungen nicht leiden, und mir ist noch nie etwas passiert, nicht wahr, Heinrich?“ Der nickte gottergeben, nur Hanna nahm den Kampf mit der Löwin auf. „Sie sollten sich zumindest gegen Hepatitis C impfen lassen. Das ist das Allermindeste.“ „Sie ist ziemlich hartnäckig, findest du nicht?“ Erna wandte sich leicht erzürnt an Heinrich. „Für dich mag das ja gut sein, aber ich brauche dieses Bemuttern nicht, kannst du das deiner Freundin sagen!“ Hanna akzeptierte den indirekten Befehl und schwieg, so gut sie konnte. „Also“, fuhr die alte Dame fort, „wir werden nach ein paar Tagen mit einem Inlandsflug nach Queensland kommen und es uns dort gemütlich machen. Ein
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bisschen Erholung wird uns gut tun. Danach, Heinrich, holst du mir bitte die Karte von Queensland?“ „Tante, wir müssen jetzt gehen, ich habe noch einige Dinge in der Praxis zu erledigen. Du kannst uns das nächste Mal berichten, wie die Reise weiter geht. Der Abflugstermin ist erst in einem Monat.“ Tante Erna erstarrte für einen Augenblick. „Ja, wenn ihr keine Zeit mehr für mich habt. Gut, dann eben beim nächsten Mal.“ „Du musst sie unbedingt dazu bringen, sich impfen zu lassen. Du weißt doch, wie gefährlich eine solche Reise in ihrem Alter ist.“ Heinrich nahm Hanna in seine Arme. „Liebes, du bist wirklich rührend.“ „Verstehst du nicht, dass das wichtig ist?“ „Ja, es wäre wichtig, wenn sie verreisen würde. Aber sie tut es nicht. Sie war seit Jahren nicht weiter weg von ihrer Wohnung als vielleicht 100 Meter. Sie war nie in Ägypten und die Freundinnen gibt es nur in ihrer Phantasie.“ „Das ist alles Lüge?“ „Nein“, sagte Heinrich, „Phantasie. Und für sie bedeutet es Glück. - Willst du mich heiraten?“
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Der Himmel ist ein schwarzes Loch Boot gleitet über braunes Wasser. Himmel grün. Wind duftet nach frisch gefallenen Nüssen. Weit ist die Welt und keine Zeit, wohin das Auge reicht. Nur abends ruft die Köchin. Kartoffelsuppe gibt es, wie beinah jeden Tag. Danach geht es weiter, hin zu fremden Ländern, wo in Höhlen taube, einäugige Riesen lauern mit kinderfressenden Gänsen. Vor nichts haben sie Angst außer vor Rananana, der Hexe mit den blauen Haaren und den spitzen Krallen. Gefahren allüberall. Und ein Wunder ist es, dass Callas, die kreischende Katze, Beherrscherin der Meere, noch niemand zerbissen hat. Unter den Brettern wohnt Kaspar, der Zwerg. Er ist der gute Geist des Schiffes, doch ein Zauberwort verwandelt ihn in einen Dämon: Sag nicht: „Es ist acht!“ denn dann, hab´ acht, kommt Kaspar, der Zwerg und die Welle wird Berg. Der Steuermann lenkt das Schiff durch das Meer, da gischt eine Welle über ihn her. Er hält sich fest, am
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Steuerrad fest, und schreit voller Furcht: „Gebt acht, das Schiff ist verflucht.“ Doch Kaspar, der Gute, hört leider schlecht und hört, „Es ist acht!“ sein Böses erwacht, er schleudert das Boot, ans Ende der Welt. Und alle sind tot! Hoi, wie weich die Landung ist. „Noch einmal“, lacht das Kind. „Kaspar soll noch mal böse sein.“ Die harte Erde ist ein Bett, der Himmel eine Zimmerdecke, das Meer ein Bretterboden und das Schiff ein Trog mit Nüssen, das Schlafzimmer der Großeltern eine weite Welt. „Schluss für heute“, lächelt der alte Mann. „Es ist schon dunkel.“ „Schläft die Sonne jetzt?“ fragt Lisa, die nicht schlafen will. „Warum?“ „Weil sie den ganzen Tag wach war.“ „Erzähl mir eine Geschichte, Opapa. Was die Sonne den ganzen Tag?“ Sie kuschelt sich an den vertrauten Körper. „Am Morgen erwacht sie. Dann streckt sie ihre Strahlen und dehnt sich, damit sie munter wird. Wie du. Sie atmet tief ein. So.“ Der Großvater wölbt seinen Bauch vor. „Auch im Winter?“ fragt das Kind vernünftig und schaut erwartungsvoll. „Im Winter kommt Itzeho, der Wind des Nordens. Er bläst seinen kalten Atem über sie Erde.“
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Der Großvater pfeift durch seine Zähne, so schaurig, dass es Lisa fröstelt. „Die Gräser ducken sich, und die Tiere flüchten in ihre Höhlen. Dort warten sie auf den Frühling. Aber Itzeho trägt auch einen großen Rucksack voll Schnee, den streut er auf die Erde, damit die Kinder Schneemänner bauen können und Schlitten fahren und Eis laufen.“ „Ich nicht“, schreit Lisa. „Da falle ich tausendmal hin.“ „Dann wird es dir wie Opeka ergehen, dem Mädchen, das nicht laufen wollte. Weil es immer hinfiel, beschloss es, einfach sitzen zu bleiben. Das sah einfach aus, und so war es am Anfang auch. Bald aber...“ „Franz!“ unterbricht die dröhnende Stimme der Großmutter die Erzählung. „Du hast versprochen, Lisa spätestens um neun Uhr schlafen zu legen.“ „Ja“, ruft der Großvater in die Küche. Und leise sagt er zu Lisa: „Diese Geschichte erzähle ich dir morgen.“ Lisa protestiert: „Aber die Sonne! Was macht sie am Abend?“ „Sie ist müde. Wie du und ich. Sie legt sich in ihr Wolkenbett und deckt den Himmel unter einer Sternendecke zu. Es wird dunkel.“ „Wie in einem Loch?“ „Ja“, sagt der Großvater, „wie in einem Loch. Und morgen, wenn du deine Augen öffnest, ist die Sonne wach und leuchtet. Nur für dich.“
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„Wenn es regnet aber nicht.“ „Nein, dann nicht“, lächelt Opapa. „Aber du wirst sehen, morgen scheint die Sonne. Ich weiß es. Schlaf jetzt. Gute Nacht.“ „Noch eine Geschichte“, fordert Lisa maßlos. „Morgen. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Er küßt Lisa sanft auf die Stirn. Kurze Arme umfassen seinen Hals, ziehen großen Kopf zu kleinem Körper. „Ich hab´ dich lieb“, strahlt Lisas Stimme und ihre Augen leuchten. „Ich hab´ dich auch lieb“, flüstert der Großvater und erwidert gerührt den zarten Kuss des Mädchens. Am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne, wie der Großvater es versprochen hat. Und schien sie nicht wirklich, so bastelte er ihr eine aus Pappe, malte sie gelb an und der Himmel schien endlos blau. „Wann darf ich Opapa besuchen?“ Lisas Augen heften sich an die ihrer Mutter. „Bald. Dein Großvater ist im Krankenhaus.“ „Ich weiß“, nickt das Kind. „Dort wird er gesund.“ Die Mutter nimmt es in den Arm, drückt seinen weichen und festen Körper an sich. „Was hast du?“ fragt Lisa und entwindet sich der Umklammerung. „Nichts. Ich hab´ dich lieb.“ „Das sagt Opapa auch. Ich will mit ihm Boot fahren. Und Kaspar soll mich auf die schmeißen. Und Itzeho
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soll Schnee bringen. Undundund ... Mama, wann darf ich zu Opapa?“ „Bald“, wiederholt die Mutter. „Hilfst du mir Wäsche waschen?“ „Oh ja!“ jubelt Lisa und stürmt in die Küche. „Wann kommt mein Opapa?“ Lisas Augen glänzen nicht mehr, sie kennt die Antwort und hofft vergeblich auf eine neue. Die kommt nicht, wie der Großvater nicht kommt. Oder diesmal doch? Die Mutter atmet schwer. Sie setzt sich in den großen Stuhl und winkt ihr Kind zu sich. Das klettert auf ihren Schoß, richtet sich zurecht. „Weißt du“, beginnt die Frau, „dein Opapa kann nicht mehr zu dir kommen.“ Lisa richtet sich auf. „Wann ist denn endlich ‘bald’ ? Du hast gesagt, er kommt bald.“ Die Mutter seufzt. „Es geht nicht.“ „Warum?“ will Lisa wissen. „Ist er fortgegangen?“ Der Kopf vor ihr nickt. „Wo ist er?“ Die Frau zögert, sagt schließlich: „Der Großvater ist im Himmel.“ „Dort, wo die Sonne ist“, freut sich Lisa, rutscht vom warmen Schoß und läuft zum Fenster. „Hier bin ich,
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Opapa. Kannst du mich sehen? Wann kann ich dich besuchen?“ Die Mutter geht zu ihr. „Ja, er kann dich sehen. Aber du kannst ihn nicht mehr besuchen. Der Himmel ist zu weit weg.“ „Warum ist Opapa dann dort?“ „Alle Menschen kommen in den Himmel, wenn sie ... Großvater war schon alt. Und müde. Er hat sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet. Und nun darf er bei seinen Freunden sein. Dort oben ist es schön. Großvater hat es warm, immer scheint die Sonne, und er kann sich endlich ausruhen. - Lisa, hörst du mir überhaupt zu?“ Lisa steht still da. Sie hat ihren Daumen in den Mund gesteckt, dreht mit der anderen Hand aus ihren kurzen Haaren eine kleine Locke, zieht stetig daran, zieht schließlich so heftig, dass ihr Kopf sich zur Seite neigen muss. „Lisa!“ ruft die Mutter. Das Kind rührt sich nicht, seine Augen versuchen, die dunkle Wahrheit zu erfassen. Plötzlich lacht es. „Spielen wir Clown, Mama?“ Die Mutter nickt erleichtert. Von nun an fragt Lisa nicht mehr nach ihrem Großvater. Es ist, als hätte das Kind ihn vergessen. „Tut es hier weh?“ will der Mann wissen und drückt auf Lisas Bauch. Der zuckt unter der Berührung zu-
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sammen, das Kind schüttelt den Kopf. Der Arzt wendet sich an die Frau. „Sie muss sofort ins Krankenhaus. Akute Blinddarmentzündung, wir haben nicht viel Zeit.“ Die Mutter nickt und streicht Lisa übers Haar. „Ich will nicht ins Krankenhaus, ich bin nicht müde“, ruft die, während langsam Tränen in den Augen sammeln. Ihre Mutter will sie umarmen, das Kind wird zornig. Es wehrt sich gegen den Zugriff. „Nein!“ ruft es entschlossen und läuft davon. Raus aus dem Zimmer. Ein Stuhl fällt. Lisa achtet auf nichts, flüchtet in die Küche, unter den Frühstückstisch. Dort macht sie sich klein, krümmt sich zusammen, zieht die Beine an sich, drängt sich an die Wand. Die Mutter ist ihrer Tochter gefolgt, sie hockt sich vor sie, versucht ihr zuzureden. Worte rieseln aus ihrem Mund, Lisa hebt beschwörend die Hände. Die Mutter versucht sie hervorzuziehen. Lisa krabbelt blitzschnell an ihr vorbei, rennt wieder zurück ins Wohnzimmer, sieht den Arzt, bleibt mitten im Zimmer stehen, erstarrt. Sie atmet heftig ein, schreit einen unbekannten Schmerz aus sich heraus, atmet ein, schreit, lauter, immer lauter. Es scheint kein Ende zu nehmen. Das Gesicht rot. Tränen laufen, ein Sturzbach, die Wangen hinunter. Die Augen weit aufgerissen, darin Entsetzen, Angst. Ratlos sieht die Mutter den Arzt an: „Ich weiß nicht, was sie hat. Das ist das erste Mal, dass sie ...“ Sie zuckt mit den Schultern, Tränen nun
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auch in ihren Augen, während Lisas Schreien einen nicht enden wollenden Höhepunkt erreicht. „Warten Sie ein bisschen“, bestimmt der Arzt, als die Mutter sich ihrer Tochter nähern will. Er geht zu Lisa. Ihre abwehrenden Hände zögern. Der Mann nimmt sie sanft in die Arme. Wie abgeschnitten endet das Weinen des Kindes. Sein Körper atmet aus, lehnt sich an den fremden Körper. Lisa steckt den Daumen in den Mund, nimmt eine Locke ihrer langen Haare, dreht sie. Das Boot auf braunem Wasser. Itzeho, der eisige Wind. Rananana, die Hexe. Die einäugigen Riesen und die Sonne aus Pappe, die über Lisas Bett aufging. „Es gibt keine Gänse, die Kinder fressen, weißt du“, nuschelt das Kind. „Natürlich nicht“, stimmt der Mann zu. „Haben die Gänse Opapa gefressen?“ will Lisa endlich wissen und hält sich die Ohren zu. „Wie kommst du denn darauf?“ fragt die Mutter aus dem Hintergrund. Lisa hört nicht. Sie klammert sich an den Arzt, der sie entschieden hochnimmt. „Wie fahren jetzt ins Krankenhaus, Lisa. Dort wirst du gesund und bald kommst du wieder nach Hause.“ „Nein“, sagt das Kind leise und ergeben, „Opapa ist auch nicht bald gekommen. Vom Krankenhaus kommt man nicht wieder nach Hause,“ „Wohin denn?“ lächelt der Mann beruhigend. „In den Himmel. Und der Himmel ist ein schwarzes Loch.“
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Das Letzte aus dem vorigen Jahrtausend Zum mehr oder weniger krönenden Abschluss dieses Buches ein Blick zurück, ins vorige Jahrtausend. Da gibt es Schnitzel, die haben wir in der Eile bereits vergessen, obwohl sie kaum ein paar Jahre alt sind. Man darf es nicht vergessen oder gar alte Zeiten idealisieren: Bereits vor der deutschen Diskussion über die Liebe (natürlich der zum Vaterland, nicht der zu Menschen), der Reform der Schweizer Jodler- und Fahnenschwingervereine (nun dürfen dort auch Frauen die Fahnen schwingen, was einer Revolution gleichkommt), der österreichischen Rentenreform oder dem Klubobmann der FPÖ gab es Satire in real life.
Dienstag, 1. Dezember 1998 Karl Habsburg, jener, der schon einmal vergessen hat, ein Goldketterl beim Zoll zu melden, jener also, der Paneuropa auch zollamtlich längst verwirklicht hat, jener hat für seinen kleinen Wahlkampf auch ein bisserl Geld genommen.
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Gut, das tun sie alle, Geld nehmen. Aber unser Karl, so a Koarl, nahm das Geld von World Vision. Das ist ein Verein, der für Arme in der 3. Welt Geld sammelt. Und es dann einem Habsburger gibt. Der Adel als 3. Welt Problem. Eine ganz neue Sicht der Dinge. "Uns bleibt auch nix erspart." Immerhin blieb dem Kaiser erspart, wie sein Enkerl der staunenden Welt erklärte, dass er kein Bummelstudent sei. Im parlamentarischen Protokoll – das hätt’s zu Seiner Zeit auch nicht gegeben! – steht der Beweis, dass Seine Hoheit Karli immer fleißig waren: Die schriftliche parlamentarische Anfrage Nr. 1199/J -N R/ 1996. betreffend Bummelstudent Karl Habsburg, die die Abgeordneten Mag. Maier und Genossen am 19. September 1996 an mich gerichtet haben, beehre ich mich wie folgt zu beantworten: Welche Studien bzw. Fächer wurden von Karl Habsburg bisher an der Universität Salzburg inskribiert? Antwort: Rechtswissenschaften (Wintersemester 1981/82 bis Sommersemester 1993); Spanisch und Politikwissenschaften (seit Sommersemester 1983): studium irregulare (seit Sommersemester 1993). Dazu muss gesagt werden, dass die Salzburger Universität bekannt ist für ihre strenge Auslese, es handelt sich um eine international bekannte Eliteuniversi-
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tät. Und an dieser studiert der kleine Habsburger bis 1996 immerhin 15 Jahre und hat schon seine Diplomarbeit eingereicht. Das soll ein Bummelstudent sein? Mitnichten! Er war hauptberuflich als Ehrenamtlicher tätig! Der Paneuropa-Pressedienst verweist in der Sache „Karl Habsburg und sein Studium“ auch auf einen Leserbrief, der in der Vorwoche an die meisten Redaktionen ging. Dort heißt es: „Faktum ist: Karl Habsburg engagiert sich seit seiner Matura ehrenamtlich, aber dennoch hauptberuflich für die Paneuropabewegung. Er hat sein Jus-Studium nach der Matura begonnen und dies sodann seit den frühen achtziger Jahren ruhen lassen. Vor vier Jahren hat er neu mit einer Studienkombination aus Rechtsgeschichte und Philosophie (studium irregulare) begonnen und wird dieses in wenigen Semestern abschließen. Die Diplomarbeit ist eingereicht. Zur Erläuterung des studium irregulare: Dies ist kein Sonder- oder Ausnahmefall, es beantragen jedes Jahr mehrere Tausend Studenten ein solches. Wir weisen noch darauf hin, dass dieser Tage rechtliche Schritte gegen die erhobenen Vorwürfe gesetzt werden (Vorwurf einer strafbaren Handlung, üble Nachrede).“ Also da bleibt mir nichts anderes übrig als ohne Ironie zu sagen: Wer 15 Jahre intensiv studiert und noch dazu hauptberuflich Ehrenamtlicher ist, der ist kein Bummelstudent! Ich hoffe, die jetzige Regierung sieht das auch so.
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Freitag, 4. Dezember 1998 Ich habe die Stimme einer Schriftstellerin im Radio gehört, die Mut macht in dieser kalten Zeit. Leider habe ich ihren Namen nicht notiert, Peter Huemer interviewte sie. Sie erzählte von Wien, von ihrer Antwort auf die heutige "coole" Zeit. "Du bist nicht diese Wählerstimme, du bist mehr. Du bist die Antwort“, sagte sie und erzählte von Paul Blau und der Nazizeit: "Er ging also 1938 zu der Versammlung der Widerstandskämpfer. Und alle anderen gingen ihm entgegen, zur Rede von A. Hitler am Heldenplatz. Und dieser junge Mann dachte bei sich, kann ein Mensch allein Recht haben gegen alle? Und er antwortete sich, manchmal kann ein Mensch allein Recht haben. Und dieser Mensch hielt in diesen Stunden die Menschheit."
Samstag, 5. Dezember 1998 Der Chemiker Kohn erhielt, für österreichische Verhältnisse unversehens, den Nobelpreis. Plötzlich erinnerten sich manche in Österreich, dass Herr Kohn ja eigentlich Österreicher ist. Gut, man hatte ihn vertrieben.
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Gut, man hatte ihn „danach“, als das Reich zusammenbrach, pardon, Österreich befreit wurde, nicht in seine Heimat geholt. Aber eigentlich war er, erfolgreich, eben doch Österreicher. Herr Kohn entgegnete seinen Vereinnahmern in einem Interview sinngemäß: „Als ich hierher kam, hörte ich als erstes, dass sich die Österreicher als Opfer darstellten. Da bin ich gleich wieder umgedreht.“ Wer will es ihm verübeln?
Freitag, 18. Dezember 1998 Vorgestern Nacht, gegen 23 Uhr, begannen Amerikaner und Engländer den Irak zu bombardieren, Bagdad. Clintons Enthebungsverfahren beginnt möglicherweise heute. Es gibt nichts Gefährlicheres als verwundete Männer.
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Sonntag, 20. Dezember 1998 Herr Haider behielt wieder einmal Recht. Das Unternehmen, das Trivial Pursuit verkaufte, wurde dazu verdonnert, alle Karten mit folgendem Inhalt zu vernichten: „Wer leugnet hartnäckig die Existenz von KZ's und nennt sie beschönigend Straflager?“ Antwort: „Herr Dr. Haider.“ Das Gericht wertete wahrscheinlich das Wort hartnäckig als unwahr.
Samstag, 26. Dezember 1998 Unser Präsident hat eine second-first-lady. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit heiratete er Frau Löffler am Vormittag. Abends wurde in der Zeit im Bild ein Video von der Hochzeit vorgeführt, samt JaSagerei und allem drum und dran. Man kann die Öffentlichkeit noch so gut ausschließen, eine Kamera ist immer dabei.
Mittwoch, 30. Dezember 1998 Das Recht auf einen Teil des Karenz"urlaubs" (so steht das im Gesetz, denn Kleinkinder verhelfen zu einem Urlaub genauso wie das sogenannte 13. Gehalt,
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das ja hierzulande, im Land der Bittsteller, Opfer und geistig Unterdrückter Urlaubs"beihilfe" heißt) darf keine Pflicht sein, meint der Familienminister Bartenstein in der Zeit im Bild. Deutlicher ausgedrückt sollen die Frauen keinen Anspruch darauf haben, dass auch Männer den „Urlaub“ mit Kindern genießen müssen, denn das wäre eine „versteckte Diskriminierung der Frauen“. Was der Minister damit meinte, versteht hoffentlich wenigstens er. Jedenfalls ist es nicht diskriminierend, wenn derzeit immerhin noch nicht ganz ein Prozent der österreichischen Männer einen Teil des Karenzurlaubes in Anspruch nehmen. A propos Urlaub: Das Jahr 1998 war das wärmste seit der exakten Klimamessung, also seit mehr als 100 Jahren. Die letzten 20 Jahre waren überdurchschnittlich warm. Beispiele aus dem letzten Jahr: Bad Ischl hatte den heißesten Tag mit 37 ° im Sommer, im Februar war es in Klagenfurt mit 21,5 ° am wärmsten.
Donnerstag, 31. Dezember 1998 Thatcher, Gehrer und Haider - die Frauen sind schon in der Überzahl - ziehen an einem Strang.
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Die Frau Schulministerin Gehrer fordert Suchttests für alle neuen LehrerInnen. Eine "drogenfreie Schule" soll entstehen. Alkoholismus und Nikotinsucht gehören vorläufig nicht dazu Mehr Konsequenz, Frau Ministerin! Auch wenn die Gefahr groß ist, dass wir dann einen Lehrermangel haben, da müssen wir durch!
Samstag, 9. Jänner 1999 Mercedes Echerer wird also von den Grünen (vom Herrn Voggenhuber persönlich!) zur EUAbgeordneten vorgeschlagen werden, wenn die Basis zustimmt. Mercedes Echerer ist Alleinerzieherin von Zwillingen, so sagt sie, sie ist Schauspielerin, so sagt sie und sie ist dann halt auch EU-Abgeordnete, so sagt sie. So tüchtig ist nicht bald eine. Tja, auch bei den Grünen zählt endlich die Leistungsfähigkeit zur wichtigsten politischen Kategorie!
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Freitag, 15. Jänner 1999 Vorige Woche in den SN ein Bericht aus Washington über neue Werbemaßnahmen zur Rekrutierung von Priestern. "Arbeite für den großartigsten Boss der Welt" lauten nun die Verlockungen der katholischen Kirche in Milwaukee. Auch in Großbritannien ist man aufgeschlossen und propagiert Jesus als Che Guevara mit Dornenkrone. Nuja, jetzt, wo die Kommunisten vom Lauf der Geschichte überholt wurden ... vielleicht sollte man jetzt Katholik werden?
Freitag, 22. Jänner 1999 Stern 3/99: Die Vorsitzende der PDS-Fraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommern wurde mit einer Wimperntusche um DM 22,90 gesehen.
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Ideologisch nicht in Ordnung, aber gesetzlich gedeckt. Was die Zahlung des Preises anlangt, war die Sache leider umgekehrt: ideologisch in Ordnung, gesetzlich nicht gedeckt. (Mit anderen Worten, Frau Caterina Muth nahm im Feinkostladen "Schlecker" das Ding mit, manche sagen dazu klauen.) Bereits 1995 nahm die PDS-Fraktionschefin Petra Sitte - ausgerechnet - bei einem DM-Markt einen Kosmetikstift mit. Mit den Kommunisten hat man es wirklich nicht leicht.
Dienstag, 26. Jänner 1999 „Politik ist heute ein Erlebnisprodukt geworden“, meint Andreas Reiter, Zukunftsforscher. Helene Karmasin gibt ihm recht, wenn sie über die Werbung für PolitikerInnen berichtet: „... dann müssen wir schauen, dass sie herzlich, lustig und fröhlich sind.“ Und: „Die Geste muss bereits alles beinhalten, inklusive dem Programm.“ Zumindest das haben manche Parteien bereits verwirklicht.
Sonntag, 31. Jänner 1999 Wir haben das Jahr des Gehirns. - Unglaublich!
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Mittwoch, 10. Februar 1999 Was wird der Papst dazu sagen? Einem wegen Kindesmissbrauch verurteilten Priester wurde per Gutachter mitgeteilt, dass er „eine neurotische Entwicklung hat, ausgelöst durch religiöse Bindungen, eine sexualfeindliche Erziehung und fehlende sexuelle Erfahrung“. Das Urteil lautete auf 3 ½ Jahre. TT, 23. April 1999
Die Lage ist nicht ernst Sensationelles wurde in der Zeit im Bild am Mittwoch gemeldet: ORF als einzige Fernsehanstalt in Galtür! Wie kam es dazu? An sich ganz einfach dadurch, weil keine andere TV-Anstalt dort war. Warum aber sollten CNN, BBC oder auch nur RTL in Galtür sein? Niemand außer den ORF-Reportern weiß es und selbst die sind ein wenig unsicher. Frage aus dem Studio in Wien an den frierenden Reporter in Galtür: „Wie ist die Lage?“ Ernst, aber nicht trostlos, könnte man sagen, aber lassen wir den Reporter, der dekorativ vor einem Campingbus mit Satellitenanlage steht, selbst zitternd antworten: „Es gibt Lebensmittel und Zeitungen. Aber gestern war die Lage noch schlimmer.“
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Was das bedeutet, verschweigt uns der rasende Reporter gnädig. Es steht zu befürchten, dass es keine Zeitungen gab. Noch schlimmer ist nur das Abenteuer, das der Berichterstatter lebend überstand. „Unser Satellitenwagen konnte noch nach Galtür fahren, ich selbst musste mit dem Hubschrauber hierher fliegen.“ Man stelle sich vor! Mit dem Hubschrauber! Dieser tapfere Mann begibt sich mit einem unsicheren Fluggerät mitten ins Zentrum ungeahnter Gefahren, dorthin, wo vor wenigen Stunden es noch an Zeitungen mangelte, wo deutsche Touristen nicht ein noch aus wussten, weil sie nicht arbeiten konnten, sondern weiterhin Urlaub machen mussten! Wie würde dieses Abenteuer enden? Mit Mord und Totschlag? Den Deutschen ist alles zuzutrauen, wenn sie nicht arbeiten können. Vorläufig glimpflich, denn der Reporter verabschiedet sich aus Galtür mit der Drohung, sich exklusiv wieder zu melden. Um weiteres Unheil zu vermeiden, plädiere ich für die sofortige Verleihung des Egon-Erwin-Kisch-Preises an den ORF-Mann, dessen Namen mir leider entfallen ist und für seinen Abzug aus Galtür. Egon Erwin Kisch berichtete immerhin phantastisch über den großen Brand in Prag, ohne selbst dabei zu sein. Möge sich der ORF daran ein Beispiel nehmen!
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Freitag, 7. Mai 1999 Eine Stewardess der British Airlines wurde beinahe von ihrem Unternehmen gekündigt, weil sie nach einer Wette mit dem Piloten um das Flugzeug rannte. In ihrer Unterwäsche. Man entschloss sich höheren Ortes doch zur NichtKündigung. Ob die Dame eine Belohnung wegen Förderung des Image bekommen hat, wurde verschwiegen.
Samstag, 8. Mai 1999 Am 1. Mai 99 - genau, am Tag der Arbeit, dem Feiertag der Sozialisten, vulgo Sozialdemokraten - erstickte im Flugzeug ein abgeschobener Mensch. Ein Nigerianer. Einer, dem man den Mund zugeklebt hatte. Einer, der an Asthma litt, wovon niemand wusste. Wie auch, wir sind im zivilisierten Europa. Der Innenminister, gestützt von der Kronen Zeitung, tritt doch nicht zurück.
Dienstag, 11. Mai 1999 Nachdem Innenminister Schlögl gestern den tollen Vorschlag mit dem Sturzhelm für Abschubhäftlinge (damit sich niemand verletzen kann, soll jeder, ausge-
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nommen die Polizisten, beim Abtransport der Menschen einen Sturzhelm tragen) gebar, stellte sich heute die USA als Staat der Doofies vor. Vor kurzem detonierte ja eine Bombe in der Botschaft Chinas in Jugoslawien. Im Laufe der Zeit wurden folgende Erklärungen geliefert, die alle sehr glaubwürdig sind – heute im ORF-Report diese: Die CIA habe 7 Jahre alte Stadtpläne für die zu bombardierenden Ziele gewählt. Die chinesische Botschaft sei unglücklicherweise innerhalb dieser 7 Jahre umgezogen, das habe die CIA nicht bemerkt. Die chinesische Flagge, die seither vor der Botschaft im Wind flatterte, haben die amerikanischen Bonds offensichtlich für eine besonders hinterlistige Taktik des Herrn Milosevic gehalten. Zum Beweis, dass Österreich mit den USA in bestimmten Bereichen mithalten kann, wurde unser Verteidigungsminister Fasslabend vors Mikrofon geholt. Er erklärte den verdutzten Zuschauern, dass so etwas schon mal passieren kann. Schließlich „engagieren sich“ (sic!) die USA eben in allen Staaten der Welt, da fließen Tausende Informationen zusammen, da könne sich schon ein Fehler einschleichen. Und wenn die Bombe nicht gerade ins österreichische Verteidigungsministerium einschlägt, ist alles verzeihbar.
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Mittwoch, 12. Mai 1999 Wo der Wahnsinn genau zu Hause ist, ist nicht mehr auszumachen. Und ein „illoyaler Ex-Minister“ (Caspar Einem), wie er von manchen Genossen nun genannt wird, behauptet gar, dass im Falle des umgebrachten Schwarzen höhere Beamte etwas von den Klebebändern gewusst haben. Man stelle sich vor! In Österreich behauptet ein Minister, dass ein Beamter etwas wusste! Ein offensichtlich weltfremder Mensch. (Salzburger Nachrichten)
Donnerstag, 13. Mai 1999 Die FPÖ hat einen Mann an der Spitze, der hieß einmal Hojac und ließ sich auf Westenthaler umbenennen. (Nur den Ingenieur behielt er bei, sicher ist sicher.) Seither hat er blendende Ideen, hier ein kleiner Auszug: Die Richtgeschwindigkeit auf Österreichs Autobahnen soll mit 130 km/h eingeführt werden. Schneller als die Deutschen sind wir allemal. Der Benzinpreis soll um öS 2.- gesenkt werden, damit alle mehr fahren können und die Umweltverschmutzung steigt. Das soll durch eine Steuersenkung bei Benzin um 30 % ver-
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wirklicht werden, damit der Staat weniger Geld für soziale Dinge hat. Bravo! Auf solche Ideen wäre ein Hojac nie gekommen.
Mittwoch, 23. Juni 1999 Im Profil gibt es bisweilen Nachrichten über den Fall O., jenem Schwarzen, der am 1. Mai 99 auf dem „Abschubflug“ starb. Seit ich die Berichte der Fremdenpolizei dort lese, weiß ich, dass Menschen in Österreich "zu Tode kommen" und nicht mehr sterben. Zumindest manche „Menschen“, um nicht zu sagen: „Asylanten“.
Donnerstag, 8. Juli 1999 Die Deutschen werden wieder tüchtig! Sie fordern Deutsch als dritte Konferenzsprache neben Französisch und Englisch, was zur Folge hat, dass später Spanien nachziehen wird und dann Italien, Griechenland undsoweiter. Die Kosten explodieren, macht nichts, Deutschland ist wieder wer! Und Österreich, das kleine Anhängsel der Macht, das immer emsig war, wenn es ums Mitreden im Schutz der Großen ging (siehe auch Mitgliedschaft der Österreicher in der SS), steht tapfer hinterm großen Bruder.
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Allerdings muckt man hierzulande auch auf: Deutschland exportiert einen Mann zum KosovoBeauftragten, der in seiner Heimat unterging. Hier setzt Österreich zur Abwechslung auf Qualität, man hat Busek vorgeschlagen. Deutschlands Bangemann, ehemaliger EUKommissar, hat keine falsche Scham. Er mutiert vom Kommissar zum Ratgeber eines spanischen Kommunikationskonzerns (Telefonica), den er zuvor angeblich bewacht hat. Kein Wunder, dass Kommissar Franz Fischler einen Verhaltenskodex fordert. Kein Wunder, dass die meisten Menschen von Politikern nichts halten.
Freitag, 9. Juli 1999 Mit Kritik an der eigenen Geschichte ist Österreich noch immer faul. (Standard, 8. Juli 1999) „Sollen Deserteure der NS-Wehrmacht rehabilitiert werden? Der Justizausschuss befand jetzt: Ja. ... Das alles kommt spät, sehr spät. Für einige in der Republik ist der Zeitpunkt, auch Deserteure des Terrorregimes in unsere kollektive Erinnerung aufzunehmen aber immer noch zu früh. ... FPÖ-Justizsprecher Harald Ofner begründet seine Ablehnung flockig damit, dass als Deserteur zu sterben in keinem Land angesehen ist.
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Für FPÖ-Abgeordneten Holger Bauer steht hinter der Absicht, NS-Deserteure zu rehabilitieren der Versuch zu vermitteln, es sei schick und okay, Deserteur und Saboteur zu sein.“ Der Tod Jägerstetters – jener gläubige Katholik, der lieber durch das Schafott umkam als einem Mörderregime zu dienen und dem Axel Corti ein filmisches Denkmal setzte –: ein schickes Unterfangen. Die Männer des 20. Juli 1944 - wie immer man zu ihnen stehen mag - keine mutigen Menschen, die spät, aber doch Widerstand leisteten, sondern schlicht Ungehorsame.
Dienstag, 12. Oktober 1999 Heute stand das Ergebnis der österreichischen NRWahlen fest: zweitstärkste Partei, mit 400 Stimmen Abstand zur ÖVP, ist die FPÖ. Gute Nacht, Österreich. Über die Ursachen wird gerätselt, dabei sind sie vielfältig in ihrem Erscheinungsbild, einfach in ihrer Grundstruktur. Knapp vor den Wahlen sagte der Innenminister derzeit Schlögl, Haiders bester Mann in der Regierung genannt - etwa Folgendes: Wenn Kärnten jene paar Asylsuchenden nicht nimmt (es waren ungefähr 200), dann verteilen wir sie eben auf die anderen Bundesländer. Im übrigen sei die
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Zuwanderungsrate, dank dem Herrn Minister, gegen Null gegangen. Man sieht, auf der Welt geht es immer schöner zu, sonst könnte es ja nicht immer weniger Asylsuchende geben. Woher die Medien die scheußlichen Bilder aus den Entwicklungsländern nehmen, weiß ich nicht. Unser sozialdemokratischer Innenminister steht aber auch nicht an, nach den Wahlen die Ursachen für die eigene Niederlage gründlich zu suchen und sie auch zu finden. Es waren, nein, nicht die Juden, sondern die Grünen und Liberalen: „Sie haben die Verantwortung, dass das Thema Zuwanderung eskaliert ist. Sie haben den Boden für eine ausländerfeindliche Haltung aufbereitet.“ (Kurier, 11.Oktober 1999) Bald darauf distanzierte sich der Ex-Minister von seinen Aussagen. Aber sie leben weiter. Wie alles, was geschehen ist, weiter lebt und zur Besinnung führen kann oder zur Explosion.
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Biographie
Biographie Geboren 1951 in Wien. Danach dort aufgewachsen und viel zu lange geblieben. Schon als kleines Kind machte sich Erich abends manchmal kein Abendbrot, sondern Gedanken (siehe Wolfgang Neuss). Später auch Schnitzel. Schnitzel wurden seine Lieblingsspeise. Nebenbei besuchte er auch die Schule. Zuerst die Volksschule (in Simmering, siehe auch "Simmering Kapfenberg, des is Brudalität", Helmut Qualtinger oder auch Ostbahn von Dr. Kurti), danach das Realgymnasium Simmering. (Noch mehr Brutalität.) Von nun an ging es geistig bergab, bildungsmäßig bergauf: Matura, Studium an der Hochschule für Welthandel, heute Wirtschaftsuniversität und weitere Versuche an anderen Universitäten, doch noch klug, gar weise zu werden. Geringe Erfolge. Einige Jahre in Deutschland (Bonn, Berlin) mit der Erkenntnis, dass die Welt schon wenige Kilometer außerhalb Österreichs nicht ganz so kleinkariert erscheint wie in seiner Heimat.
Ausübung verschiedener Berufe, zum Beispiel und in beinahe chronologischer Reihenfolge: Zettelverteiler Meinungs- und Marktforscher Motorjournalist Werbetexter Lehrer (in Österreich: Professor) Herausgeber und Redakteur einer pädagogischen Taschenbuchreihe Hausmann Alleinerzieher Autor wieder Lehrer (Professor, siehe oben) und Freizeitkoch (Lieblingsspeise Schnitzel) Er bereitet immer wieder diverse Schnitzel für deutsche, Schweizer, ja sogar österreichische TV- und Radiostationen zu. Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften, Anthologien und Verlagen, u.a. NZZ, Wiener Journal, Kurier, Wiener Zeitung, Tirolerin, Weg in die Wirtschaft, rororo. Als typischer österreichischer Autor Empfänger mehrerer Stipendien und Preise. Lebt derzeit in Igls, Tirol.