LLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN JATUR-UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HANS HARTMANN
SCHOPENHAUER...
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LLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN JATUR-UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HANS HARTMANN
SCHOPENHAUER EIN LEBEN ZWISCHEN WE LT VE R N E IN U N G UND WELTBEJAHUNG
LUX-LESEBOGEN KÜNFTIG 30 PFENNIG Seit der Währungsreform, seit zwölf Jahren, ist der Preis für die LUX-LESEBOGEN unverändert geblieben. Die inzwischen eingetretene erhebliche Steigerung der Herstellungskosten: macht eine Erhöhung des Heftpreises um fünf Pfennig notwendig. Das Einzelheft leostet ah 1. Januar' 1961 30 Pfennig, der Abonnementspreis beträgt statt 1,50 DM vierteljährlich 1,80 DM. Die Lesebogen Nr. 1 bis 332, die jederzeit nachbestellt werden können, werden wie bisher zum Preis von 25 Pfennig je Heft ausgeliefert.
VERLAG S E B A S T I A N LUX rfURNAU-MÜNCHEN•INNSBRUCK•BASEL
Schopenhauer zieht Bilanz
A rthur Schopenhauer war ein merkwürdiger Mensch. Ein Philosoph, aber einer von ganz besonderer Art. Es war nicht gut Kirschen essen mit ihm. Er hat seine Zeitgenossen, soweit sie überhaupt von ihm Notiz nahmen, verärgert. Nun, das haben andere Philosophen auch getan und haben doch Nachruhm bis auf den heutigen Tag bewahrt. Angefangen bei jenem Griechen Diogenes, der König Alexander auf die Frage, welchen Wunsch er ihm erfüllen dürfe, dreist zur Antwort gab: „Geh mir ein wenig aus der Sonne!"; denn Diogenes, der in einer Tonne wohnte und „all sein Gepäck mit sich herumtrug", hatte keinen anderen Wunsch als den, in Ruhe gelassen zu werden. In manchem ähnelt er Schopenhauer. Vor allem darin, daß es ihm nicht um Begriffe und Hirngespinste zu tun war, sondern immer um den Menschen selbst, sein Wesen, sein Schicksal, sein Leiden. Von Diogenes erzählt man, daß er mit der Laterne herumging. Es fragte ihn einer, was er denn suche. „Ich suche Menschen", war die Antwort. Genau das tat auch Schopenhauer zeit seines Lebens. Auch er philosophierte wie einst Diogenes einfach als denkender Mensch drauf los, und zwar mit solchem Erfolg, daß er nach zermürbenden drei Jahrzehnten des Wartens schließlich der berühmteste und meist gelesene Philosoph im 19. und rieben Nietzsche auch einer der bekanntesten im 20. Jahrhundert wurde. Er drückte sich fast immer so aus, daß wohl jeder Mensch mit einigermaßen hellem Kopf ihn verstehen kann. Und er ist einer der wenigen deutschen Denker und Schriftsteller, die in vielen Ländern der Erde in breiteren Kreisen Beachtung gefunden haben. Anläßlich seines 150. Geburtstages im Jahre 1938 und seines 100. Todestages im Jahre 1960 haben ihn Gelehrte in aller Welt geehrt. Arthur Schopenhauer war bis in seine Altersjahre ein unsteter Wanderer. Aber er war auch ein genauer Rechner, im alltäglichen
und im höheren geistigen Sinne. Obwohl er die Welt und dieses irdische Leben, wie wir sehen werden, mit immer neuen Grün !;n leidenschaftlich verachtete und schmähte, war ihm sein Leben doch lieb, und noch kurz bevor er mit zweiundsiebzig Jahren unerwartet starb, äußerte er, er wolle hundert Jahre alt werden. Als Anfang September 1831 die Cholera von Asien auf Deutschland zukam, überfiel ihn die Lebensangst, und er verließ seinen damaligen Aufenthaltsort Berlin. Er zog nach Frankfurt am Main, aber er wurde krank und verbrachte in düsterer Stimmung den ganzen Winter von 1831 auf 1832. Als er endlich gesund war, trieb ihn seine Unrast wieder fort. Vom 15. Juli 1832 an versuchte er es mit Mannheim. Aber dort hielt er es nur bis zum 6. Juli des folgenden Jahres aus. Hin und her überlegte er, welcher Ort vorteilhafter für ihn wäre, und er stellte eine Bilanz auf, links die Vorteile Frankfurts, rechts die Vorteile Mannheims. Er notierte sie auf Englisch, das er ebenso wie Französisch und später Spanisch gut beherrschte; in einer seltsamen Vorsicht verwendete er zum Hausgebrauch immer wieder fremde Sprachen, auch Griechisch, Lateinisch und sogar das indische Sanskrit, aus Furcht, andere könnten seine Dokumente lesen und Mißbrauch damit treiben. Die Bilanz sieht so aus: Frankfurt: Gesundes Klima Schöne Gegend Komfort der Großstadt Abwechslung der Großstadt Besserer Leseraum Bessere Schauspiele, Opern, Konzerte D'as Städtische Museum Mehr Engländer Bessere Caföhäuser Gutes Wasser Die Senckenberg-Bibliothek Keine Überschwemmungen
Mannheim: Viel gutes Wetter (unerträgliche Hitze) Ruhe und kein Gedränge (bei Theatervorstellungen und mittags im Lokal) Man kümmert sich mehr um einander Bessere Buchhandlung für fremde Sprachen Die Harmonie-Gesellschaft und ihre Bibliothek Die Heidelberger Bibliothek Angenehmere Geselligkeit Bessere Badegelegenheit im Sommer 3
w Prankfurt: Man wird weniger beachtet Heiterer Charakter des Ortes und seiner Umgebung Man ist ireier und wird nicht durch zufällige Bekanntschaften bedrängt, sondern kann sich seinen Umgang selbst wählen; wen man nicht mag, den kann man schneiden oder ihm ausweichen. Ein tüchtiger Zahnarzt und weniger schlechte Ärzte Im Sommer keine so unerträgliche Hitze Das Naturwissenschaftliche Museum
Mannheim: Mangel an guten Büchern Weniger Bedrohung durch Diebe Später könnte man Diener halten Es gibt nicht so viel öffentlichen Streit (z. B. über das Theater) In späteren Jahren eine nettere Tischgesellschaft Ein gutes Restaurant zum Abendessen
Die Aufrechnung ergab, daß Frankfurt günstiger war, also zog er wieder nach Frankfurt. Bilanz ziehen war aber auch sonst seine Sache. Sein Vater war ein sehr wohlhabender Kaufmann, zunächst in Danzig, wo Arthur Schopenhauer am 22. Februar 1788 geboren wurde. Fünf Jahre später wurde die Familie in Hamburg seßhaft. Als der Vater starb, erbte Schopenhauer ein großes Vermögen. Als er aber einunddreißig Jahre alt war, machte die Danziger Bank, auf der das Vermögen lag, bankerott. Gerade war sein in vierjähriger mühsamer Arbeit geschriebenes Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung" fertig geworden. Schopenhauer erfuhr von dem Bankerott durch einen Brief seiner Schwester Adele im Hochsommer 1819, als er nach einer längeren Italienreise gerade in Mailand weilte. Die Schreckensnachricht traf ihn in seinem Lebensnerv. Er hatte sich sein Wirken nur als wohlhabender, freier, ja sogar sorgenfreier und von allen Amtspflichten unbelasteter Mann denken können, und darin unterschied er sich von dem Asketen Diogenes. Nur das Gefühl einer gesicherten Zukunft gewährte ihm die Ruhe zur Bewältigung eines geradezu ungeheuren Lesestoffes und zum bohrenden Nachdenken über die Grundprobleme des Daseins. 4
Heinrich Floris Schopenhauer, der Vater des Philosophen, Bankier und Großkaufmann. (Zeitgenössische Aquarell-Miniatur.) 5
Nun fürchtete er um sein Vermögen, und er spielte mit dem Gedanken, ein Amt anzunehmen, sich zu habilitieren und Dozent an einer Universität zu werden. Er reiste nach Heidelberg, kam aber dort zu keinem Entschluß und verhandelte von Dresden aus mit dem Bankhaus. Seine Mutter Johanna beschwor ihn mehrfach, der Einigung des Bankhauses mit seinen Gläubigern auf Auszahlung von dreißig Prozent des Vermögens beizutreten. Aber Schopenhauer, der Mann der Bilanzen, tat es nicht. Er ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Er ging das Risiko ein, alles zu fordern, und bestand in seiner harten und aufgeregten Art mehrmals auf seiner Forderung. Seine Briefe in dieser Sache gehören zu dem Merkwürdigsten, was Philosophen je geschrieben haben. Das Glück war ihm hold, das Bankhaus erholte sich, und nach zehn Monaten war er im vollen Besitz seines Geldes, während alle anderen, auch seine Mutter und seine Schwester, zwei Drittel ihres Vermögens verloren hatten. Es kam zu unschönen Auseinandersetzungen mit ihnen, zumal die Mutter nach dem Tode des Vaters sich dem Frohsinn des Lebens verschrieb, was den „schwermütig verfinsterten" Sohn sehr bedrückte. War nun auch die wirtschaftliche Bilanz wieder in Ordnung, konnte also Schopenhauer wieder mit einem ansehnlichen Vermögen rechnen, so ließ er doch den Plan, an einer Universität zu lehren, nicht fallen. Während seiner Berliner Studienzeit hatte er alle Vorlesungen des damaligen namhaften Zoologieprofessors Lichtenstein gehört. Schopenhauer hatte sich mit ihm angefreundet, und der Professor vermittelte ihm die Möglichkeit, sich zu habilitieren. Freilich hatte er nicht viel Freude daran, und diesmal ging seine Rechnung absolut nicht auf — wir werden noch davon hören. Der Ärger mit dem Geld sollte in Berlin nochmals aufleben. In seiner Wohnung ganz nahe der Universität gegenüber dem königlichen Schloß drängte er eines Tages in einem unangebrachten Wutanfall eine allzu lärmvolle Besucherin seiner Hauswirtin mit Gewalt aus dem Flur, verletzte sie dabei, und daraus entspann sich ein sechs Jahre währender Prozeß, über alle Instanzen bis zum Justizminister hinauf, da die Frau auf Schmerzensgeld und Zahlung einer Rente bestand. Nach wechselvoilen Gerichtsurteilen mußte sich schließlich Schopenhauer zur Zahlung der Rente bequemen, aber 6
so lange hatte die Justizbehörde einen Teil seines Vermögens beschlagnahmt. Was da an Schreibereien, Gutachten, Verhandlungen, ja Leibesvisitation nötig war, bis es zum Endurteil kam — diese ganze Zeit-, Geld- und Kraftverschwendung wäre wahrhaft einer besseren Sache würdig gewesen. Der Gegensatz zwischen dem kleinen rechthaberischen Mann und dem Geistesriesen in einer Person gehört wie so vieles zu den Seltsamkeiten auf dieser Erde. Aber wie immer hängen die kleinen und die großen Dinge im Leben eines Menschen zusammen. Und so können wir von einer Bilanzziehung in einem viel höheren Sinne berichten, die uns unmittelbar in Schopenhauers Weltansicht und lebenslange Herzensnot führt. Er galt schon zu seiner Zeit und gilt noch heute als der Philosoph des Pessimismus. Welt Verachtung, erbitterte und verbitterte Hervorkehrung der bösen und grausamen Seiten des Daseins, an denen es freilich reich genug ist; die dauernde quälende Frage, ob das Leben bei so viel Leid und Schmerz überhaupt einen Sinn habe, geschweige denn als schön und wertvoll anzusehen sei: Das ist die Leitidee und der rote Faden im ganzen Leben und Denken Schopenhauers. Als Dreiundzwanzigjähriger hatte er an Wieland geschrieben: „Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, darüber nachzudenken." Er war dabei gewiß nicht der einzige „große" Pessimist seiner Zeit. Auch andere mühten sich damals innerlich ab mit dem Problem, ob das Übel oder das Gute in der Welt stärker sei, und viele verneinten den Gedanken des deutschen Philosophen Leibniz (1646 bis 1716), daß zwar viele Übel in der Welt seien, daß aber diese Welt doch unter allen denkbaren Welten die bestmögliche ist. Das war die berühmte „Lehre von der besten Welt". Die Pessimisten gingen von verschiedenen Seiten gegen diese Lehre vor. Sie wiesen darauf hin, daß schon ein bißchen mehr Liebe und Güte unter den Menschen die Welt besser machen könne, daß also eine bessere Welt als die unsere durchaus denkbar sei. Die meisten aber glaubten, daß das Leben aus guten und bösen Elementen gemischt sei und daß sich im ganzen eine Art Gleichgewichtszustand einstelle. Schopenhauer, der rechnende Kaufmann, ging anders vor und kam zu einem völlig anderen Ergebnis. Genau wie bei der Entscheidung, ob Frankfurt oder Mannheim sein Aufent7
halt sein solle, wog er die guten und die bösen Seiten des Daseins gegeneinander ab, und er erklärte: „Im Grunde ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Üblen mehr auf der Welt sei; denn schon das bloße Dasein des Übels entscheidet die Sache. Daß Tausende in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die Angst und Todesmarter eines einzigen auf." Aber er rechnete sie nicht gegeneinander auf, sondern kam zu einem ganz eigenartigen Gedanken, der uns nicht nur die strenge und harte Methode seiner pessimistischen Weltanschauung zeigt, sondern zugleich auch einen Anflug echter und tragischer Größe trägt. Das also ist seine Bilanz: Angst und Elend eines einzigen Menschen, und wäre er der unbedeutendste und hätte er in der frühe- • sten Vergangenheit gelebt, auf der einen Seite der Waagschale: Das wiegt schwerer als Glück und Wonne Tausender. Es war die von Schopenhauer sein ganzes Leben lang in all seinen Büchern festgehaltene und immer neu beleuchtete Vorstellung: Schon das Leid und die Qual eines einzigen beweise, daß diese Welt nicht in Ordnung sei und nicht gerechtfertigt werden könne. Um wieviel sicherer aber mußte er in seinem Urteil werden, wenn er an das unendliche Leid der Millionen von Menschen seit den Uranfängen der Menschheit dachte. Schopenhauer, der gern hin und wieder Verbindungslinien zum Christentum zieht, obwohl er persönlich kein Christ im echten Sinne war, aber doch gern verwandte Elemente zwischen seiner Lehre und der christlichen Auffassung feststellte, meinte, es sei die Erbschuld, die Erbsünde des Menschen, daß er überhaupt in dieses Leben geboren sei. Damit sei die Menschheit und mit ihr die Welt als „abgefallen", verdammungs- und vernichtungswürdig zu verurteilen.'
Ein Vierzehnjähriger reist durch Europa Schopenhauer hat sich das Leben so schwer wie eben möglich gemacht in solchen Gedanken über die Welt und über den Sinn des menschlichen Daseins. Trotzdem gelang ihm doch die Erfüllung einer bedeutenden Aufgabe. Seine Gesamterscheinung gewinnt etwas Imponierendes durch die eiserne Energie, mit der er sich von Jugend an um eine Erweiterung und Vertiefung seines Wissens, aber ebenso um eine Anschauung der wirklichen Welt in ihrer ungeheuren Viel8
Die Mutter Arthur Schopenhauers, die Romanschriftstellerin Johanna Schopenhauer, und die Schwester Adele (Gemälde von Karoline Bardua). 9
falt bemuht hat. Seine Philosophie beruht auf dem Gedanken der Anschauung. Nur das anschaulich Vorstellbare gilt ihm etwas, das was vor unseren Augen, Ohren und allen Sinnen Gestalt gewinnen und plastisch werden kann. So viele Bücher er auch in seiner Unermüdlichkeit studiert hat, denn er war ein grundgelehrter Mann in allen Geistes- und Naturwissenschaften, so hat er doch die eigene Anschauung für noch wichtiger gehalten und stets einen feinen Beobachtungssinn entwickelt. Dabei kam ihm das Glück zu Hilfe. Sein reicher Vater, Heinrich Floris Schopenhauer, von Natur freilich ernst und düster gestimmt wie sein berühmter Sohn, hatte einen starken Wandertrieb. Als die Preußen im Jahre 1793 Danzig belagerten und es erobern wollten, verließ er die Stadt, da er, von Gesinnung ein stolzer Hanseate, die „preußische Engherzigkeit" nicht liebte, und floh mit seiner Frau und dem fünfjährigen Sohn durch das damals noch schwedische Pommern nach Hamburg. Selbst eine längere Unterredung, die Floris Schopenhauer mit Friedrich dem Goßen hatte und bei der ihm der König erhebliche Begünstigungen zusicherte, konnte ihn nicht bewegen, sich in den preußischen Staaten niederzulassen. Diesen Stolz hat Arthur Schopenhauer von seinem Vater geerbt. Auch er wollte sich nie beugen, oft nicht einmal vor seinem besseren Ich. Als Vater Schopenhauer aus Danzig wegging, mußte er ein Zehntel seines Vermögens als Abzugssteuer bezahlen. Aber auch das konnte ihn nicht hindern. In Hamburg faßte die Familie bald Fuß, beruflich und auch gesellschaftlich. Sie verkehrte unter anderem mit dem Dichter Klopstock, mit Lessings Freund Reimarus, mit dem Maler Wilhelm Tischbein, der durch seine Bildnisse Goethes bekannt wurde. So wehte freie Luft um den heranwachsenden Arthur Schopenhauer, und schon früh erkannte er den Wert geistiger Kräfte. Mit dem noch nicht Zehnjährigen trat der Vater 1797 eine Reise nach Frankreich an. Er zeigte ihm Paris und ließ ihn dann bei einem Geschäftsfreund namens Gregoire in Le Lavre zurück, wo er zwei Jahre mit dem gleichaltrigen Sohn Anthime aufgezogen wurde. Mit Anthime Gregoire befreundete er sich und lebte später in Hamburg längere Zeit mit ihm zusammen. Elfjährig kehrte Arthur allein zu Schiff nach Hamburg heim. In einem Rückblick bezeichnete er diese Jahre als die glücklichsten seiner Knabenzeit. Da10
bei erwähnt er das Wort seines Vaters: „Mein Sohn soll im Buche der Welt lesen", und er stellt selbst die Regel auf: „Nicht Jünglinge dürfen reisen, für sie ist das Reisen gefährlich, wohl aber Kinder und weltkundige Männer." Arthur konnte in dieser Zeit besser Französisch sprechen als Deutsch, was den weltbürgerlich gesinnten Vater erfreute. Er lernte ja bald wieder gut Deutsch sprechen, und er wurde später sogar einer der Hauptvorkämpfer für einen guten Stil xind ein verfeinertes deutsches Sprachgefühl. Dabei war ihm die Kenntnis der fremden Sprachen eine gute Hilfe. Sein Vater schickte ihn auf die vornehmste hamburgische Unterrichtsanstalt von Dr. Runge, die vor allem künftige Kaufleute ausbildete. Schopenhauer hatte keine Freude am kaufmännischen Beruf. Er bestürmte den Vater, ihn aufs Gymnasium zu schicken und dann studieren zu lassen. Das war das Schlimmste, was dem Vater geschehen konnte; denn für ihn waren Gelehrte Hungerleider, und in seiner Verzweiflung stellte er den Sohn vor eine nicht leichte Entscheidung: Er bot ihm an, er dürfe eine große Reise mit ihm durch Europa machen, wenn er nach der Rückkehr die Kaufmannsschule weiter besuche. Der Fünfzehnjährige konnte nicht widerstehen. Von der Enge seiner Anstalt loszukommen und Europa zu sehen, das war verlokkend. Und so versprach er, nach der Rückkehr in allem den Willen des Vaters zu erfüllen. So reisten sie zu dritt mit der Mutter durch Holland, woher Schopenhauers väterliche Ahnen stammten, und verweilten ein halbes Jahr in England, wo Arthur, während die Eltern im Lande umherreisten, im Hause eines Geistlichen spielend auch die englische Sprache erlernte. Dann ging es wieder nach Frankreich. Er sah in Paris die Kunstschätze des Louvre, überall nahm er mit einer geradezu leidenschaftlichen Aufmerksamkeit alle Eindrücke auf, verarbeitete sie und machte sich Aufzeichnungen. Obwohl er nicht eigentlich frühreif war, hat sich doch seine umfassende Weltschau in diesem Reisejahr schon vorbereitet. Eine Anzahl französischer Städte wurde besucht. Zunächst nennt er Bordeaux die schönste Stadt Frankreichs, aber bald — nach der Reise über Toulouse, Montpellier und Nimes — lief ihr Frankreichs zweitgrößte Stadt Marseille den Rang ab. 11
Schopenhauer erlebt das Leid der Welt Im benachbarten Kriegshafen Toulon hatte der junge Arthur Schopenhauer ein Erlebnis, das nachhaltig auf seine empfängliche Seele wirkte und ihn in der pessimistischen Weltanschauung, die in seiner Veranlagung gelegen haben muß, geradezu entscheidend bestärkte. Durch besondere Empfehlung konnte die Familie Schopenhauer den Hafen besuchen und sich ein Bild vom Leben der Galeerensträflinge machen. Selten findet sich in der Weltliteratur eine so eindrucksvolle Schilderung ihres Daseins aus der Feder eines jungen Menschen: „Ihre Nahrung bloß Wasser und Brot. Und ich begeife nicht, wie sie, ohne eine kräftigere Nahrung und von Kummer verzehrt, bei der starken Arbeit nicht eher unterliegen; denn während ihrer Sklaverei werden sie ganz wie Lasttiere behandelt. Es ist schrecklich, wenn man es bedenkt, daß das Leben dieser elenden Galeerensklaven, was viel sagen will, ganz freudenlos ist, und bei denen, deren Leiden auch nach fünfundzwanzig Jahren kein Ziel gesetzt ist, auch ganz hoffnungslos. Läßt sich eine schrecklichere Empfindung denken wie die eines solchen Unglücklichen, während er an die Bank in der finsteren Galeere geschmiedet wird, von der ihn nichts wie der Tod mehr trennen kann! — Manchem wird sein Leben wohl noch durch die unzertrennliche Gesellschaft dessen erschwert, der mit ihm an eine Kette geschmiedet ist. Und wenn dann nun endlich der Zeitpunkt herangekommen ist, den er seit zehn oder zwölf oder, was selten vorkommt, zwanzig ewig langen Jahren täglich mit verzweifelnden Seufzern herbeiwünschte, das Ende der Sklaverei, was soll er werden? Er kommt in eine Welt zurück, für die er seit zehn Jahren tot war. Die Aussichten, die er vielleicht hatte, sind verschwunden, keiner will den zu sich nehmen, der von der Galeere kommt. Und zehn Jahre Strafe haben ihn von dem Verbrechen des Augenblicks nicht reingewaschen. Er muß zum zweitenmal ein Verbrecher werden und endet am Hochgericht. — Ich erschrak, als ich hörte, daß hier sechstausend Galeerensklaven sind." In dieser Erfahrung und in ähnlichen Erlebnissen erschreckenden menschlichen Elends liegt einer der Gründe für die bedauerliche einseitige lebensverneinende Grundhaltung Schopenhauers. Man kann 12
die Etappen dieser zwangsläufigen Entwicklung, die nur geringfügige Wandlungen durchmachte, weiterhin genau verfolgen. Einige Zeit später schrieb der Nachdenkliche einen Brief an seine Mutter dessen Entwurf erhalten ist und in dem auch schon die sprachliche Vervollkommnung sichtbar wird: „Das eiserne Urteil des Bedürfnisses ist über der Armen Geschlecht ausgesprochen; Mangel und Notdurft liegen unabwälzbar auf ihm, fordern jede Kraft und hemmen jedes Streben. Nur wenn sie völlig befriedigt sind, darf der Geist, ermüdet und abgestumpft, durch die Nebel der Erde geblendet, aufwärts blicken. Tadle die Armen nicht, wenn sie im Staube nach der Freude wühlen! O Gott, wir müssen es ihnen vergeben, wenn sie nach dem Bösen greifen; denn ihr Himmel ist verschlossen, und wenige Strahlen scheinen durch bis zu ihnen. Und doch hat ein mitleidiger Engel die himmlische Blume für uns erfleht, und sie prangt hoch in voller Herrlichkeit, auf diesem Boden des Jammers gewurzelt: Die Pulsschläge der göttlichen Tonkunst haben nicht aufgehört zu schlagen durch die Jahrhunderte der Barbarei, und ein unmittelbarer Widerhall des Ewigen ist uns in ihr geblieben, jedem Sinn verständlich und selbst über Laster und Tugend erhaben." Auch hier zeigen sich Grundzüge seines Denkens und Empfindens, wie sie dann immer deutlicher in seinen Werken zum Ausdruck kommen: Er glaubt, daß ein „blinder Weltwille" wirksam sei, der ohne Rücksicht auf Leid und Schmerz immer neue Gestalten hervorbringe und sich sinnlos verschwende, anstatt endlich einmal allem Leid ein Ende zu machen und zu verlöschen. Aber es zeigt sich auch schon das Verständnis Schopenhauers für den schuldhaft werdenden Menschen, dem er zu vergeben bereit ist; und als drittes der Blick durch die schmale Spalte hinauf zu den ewigen Kräften, deren schönste Offenbarung er immer mehr in der Tonkunst, in den Werken der Komponisten, finden sollte. Von Toulon ging der Weg des Fünfzehnjährigen weiter über Genf, Chamonix am Montblanc, Lausanne, Interlaken, Luzern, Augsburg, München, Wien nach Preßburg, von dort ins Riesengebirge und auf die Schneekoppe und über Breslau nach Berlin. Überall schrieb Arthur seine Eindrücke nieder, es war eine gewaltige Reise, die ihn ein für allemal zum Europäer im besten 13
Sinne machte. Nach der Rückkehr ging Arthur Schopenhauer als folgsamer Sohn endlich in eine kaufmännische Lehre, in seiner Heir matstadt Danzig und in Hamburg. Es war in der Zeit, als sein Vater plötzlich starb. Die Mutter Johanna übersiedelte mit Arthur und seiner neun Jahre jüngeren Schwester Adele nach Weimar. Johanna Schopenhauer war eine nicht unbedeutende Schriftstellerin und versammelte in Weimar, der Musenstadt, ständig einen großen Kreis geistig hervorragender Menschen um sich, zu denen auch Goethe gehörte. Arthur wollte nicht mehr in die kaufmännische Lehre zurück. Er vermochte seine Mutter unter Mithilfe eines väterlichen Gönners zu überreden, ihn doch studieren zu lassen. In überströmender Freude dankte er ihr dafür. In Gotha und Weimar bereitete er sich privat auf das Abitur vor, nicht ohne manche Krisen, und konnte dann auf den Universitäten Göttingen und Berlin studieren. In Göttingen begann er seine Laufbahn mit dem Studium der Medizin und der Naturwissenschaften, schon im zweiten Semester ging er zur Philosophie als Hauptfach über. Aber er blieb trotzdem der Naturwissenschaft treu und hat auch in seinen letzten Studienjahren in Berlin alle ihre Fächer, Physik, Chemie, Physiologie, Geographie, Zoologie, weiter gründlich studiert. Später sollte er viel über naturwissenschaftliche Dinge schreiben, seine erste eingehende Schrift sogar über die Farbenlehre, wodurch er mit Goethe in nähere Verbindung kam. Stolz sagte er am Ende seines Lebens, er habe immer wieder zu naturwissenschaftlichen Fragen Stellung genommen und sich dabei rechtschaffen bewährt.
Ein Mann der Widersprüche und Ängste Wenn wir Arthur Schopenhauer als Menschen in allen seinen Nöten und Absonderlichkeiten betrachten, und da gibt es wahrlich des Interessanten genug, so geschieht das nicht, um ihn herabzusetzen. Im Gegenteil, wir glauben, das Große und Bedeutende eines Mannes macht auf uns einen um so stärkeren Eindruck, wenn wir die inneren Schwierigkeiten und Widerstände kennenlernen, gegen die er anzukämpfen hatte. Man mag über ihn urteilen, wie man will, eines ist sicher: Er war eine leidenschaftliche Persönlichkeit, 14
von einem ungeheuer starken Trieb nach innerer Wahrhaftigkeit erfüllt, er wollte auch im Geistigen keine „Konzessionen" machen; er zog gegen alles los, was nach seiner Überzeugung falsch oder schlecht, minderwertig und flach war. Er bekannte sich zu dem, was man später „intellektuelle Redlichkeit" nannte, also zur Ehrlichkeit im Durchdenken aller Fragen ohne billige Ausflüchte, voreilige Kurzschlüsse, pomphafte Fragen und Trägheit des Herzens. Aber dieser Widerspruchsgeist war selber voller Widersprüche. Der Hauptwiderspruch im Werk und Leben Schopenhauers besteht darin, daß er sich zwar eine großartige Weltschau erarbeitete, aber durchaus nicht geneigt war, selbst sein Leben danach einzurichten. Das macht uns den inneren Zugang zu Schopenhauer schwer, ja viele können ihn deshalb nicht achten, geschweige denn lieben. Er hat das übrigens selbst genau gefühlt, wenn er in späteren Jahren wiederholt ehrlich zugab, er habe zwar die Wesenszüge des „Heiligen" geschildert, er selbst jedoch sei kein „Heiliger" oder auch nur ein weltflüchtiger Asket, wie er es nach seiner Lehre hätte sein müssen. Aber dazu habe er weder die Veranlagung noch die Absicht gehabt. Schon die theoretische Einsicht in das Seelenleben eines „Heiligen" oder Asketen zu gewinnen, sei immerhin eine wichtige und dankbare Aufgabe. Seine Lehre geht ja, zum Teil unter Einfluß der indischen Philosophie, dahin, daß das Dasein, wie es sich vor dem „Schleier der Maja", in der Welt des Scheins, abspiele, schlecht und verurteilenswert sei. Wer nicht ganz oberflächlich, ichbezogen, genußsüchtig und optimistisch in den Tag hinein lebe — was die große Menge der Menschen tue —, der dürfe keine größere Aufgabe kennen, als den Trieb zum Sichausleben, das ewige Auf und Ab von Sehnsucht und scheinbarer Erfüllung in sich zu ertöten. Er solle nichts mehr vom Leben verlangen, auf jeden Anspruch irgendwelcher Art verzichten und froh sein, wenn die Stunde des Todes, die Erlösung, komme, in der er dann hinter den „Schleier der Maja" blicken könne. So hat Schopenhauer ganz bewußt zwar tiefe Erkenntnisse gewinnen und sie lehren wollen, aber ein Vorbild konnte und wollte er nicht sein. Est wenn wir das berücksichtigen, werden wir für unser Leben etwas Brauchbares bei ihm finden. Das wird uns um 15
so eher möglich sein, als sich bei Schopenhauer im Laufe seiner Lebenserfahrung eine gewisse Altersweisheit einstellte, die er in seinen berühmten „Aphorismen zur Lebensweisheit" niederlegte. Hier ist er über den Stürmen des Daseins, über den Gegensätzen zwischen Sehnsucht und Schein-Erfüllung und der ewigen Unrast seines weithin so unglücklichen Daseins ruhig, weise, ja heiter geworden. Aber es ist ihm auch im hohen Alter nicht gelungen, seine inneren Ängste, die oft mit merkwürdigen Schrullen verbunden waren, zu überwinden. Dazu gehört es, daß seine Liebe zu den Tieren, die Liebe zu den Menschen weit übertraf. Als sein weißer Pudel, mit dem er zehn Jahre zusammenlebte, starb, war das für ihn eines der schmerzlichsten Ereignisse seines Lebens. Die zehnjährige völlige Trennung von Mutter und Schwester überwand er im Gegensatz dazu leicht. In seinem Testament hat er für seinen Hund, den Nachfolger jenes weißen Pudels, ausführliche Anweisungen gegeben. An alle Eventualitäten hatte er gedacht, damit dieser Pudel aus seinem Nachlaß sogleich zweihundert Gulden erhielt und nie Not zu leiden hatte. Gegen die Menschen aber war er von Mißtrauen und Angst erfüllt. Den Briefträger erwartete er mit Furcht, und es kostete ihn oft Überwindung, einen Brief zu öffnen, weil ihm immer nur Schlechtes und Ungünstiges schwante. Überängstlich war er auch um seine Gesundheit besorgt. Er machte die wunderlichsten Anstalten, um gegen Durchzug gefeit zu sein, und er war verzweifelt, wenn der gewohnte feste und tiefe Schlaf ausblieb. Seine Angst vor Krankheiten, Gefahren und Enttäuschungen ging so weit, daß er immer ein kleines Ledergefäß mit sich trug und nur daraus Wasser trank, weil er gesundheitliche Schäden, Ansteckung oder gar Vergiftung befürchtete. Er wohnte möglichst im Parterre, um einer etwa ausbrechenden Feuersbrunst leichter entgehen zu können. Ebenso fürchtete er sich vor allzu neugierigen Menschen, da er ihnen mißtraute. Sein Leben lang speiste er in Restaurants, beklagte sich aber immer über den dort herrschenden Lärm. Erst mit Beginn seiner Altersschwerhörigkeit beruhigte er sich einigermaßen. Schopenhauer hatte zudem nur wenige Freunde und Anhänger, die treu zu ihm hielten. Wie groß die Einsamkeit gewesen sein 16
Der Philosoph mit seinem Pudel (Karikatur von Wilhelm Busch).
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muß, läßt sich daraus schließen, daß er an seinen Geburtstagen meist nur einen einzigen Brief erhielt. Aber er hat es seinen wenigen Freunden auch nicht leicht gemacht, er hat sie und nicht nur seine wissenschaftlichen Gegner immer wieder vor den Kopf gestoßen, ja gedemütigt. Denn er war unerbittlich, und wer aucii nur die leisesten Zeichen des Schwankens oder gar des Mißverstehens zeigte, der mußte mit scharfer Ablehnung, ja geradezu mit einem Bruch rechnen. Von mehreren Zeitgenossen liegen Berichte über ihren Besuch bei Schopenhauer vor. Einer von ihnen namens Neubürger schildert uns seine Wohnung am Main in Frankfurt, in der Schopenhauer viele Jahre gelebt hat: „Wenn man eintrat", so berichtet Neubürger, „bemerkte man auf der gegenüberstehenden Wand eine Reihe von Kupferstichen, die Hunde darstellten. Es mögen im ganzen wohl dreißig Porträts von Neufundländern, Windspielen und Doggen gewesen sein. Über dem Kanapee, welches an eben jener Hinterwand aufgestellt war, hing ein Bild Goethes im blauen Frack, welches er Schopenhauer geschenkt h a t t e . . . In der Zimmerecke stand eine kleine vergoldete Figur, welche die Beine wie ein Schneider kreuzte; es war das Götzenbild Buddhas, welches Schopenhauer aus Tibet kommen ließ. Diesem kleinen, häßlichen, komisch-ernsten Götzen gegenüber stand auf einem weißen Porzellanofen die wundervolle Statue der Venus von Milo und schien doppelt lieblich und schön. Links über der Tür war an der Wand der Gipsabdruck eines großen Hundes mit langen herabhängenden Ohren, er stellte den toten Pudel Schopenhauers dar. Der tote Pudel machte einen recht taurigen Eindruck, wenn man dabei bedachte, daß ein so ausgezeichneter Mensch ein langes, weites Leben hindurch keinen anderen treuen Freund als eben jenen toten Hund gefunden habe. Die Schuld lag sicher an Schopenhauers Individualität, an seinem Stolz und seiner Menschenverachtung; nichtsdestoweniger macht sein Leben einen äußerst trüben Eindruck. In seinen Werken findet man viele Stellen, die auf ein weiches, tieffühlendes Herz deuten, aber sein Mitleid ist meistens auf die Tiere gerichtet." Neubürger zitiert dann eine Stelle aus Schopenhauer, in welcher der Philosoph mit großer Eindringlichkeit von dem mühevollen und 18
j
freudleeren Leben eines Maulwurfes spricht. Und er fragt, ob ein Mensch, der so tief empfindet, nicht auch für das Leiden und Weh der unglücklichen Menschen tiefstes Mitleid fühlen müsse, so daß „ihm jede heiße Träne, jeder tiefe Seufzer an das Herz greifen werde?" Und Neubürger kommt zu dem Urteil, das sicher der Wirklichkeit entspricht, wenn es uns auch den Weg zu dem Genius Schopenhauer nicht gerade leichter macht: „Es ist dies ein seltsamer Widerspruch in dieser an Widersprüchen so reichen Natur. Er war gewiß ein unendlich tiefer Geist, dabei finden wir aber überall Absonderlichkeiten, die uns oft töricht und unbedeutend erscheinen. Genial und närrisch, hämisch und tief empfindend, Asket und Zyniker war er gewiß eine der eigentümlichsten Naturen, die je gelebt haben." Neubürger bezeichnet Schopenhauer dann noch als äußerst witzig im Gespräch, er rühmt seine Erstaunen erregende Lebendigkeit in Gesten und Sprache, und seinen ungemein lebhaften Blick.
Ein Einsamer wartet auf den Erfolg Es dürfte in der Geschichte des menschlichen Geisteslebens nur wenige Beispiele dafür geben, daß ein bedeutender Mensch so lange, ja mit fast heroischer Geduld auf Anerkennung oder auch nur auf Beachtung hat warten müssen wie Schopenhauer. Wenn er selbst als abschließendes Ergebnis seiner ganzen Philosophie einmal den „heroischen Lebenslauf" als die einzige Möglichkeit bezeichnet, mit dem Leben fertig zu werden, so meint er damit gewiß nicht irgendein falsches Heldentum, oder Waffenruhm oder gefährliche Abenteuer in fremden Ländern, sondern er hat diesen Heroismus selbst bewiesen, indem er einsam und unbeirrt der von ihm erkannten Aufgabe treu blieb und keinen Fußbreit von seinem vorgezeichneten Wege abwich, auch wenn er keine Anerkennung fand. Im zweiten Bande seiner „Parerga und Paralipomena" (auf deutsch etwa: Nachlese und Überbleibsel) lesen wir als Anhang zum vierzehnten Kapitel: „Wenn, wie ich gesagt habe, jedes Menschenleben, im Ganzen überblickt, die Eigenschaften eines Trauerspiels zeigt und wir sehen, daß das Leben in der Regel nichts anderes ist als eine Reihe fehlgeschlagener Hoffnungen, vereitelter Entwürfe und zu spät erkann19
ter Irrtümer — so stimmt dies ganz und gar mit meiner Weltansicht überein, welche das Dasein selbst betrachtet als etwas, das besser nicht wäre . . . Ein glückliches Leben ist unmöglich; das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf. Einen solchen führt Der, welcher, in irgendeiner Art und Angelegenheit, für das Allen irgendwie zu Gute Kommende, mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird. .. Sein Andenken bleibt und wird als Das eines Heros gefeiert." Daß auch er am Ende „siegen" werde — selbst wenn es nicht zu Lebzeiten geschehe —, darauf baute er. Schon auf seiner ersten Italienreise hatte er diese Zuversicht auf Nachruhm in selbstbewußten Versen deutlich ausgesprochen: „Aus lang gehegten, tief gefühlten Schmerzen Wand sich's empor aus meinem innern Herzen, Es festzuhalten, hab' ich lang gerungen: Doch weiß ich, daß es mir gelungen. Mögt euch drum immer, wie ihr wollt gebärden: Des Werkes Leben könnt ihr nicht gefährden, Aufhalten könnt ihr's, nimmermehr vernichten: Ein Denkmal wird die Nachwelt uns errichten."
Hochschullehrer ohne Hörer Aber verfolgen wir seinen Lebenslauf weiter unter den Gesichtspunkten der sdimerzlichen Einsamkeit und des vergeblichen Wartens, in dem er sich immer wieder zu neuer intensiver Arbeit aufraffte. Schon 'in den Dresdener Jahren, als er sein Hauptwerk schrieb, litt er unter Einsamkeit, und er pries sich glücklich, daß ihn wenigstens einer, der Maler und Schriftsteller Ludwig Ruhl, einer seiner wenigen Duzfreunde, öfters besuchte. Ruhl schrieb ihm später einmal aus der Erinnerung: „Dein Wissen zwang mich oft, den langen Weg aus der Pirnaischen Vorstadt über die Eibbücke bis zum Schwarzen Tor hin und zurück zu machen. Wir saßen dann in deinem Zimmer, du mir vordozierend von dem und jenem, von den Erwartungen auf den Erfolg deiner Philosophie . . . " 20
Arthur Schopenhauer als Fünfundsechzigjähriger.
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Der Erfolg blieb ihm versagt auch bei seiner Tätigkeit als Privatdozent an der Berliner Universität. Sie begann mit der ProbeVorlesung am 23. März 1820 und erstreckte sich, wenn auch unter geradezu tragischen Umständen, bis zu seiner schon geschilderten Flucht vor der Cholera aus Berlin nach Frankfurt. Für das Sommersemester 1820 kündigte er einen so umfassenden Lehrstoff an, daß man verstehen kann, wenn sich kaum Hörer meldeten. Er hatte als Thema gewählt: „Vorlesung über die Lehre vom Wesen der Welt und vom menschlichen Geiste". Daß ein wissenschaftlich noch „unbeschriebenes Blatt", daß ein so junger Mann sich an die Grundfragen der Welt und ihre Beantwortung wagte, schien den Studenten doch zu großspurig zu sein. So fanden sich nur drei Hörer ein. Einer der wirklich hervorragenden und berühmten Schüler und Nachfolger Schopenhauers, der Philosoph und Indienforscher Paul Deussen, berichtet von zwei im Nachlaß Schopenhauers gefundenen Anmel debogen zu den Vorlesungen. Auf dem einen sind nur die drei Studenten, auf dem zweiten ein Hofrat, ein Wechselmakler, ein Zahnarzt, ein Stallmeister und ein Hauptmann verzeichnet. Und doch war Schopenhauer ein lebhafter und guter Redner. Da sich aber für die folgenden Semester überhaupt niemand mehr anmeldete, verzagte er und reiste im Mai 1822 davon, wieder nach Italien und nach München. Er kehrte erst im Mai 1825 nach Berlin zurück. Er glaubte, sich nicht beirren lassen zu sollen, und kündigte unentwegt noch mehrere Jahre lang seine Vorlesungen an. Aber auch jetzt blieb der Hörsaal sozusagen leer. Zudem hatte Schopenhauer in seinem Eigensinn seine Vorlesungen herausfordernd zu der gleichen Stunde angesetzt, in der sein großer geistiger Widersacher, der weltberühmte Philosoph Friedrich Hegel, die Masse der Studierenden um sich versammelte. Dieser Mißerfolg des Dozenten Schopenhauer war einer der Gründe für seine oft schroffe Ablehnung der Professoren, vor allem der „zünftigen" Philosophen, denen Schopenhauer außerordentlich harte Worte entgegenschleuderte, nicht nur einmal, sondern bei jeder möglichen Gelegenheit. Kein Zweifel, daß er sich dadurch noch mehr Steine in den Weg legte als durch seine sachlich oft angreifbaren Gedanken. 22
Einsam auch in Krankheitstageri Zum Gesamtbild der Einsamkeit des Philosophen gehören auch die längeren Krankheitsperioden, in denen Schopenhauer nicht wie die meisten anderen Menschen betreut und umsorgt war. Als er. von seiner zweiten Italienreise kam, lag er ein Jahr lang krank in dem Gasthof „Zum Schwarzen Adler" nahe der Kaufingerstraße in München, in dem übrigens auch Goethe und viele andere Prominente gewohnt hatten. Niemand stand ihm zur Seite, er mußte sich selbst durchkämpfen. An einen Freund schrieb er in dieser Zeit einen Brief, in dem er zunächst von seiner Italienreise berichtete, und zwar so beglückt, wie wir es in seinem Leben selten finden: „Ich war so gesellig wie lange nicht, kam sogar in die große und mitunter in die vornehme Welt und merkte allmählich einen solchen Zuwachs von Erfahrungen und Menschenkenntnis, daß ich jene Zeit für sehr nützlich zugebracht halte. Sehen und Erfahrung ist so nötig als Lesen und Lernen. Besonders deutlich ist es mir geworden, wie jämmerlich das Leben der Vornehmen in der Nähe ist und wie die Langeweile sie martert trotz aller Gegenanstalten. Es war eine schöne Zeit, an die ich stets mit Freuden zurückdenken werde." Dann aber schildert er seine gegenwärtige Not: „Eine sehr trübe Zeit ist ihr gefolgt. Vor einem Jahre kam ich hierher, und etwa sechs Wochen darauf, als ich weiter wollte, fing eine Verkettung von Krankheiten an, die midi den ganzen Winter hier festgehalten h a t . . . Ich habe den ganzen Winter in der Stube zugebracht und sehr gelitten. Seit einem Monat bin ich hergestellt, aber noch so nervenschwach, daß ich, vor Zittern der Hände, erst jetzt Ihren Brief, und zwar mit vieler Mühe, beantworten kann, midi matt dahinschleppe und bei Tage einschlafe; dabei ist das rechte Ohr ganz taub. Was Sie hinsichtlich meiner Schwester schreiben, ist gewiß sehr gut gemeint: Allein Adele und ich wissen selbst gewiß am besten, was wir voneinander zu halten haben. Die Empfehlung eines Dritten kann da nichts helfen." Die Schwester wäre ihm nämlich gern zur Seite gestanden, aber er wehrte sich gegen ihre Hilfe am Krankenbett. Mehr als er es sich zugeben wollte, muß er jedoch unter diesem Zerwürfnis mit seiner 23
Familie gelitten haben, zumal im Herzen der Schwester das Gefühl für den Bruder nicht erkaltet war. Hatte sie doch an ihren „väterlichen Freund", den fünfundsechzigjährigen Goethe, nach Weimar geschrieben: „Eine große, unbeschreiblich große. Freude ist mir gestern geworden. Ihnen, lieber, gütiger Vater, muß ich davon sprechen . . . Mein Bruder ist vollkommen hergestellt, befindet sich in Mannheim und hat mir geschrieben, um eine Zusammenkunft zwischen uns in Frankfurt zu bestimmen. — Es gibt Worte, die ich von Ihnen gehört habe, die durch mein ganzes Leben hindurch tönen, ohne zu verhallen; so sagten Sie mir einst, als ich von der Möglichkeit sprach: ,Du wirst dann wieder begütigend auf ihn wirken und in dem gestörten Dasein wieder eine Art Milde hineinbringen.' Und so, hoffe ich zu Gott, soll es sein." — Goethe wußte aus seinen gelegentlichen Gesprächen mit Schopenhauer, welch schwieriger, innerlich zerrissener und tragischer Charakter er war. Nicht ohne Absicht hatte er ihm bei einem seiner häufigen Besuche ins Stammbuch geschrieben: „Willst Du Dich Deines Wertes freun, so mußt der Welt Du Wert verleihn." Und Schopenhauer hat gewiß über dieses Wort nachgedacht; denn der Goethe-Spruch blieb die einzige Eintragung in dem Album, in dem sich zu verewigen er niemandem sonst mehr gestattete.
Im Haus „Zur schönen Aussicht" Im Sommer 1833, ein Jahr nach Goethes Tod, siedelte Schopenhauer auf Grund der Bilanz, in der er Frankfurt gegen Mannheim „abgewogen" hatte, nach Frankfurt über und lebte dort wie ein Einsiedler, wie ein indischer Yogi über das Leben nachgrübelnd, meist in dem Haus „Zur schönen Aussicht" über dem Mainufer. Er führte inmitten seiner Bücher und in Gesellschaft mehrerer Pudelgenerationen das Leben eines zahlungskräftigen Rentners und eines Sonderlings. Nur selten hellte sich — obwohl das Leben ihm alle finanziellen Sorgen ersparte — seine melancholische, ja pessimistische Grundstimmung auf. Und immer noch sann er darüber nach, ob „das Geschäft des Lebens sich überhaupt bezahlt mache." In seine Frankfurter Zeit fielen die Revolutionsereignisse von 1848, die Schopenhauer aber in ihrer Bedeutung für das politische und 24
geistige Leben und für die Zukunft nicht erfaßte. Er glaubte nicht daran, daß in der sozialen Frage und i.i der Frage der staatsbürgerlichen Freiheit das Aufbegehren der Volksmassen zum Erfolg rühren könne. Innerlich stand er völlig auf der Seite des Königs und wandte sich entschieden gegen die Berliner Barrikadenkämpfer. In seinem höchst umständlich bis ins kleinste durchdachten Testament mit zahllosen Bestimmungen für alle Möglichkeiten hat er einen merkwürdigen „Universalerben" gleich zu Anfang eingesetzt. Wir lesen: „Zu meinem Universalerben setze ich ein den in Berlin errichteten Fonds zur Unterstützung der in den Aufruhr- und Empörungskämpfen der Jahre 1848 und 1849 für Aufrechterhaltung und Herstellung der gesetzlichen Ordnung in Deutschland invalide gewordenen preußischen Soldaten, wie auch der Hinterbliebenen solcher, die in jenen Kämpfen gefallen sind. — Auf den Fall aber, daß besagter Unterstützungsfonds zur Zeit meines Todes nicht mehr existiert, erkläre ich das Invalidenhaus in Berlin als meinen Universalerben." Das eindeutige Bekenntnis Schopenhauers zur angestammten Ordnung und gegen die revolutionären Ideen der Achtundvierziger Zeit . ist ihm naturgemäß von den fortschrittlichen Kreisen sehr verübelt worden.
Später Ruhm Schopenhauer war siebenundfünfzig Jahre alt, als wohl zum ersten Male in seinem Leben freundlichere Stimmen in seine Häuslichkeit drangen. Sie waren zunächst nicht in seiner Heimat, sondern in England laut geworden. Und wenige Zeit später erreichte ihn die Nachricht, daß die Norwegische Gesellschaft der Wissenschaften seine Schrift „Über die Freiheit des menschlichen Willens" preisgekrönt habe. Man begann auch in Deutschland auf ihn aufmerksam zu werden. Er fand Anhänger, und man drängte auf die Neuauflage seiner fast verschollenen frühen Schriften. Der Berliner Privatgelehrte Julius Frauenstädt schrieb deutende und anerkennende „Briefe über die Schopenhauersche Philosophie". Zeitschriften veröffentlichten sein Bild, die Bildhauerin Elisabeth Ney, eine Großnichte des französischen Marschalls Ney, meißelte seine Büste. Das Leben zeigte ihm seine freundlicheren Seiten, und er sonnte sich in dem Ruhm, der sich endlich um seinen Namen und sein Werk rankte. 25
Am 24. September 1860 schrieb ihm sein Hauptverleger einen Brief, in dem er ihm mitteilte, er werde am folgenden Tage die zweite Auflage seiner „Ethik" herausgeben, die bei ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1840 wie alle anderen Werke auf eisiges Schweigen gestoßen war. Schopenhauer hatte das Werk, als das Interesse an all seinen Büchern auf einmal erwacht war, nochmals überarbeitet. Der Brief erreichte den Philosophen nicht mehr. Der Verleger erhielt ihn mit dem Vermerk „Adressat verstorben" ungeöffnet zurück. Schopenhauer hatte kurz vor seinem Tode eine Lungenentzündung überstanden, er hatte sich wieder wohler gefühlt, dann war ein Rückfall eingetreten. Er war trotz seiner Schwäche aufgestanden, um eine Stärkung zu sich zu nehmen. Kurze Zeit darauf traf ihn die Haushälterin entseelt an; er war beim Aufstehen vor dem Sofa tot niedergefallen. Nach seinem Tode wurden von der ersten großen Gesamtausgabe seiner Werke binnen weniger Jahre dreihunderttausend Exemplare verkauft. Was das heißen will, kann jeder ermessen, der an die vielen philosophischen Werke denkt, deren Auflage nur nach wenigen Tausenden oder gar nur einigen Hunderten zählt. So war er doch noch zu den Sternen erster Größe am Himmel der Philosophie aufgestiegen.
Das Leben ist nicht ohne Hoffnung Ziehen wir alle persönliche Verbitterung, alles Zeitbedingte, alles Vergängliche, alle äußere Schale ab, und blicken wir auf den Kern, auf das Wesentliche dessen, was Schopenhauer hat sagen wollen. Wer allerdings glaubt, man könne ein geschlossenes Lehrgebäude, ein „System" Schopenhauers erkennen, den müssen wir enttäuschen. Schopenhauer war im Grunde „Essayist", Meister des geistvollen in kurzer Form niedergelegten, feingeschliffenen Gedankens. Viele seiner Schriften sind nur populäre Abhandlungen zur Erläuterung seiner Ideen. Aber alle sind kleine Kunstwerke in sich. Erst nachträglich hat er für den roten Faden und eine gegenseitige Abstimmung der einzelnen Schriften und Buchkapitel gesorgt, so daß für 26
den, der das nicht durchschaut, der Eindruck eines gewaltigen wohlgefügten Gedankenbaus entsteht. Schopenhauer hat sich selbst als einen unerbittlichen Denker empfunden, und er war es auch. Einmal schreibt er: „Meine Philosophie hat zu ihrem Nordstern ganz allein die Wahrheit, die nackte, unbelohnte, oft verfolgte Wahrheit. Und steuert, ohne rechts oder links zu blicken, gerade auf diese los. Darum auch gibt es in mir kein Kompromiß und findet bei mir keiner seine Rechnung als etwa der, welcher nichts als die Wahrheit suchte; also keine der philosophischen Parteien des Tages: denn sie alle verfolgen ihre Absichten; ich aber habe bloß Einsichten zu bieten, die zu keiner von jenen passen, weil sie eben nach keiner gemodelt sind." Einer der roten Fäden, der sich immer wieder zeigt, ist die Darstellung des Leidens, dem niemand entfliehen könne, das jeder durchstehen müsse, um den wahren Sinn des Lebens zu begreifen. In einem kleinen Zwiegespräch zwischen dem „Weltgeist" und dem Menschen hat er das deutlich ausgesprochen: Weltgeist. Hier ist also das Pensum deiner Arbeiten und deiner Leiden: dafür sollst du dasein, wie alle anderen Dinge dasind. Mensch. Was aber habe ich vom Dasein? Ist es beschäftigt, habe ich Not; ist es unbeschäftigt, habe ich Langeweile. Wie kannst du mir für so viel Arbeit und so viel Leiden einen so kümmerlichen Lohn bieten? Weltgeist. Und doch ist er ein Ausgleich für alle deine Mühen und alle deine Leiden: und dies ist er gerade vermöge seiner Dürftigkeit. Mensch. So?! Das freilich übersteigt meine Fassungskraft. Wehgeist. Ich weiß es. — (bei Seite:) Sollte ich Dem sagen, daß der Wert des Lebens gerade darin besteht, daß es ihn lehrt, es nicht zu wollen?! Zu dieser höchsten Weihe muß erst das Leben selbst ihn vorbereiten." Schopenhauer glaubt also, daß für seine Lehre, das irdische Leben sei nur Leiden und sei ohne Sinn, das Leben selber der beste Beweis ist. Der Mensch werde aus eigenen Erfahrungen lernen, daß das ganze Dasein Enttäuschung, Schmerz, Leid, Entwürdigung sei. Er glaubt, sich hierbei auch auf das Denken und die Lebenseinsichten 27
der alten Inder berufen zu können, obwohl ihm damals nur ein I kleiner Teil der altindischen Literatur bekannt sein konnte. Die 1 Frage, wie weit er die indischen Gedanken im einzelnen richtig verstanden hat, ist umstritten. Sein Verdienst aber bleibt, daß er als einer der ersten die reichen indischen Quellen menschlicher Erfahrung des Leidens und seiner Beurteilung von einer höheren Warte aus erschlossen hat. In dem grundlegenden Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung", das er in den Jahren 1814 bis 1818 in Dresden ausgearbeitet hatte, in dem so bittere Sätze stehen wie: „Das Leben unseres Leibes ist nur ein fortwährend gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod", hat er jedoch schon Wege zum geduldigen Ertragen des Leidens gewiesen. Die blinden Kräfte, die den Menschen treiben, so sagt er unter anderem, der „blinde Wille", kann in dem. wirklich guten, erkennenden Menschen zur wahren Gelassenheit führen. Der Mensch muß der Genüsse entsagen, muß Entbehrungen freiwillig auf sich nehmen; jede uneigennützige Tat erweitert das Herz, beruhigt das Gewissen. Wer nicht das eigene Ich sucht, gelangt zur erlösenden Liebe, die nichts anderes ist als die Erkenntnis des fremden Leides. Die höchste erreichbare Stufe ist die des „Heiligen", der sich freiwillig rein erhält, der in Armut, Nächstenliebe, Selbstverleugnung, Sanftmut, Geduld, in Überwindung des Hasses das Höchste erkennt. Diesem so „Geheiligten" ist trotz aller Entsagung und Entbehrung das Herz voll innerer Freude, und er lebt in wahrer „Himmelsruhe". Ihn ängstigen die Leiden nicht mehr: „Ruhig und lächelnd blickt er zurück auf die Gaukelbilder der Welt, die einst sein Gemüt bewegten und zu peinigen vermochten." Doch auch dieser zur Wunsch- und Willenlosigkeit Gelangte wird immer mit Anfechtungen zu kämpfen haben und stets zu neuer Bewährung aufgerufen sein. Aber diese Stufe des. „Heiligen" ist nur wenigen erreichbar. Schopenhauer selbst gestand ja, daß er sich am wenigsten dieser Gruppe zuzählen dürfte. Doch gebe es noch andere Wege, um wenn auch nur für Augenblicke, aus dem ewigen Kreislauf des Leides herauszukommen. Vor allem sei es das Erlebnis des Kunstwerkes. 28
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Die Kunst — Abglanz des Ewigen In der Kunst, so sagt er, vermag der Mensch für Augenblicke Ruhe, Freude, Sicherheit und eine tiefere Erkenntnis der Welt zu gewinnen. In dem reinen Erlebnis des Kunstwerkes findet er ein Abbild des Schönen, des Reinen, des „Heiligen". Dann aber muß er wieder hinein und hinunter in das furchtbare irdische Dasein mit seiner Langeweile und seinem Überdruß, seinem Schmerz und seiner Qual. Schopenhauer hat zweifellos die Lehre von der Kunst an einem bestimmten Punkt auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Er trennt nämlich die Musik als eine wesenhaft andere Kunst von allen übrigen Kunstarten, also von der Dichtkunst, der bildenden Kunst und der Architektur. Er sagt, in der Musik erfahren wir eine Offenbarung der Welt „hinter dem Schleier der Maja", die Musik zeigt uns das Wesen der Welt in ihrer vollendeten Abgeklärtheit. Nicht mehr der alles erraffende und zerstörende „Weltwille" ist da sichtbar, sondern die große, tiefe Ruhe des Daseins. In der Musik ahnen wir wenigstens, daß eine Welt der Vollkommenheit möglich ist. Hiermit hat Schopenhauer die Auffassungen des Philosophen Immanuel Kant von der Kunst und insbesondere von der Musik geradezu auf den Kopf gestellt. Da er sonst Kant sehr bewunderte und ihn sogar in mancher Hinsicht fortsetzen wollte, war das für sein Gefühl eine mutige Tat. Kant hatte in seiner „Kritik der Urteilskraft" die schönen Künste nach ihrem Wert abgestuft und gesagt: „So hat Musik unter den schönen Künsten den untersten Platz, weil sie bloß mit Empfindungen spielt. Die bildenden Künste gehen ihr in diesem Betracht weit vor." Bei Schopenhauer ist gerade das Umgekehrte der Fall. Während Dichtkunst und bildende Kunst immer noch dem „blinden Weltwillen" unterworfen sind und an seinen Irrungen und Wirrungen teilhaben, ist die Musik grundsätzlich von anderer, höherer Art. Er meint jedoch nur die „reine", nicht die mit dem Wort verbundene Musik. Sein Lieblingskomponist, den er noch über die Klassiker Mozart und Beethoven stellte, war Rossini. In dieser Hinsicht hat sich auch Richard Wagner stark auf Schopenhauer berufen, der selber Wagners größte und innerlichste Werke nicht mehr erlebt hat. Die Anlehnung Wagners an Schopenhauer 29
ist dadurch begründet, daß bei ihm die Musik der eigentlich tragende Grund ist und das Wort nur gleichkam Hillsstellung leistet. Das Wort soll den dramatischen Gehalt der entscheidenden Vorgänge im Weltendrama oder im Herzensdrama des einzelnen aussprechen, aber diese Sprache ist für Wagner viel schwächer als die dazu gehörige Musik, in der das Eigentliche zum Ausdruck kommt.
Mitleid — Weisheit — Unsterblichkeit Kein Zweifel — Schopenhauer ist bei seinen ursprünglichen Gedanken, daß das Dasein nur schlecht und häßlich sei, nicht konsequent verblieben. So scharf er sich über die Dummheit und Unzulänglichkeit alles menschlichen Tuns und Verhaltens äußern kann, schließlich tun ihm die Menschen doch immer wieder leid. Sie kommen ihm vor wie Ameisen in ihrem Bau, sie arbeiten sich zu Tode, machen sich Sorgen, meist um überflüssige Dinge, und schließlich ist das Ganze dann doch umsonst gewesen. So gelangt er mit zunehmenden Jahren zu einer gewissen lächelnden Weisheit, mit der er über das Reich der Menschen blickt, und er predigt in einer von echter Empfindung getragenen Dringlichkeit das Mitleid nicht nur mit den Tieren, sondern auch mit den noch bedauernswerteren Menschen. Hier findet er Worte, die wir so leicht nicht vergessen: „Das Mitleid ist die Grundlage aller echten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Wert." „Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein." „Das Mitleid ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewußtseins, ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung; sondern ist ursprünglich und unmittelbar, liegt in der menschlichen Natur selbst, hält eben deshalb unter allen Verhältnissen stand und zeigt sich in allen Ländern und Zeiten." „Sobald das Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des andern unmittelbar am Herzen, ganz in derselben Art, wie sonst das meinige: also ist jetzt der Unterschied zwischen ihm und mir kein absoluter mehr." 30
Hier bezieht sich Schopenhauer selber in die große Gemeinschaft der Menschen mit ein. Er ist nun nicht mehr nur der kühle, skeptische und oft zynische Betrachter der Menschen in ihrem „selbstverschuldeten" Leiden und Versagen. Er will ihnen helfen, so gut es geht, das Leben durchzustehen. Das Dasein hat doch einen Sinn! Und wir erinnern uns an ein Gedicht aus seiner Jugendzeit: „Was wäre wünschenswerter wohl, Als ganz zu siegen Über das leere und so arme Leben, Das keinen Wunsch uns je erfüllen kann, Ob Sehnsucht gleich uns auch das Herz zersprengt. Wie war' es schön, mit leichtem leisem Schritte Das wüste Erdenleben zu durchwandeln, Daß nirgends je der Fuß im Staube hafte, Das Auge nicht vom Himmel ab sich wende." Diese Sehnsucht nach Veredlung und Sinnerfüllung des Lebens hat Schopenhauer in seinen letzten Jahren nie verlassen. Im Gegenteil, sie verstärkte sich mehr und mehr. Ehe das eigentliche Ich des Menschen durch den Tod in die Unsterblichkeit eingehe, so sagte er, müsse ein Abglanz des ewigen Daseins „hinter dem Schleier der Maja" im Leben des Alltags sichtbar werden. Darum hat er das Leben auf dieser Erde doch auch wieder als ein Kunstwerk angesehen, an dem zu arbeiten nicht ganz sinnlos sei, und er ist in mancherlei Hinsicht ein Weiser geworden, der uns Ratschläge gibt, wie auch wir, beseelt von einer höheren Weisheit, unseren Lebenslauf durch alle Fährnisse hindurch vollenden können. Sein meist gelesenes Werk sind die „Aphorismen zur Lebensweisheit", die im Aufbau seines letzten großen Werkes „Parerga und Paralipomena" innerlich und äußerlich den Mittelpunkt bilden. Sie sprechen zu uns „Von Dem, was Einer ist", „Von Dem, was Einer hat", „Von Dem, was Einer vorstellt". Sie enthalten eine Anzahl von Lebensregeln, Betrachtungen über die innere Harmonie in unserem Leben, Gedanken zur Überwindung der inneren Leere, der Einsamkeit oder des Neides, auch zur rechten Erhaltung der Gesundheit. Jeder, der das liest, wird reiche Anregung für sein eigenes 31
Leben darin finden, und wenn sich auch oftmals der Widerspruch regt: Hier kann man weise Gedanken zur Lebensführung finden, die in den Gefahren und Niederungen des Lebens von hohem praktischen und ethischen Wert sind. Man hat Schopenhauer oft als „romantischen" Philosophen bezeichnet. Mit den Romantikern teilte er auch den Glauben an übersinnliche Kräfte in der Welt, an Prophezeiungen, Geistererscheinungen, Gedankenübertragung. Er schrieb darüber umfangreiche Kapitel, in denen er zu einer grundsätzlichen Bejahung ihrer Möglichkeit gelangte. Er glaubte im Grunde seines Herzens daran, daß die wahre Welt, das wahre Dasein sich nicht in den Grenzen und der Enge von Raum und Zeit erschöpfe. Für ihn waren solche unerklärlichen Erscheinungen ein Abbild der „ewigen Welt" — wobei wir immer beachten müssen, daß er seine Bilder zwar oft dem Wort- und Glaubensschatz des Christentums entnahm, selber aber in seinen entscheidenden, letzten Anschauungen dem Christentum fernstand. Aber auch er glaubte an die ewige Bestimmung des Menschen und war von seiner Unsterblichkeit überzeugt. Diese Überzeugung hat er in immer neuen Gedankengängen und in oft geradezu ergreifenden Formulierungen niedergeschrieben. Er spricht von der Zuversicht des Menschen „daß der Tod wohl seinem Leben, jedoch nicht seinem Dasein ein Ende machen kann. Der Mensch ist etwas anderes als ein belebtes Nichts. Je deutlicher einer sich der Hinfälligkeit, Nichtigkeit und traumartigen Beschaffenheit aller Dinge be- i wüßt wird, desto deutlicher wird er sich auch der Ewigkeit seines eigenen Wesens bewußt."
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