Dino Buzzati Sieben Kurzgeschichten aus
Die Maschine des Aldo Christofari
Phantastische Erzählungen ISBN: 3518376756 S...
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Dino Buzzati Sieben Kurzgeschichten aus
Die Maschine des Aldo Christofari
Phantastische Erzählungen ISBN: 3518376756 Suhrkamp, Ffm. Erscheinungsdatum: 1985
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Inhalt Der Allgegenwärtige ........................................................... 3 Der Zauberkünstler ........................................................... 12 Die falsche Freiheit ........................................................... 21 Die Elefantiasis ................................................................. 29 Die verhexte Jacke ............................................................ 37 Die Schreiber..................................................................... 46 Der Colombre.................................................................... 52
Der Allgegenwärtige Ich weiß noch nicht, ob ich mit meinem Chefredakteur darüber sprechen soll. Mir ist etwas Phantastisches und Entsetzliches zugestoßen. Natürlich vertraue ich meinem Chefredakteur. Wir kennen einander schon so viele Jahre. Ich weiß, daß er mich schätzt. Er würde sich mir gegenüber nie gemein benehmen. Und käme nie auf die Idee, mich zugrunde zu richten. Aber der Journalismus ist eine verfluchte Leidenschaft. Eines Tages würde er mich garantiert, unabsichtlich, nur damit die Zeitung gut dasteht, in Schwierigkeiten bringen. In meinem Fall genügt es nicht einmal, vorsichtig zu sein. Ich gehe bereits ein Risiko ein, indem ich diese Tagebuchseite schreibe. Wenn sie jemand zu Gesicht bekommt und die Neuigkeit sich herumspricht, kann mich niemand retten. Alles ist die Folge meiner alten Manie. Ich habe immer eine Schwäche für schwarze Literatur, Magie, Gespenstergeschichten, Geheimnisse gehabt. Meine kleine Bibliothek besteht nur aus solchen Werken. Unter den Büchern, die ich besitze, gibt es ein über zweihundert Seiten starkes Folio-Manuskript, das mindestens hundert Jahre alt ist. Wie bei vielen alten Büchern fehlt die Titelseite. Alles übrige ist eine ununterbrochene Folge von Wörtern mit drei, vier und fünf Buchstaben, die in lateinischer Kursivschrift geschrieben und vollkommen unverständlich sind. Ich schlage als Beispiel aufs Geratewohl eine Seite auf: "Pra fbee silon its tita shi dor dor sbhsa cpu snun eas pioj umeno kai..." Ich habe es vor einigen Jahren bei einem Antiquar in Ferrara gefunden. Für ihn war es vollkommen wertlos. Jemand, der etwas davon versteht, hat mir erklärt, daß es sich um eines der sogenannten "geheimen Tabulare" handelt, deren Verbreitung -3-
im siebzehnten Jahrhundert begonnen hat. Den Nekromanten zufolge war ihr Text die Frucht einer Offenbarung. Und ihr Geheimnis war folgendes: In der eintönigen, endlosen Folge von sinnlosen Wörtern befand sich an einer bestimmten Stelle eine magische Formel, die sich vom übrigen Text nicht unterschied. Es genügte, daß man sie einmal laut las, damit man übermenschliche Fähigkeiten erlangte, man sah zum Beispiel die Zukunft voraus oder las die Gedanken der anderen. Die Schwierigkeit bestand darin, in diesem grenzenlosen Chaos die Formel zu finden. Man hätte annehmen können, daß man die schicksalhaften Worte am einfachsten erriet, indem man das Buch laut von derersten bis zur letzten Seite las, auch wenn es Monate dauerte; es lohnte bestimmt die Mühe. Aber so einfach war es nicht. Die Formel wirkte nur, wenn ihr beim Lesen keine anderen Wörter vorausgingen. Man mußte also genau mit dem richtigen Wort beginnen. Angesichts des Umfangs des Werks konnte man genausogut eine Nadel in einem Heuhaufen suchen. Wobei immer noch die Möglichkeit bestand, daß es die Nadel überhaupt nicht gab. Von hundert geheimen Tabularen - erklärte mir der Fachmann waren mindestens neunundneunzig Fälschungen. Es gab sogar Leute, die behaupteten, daß es auf der Welt ein einziges echtes Tabular gab und daß alle anderen Schwindel waren. Noch mehr: Es war nicht sicher, ob dieses einzige Exemplar noch wirksam war, denn sobald die Formel einmal angewendet wurde, verlor sie ihre Macht. Dennoch hatte ich mir - mehr aus Aberglauben - angewöhnt, jeden Abend vor dem Schlafengehen das Buch willkürlich aufzuschlagen, an einem beliebigen Punkt der Seite anzufangen und einige Zeilen laut zu lesen. Ich habe natürlich nicht daran geglaubt. Es war eine Art Sühneritual. Man kann ja nie wissen. Und es bereitete mir wenig -4-
Mühe. Am Donnerstag, den 17. Mai, abends las ich wieder mit lauter Stimme den aufs Geratewohl ausgewählten Abschnitt (ich weiß allerdings nicht mehr, um welchen es sich handelte, denn in diesem Augenblick empfand ich nichts Ungewöhnliches und achtete daher nicht darauf), und daraufhin vollzog sich in mir eine Veränderung. Ich bemerkte es einige Minuten später. Es war wie ein wohltuendes Gefühl von körperlicher Leichtigkeit und Frische. Ich war angenehm überrascht. Ich weiß nicht wieso, für gewöhnlich bin ich sehr müde. Aber es war spät, und ich wollte zu Bett gehen. Während ich die Krawatte abband, fiel mir ein, daß ich das Buch im Arbeitszimmer vergessen hatte, das ich im Bett lesen wollte, und zwar Capo Matapan von Ronald Seth, Verlag Garzanti. Im gleichen Augenblick befand ich mich im Arbeitszimmer. Wie war ich dorthin gelangt? Ich bin der Prototyp eines zerstreuten Menschen, aber es war absurd, daß ich mich nicht daran erinnerte, von einem Zimmer ins andere gegangen zu sein. Dennoch war es so. Ich achtete jedoch nicht darauf. Ich bin in Gedanken oft abwesend. Und manchmal tue ich etwas und denke dabei an etwas anderes. Doch das Phänomen wiederholte sich sofort danach auf noch viel eindrucksvollere Weise. Ich fand das Buch nicht im Arbeitszimmer und erinnerte mich daran, daß ich es in der Redaktion vergessen hatte. Im gleichen Augenblick befand ich mich in der Redaktion in der Via Solferino 28. Genau im zweiten Stockwerk, in meinem Büro, in dem es finster war. Ich schaltete die Beleuchtung ein und schaute auf die Uhr. Neun Uhr zwanzig. Seltsam. Bevor ich die Krawatte abgelegt -5-
hatte, hatte ich die Armbanduhr abgenommen und die Zeit abgelesen: neun Uhr achtzehn. Es war unmöglich, daß inzwischen nur zwei Minuten vergangen waren. Also gut. Aber wie war ich hierhergekommen? Ich erinnerte mich an überhaupt nichts. Ich erinnerte mich nicht daran, daß ich das Haus verlassen hatte, daß ich in den Wagen gestiegen war, daß ich hierhergefahren war, daß ich das Gebäude betreten hatte. Was war los? Ich war in Schweiß gebadet. Schreckliche Gedanken stürmten auf mich ein. War ich geistig umnachtet? Oder handelte es sich um Schlimmeres? Ich hatte von Gehirnabszessen oder tumoren gehört, die ähnliche Symptome hervorrufen. Dann kam ich auf eine absurde, lächerliche, idiotische Idee, die jedoch einen Vorteil hatte: Sie schloß die Hypothese einer Krankheit aus und wirkte deshalb beruhigend. Zudem entsprach sie vollkommen dem, was mir widerfahren war. Bei der Idee handelte es sich um folgendes: Wenn ich durch ein übernatürliches Phänomen innerhalb eines Augenblicks aus meiner Wohnung in die Redaktion versetzt worden war? Wenn ich an diesem Abend die richtige Formel im Manuskript gefunden und die legendäre Gabe der Allgegenwart erworben hatte? Es war eine kindische, dumme Vorstellung. Aber warum sollte ich nicht sofort die Probe aufs Exempel machen? Ich dachte: Ich möchte in meine Wohnung zurück. Es ist sehr schwierig, mit Worten die Gefühle eines Menschen zu beschreiben, der unvermittelt aus der realen Welt, wie wir sie alle kennen, in eine andere, gehe imnisvolle Sphäre hinüberwechselt. Ich war kein Mensch mehr, ich war mehr, ich verfügte über eine ungeheure Macht, wie sie noch niemand besessen hatte. Ich hatte mich nämlich schlagartig wieder in meiner -6-
Wohnung befunden. Es war ein Zeichen dafür, daß ich wirklich in der Lage war, mich schneller als das Licht von einem Ort an den anderen zu versetzen. Es gab kein Hindernis, das mich aufhalten konnte. Ich konnte von einem Land ins andere flitzen, ich konnte an die geheimsten, verbotensten Orte gelangen, konnte in die Tresore der Banken eindringen, in die Häuser der Mächtigen, in die Schlafzimmer der schönsten Frauen der Welt. Aber war es wirklich wahr? Es kam mir unmöglich vor. EinTraum. Ich war noch nicht ganz überzeugt. Also unternahm ichnoch einige Versuche. Ich möchte im Badezimmer sein, dachte ich. Und ich war im Badezimmer. Ich möchte auf dem Domplatz sein.Ich war dort. Ich möchte in Shanghai sein. Ich war in Shanghai. Es war eine lange Straße mit Baracken, es stank, die Sonne ging auf. Verdammt, sagte ich mir, hierher bin ich aber nicht mit Gedankengeschwindigkeit gelangt. Dann erinnerte ich mich an den Zeitunterschied. Hier war es früher Morgen, in Mailand war es noch nicht zehn Uhr abends. Ich sah auf der Straße eine Menge Männer und Frauen, die eilig in die gleiche Richtung gingen. Sie begannen, mich anzusehen. Meine Kleidung war sicherlich auffallend. Dann kam eine Gruppe mißtrauisch auf mich zu; zwei Männer trugen Uniform. Ich bekam Angst und dachte: Ich möchte in meiner Wohnung in Mailand sein. Und ich war zu Hause. Mein Herz schlug bis zum Hals. Aber ich triumphierte und frohlockte. Eine wunderbare Zukunft voller Abenteuer, Überraschungen, erotischer Eskapaden, Welterfolgen lag vor mir. Ich dachte an meinen Beruf als Journalist. Wie Stanley, wie der alte Luigi Barzini, wie Funkfoto und Fernschreiber. Ein Erdbeben in Colorado? Sofort war ich an Ort und Stelle, jenseits der Absperrungen der Polizei, und schoß meine Aufnahmen. -7-
Zehn Minuten später saß ich in der Redaktion und schrieb meinen Bericht. Eine Krise im Kreml? Zack, stand ich mit dem Magnetofon hinter einem Möbelstück und nahm Gromykos Wutanfall auf Band. Ein Streit im Haus von Liz Taylor? Der Gedanke genügte, ich befand mich bereits hinter einem Vorhang in ihrem Schlafzimmer und hielt alles fest. Im Vergleich zum Corriere hätte sogar die New York Times wie ein Provinzblättchen gewirkt. Ich dachte auch an den Reichtum. Ja, ich konnte in die Banken, in die Geschäfte der Juweliere, in die unterirdischen Gewölbe von Fort Knox eindringen, Milliarden zusammenraffen. Aber ich schob diesen Gedanken beiseite. Mich interessierten die Milliarden nicht. Wozu sollte ich stehlen? Die Zeitung wiegt mich mit Gold auf. Die Nachrichten allein bringen mir jedes Jahr Millionen ein. Und die Fotos? Sie genügen, um mich zum reichsten Mann der Welt zu machen. Mehr Wert legte ich auf die Liebe, auf den Luxus. Keine Frau würde sich mir mehr entziehen, auch wenn sie zuerst noch so entrüstet war. Warum sollte ich nicht übrigens gleich einen Versuch unternehmen? Ich dachte: Ich möchte mit A. S. im Bett liegen (ich nenne keine Namen, schließlich bin ich ja Kavalier). Ich lag in ihrem Bett, Ehrenwort. Sie schlief allein. Im Zimmer war es finster, durch die Vorhänge drang schwach der Schein der Straßenlampen. In diesem Augenblick bemerkte ich, daß ich noch vollkommen angekleidet war, mit Schuhen und allem drumherum. Mit Schuhen im Bett einer schönen Frau! Mir wurde der Wahnsinn meiner Handlungen bewußt. In diesem Augenblick drehte sich das wunderbare Geschöpf im Schlaf um und stieß an mich. Sie wachte auf, sah mich, schrie entsetzt auf. Ich dachte: sofort nach Hause, im Flug. Hier, in der Stille meiner Häuslichkeit, wurde mir endlich die entsetzliche Gefahr bewußt, in der ich mich befand. Wenn -8-
jemand erfährt, daß es einen Menschen mit meinen wunderbaren Fähigkeiten gibt! Können Sie sich die Angst der Staatsoberhäupter, der Mächtigen, der Generäle vorstellen? Im Bewußtsein zu leben, daß ich jeden Augenblick mit einem Dolch hinter ihnen auftauchen kann und daß es keinen Schutz gibt. Mein Leben wäre keinen roten Heller mehr wert. Inzwischen sind zwölf Tage vergangen, und ich habe das Experiment nicht wiederholt. Ich setze mein gewohntes Leben fort, aber ich habe meinen Seelenfrieden verloren. Ein Gedanke läßt mich nicht los: Werde ich der Versuchung widerstehen können, meine geheime Macht auszunützen? Werde ich nicht doch die ganze Welt sehen wollen? Werde ich mich nicht doch verraten? Auch die Sache mit den Frauen kommt mir immer unwahrscheinlicher vor, je länger ich daran denke. Selbst angenommen, daß ich vor einer Schönen erscheine, wenn sie im Bett liegt oder in der Badewanne sitzt, warum sollte sie mich erhören? Sie würde toben, um Hilfe schreien, mir bliebe nur übrig zu verschwinden. Und die Erfolge als Journalist wären auch nur von kurzer Dauer. Nach den ersten sensationellen Artikeln würde es zu Panikreaktionen kommen, man würde Untersuchungen anstellen, wenn ich irgendwo auf der Welt auftauchte, würde diese Tatsache sofort bekannt werden, man würde mich erkennen. Und dann lebewohl, Dino Buzzati. Ein Genickschuß oder eine ausreichende Dosis Zyankali, und du stellst kein Problem mehr dar. Jetzt sage ich mir: In dieser Situation ist die Verbundenheit mit der Zeitung, die Liebe zum Beruf, der Wunsch nach Ruhm schön und gut, aber wenn ich dabei draufgehe? Wenn ich mit dem Chefredakteur darüber spreche, würde er mich bestimmt äußerst vorsichtig einsetzen, damit es nicht auffällt. Aber man weiß ja: heute der kleine Finger, morgen die ganze Hand. Wenn er mich eines Tages im Interesse der Zeitung bitten würde, einen -9-
schwierigen Auftrag zu übernehmen, könnte ich dann ablehnen? Ich würde zwischen Cap Canaveral, Oran, Moskau, Peking und dem Buckingham Palace hin und her pendeln. Und schließlich kämen sie mir doch auf die Schliche. Nein, wenn die Macht zu groß ist, wie in meinem Fall, schrumpft sie auf ein Nichts zusammen: Es ist überaus gefährlich, sie auszuüben. Ich besitze also zwar einen riesigen Schatz, kann aber keinen Pfennig davon ausgeben. Außer ich bin lebensmüde. Ich werde also still sein: Ich werde niemanden stören, ich werde die Schönen nicht aus dem Schlummer reißen, ich werde die Großen dieser Erde nicht belauschen, ich werde in keiner Wohnung herumschnüffeln, ich werde überhaupt nichts unternehmen. Verzeihen Sie mir, lieber Chefredakteur. Ich wage es nicht
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Der Zauberkünstler Nach der letzten Abendvorstellung fand Smith, der Direktor und Mitbesitzer des Varietétheaters "Eldorado", einen Brief auf seinem Schreibtisch, in dem ihm der Meister der Zauberkünstler, Omar er Bazan - der mit seinen Kunststücken schon über ein Jahr mindestens ein Viertel des Erfolges der ganzen Vorstellung bestritten hatte -, mitteilte, daß er beabsichtige, in ein anderes, nicht näher angegebenes Theater überzuwechseln. Er schrieb, daß "seine Talente eine entsprechendere finanzielle Würdigung finden würden". Das war ein schwerer und unerwarteter Schlag. Die Festtage näherten sich, und die Nummer des Zauberkünstlers war vom Publikum des "Eldorado" besonders bevorzugt. Wen konnte man als Ersatz bekommen? Smith ließ sich in Gedanken die berühmtesten Namen durch den Kopf gehen. GimnothusGimnothus? Sir Basil Jeroboham, Lord of Darkness? Der Graf Dela Monaco (mit nur einem "l" im Namen), auch der Graf des Unmöglichen genannt? Der große Hokuspokus? Flegeton, der Herr der Abgründe? (Alle hatten sie düstere, unheilschwangere Namen, wie es ihrer Kunst geziemt.) Wahrscheinlich war Dela Monaco der für das "Eldorado" geeignetste Künstler. Ein schöner, aristokratischer und würdiger Mann mit einem klassischen Repertoire, das auf übertrieben mysteriöse, furchterregende Scherze verzichtete, derentwegen man Müttern und Kindern, die das Theater füllen, von der Vorstellung hätte abraten sollen. Ja, es war wohl das beste, wenn man Dela Monaco sofort telegraphieren würde, aber was sollte er in der Zwischenzeit machen? Im günstigsten Fall konnte der Zauberkünstler erst in acht bis zehn Tagen hier eintreffen. Es klopfte an der Tür. "Herein!" Ein kleines Männchen mit rundem, lächelndem, ein wenig ängstlichem Gesicht steckte seinen Kopf herein. -12-
"Sind Sie der Herr Direktor?" - "Ja." "Verzeihen Sie bitte, aber wäre hier nicht zufällig die Stelle eines Magiers, eines Tele..." "Hat Sie etwa dieser Schuft von Omar geschickt?" "Nein, mein Herr, ich kenne Omar überhaupt nicht." "Woher haben Sie es dann aber gewußt?" "Was gewußt? Ich bin zufällig hier vorbeigekommen. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle: Professor Sepulcrus." "Einen etwas heitereren Namen konnten Sie nicht auswählen?" "Ich heiße Sepulcrus", erwiderte der andere, "kann ich Ihnen vielleicht in irgend etwas behilflich sein?" Smith betrachtete ihn von oben bis unten. Es mußte sich um einen ganz bescheidenen Zauberkünstler handeln, von der Sorte, wie sie im Sommer in den Kurorten zu finden sind, um in Familienpensionen und kleinen Hotels ihre Kunststücke zu zeigen; aber immerhin war er besser als keiner. "Wir können es ja einmal probieren",sagte Smith, "doch ich mache Sie gleich auf eines aufmerksam: Wir haben ein ruhiges Publikum, also bitte keine Geisterbeschwörungen, keine allzu schaurigen Dinge oder derartiges Zeug. Haben Sie verstanden?" "Vollkommen." Er begann am nächsten Abend. Wie Smith es erwartet hatte, war das Programm des Neuen ziemlich banal... die üblichen bunten Taschentücher, die aus dem Ärmel gezogen wurden, die üblichen Spielkarten, die in der Handfläche verschwanden und wieder da waren, die übliche Taschenuhr eines Zuschauers, die dann in der Westentasche eines Dritten am Ende des Saales wiedergefunden wurde, der übliche Zylinder, aus dem Blumen, Fische, weiße Kaninchen wuc hsen. Doch konstatierte der etwas bange zuschauende Theaterdirektor zwei merkwürdige Dinge: Erstens hing das Publikum, statt gleichgültig zuzuschauen, -13-
geradezu begierig an den Lippen Sepulcrus' und applaudierte ihm mit unerklärlichem Enthusiasmus, viel stärker sogar als vorher Omar, der doch ganz andere Dinge geboten hatte. Ebenso seltsam war auch das Verhalten des Zauberkünstlers selbst. Er sah sich bei jeder neuen Nummer ängstlich und schüchtern um, stotterte und blickte hilfesuchend zu der blonden Assistentin, Fräulein Yvonne, hin, die ihm das Theater gestellt hatte, denn er besaß nicht einmal eine Gehilfin. Der Abend endete besser, als man gedacht hatte. Während sich Sepulcrus umzog, begegnete Yvonne dem Direktor hinter den Kulissen und rief ihm erregt entgegen: "Haben Sie gesehen, was für ein außergewöhnlicher Mann dieser Sepulcrus ist?" "Na, es ging ja ganz leidlich, aber etwas Außergewöhnliches habe ich nun gerade nicht bemerkt." "Nichts Außergewöhnliches? Dann haben Sie also nichts gesehen?!" "Wieso nichts gesehen?" "Ja die Blumen, die Taschentücher, die weißen Hasen..." "Na, und was ist mit ihnen?" "Er hatte sie ja gar nicht!" "Was soll das nun wieder heißen, er hatte sie gar nicht?" "Bevor er auftrat, waren sie nicht da, es war kein Trick dabei ich verstehe mich auf diese Dinge, ich bin schon zu lange dabei!" "Was wollen Sie damit sagen?" "Gehen Sie nur einmal hinauf in sein Zimmer; Kaninchen werden Sie dort sicherlich keine finden. Ich sage Ihnen, der ist ein wirklicher Zauberer, und ich habe Angst vor ihm." Smith lachte nur darüber. Doch als sie alle fortgegangen waren und das Theater leer und still wurde, trieb ihn die Neugier in Sepulcrus' Umkleideraum. Er trat vorsichtig ein und sah sich um. Aber da standen in der Ecke der Kaninchenstall, das Glas -14-
mit den Goldfischen, lagen die Blumen mit den Sprungfedern und die farbigen Taschentücher. Ein schöner Zauberer! Bald wurde der schüchterne und lächelnde Professor zu einer Quelle des Vergnügens für seine Theaterkollegen. Sich nach der Vorstellung im Café Circe, wo sich alles traf, über den Zauberkünstler lustig zu machen, war ein beliebtes Spiel. Wenn er einmal nicht da war, schien der Abend eintönig. Klein, rund und bescheiden steckte er alle Neckereien gelassen ein, nahm niemand etwas übel, als räume er jedem das Recht ein, ihn nicht ernst zu nehmen. Eines Abends nun, als sie alle im Café zusammensaßen, Smith, Sepulcrus, die falschen japanischen Gaukler, der Komiker, die Miami- Girls, der Schlangenmensch, die Sängerin und der Mundharmonikasolist, trat ein hochgewachsener, großer, dunkelgekleideter Herr mit ergrauten Schläfen und einem Spazierstock mit goldenem Knauf und dem Gehabe eines indischen Fürsten ein. Smith und mehrere der Anwesenden erhoben sich ehrerbietig und boten ihm einen Platz an. Es war Graf Dela Monaco, der mit dem Flugzeug aus London gekommen war, um als festengagierter Zauberkünstler im "Eldorado" zu wirken. So war der letzte Abend für den noch ahnungslosen Sepulcrus gekommen. Unterdrücktes Lachen wurde laut, und alle spitzten die Ohren in Erwartung der Begegnung zwischen den beiden, denn es war kaum glaublich, daß der sehr von sich eingenommene Graf sich die Gelegenheit, seinen bescheidenen Kollegen zu beschämen, entgehen lassen würde. Und richtig, noch waren keine fünf Minuten vergange n, alsschon wieder Dela Monaco zum Angriff überging und, indem er vornehm mit dem "r" in seiner Kehle rollte, zu sprechen anhub:"Ich habe wohl die Ehre, mit dem Herrrn Prrrofessor Sepulcrus zu sprrrechen?" Der andere bejahte mit einem freundlichen Lächeln. "Das ist eine außerordentliche, wirklich außerordentliche freudige Begegnung für mich, denn ich habe schon -15-
Wunderdinge über Sie zu hören bekommen." "Das freut mich", antwortete Sepulcrus mit Bescheidenheit, und einige konnten sich des Lachens nicht erwehren. "Man erzählt sich nämlich, wenn ich nicht irre, daß Sie", fuhr der andere fort, "sozusagen ohne Vorbereitungen, ohne Tricks arbeiten, kurz, daß es sich bei Ihnen um authentische Magie handle." "So ist es." Smith unterbrach die beiden mit lautem Lachen: "Und wozu, wenn man fragen darf, halten Sie dann die weißen Kaninchen in Ihrem Zimmer?" "Ich habe sie der größeren Wahrscheinlichkeit wegen kaufen müssen", antwortete Sepulcrus mit großer Schlichtheit, ohne im geringsten verlegen zu sein. "Haha, der größeren Wahrscheinlichkeit wegen, das ist wirklich großartig, so etwas habe ich noch nie gehört." "Ich muß gestehen", sagte jetzt Dela Monaco mit gespieltem Ernst, "daß ich nicht ganz verstanden habe." Sepulcrus gab bereitwilligst Auskunft: "Ich wollte damit nur sagen, daß ich sie mir eben zulegen mußte, um weniger Erklärungen zu geben, eben der größeren Wahrscheinlichkeit wegen." "Sollte das heißen, daß im Grunde die Kaninchen überflüssig sind?" - "Ja", bestätigte der kleine Mann mit einer Sicherheit, die eige ntlich niemand von ihm erwartet hatte. Die Geschichte wurde noch unterhaltender, als man am Anfang angenommen hatte. Dela Monaco heftete langsam sein Monokel in das rechte Auge, um dieses merkwürdige Individuum besser betrachten zu können. "So müssen wir also daraus die Schlüsse ziehen, daß Sie, Herr Professor, über wirkliche magische Kräfte verfügen..." "Wenn Sie so wollen..." -16-
"...die Sie aber verstecken, um die andern glauben zu lassen, es handle sich um die üblichen Tricks, die üblichen Zauberstückchen." "Sie haben meine Gedanken vollständig in Worten ausgedrückt", antwortete Sepulcrus, ganz unempfindlich für den Sarkasmus des andern. "Wäre es dann unbescheiden, wenn wir Sie, Herr Professor, bitten würden, uns heute abend im Freundeskreis eine Probe Ihrer - wie gesagt - übernatürlichen Fähigkeit zu geben?" Sepulcrus schien einen Augenblick wie abwesend, dann sagte er:"Ich würde vorziehen, es lieber nicht tun zu müssen, vielleicht wäre es für alle besser..." "Natürlich, natürlich", murmelte der andere, als wäre er tief beeindruckt, "es ist immer ratsam, die eigene professionelle Tätigkeit von den Kaffeehausgesprächen femzuhalten..." "So habe ich es nicht gemeint." "Warum also nicht?" "Weil ich selbst die Grenzen meiner Kraft nicht kenne, ich habe sie noch nie ausprobiert." "Niemals? Aber mein Bester, dann wäre es doch wirklich schade, wenn Sie uns nicht gestatten würden, heute einem Experiment beizuwohnen." Sepulcrus schüttelte lächelnd seinen runden Kopf. Aller Blicke waren auf ihn gerichtet, und die meisten genossen schon im voraus die lächerliche Figur, die er im Begriff war zu spielen. Fast tat ihnen der kleine Mann in den Klauen des Grafen Dela Monaco leid. Endlich murmelte Sepulcrus: "Wenn Sie, mein Herr, es absolut wünschen..." Ein Chor von: "Bravo, das Wunder, Herr Professor, lassen Sie uns das Wunder sehen!" ertönte es von allen Seiten. Der Graf war aufgestanden und wies die andern zur Ruhe. "Ich spreche Ihnen im Namen aller unsern Dank aus. Was für -17-
eine Probe dürfen wir Ihnen nun auferlegen?" Smith mischte sich ein: "Bitten Sie ihn doch, diese verfluchten Motoren draußen zum Schweigen zu bringen, die meine Nerven zerrütten." Von der Straße her hörte man den ununterbrochenen Lärm vorüberrasselnder Lastwagen, knarrernder Motorräder und hupender Autos. "Können Sie das, Professor?" "Ich will es versuchen", antwortete Sepulcrus ruhig. "Und womit, wenn man fragen darf?" "Mit diesem", und er zog einen dünnen weißen Stab aus seiner Innentasche. "Bravo, der Zauberstab. Bravo, Professor", und alle lachten belustigt. "Also, dann kann es ja losgehen",ermutigte der Theaterdirektor. "Heißen Sie einmal alle Motoren stillstehen." Sepulcrus sah sie mit dem Blick eines von Hunden gehetzten Wildes an und sagte, in sein Schicksal ergeben: "Sie haben es gewollt." Dann hob er den Stab, murmelte einige unverständliche Worte und schlug mit ihm auf den Tischrand. "Halt, halt", rief der Graf Dela Monaco und lachte diesmal selbst aus vollem Halse. "In diesem Moment fliegt meine Frau über den Ozean, und ich möchte nicht, daß sie gerade..." Sepulcrus sah ihn so demütig und bescheiden wie je an, doch in seinen Augen stand Schrecken: "Es ist zu spät, Herr Graf." Dann stand er von seinem Stuhl auf, grüßte die im Kreise Sitzenden und ging mit kleinen Schritten zur Tür, während ihm das Lachen seiner Kollegen folgte. "Herr Professor, die Autos fahren immer noch", rief einer, "Sie müssen den Zauberstab zur Reparatur schicken." Ohne sich umzuwenden, mit gesenktem Kopf, schlüpfte der Professor zur Tür hinaus und verschwand hinter den Glasscheiben des Cafés. In diesem selben Augenblick überfiel sie die Stille. Kein Laut -18-
drang mehr von außen, als sei die Stadt plötzlich von einer tödlichen Lähmung ergriffen worden. Sie schauten durch die Fenster des Cafés. Draußen auf der Straße war alles still und leblos. Sie liefen hinaus und sahen nur am Ende der Straße die Lichter mehrerer Autos unbeweglich leuchten. Das Monokel entfiel dem Grafen Dela Monaco und blieb an einer Schnur baumeln. Sein Gesicht war auf einmal blaß und verzerrt. "Meine Frau", murmelt e er, "meine Frau im Flugzeug..." Klopfenden Herzens standen sie alle auf der Straße und hofften, das Opfer einer Autosuggestion oder eines Zufalls geworden zu sein. "Gott im Himmel, laß nur ein einziges Auto vorbeifahren", schluchzte der berühmte Zauberkünstler. Aber nichts rührte sich. In der ganzen Welt standen die Motoren still.
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Die falsche Freiheit So viel war darüber geredet und geschrieben worden, daß es in jenem Lande, besonders für die Fremden, keine Freiheit gebe, daß ich mich entschloß, selbst hinzufahren, um die Wahrheit festzustellen, um so mehr, als ein Freund von mir, der dort arbeitete und wohnte, mir geschrieben hatte, daß das alles von den Zeitungen erfundene Geschichten seien und kein Wort davon der Wirklichkeit entspreche. Im Grunde unternahm ich die Reise aus Neugier. Mein Freund erwartete mich am Flughafen. Er schien glücklich zu sein, mich wiederzusehen. In einem Taxi brachte er mich zu meinem Hotel. "Nun sag selbst", fragte er mich scherzend, "wo sind all die Kontrollen, die Verordnungen, die Einschränkungen? Hier zum Beispiel, siehst du da vorne die Kreuzung? Nun, ich kann dem Chauffeur sagen, nach links oder nach rechts einzubiegen, ganz wie es mir beliebt. Ist das nicht wundervoll? Wenn ich Lust habe, kann ich sogar stehenbleiben oder zum Flughafen zurückfahren, ohne daß ich jemandem Rechenschaft dafür ablegen müßte. Vielleicht hast du auch gedacht, daß es wer weiß was für Schwierigkeiten gäbe, ein Zimmer für dich zu bestellen?" "Nun, ich bin dir auf alle Fälle von Herzen dankbar dafür", warf ich ein. "Absolut nicht, es war das Einfachste von der Welt, ich brauchte dich nur anzumelden." "Bei wem?" "Nun, beim Innenministerium; es gibt da schon vorgedruckte Formulare, die man nur auszufüllen braucht, beim Konsulat vorlegt und dann im Hotel abgibt, sonst nichts. Das Einfachste von der Welt." -21-
Wir waren angekommen. "Jetzt paß auf", sagte Richard, "es wird extra einer aus dem Hotel kommen, der dein Gepäck aufs Zimmer trägt." "Aber auch bei uns..." "Sicher, aber hier ist es etwas ganz anderes", antwortete mein Freund, ohne sich weiter genauer zu erklären. Das Hotel war konventionell, aber freundlich, und mein Zimmer mit Dusche nicht übel. "Ich hoffe, daß du das alles bei deiner Rückkehr betonen wirst", sagte mein Freund, der mich hinaufbegleitet hatte. "Hier sieh, die beiden Hähne für Kalt- und Heißwasser geben einen einzigen Wasserstrahl, sodaß du dir die Temperatur nach Belieben mischen kannst." "Ja, aber auch bei uns scheint mir...", versuchte ich einzuwerfen. "...daß es das auch gibt, willst du sagen. Kann sein, ich will es nicht bestreiten, aber wer hätte gedacht, daß auch wir es haben, die wir angeblich so rückständig sind?" Und er lachte sarkastisch. "Hast du alles geordnet? Bist du sehr müde, oder wollen wir noch einen kleinen Bummel vor dem Abendessen machen? Du bist vollständig frei, zu wählen, niemand zwingt dich zu etwas." "Also gehen wir ein bißchen spazieren", sagte ich. Es war unterdessen Abend geworden. Die Leute auf der Straße sahen aus, als kehrten sie von der Arbeit zurück und als hätten sie es eilig, nach Hause zu kommen. Es war kalt. "Sieh dir die Vorübergehenden etwas genauer an", ermahnte mich Richard in seinem lehrhaften Eifer. "Im Ausland kann man an den Vorübergehenden die interessantesten Beobachtungen machen. Sehen diese wirklich aus, als stünden sie unter einer Fuchtel? Schau nur ordentlich hin: Einer hat den Kragen hochgeschlossen, der andere ihn heruntergeklappt, und dieser -22-
dort geht sogar ganz ohne Kragen. Einer hat Handschuhe an, wie du sehen kannst, der andere keine, einer raucht Zigarren, der andere Zigaretten, einer hat es besonders eilig, und jener dort bleibt sogar stehen. Wenn das nicht Freiheit ist! Und wir selber: zwei Ausländer, die nach rechts, nach links, geradeaus gehen können, in ein Geschäft eintreten, ein Glas, eine Torte, eine Mundharmonika kaufen. Niemand wundert sich, niemand kontrolliert uns, niemand fragt danach. Versuch nur einmal, dich ganz plötzlich umzudrehen, du wirst niemanden bemerken, der dich womöglich beschattet. Weißt du, daß ich am Anfang direkt Mühe hatte, mich daran zu gewöhnen?" "An was gewöhnen?" "Nun, eben an das Fehlen politischer Spione, vor denen man uns im Ausland Angst gemacht hatte..." Und er begann amüsiert vor sich hin zu lächeln. Wir wanderten kreuz und quer durch die Stadt, sogar bis in die Außenbezirke, und ich muß gestehen, daß ich mich trotz Richards Ironie mehrmals plötzlich umwandte, um die Probe auf seine Behauptungen zu machen. So gab ich vor, meine Schnürsenkel seien gelöst, oder ich wollte eine Auslage nochmals besser sehen und wandte mich dabei schnell um. Aber nichts Verdächtiges war zu bemerken. Der Bürgersteig lag entweder einsam da oder Kinder spielten darauf, die uns nicht einmal eines Blickes würdigten. Richard hielt sogar einmal einen zufällig Vorübergehenden an, um ihn etwas zu fragen, und ich konnte feststellen, daß es keine Barriere zwischen uns Ausländern und den Einheimischen gab. "Verzeihen Sie, mein Herr", sagte Richard, "darf ich Ihnen eine Frage stellen?" "Bitte", antwortete der Mann, ein kleiner Dicker mit einer Brille auf der Nase, "mit dem größten Vergnügen, niemand verbietet uns, mit ausländischen Touristen zu sprechen. Wir können Ihnen unser Herz freimütig öffnen, was wünschen die -23-
Herren?" "Können Sie mir sagen, ob Sie mit der Regierung zufrieden sind?" "Wenn ich ehrlich sein soll", antwortete der kleine Dicke, indem er seine Stimme etwas senkte, "und ich denke, Ehrlichkeit soll vor alles gehen, ja ich bin mit unserer Regierung sogar sehr zufrieden." Richard leistete mir auch während des Abendessens Gesellschaft und machte mich von neuem auf die Möglichkeit aufmerksam, aus einer Liste von verschiedenen Gerichten das mir genehme Mahl zusammenzustellen. Und aus der Tatsache, daß die Bedienung ziemlich langsam war, schloß er, daß niemand besondere Notiz von uns nahm, obgleich wir doch schon durch die Kleidung uns als Ausländer zu erkennen gaben. Als ich dann endlich in meinem Hotelzimmer allein war, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Auf die Dauer war mir der gute Richard in seiner Manie, immer und überall Anzeichen von Freiheit zu sehen, etwas auf die Nerven gegangen. Bevor er mich verließ, hatte er mir auch noch gute Ratschläge für die Nacht gegeben: "Solltest du Lust verspüren, das Hotel in der Nacht zu verlassen, so kannst du es ohne weiteres tun, es sind keine besonderen Formalitäten dazu nötig!" - "Warum auch; was für Schwierigkeiten sollte es denn machen?" "Oh, nichts, ich sagte bloß so, nach alldem, was man draußen über uns erzählt!" So war ich nun endlich allein. Ich ordnete meine Sachen in die Schubladen und wollte gerade darangehen, mich zu entkleiden, als die letzten Worte Richards eine Versuchung in mir aufsteigen ließen. Wie, wenn ich es wirklich versuchen würde, das Hotel nochmals zu verlassen? Gesagt, getan, ich zog meinen Mantel wieder an, drehte das Licht aus und trat in den Korridor. Am Ende sah ich einen Mann, der Schuhe putzte, aber keine Notiz von mir nahm. -24-
Die Eingangshalle war fast verödet. Der Portier, bei dem ich den Zimmerschlüssel ließ, setzte sein schönstes Lächeln auf, wie um zu sagen: Aber bitte, mein Herr, Sie können hinaus- und hereingehen, so oft Sie wollen. Auch der "groom" an der Glastür machte eine höfliche Verbeugung, während er mir die Tür aufhielt. Bitte, schien auch er sagen zu wollen, gehen Sie ruhig, uns interessiert es nicht, niemand ist hier neugierig, wohin Sie sich zur späten Stunde begeben. Bei meiner Rückkehr - ich hatte einen kurzen Bummel in der Nähe des Hotels gemacht - empfingen mich wieder dieselben respektvollen Verbeugungen und dasselbe diskrete Lächeln, die alle dasselbe auszudrücken schienen: Erfreut, mein Herr, Sie wiederzusehen, es ist uns vollständig gleichgültig gewesen, wo Sie waren, die Fremden sind in diesem Lande frei und können tun und lassen, was sie wollen. In dem Gang, auf den meine Zimmertür führte, sah ich den Mann von vorhin nicht mehr. Im Zimmer selbst war alles in derselben Ordnung, wie ich es verlassen hatte. Ich zog Mantel und Jacke aus. Schon war ich dabei, mich meiner Schuhe zu entledigen, als die Versuchung wieder über mich kam. Jetzt ist schon Mitternacht vorbei, sagte ich mir, wie, wenn ich noch einmal fortginge? Ich wäre wirklich auf die Gesichter unten neugierig. So zog ich wieder Jacke und Mantel an und öffnete die innere Tür, drehte die Klinke der äußeren und drückte sie nieder. Seltsam, es war, als ob ein Gewicht dagegen läge. Ich drückte stärker, der äußere Druck ließ nach, und ich konnte die Türaufmachen. Niemand war im Gang zu sehen. Ich bewegte die Klinke noch einmal hin und her, um herauszubekommen, aus welchem Grund sie vorher so schwer zu handhaben gewesen war. Eine Stimme ließ mich zusammenfahren. "Mein Herr..." Ich fuhr herum, ein höflicher Diener in der Uniform des -25-
Hotels stand hinter mir. "Hat der Herr etwas nötig, ist irgend etwas nicht in Ordnung?" "Danke", antwortete ich, "ich habe nur kurz vorher die Tür so schwer aufbekommen..." "Das tut mir aber leid, das ist noch nie vorgekommen, denn Siekönnen natürlich so oft, und wann immer Sie es wünschen, hinausgehen, zu jeder Tages- und Nachtzeit", antwortete er mit einem diskreten Lächeln. "Darf ich einmal probieren?" Aber es war schon nicht mehr nötig, die Tür funktionierte wieder ausgezeichnet. "Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet", sagte ich kurz und ging weiter. Als ich jedoch in der Halle angekommen war, blieb ich beim Portier stehen, statt mich zum Ausgang zu wenden, und bat ihn um eine Schachtel Streichhölzer. "Sofort, mein Herr! Franz, bringe dem Herrn eine Schachtel Streichhölzer, beeile dich. Hier, mein Herr! Bitte, haben Sie weitere Wünsche?" Er lächelte, aber ich konnte seine Gedanken lesen: Sie haben zwar nur um Streichhölzer gebeten - sagten diese -, aber wir haben trotzdem verstanden, daß Sie eigentlich noch einmal ausgehen wollten, aber natürlich können Sie ausgehen, das ist Ihre Sache, wenn es auch eine etwas seltsame Zeit ist. Ich sah mich um; der "groom" an der Glastür und der Liftboy am Aufzug standen unbeweglich und schienen irgendeinen fernen Punkt vor sich zu betrachten, auf ihren Lippen war dasselbe Lächeln. Ich stieg wieder zu meiner Etage hinauf. Vor der inneren Tür verweilte ich einen Augenblick. Nichts, Stille. Eine unbewegliche, düstere Stille, wie im Herzen eines Felsblockes. Und plötzlich offenbarte sich mir der Alpdruck, der in der Luft lastete. Ja, ich konnte in dieser Stadt gehen und kommen, wie ich -26-
wollte, schweigen oder sprechen, stillstehen oder mich bewegen, kurz, tun und lassen, was mir durch den Kopf ging. Aber so viel Freiheit lastete fast schwerer auf mir als Polizeikontrolle, weil alle unaufhörlich daran dachten. Und alles um mich war so glänzend organisiert, um mir ein Gefühl vollkommener Freiheit zu schaffen, das Telefonfräulein, der Portier, der Liftboy, die Verkäuferin, der Kellner, ja der Mann auf der Straße trugen das Ihre dazu bei. Wir, so schienen ihr Lächeln und ihre Freundlichkeit zu sagen, wir wollen, daß du kein Hindernis auf deinem Weg findest, wir wollen, daß du zufrieden bist, wir wollen, daß du dich frei fühlst, frei, wie wir selbst es sind, die wir die größte Freiheit besitzen und uns dabei glücklich fühlen. So konnte ich kommen und gehen, so lange, bis ich vor Erschöpfung umfiel. Die anderen wußten es, dachten unaufhörlich daran und freuten sich an meiner Freiheit. Auch ich wußte es, war gezwungen, unaufhörlich daran zu denken, das vergiftete mir alles. Es war wie eine Besessenheit, die alle ergriffen hatte. Auch Richard hatte sich ihr nicht auf die Dauer entziehen können, und auch er redete ununterbrochen davon: Freiheit, Freiheit, höchste Freude. Und je öfter er davon sprach und sich darüber freute, um so mehr wurde er Sklave und Gefangener. So wanderten meine Gedanken, während ich im Dunkeln in meinem Bett lag. Plötzlich fuhr ich zusammen. Und wenn, fragte ich mich und hörte, wie mein Herz heftig zu schlagen begann, wenn ich jetzt plötzlich das Licht andrehen würde? Unschlüssig ließ ich ein paar Minuten verstreichen. Dann fand ich den Mut und machte Licht. Ich hatte es nicht anders erwartet: Die Fenster waren verschwunden, die Türe war versunken. Nur die graue, gleichförmige Barriere einer undurchdringlichen Mauer war um mich. -27-
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Die Elefantiasis Eigentlich müßte man darüber lachen, daß die Menschheit jahrelang vor einer atomaren Vernichtung gezittert hat, während sie gleichzeitig in immer größerem Umfang das Produkt erzeugt hat, das heute, im Jahr 1987, ihre Existenz ernstlich bedroht, und das sie für unschädlich gehalten hat. Der Verfasser dieser Zeilen ist weder Physiker noch Chemiker und kann deshalb nicht auf die wissenschaftlichen Einzelheiten des erschreckenden Phänomens eingehen - das im übrigen auch für die Spezialisten weitgehend ein Geheimnis geblieben ist - und das allgemein als Elefantiasis der Dinge oder als Krebs der Materie bezeichnet wird. Anfang dieses Jahrhunderts begann die Forschung, sich mit der Erzeugung der sogenannten Plastikprodukte zu befassen, die für den Menschen nützliche Eigenschaften aufweisen sollten, die man weder bei den natürlichen noch bei den von der traditionellen Technik hergestellten Materialien fand. Ein entscheidender Schritt auf diesem Weg war die Erfindung der Polymere, die nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) zu einer bedeutenden industriellen Entwicklung führten. Geniale Chemiker bemühten sich um die Wette, neue, relativ billige Substanzen zu erfinden, mit denen man Eisen, Holz, Leder, Stoffe, Keramik, Glas ersetzen konnte, und die außerdem leichter zu bearbeiten und in der Anwendung praktischer waren. Charakteristisch für die Polymere und ähnliche Substanzen waren die komplizierten, ungewöhnlich großen Moleküle. Jedes von ihnen enthielt statt der wenigen Atome, die zum Beispiel das Wasser oder das Kohlenmonoxyd bilden, Hunderte, Tausende, ja Zehntausende Atome. Viele von uns werden sich noch an die Industrieausstellungen in den vierziger und fünfziger Jahren erinnern, auf denen man malerische Modelle von Molekülen bewundern konnte, die wie Kinderspielzeug -29-
wirkten, weil sie aus Hunderten verschiedenfarbigen Kügelchen bestanden, die die Atome darstellten, durch kleine Stiele miteinander verbunden waren und phantastische Türme sowie filigrane Labyrinthe bildeten. Diese Moleküle wurden dann zu komplizierten Systemen zusammengefaßt. Daraus entstanden Substanzen, die hart wie Eisen und gleichzeitig elastisch wie Gummi, formbar wie Ton und leicht wie Federn waren. Die Vielfalt der genialen Kombinationen war grenzenlos. Und eine neue glückliche Ära schien sich abzuzeichnen. Der Ingenieur, der Architekt, der Möbeltischler, der Chirurg, die Erzeuger aller Arten von Apparaten und Geräten, die Schneider, die Schuster, die kosmetische Industrie konnten dem Chemiker sagen: Ich brauche eine Substanz, die diese und jene Eigenschaften aufweisen muß; und kurz darauf lieferte er sie ihnen. Im Lauf der Zeit fertigte man Geschirr, Haushalts- und Sportgegenstände, Kleidung und Schuhe aus Kunststoff an; dann folgten Autokarosserien, Reifen, Flug- und Schiffsrümpfe; und schließlich Motoren, Brücken, Häuser, Fabriken und Wolkenkratzer. Alles kostete nur noch die Hälfte, ein Drittel, ein Zehntel, ein Hundertstel des ursprünglichen Preises. Hier und dort kam es auf der Welt zu vereinzelten Zwischenfällen, die zu Zweifeln und Unruhe führten. Doch sie gingen im ungeheuren, alles umfassenden, glühenden Panorama unter. Ein kleines Beispiel: In der Auslage eines New Yorker Geschäftes stand im Jahr 1947 ein eleganter, aus einem einzigen Stück angefertigter Tisch aus karmesinrotem Kunststoff. Eines Morgens fanden die Reinigungsfrauen, die ihre Arbeit antraten, an Stelle des Tisches eine Art Kugel vor, die etwas größer als eine gewöhnliche Boccia-Kugel war und die gleiche Farbe wie der Tisch hatte. Was war geschehen? Die Wissenschaftler -30-
lieferten komplizierte Erklärungen, die keineswegs überzeugend klangen. Kurz gesagt, das Gleichgewicht der künstlich miteinander verbundenen Moleküle war aus unbekannten Gründen plötzlich gestört worden. Die Materie des Tisches hatte sich daraufhin blitzartig zusammengezogen und ihren Umfang radikal verkleinert. In den sechziger Jahren wurden andersgeartete Besorgnisse laut:Was sollte man mit den Werkzeugen, den Geräten, den Verpackungen, den verschiedenartigsten Gegenständen aus Kunststoff anfangen, die abgenützt, nicht mehr brauchbar, oder durch neue, verbesserte Produkte ersetzt worden waren? Man konnte sie weder zerstören noch verbrennen, und auch nicht wie Papier in ein neues Produkt umwandeln. Wie bekannt, gab es internationale Zusammenkünfte auf verschiedenen Ebenen, bis es bei der Konferenz von Lima 1975 zu einem Abkommen kam. In den Ozeanen wurden bestimmte Zonen festgelegt, in denen man die entsprechend beschwerten Plastikabfälle von nun an versenken wollte. Jene Staaten, die dem Abkommen nicht beigetreten waren und zu denen auch Italien gehörte, lösten das Problem, indem sie die Abfälle zu künstlichen Hügeln oder sogar Bergen auftürmten. Auf dem Nordhang des sogenannten Falschen Berges zwischen Ferrara und Malalbergo, der bereits eine Höhe von 350 Metern erreicht hat und rasch weiterwächst, finden regelmäßig Skirennen auf Kunststoffschnee statt. Niemand oder beinahe niemand (vor zehn Jahren legte ein polnischer Gelehrter beim Kongreß der Industriechemie in Toronto einen beunruhigenden Bericht vor, wurde jedoch allgemein als Phantast bezeichnet) sah den strukturellen Verfall oder genauer die Autopolymerisation oder das Plastikoma voraus, die seit sechs Monaten die Welt in Panik versetzt. Der Alptraum ist um so entsetzlicher, als man bis heute weder die Ursache noch die Mechanik des Phänomens erkannt hat. Eine der Hypothesen besagt, daß die Erde auf ihrer Reise durch -31-
den Kosmos in eine Zone gelangt ist, in der unbekannte Einflüsse auf sie einwirken, die diese Schwierigkeiten ausgelöst haben. Wenn unser Planet diese Zone verließe, würden die Verfallserscheinungen aufhören. Und das ist die einzige Hoffnung, die uns bleibt. Es ist schwierig, den Beginn der dramatischen Entwicklung genau festzulegen. In weit voneinander entfernten Orten kam es beinahe gleichzeitig zu den ersten rätselhaften Prozessen. Von den zahlreichen Vorzeichen führe ich nur vier an, die in den Medien ein weltweites Echo auslösten. Am 12. Februar geschah es auf der Autostrada del Sole zwischen Sasso Marconi und Pian del Voglio, daß sich am hellichten Tag ein Auto der Marke Byas, die wegen ihrer besonders widerstandsfähigen Karosserien berühmt ist, bei einem Tempo von 110 km/h plötzlich ausdehnte, alle drei Fahrbahnen blockierte und auf einen in die gleiche Richtung fahrenden Lastwagen aufprallte. Vier Tote. Die Helfer fanden eine riesige, entsetzliche, verworfene Masse vor, die jemand mit einer ungeheuren Molluske verglich:Sie wand sich im brennenden Benzin, dehnte sich immer weiter aus und verdickte sich. Am nächsten Tag verstopfte in einem Kino in Georgeville (Louisiana) unvermittelt der aus dem kürzlich entwickelten Kunststoff "Verene" bestehende Film den Vorführapparat, verwandelte sich im Handumdrehen zu einem weichen, dicken Balken, füllte die gesamte Kabine aus, zerdrückte den Vorführer und ergoß sich dann in den Saal und auf die Straße. In der gleichen Woche wuchs der japanische Passagierdampfer Hainichi Maru vor Hokkaido auf ein Vielfaches seiner ursprünglichen Größe an, sodaß das Deck etwa vierzig Meter über dem Wasser lag. Und da sein Gewicht konstant blieb, verringerte sich seine Stabilität. Der Dampfer kenterte, und von den achthundert Passagieren konnte nicht einmal die Hälfte gerettet werden. -32-
Am 27. Februar wölbte sich plötzlich die Brücke von Barelena in Süd-Tansanien in die Höhe, und ihre zur Gänze aus Kunststoff bestehende Konstruktion explodierte sozusagen zu wirren Geschwülsten, die sich übereinanderschoben und binnen weniger Stunden eine unförmige, schwarze Ablagerung bildeten, die das darunterliegende Wadi ausfüllte. Trotz der Fotos, die in den Tageszeitungen und im Fernsehen gezeigt wurden, hielt kaum jemand diese Zwischenfälle für wahr, und niemand erkannte, wie außergewöhnlich und bedeutsam sie waren. Man sprach von "Explosionen", "Erdrutschen", "Vulkanausbrüchen". In den nächsten drei Monaten kam es zu keinem weiteren beunruhigenden Zwischenfall. Danach trat die Infektion jedoch mit außergewöhnlicher Heftigkeit wieder auf und breitete sich blitzartig in alle Winkel der Erde aus. Muß ich noch einmal darüber berichten, was in Amerika, Asien, Australien geschehen ist? Genügt nicht, was sich hier in Mailand ereignet hat? Am 5. Juni begannen im Gebiet Magenta-Sempione unzählige Gegenstände und Einrichtungen aus Kunststoff aufzuquellen und sich auszudehnen. Hier verlief der Prozeß langsam. Der Griff eines gewöhnlichen Messers hat eine Woche gebraucht, um einen Durchmesser von zehn Zentimetern zu erreichen. Zuerst hatten die Menschen mit Verblüffung und sogar Heiterkeit reagiert, dann mit Unbehagen, und jetzt herrscht das Entsetzen. Die Behörden versuchen, die Bevölkerung zu beruhigen, indem sie erklären, daß es sich um eine seltsame chemische Reaktion handelt, bei der sich die Atome und die Moleküle nicht zusammenziehen wie bei dem vorher erwähnten Tisch, sondern sich unvermittelt voneinander lösen, so daß ein Gegenstand von der Größe eines Stücks Seife schließlich die Ausmaße eines Fasses erreicht. -33-
Stellen Sie sich vor, daß eine Puppe Ihres Kindes ins Unermeßliche zur Größe eines Elefanten wächst. Dementsprechend nehmen der Stuhl, der Fernsehapparat, der Kühlschrank, die Fensterrahmen, die Liftkabine an Umfang zu. Die Familien sind gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen, die von diesen erschreckenden Dingen in Besitz genommen werden. Man hat das Gefühl, daß eine dämonische Macht die Gegenstände erfaßt und sie unbarmherzig ausdehnt. Es hat keinen Sinn, sie zu zertrümmern, sie mit Säuren, Flammenwerfern, Sprengstoffen zu zerstören. Die Bruchstücke schwellen zu ekelerregenden Formen an und schieben und drücken jedes Hindernis zur Seite. Die Mauern der Häuser platzen, und aus den Rissen quellen die Betten, die Sofas, der Hausrat, die Kleidungsstücke heraus. Nur die alten, mit Holzmöbeln ausgestatteten Häuser sind noch bewohnbar: dort, wo die rechtzeitig gewarnten Bewohner jeden Gegenstand entfernt haben, der aus den verdammten Polymeren bestand. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist die Lage jener Personen, deren Organe oder Knochen durch KunststoffFaksimile ersetzt wurden, besonders prekär. Allein in Mailand gibt es über fünfzigtausend Betroffene. Innerhalb von wenigen Minuten schwellen die künstlichen Organe ohne Vorwarnung an und zerreißen die Unglücklichen von innen nach außen. Hier beklagt man bereits über sechstausend Todesopfer. Doch das unglaublichste Schauspiel bieten aus Kunststoff bestehende Gebäude. Die große städtische Musikhalle, einen Kilometer südlich von Chiaravalle, ist inzwischen zu einem Ungeheuer geworden, dessen Buckel von der zerstörten Stadt aus sichtbar ist. Seit einigen Tage n dehnt sich ihre Spitze wie eine Kaugummiblase pilzförmig aus und neigt sich gefährlich auf jene Seite, an der sich die Abtei befindet, die vielleicht schon morgen zur Gänze unter ihr begraben sein wird. -34-
Unglücklicherweise versagen täglich immer mehr öffe ntliche Einrichtungen. Zuerst wurden die Telefone unbrauchbar. Dann blieb der elektrische Strom aus. Jetzt verlegen die hinterhältigen Geschwülste bereits hier und dort Wasserleitungsrohre. Menschenmassen irren wie von Sinnen herum und wissen nicht, wie sie sich in Sicherheit bringen sollen. Endlose Flüchtlingslager erstrekken sich auf den noch vorhandenen freien Flächen. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde hört man die Sirenen der Feuerwehr und der Rettung seltener werden, die Schreie und Hilferufe leiser. Und am erschreckendsten ist vielleicht die Grabesstille, mit der sich der allgegenwärtige Tumor vermehrt, in das glückliche Paradies der Menschen einbricht und es vernichtet.
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Die verhexte Jacke Obwohl ich Eleganz in der Kleidung durchaus zu schätzen weiß, kümmere ich mich wenig darum, wie meine Nächsten angezogen sind. Doch eines Abends lernte ich bei einer Gesellschaft in einem Mailänder Heim einen Herrn von ungefähr vierzig Jahren kennen, der buchstäblich durch die Schönheit und Perfektion seines Anzuges auffiel. Ich wußte nicht, wer er war, begegnete ihm hier zum erstenmal, und bei der Vorstellung ist es immer unmöglich, den Namen zu verstehen. Doch an einem gewissen Zeitpunkt des Abends befand ich mich neben ihm, und wir begannen uns zu unterhalten. Er war liebenswürdig und höflich, doch umgab ihn ein gewisser Nimbus von Traurigkeit. Mit etwas übertriebener Vertrautheit - hätte mich doch nur mein Schutzengel davon zurückgehalten - machte ich ihm ein Kompliment über seine Eleganz und wagte sogar, ihn nach dem Namen seines Schneiders zu fragen. Der Mann lächelte auf eine besondere Art, so als ob er diese Frage erwartet hätte. "Fast niemand kennt ihn", sagte er, "aber er ist ein großer Meister. Doch arbeitet er nur, wenn er Lust dazu hat. Für wenig Eingeführte..." - "Sodaß ich...?" - "Versuchen Sie es, versuchen Sie es. Er heißt Corticella, Alfonso Corticella, Via Ferrara 17." - "Wahrscheinlich ist er sehr teuer?" - "Ich nehme es an, aber ich versichere Ihnen, daß ich es selbst nicht weiß. Diesen Anzug hat er mir vor drei Jahren gemacht, aber bis heute noch nicht die Rechnung geschickt." - "Corticella haben Sie gesagt? Via Ferrara 17?" - "Richtig", bestätigte der Unbekannte und verließ mich, um sich zu einer anderen Gruppe zu gesellen. In der Via Ferrara fand ich ein Haus, wie viele andere, und auch die Wohnung war wie die vieler anderer Schneider. Alfonso Corticella öffnete mir selbst die Tür. Es war ein kleiner, -37-
alter Mann mit schwarzem, wahrscheinlich gefärbtem Haar. Zu meiner Überraschung machte er keine Schwierigkeiten. Ja es schien ihm sogar daran gelegen, mich als Kunden zu haben. Ich erklärte ihm, wie ich zu seiner Anschrift gekommen sei, lobte seinen Schnitt und fragte ihn, ob er mir einen Anzug anfertigen könnte. Wir wählten ein graues Kammgarn, dann nahm er Maß und bot sich an, für die Anprobe zu mir nach Hause zu kommen. Ich fragte ihn nach dem Preis. Das hätte keine Eile, sagte er, darüber würden wir immer einig werden. Was für ein sympathischer Mann, dachte ich zuerst. Aber später auf dem Heimweg wurde ich mir bewußt, daß der kleine Alte ein gewisses Unbehagen in mir zurückgelassen hatte (vielleicht wegen der zudringlichen und süßlichen Freundlichkeit), kurz, ich verspürte nicht den Wunsch, ihn wiederzusehen. Aber der Anzug war nun einmal bestellt und nach zirka zwanzig Tagen fertig. Als man ihn mir brachte, probierte ich ihn ein paar Sekunden vor dem Spiegel an. Ein Meisterwerk. Aber aus unerfindlichen Gründen, vielleicht aus Erinnerung an den unangenehmen kleinen Alten, hatte ich gar keine Lust, ihn anzuziehen. Und Wochen vergingen, ehe ich mich endlich dazu entschloß. Immer werde ich mich an diesen Tag erinnern. Es war ein Dienstag im April, und es regnete. Als ich nun Jacke, Hose und Weste angezogen hatte, stellte ich erfreut fest, daß der Anzug nirgendwo spannte oder zog, wie das so oft bei neuen Kleidungsstücken der Fall ist, besonders wenn sie so nach der Figur geschnitten waren wie dieser. In die rechte Jackentasche stecke ich meist nichts, sondern ich habe die Gewohnheit, alles in der linken aufzubewahren. Das erklärt, warum ich erst nach mehreren Stunden, als ich zufällig im Büro die Hand in die rechte Tasche gesteckt hatte, merkte, daß dort etwas war. Vielleicht die Rechnung des Schneiders? Nein, es war ein Zehntausendlireschein. -38-
Ich war sprachlos, denn ich hatte ihn ganz gewiß nicht dahin gesteckt. Anderseits war es absurd, an einen Scherz des Schneiders Corticella zu denken oder etwa an ein Geschenk meiner Aufwartefrau, die als einzige außer dem Schneider das Kleidungsstück in den Händen ge habt hatte. War es vielleicht Falschgeld? Ich betrachtete die Banknote gegen das Licht und verglich sie mit anderen. Nein, sie war durchaus in Ordnung. Als einzige Erklärung blieb ein Versehen des Schneiders. Vielleicht war gerade ein anderer Kunde mit einem Vorschuß gekommen? Corticella hatte sein Portemonnaie nicht griffbereit gehabt, und um die Banknote nicht herumliegen zu lassen, hatte er sie in die Tasche meines auf der Schneiderpuppe aufgehängten Jacketts gesteckt. So etwas kann leicht vorkommen. Ich drückte auf den Knopf, um die Sekretärin zu rufen. Ich würde dem Schneider einen Brief schreiben und ihm das nicht mir gehörende Geld zurückschicken. Ohne Grund steckte ich jedoch die Hand wieder in die rechte Tasche. "Was haben Sie, Herr Doktor? Fühlen Sie sich nicht wohl?" fragte die eintretende Sekretärin. Ich muß wohl bleich wie der Tod geworden sein. In der Tasche hatten meine Fingerspitzen ein Papier gefühlt, daß einen Augenblick vorher nicht dort gewesen war. "Nein, nein, nichts", sagte ich, "ein kleiner Schwindel, seit einiger Zeit passiert mir das. Vielleicht bin ich etwas müde, gehen Sie nur, Fräulein, ich wollte einen Brief diktieren, aber wir machen es etwas später." Erst nachdem sich die Sekretärin entfernt hatte, wagte ich das Papier aus der Tasche zu ziehen. Es war wieder eine Banknote von 10000 Lire. Da probierte ich es ein drittes Mal. Und eine dritte Banknote kam heraus. Mein Herz fing zu galoppieren an. Ich hatte das Gefühl, aus geheimnisvollen Gründen im Verlauf eines jener Märchen zu stehen, die man Kindern erzählt und an die niemand glaubt. -39-
Unter dem Vorwand, mich nicht wohl zu fühlen, verließ ich das Büro und begab mich nach Hause. Ich hatte es nötig, allein zu bleiben. Zum Glück war die Aufwartefrau schon fortgegangen. Ich schloß die Türe, ließ den Rolladen herunter und begann mit der größten Geschwindigkeit eine Banknote nach der andern aus der unerschöpflich scheinenden Tasche zu ziehen. Ich arbeitete in spasmodischer Nervenanspannung und in der Angst, das Wunder könne von einem Augenblick auf den andern aufhören. Am liebsten hätte ich die ganze Nacht durchgearbeitet, um Milliarden anzuhäufen, aber an einem gewissen Punkt verließen mich die Kräfte. Vor mir häufte sich ein eindrucksvoller Berg von Banknoten. Das wichtigste war nun, sie zu verstecken, damit niemand etwas merkte. Ich leerte einen alten Koffer, in dem Teppiche aufbewahrt gewesen waren, und auf den Boden schichtete ich das Geld, in Bündel gepackt, nachdem ich es gezählt hatte: Es waren etwas mehr als 58 Millionen. Am nächsten Morgen weckte mich die Aufwartefrau, ganz erstaunt, mich angekleidet auf dem Bett zu finden. Ich versuchte, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, indem ich ihr erklärte, daß ich am Tag vorher etwas zuviel dem Wein zugesprochen hätte und dann vom Schlaf übermannt worden sei. Ein neuer Schrecken: Die Frau forderte mich auf, den Anzug auszuziehen, damit sie ihn ausbügeln könnte. Ich antwortete, daß ich sofort ausgehen müßte und keine Zeit hätte, mich umzuziehen. Dann eilte ich in einen Laden, der fertige Anzü ge verkaufte und erstand einen aus ähnlichem Stoff; den würde ich dann dem Dienstmädchen überlassen; "meinen" hingegen, der mich in einigen Tagen zu einem der mächtigsten Männer der Welt machen könnte, würde ich an einem sicheren Ort aufbewahren. Ich verstand nicht recht, ob ich in einem Traum lebte, ob ich -40-
glücklich sei oder unter dem Gewicht einer zu großen Fatalität erstickte. Auf der Straße befühlte ich durch den Regenmantel hindurch wiederholt die magische Tasche. Jedesmal atmete ich erlöst auf. Unter dem Stoff spürte ich das tröstliche Knistern einer Banknote. Doch kühlte ein seltsames Zusammentreffen mein freudvolles Delirium ab. In den Morgenzeitungen war die Nachricht eines am Tage vorher stattgefundenen Raubüberfalles zu lesen. Der Panzerwagen einer Bank, der, nachdem er bei den einzelnen Filialen die Tageseinnahmen abgeholt hatte, zur Zentralstelle zurückfuhr, war in der Palmanova-Allee von vier Banditen überfallen worden. Leute waren zusammengelaufen, und einer der Gangster hatte, um sich seinen Weg zu bahnen, auf die Menge geschossen. Ein Vorübergehender war getötet worden. Das, was mich aber besonders betroffen machte, war, daß der Raub 58 Millionen (wie die meinen) eingebracht hatte. Konnte zwischen meinem plötzlichen Reichtum und dem Raubüberfall eine Verbindung bestehen? Es schien unsinnig, daran zu denken. Und zudem bin ich nicht abergläubisch. Jedoch machte mich der Fall sehr nachdenklich. Je mehr man erhält, um so mehr wünscht man sich. An meinen bescheidenen Gewohnheiten gemessen, war ich schon reich. Aber ich gierte nun nach einem Leben in zügellosem Reichtum. Und am selben Abend machte ich mich wieder an die Arbeit. Nur ging ich diesmal mit größerer Ruhe und geringerem Verschleiß an Nervenkraft vor. Weitere 135 Millionen gesellten sich zu dem vorherigen Schatz. Doch in dieser Nacht gelang es mir nicht, Schlaf zu finden. War es die Ahnung einer drohenden Gefahr? Oder das Gewissen, das mich quälte, so ohne Verdienst Besitzer eines märchenhaften Vermögens geworden zu sein? Oder war es Reue? Be im Morgengrauen sprang ich aus meinem Bett, zog mich an und ging auf die Straße, um eine Zeitung zu kaufen. -41-
Und wie ich sie aufschlug, fühlte ich, daß mir der Atem stockte. Ein schrecklicher Brand in einem Benzindepot hatte ein Geschäftshaus in der zentral gelegenen Via San Cloro zerstört. Unter anderem war von den Flammen der Safe einer großen Immobiliengesellschaft vernichtet worden, der über 130 Millionen in bar enthalten hatte. Beim Löschen hatten zwei Feuerwehrleute ihr Leben gelassen. Soll ich nun meine Verbrechen, eines nach dem andern, aufzählen? Es waren Verbrechen, denn ich wußte nun, daß das Geld, das mir die Jacke verschaffte, aus Blut und Verzweiflung, aus der Hölle kam. Trotzdem aber lauerte in meinem Innern jedesmal der Verstand mit einer Falle auf, indem er sich darüber lustig machte und sich weigerte, irgendeine Verantwortung meinerseits dabei zu sehen. Und gleich war die Versuchung wieder groß; es war ja so leicht! - die Hand in die Tasche zu stecken und mit Wollust zwischen den Fingern immer neue Banknoten zu fühlen. Geld, göttliches Geld! Ohne meine alte Wohnung aufzugeben (es sollte nicht zu sehr ins Auge fallen) hatte ich in kurzer Zeit eine Villa gekauft, besaß eine kostbare Bildersammlung, fuhr in Luxuswagen umher, hatte meine Stellung bei der Firma "aus Gesundheitsrücksichten" aufgegeben und reiste in Begleitung von wundervollen Frauen durch die Welt. Ich wußte, daß jedesmal, wenn ich Geld aus meiner Jacke zog, irgendwo in der Welt etwas Schändliches oder Trauriges geschah. Aber es war immer nur ein vages, von keinen logischen Beweisen gestütztes Wissen. Und bei jeder neuen Geldentziehung wurde mein Gewissen feiger. Und der Schneider? Ich telefonierte, um nach der Rechnung zu fragen, aber niemand antwortete. In der Via Ferrara, wo ich ihn aufsuchte, wurde mir bedeutet, daß er ins Ausland verzogen sei, aber niemand wußte wohin. Alles hatte sich also verschworen, um mir zu beweisen, daß ich, ohne es zu ahnen, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. -42-
Bis man in dem Haus, wo ich seit vielen Jahren wohnte, eines Morgens eine alte Dame mit Gas vergiftet vorfand; sie hatte den Tod gesucht, weil sie die 30000 Lire ihrer Pension, die sie am Vortag abgeholt, verloren hatte (sie waren in meine Tasche gewandert). Genug, genug, wollte ich nicht ganz in den Abgrund stürzen, mußte ich mich der Jacke entledigen. Aber ich wollte sie niemand anders geben, denn sonst hätte das Übel fortgedauert (wer hätte je einer solchen Versuchung widerstehen können?). Es war also absolut nötig, sie zu vernichten. Per Auto erreichte ich ein fernes Alpental. Ich ließ den Wagen auf einer Graslichtung und wanderte in den Wald hinauf. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Ich ging über den Wald hinaus bis dorthin, wo das steinige Geröll der Moräne beginnt. Hier zo g ich zwischen zwei riesigen Felsblöcken die infame Jacke aus meinem Rucksack, schüttere Benzin darüber und zündete sie an. In wenigen Minuten blieb nur noch ein Häufchen Asche übrig. Doch beim letzten Aufflackern der Flamme hörte ich hinter mir - es schien mir zwei oder drei Meter entfernt - eine menschliche Stimme: "Zu spät, zu spät." Erschreckt wandte ich mich blitzschnell um. Aber niemand war da. Ich suchte die Umgebung ab, von einem Block auf den andern springend, um den Verfluchten zu packen. Nichts. Nur Steine rings. Trotz dem erlittenen Schrecken stieg ich mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung ins Tal hinab. Frei, endlich frei, und Gott sei Dank reich. Doch auf der Lichtung fand ich meinen Wagen nicht mehr. Und als ich in die Stadt zurückkehrte, war meine prachtvolle Villa verschwunden; an ihrer Stelle eine ungepflegte Wiese mit einem Plakat "Terrain zu verkaufen". Die Bankdepots waren unerklärlicherweise vollständig erschöpft; verschwunden meine unzähligen Sicherheitskassetten und die dicken Ak tienpakete. Staub, nichts als Staub in dem alten Koffer. Jetzt habe ich mühsam wieder zu arbeiten angefangen und -43-
habe gerade mein Auskommen. Das merkwürdigste aber ist, daß niemand sich über mein plötzliches Unglück zu wundern scheint. Aber ich weiß, daß es noch nicht zu Ende ist. Ich weiß, daß eines Tages die Klingel meiner Tür läuten wird und ich beim Aufmachen dem verfluchten Schneider mit seinem widerlichen Lächeln gegenüberstehen werde, der mir die letzte Rechnung präsentiert.
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Die Schreiber In dem ungeheuren Raum sind Hunderte, Tausende Tische in Reihen aufgestellt. Auf jedem Tisch steht eine Schreibmaschine. An jedem Tisch sitzt ein Mann. Zu Hunderten, zu Tausenden schreiben wir die Berichte, die Erzählungen und die Märchen für Unseren Herrn und Meister. Wir sind die Schreiber des Königs. Von Zeit zu Zeit kommt ein Bediensteter vorbei und sammelt die bereits beschriebenen Blätter ein. Aber das heißt nicht, daß Unser Herr alles liest. Einige von uns schreiben sogar ihr ganzes Leben lang, ohne daß Unser Herr und Meister auch nur eine Zeile von dem liest, was sie geschrieben haben. Wir sind die Schreiber des Königs. Auch ich schreibe hier seit vielen Jahren. Vor mir, mit dem Rücken zu mir, arbeitet der Soziologe Antonio Scocchiari, der die Reden für die Herren Minister verfaßt; links von mir Berichterstatter Gelmo Weisshorn, ein verschlossener, kalter Typ; rechts Professor Miro Castenèdolo, der Historiker, mein guter Freund; hinter mir der Dichter Ascanio Indelicato, möge ihm der Himmel vergeben. Plötzlich ertönte in meiner Maschine ein energisches "Klick", eine winzige rote Lampe ging oberhalb der Tastatur an, und alle drehten sich um und sahen mich an. Alle drehten sich um und sahen mich an, weil dieses Klicken und dieses Lämpchen die Verurteilung bedeuten. Von diesem Augenblick an mußte ich infolge des unerforschlichen Willens Unseres Meisters immerzu schreiben, bis auf die wenigen Pausen, die mir die körperlichen Bedürfnisse aufzwangen. Wenn ich aufhörte, bedeutete es meinen Tod. Wie sahen mich die Kollegen an? Mitleidig oder neidisch? War ich verurteilt oder auserwählt worden? Im Jargon bezeichnen wir die schwerwiegende Betrauung als -46-
"Berufung". Sie erfolgt nur selten. Seit neun Jahren zum Beispiel hatte sie niemand in unserem Raum erhalten; seit fünf Jahren gab es keinen "Berufenen" mehr. Die "Berufung" betrifft beinahe immer Schreiber in einem bestimmten Alter. Selten die Jungen. Auch wegen dieses Umstands behaupten viele, daß es sich nicht um eine Strafe, sondern um eine Auszeichnung von seiten Unseres Herrn handelt; weil dieser das Werk eines bestimmten Schreibers besonders liebt, hält er ihn mit dieser tödlichen Drohung fest, damit er nicht seine Pensionierung verlangt und die Arbeit niederlegt. Andere sind hingegen davon überzeugt, daß es sich nicht um eine positive Beurteilung handelt, sondern einfach um eine Laune, wie die Mächtigen sie oft haben. Sie zitieren sogar alte Fälle von Schreibern, die "berufen" wurden, obwohl sie nur über mittelmäßige Fähigkeiten verfügten. Auch die Meinungen über die Folgen der "Berufung" gehen auseinander. Einige glauben, daß die Todesdrohungen im Fall der nachlassenden Aktivität den Geist verwirren und die Kraft schwächen, so daß der Mensch aufgibt, nach kurzer Zeit aufhört zu schreiben und sich in sein Schicksal fügt. Andere wieder behaupten, daß die verhängnisvolle Alternative die Kräfte anregt und vervielfacht und zu einer neuen Jugend führt, so daß der Erwählte lange Zeit durchhält, ja sogar immer vollkommenere Berichte, Erzählungen und Märchen schreibt. Aber wie erfolgt der Tod, wenn der Schreiber aufhört? Auf welche Art wird mich der Tod ereilen, wenn meine Kräfte nachlassen? Die Sache ist ungewiß. Im allgemeinen schließt man ein Eingreifen des Henkers aus. Kein gewaltsamer Tod. Man nimmt eher ein erbärmliches Ende infolge allgemeiner Entkräftung an, die eintritt, weil dem Unglücklichen die Gnade des Herrn und Meisters und damit die einzige Berechtigung für seine Existenz entzogen wird. Aber es gibt noch eine Theorie: Beim Tod handle es sich nur um eine platonische Drohung; -47-
wenn der Schreiber aufhört zu arbeiten, vergibt ihm der Sire und weist ihm sogar, ohne daß es die anderen wissen, einen Preis zu. Eine naive Utopie! In meiner Schreibmaschine machte es also Klick, das rote Lämpchen leuchtete auf, alle drehten sich um und sahen mich an. In dem ganzen riesigen Saal bin nur ich "berufen" worden. Wenn die Arbeitszeit beendet ist, werden alle anderen gehen. Ich werde sitzenbleiben und schreiben, schreiben bis spät nachts. Und im Morgengrauen, nach kurzem Schlaf auf einem Lager, das der Wächter in einer Ecke aufgeschlagen hat, werde ich wieder an die Arbeit gehen. Nie mehr ein Ruhe- oder ein Urlaubstag. Und wenn ich es eines Tages nicht mehr schaffe weiterzuschreiben und die Tastatur für immer stillsteht, bedeutet dies mein Ende. Professor Castenèdolo, der Historiker, der neben mir arbeitet, ist alt und mag mich. "Mach dir nichts draus", sagte er. "Wenn man dich berufen hat, ist es ein Zeichen dafür, daß Unser Meister dich schätzt." "Aber ich kann nicht mehr von hier fort, verstehst du das nicht? Ihr werdet binnen kurzem nach Hause gehen, eure Lieben wiedersehen, ihr könnt euch unterhalten, lachen, euch vergnügen, durch Wälder und Wiesen wandern. Ich nicht. Ich kann nur schreiben, schreiben. Und wie lange werde ich durchhalt en?" "Wer weiß. Es ist auch möglich, daß Unser Herr und Meister sich in die Arbeiten verliebt, die du schreibst, mitten in der Nacht herabsteigt, dich besucht und dich gar zu einer seiner legendären Orgien einlädt. Aus irgendeinem Grund bist du anders als wir alle anderen, sonst hätte man dich nicht 'berufen'. Denk nur an mich. Ich bin Historiker, bin alt und müde, heute habe ich die Abhandlung über die Diarchien des frühen Mittelalters abgeschlossen, und das ist meine letzte Arbeit, denn -48-
wie du weißt, gehe ich morgen in Pension. Aber ich beneide dich. Ich trete unbekannt und unbeachtet von der Bühne ab, ich weiß sehr gut, daß Unser Herr und Meister Märchen liebt, wie du sie schreibst, und sich nicht für Geschichte interessiert." (Was nicht wahr ist, ich weiß, im Gegenteil, daß er sich in letzter Zeit so sehr für die Geschichte begeistert, daß er beinahe nichts anderes mehr liest.) Ein kurzer Wortwechsel. Denn mehr können wir uns nicht erlauben. Wichtig ist, daß wir schreiben, er Geschichte, ich Märchen. Aber bald wird er, Castenèdolo, gehen, und ich werde weiterarbeiten. Das Tageslicht wird immer schwächer, weil der Abend hereinbricht. Ding! Die Glocke, die den Arbeitsschluß verkündet. Die hundert, die tausend Kollegen um mich hören auf, gleichzeitig auf die Tasten zu hämmern, stehen auf, bedecken die Maschinen mit der Kunststoffhülle und gehen zum Ausgang, melancholische Ameisen, die verstohlene Blicke auf mich werfen, weil ich bleibe. Auch Professor Castenèdolo ist aufgestanden, sieht mich an und lächelt gütig: "Ich grüße dich, lieber Freund, es ist der letzte Abend, an dem wir beisammen sind. Hab keine Angst; du bist ein Berufener, ein Erwählter. Ich trete in den Schatten, jetzt brauche ich nur noch Ruhe." Er entnimmt der Lade die Plastikhülle, breitet sie aus, hebt sie hoch, um das Instrument des abgeschlossenen Werks zu bedecken. Klick, klick, zweimal ein trockenes, bösartiges Klicken aus Castenedolos Maschine. Und über der Tastatur hat das rote Lämpchen aufgeleuchtet. Auch er ist "berufen" worden, im letzten Augenblick seiner Laufbahn. Er bleibt versteinert stehen und ist bleich wie Eis geworden. -49-
Doch er läßt langsam die Plastikhülle sinken, breitet sie sorgfältig über die Maschine, streicht die Falten glatt. Er sieht mich noch einmal an. "Ich kann nicht, nein. Leb wohl. Ich schaffe es nicht mehr. Mag kommen, was will." Er verläßt als letzter den Saal, geht seinem Schicksal entgegen. Ich bin in der düsteren Stille allein. Ich habe die Lampe eingeschaltet. Und in dem kleinen Lichtkreis, vom Dunkel umgeben, schreibe ich und schreibe...
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Der Colombre Zu seinem zwölften Geburtstag wünschte sich Stefan Roi von seinem Vater die Erlaubnis, ihn auf seinem schönen Segelschiff begleiten zu dürfen. "Wenn ich groß bin", sagte er, "will ich auch zur See fahren und noch größere und noch schönere Schiffe befehlen als du." "Gott segne dich, mein Junge", antwortete der Vater. Und da sein Schiff gerade an diesem Tage segeln sollte, nahm er den Knaben mit an Bord. Es war ein wundervoller sonniger Tag und das Meer ruhig. Stefan, der noch nie auf einem Schiff gewesen, lief glücklich auf Deck umher, bewunderte die komplizierten Manöver mit den Segeln und befragte die Matrosen, die ihm lächelnd alle gewünschten Erklärungen gaben. Als er aber das Heck erreichte, blieb er erstaunt stehen, weil er da im Kielwasser, auf zwei-, dreihundert Meter Entfernung, ein Ding sah, das abwechselnd auf- und niedertauchte. Obwohl das Schiff jetzt, von einem wundervollen Wind getrieben, dahineilte, hielt das Ding doch immer dieselbe Entfernung, und obwo hl er nicht verstand, worum es sich eigentlich handelte, machte es ihm den Eindruck von etwas Undefinierbarem, das ihn außergewöhnlich anzog. Der Vater, der Stefan nicht mehr sah und auf sein lautes Rufen keine Antwort erhielt, stieg von der Kommandobrücke, um ihn zu suchen. "Was machst du denn da?" fragte er, als er ihn endlich am Heck, den Blick auf die Wellen gerichtet, entdeckte. "Papa, komm her und sieh!" Der Vater näherte sich und schaute in die von dem Jungen angegebene Richtung, aber ohne daß er etwas Besonderes entdecken konnte. -52-
"Dort, etwas Dunkles im Kielwasser, das auf- und niedertaucht." "Trotz meinen vierzig Jahren", antwortete der Vater, "glaube ich noch gut sehen zu können, aber ich kann wirklich nichts erblicken." Doch als der Sohn darauf bestand, holte er sein Fernglas und suchte die Oberfläche des Meeres ab. Stefan sah, wie er plötzlich erbleichte. "Was ist? Warum machst du so ein Gesicht?" "Ach, hätte ich nur nicht auf dich gehört", rief der Kapitän aus, "nun muß ich Angst für dich haben. Das, was du da aus dem Wasser auftauchen und uns folgen siehst, ist kein Ding: das ist ein Colombre, der Fisch, den die Matrosen über alles fürchten. Ein schrecklicher und geheimnisvoller Wal und schlauer als die Menschen. Aus Gründen, die niemand je erfahren wird, wählt er sich sein Opfer aus, folgt ihm durch Jahre und Jahre, oft ein ganzes Leben lang, bis es ihm gelingt, ihn zu verschlingen. Und das Seltsame ist, daß niemand, außer dem Opfer selbst oder dessen Anverwandten, ihn zu erblicken vermögen." "Ist es nicht eine Legende?" "Nein, ich habe ihn zwar nie gesehen, aber dank den Beschreibungen, die ich oft von ihm bekam, habe ich ihn jetzt auf den ersten Blick erkannt. Die Schnauze, die an ein Bison erinnert, das Maul, das sich ständig öffnet und schließt, diese schrecklichen Zähne. Es besteht kein Zweifel, Stefan: Der Colombre hat dich als Opfer ausgewählt, und wenn du auf dem Meer fahren wirst, wird er dir keine Ruhe mehr lassen. Höre also auf meinen Rat: Geh sofort an Land und verlasse nie mehr den festen Boden, du mußt es mir versprechen! Das Seehandwerk ist nichts für dich, du mußt dich damit abfinden, und auf dem Land kann man ja ebensogut sein Glück machen." Nachdem er so gesprochen, ließ er sofort den Kurs wechseln, kehrte in den Hafen zurück und schiffte den Jungen wieder aus, -53-
indem er als Grund ein plötzliches Unwohlsein angab. Dann segelte er ohne ihn davon. Verstört blieb der Knabe am Ufer zurück und schaute dem Schiff nach, bis auch die letzte Mastspitze am Horizont verschwunden war. Jenseits der Mole, die den Hafen abschloß, blieb das Meer nun vollständig leer. Aber indem er seinen Blick schärfte, gelang es Stefan, einen winzigen schwarzen Punkt zu entdecken, der im Wasser auf- und niedertauchte: Es war "sein" Colombre, der langsam hin und her schwamm, beharrlich auf ihn wartend. Von da ab wurde alles versucht, um den Jungen von der Sehnsucht nach dem Meer abzulenken. Der Vater schickte ihn auf eine hundert Kilometer im Hinterland liegende Schule, und wirklich dachte Stefan, durch die neue Umgebung abgelenkt, nicht mehr an das Meerungeheuer. Doch als er für die Sommerferien nach Hause zurückkehrte, war sein erster Gang, kaum hatte er eine Minute frei, nach der Mole, um dort eine Art Kontrolle vorzunehmen, auch wenn er sie im Grunde für überflüssig hielt. Denn angenommen, die Geschichte seines Vaters entspräche der Wahrheit, nach so langer Zeit würde der "Colombre" sicher seine Belagerung längst aufgegeben haben. Aber bestürzt und klopfenden Herzens blieb Stefan stehen. Im offenen Meer, zwei-, dreihundert Meter von der Mole entfernt, schwamm der unheimliche Fisch langsam hin und her, hob ab und zu den Kopf und richtete ihn gegen das Festland, so, als halte er sehnsüchtig nach Stefan Roi Ausschau. Der Gedanke an diese Tag und Nacht auf ihn lauernde feindliche Kreatur wurde für Stefan zu einer geheimen Besessenheit, die ihn selbst in der fernen Stadt nachts voller Unruhe aufschrecken ließ. Und doch war er dort, Hunderte von Kilometern von dem Colombre entfernt, in Sicherheit. Aber er wußte, daß jenseits der Berge, Wälder und Ebenen der Wal seiner harrte und daß, begäbe er sich auch in den fernsten Kontinent, der Colombre doch im nächstliegenden Meer mit der -54-
unerbittlichen Hartnäckigkeit, die den Werkzeugen des Schicksals eigen ist, auf ihn warten würde. Stefan, ein ernsthafter und williger Junge, setzte seine Studien mit Erfolg fort und fand nach Beendigung der Schule auch eine anständige und gutbezahlte Stelle in einem Warenhaus. Unterdessen starb der Vater an einer Krankheit, sein wunderschönes Segelschiff wurde von der Witwe verkauft, und Stefan befand sich so im Besitz eines schönen Vermögens. Arbeit, Freunde, Unterhaltungen, die erste Liebe; aber obwohl er sich so ein eigenes Leben aufgebaut hatte, quälte ihn der Gedanke an den Colombre wie eine unhe imliche und zugleich betörende Fata Morgana, die, statt mit der Zeit zu verblassen, immer drängender wurde. Die Befriedigung, die ein arbeitsames, ruhiges und bequemes Leben geben kann, ist groß, aber der Reiz des Abgrundes ist stärker. Stefan war erst zweiundzwanzig Jahre alt, als er sich von seinen Freunden in jener Stadt verabschiedete, seine Stelle aufgab, in seine Heimatstadt zurückkehrte und der Mutter seinen festen Entschluß mitteilte, dem Beruf des Vaters zu folgen. Die Frau, der Stefan nie von dem geheimnisvollen Wal erzählt hatte, nahm diese Nachricht mit Freuden auf, denn ihr war es immer wie ein Verrat an der Familientradition erschienen, daß der Sohn das Meer für ein Leben in der Stadt aufgegeben hatte. Stefan fuhr nun zur See und legte Probe seiner Eignung ab, indem er die Beschwerlichkeiten ertrug und mutigen Sinn zeigte. Er segelte und segelte, bei Tag und bei Nacht, im Sturm und während der Flaute, und immer folgte ihm der große Wal im Kielwasser. Er wußte, daß es sein Fluch und sein Schicksal war, aber vielleicht gerade deswegen konnte er sich nicht von dieser Art Leben trennen. Und niemand an Bord außer ihm konnte das Ungeheuer erblicken. "Seht ihr nichts dort auf der Seite?" fragte er von Zeit zu Zeit seine Gefährten, auf das Kielwasser deutend. -55-
"Wir sehen nichts, warum?" "Ich weiß nicht, mir schien es so..." "Du wirst doch nicht etwa einen Colombre gesehen haben?" meinten jene und faßten abergläubisch nach einem Stück Eisen. "Warum lacht ihr, und warum faßt ihr Eisen an?" "Weil der Colombre ein Tier ist, das keinen Pardon gibt. Und wenn er ein Schiff verfolgt, so will das heißen, daß einer von uns verloren ist." Aber Stefan gab nicht nach. Die ständige Drohung schien sogar seinen Willen zu stählen, seine Leidenschaft für das Meer und seine Tollkühnheit im Kampf mit der Gefahr zu verdoppeln. Als er glaubte, das Seehandwerk gründlich gelernt zu haben, kaufte er mit dem kleinen Vermögen, das ihm sein Vater hinterlassen hatte, und zuerst zusammen mit einem Teilhaber, ein kleines Frachtboot; bald wurde er Alleinbesitzer, und dank mehrerer glücklicher Reisen gelang es ihm später, ein richtiges Handelsschiff zu kaufen und immer ehrgeizigere Pläne zu schmieden. Aber weder Erfolg noch Millionen konnten in seiner Seele die quälende Sorge betäuben, doch war er niemals versucht, sein Schiff zu verkaufen oder an Land zu gehen, um dort etwas anderes anzufangen. Zur See fahren war sein einziger Gedanke. Kaum setzte er nach langer Fahrt seinen Fuß in irgendeinem Hafen an Land, so befiel ihn schon die Ungeduld, wieder auszulaufen. Er wußte, daß draußen der Colombre auf ihn wartete und daß der Colombre gleichbedeutend mit Unglück sei. Aber es half nichts. Ein unbezähmbarer Trieb zog ihn ruhelos von Meer zu Meer. In seiner Umgebung verstand niemand, warum Stefan, reich geworden, nicht endlich das verfluchte Seehandwerk an den Nagel hing. Bis er eines Tages innewurde, alt, ja uralt geworden zu sein. Bitternis erfüllte ihn, weil er, um seinem Feind zu entgehen, sein ganzes Leben in dieser wahnwitzigen Flucht durch die Ozeane hingebracht hatte. Aber stets war die -56-
Versuchung des Abgrundes für ihn größer gewesen als alle Freuden eines ruhigen und bequemen Lebens. Eines Abends, als sein wundervolles Schiff im Hafen seiner Heimatstadt vor Anker lag, fühlte er den Tod nahe. Er rief seinen zweiten Offizier, zu dem er großes Vertrauen hatte, und gebot ihm, sich dem, was er jetzt vorhabe, nicht zu widersetzen. Der andere gab sein Ehrenwort. Als er sich so versichert hatte, enthüllte Stefan dem verstört zuhörenden Mann die Geschichte des Colombre, der ihn fast fünfzig Jahre lang vergeblich verfolgt hatte. "Er hat mich von einem Ende der Welt zum andern begleitet", sagte er, "mit einer Hingebung, deren nicht einmal der treueste Freund fähig gewesen wäre. Nun ist meine letzte Stunde gekommen, auch er wird alt geworden sein, und ich kann ihn nicht verraten." Nachdem er so gesprochen, nahm er Abschied, ließ ein Boot zu Wasser und stieg, mit einer Harpune bewaffnet, ein. "Jetzt werde ich ihm entgegenrudern", erklärte er, "denn es ist nur recht und billig, daß ich ihn nicht enttäusche, doch werde ich mit meinen letzten Kräften gegen ihn kämpfen." Mit müden Ruderschlägen entfernte er sich von Bord. Offiziere und Matrosen sahen ihn in der Ferne auf dem ruhigen Meeresspiegel, von den Schatten der Nacht umhüllt, verschwinden. Am Himmel hing die Mondsichel. Nicht lange brauchte er sich abzumühen. Plötzlich tauchte das schreckliche Maul des Colombre an der Flanke seines Bootes auf. "Hier bin ich endlich", sagte Stefan, und seine ganze Kraft zusammennehmend, hob er die Harpune, um ihn zu treffen. "Ach", winselte mit kläglicher Stimme der Colombre, "was für ein langer Weg, um dich zu finden. Auch mich hat diese Mühe aufgerieben. Wie lange hast du mich hinter dir herschwimmen lassen. Immer weiter und weiter bist du geflohen und hast nie verstanden." -57-
"Warum?" fragte Stefan beleidigt. "Daß ich dich durch alle Meere verfolgt habe, nicht um dich zu verschlingen, wie du angenommen hast, sondern weil der König der Meere mir aufgetragen hatte, dir das zu überreichen." Und der Wal streckte seine Zunge aus und reichte dem alten Kapitän eine phosphoreszierende Perle dar. Stefan nahm sie zwischen die Finger und betrachtete sie. Sie war von ungewöhnlicher Größe, und er erkannte, daß es die berühmte Perle des Meeres war, die ihrem Besitzer Glück, Macht, Liebe und Seelenfrieden verleihen konnte. Aber für ihn war es zu spät. "Ach", sagte er und schüttelte traurig sein Haupt, "wie ist alles falsch gewesen. Ich habe mich mein ganzes Leben geplagt und deines zerstört." "Lebe wohl, armer Mann", antwortete der Colombre und tauchte für immer in den schwarzen Wellen unter. Zwei Monate später stieß, von der Flut getrieben, ein Boot an einer felsigen Küste an Land. Es wurde von zwei Fischern gesichtet, die, neugierig geworden, sich ihm näherten. Auf der Barke saß ein weißes Skelett, und zwischen den knöchernen Fingern hielt es einen kleinen runden Stein. Der Colombre ist ein Fisch von großen Dimensionen, schrecklich anzusehen und außerordentlich selten. Je nach dem Meer und den Menschen, die an seinen Ufern leben, wird er Kolomber, Khaloubrha, Kalonga, Kalubalu, Chalunggra genannt. Merkwürdigerweise wissen die Zoologen nichts von ihm. Es gibt sogar einige, die behaupten, daß er überhaupt nicht existiert.
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