Ross Morgan, Meteorologe auf dem bemannten Wet tersatelliten »Boreas«, hat von Anfang an einen schweren Stand. Seine V...
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Ross Morgan, Meteorologe auf dem bemannten Wet tersatelliten »Boreas«, hat von Anfang an einen schweren Stand. Seine Vorgesetzten verlangen von ihm, Mitarbeiter zu bespitzeln. Als er sich weigert, droht man ihm mit Repressalien. Morgan hat inzwi schen auf Umwegen erfahren, daß seine Vorgesetzte, die Kommandantin des Wettersatelliten, eine Militär angehörige ist, denen der Aufenthalt im Weltraum untersagt ist. Die Anweisungen der Kommandantin werden immer befremdlicher. Die Stimmung an Bord des Satelliten ist zum Zerreißen gespannt. Es kommt zu Auseinandersetzungen, die im Grunde der Auf takt zu gefährlichen militärischen Aktionen sind. Nur durch das Eingreifen einer äußeren Macht kann glo bales Unheil abgewendet werden.
In der Reihe der
Ullstein Bücher:
SCIENCE-FICTION-STORIES 43
(Ullstein Buch 3096)
Erzählungen von
Eric Frank Russell, John W.
Campbell, Arthur Conan Doyle,
Arthur C. Clarke
SCIENCE-FICTION-STORIES 44
(Ullstein Buch 3102)
Erzählungen von
Kris Neville, J. T. McIntosh,
Larry Niven
SCIENCE-FICTION-STORIES 45
(Ullstein Buch 3109)
Erzählungen von
Robert Bloch, Robert U. Chambers,
Isaac Asimov, Clifford D. Simak,
Arthur C. Clarke
SCIENCE-FICTION-STORIES 46
(Ullstein Buch 3118)
Erzählungen von
Cordwayner Smith, Eric Frank
Russell, H. Beam Piper, Gregory
Benford
SCIENCE-FICTION-STORIES 47
(Ullstein Buch 3130)
Erzählungen von
Eric Frank Russell, John. W.
Campbell, Arthur Conan Doyle,
Arthur C. Clarke
SCIENCE-FICTION-STORIES 48
(Ullstein Buch 3139)
Erzählungen von
Larry Niven, Gerald Jonas,
Theodore Sturgeon, Ron Goulart,
Arthur Sellings
SCIENCE-FICTION-STORIES 49
(Ullstein Buch 3148)
Erzählungen von
Larry Niven, Gerald Jonas,
Theodore Sturgeon, Ron Goulart,
Arthur Sellings
Ullstein Buch Nr. 3154 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: STORMTRACK Aus dem Amerikanischen von Helmut Axmann
Umschlagillustration: Dell Copyright © 1974 by James E. Sutherland Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03154 4
James Sutherland
Signale aus
dem Kosmos
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Für Dr. Robin Scott Wilson und Leslie Kay Swigart
1
Die Stadt waberte förmlich in der Morgenhitze. Er sah es, als er aus der Einwegbahn stieg. Hitze schwaden stiegen von dem staubigen Pflaster hoch und ließen die Gebäude in der Sonne zittern wie eine Herde erschöpfter, hechelnder Tiere. Der Anblick des alles überragenden Regierungsgebäudes erinnerte Ross an den Zweck seines Hierseins. Er hatte keine Wahl; einmal wöchentlich mußte er sich bei ihnen melden. Es ist dasselbe wie Strafaussetzung auf Bewährung, dachte Ross. Nur – ich bin doch kein Verbrecher. Oder? Er warf einen Blick auf seine Uhr. Noch zwei Minu ten. Er war wie gewöhnlich in Eile, die festgesetzte »Be sprechung« mit dem Computer nicht zu verpassen, denn das hätte peinliche Folgen gehabt. Während er sich durch die Menschenmenge vor dem Hauptein gang kämpfte, fragte er sich, was geschehen würde, wenn er den Termin einfach einmal ausfallen ließe oder die Bahn Verspätung hätte. Aber er kannte die Antwort. Er wäre sofort seine Stellung los. Oder, bes ser gesagt, seine Arbeitslosigkeit. Ich mache lieber weiter, sagte er zu sich selbst.
Der Wetterdienst war in einigen Büros im Erdge schoß des Gebäudes untergebracht. Ross begab sich ins Personalbüro und blickte sich um. Die Szene war ihm wohlvertraut. Scharen hoffnungsvoller Arbeitsuchender lunger ten an den Wänden des Büros. Abgewiesene Bewer ber standen mit mürrischer Miene mitten im Raum. Beide Gruppen warfen Ross argwöhnische Blicke zu, als er sich vordrängte und vor dem Pult der Haupt sekretärin stehenblieb. Ross wußte, was sie dachten: Was ist denn an dem Besonderes dran, daß er sich nicht wie wir anzustellen braucht? Ross hätte es ihnen gern gesagt. An ihm war gar nichts Besonderes dran. Die Hauptsekretärin war ein junges hübsches Mäd chen, das die Identitätskarte von Ross entgegennahm und einen Vermerk darauf anbrachte, daß er seinen Termin eingehalten habe. Während sie die Karte in der einen Hand hielt, ging sie mit der anderen eine Liste neuer Stellungsangebote durch. Gegen seinen Willen fühlte Ross, wie sein Herz schneller schlug. Er sagte sich selbst, wie lächerlich seine Aufregung war. Schließlich lautete die Antwort jedesmal gleich: Nichts. Warum sollte sich diese Wo che und dieser Tag von den vorhergegangenen zwei Dutzend Wochen und Tagen unterscheiden? Es gab keinen Grund dafür; und doch begann er aufgeregt
zu zittern, als das Mädchen hinter dem Schreibtisch die Liste hinlegte und aufblickte. »Bedaure, Mr. Moran«, sagte sie. »In der Liste für Stellenangebote gibt es nichts Neues.« Sie reichte ihm die Karte zurück und schenkte ihm einen Blick be rufsmäßigen Mitgefühls. »Würden Sie das bitte noch einmal überprüfen?« stieß er hervor und hoffte, daß ihm seine plötzliche Verzweiflung nicht allzu deutlich anzumerken war. »Gewiß«, sagte sie und führte die Karte in einen Tischcomputer ein, der direkt mit dem Hauptquartier des Wetterdienstes in Washington verbunden war. Es bestand immer noch die kleine Chance, daß der Wet terdienst für ihn eine Beschäftigung gefunden hatte und die Liste unvollständig war. Ross bemerkte, daß die Sekretärin seine Gesichtszüge intensiv betrachtete. »Moran ... Moran ...« flüsterte sie leise vor sich hin, als ob sie der Name an etwas erinnerte. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Natürlich! Vor zwei Jahren hatte ich mit jemand namens Moran zu tun. Sie sehen ihm sehr ähnlich, müssen Sie wissen – dieselbe Größe, dasselbe dunkle Haar, dieselben Augen. Er war auch beim Wetterdienst – als Pilot.« »Erinnern Sie sich an seinen Namen?« »Hm. Sam«, sagte das Mädchen nach einem Au genblick der Überlegung. »Sam Moran. Sind Sie ir gendwie mit ihm verwandt?«
»Ja. Er war mein Bruder.« »War?« fragte das Mädchen neugierig. »Sam starb im vorigen Juli bei Guam.« »Oh, das tut mir leid. Ich wußte nichts davon«, sag te sie verlegen. Der Computer begann jetzt, eine Liste auszudrucken: WETTERDIENST DER VEREINIGTEN STAATEN Washington, District Columbia Ross' Blick glitt über die Aktennummer, seine Adres se in Los Angeles und das Datum des Eintritts seines zweiundzwanzigsten Geburtstags. Zum Teufel! Alles war beim alten. Er las: Bewerbungsstand: Angestellt Entlohnung: Unterstützung Beschäftigungsstand: In Reserve Ross seufzte enttäuscht, bedankte sich für die Über prüfung und verließ den Raum. Sekunden später stand er auf der Straße. Mit einem plötzlichen Gefühl von Neid betrachtete er die vorüberhastenden Pas santen. All die Leute hatten eine bestimmte Eigen schaft, die Ross auch zu besitzen wünschte. Alle wissen, was sie sind und wohin sie gehen, dachte er. Sie treiben nicht nur einfach dahin.
Er setzte sich in Bewegung, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Nachdem die einzige Verpflichtung, der er allwöchentlich nachkommen mußte, erledigt war, blieb die übrige Zeit völlig zu seiner Verfügung. In der Nähe des Eingangs zum Bahnhof sprach ihn ein hohläugiges Mädchen im Teenageralter an und bettelte um Geld. Wortlos händigte ihr Ross seine letzte Dollarnote aus, und sie verschwand wieder in der Menge. Er bestieg die Einwegbahn nach San Fernando Val ley. Das Wageninnere war alt, staubig und gerammelt voll mit erschöpften Angestellten, die die Nacht schicht hinter sich hatten und nach Hause strebten. Es gab keine Sitzplätze mehr, und die Zeit reichte gerade aus, um sich an der Stange einen Halt zu verschaffen, ehe der Zug anfuhr. Ross hatte keinen Blick für die müden Gesichter und den Schmutz um ihn herum. Seine Gedanken umkreisten die Szene im Büro des Wetterdienstes, die sich klar und scharf immer wie der vor seinem inneren Auge abspielte. »Bedaure, Mr. Morgan. In der Liste für Stellenangebote gibt es nichts Neues.« »Würden Sie das bitte noch einmal überprüfen?« »Gewiß.« Gewiß, alles war einfach, wenn man eine Dauer stellung, ein eigenes Nest und Freiheit besaß. Aber al
les wurde zum Problem, wenn man mit dem Ver merk Reserve gebrandmarkt war und bei Verwandten wohnte, die einen nur deshalb duldeten, weil sie das Kostgeld und die Zimmermiete für ihre eigenen Kin der brauchen konnten. Das Gefühl der Trostlosigkeit wollte Ross auch nicht verlassen, als sich der Zug durch die Hügel Hollywoods hinabwand und schließlich durch die Täler des flachen Landes brauste. Die erste Station näherte sich, und Ross merkte, daß er weder Kraft noch Lust hatte, nach Hause zurückzukehren. Er konnte das enge Haus mit der schreienden Kinder schar und den grämlichen, feindseligen Eltern jetzt nicht ertragen. Nur raus hier, dachte er. Irgendwo im Grünen ein stilles Plätzchen suchen, wo man sich hinsetzen und nachdenken konnte. Es dauerte einige Minuten, bis er sich zum Aus gang durchgezwängt hatte. Dann stand er vor dem Aufzug, der ihn zur ebenen Erde hinunterbringen sollte. Irgend etwas bewog ihn, an den Rand der Platt form zu treten. An das Geländer gelehnt, blickte er über die riesige Stadt, die das San Fernando Valley von einer Seite bis zur anderen lückenlos ausfüllte. Schwaden gelblichen Dunstes bedeckten weite Gebie te, aber hier und dort glänzten Türme durch den
Smog und stießen zum Himmel empor wie riesige Metallfinger, die das Licht der Oktobersonne suchten. Ein Hubschrauber schickte sich zur Landung auf dem Dach eines der Bürogebäude an. Gegen seinen Willen begann Ross, nach den Häu sern, Straßen, Parks und Geschäften auszuschauen, in deren Nachbarschaft er den größten Teil seines Le bens verbracht hatte. Da drüben war die Schule, die er mit seinem Bru der zusammen besucht hatte. In der Nähe mußte das Haus sein – oder war der ganze Block abgerissen worden? Das spielte jetzt alles keine Rolle mehr. Ein riesiger Ameisenhaufen, dachte er verzweifelt. Und es geht endlos weiter und weiter und weiter ... »'tschuldigung, mein Junge«, brummte ein stäm miger Arbeiter, der ihn angerempelt hatte. Die Worte rissen ihn aus seinen Träumereien. Er wußte plötz lich, wo das Plätzchen war, das er suchte, und eilte zum Bus. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen trug die Gegend, die er aufsuchte, den Namen »Farntal«, ob wohl dort keine Farne wuchsen und das Tal nicht mehr war als eine kleine Einbuchtung in den Hügeln. Die Sonne, die täglich auf den Friedhof nieder brannte, das Gras austrocknete und die Grabsteine
wärmte, hatte den Zenit bereits überschritten. Ross fühlte, wie seine Finger bei der Berührung des glatten Marmors, aus dem der Grabstein seines Bruders be stand, zitterte. Seine Augen wanderten über den Stein und blieben bei der frisch eingravierten Inschrift hängen: Samuel W. Moran 1971–1995 Er lehnte sich gegen den Stamm einer kühlen Schat ten spendenden Ulme. Ja, dies hier war ein friedliches Fleckchen, das ihm vertraut war und ihn nahezu an heimelte. Alle paar Wochen kam er mit dem Bus hierher, manchmal, um dem Smog und der Hitze zu entgehen, manchmal auch, um der Enge seines Zim mers zu entfliehen. Er setzte sich neben eine knorrige Wurzel. Ach, Sammy, das war nun schon das vierte Mal in diesem Monat, daß ich in dieses verdammte Büro ge pilgert bin, dachte Ross. Was soll ich nur tun? Eine Brise bewegte das dürre Gras. Diese Reservestellung macht mich noch ganz fertig, Sammy. Und es gibt keinen Ausweg. Ich hätte diesen Vertrag nie unterzeichnen dürfen. Ross lächelte traurig. Sammy war es gewesen, der
ihm bei seinem Schulabgang vor fünf Monaten abge raten hatte, den Kontrakt mit dem Wetterdienst zu unterzeichnen, und hatte ihm von seinen eigenen Er fahrungen mit dem Dienst berichtet. Sammy konnte nicht wissen, daß von den hundert Mitschülern aus Ross' Klasse nur ein rundes Dutzend Arbeitsangebote erhalten hatte. Anscheinend waren Meteorologen nicht gefragt. Man stürzte sich entwe der auf das erstbeste Angebot, oder man mußte jahre langes Warten in Kauf nehmen. Ross wollte nicht warten. Er unterschrieb. Der Wet terdienst gab ihm viele schöne Worte, ein Mindestge halt und stellte ihn in Reserve. Inzwischen war fast ein halbes Jahr verstrichen. Die Stille, die ihn umgab, ließ seine Gedanken ab schweifen. Er starrte auf den neuen Grabstein und fragte sich, wie er es schon oft getan hatte: Wie war das Ende, Sammy? Er kannte nur die oberflächlichsten Details. Der Wetterdienst hatte wissen wollen, ob ein fürchterli cher Taifun im Zentralpazifik auch die Insel Guam heimsuchen werde. Sein Bruder war mit einem Spe zialflugzeug, ausgerüstet mit Radar und Computer, mitten in den Taifun geflogen. Das Flugzeug war Opfer einer sogenannten »ex plosiven Dekompression« geworden: Im Auge des Zyklons war der Rumpf zerborsten. Als der Sturm
vorbei war, hatte man seine Leiche gefunden. Das war alles, was Ross darüber wußte; doch die Träume, die ihn immer wieder heimsuchten, waren lebendi ger: ein unbeschreiblicher Sturm, der grelle Feuer schein der Explosion und dann der Sturz, ein Sturz, der ewig währte. Als der Bus gegenüber dem Haus anhielt, das seiner Tante und seinem Onkel gehörte, war die Sonne schon im Untergehen begriffen. Die ersten Straßenla ternen flammten auf. Er erwartete, wie üblich von einer Schar tobender und lärmender Kinder empfangen zu werden; schon seit langem hatte seine Tante alle Erziehungsversuche aufgegeben. Die Stille, die im Haus herrschte, beun ruhigte ihn. Beklommen fragte er sich, was wohl schiefgelaufen sein mochte. Vielleicht hatte sich eines der Kinder den Arm gebrochen, oder Onkel Herbert war aus seiner Stellung geflogen. Er öffnete die Tür. Tante Louise, die im Vorraum stand und damit be schäftigt war, eine Schale mit billigem Zuckerzeug zu füllen, blickte überrascht auf. »Ach, du bist es. Wo hast du denn gesteckt? Während du weg warst, ist dies hier für dich abgegeben worden.« Sie überreichte ihm ein kleines, stramm verschnürtes Päckchen. Ross hatte einige Mühe, es zu öffnen. »Es ist Sammys Taschenlampe!« Er drehte das fla
che, zerbeulte Aluminiumding in der Hand und be trachtete die Gravur: S. W. M. Tante Luise nickte. »Der Mann, der es abgegeben hat, sagte, es sei letzte Woche an der Küste von Guam angeschwemmt worden.« Stumm wog er die Lampe in der Hand. Dann steck te er sie in die Jackentasche und folgte seiner Tante in die Küche. Dort saß Onkel Herbert und las in der Zei tung. Ross setzte sich ihm gegenüber, und seine Tan te stellte ihm eine Schüssel mit dünner Gemüsesuppe hin. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Oktober zu Ende ging. Die Regierung rationierte in der Mitte und gegen Ende des Monats jedesmal die Fisch- und Fleischzuteilung. Heute war die Miete fällig. Er wußte es, und sein Onkel schnitt das Thema gleich zu Beginn des Essens an. »Kann ich morgen zahlen?« fragte Ross zögernd. »Meinetwegen. Arbeitest du ab morgen?« »Nein. Ich bin noch als Reserve eingeteilt.« Seine fruchtlosen Gänge zum Wetterdienst schie nen seine Verwandten jedesmal zu der gleichen Frage zu veranlassen: Hast du Arbeit? Sein Kopfschütteln pflegte wieder andere Fragen nach sich zu ziehen, Fragen, die oft ätzend und bitter waren. Und das ging immer hin und her mit Frage und Antwort, bis alle beleidigt waren. Ein Funken brachte die Abneigung
zum Glimmen, und ehe sich's alle versehen hatten, war aus der Glut ein hochaufflackerndes Feuer ge worden. »Ich werde nie verstehen, wieso ein kräftiger und intelligenter Bursche wie du noch keine Anstellung hat«, hörte er seine Tante sagen. Das Wort Bursche empfand er wie eine Ohrfeige. Er hielt sich mühsam zurück. »Ich bin angestellt«, erklärte er. »Wir haben dieses Thema jetzt schon hundert Mal durchgehechelt, und ich habe keine Lust –« »Aber du arbeitest nicht. Du sagst zwar, du hast eine Anstellung, aber du sitzt die ganze Zeit zu Hau se 'rum«, sagte Onkel Herbert und legte die Zeitung auf die Seite. Es war wieder mal soweit. Die Debatte der Woche, dachte Ross. »Der Wetterdienst hat mich als Reserve eingeteilt«, führte er geduldig aus. »Genauso, wie er es mit Dut zenden anderer gemacht hat. Wenn sich eine Ar beitsmöglichkeit ergibt, werde ich berücksichtigt. Das hat mir heute die Sekretärin mitgeteilt.« »Hat sie dir auch mitgeteilt, daß die Regierung kei nen Finger rührt?« fragte der Onkel. »Die lassen dich ewig herumhocken. Du solltest einen Vertrag mit ei ner privaten Firma abschließen, einer Luftfahrtgesell schaft oder so.«
»Aber ich habe doch schon einen Vertrag mit dem Wetterdienst. Er erstreckt sich über einen Zeitraum von fünf Jahren, beginnend mit dem Tag meiner Schulentlassung. Er enthält eine Klausel, die alle Ne benbeschäftigungen ausschließt. Ausschließt! Sieh mal«, fuhr Ross in bittendem Tonfall fort, »laß uns doch das Thema wechseln. Ich zahle meine Miete pünktlich. Was wollt ihr mehr?« Mehr Geld. Ross wußte, daß sich sein Kostgeld er höhen würde, sobald sein Einkommen gestiegen war. Und er konnte in absehbarer Zeit nicht ausziehen. Das Wohnungskontrollamt hatte für Wohnungen in Südkalifornien eine Wartezeit von neun Monaten festgesetzt. »Ach, Ross«, seufzte Louise, »wir machen uns Sor gen um dein Wohlergehen.« Ross schnaubte spöt tisch. Mißmutig setzte Louise ihre Rede fort. »Ich ha be deiner Mutter am – am Totenbett versprochen, daß ich für dich und Samuel alles tun wolle, um euch zu anständigen Menschen heranzuziehen –« Die Tante verstummte. Ein peinliches Schweigen trat ein. Der Onkel betrachtete Ross mit einer Miene, die Mißtrauen ausdrückte. »Warst du heute wirklich im Büro des Wetterdien stes? Oder hast du nur angerufen und bist dann her umgestrolcht?« fragte er leise. Er schüttelte den Kopf.
»Ich kenne mich nicht aus mit dir. Immer treibst du dich irgendwo herum. In solchen Augenblicken ver liere ich die Hoffnung, daß du dich jemals ändern wirst.« Vielen Dank für das Vertrauen, dachte Ross. Diese Diskussion ist genau das, was der Arzt zur Krönung eines schönen Tages verordnet hat. Ross starrte geradeaus. Seine Wut galt weniger der Tante und dem Onkel als ihm selbst. Hätte er doch seinen Mund gehalten! Der Onkel brabbelte weiter, während Tante Louise das schmutzige Geschirr einsammelte und in die Spülmaschine steckte. Die Türklingel schrillte und unterbrach die span nungsgeladene Szene. Der Onkel und die Tante tauschten Blicke; dann stand der Onkel auf und ging steifbeinig hinaus. Bleich und erschrocken kam er wieder. »Was ist los, Liebling?« Tante Louise schaute zur Tür. »Haben die Kinder etwas –« Der Onkel schüttelte den Kopf. »Da ist ein Mann, der dich sprechen will, Ross.« »Vom Wetterdienst?« fragte Ross erstaunt. Es war eine späte Tageszeit dafür, ihn abzuberufen. »Nichts dergleichen.« Die Stimme des Onkels kam wie aus weiter Entfernung. »Der Mann ist vom FBI.«
2
Agent Daniel Webster Carmichael vom Federal Bu reau of Investigation musterte Ross von Kopf bis Fuß. »Für einen Amateur«, sagte er, »sind Sie aber ziem lich gerieben. Der Trick mit der Bahn hat mir ganz schön das Nachsehen gegeben. Den Rest des Tages habe ich damit verbracht, Sie wieder aufzustöbern.« In dem trüben Licht, das die Lampe über dem Ein gang spendete, entsprach Carmichael Zoll für Zoll den Vorstellungen, die sich Ross aufgrund zahlrei cher Kinobesuche von einem Geheimdienstmann machte: ein Mensch mittleren Alters, kräftig und mit einem grauen Anzug bekleidet, unter dem sich die Pistole abzeichnete. »Nun ja, Sie haben mich gefunden.« Der Mann griff in seine Jacke, und für einen kurzen Moment fürchtete Ross, der Griff gelte seiner Waffe. Statt dessen zog der Agent einen großen Umschlag hervor, den er Ross kommentarlos überreichte. Ross riß den Umschlag an einem Ende auf, und ei ne ganze Anzahl Papierbögen fielen ihm entgegen. Obenauf lag ein Dokument, das mit einem amtlich aussehenden Siegel und einer Menge von Unter schriften versehen war. Darunter lag ein Brief. Die Be leuchtung reichte nicht aus, um die Einzelheiten ent
ziffern zu können; doch der Briefkopf bestand aus den fettgedruckten Lettern VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA: ERMÄCHTIGUNG ZUM AB TRANSPORT UND ZUR RÜCKFÜHRUNG EINER PERSON. Ross stieß einen Pfiff aus. »Höchst eindrucksvoll. Stehe ich unter Arrest?« »Nein. Es sei denn, Sie verweigern die Durchfüh rung der Anweisungen, die diese Ermächtigung ent hält. Auf jeden Fall werden Sie mich begleiten.« »Scheint so«, sagte Ross finster. »Wo soll's also hin gehen?« Carmichael zuckte die Achseln. »Die Reisepapiere haben Sie. Ich habe alles gesagt, was ich sagen sollte. Bitte regeln Sie Ihre Angelegenheiten und packen Sie Ihre Sachen zusammen. Das Fahren überlassen Sie besser mir«, schloß er lächelnd. »Anscheinend habe ich keine große Wahl«, sagte Ross. »Ich glaube nein.« Ross lehnte sich gegen den Türrahmen und über legte, was er jetzt tun sollte. Die ganze Situation schien so verwirrend und undurchsichtig; doch in Wirklichkeit hatte er nur zwischen zwei Möglichkei ten zu wählen. Er konnte einfach mit Carmichael mitgehen oder sich weigern und im Haus bleiben. Wie lange? Wieviel Zeit mochte Carmichael zur Be
schaffung einer Gerichtsverfügung brauchen? Nicht viel, vermutete Ross. Er straffte sich. »In Ordnung.« Eine Minute später war er damit beschäftigt, seine Sachen in zwei schäbige alte Koffer zu stopfen. Hem den, Pullover, seinen alten Anzug, Schuhe, Socken, einige Bücher und seinen Rasierapparat – das war al les. Ross stellte überrascht fest, wie wenig er eigent lich besaß und wie schnell seine Habe verstaut war. Er brachte die Koffer hinunter. Dort war Carmichael dabei, mit seiner Tante zu sprechen, während der Onkel die Ermächtigung ge nau studierte. Keiner von beiden wußte ihm viel zu sagen. Carmichael brachte das Gepäck im Kofferraum ei nes schweren Turbinenwagens unter, den er vor dem Haus geparkt hatte. Mit einem dumpfen Laut schloß sich der Kofferraumdeckel, während Onkel und Tan te mit unsicheren Stimmen ein Lebewohl sagten. Ross versprach ihnen zu schreiben. Sie winkten dem Wagen nach, der mit Ross und Carmichael zur südlichen Autobahneinfahrt davon donnerte. »Nette Leute«, sagte Carmichael und blickte in den Rückspiegel. Ross nickte, während Gedanken unbestimmter Art in seinem Kopf kreisten. »Wann ich sie wohl wieder
sehen werde?« fragte er mit einem Blick auf Carmi chael. »Wenn Sie mich fragen, was man mit Ihnen vorhat, dann kann ich Ihnen nur ehrlich sagen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich Sie zum Flughafen brin gen soll.« Der Turbinenwagen brauste durch den dichten Verkehr in südlicher Richtung weiter. »Aber warum? Warum gerade ich?« fragte Ross nach einer Weile. »Wer weiß?« »Was verbergen Sie vor mir?« drängte Ross. »Was ist schiefgelaufen?« Carmichael drehte sich in seinem Sitz um. »Glau ben Sie mir, ich weiß es nicht. Man hat mir nicht viel über Sie gesagt und was man mit Ihnen vorhat. Ich soll Sie befördern, sonst nichts. Hier ist schon der Flughafen.« Der Wagen bog in die Ausfahrt ein. Stirnrunzelnd nahm Ross das Dokumentenbündel in die Hand und ging den Inhalt in der Hoffnung durch, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der ei nen Hinweis auf sein Ziel oder seine Situation ent hielt. Er fand außer unverständlichen juristischen Formulierungen einen vom Computer gedruckten Flugschein mit Reservierung, der auf eine obskure Fluggesellschaft namens Transit Lines ausgestellt
war. Er wollte schon weitersuchen, als sein Blick auf den Preis des Flugscheins fiel. Seine Augen weiteten sich. »Dreitausendsiebenhundertsechzig Dollar!« Er schnappte nach Luft. Carmichaels Ton wurde respektvoll. »Sie fallen of fenbar unter die Kategorie der Sehr Wichtigen Perso nen, Mr. Moran. Ich werde Sie ab jetzt mit Sir anre den.« »Nicht nötig. Sagen Sie mir lieber, wie weit man mit einem 3760-Dollar-Flugschein kommen kann.« »Jedenfalls weiter, als ich Sie jetzt bringe«, antwor tete Carmichael. Er verlangsamte die Fahrt und park te den Wagen schließlich vor einem kleinen Schalter, auf dem die Worte Transit Lines aufgemalt waren. Ein kleines Häufchen Gepäck stand daneben. Carmichael übergab Ross' Koffer einem Gepäckträ ger, ließ den Flugschein entwerten und drängte Ross in den wartenden Aufzug, bevor dieser die Gelegen heit wahrnehmen konnte, auf der Informationstafel das Flugziel abzulesen. Im Aufzug warf der FBIMann einen besorgten Blick auf seine Uhr. »Wir sind spät dran«, sagte er. »Hoffentlich haben sie die Rampe noch nicht zurückgezogen.« Die Tür des Aufzugs öffnete sich, und Ross sah Carmichael lächeln. »Geschafft«, sagte er zu Ross. »Das hier ist Ihr
Transportmittel. Bis hierher sollte ich Sie bringen. Viel Glück.« Er drückte Ross kurz die Hand und war sofort wieder im Aufzug verschwunden. Ein Flugan gestellter begleitete Ross zur Rampentür, von wo aus Ross einen Blick auf seine »Transportgelegenheit« er haschen konnte. Sie war weiß, gigantisch und mit flossenartigen Stummelflügeln versehen. Das Dröh nen riesenhafter Triebwerke erinnerte an schwere Ar tillerie. Er stieg durch eine Luke ins Schiffsinnere, wo er sich überrascht umblickte. Nach den äußeren Dimensionen des Schiffes hatte Ross erwartet, einen großen Innenraum mit vielen hundert Sitzen vorzufinden. Doch die Kabine war in ihren Ausmaßen eher dem Inneren einer ausgedrück ten Zahnpastatube vergleichbar. Einige Doppelsitze ließen einen schmalen Mittelgang frei, durch den sich Ross seitlich zwängen mußte. Er fand schließlich ei nen freien Sitz am Mittelgang und warf seinen Man tel über die Lehne. »Tut mir leid«, sagte eine Frauenstimme neben ihm, »aber das ist mein Platz.« Ross wandte sich um. Er erblickte ein ovales Mädchengesicht, das von blondem Haar umrahmt war. Ein Silbergürtel kontra stierte mit ihrem ultramarinblauen Anzug. Zwei dunkelgraue Augen sahen ihn ruhig an.
Ross ließ sich auf dem freien Nachbarsitz direkt neben einem dicken, dreifach verglasten Beobach tungsfenster nieder. Das Mädchen dankte ihm. Ross lehnte sich in die bequemen schaumgepolster ten Kissen zurück und dachte, daß sich die Sache gar nicht so schlecht anließ. Wohin es auch immer gehen mochte. »Ist dies Ihr erster Flug?« fragte das Mädchen. Ihre Stimme war sanfter geworden. »Nein«, erwiderte Ross, »ich bin schon ein paar Mal geflogen.« Die Auskunft schien sie etwas zu be ruhigen. »Für mich ist es das erste Mal.« Sie lächelte nervös. »Der Blick ist wahrscheinlich sehr schön.« Ross nickte vage. Der Blick worauf denn, fragte er sich. »Sie wissen schon«, sagte sie. »Die Hauptstation.« »Die Hauptstation?« Verwirrt runzelte Ross die Stirn. »Ich habe noch nie davon gehört.« Das Mädchen starrte ihn mit großen Augen an. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen.« Das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Das Rütteln schien in einem vergessenen Winkel von Ross' Gehirn eine Erinnerung zu lösen. Hauptstation. Ross schloß die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Die Stimme der Stewardeß riß ihn aus seinen Ge danken. »Wir heißen Sie willkommen beim Transit
Lines-Flug Nummer vier. In siebenundfünfzig Minu ten werden wir an der Hauptraumstation anlegen.« Natürlich, dachte Ross. Raumstation. Dreihundertfünfzig Kilometer über der spanischen Küste schalteten die Triebwerke des Schiffes sich planmäßig aus. Mit einer Geschwindigkeit von 36 000 km/h trieb Flug Nummer vier seinem Ziel entgegen. Ross fühlte, daß das Gewicht, das ihn anfangs in den Sitz gepreßt hatte, nach und nach gewichen war. Ein Gefühl ungeheurer Leere begann sich in seinem Magen auszubreiten. Er blickte zu seiner Freundin auf dem Nebensitz hinüber. Es schien ihr nichts auszumachen. Sie schaute neugierig durch die Fensterluke. »Da sind Orion und Gemini«, sagte sie begeistert. »Es ist wunderschön. Aber Sie sehen ja so bleich aus. Wenn Sie die Anschnallgurte lösen, ist die Schwerelo sigkeit nicht so schlimm.« »Danke«, sagte er. Es half wirklich. »Keine Ursache. Wenn Ihnen der Druckwechsel in der Kabine Kopfschmerzen verursacht, können Sie von mir ein paar Aspirin bekommen.« »Sie sind gut ausgerüstet.« »Ich nehme das als Kompliment entgegen. Aber es gehört in Wirklichkeit zu meinem Beruf. Ich soll bei der medizinischen Abteilung der Hauptstation mit arbeiten.«
»Als Krankenschwester?« erkundigte sich Ross. »Wo denken Sie hin«, sagte sie ein wenig beleidigt. »Meine Aufgabe ist es, den Einfluß der Schwerelosig keit auf Erkrankungen des Herzens zu erforschen.« »Könnte ich jetzt ein Aspirin haben? In meinem Kopf dröhnt es.« Sie legte ihm eine weiße Tablette auf die Handflä che. »Ich sage der Stewardeß, sie soll Ihnen einen Bal lon Wasser bringen.« Nach einer kurzen Weile war das Kopfweh ver schwunden. Inzwischen hatte sich das Schiff der Hauptstation genähert und traf die Vorbereitungen zum Anlegen. In immer enger werdenden Kreisen glich es seine Geschwindigkeit der radförmigen, krei senden Raumstation an. »Noch dreißig Sekunden bis zum Ankoppeln«, gab der Pilot durch. Ross begann, wieder etwas wie eine geringe Schwerkraft zu spüren. Er warf einen Blick durch das Fenster und sah endlose Flächen von Aluminium, die die ganze Fensterfläche einnahmen. Einer glitzernden Arche gleich drehte die Raumstation ihre majestäti schen Kreise. »Noch zehn Sekunden«, ertönte die Stimme des Pi loten. Eine flexible, röhrenförmige Gangway schob sich aus der Mitte der Raumstation und machte mit deut
lich hörbarem Klicken an der Ausstiegsluke des Schif fes fest. Die Luke schwang auf, und ein Schwall fri scher, fremdartig schmeckender Luft drang in die Kabine. Ross bemerkte einen leichten Geruch nach Ozon und Maschinenöl. »Kopplungsmanöver beendet«, gab der Pilot durch. »Die Passagiere werden gebeten, ihre Gurte abzuschnallen und sich zum Ausstieg in die Raum station fertigzumachen.« Ross betrachtete nachdenklich das Gestänge und Drahtwerk der Station. Ist das möglich, fragte er sich. Soll das mein Bestimmungsort sein? Unruhe war jetzt unter die Passagiere gekommen, die sich beeilten, ihr Gepäck zu nehmen und den Ausgang zu erreichen. Ross riß sich zusammen und griff nach seinen Koffern. Transit-Lines-Flug Nummer vier von Los Angeles Stadtflughafen zur in Kreisbahn um die Erde befind lichen Hauptstation der Internationalen Raumverwal tung war am Ziel.
3
»Sind Sie Mr. Ross Moran?« Ross nickte dem Uniformierten zu, der ungeduldig am Schiffsausgang wartete. »Der bin ich.« »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir. Ich habe schon Auftrag für die vorläufige Unterbringung Ihres Gepäcks gegeben. Hier lang, bitte.« Ross fühlte sich im Augenblick zu erschöpft, um Fragen zu stellen oder sich auf Diskussionen einzu lassen. Ergeben folgte er seinem Führer zum Aufzug, der sie in ununterbrochener Fahrt vom Mittelpunkt der Station zu den äußeren Bereichen brachte. Ross spürte, wie er sein Gewicht allmählich wiedererlang te. Als sie den Aufzug verließen, schien wieder nor male Schwerkraft zu herrschen. Die Hauptstation war völlig verschieden von dem, was sich Ross vorgestellt hatte. Trotz peinlicher Sau berkeit, die überall herrschte, und trotz der Betrieb samkeit der vielen Männer und Frauen, die durch die Gänge eilten, gewann man den Eindruck einer gelö sten und fast heiteren Atmosphäre. Alle Besatzungs mitglieder strahlten großes Selbstvertrauen aus. Es fiel Ross nicht schwer zu vergessen, daß er sich sech zehnhundert Kilometer über der Erde befand. Er konnte sich ohne weiteres vorstellen, er schlendere
durch die Straßen einer der aufblühenden neuen Städte in Kanada oder Südamerika. Sie gingen an einer ganzen Anzahl von Geschäften und Restaurants vorbei, ehe sie zu einem Messing schild mit der Aufschrift: D. K. Gurvitsch, Leitender Di rektor, IRV kamen. Der Begleiter verabschiedete sich. Ross betrat einen getäfelten Raum mit einem Schreib tisch, hinter dem sich ein Mann mittleren Alters er hob, auf Ross zuging und seine Hand zum Gruß aus streckte. »Mr. Moran? Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Dimitri Gurvitsch.« Er schüttelte Ross kräftig die Hand und lächelte breit. »Ich freue mich auch, Sie endlich kennenzulernen«, erwiderte Ross. »Vermutlich sind Sie der Mann, dem ich diesen Ausflug zu verdanken habe.« Das Lächeln verschwand aus Gurvitschs Gesicht. Er führte Ross zu einem Stuhl neben dem Schreib tisch und nötigte ihn, Platz zu nehmen. »In gewisser Weise, ja«, sagte Gurvitsch gedehnt. Sein russischer Akzent verlieh seinen Worten Ge wicht und Bedeutung. »Ich möchte mich entschuldi gen für die abrupte Art und Weise, in der man Sie hierhergebracht hat, und Sie haben allen Grund, un gehalten zu sein. Die letzten paar Stunden müssen für Sie – äh – ungemütlich gewesen sein.« »Das kann man wohl sagen.«
»Bitte glauben Sie mir, daß ich Operationen dieser Art überhaupt nicht schätze – wenn ich auch glaube, daß die Methode in diesem Fall prinzipiell gerechtfer tigt war.« Ross machte kein Hehl aus seinen Zweifeln. »Bitte erlauben Sie mir, Ihnen meine Situation zu erklären«, fuhr Gurvitsch fort. »Vor zwanzig Stunden wurde ich plötzlich vor die Aufgabe gestellt, für ei nen Meteorologen auf einem unserer Wettersatelliten Ersatz zu beschaffen. Die Zeit reichte einfach nicht, um den üblichen umständlichen Behördenweg zu be schreiten. Deshalb rief ich einen alten Freund an und erklärte ihm, daß ich einen jungen und intelligenten Mann brauche, der die nötige Ausbildung und Wen digkeit besitzt.« Gurvitsch musterte Ross mit kühlen und festen Blicken. »Der Freund hat Sie empfohlen. Ich bin geneigt, seiner Empfehlung zu folgen.« Ross nickte. Dann erkundigte er sich argwöhnisch nach seinem Wohltäter. »Es war einer der Ausbilder an Ihrer Universität. Er zieht es vor, ungenannt zu bleiben.« »Dann geht es mir wie David Copperfield«, mur melte Ross kopfschüttelnd. »Aber wozu denn diese ganze Geheimnistuerei mit dem FBI und so weiter?« »Damit habe ich nichts zu tun«, antwortete Gur
vitsch abwehrend. »Meine Vorgesetzten in der IRV wollten es so.« »Aber ich kann keinen Grund dafür erkennen.« »Ich gebe Ihnen zwar recht, jedoch –« Ein müder Ausdruck trat in sein Gesicht. Wieder ruhte sein Blick forschend auf Ross. »Ich will Ihnen das Problem so darstellen, wie man es mir erklärt hat. Jeden Tag wächst die Erdbevölkerung, und jeden Tag werden die Lebensmittel knapper. Bis jetzt konnten Hunger katastrophen dadurch weitgehend abgewandt wer den, daß ein Netz von Beobachtern auf der Erde und im Raum das Wetter und seine Auswirkung auf die landwirtschaftliche Produktion sorgfältig beobachtet hat. Ohne dieses Datenmaterial ist eine langfristige Planung unmöglich. Hungersnöte wären die unver meidliche Folge. Jede Einzelheit hängt mit einer an deren zusammen. Das Ganze ist empfindlich wie ein Kartenhaus. Entfernt man auch nur einen winzigen Teil, so bricht das ganze Gebäude zusammen. Im Augenblick existiert solch ein schwacher Punkt, und zwar auf dem Beobachtungssatelliten. Ich muß die Lücke sofort schließen.« »Sie haben sich den falschen Mann ausgesucht«, protestierte Ross. »Ich bin kein Fachmann, sondern habe gerade erst die Universität hinter mich gebracht. Hat Ihnen ihr Freund denn nicht gesagt, daß ich über keinerlei Erfahrung verfüge?«
Gurvitsch wischte den Einwand weg. »Erfahrung ist nicht der entscheidende Faktor. Sie können sich fehlende Kenntnisse im Kurzverfahren aneignen. Ich weiß aus Ihrer Akte, daß Sie mit den technischen Ge räten vertraut sind. Aber Sie besitzen eine noch weit wichtigere Qualität, nämlich Anpassungsfähigkeit. Sie sind mit den Ereignissen, die Sie unfreiwillig hierhergebracht haben, gut fertig geworden.« »Unfreiwillig – das stimmt.« »Dann halten Sie unser Vorgehen wahrscheinlich für einen Gewaltakt. In Wirklichkeit war es ein Test.« »Ein Test?« »Genau.« Gurvitsch erhob sich. »Sie haben ihn be standen. Meiner Meinung nach würden Sie ein gutes Besatzungsmitglied abgeben; aber die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen. Überlegen Sie es sich gut. Vielleicht möchten Sie gern mehr von dem Leben auf der Hauptstation sehen und sich auf diese Weise mit den Lebensbedingungen auf einem Erdsatelliten ver traut machen.« Ross war hundemüde; doch seine Neugier gewann schließlich die Oberhand. »Schön«, sagte Gurvitsch, »ich habe auch gleich den richtigen Führer für Sie.« Sein Anruf zitierte ei nen hochgewachsenen jungen Mann mit struppigem blondem Haar herbei, hinter dessen randloser Brille blaue Augen durchdringend hervorblickten. Der Di
rektor stellte ihn als Timothy Diehle, Doktor der Me dizinwissenschaft, vor. »Doktor«, wies ihn Gurvitsch an, »bitte begleiten Sie Mr. Moran, wohin immer er zu gehen wünscht, und beantworten Sie seine Fragen über Boreas.« »Boreas – was ist das?« fragte Ross. »Nichts anderes als die Wetterstation. Sie ist nach dem griechischen Gott des Nordwindes benannt, da ihr Hauptbeobachtungsgebiet in der Arktis liegt.« Tim begleitete Ross aus dem Zimmer des Direktors. »Boreas ist viel kleiner als die Hauptstation, aber da die Besatzung aus nur zwölf Mitgliedern besteht, ist genügend Platz für alle da.« »Sie arbeiten also auf Boreas?« »Sie können ruhig Tim zu mir sagen.« »Ich heiße Ross. Du arbeitest also auf der Wetter station?« »Ja. Ich habe gerade Landurlaub.« Er gab Ross eine detaillierte Beschreibung der Mannschaft auf Boreas, des Satelliten, der die Erde in einer Entfernung zwischen viertausend und fünf undvierzigtausend Kilometer umkreiste. »Es ist dort manchmal ein wenig einsam«, erzählte Tim. »Boreas hat seine Nachteile, aber es ist ein hübsches Plätz chen, um sich von der Erde zurückzuziehen.« »Sprichst du jetzt im Ernst?« »Warum nicht?« erwiderte Tim nachdenklich.
»Von hier oben ist der Ausblick prächtig – Städte, Ozeane und Wolken. Doch wenn man hinunter kommt, sieht man die Realität. Die Wolken bestehen aus stinkendem Rauch, die Ozeane sind voll Öl und Abwasser, und die Städte gleichen Dschungeln. Als ich vor zwei Jahren auf Boreas anfing, wußte ich noch nicht, welche Fortschritte die Menschheit in der Zerstörung des Planeten gemacht hat. Jetzt ist es mir gleichgültig, ob ich jemals wieder zur Erde zu rückkehre. Ich habe den Weltraum lieben gelernt. Es ist der einzige Ort, den sie noch nicht verseucht ha ben.« Sätze dieser Art sollte Ross später noch oft von vie len anderen Besatzungsmitgliedern zu hören be kommen. »Wenn eines Tages irgendeine Katastrophe die ganze Menschheit ausrottet, dann bleiben nur noch die Leute in den Satelliten übrig«, fuhr Tim fort. »Manchmal ängstigt mich dieser Gedanke.« Sie betraten nun einen großen, überfüllten Ver sammlungsraum. Zigarettenrauch lag in der Luft. Hinter einem Rednerpult stand ein Mann und ver suchte, sich Gehör zu verschaffen. Ein großes Trans parent trug die Aufschrift: Willkommen beim Kon greß der Radioastronomen! »Meine Damen und Herren!« rief die Gestalt hinter dem Pult, »bitte nehmen Sie Platz!«
»Das ist Dr. Alfred Nystrom«, erklärte Tim. »Er ist der Astronom von Boreas.« Er winkte zum Pult hin, und trotz des Trubels und des Gedränges wurde sein Wink wahrgenommen und erwidert. »Dr. Nystrom ist ein alter Hase, während die meisten der Delegier ten zum erstenmal an Bord einer Raumstation sind. Sie sind ganz schön aufgeregt.« Schließlich hatten die Delegierten ihre Plätze ge funden, und Ross hatte Gelegenheit, den Mann hinter dem Pult genauer ins Auge zu fassen. Er schien die Fünfzig überschritten zu haben und war nahezu kahl, aber er hatte eine kräftige Gestalt, eine feste Stimme und legte den Delegierten gegenüber eine rührende Geduld an den Tag. Tim beugte sich zu Ross hinüber. »Ich muß noch etwas – äh – erledigen. Bin in einer Minute wieder zurück.« Ross lehnte sich in seinen gepolsterten Stuhl zu rück und döste mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. Die Minute, von der Tim gesprochen hatte, hatte sich fast zu einer halben Stunde ausgedehnt, als der Beifall aufrauschte. Die Rede, von der Ross nur Bruchstücke mitbekam, war beendet. Tim war nir gends zu sehen. Ende der Führung, dachte Ross und erhob sich. Dr. Nystrom kam auf Ross zu. In seiner Begleitung befand sich ein Mann mit leicht orientalischen Ge
sichtszügen. Der Astronom stellte sich selbst und sei nen Begleiter in der liebenswürdigsten Weise vor. »Mein alter Freund, Dr. Ahn Il Kim. Er hat früher auf der Universität von Korea gelehrt, aber die U.S. Luftwaffe hat ihn nach Denver verschleppt. Er forscht jetzt ganz geheim.« Nachdem alle einen Händedruck miteinander ge tauscht hatten, fragte Dr. Nystrom Ross, ob er schon gegessen habe. »Ich konnte nicht einmal mein Abendessen been den«, erwiderte Ross. »Dann kommen Sie doch mit uns! Reden regt mei nen Appetit immer sehr an, und Sie sollten hier nicht weggehen, ohne die Küche der Hauptstation auspro biert zu haben. Tim wird uns schon finden.« Das Restaurant war im Stil eines Pariser Cafés ein gerichtet. Dr. Nystrom winkte einigen Astronomen zu, die seine Gegenwart mit freundlichen Zurufen quittierten. »Denen wird die gute Laune auch noch vergehen, wenn sie erst mal vom Essen gekostet haben«, lächel te Dr. Nystrom. »Sie müssen wissen, daß die Mahlzei ten aus synthetisch hergestellten Nahrungsmitteln zubereitet werden.« »Warum kann ich kein normales Essen haben?«, fragte Ross. »Es wäre zu teuer, Lebensmittel von der Erde hier
heraufzutransportieren. Keine Sorge, man wird nicht krank davon. Aber man muß aufpassen, was man be stellt. Am besten ist unseren Chemikern die Herstel lung einfacher Mahlzeiten wie zum Beispiel Käse omelett gelungen. Steak und Fisch sind chemisch zu kompliziert aufgebaut.« Ross folgte der Empfehlung Dr. Nystroms. Mit un endlicher Vorsicht kostete er ein kleines Stückchen und war angenehm überrascht. Vom Nebentisch, wo Steak und Salm serviert worden war, kamen ärgerli che Laute. Ross hatte seinen Teller im Nu leergeges sen. »Bestellen Sie ruhig noch einen«, schlug eine freundliche Stimme vor. »Hier ißt man Käseomelett oft und gern.« Die Stimme gehörte zu Direktor Gur vitsch, der neben Ross getreten war. »Feingefühl ist nicht gerade die Stärke von Mr. Gurvitsch«, sagte Dr. Nystrom. Dann drehte er sich zu dem Russen um. »Dimitiri! Mr. Moran hat sich noch nicht entschieden, ob er den Posten annehmen will oder nicht. Er ist mein Gast.« »Ach, Sie kennen meine Situation?« fragte Ross den Astronomen. »Jedermann auf Boreas weiß, daß wir nach einem neuen Meteorologen suchen. Als ich Sie mit Tim zu sammen sah, vermutete ich gleich, daß Sie es sind – oder vielmehr werden sollen und noch überlegen.«
Ross fühlte Dr. Nystroms Blick abschätzend auf sich gerichtet, und er fragte sich, wie sein Urteil wohl ausfallen mochte. Hoffentlich gut, dachte er, denn er begann diesen Mann sympathisch zu finden. »Ich weiß noch nicht, ob ich das Angebot anneh men soll oder nicht«, sagte Ross düster. »Ich habe zwar keine große Lust, wieder nach Hause zurück zukehren, aber die ganze Angelegenheit war von An fang an so seltsam.« Er dachte an seinen unfreiwilli gen Flug hierher. Dr. Nystrom entzündete seine Bruyèrepfeife. »An scheinend haben in Ihrem Fall höchste Stellen die Hand im Spiel gehabt. Aber das ist keine Seltenheit. Am Weltraum sind noch mehr Institutionen interes siert als der Wetterdienst. Da ist zuerst einmal die IRV, die Internationale Raumverwaltung, die von den Sowjets und den Amerikanern unter UN-Aufsicht gemeinsam geführt wird. Dann folgen die Gruppen mit speziellen Interessen: die Raumfahrtfirmen, die Kommunikationsindustrie und so weiter.« »Und meine Arbeitgeber«, sagte Dr. Ahn ruhig. »Ja, das Militär. Nach dem Vertrag von Wien ist der Raum für das Militär gesperrt – aber dort an der Bar können Sie einen Zwei-Sterne-General sehen. Der Wiener Vertrag verbietet nur die Anwesenheit von niedrigen Dienstgraden und läßt die höheren Offizie re unbehelligt.« Er zog an seiner Pfeife. »Es ist schwer
zu sagen, welche der Interessengruppen in Ihrem Fall die Hand im Spiel gehabt hat – aber irgendeine war es sicher!« Ross hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Entschei dung, die er zu treffen hatte, belastete ihn und blok kierte alle anderen Gedanken. Plötzlich wußte er, was er zu tun hatte. Er wollte nicht mehr auf die Erde zurück. »Ich nehme den Posten an«, sagte er mit fester Stimme. Jetzt war ihm wohler. Die begeisterte Reaktion von Dr. Nystrom fegte seine letzten Zweifel an der Rich tigkeit der Entscheidung fort. »Wundervoll! Ich war davon überzeugt, Sie wür den Boreas nicht für irgendeine langweilige erdge bundene Arbeit opfern. Ich wünschte nur, daß noch mehr meiner geschätzten Kollegen Ihre Entschluß freudigkeit besäßen – dann sähe manches anders aus!« Gurvitsch fiel offensichtlich ein Stein vom Herzen. Er gratulierte Ross zu seinem Entschluß, versprach die bürokratischen Angelegenheiten regeln zu lassen, und verabschiedete sich. Tim tauchte auf. Das Mädchen in seiner Begleitung war keine andere als Ross' Reisegefährtin. Ihr Name war Christine Reney. Sie hatte ihren ultramarinblau en Anzug mit der weißen Ärztetracht vertauscht, und
für einen Augenblick beneidete Ross seinen Kollegen um die Gesellschaft der gutaussehenden Forscherin, die munter mit Tim plauderte. Das Tischtelefon läutete, und Dr. Nystrom griff nach dem Hörer. Sein Gesicht verdüsterte sich, und ärgerlich knallte er den Hörer auf die Gabel. »Das war die Flugabteilung«, grollte er. »Für uns drei steht ein Schiff bereit, das uns nach Boreas brin gen soll. Sofort.« Er deutete auf Ross und Tim. »Das ist doch unmöglich«, sagte Tim. »Ich habe Ausgangserlaubnis für vier Tage. Heute ist erst der zweite Tag!« »Das geht mir genauso«, sagte Dr. Nystrom grim mig, »aber Befehl ist Befehl. Es ist besser, wir gehen.« »Wessen Befehl ist das?« fragte Tim. »Evas Befehl?« »Genau.« Die kleine Runde brach auf. Dr. Ahn verabschiede te sich mit einer knappen Verbeugung. Christine be gleitete die drei bis zum Aufzug. Tim drückte fest ih re Hand, bis sich die Tür des Aufzugs schloß. Man sah ihm an, daß ihm die Trennung schwerfiel. Der Aufzug brachte sie in einen verglasten Warte bereich in der schwerelosen Mitte der Station. Direkt vor ihnen schwebte ein seltsames Gefährt. Es handel te sich, wie Ross erfuhr, um ein altes Raumschiff, das nicht mehr in die Atmosphäre zurückkehren durfte. Man hatte es seiner Flügel beraubt, mit Zusatzraketen
versehen und zur Raumfähre erklärt. Es war das Schiff, das die drei innerhalb von vier Stunden nach Boreas bringen sollte. Tim und Ross betraten das Schiff durch den mittle ren Eingang. »Wo ist Dr. Nystrom?« fragte Ross. »In der Pilotenkabine«, antwortete Tim. »Er steuer te das Schiff.« Ross' runzelte die Stirn. »Funktionieren diese Schif fe nicht automatisch?« Tim lächelte zum erstenmal, seit er sich von Chri stine am Aufzug verabschiedet hatte. »Gewiß, aber die Automatik kann abgestellt wer den. Dann ist das Schiff von Hand zu steuern. Das ist Dr. Nystroms größte Spezialität. Genau wie ein alt gedienter Pilot von damals liebt er nichts mehr, als den Steuerknüppel selbst zu bedienen. Da kommt das Zehn-Sekunden-Warnlicht. Schnall dich fest.«
4
Als Dr. Nystrom die Schiffstriebwerke abgeschaltet hatte, stellte Ross die Lehne seines Sitzes weit zurück und fiel sofort in einen tiefen traumlosen Schlaf. Ge nau drei Stunden später wachte er auf. Es bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Als er seine Augen öffnete, fiel ihm als erstes ein leises und regelmäßiges Tip-tip-tip in der Kabine auf, ein Geräusch, das ihn an das Klopfen von Regen auf ein Blechdach erinnerte. Regen? dachte er. Hier? Un möglich. Es war kein Regen. Es war vielmehr Tim, der an ei nem ausziehbaren Tischchen auf einer Reiseschreib maschine klapperte. Ross bemerkte, daß Tim sich am Sitz festgeschnallt hatte, denn in dem Schiff herrschte Schwerelosigkeit. Ross konnte von Tim nicht viel mehr sehen als sei ne Stiefel, die aus einer weißen Wolke herausragten. Er war von dieser Wolke völlig eingehüllt. Für einen Augenblick hatte Ross den Eindruck, daß Tim von einem Schwarm riesiger weißer Schmetterlinge um geben sei, die sich jeden Moment auf ihm niederlas sen würden, während er selbstvergessen auf seiner Maschine vor sich hinschrieb. Nach einer Weile erkannte Ross, daß die Schmetter
linge nichts anderes als zahllose beschriebene Papier blätter waren, die in der Schwerelosigkeit des Schiffes an dem Platz schwebten, den ihnen Tim gegeben hatte. Ross warf einen Blick auf ein Blatt, das in seiner Nähe schwebte; er vermutete, es werde sich um einen Brief oder um einen Aufsatz für irgendeine medizinische Zeitschrift handeln. Statt dessen sah er die Absätze und Anführungszeichen, die für einen Dialog typisch wa ren. Ross vertiefte sich in eines der Blätter. Es handelte von zwei Personen – einem Detektiv und einer alten Frau – die über einen Mord diskutierten. »Schreibst du an einem Kriminalroman?« fragte Ross. Das Tip-tip-tip verstummte. »Ach, du bist aufgewacht«, drang Tims Stimme aus der Wolke; es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Plötzlich geriet Bewegung in die Wolke. Sie wurde immer dünner, da Tim die Blätter eines nach dem anderen einzusammeln begann. »Neunzig, einundneunzig. Ah, zweiundneunzig«, sagte Tim und schnürte sein Werk zu einem Bündel zusammen. »Nun sag schon!« drängte Ross. Tim nickte. »Nun, es ist kein großes Geheimnis. Schreiben ist meine Nebenbeschäftigung. Sie füllt die freie Zeit auf Boreas aus, und wenn ich eine dieser Romane einmal verkaufen kann ... egal, es hält einen
jedenfalls davon ab, endlose Stunden aus dem Fen ster zu starren. Was sieht man denn schon?« Die Erde – ein riesiger weißer Halbmond – und die Sterne. Noch ein anderes Objekt war für Ross deut lich zu sehen: ein glänzender Lichtpunkt in einer po laren Kreisbahn. Tim dachte nach. »Nichts anderes kann so hell sein. Es muß sich um die bemannte Raumstation handeln, die unter dem Namen Basketball bekannt ist. Wenn wir ein starkes Fernrohr an Bord hätten, könntest du einen riesigen Aluminiumballon erkennen, der wie ein geflickter Basketball aussieht. Das Militär benützt ihn meines Wissens zur Reflexion von Laserstrahlen oder so.« Sie beobachteten den Satelliten, wie er langsam südwärts über die gefrorenen Steppen Rußlands hinwegzog. »Dr. Nystrom hat mir erzählt, daß der Weltraum für militärische Zwecke gesperrt ist«, sagte Ross, der sich an das Tischgespräch mit dem Astronomen erinnerte. »Nur für militärische Waffen«, entgegnete Tim. Er begann, seine Schreibmaschine einzupacken. »Das ist ein feiner Unterschied.« Tim öffnete den Mund zu einer Antwort, aber das Warnsignal unterbrach ihn, und beide beeilten sich, die Sitzgurte festzuschnallen. Dann donnerten die Düsen los.
Der Ausblick änderte sich jetzt. Die Erde ver schwand langsam, und Ross konnte den ersten Blick auf Boreas werfen. Die Station ähnelte einer Stahl trommel, die sich geräuschlos um eine Achse dreht. Das ist mein Zuhause, dachte Ross. In seine Hoch stimmung mischte sich ein wenig Angst. Das Schiff lief auf ein Landungsdock auf. Man hör te ein Geräusch wie von einer zuschlagenden Auto tür. Dann betrat Dr. Nystrom zum erstenmal wäh rend des ganzen Fluges die Hauptkabine. »Jetzt vorsichtig«, sagte er, als sich die Luke öffne te. Ein leises Pfeifen verriet den Ausgleich des Luft drucks. Ross stieg über eine Schwelle in den Versor gungsraum der Station, wo Pumpen und Rohrleitun gen die Station mit den vier lebenswichtigen Sub stanzen und Energien versorgten: nämlich mit Elek trizität, Wasser, Sauerstoff und ComputerFunktionen. Überall war in großen Lettern das Wort WARNUNG angeschrieben. Ross wartete nervös, bis Dr. Nystrom und Tim mit seiner Schreibmaschine un term Arm auftauchten. Über eine kurze Leiter er reichten sie den Schwerkraftbereich von Boreas. Ross landete sanft auf den Beinen. Die durch den Rotationseffekt simulierte Schwerkraft war zwar ge ringfügig, dachte Ross, aber einer völligen Schwere losigkeit bei weitem vorzuziehen. Sie standen in einem engen weißen Vorraum, der
zu einem breiteren Korridor führte. Ross hörte die willkommenen Laute menschlicher Stimmen. Kurz darauf wurde er den Eigentümern dieser Stimmen vorgestellt. Es waren zu viele Namen, um sie sich beim erstenmal alle merken zu können. Ross entsann sich nur eines Ehepaars namens Joel und Myra Col bert, deren Aufgabe die Auswertung von Satellitenfo tos war. Eine ganze Schar von IRV-Funktionären, die eine Besichtigung der Station hinter sich hatten, war tete darauf, daß die Raumfähre wieder aufgetankt würde, um sie zur Hauptstation zurückzubringen. Ross lehnte Myras Einladung zu einer Tasse Kaffee ab. Der kurze Schlummer in der Fähre war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Ross merkte, daß er tatsächlich am Rand der Erschöp fung stand. Er hatte nur noch den Wunsch, sein Zimmer zu finden, zu duschen und eine Ewigkeit zu schlafen. »Hältst du Boreas für ein Hotel?« fragte Tim und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Zuerst mal mußt du dich eintragen lassen.« »Ich glaube, das werde ich nicht tun.« »Du mußt dich bei der Stationskommandantin Eva Keough melden«, sagte Tim. »Und dann mußt du den Papierkram hinter dich bringen.« Ross warf Tim einen Blick zu, der diesen zurück fahren ließ. »Nimm den Rat eines altgedienten Man
nes an, Ross. Wenn du dich weigerst, gibt es Schwie rigkeiten. Man kann das Ganze auch als Zeremoniell betrachten.« Ross hatte eine andere Bezeichnung dafür, aber da er trotz seiner Müdigkeit noch immer auf Boreas neugierig war, willigte er ein. Der Verwaltungssektor von Boreas lag auf der ent gegengesetzten Seite der Station. Er bestand aus ei nem einzigen großen Büroraum, der zwischen Lagerräumen, Schränken, Kisten und einem Gewirr von endlosen, ineinander verschlungenen Rohren und Leitungen eingeklemmt war. In dem Büro saß ein Mann hinter einem Datenschreiber und fütterte den Computer. Er übersah die Anwesenheit der beiden geflissent lich. »Ich möchte zu Mrs. Keough«, sagte Ross schließ lich gähnend. Ohne von seinem Apparat aufzusehen, erwiderte der Mann mit barscher Stimme, daß die Komman dantin jetzt keine Besucher empfange. »Kommen Sie später wieder«, fügte er frostig hin zu. Ross zuckte die Achseln und wollte dieser Auffor derung nachkommen. Doch Tim hielt ihn zurück und trat so dicht ans Pult heran, daß sein breiter Schatten darüber fiel.
Der Mann hinter dem Pult wurde ärgerlich. »Ich habe später gesagt!« Tim rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Schließlich blickte der Mann wütend auf. Ross schätzte ihn auf Ende dreißig. Der gutgeschnittene teure Anzug konnte nicht seine Hinfälligkeit verber gen. Die stechenden Augen lagen tief in ihren Höh len. Er heftete den Blick auf Ross und musterte ihn herablassend. »Wer ist das?« »Ross Moran, unser neuer Meteorologe«, antworte te Tim. »Glauben Sie nicht, daß ihn jemand in seine Arbeit einweisen sollte?« »Nicht jetzt, Diehle. Die Kommandantin ist be schäftigt.« »Und was ist mit Ihnen?« »Ich habe auch zu tun.« Er wandte sich wieder dem Computer zu. »Hören Sie mal«, sagte Tim, »irgend jemand sollte sich um ihn kümmern. Die IRV hat ihn nicht zum Spaß hierher bringen lassen.« Der Mann drückte Tim ein Bündel Formulare in die Hand. »Er soll dies hier unterschreiben. Ich rufe jetzt Hanks.« Mit diesen Worten drückte er eine Taste des Intercom und nahm seine Tätigkeit am Computer wieder auf, ohne die beiden noch eines Blickes zu würdigen. Tim kochte vor Wut.
Als sie wieder im Korridor waren, legte er los. »Dieser aufgeblasene kleine –« »Wer war denn das?« unterbrach ihn Ross in der Absicht, ihn von unbedachten Äußerungen abzuhal ten. »Der Assistent der Kommandantin. Er heißt Julian Martino, aber auf Boreas hat er auch noch einige an dere Namen.« Was Ross nicht geschafft hatte, brachte ein Mann in gelbkarierten Hosen und dickem Wollpullover ohne Mühe fertig. Tims Laune besserte sich bei seinem Anblick sofort. Der Mann war Jonathan Hanks. »Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte er herzlich zu Ross. »Ich bin der Mann, den Sie ersetzen sollen. Ich hoffe, Sie halten es länger aus.« »Sie haben gekündigt?« fragte Ross mit erwachen der Neugier. »Nicht ganz. Man hat mich gestern rausgeworfen.« Er schaute auf seine Uhr. »Wir müssen uns etwas be eilen. Ich zeige Ihnen jetzt, was Sie zu tun haben, und lasse Sie dann in Frieden.« Tim verspürte Hunger und entschuldigte sich. Hanks ging mit Ross weiter, bis sie vor einer Wand standen, in der sich ein rundes Loch befand. Ross blickte in eine lange Röhre, an deren entgegengesetz tem Ende eine Luke zu sehen war.
»Hier unten«, erklärte Hanks, »liegt der NullBereich der Station, der Ort, an dem Sie, mein Freund, Ihr Gehalt verdienen werden. Schauen Sie mir jetzt gut zu – es ist nicht ganz einfach beim erstenmal.« Hanks bückte sich und faßte nach einem Handgriff. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung schwang er sich in die Verbindungsröhre und schwebte mühe los zu der Luke. Ross war nicht ganz so beweglich, aber er schaffte es, ohne öfter als einmal gegen einen der herausragenden Handgriffe zu stoßen. Inzwischen hatte Hanks schon die Luke geöffnet, und beide schwebten in einen winzigen Raum, der das meteoro logische Labor mit dem Sektor für Radioastronomie verband. In der Spantenwand, direkt gegenüber der Luke, bemerkte Ross eine schwer verriegelte und verbarrika dierte Tür. »Da stecken Sie Ihre Nase besser nicht hin ein«, sagte Hanks. »Das ist der Zugang zum Reaktor.« Hanks führte Ross weiter in das meteorologische Labor. »Die Wetterstation!« verkündete Hanks. Ross blickte sich beeindruckt um. Der nahezu kugelförmige Raum war mit hochemp findlichen elektronischen Instrumenten vollgestopft. Da sich das Labor im schwerelosen Sektor der Station befand, hatte man jeden Quadratzentimeter der sphä risch gekrümmten Wände ausgenützt, um die ausge klügelte Apparatur unterzubringen.
»Das ist noch gar nichts«, sagte Hanks und deutete auf eine weitere Luke. Ross steckte seinen Kopf hin durch. Dann stieß er sich ab und befand sich eine Se kunde später inmitten einer riesigen Blase aus Plexi glas, die aus dem Metallrumpf der Station ragte. In diesem Turm waren fast ein Dutzend weitreichender Teleskope, Filmkameras, Kameras und eine vortreff liche Infrarot-Antenne eingebaut. Das dazugehörige Kontrollsystem reagierte un glaublich exakt, und Ross testete einige Minuten lang die Hydraulik. Als er den Turm wieder verlassen hat te, spürte er auf einmal das Gewicht der Verantwor tung, das bleischwer auf ihm zu lasten begann. »Pah! Diese Apparate werden Sie nicht im Stich lassen«, beruhigte ihn Hanks. »Ich hatte keinen einzi gen Ausfall. Die Geräte sind erstklassig.« Dann war es also nicht Unfähigkeit, die zu Hanks' Entlassung geführt hatte, dachte Ross verwirrt. War um muß dieser Mann dann gehen? Und warum muß ich seine Stelle einnehmen? Hanks strich mit der Hand über die tadellos funk tionierenden Reihen der Skalen, Meßuhren und Kon trolleuchten. »Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Der Computer regelt alle Einzelheiten. Sie brauchen sich während Ihrer Arbeit um die Apparate gar nicht zu kümmern, Ross.«
»Aber wo ist der Haken, Hanks?« fragte Ross. »Es gibt doch einen Haken?« Hanks nickte. »Ist es Julian Martino oder Eva Keough?« »Vor allem die Frau. Sie hat mich gefeuert.« Ross vermißte zu seiner Überraschung jede Spur von Bitterkeit in Hanks' Tonfall. Das änderte sich auch nicht, als Hanks nach einem tiefen Atemzug fortfuhr: »Sie würde es glatt wieder tun.« »Ich besitze nicht Ihre praktische Erfahrung«, sagte Ross. »Aber ich habe studiert, und ich habe auch ei nen Vertrag.« »Glauben Sie etwa, ich nicht?« Ross' Verblüffung steigerte sich. »Aber dann be stand doch kein Grund –« »Stimmt«, sagte Hanks matt. »Tatsache ist jedoch, daß ich mich jetzt nach einer neuen Arbeit umsehen muß. Deshalb erzähle ich Ihnen das Ganze. Es könnte Ihnen genauso gehen wie mir. Die Kuppel ist kein El fenbeinturm.« Die Tür zur Wetterstation öffnete sich, und eine wohlbekannte Gestalt in einem perfekt sitzenden An zug erschien in der Türöffnung. »Haben Sie Ihre Sachen gepackt, Hanks?« fragte Ju lian Martino. »Das Fährschiff wartet.« »Nur keine Sorge, ich bleibe schon nicht hier.« Hanks lächelte Ross ermutigend zu und begab sich
zur Beförderungsröhre, wodurch er ein Zusammen treffen mit Martino an der Tür geschickt vermied. Martino beobachtete seinen Abgang. Sein Ge sichtsausdruck blieb kalt und gefühllos, bis er die Luke ins Schloß fallen hörte. In diesem Moment sah Ross ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln um Mar tinos Mundwinkel spielen. Dann drehte sich der Mann um und ließ Ross allein im Labor.
5
Während er versuchte, das Flugzeug unter seine Kon trolle zu bringen, türmten sich rings um ihn graue Wol kenmassen auf und schlossen ihn ganz ein ... Der Taifun wirbelte die quellenden Haufenwolken durcheinan der, bis sie einen kompakten, undurchdringlich dunk len Vorhang bildeten ... Wie eine Felsenklippe, die vom Himmel herabhängt, dachte er einen Augenblick und zog das Flugzeug in einer steilen Kurve hoch. Der alte Jet sträubte sich, er zitterte und ächzte ... Er hörte ihn aufbrüllen wie ein wildes Tier, als er sich aufwärts schraubte und dadurch Menschen und Ge räte, Magnetbänder und Bücher in das Heck der Ma schine beförderte ... Dann jagten warme Luftmassen, die der Orkan vom Boden angesaugt hatte, an der schwarzen Wolkenwand hoch und rüttelten mit der Kraft eines Riesen am Backbordruder. Eine Kontrolleuchte glühte rot auf ... Eines der Triebwerke versagte ... Die Turbinenlager liefen heiß ... Ohne zu zögern drehte er an Schaltern, reduzierte die Drehzahl des versagenden Triebwerks und verla gerte die Belastung auf die beiden restlichen Turbinen. Das war ein Fehler. Er hörte, wie ein Stöhnen durch den Rumpf ging ...
das Knirschen von Metall ... erst leise, dann ein rei ßendes Geräusch wie von altem Leinen ... Jemand schrie gellend auf, und die Maschine stürzte in die Wolkenmassen, dem einzigen Ort der Ruhe im Um kreis von zweihundert Kilometern. Das Auge des Zyklons ... eine Stätte der Zuflucht, dachte er. Die Wolken wurden dünner ... Das Dunkel lichtete sich ... Die Wolken nahmen erst die Färbung von Zinn, dann von Silber an ... Geschafft, dachte er. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen schlug über ihm zusammen und steigerte sich zu einem entsetzlichen Kreischen ... der Rumpf begann zu splittern ... Graues Licht drang ins Cockpit ... Er drehte sich um und er starrte. Das gesamte Heck fehlte. Niemand fütterte die Computer, niemand saß am Funkgerät, niemand beobachtete den Radarschirm ... Alles war verschwunden ... Metallfetzen rissen sich los und wirbelten in die helle Luft ... Die Wolken la gen zwar hinter ihm, doch im Auge des Zyklons hatte der explosive Unterdruck die Maschine zerrissen. Er nahm noch einen Streifen blauen Himmels wahr ... Sonnenstrahlen überfluteten ihn ... Er stürzte in den offenen Luftschacht, und dann schmetterte sein Kopf gegen etwas entsetzlich Hartes und Scharfes.
Ross wachte auf. Es roch nach Angst. Panik erfaßte ihn, während er die Halbwelt zwi schen Schlaf und Wachen, Traum und Bewußtsein durchquerte, und er schlug wild um sich, bis er sein neues Heim erkannte. Schweiß bedeckte seinen Kör per. Von einem nahen Bord leuchtete bläulich das Zif ferblatt einer Uhr. 6.54 Uhr. Er legte sich zurück. Der Morgen auf Boreas hatte begonnen; es war fast Zeit, an die Arbeit zu gehen. Seine Gedanken kehrten zu dem Traum zurück, der ihn so lebensnah gepackt hatte. Er fragte sich, ob das Ende wirklich so gekommen war – schnell, brutal und unausweichlich. Die Uhr schlug sieben, schwieg und schlug noch mals. Er richtete sich auf, um sie abzustellen und schoß fast bis zur Decke empor. Langsam und sanft schwebte er wieder hinab. Ich muß auf diese verminderte Schwerkraft aufpas sen, dachte er. Obwohl er den Wecker absichtlich besonders früh gestellt hatte, und sich rasch anzog, hörte er schon die Stimmen der anderen Frühaufsteher und spürte den Geruch von Kaffee und Schinken in der Luft. In der Küche diskutierten Tim und Joel Colbert bereits beim Frühstück. Mrs. Colbert konzentrierte sich auf eine Nachrichtensendung von der Erde. Ross häufte eine
Portion Rührei auf seinen Teller, goß sich sehr behut sam eine Tasse Kaffee ein und setzte sich neben die Frau. »Guten Morgen«, sagte sie und stellte die Nach richten leiser. »Sie werden froh sein zu hören, daß Sie der erste Neuankömmling sind, dem es gleich beim ersten Versuch glückt, sich eine Tasse Kaffee einzu schenken. Die Neuen überschätzen meist die bei uns herrschende Schwerkraft und bekleckern das ganze Deck. Ich gratuliere!« Myra Colbert war eine große, ziemlich mütterliche Erscheinung, und Ross verlor schnell seine Scheu. Sie hörten eine Weile den Nachrichten zu. Der Sprecher auf dem Bildschirm sagte einen neuen Asiatischen Krieg voraus. Der Kontinent hatte wieder ein Dürre jahr erlebt. Angesichts der wachsenden Bevölke rungszahl und der sinkenden Lebensmittelprodukti on forderten die chinesischen Führer, daß ein Teil Australiens für chinesische Auswanderer geöffnet werde. Die UN sei zu einer Sondersitzung zusam mengetreten, sagte der Sprecher mit ernster Miene und ging zur nächsten Meldung über. »Au weh!« rief Myra Colbert aus. »Ich bin sehr froh, hier oben zu sein. Wenn die Schießerei losgeht, wird hoffentlich niemand an der guten alten Boreas Anstoß nehmen.« Sie erhob sich und stellte den Fern seher ab.
Wie Ross später erfuhr, war dies ein Ritus, der für die Meteorologen den Beginn des Tagwerks ankün digte. Ross machte sich auf den Weg zu seiner Kup pel. Er fühlte in sich eine Hochstimmung und ein Selbstvertrauen wie schon lange nicht mehr. In der Kuppel überprüfte er zweimal sorgfältig die Positionsmeßgeräte, die Teleskopkontrollen und die Endrelais, ehe er sich bei Joel Colbert meldete. »Aktivieren Sie den Monitor«, gab dieser durch. Die Colberts waren in ihrem eigenen Labor dabei, mit minutiöser Geduld die Stromkreise ihrer Farbfern sehschirme zu überprüfen. »In Ordnung«, sagte Myra Colbert. »Ross, schalten Sie jetzt Ihren Schirm ein; es kann losgehen.« Ein strahlend helles Farbbild des Planeten Erde wurde sichtbar. Es war ein Doppel des Bildes, das die Colberts vor sich hatten. Der Anblick war unglaublich schön. Während eine Erdhälfte im Schatten lag, leuchtete die Sonnenseite in herrlichem Aquamarin, das mit el fenbeinfarbenen Wolkenwirbeln und den ockergel ben Flecken des Festlandes gemustert war. Zwischen den Wolkenbänken Europas und Nordamerikas spie gelte der Atlantik das Sonnenlicht wieder. Asien und der Pazifik lagen noch im Dunkeln. Ross wandte seine Aufmerksamkeit jetzt der zen tralen Zone des Arktischen Ozeans zu. Dieses gefro
rene Meer war für den Meteorologen das wichtigste Gebiet auf der Erde. Hier war die Wetterküche für die ganze Welt. Die Umlaufbahn der Boreas eignete sich vortrefflich zur Beobachtung der nördlichsten Regio nen. Von seiner Kuppel aus würde Ross die hochemp findlichen Geräte auf die Wetterkessel richten, Stür me beobachten, Änderungen von Lufttemperatur und Windrichtung melden oder einen Blizzard ver folgen und seine mutmaßliche Entwicklung durchge ben. »Mein Bildschirm ist eingeschaltet«, meldete er. »Sind Sie bereit?« Sie waren bereit. Ross und die Colberts hielten über Fernsehen und Intercom Verbindung und bildeten auf diese Weise ein elektronisches Team. In gemein samer Arbeit untersuchten sie die Wolkenbildung über der Arktis. Ross hatte anfangs einige Mühe, mit ihren Instruktionen Schritt zu halten. Sein Schulwis sen war schon etwas angestaubt. Doch allmählich faßte er wieder Fuß. »Heh! Ich habe ›halt‹ gesagt! Aufwachen!« rief Joel plötzlich scharf. Ross drehte zurück und blickte auf den Schirm. Da, inmitten einer weißen Wolkendecke, erkannte er die für ein Tiefdruckgebiet typische muldenförmige Ver tiefung.
»Das haben wir gemeint«, sagte Myra. »Hängen Sie den Tagträumen nach?« »Ein wenig«, gab Ross zu. Er schaute wieder auf den Schirm. »Ob das eine Sturmzelle ist?« »Schon möglich«, erwiderte Joel. Ross schaltete eine stärkere Vergrößerung ein. Ja, die dicken Seitenwände waren für eine Sturmzelle charak teristisch. Es handelte sich offenbar um eine Zone nied rigen Luftdrucks, die zum zentralen Ausgangspunkt für einen regelrechten arktischen Eissturm werden konnte oder im Lauf der nächsten Stunden spurlos ver schwinden würde. So etwas war immer schwer vor auszusagen. Ross schoß mit der Infrarotkamera eine Reihe von Bildern, nahm einige Messungen vor und fütterte die Daten dem Computer ein. Innerhalb von Sekunden kam die Vorhersage. Der Sturm würde sich innerhalb einer Woche zu einem südwärts ziehenden Orkan auswachsen und der Seefahrt sehr zu schaffen machen. »Okay!« kam die Stimme Joels durch das Intercom. »Wir wollen von allem Kopien anfertigen, damit sie zur Erde gefunkt werden können.« Ross nahm die belichteten Aufnahmen und begab sich zum Entwicklungsgerät hinüber, das an der La borwand angebracht war. Er schaltete das Gerät ein, schob die Kassetten mit den Fotos hinein und trat zu rück.
Nichts geschah. Was zum Teufel ...? Ross drückte nochmals auf den Einschaltknopf. Die Maschine summte schwach, doch sonst tat sich nichts. Abermals drückte Ross auf den Knopf. Ein ro tes Signal leuchtete auf: WARM. Er stutzte. Warm? Der Entwickler konnte sich doch nicht überhitzen – oder doch? Gerade, als er sich an jemand um Rat wenden wollte, sah er den Tempera turregler und stellte ihn um zehn Grad niedriger ein. Noch immer geschah nichts. Ross nahm die Kassetten wieder heraus, achtete darauf, daß alle Kontrollämpchen aufleuchteten, und schob die Bilder wieder hinein. Dann drückte er auf den Knopf. Nichts. Ross fluchte verbittert. Da leuchtete ein neues Si gnal auf: ENTWICKLUNG LÄUFT. Schon besser, dachte Ross. Aus dem Gerät kam jetzt ein gleichmäßiger, lautloser Summton, während der Film chemisch behandelt wurde und sich zu Ne gativen entwickelte. Das Signal erlosch und wurde durch ein anderes ersetzt. ENTWICKLUNG ABGESCHLOSSEN. Die Kassetten wurden getrocknet und ausgewor fen.
Er ergriff sie mit der einen Hand, stieß sich mit der anderen in Richtung auf die Tür ab und suchte das Labor der Colberts auf. Joel und Myra waren gerade eifrig dabei, ihren Teil des Sturmberichts an die Erde auszuarbeiten. Joel nahm die Kassetten entgegen und legte sie vorläufig zur Seite, um die Aufmerksamkeit von Ross auf einen Farbdruck zu lenken, der auf der linken Seite einen ungewöhnlichen Fleck aufwies. »Staub auf der Linse?« »Das habe ich zuerst auch gehofft«, sagte Joel. »Aber es scheint etwas Ernsteres zu sein. Dieser Fleck rührt vom Aufschlag eines Mikrometeors her. Das bedeutet, daß die Linse des betreffenden Teleskops ausgewech selt werden muß, ehe wir weitermachen können.« Ross seufzte. Er wußte, was auf ihn zukam. Es war eine Arbeit von fünf Stunden, die Verkleidung des Teleskops abzumontieren, die beschädigte Linse zu ersetzen, die Verkleidung wieder anzubringen und das Gerät neu einzustellen und auszurichten. Myra schenkte ihm einen mitleidigen Blick. »Ma chen Sie sich nichts draus. Wir warten, bis Sie fertig sind. Schönen Dank für die Entwicklung des Films.« Ross machte sich sofort ans Werk. Mitten in der Arbeit klingelte das Intercom. Ross ließ die Linsen frei in der Luft schweben und meldete sich. »Moran hier.«
Für einen Augenblick drang aus dem Lautsprecher ein lautes Stimmendurcheinander, aus dem nach kurzem eine Einzelstimme klar hervortrat. »Ross, hier ist Joel. Hören Sie, da ist etwas in Ihrer Abteilung schiefgelaufen.« »Was meinen Sie damit?« »Erinnern Sie sich an die Filmkassetten, die Sie mir gebracht haben?« Ross erinnerte sich gut. Sein Herz schlug schneller. »Irgend etwas scheint damit nicht zu stimmen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber Myra kann auf den Bildern nichts erkennen.« Einen Moment lang war die Leitung tot. Dann hör te Ross die schneidende Stimme Julian Martinos. »Moran, ich möchte Sie sofort in meinem Büro se hen. Lassen Sie alles stehen und liegen und beeilen Sie sich gefälligst.« Nach einer eisigen Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie können mit Erklärungen dienen. Die Komman dantin hat mir mitgeteilt, daß Sie auch mit Ihnen sprechen will, wenn wir beide miteinander fertig sind.«
6
Julian Martino schien kurz vor einer Explosion zu stehen. »Setzen Sie sich«, befahl er. Seine ganze Wut schien in diese drei Worte zu münden. Er zog eine Schubla de auf und entnahm ihr einige kleinere Gegenstände. »Erkennen Sie dies hier wieder?« grollte er. »Das sind die Filmkassetten, die ich Joel Colbert übergeben habe«, antwortete Ross. Er fragte sich, worauf Martino herauswollte. »Das sind die Kassetten – sehr richtig«, sagte Mar tino mit einem Anflug von Sarkasmus. Er löschte die Deckenbeleuchtung. Ross hörte einen Projektor sur ren, und einen Augenblick später sah er eins seiner Fotos auf einem Bildschirm. Es war verschwommen, und die Farben schienen irgendwie falsch zu sein. Anscheinend hatte Martino versäumt, den Projektor scharf einzustellen, und Ross wartete nervös auf die entsprechende Korrektur. Ross drehte sich nach Martino um, der seinen Blick mit kaum verhohlener Feindseligkeit erwiderte. »Ich weiß, was Sie jetzt denken; aber der Projektor ist richtig eingestellt. Wollen Sie noch ein Bild se hen?« Er drückte auf einen Knopf.
Das nächste Bild stellte Ross vor ein völliges Rätsel. Verschwommene Farbstreifen mischten sich mit einer grießartigen Masse. Das Licht flammte wieder auf. Martino warf die Kassetten mit einer ausholenden Geste in den Papier korb. »Wertloses Zeug. Hunderte von Dollar und Stunden wertvoller Arbeit für nichts und wieder nichts vertan. Und warum? Weil Sie nicht imstande sind, einen tadellos funktionierenden automatischen Entwickler zu bedienen.« Ross hielt sich mühsam zurück. In seinem Magen breitete sich ein leeres Gefühl aus. »Der Entwickler ist einwandfrei in Ordnung. Er hat noch nie in irgendeiner Weise versagt. Das heißt – bis jemand die Betriebstemperatur um zehn Grad ver stellt hat. Wahrscheinlich haben Sie keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?« »Ich war es. Der Entwickler hat sich überhitzt, und ich habe –« »Falsch, Mr. Moran, er hat sich nicht überhitzt. Er kann sich nicht überhitzt haben, da Sie nicht einmal so lange gewartet haben, bis er sich aufgewärmt hatte.« Ross schloß die Augen. Warm. Die Maschine hatte sich also aufgewärmt. Er hätte es wissen müssen. »So kam es, daß der Film nicht vollständig entwik kelt wurde und jetzt wertlos ist«, sagte Ross ungläu big zu sich selbst.
Martino blickte auf ihn hinab. »Ich bin an Ihren Ausreden nicht interessiert. Entschuldigungen küm mern mich nicht. Alles, was ich will, ist, daß die Erde planmäßig die Wetterdaten von uns erhält. Dazu ist die Zusammenarbeit aller erforderlich, und niemand kann sich ausschließen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt? Ich versichere Ihnen, daß es Ihnen leid tun wird, wenn so etwas noch einmal vorkommt. Sie können jetzt gehen, aber vergessen Sie nicht, daß die Kommandantin Sie in einer Stunde erwartet. Eine Stunde, das sind sech zig Minuten, Mr. Moran.« Ross brütete finster über einer Tasse kaltgewordenen Kaffees. Seine Gedanken liefen verzweifelt im Kreis. Er blickte auch nicht auf, als sich jemand zu ihm an den Küchentisch setzte. »So schlimm kann es doch gar nicht sein«, sagte Tim. »Vermutlich nicht«, stimmte Ross zu. »Das Schlimmste daran ist, daß ich es tatsächlich verbockt habe. Es war vollkommen in Ordnung, daß mich Martino zusammengestaucht hat.« »Ich bin an seiner Tür vorbeigegangen und habe ihn schreien gehört.« Tim stieß einen Pfiff aus. »Für diese Art der Menschenbehandlung gibt es keine Rechtfertigung.«
Ross nippte am Kaffee und stellte ihn angeekelt auf die Seite. »Ich dachte, ich könnte ihn beruhigen, aber er hat mir keine Chance zu irgendeiner Erklärung oder Entschuldigung gegeben. Er hat mich einfach niedergewalzt.« »Ja, das ist genau sein Stil.« Tim nickte. »Er ver sucht mit aller Gewalt, sich den Ruf eines tüchtigen Verwaltungsbeamten zu verschaffen. Du weißt schon – der Mann, bei dem alles klappt. Der über Leichen geht. Auf diese Weise kommt sein Name ins Ge spräch.« »Hinter was ist er her?« »Ich wette zehn zu eins, daß er es auf den Posten des Kommandanten abgesehen hat.« Ross glaubte, aus Tims Tonfall den Ausdruck einer alten Feind schaft herausspüren zu können, einer Feindschaft, deren Ursprung weit zurückliegen mußte. »Martino als Kommandant der IRV?« Ross wurde es unbehaglich bei diesem Gedanken. »Aber sicher. Er ist auf den Posten von Eva Keough scharf. Momentan ist er ja nicht mehr als ihr Hen kersknecht.« Ross lächelte grimmig. »Das macht er ja ganz gut.« »Er kann nichts tun, als dich anzuschreien und zu hoffen, daß du durchdrehst.« »Moment mal – schließlich war doch ich derjenige, der Mist gebaut hat.«
»Sei nicht so schnell zur Hand, den Mann zu ver teidigen«, entgegnete Tim. »Was willst du damit sagen?« fragte Ross scharf. »Nun, Joel Colbert war ganz schön wütend über die Angelegenheit. Ich mußte ihm ein Beruhigungs mittel geben. Er hat mir erzählt, daß diese Filme gar nicht so wichtig sind, wie Martino dich glauben ma chen will. Er und Myra haben den Bericht schon fix und fertig. Die Bilder sind nur Illustrationsmaterial, und Joel war furchtbar aufgebracht, weil Martino so viel Wind um nichts gemacht hat.« »Aber wozu sollte diese Dampfwalzen-Masche denn gut sein? Wollte er mich wütend machen?« Tim zuckte die Achseln. »Wenn man nach dem äu ßeren Schein urteilt, muß die Antwort ›ja‹ lauten.« »Aber du weißt es besser, nicht wahr? Los, du Mei sterdetektiv, rück schon 'raus damit!« drängte Ross. Tim lachte. »Ich schreibe doch nur Kriminalromane.« »Du weichst aus.« »Also schön, weil du so sehr darauf beharrst, wer de ich's dir erzählen. Aber es wird dir nicht gefallen.« »Nun sag schon.« Der heitere Tonfall war aus Tims Stimme völlig verschwunden. »Ich glaube, daß er versucht hat, dich einzuschüchtern und so in die Enge zu treiben, daß du nur noch zu seinen Bedingungen herauskannst.« »Du hast recht, ich bin davon nicht gerade erbaut –
zumal ich jetzt gleich bei Kommandantin Eva Keough vorreiten muß.« Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Wenn sie mich nach Martinos Methode behandelt, dann habe ich darauf die beste Erwiderung, die es gibt – nämlich die Wahrheit.« »Darauf würde ich mich nicht allzu sehr verlas sen«, warnte Tim. »Sie hat viel Einfluß, und es könnte dir so gehen wie Hanks. Aber nimm dir's nicht zu Herzen. Vielleicht kannst du herausfinden, was mit Eva Keough eigentlich los ist. Die meisten glauben, sie ist von Natur aus unfreundlich.« »Und du glaubst das nicht?« »Überhaupt nicht«, antwortete Tim gelassen. Eckig. Das war der erste Eindruck, den Ross von Eva Keoughs Gesicht empfing. Glatt und faltenlos spann te sich die Haut; die Kommandantin hatte nichts von der Molligkeit aufzuweisen, die Frauen in ihrem Al ter oft eigen ist. Auch mit zweiundfünfzig war Eva Keough noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Sie mußte einmal sehr schön gewesen sein, dachte Ross, und etwas davon war auch jetzt noch zu ahnen, wenn ihr Gesicht wie bei Ross' Eintritt einen energischen Ausdruck annahm. Ross rief sich Tims Ratschläge ins Gedächtnis und nahm sich vor, gelassen zu bleiben. Doch ihr silber weißes kurzes Haar und ihre makellose IRV-Uniform
mochte vielleicht eine übertriebene Strenge vortäu schen. Taktvoll vermied sie es, die Angelegenheit mit den Filmkassetten zu erwähnen. »Mr. Gurvitsch hatte mir freundlicherweise eine Kopie Ihrer Universitätszeugnisse zukommen las sen«, sagte sie in kühlem Ton. »Ich war von Ihrer akademischen Qualifikation beeindruckt und habe Ihrer Aufnahme hier an Bord zugestimmt.« »Danke«, sagte Ross so unverbindlich wie möglich. »Sie sind sich selbstverständlich der Tatsache be wußt, daß die IRV Ihnen als Gegenleistung für Ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Meteorologie ein be trächtliches Gehalt zahlt. Sie hätten es auf der Erde schwer, eine ähnliche Stellung zu bekommen.« Bestürzt nickte Ross. »Sie brauchen nicht gleich zu erschrecken«, sagte sie herzlich. »Ich bin sicher, daß wir uns verstehen werden. Das ist sehr wichtig. Ihr Vorgänger, Mr. Jonathan Hanks, wollte das nicht einsehen. Er war unfähig, auf andere Besatzungsmitglieder einzugehen und verur sachte andauernd Reibereien. Ich habe ihn wiederholt gewarnt, aber –« Ross hob die Augenbrauen. Das sah Hanks gar nicht ähnlich. Die Kommandantin bemerkte seine Reaktion. »Vielleicht hat er Ihnen gegenüber andere Gründe für
seine Entlassung angegeben. Die Hauptsache ist, Sie vermeiden seine Verhaltensweise.« Ross nickte geistesabwesend. Er hatte das Gefühl, daß sie mit etwas zurückhielt. »Ich habe von Reibereien gesprochen«, fuhr sie fort. »Sie werden inzwischen schon bemerkt haben, daß sich trotz meiner Bemühungen eine – wenn auch leise – Zwietracht hier an Bord eingeschlichen hat. Die Mannschaft ist in Cliquen zerfallen.« »Meine Arbeit hält mich die ganze Zeit in Atem«, wich Ross aus. »Natürlich, Sie sind hier neu, und diese Probleme lassen Sie wahrscheinlich kalt.« »Ich kann schon sehen, daß diese Probleme wichtig sind«, beeilte sich Ross zu versichern. »Ich hatte nur noch keine Zeit, alle Kollegen kennenzulernen und ihnen zuzuhören.« »Ich habe nichts gegen eine ernsthafte Meinungs äußerung. Aber wenn die Arbeit darunter leidet, muß ich Gegenmaßnahmen ergreifen.« Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich tue so etwas sehr ungern. Aber meine Position als Vorgesetzte läßt mir keine andere Wahl. Auf grund meines Ranges bin ich meist die letzte, die es merkt, wenn sich an Bord etwas zusammenbraut – und dann kann es zu spät sein. Ich suche nach einem Weg, von problematischen Entwicklungen Kenntnis
zu erhalten, ehe sie sich ausweiten und die Produkti vität der Arbeit ungünstig beeinflussen.« Oder, anders ausgedrückt – sie suchte nach einem Spitzel, dachte Ross, einem Informanten. Ihre Stimme wurde weich. »Meine Arbeit läßt mir zuwenig Gelegenheit, mich diesen ernsten Problemen im notwendigen Umfang zu widmen.« Will sie mich etwa persönlich auffordern? dachte Ross. Ihn fror bei dem Gedanken. »Ich suche«, fuhr sie fort, »eine Vertrauensperson – jemanden wie Sie. Sie besitzen Intelligenz und ein selbständiges Urteil. Sie sehen genau wie ich die Ge fahren, die von dieser Cliquenbildung ausgehen. Al les, was Sie tun müßten, wäre, sich ein bißchen um zusehen und umzuhorchen.« Ross hielt sich nur mühsam zurück. Er hatte noch nie eine so beleidigende Einladung erhalten. »Ich glaube nicht, daß ich der richtige Mann für so etwas bin.« »Ich fürchte, Sie verstehen nicht recht.« Ihre Augen waren schmal geworden. »Ich glaube, ich verstehe Sie sehr wohl.« »Wer hat Ihnen etwas erzählt?« zischte sie. Ross schwieg. »Wer war es?« fragte sie wütend. »Diehle? Ny strom?« Ross bewunderte seine Selbstbeherrschung. »Wie
gesagt, ich bin hier neu, und meine Arbeit nimmt mich vollkommen in Anspruch.« »Moran, Sie machen einen ernsten Fehler.« Ihre Stimme klang kraftlos. Sie hatte den Kampf verloren. Lächerlich, dachte Ross, während er am Teleskop weiterbastelte. Was bildet diese Frau sich eigentlich ein? Sie glaubt, sie braucht nur mit den Fingern zu schnippen, und Ross Moran, Geheimagent und Ver trauensmann der Kommandantin, ist zur Stelle. Er fragte sich, an wieviel Besatzungsmitglieder sie noch herangetreten war und wieviel angebissen hatten. Hatten die Wände Ohren? Er riß sich zusammen. Nur kein Verfolgungswahn, sagte er zu sich selbst, und arbeitete weiter. Er spürte jetzt heftig den Schmerz, der von einer Verletzung an seiner rechten Hand ausging. In einem Moment der Unachtsamkeit war er mit dem Schrau benzieher ausgerutscht und hatte die blutende Wun de zunächst ignoriert. Er verließ das Labor und mach te sich auf die Suche nach einem Verbandskasten, den er im nächsten Gang neben dem Feuerlöscher vermu tete. Doch die Wand war leer. Blut floß aus der Schnittverletzung. Die medizini sche Station lag auf der anderen Seite von Boreas; der weite Weg lohnte sich nicht. Vielleicht ist der Ver bandskasten bei Dr. Nystrom, dachte Ross. War das
nicht seine Stimme, die aus der astronomischen Ab teilung herüberklang? Die Tür des Labors war einen Spalt weit geöffnet. Ross hörte das Summen der Geräte und ein leichtes »Bumms«, mit dem etwas immer wieder gegen die Tür prallte. Er rief nach Dr. Nystrom. Bumms! Ross stieß die Tür auf. Der Raum war leer. Plötzlich schoß etwas mit unglaublicher Ge schwindigkeit an Ross vorbei, drehte ein paar spek takuläre Kurven, schoß wieder auf ihn zu, verhielt und setzte sich. Ross starrte auf das smaragdgrün glänzende Ge schoß. Der Kolibri blinzelte zurück. Ross nahm ihn behutsam in die unverletzte Hand, und der Vogel ließ es sich protestlos gefallen. Er sah sich in dem Raum um. Ein Vogelkäfig hing von der Decke; doch ein Verbandskasten war nicht zu entdecken. Nach längerer Suche fand ihn Ross hinter der Tür. Er versorgte seine Hand und wollte das Labor ge rade verlassen, als er fast mit Timothy Diehle zu sammenstieß. Ross grüßte ihn überrascht. »Ich habe dich in der Arztstation vermutet.« »Und ich dachte, du seist bei Eva Keough«, erwi derte Tim. »Ist Dr. Nystrom da?« »Nein. Ich dachte zuerst auch, er sei da.«
»Was ist mit dir los, Ross? Du bist ja ganz durch einander. Hat Eva dir sehr zugesetzt?« »Eigentlich nicht.« Er gab Tim eine kurze Zusam menfassung des Gesprächs, ohne jedoch ihre Auffor derung zu Spitzeldiensten zu erwähnen. Es ist am be sten, die Angelegenheit so bald wie möglich zu ver gessen, dachte er. »Ja, so ist sie«, stimmte Tim zu. »Sie verliert nie mals ihre Beherrschung.« Ross verzog das Gesicht. »Martino gleicht das völ lig wieder aus.« »Wie wahr. Sie bilden ein richtiges Team. Es wäre komisch, wenn dahinter nicht so viel Methode stek ken würde. Sie versuchen es mit jedem auf die glei che Tour. Gibst du mir Bescheid, wenn Dr. Nystrom zurückkommt?« Ross versprach es und kehrte zu seinem Teleskop zurück. Während er die Azimut-Kontrollen einstellte, fielen ihm plötzlich siedend heiß Tims Worte ein: Sie versuchen es mit jedem auf die gleiche Tour. Mit jedem. War denn so etwas möglich? Es bedeutete, daß Eva Keough und Julian Martino irgendwann auch an Tim herangetreten waren und auch ihn zu Spitzeldiensten aufgefordert hatten. Ross fragte sich, welches Besat zungsmitglied von Tim hätte beobachtet werden sol len. Etwa Dr. Nystrom?
Nein. Und doch – die Kommandantin hatte gerade diesen Namen mit unverkennbarer Heftigkeit ausge sprochen. Dann fiel ihm ein, daß sie im gleichen Atemzug auch Tims Namen genannt hatte. Anschei nend war Tim also nicht auf ihren Vorschlag einge gangen. Aber die Vermutung, daß auch er zu Spitzel diensten gedrängt werden sollte, blieb bestehen. Die Saat des Argwohns war gesät, der Keim des Mißtrau ens gepflanzt. Dann durchfuhr ihn ein eisiger Schrecken. Tim hatte ihn unmittelbar nach dem Gespräch mit der Kommandantin aus dem Labor von Dr. Nystrom kommen sehen. Nahm Tim am Ende gar an, er sei der Informant Evas geworden? Glaubte Tim vielleicht, er habe Dr. Nystroms Sachen nach belastendem Materi al durchwühlt? Er konnte Tim einen derartigen Trugschluß nicht übelnehmen. Der Augenschein sprach gegen Ross. Unter den gegenwärtigen Umständen hatte Tim guten Grund zu der Annahme, daß Ross für die Kommandantin arbeitete.
7
Es war offensichtlich, daß irgend etwas Dr. Nystrom beschäftigte. »Er ist fast zum Einsiedler geworden«, sagte Ross. Es war eine Woche nach der Unterredung mit Eva Keough. Ross hatte das Gefühl, Tims Vertrauen so weit wiedergewonnen zu haben, daß er mit ihm Themen von beiderseitigem Interesse besprechen konnte. Sie saßen in der Kombüse am Tisch. »Sicher, ich habe es auch bemerkt«, sagte Tim. »Er arbeitet den ganzen Tag in seinem Labor. Auf jeden Fall ist die Tür die ganze Zeit verschlossen. Aber ich glaube nicht, daß es unbedingt etwas Besonderes zu bedeuten hat.« »Er verhält sich völlig anders als auf der Hauptsta tion«, konterte Ross. »Man bekommt ihn kaum zu Gesicht, und wenn, dann blickt er besorgt drein.« »Das heißt, er ist in seinem radioastronomischen Labor hart an der Arbeit. Ich muß allerdings zugeben, daß es sich um etwas sehr Wichtiges handeln muß, wenn er darauf achtzehn Stunden des Tages verwen det.« Tim unterbrach sich, denn der Mann, von dem die Rede war, betrat soeben den Raum. »Hier seid ihr also!« rief Dr. Nystrom aus. »Die
ganze Mannschaft sucht euch. Ich frage mich, warum sie nicht zuerst hier hereingeschaut haben.« »Wo kann man denn sonst Kaffee bekommen und sich unterhalten, wenn es so früh am Tag ist? Doch was soll die ganze Aufregung?« »Eva hat im Saal eine Versammlung einberufen. Nur ihr beide fehlt noch.« Mit einem Schlag ging in der Kombüse das Licht aus, und die Notbeleuchtung schaltete sich ein. In den Gängen und sogar im Saal war es dasselbe. Die Besatzung saß oder stand an einer Reihe von Tischen. Die Kommandantin hatte den Vorsitz. Als Ross, Tim und Dr. Nystrom schließlich Stühle gefun den hatten, begann sie zu sprechen. »Ich habe Sie von Ihren Arbeitsplätzen hergebeten, weil sich etwas ereignet hat, das uns alle betrifft. Bo reas arbeitet im Augenblick mit Notstromaggregaten, da ich die Stillegung des Reaktors angeordnet habe. Eines der wichtigsten Plutoniumelemente droht kri tisch zu werden und macht die weitere Benützung des Reaktors gefährlich. Ich habe die Erlaubnis ein geholt, alle Arbeiten einzustellen, bis der Stab ausge tauscht ist.« In dem düster beleuchteten Saal erhob sich ein Stimmengemurmel. »Das bedeutet jedoch keinen Urlaub«, fuhr die Kommandantin kalt fort. »Ganz im Gegenteil. Unter
normalen Umständen wäre die Durchführung der Reparatur die Angelegenheit der Hauptstation. Bis zum Eintreffen des Reparaturteams würden drei Ta ge vergehen. So lange können wir nicht warten. Ich habe deshalb beschlossen, das kritische Element ge gen ein Element aus unseren eigenen Vorräten auszu tauschen. Als Operationsbasis dient das Versorgungsschiff. Die Aktion steht unter dem Befehl meines Assistenten Julian Martino. Er und der Elektronikspezialist der Sta tion, Alan Essenfield, sind genau instruiert worden. Dr. Nystrom wird ihnen helfen. Ross Moran wird die Aktion vom Versorgungsschiff aus beobachten.« »Ich wußte gar nicht, daß du dich freiwillig gemel det hast«, flüsterte Tim. »Ich auch nicht«, erwiderte Ross, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. Kurz darauf betrat Ross das Innere des Versor gungsschiffes. Martino gab ihm kurz Bescheid über den Verlauf der Aktion. Ross' Aufgabe bestand vorwiegend darin, den Fortschritt der Arbeiten zu verfolgen und Mel dungen an den Satelliten durchzugeben, während die anderen drei sich draußen in ihren Raumanzügen bewegten. Er hatte insgeheim gehofft, selbst aktiv mitwirken zu können, aber Martino zerstörte seine Hoffnungen schroff.
»Sie bleiben im Schiff und halten beide Augen of fen. Lassen Sie uns nicht aus Ihrem Blickfeld.« Kurze Zeit später hatte das Schiff die Boreas umrun det, und der massive Stahlklotz des Reaktors kam in Sicht. Dr. Nystrom legte an der Spitze der sechzig Meter langen Achse an, die aus dem nichtrotierenden Bereich des Satelliten hervorragte. Ross half ihm und Martino beim Anlegen der weißen Druckanzüge, während Alan Essenfield mit geübten, flinken Bewe gungen in den seinigen schlüpfte, den Bleizylinder mit dem neuen Plutoniumelement aufnahm und die kleine Gruppe schließlich zur Ladeluke führte. Der Riegel wurde aufgeschoben, und die drei trie ben in den Raum. Ross begab sich eilig in den Führerstand des Schif fes, der in einer durchsichtigen Plastikkuppel unter gebracht war. Er stellte die Funkverbindung zwi schen den Männern draußen und dem Satelliten her und brachte das Schiff in eine Position, die ihm den optimalen Überblick ermöglichte. »Wir sind soweit«, kam Dr. Nystroms Stimme krächzend aus dem Lautsprecher. Sehr zuversichtlich klang das nicht, dachte Ross. Die drei Gestalten hatten inzwischen vor dem Re aktor haltgemacht. Sie waren sorgfältig darauf be dacht, mit dem Plutoniumstab vorsichtig umzuge
hen, auch wenn er in einem Schutzbehälter unterge bracht war. »Essenneid und Martino öffnen die äußere Verrie gelung«, meldete Dr. Nystrom eine Minute darauf. Sie warteten, während Dr. Nystrom Martino einen Behälter überreichte, der dazu bestimmt war, den ausgestrahlten Plutoniumstab aufzunehmen. Mit ei ner Spezialgreifvorrichtung sollte Essenfield nach Öffnung der inneren Verriegelung das schadhafte Element in diese Schutzhülle praktizieren. Danach sollte das neue Element aus seinem Behälter ent nommen und anstelle des alten Brennstabes einge setzt werden. Wie beim Auswechseln von Zündker zen, dachte Ross. »Äußere Verriegelung geöffnet«, gab Dr. Nystrom durch. »Jetzt öffnet Essenfield die innere und –« Die Wucht herauspuffenden komprimierten Gases erfaßte Essenfield direkt von vorn und wirbelte ihn in den Raum. Er ruderte wild mit den Armen. Der Sog des Gases war stark genug, den Plutoniumstab aus dem Reaktor mit sich zu reißen. Wie eine schwarze Giftschlange schoß er aus der offenen Luke. Dr. Nystrom schrie eine Warnung. Vermutlich hatte Martino den Schrei nicht gehört. Er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Versuch, den Deckel von seinem Behälter abzu nehmen. Als er an dem klemmenden Verschluß ne
stelte, machte er mit seinem Arm eine Bewegung zur Sichtscheibe seines Helms. Dieser Umstand rettete ihm das Leben. Der Plutoniumstab schmetterte gegen seinen linken Unterarm und Ellbogen, wo sein Druckanzug zu ei ner teerigen Masse zerschmolz. Der Stab übertrug seine Bewegungsenergie auf den Mann, der hilflos um die eigene Achse zu kreisen begann. Dr. Nystrom packte ihn am Arm und rief nach Alan Essenfield. Ross konnte alles beobachten. Eine Sekunde lang starrte er erschrocken auf die Szene, dann ließ er seine Hand zur roten Taste des Funkgeräts gleiten. Sein Tastendruck ließ auf dem Computerschirm der Boreas die Worte NOTFALL NOTFALL NOTFALL aufleuchten, und gleichzeitig erfaßten konzentrierte Bündel blauweißen Lichts die drei Männer. Dr. Nystrom schleppte den um sich schlagenden Körper Martinos zur offenstehenden Luftschleuse des Schiffes. Ross hörte, wie das Schloß einschnappte und die Innentür aufging. »Helfen Sie mir, ihn aus dem Anzug zu ziehen«, befahl Dr. Nystrom.
Ross sprang hinzu und arbeitete an dem Seitenver schluß des Anzugs. Dr. Nystrom schraubte den Helm ab und wandte sich dem Führerstand zu. Ross befrei te den Verletzten, der inzwischen bewußtlos gewor den war, vollends aus seinem Druckanzug. Dr. Ny strom machte sich daran, das Schiff zu starten. »Halt!« rief Ross. »Was ist mit Essenfield?« »Wir holen ihn später«, antwortete Dr. Nystrom. Seine Finger drückten die Kontrolltasten, und Ross spürte, wie das Schiff beschleunigte. Sie bewegten sich eine Weile vorwärts, dann lenkte Dr. Nystrom das Schiff zur Anlegerampe und öffnete die Ladelu ke. Ross hob den bewußtlosen Körper Martinos auf und trug ihn in die Station. Tim schnappte nach Luft, als er den blutigen, strah lenverbrannten Arm zu sehen bekam. »Los, wir bringen ihn zur Krankenstation«, sagte er. Als sie dort angekommen waren, machte sich Tim mit schnellen und dennoch behutsamen Griffen an dem Bewußtlosen zu schaffen, und schon nach einer kurzen Weile belebte sich der Puls Martinos. Dann begann er zu flattern. Verzweifelt stülpte Tim eine Sauerstoffmaske über das Gesicht des Verletzten und injizierte eine klare Flüssigkeit in die Vene des linken Oberarms. »Das müßte ihn stabilisieren«, sagte er, als er den Puls wieder stärker spürte.
Niemand hatte bemerkt, daß die Kommandantin Eva Keough inzwischen den Raum betreten hatte. »Gut«, sagte sie teilnahmslos. »Bleiben Sie bei ihm.« Tim nickte. »Selbstverständlich. Er sollte in die Kli nik der Hauptstation verlegt werden. Dort sind sie darauf eingerichtet, Strahlenverbrennungen ange messen zu behandeln.« »Nein«, sagte Eva Keough. »Wie? Hier kann er nicht bleiben!« drängte Tim. »Ich habe gesagt, er bleibt hier. Er wird ohne meine ausdrückliche Genehmigung nicht verlegt!« »Aber, Kommandantin –« »Ich denke, Ihr Patient wird über die Runden kommen«, sagte sie bestimmt. Ross hatte einen Wutausbruch Tims erwartet. Der Arzt wandte seine Aufmerksamkeit jedoch seinem Patienten zu, der zu stöhnen begann. Tim gab ihm noch eine Injektion. Dann säuberte er die Wunde, in dem er aus einer Sprühdose Plastikschaum da raufsprühte. Die verkohlten Reste des Anzugs wur den nach oben geschwemmt, und Tim konnte die Wunde verbinden. Ross machte sich auf den Weg zum Saal. Als er eintrat, vernahm er die besorgte Stimme Dr. Nystroms. »... aber der Mann ist schwer verletzt«, protestierte Dr. Nystrom.
»Ich weiß das, und ich weiß ihr Angebot, Martino zur Hauptstation zu überführen, zu schätzen«, ent gegnete die Kommandantin. »Aber ich habe ent schieden, daß er vorläufig hierbleibt.« »Das ist eine gravierende Fehlentscheidung, Kom mandantin. Ich bitte Sie, das noch einmal zu über denken.« »Ich habe volles Vertrauen in die Fähigkeiten unse res Arztes. Teilen Sie dieses Vertrauen vielleicht nicht, Dr. Nystrom?« Dr. Nystrom schnaubte. »Das ist völliger Unsinn.« »Seien Sie doch ehrlich. Ist es nicht so, daß Sie in Wirklichkeit die Fähigkeiten aller Mannschaftsmit glieder in Zweifel ziehen – mit Ausnahme Ihrer eige nen?« Was für ein Unsinn, dachte Ross. Dr. Nystrom schoß das Blut ins Gesicht. »Sie sind doch nur gekränkt«, fuhr Eva Keough fort, »weil Ihre berufliche Arbeit unterbrochen wor den ist. Nein? Dann erklären Sie mir einmal, warum Sie so scharf darauf waren, einen Platz bei der Repa raturgruppe zu erhalten? Liegt Ihnen diese Nova so sehr am Herzen?« »Überhaupt nicht. Aber da Sie das Thema schon an geschnitten haben – finden Sie es nicht auch seltsam, daß Sie die Energie lahmlegen lassen zu einem Zeit punkt, an dem ich Sie gebeten habe, in meinem Labor
ungestört durcharbeiten zu dürfen? Und diese Maß nahme mußte unbedingt so eilig durchgeführt werden, daß man nicht einmal auf ausgebildete Nuklearspezia listen warten konnte. Sie haben Amateure hinausge schickt. Einer davon ist verletzt worden, und jetzt –« »Ich glaube, es ist weder Ort noch Zeit, darüber zu diskutieren. Sollten Sie jedoch darauf bestehen, so muß ich Sie daran erinnern, daß Sie nach den Vor schriften der IRV wegen Widersetzlichkeit belangt werden können. Ich rate Ihnen, sich das gut zu über legen, Dr. Nystrom.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und schritt aus dem Saal. Dr. Nystrom setzte sich auf einen Stuhl und starrte düster in eine Ecke. »Sie würde ihre Drohung nicht wahrmachen, oder?« fragte Ross. »Nein, das ist unwahrscheinlich«, antwortete Dr. Nystrom. »Denn eine Untersuchung würde schließ lich auch ihre Rolle in dem ganzen Schlamassel be leuchten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie eine derartige Publizität wünscht. Aber es gibt eine Ein zelheit, die wir beide vollkommen übersehen haben. Wir hätten eigentlich wieder in das Schiff zurückkeh ren und Essenfield an Bord holen sollen.« Ross nickte. »Er ist noch draußen. Ist alles in Ord nung mit ihm?«
»Ja. In der Aufregung habe ich vergessen, daß er noch draußen beim Reaktor war. Aber das ist nicht weiter schlimm. Alan ist ein alter Raumhase. Seit fünf Minuten ist er wieder auf Boreas.« Ross rechnete. »Dann war er also fünfundfünfzig Minuten allein draußen.« »Er ist inzwischen nicht müßig gewesen«, fuhr Dr. Nystrom fort. »Er hat den herausgeschleuderten Plu toniumstab in dem Behälter untergebracht. Und dann hat er zu Ende geführt, was unsere eigentliche Auf gabe war.« »Sie wollen damit sagen, daß er das neue Element eingesetzt hat? Ganz allein?« »Haben Sie nicht bemerkt, daß sich die Normalbe leuchtung wieder eingeschaltet hat?« fragte Dr. Ny strom lächelnd. Tatsächlich fluoreszierte von der Decke strahlende Helligkeit anstelle des düsteren Blaus der Notbe leuchtung. Zum erstenmal fiel Ross die Farbenpracht der Wandmalerei im Versammlungsaal auf. Dr. Nystrom kramte in seinen Taschen nach Pfeife und Tabak. Nachdem er die Pfeife angesteckt hatte, fuhr er fort. »Verstehen Sie, was das bedeutet? Es hat sich her ausgestellt, daß Eva Keough die Sachlage völlig rich tig beurteilt hat. Es war kein Ingenieurteam nötig, um die Brennzelle auszutauschen.
Alan konnte die ganze Operation allein durchfüh ren. Ein einzelner Mann. Und ich neige allmählich zu der Annahme, daß sie auch mit ihren Äußerungen über meine Arbeitseinstellung recht hat. Vielleicht habe ich mich wegen der Nova in das Reparaturteam gedrängt.« »Daran kann ich keine Sekunde glauben«, erwider te Ross. »Und ich habe Sie alle drei beobachtet, als es geschah. Sie haben getan, was Sie konnten.« »Danke«, sagte Dr. Nystrom. »Vielleicht sehe ich Gespenster. Im übrigen ist mir diese Nova tatsächlich sehr wichtig. Wenn sie meine Aufmerksamkeit nicht beeinträchtigt hätte, läge Martino vielleicht nicht mit der schrecklichen Verbrennung in der Krankenstati on.«
8
Ross stand hinter einer niedrigen Granitmauer und ließ seinen Blick über die endlose See schweifen. Die Brandung schäumte gegen eine ferne Küste. Die Son ne stand am Horizont wie ein karmesinrotes Schiff. Wenn Ross die Szene hinter halbgeschlossenen Li dern verschwimmen ließ, machte sie den Eindruck, real zu sein. Jedenfalls war sie real genug, um ihn die Tatsache vergessen zu lassen, daß er sich in der Pan oramabibliothek von Boreas befand. Die Stimmung war perfekt. Ross schloß die Augen und versuchte sich zu entspannen. Aber es war leichter, eine friedliche Illusion an die Wand zu projizieren, als den harten Spannungskno ten zu vergessen, in dem sich sein Magen zusam menkrampfte. Seit dem Unfall beim Reaktor waren einige Wo chen verstrichen. Eva Keough hatte sofort die gefähr liche Stimmung erkannt, die sich an Bord auszubrei ten begann, und Arbeitserleichterungen angeordnet. Der Dienstplan wurde entschärft, und auf schwierige Sonderaufgaben wurde verzichtet. Julian Martino war weiterhin ans Bett gefesselt. Eine Zeitlang schien das Leben ganz normal zu verlaufen, und manchmal machte es sogar Spaß.
Dann schlich sich das Gefühl allmählich wieder ein. Das Gefühl von Angst. Ross spürte es jetzt am eigenen Leib. Er erschrak bei unerwarteten Geräuschen und fuhr zusammen, wenn ihn jemand unvermutet ansprach. Schon ein freundlicher Gruß konnte ihn aus der Ruhe bringen. Er wartete auf einen Knall, der niemals kam, und er wußte nicht einmal, warum er wartete. Die Musik von Mozart wurde leiser, und er hörte, wie sich von hinten feste Schritte näherten. »Du machst den Eindruck eines Menschen, der es sich gutgehen läßt«, sagte Tim. »Mehr, als du dir vorstellen kannst«, sagte Ross er leichtert. »Ich habe die Panoramabänder schon selbst be nutzt, aber diese besondere Szene noch nicht.« »Sie ist gar nicht so übel. Setz dich doch hin und laß dich von deiner Phantasie davontragen.« »Das klingt nicht schlecht.« Tims Tonfall war ab wesend und unpersönlich, und Ross fragte, ob es wohl Schwierigkeiten mit Martino gäbe. Tim vernein te. »Was ist dir dann über die Leber gelaufen?« forsch te Ross. »Sieht man's mir an? Ja? Nun ja, du hast recht. Es handelt sich um eine rätselhafte Angelegenheit, und
wenn du mich nicht danach gefragt hättest, hätte ich die Sache gar nicht erwähnt.« »Schon gut, kommt jetzt zur Sache«, lachte Ross. »Es ist ziemlich ernst. Als ich vor einer Weile Dr. Nystrom besuchen wollte, stand seine Tür einen Spalt breit auf; doch er selbst war nicht anwesend.« »Das ist doch nichts Besonderes«, sagte Ross, der sich an sein eigenes Erlebnis mit dem Kolibri erinner te. »In der Nähe der Tür konnte ich es riechen.« »Es? Was meinst du damit?« Ross wurde von dem Argwohn beschlichen, daß ihn Tim auf den Arm nehmen wollte. »Ich meine diesen seltsamen Geruch. Es roch un verkennbar nach –« Tim suchte das richtige Wort – »– nach Kiefernnadeln.« »Ist das alles?« »Nein, warte doch. Zuerst dachte ich, es käme von einem Luftverbesserer mit Kiefernnadelduft oder et was ähnlichem. Aber dann fiel mir ein, daß die IRV stark riechende Substanzen von allen Raumfahrzeu gen verbannt hat, weil die Lufterneuerungsanlagen diese Gerüche nicht verkraften. Vermutlich sind die Filtereinsätze zu empfindlich. Diese Anordnung gilt ohne Ausnahme.« »Hoffentlich«, bemerkte Ross. »Wenn das Belüf tungssystem versagt, können wir uns nicht mehr lan
ge am Leben halten. Vielleicht hat jemand ein Ra sierwasser geschmuggelt?« Tim dachte nach. »Ich glaube nicht, daß Dr. Ny strom es riskieren würde, mit so etwas geschnappt zu werden. Wenn Eva es entdecken würde, wäre es mit seiner Arbeit auf Boreas vorbei. Die IRV kennt da keinen Spaß. Sogar meine medizinischen Sprays sind auf besondere Weise neutralisiert, damit es keinen Ärger gibt.« »Wenn du meinst, daß ich – okay, wir wollen der Sache gleich mal nachgehen«, seufzte Ross. Er drehte an einem Schalter, und Meer und Sonne verschwanden von den Wänden. Einige Minuten später standen sie vor dem radio astronomischen Labor. »Genau hier war es«, sagte Tim fest. Ross amtete prüfend die Luft ein. »Ich rieche nichts Ungewöhnliches«, sagte er zu Tim. Ross war stolz auf seine empfindliche Nase. »Jedenfalls war es hier«, beharrte Tim. »Und es war so real wie die Tannen und Kiefern beim Zelten in den Rocky Mountains. Ich versichere dir, daß es keine Einbildung war.« Ross äußerte die Vermutung, daß die Luftreiniger diesen besonderen Geruch ausgeströmt hätten. Doch dann kam ihm eine andere Idee, und er überredete Tim, mit ihm in den Panoramaraum zurückzugehen.
Dort wählte Ross eine besondere Szene aus und legte das Band in das Projektionsgerät. Das kahle Weiß der Wände verwandelte sich in ein dunkles Grün. Von irgendwoher schien eine Brise zu kommen, die die Zweige leise bewegte. Sie befanden sich auf einer Waldlichtung. »Spürst du jetzt den Waldgeruch?« fragte Ross. Tim nickte versunken. Dann schreckte er hoch und schüttelte heftig den Kopf. »Ich merke jetzt, worauf du hinauswillst. Du meinst, ich hätte an Kiefernbäu me gedacht – und mir dann eingebildet, sie auch zu riechen?« »So ähnlich. Autosuggestion.« »Wahrscheinlich war es ziemlich dumm von mir, über die Sache zu reden«, sagte Tim leise und verle gen. »Tut mir leid, dich gestört zu haben.« Ross saß noch lange da, als Tim gegangen war, und dachte nach. Er bezweifelte die Erzählung seines Freundes nicht, so befremdlich sie auch klingen mochte, und seine Neugierde war stark genug, um ihn noch einmal vor Dr. Nystroms Labor zu führen. Abermals konnte er nichts Besonderes riechen. Der Ort war still und leer. Fast still. Ross konnte das Surren der elektronischen Geräte aus dem Raum des Radioastronomen hören, und er dachte, daß ein Besuch bei dem Wissenschaftler seinen Nachforschungen vielleicht dienlich sein könne.
»Wer ist da?« fragte Dr. Nystrom erschrocken, als Ross an die Tür klopfte. Als sich Ross zu erkennen gab, wurde er sofort eingelassen. »Ich hatte gefürch tet, es sei jemand anders«, entschuldigte sich Dr. Ny strom. »Ich freue mich jedenfalls, daß Sie hier sind. Es gibt etwas, das ich Ihnen zeigen wollte.« Ross folgte ihm durch sein phantastisches Reich aus Oszilloskopen und Verstärkern zu einem kleinen Apparat, der an der Wand befestigt war. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Kaffeemaschi ne. »Trinken Sie doch einen Kaffee, während ich den Käfig von Whit reinige.« »Whit? Ist das der Name Ihres Kolibris?« »Genau. Da Sie ihm schon einmal begegnet sind, kann ich die Vorstellungsformalitäten wegfallen las sen«, sagte Dr. Nystrom und machte sich an die Rei nigung des Gehäuses. Whit verfolgte die Prozedur mit Mißtrauen und umkreiste den Käfig mit wildem Flügelschlag, ehe er sich wieder hineinbequemte. »Jedesmal zieht er eine Schau ab«, sagte Dr. Ny strom. »Genau wie sein Namensvetter Walt Whit man, der Dichter. Obwohl das wahrscheinlich der einzige Charakterzug sein dürfte, den sie gemein ha ben.« »Er erinnert mich überhaupt nicht an irgendeinen Poeten, den ich kenne«, antwortete Ross, während er
dankbar den warmen Ballon mit Kaffee entgegen nahm. Die Luft im Labor war angenehm kühl, der Kaffee heiß, und für eine Weile vergaß Ross den ei gentlichen Grund seines Hierseins. »Tim möchte gern mit Ihnen sprechen«, erinnerte er sich plötzlich. Dr. Nystrom nickte. »Er ist schon seit Wochen hin ter mir her und will mich ärztlich untersuchen. Aber ich hatte einfach noch keine Zeit, seit ich die Nova im Sternbild Auriga entdeckt habe und beobachtete.« »Er hat es erwähnt.« »Hat er Ihnen auch erzählt, daß die Universität von Oxford bereit ist, mit mir die Beobachtungsdaten auszutauschen? Die Universität hat bei der IRV durchgesetzt, daß ein kleiner Relais-Satellit eigens zum Zweck der Datenübermittlung zwischen Boreas und Oxford in die Umlaufbahn geschickt wird. Ra dioastronomen aus aller Welt wollen sich an der Be obachtung beteiligen. Ist das nicht großartig?« Er überschlug sich förmlich vor Begeisterung und erging sich eine ganze Weile in den Einzelheiten des Projekts. Ross war jedoch nicht imstande, den Enthu siasmus Dr. Nystroms im vollen Umfang zu teilen. Was war denn schon Faszinierendes an einem Stern, der in vielen Lichtjahren Entfernung explodierte? Es betraf weder seine noch die Angelegenheiten der Er de. Was hatte diese Explosion beispielsweise mit dem
drohenden Ausbruch eines Krieges zwischen China und Australien zu tun? Ross fragte Dr. Nystrom da nach. »Ich gebe zu, daß es sehr wenig mit unseren Ange legenheiten zu tun hat«, erwiderte Dr. Nystrom nach einer Minute. »Aber einige Leute scheinen sich doch davon betroffen zu fühlen, wie ich heute erfahren mußte. Die Kommandantin Eva Keough hat mich zu überreden versucht, auf den Relais-Satelliten zu ver zichten.« Ross runzelte die Stirn. »Würde diese Maßnahme das Ende Ihres Projekts bedeuten?« »Eigentlich schon. Ohne den Übertragungssatelli ten fehlt mir der direkte Kontakt zur Bodenstation, der für diese Arbeit notwendig ist.« »Inwiefern sollte der Satellit denn stören?« »In keiner Weise, soweit ich es beurteilen kann. Aber sie beharrt darauf, daß sich die Umlaufbahn des Satelliten so verändern könnte, daß dadurch der ›Basketball‹ und seine Mannschaft gefährdet wür den.« »Das klingt ganz vernünftig.« »Es wäre vernünftig«, sagte Dr. Nystrom, »wenn der Weltraum nicht so riesig wäre. Die voraussichtli chen Umlaufbahnen sind mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt. Die Möglichkeit eines Zusam menstoßes ist unvorstellbar gering.«
Ross leerte seinen Kaffeeballon. »Warum bitten Sie nicht einfach die Internationale Raumverwaltung, den Bedenken der Kommandantin nachzugehen? So viel ich mich erinnern kann, ist die IRV für die Si cherheit sämtlicher Raumfahrzeuge verantwortlich.« »Ein Untersuchungsausschuß hat schon zu meinen Gunsten entschieden, aber sie versucht mich noch immer umzustimmen. Als ob die Sache nicht warten könnte. Sie will, daß der Satellit sofort aus dem Um lauf genommen wird.« »Hat sie denn aus Julian Martinos Unfall nicht ge lernt, daß man die Dinge nicht überstürzen soll?« wunderte sich Ross. Dr. Nystrom hob die Augenbrauen. »Sie behauptet, der Plutoniumstab wäre nur deshalb herausge schleudert worden, weil bei der letzten Reinigung des Reaktors etwas Kohlendioxyd zurückgeblieben sei – jedenfalls genug, um Julian Martino fast umzubrin gen. Vermutlich will sie darauf hinaus, daß auch die Experten Fehler machen und sie deshalb die Sache genauso gut selbst in die Hand nehmen kann.« »Lassen Sie den Satelliten entfernen?« Dr. Nystroms Antwort bestand in einem heftigen Kopfschütteln. »Warum sollte ich meine Arbeit noch einmal unterbrechen, nur, weil sie spinnt. Die IRV soll das Ganze für mich regeln.« Es beeindruckte Ross, daß Dr. Nystrom fest genug
an sich und seine Arbeit glaubte, um den Zorn eines Vorgesetzten zu riskieren. Und er fragte sich, ob er denselben Mut gehabt hätte, denn es dämmerte ihm, daß er bald gezwungen sein könnte, den Beweis da für anzutreten.
9
Das Monster wuchs. Seit fünf Nächten und sechs Ta gen hatten sie beobachtet, wie es willkürlich und un vorhersehbar Wirbel niedrigen oder hohen Luft drucks bildete, bis sich der Sturmbereich über fast zweitausend Kilometer erstreckte. Das Unwetter schöpfte seine Kraft aus den Strahlen der Winterson ne, und an seiner Peripherie tobten furchtbare Eisstürme. Sie beobachteten, photographierten, verma ßen und sondierten fast eine Woche lang, ehe sie die weitere Entwicklung überschauen konnten. Doch dann gab es keinen Zweifel mehr. Dieses Monster, dieser entsetzliche Orkan, war in seiner Ausdehnung zu riesenhaft und in seiner Kraft gewaltig, um sich auf das Gebiet der Arktik zu beschränken. Das Unge heuer würde sich nach Süden wenden. Ross betätigte die Hydraulik, und das Teleskop wurde mit einem öligen Zischen eingefahren. Er ent nahm dem Teleskop die belichteten Filmkassetten und wollte sie entwickeln, aber seine Gedanken wa ren noch beim Unwetter. Von seiner Beobachtungskuppel aus ließ sich der Sturm verhältnismäßig leicht lokalisieren. Er bildete einen grauen Fleck, der fast genau über dem Mittel punkt der nördlichen Erdhalbkugel lagerte. Doch
noch vor einem Monat hätten seine ungeübten Augen die verwaschenen Umrisse des Orkans nicht von der Umgebung zu unterscheiden vermocht. Er warf einen Blick auf den Zeitanzeiger. 31. De zember 1995, 00.01 Uhr. Die erste Minute des letzten Tages im Jahr. In vierundzwanzig Stunden würde man das Jahr 1996 schreiben. Ross lächelte. Das neue Jahr würde ihn nicht auf Boreas antreffen. Auf der Hauptstation sollte ein riesiges Neujahrs fest stattfinden, und er würde dabeisein. Tim hatte schon vor Wochen zwei Einladungen organisiert, und sie sahen dem Fest beide erwartungsvoll entgegen. Zum erstenmal seit zwei endlosen Monaten würden sie Boreas verlassen. Tim freute sich auf ein Wieder sehen mit Christine. Ross war froh, überhaupt neue Gesichter zu sehen, Menschen, die mit Boreas nichts zu tun hatten. Kabinenkoller, hatte es Tim einmal genannt. Das Ge fühl, in engen Räumen mit einer kleinen Anzahl Menschen zusammengesperrt zu sein. Nach einer Weile machen einen die Eintönigkeit und die Isolation fertig. Kabinenkoller. Ross hoffte, daß ein entspannter Aufenthalt in der Hauptstation ihn wieder ins Lot bringen würde. Das einzige, jedoch nicht unbeträchtliche Hindernis war das Transportproblem. Nach dem normalen Fahr plan verkehrte das Versorgungsschiff einmal in der
Woche, und die nächste Fahrt sollte in vier Tagen statt finden. In vier Tagen war das Fest schon Vergangen heit. Die Lösung, die sich aufdrängte, konnte nur darin bestehen, daß man den Fahrplan zwischen Boreas und der Hauptstation entsprechend abänderte. Doch die einzige Person, die dazu berechtigt war, weigerte sich. Ross gab die entwickelten Filme im Büro der Col berts ab und eilte zur Krankenstation hinüber, um Tim zu fragen, ob die Kommandantin ihre Meinung geändert habe. In den Korridoren war die Nachtbe leuchtung eingeschaltet, und Ross fragte sich, ob er zu dieser späten Stunde jemanden antreffen würde. Er hatte Glück. »Nur herein«, tönte Tim mit unheilschwangerer Stimme. »Der Doktor ist da.« Ross trat ein. »Sie verrichten Ihren Dienst aber zu seltsamen Tageszeiten, Herr Doktor.« »Genau wie du auch«, erwiderte Tim. »Ich habe ein wenig Inventur gemacht und dabei festgestellt, daß ein Karton mit Sauerstoffflaschen fehlt. Hilfst du mir im Zentrallager suchen?« Dabei machte Tim eine Kopfbewegung zu dem Vorhang hin, der quer durch die Krankenstation ge zogen war. Dahinter waren schwere, regelmäßige Atemzüge zu vernehmen. Ross verstand. Erleichtert folgte er Tim in einen großen Raum in der Nähe der Versorgungsdecks.
»Ich bin froh, daß du mich gleich verstanden hast«, sagte Tim. »Vielleicht haben die Wände auf Boreas keine Ohren, aber mein Patient hat sicherlich wel che.« »Du glaubst tatsächlich, daß dein Patient lauscht?« Tim nickte ernst. »Jetzt übertreibst du aber«, sagte Ross leichthin. »Wenn du so weitermachst, ist es kein Wunder, wenn du den Kabinenkoller kriegst.« »Ich leide noch nicht an Verfolgungswahn«, wehrte sich Tim. »Ich will aber auch niemand Gelegenheit geben, mich zu belauschen.« »Weißt du, daß du ganz verängstigt aussiehst?« fragte Ross, dessen Bestürzung wuchs. Zum ersten mal fiel ihm auf, daß der übliche optimistische Ge sichtsausdruck Tims einer gehetzten und abgespann ten Miene gewichen war. »Ich weiß«, gab Tim zu. »Das ist so, seit das Ver sorgungsschiff neulich von der Hauptstation zurück gekehrt ist.« »Du meinst seit letztem Donnerstag?« Tim nickte. »Du erinnerst dich doch sicher an Jonathan Hanks?« fuhr er fort. »Er hat auf der Hauptstation ei nen neuen Posten gefunden. Seine Aufgabe ist die Reparatur und Wartung der Medizincomputer, in denen auch die Lebensgeschichten der Patienten ge
speichert sind. Hanks hat die Gelegenheit wahrge nommen und sich die Informationen über Eva Ke ough und Julian Martino ausdrucken lassen.« Ross runzelte die Stirn. »Ist denn das nicht unge setzlich?« »Nein, es gibt kein entsprechendes Gesetz, da der Code sowieso nur dem Ärztestab bekannt ist. Hanks hat den Code herausgefunden. Als er die Informatio nen gelesen hatte, war er zu mitgenommen, um sie verwerten zu können. Statt dessen schrieb er mir ei nen Brief, der alle Einzelheiten enthält.« »Gallensteine und Blinddarmentzündung?« Tim warf ihm einen kalten Blick zu. »Wohl kaum. Nach den Informationslisten handelt es sich bei bei den um Militär-Offiziere der NATO, die in den spä ten achtziger Jahren ihre Ämter niedergelegt haben, um in die IRV einzutreten; denn nach den IRVBestimmungen können nur Zivilisten aufgenommen werden.« »Das klingt logisch«, antwortete Ross. »Der Wiener Vertrag verbietet militärische Tätigkeit im Weltraum, und deshalb traten sie zurück. Was ist daran proble matisch?« »Gerade das. Ein einfacher Rücktritt macht, wie Hanks herausgefunden hat, aus einem Militärange hörigen noch keinen Zivilisten. Er untersteht weiter hin der Militärbehörde.«
»Dann verletzen beide die IRV-Bestimmungen, in dem sie an Bord der Boreas arbeiten.« »Und niemand scheint sich darum zu kümmern«, fügte Tim hinzu. »Doch wir müssen jetzt die Sauer stoffbehälter finden.« Die beiden Männer mußten sich durch ein Laby rinth schmaler Durchgänge zwischen den Lagervor räten durcharbeiten. Die Stapel reichten bis zur Dek ke. Manchmal fanden sie ihren Weg von Vorräten blockiert, die erst kürzlich geliefert worden waren und noch nicht an ihrem endgültigen Platz standen. Ross fielen drei riesige eiserne Sauerstoffbehälter auf, die ihm den Weg versperrten. Jeder der Behälter war plombiert und mit einem strengen Hinweis bedruckt, daß er nur für das Ver sorgungsschiff verwendet werden dürfe. Die Behälter wogen schwer. Eine dünne Staubschicht bedeckte ih re Oberfläche. Schließlich stieß Tim auf die gesuchten Sauerstoff zylinder, die nichts anderes als Kleinausgaben der von Ross entdeckten Riesenbehälter waren. »Martino bekommt jetzt einige Minuten Sauer stoffbeatmung, dann können wir uns auf den Weg machen«, sagte Tim. »Auf den Weg machen? Willst du damit sagen –?« fragte Ross zögernd. »Auf den Weg zur Hauptstation«, triumphierte
Tim. »Die Kommandantin hat meinem Antrag auf Fahrplanänderung stattgegeben.« »Das ist ja kaum zu fassen. Wie hast du das ge schafft?« »Es ist nicht mein Verdienst?«, antwortete Tim. »Sie hat beschlossen, daß Martino auf der Hauptstati on bestrahlt werden solle – und auf einmal war eine Änderung des Fahrplans möglich.« Sie machten sich auf den Rückweg zur Krankensta tion. Martino war während ihrer Abwesenheit einge schlafen und schnarchte friedlich vor sich hin, als ihn Tim so leise wie möglich an das Sauerstoffgerät an schloß. Dann begann Tim, den Schreibtisch aufzu räumen. Plötzlich stutzte er. »Das ist aber seltsam«, stieß er hervor. In fliegender Hast wühlte er die Papiere und Ord ner durch. Dann legte er sie beiseite. Ein besorgter Ausdruck trat in sein Gesicht. »Er ist verschwunden«, flüsterte er. »Wovon sprichst du denn?« »Von Hanks' Brief. Er ist weg. Ich hatte ihn unter meine Buchmanuskripte gesteckt. Während wir die Sauerstoffzylinder geholt haben, muß jemand meine Papiere durchsucht und den Brief gestohlen haben.« Der Aufenthalt im Weltraum hatte für Ross bereits den Reiz der Neuigkeit verloren. Er und Tim zählten
die Stunden, bis das automatisch gesteuerte Versor gungsschiff an der Hauptstation anlegte. Einzig Juli an Martino schien die Reise zu genießen und blickte durch die Sichtluke interessiert nach den vorbeizie henden Sternen. Sein Gesundheitszustand schien sich erstaunlich gebessert zu haben. An der Anlegestelle der Hauptstation wartete schon Christine. Sie empfing Ross mit einem schnel len, herzlichen Händedruck und Tim mit einem end los dauernden Kuß. »Ich freue mich sehr, euch beide wiederzusehen«, sagte sie schließlich mit strahlenden Augen. »Das Fest hatte gerade begonnen – und ihr macht den Ein druck, als ob ihr ein Fest brauchen könntet.« »Ein glückliches neues Jahr«, wünschte Tim. »Aber im Augenblick bin ich eher hungrig. Die Restaurants werden doch nicht etwa während der Feiertage ge schlossen haben?« »Wahrscheinlich nicht. Ich kenne um die Ecke ein kleines Lokal.« »Bringen Sie uns hin«, sagte Ross. Es stellte sich heraus, daß »um die Ecke« einen Weg von fast einem Kilometer durch überfüllte Stra ßen und Korridore bedeutete. Das Lokal war in der Tat klein und vollgepfropft mit feiernden Piloten, Wartungspersonal, Wissenschaftlern, Funktionären und Verwaltungsangestellten der IRV. Tim seufzte.
»Es ist hier immer so voll«, versicherte Christine. Sie überreichte dem Geschäftsführer eine Karte. »Aber ich habe uns Plätze reservieren lassen.« Der Mann geleitete sie zu ihrem Tisch, und der Kellner nahm die Bestellungen entgegen. Alle Tische waren mit Trauben vorwiegend junger Leute umge ben, die in der grauweißen Uniform der IRV steckten. Die Touristen waren an ihrer bunten Kleidung zu er kennen. »Sieht ganz nach einem Jugendtreffen aus«, be merkte Ross und musterte die anderen Gäste. »Jeder, der Urlaub erhalten konnte, ist hierherge kommen«, erklärte Christine. »Und jeder, der sich die Flugkarte von der Erde leisten konnte.« Ross erkannte in der Menge ein bekanntes Gesicht und stand auf. »Ein glückliches neues Jahr, Dr. Ahn«, sagte er. »Oh, hallo, Ross!« Dr. Ahn verneigte sich leicht. Er erzählte Ross, daß er hier sei, um die Möglichkeit der Einrichtung einer kleinen Forschungsstelle für die U.S.-Luftflotte zu überprüfen. »Viel Verwaltungskram«, sagte Dr. Ahn. »Man gewöhnt sich mit der Zeit daran«, erwiderte Ross. »Die Bürokratie wird zu einem natürlichen Be standteil des Alltags.« »Wie wahr, wie wahr«, seufzte Dr. Ahn. »Aber hier oben kann man wenigstens den ganzen irdischen
Kummer vergessen und fröhlich feiern. Keiner, der hier ist, hat es eilig, auf die Erde zurückzukehren.« »Sprechen Sie jetzt von den Auseinandersetzungen zwischen China und Australien? Hat die UN die Streitigkeiten denn nicht beigelegt?« Dr. Ahn schüttelte den Kopf. »Die Verhandlungen sind abgebrochen worden. Keine der beiden Seiten zeigt Kompromißbereitschaft. Die Delegierten sind in ihre Länder zurückgekehrt.« »Das wußte ich noch nicht«, sagte Ross. Seit er sich im Raum aufhielt, hatten die Ereignisse auf der Erde für ihn mehr und mehr an Bedeutung verloren. Die Angelegenheiten der Boreas wurden davon nicht be troffen. Doch die Auseinandersetzungen zwischen den zwei stolzen und mächtigen Nationen konnten tiefergehende Auswirkungen zeitigen. »Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen?« fragte er Dr. Ahn. »Wie es weitergeht? Die Chinesen brauchen Raum für das hungernde Volk. Australien besitzt genug freies Land, aber es verweigert den Chinesen die Einwanderung. Beide Seiten sind an einem Scheide weg angelangt und können nicht mehr zurück. Krieg oder Nachgeben – und keiner von beiden wird nach geben. In einer Woche wird man weitersehen. In der Zwi schenzeit besteht kein Grund, Trübsal zu blasen. Es
gibt genug Arbeit, um uns munter zu halten. Im üb rigen wollte ich Dr. Nystrom meine Neujahrswün sche überbringen. Aber ich sehe gerade, daß es für mich Zeit wird, zu einer Konferenz zu eilen.« »Dr. Nystrom ist gar nicht hier«, sagte Ross. Dr. Ahn wühlte in seinen Taschen und brachte schließlich eine kleine Metallschachtel zum Vor schein, die mit schwarzen Plastikstreifen versiegelt war. »Das ist ein Neujahrsgeschenk für Dr. Ny strom«, erklärte er. »Es handelt sich um sechs neuar tige, hochempfindliche Infrarotfilme, mit denen sich entscheidende Aufnahmen von der Nova Aurigae her stellen lassen. Wissen Sie, wann er wieder zurück kommt?« »Zurückkommt?« fragte Ross verwundert. »Ja, denn ich würde ihm diese Filme gern selbst überreichen«, sagte der Wissenschaftler. »Ich verstehe nicht recht«, antwortete Ross. »Dr. Nystrom befindet sich an Bord der Boreas. Er ist dort geblieben, weil er seine Arbeit abschließen will.« Dr. Ahn atmete überrascht ein. »Aber das ist unmöglich!« »Ich weiß genau, daß an Bord des Versorgungs schiffes nur drei Personen waren: Julian Martino, Tim und ich. Ein anderes Schiff verkehrt nicht.« »Aber ich habe Dr. Nystrom doch vor zehn Minu ten vor diesem Restaurant gesehen!«
10
Eine kurze Weile standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber und betrachteten einander. Ross überdachte die letzte Bemerkung des zartwüch sigen Asiaten. »Ich weiß nicht, wie das möglich sein soll«, sagte Ross schließlich. »Sind Sie ganz sicher?« fragte der Wissenschaftler fast kleinlaut. »Hundertprozentig«, bestätigte Ross. »Es kommt nur eine begrenzte Anzahl von Schiffen in Frage, die über die Feiertage alle anderweitig gebraucht wer den. Wenn Dr. Nystrom nicht in unserem Schiff war – was ich genau weiß – dann muß er sich noch auf Bo reas befinden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Dr. Ahn erstarrte. Dann hellte sich seine Miene auf, als ob er etwas begriffen habe. »Sie haben natürlich recht«, sagte er hastig. »Wie dumm von mir, daß ich nicht gleich daraufgekommen bin. Ich muß mich ge irrt haben. Der Mann, den ich gesehen habe, war eben nicht Dr. Nystrom. Das ist die einzig vernünftige Er klärung, nicht wahr?« Ross stimmte zu, aber ein unklares Gefühl von Mißtrauen blieb in ihm zurück. Er hatte den leisen Verdacht, daß Dr. Ahn aus irgendwelchen unbekann
ten Gründen seinen Irrtum zu schnell zugegeben ha be. »Ach du meine Güte«, rief Dr. Ahn aus und schau te auf seine Armbanduhr. »Ich bin schon zu spät dran. Mr. Gurvitsch gehört nicht zu den Leuten, die man warten lassen sollte. Darf ich Ihnen den Film für Dr. Nystrom anvertrauen? Ich danke Ihnen sehr.« Im Nu war der kleine Asiate verschwunden, und Ross hielt die Metalldose in der Hand. Ein unbehagli ches Gefühl hatte ihn beschlichen; er wußte selbst nicht, warum. Er kämpfte sich wieder zu seinem Tisch zurück und beschloß, den Vorfall nicht zu erwähnen, da er ihm doch als zu unbedeutend erschien. Die neugieri gen Blicke von Christine und Tim beantwortete er mit einem Achselzucken. Doch die beiden ließen nicht locker. »Er brütet etwas aus«, sagte Tim zu Christine. »Woher willst du das wissen?« fragte sie. »Ich kenne ihn und weiß genau, daß es unter seiner ruhigen Oberfläche brodelt«, antwortete Tim. »Nun sag schon, Ross, was ist geschehen?« »Warum bist du so neugierig?« wehrte sich Ross. »Du siehst so verstört aus.« Tim betrachtete ihn prüfend. »Es ist nichts«, versicherte Ross. »Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Christine
zu Ross. »Tim ist so sehr mit seinen Kriminalromanen beschäftigt, daß er sich schon selbst für einen Detek tiv hält.« Ross mußte lächeln. »Also gut, du alter Sherlock Holmes, ich will dir's verraten. Dr. Ahn hat hier auf der Hauptstation jemanden gesehen, der ihn an Dr. Nystrom erinnert hat. Ich habe ihm lediglich mitge teilt, daß Dr. Nystrom im Augenblick bei seiner Ar beit auf Boreas ist. Das war alles.« Christine wollte etwas sagen, aber das Erscheinen des Kellners hinderte sie daran. Während der Mann die Platten, Teller, Schüsseln und Bestecke auf den Tisch stellte, fiel Ross die Warnung Dr. Nystroms ein, bei der Bestellung des synthetischen Essens vorsich tig zu sein. Doch schmeckten ihm die garnierten Krabben, die er bestellt hatte, ausgezeichnet. Er freute sich, Dr. Nystrom einen Tip geben zu können, der es diesem ermöglichte, von seinem ewigen Käseomelett loszukommen. Gleich nach dem Essen erhob sich Christine. »Ich muß mich umziehen«, sagte sie. »Bitte nicht«, bat Tim. »Du siehst in deinem weißen Mantel wunderbar aus.« »Mag sein«, erwiderte Christine, »aber der Ärztekit tel und die komischen weißen Schuhe passen nicht zu einem Fest. Ich komme mir darin altjüngferlich vor.«
»Du siehst wirklich wunderbar aus«, wiederholte Tim. »Aber wie du willst. Wir warten dort auf dich.« »Sperr deine Augen weit auf, sonst erkennst du mich nachher nicht.« Sie verschwand in Richtung des Eingangs. »Ich finde dich überall!« rief ihr Tim nach. Er seufz te. »Ist sie nicht eine Wucht?« fragte er Ross. »Umwerfend«, bestätigte Ross. »Du kannst glück lich sein.« »Sie ist das Schönste, das mir im Leben passiert ist.« »Wie hast du sie denn kennengelernt?« »Wir waren zwei Jahre lang am Lehrinstitut für Medizin in derselben Klasse.« Tims Stimme wurde weich. »Das waren zwei großartige Jahre. Sie war die mutigste von uns allen. Es gab nichts, das Christine Reney erschüttern konnte. Wenn wir in der Anatomie in den Kadavern wühlen mußten, war sie die einzige, die nicht grün im Gesicht wurde.« »Das klingt ja bezaubernd«, meinte Ross. »Entschuldige bitte. Ich war ganz in Gedanken. Nun, sie hat sich für die wissenschaftliche Laufbahn entschieden, während ich mich mehr der praktischen Arbeit zugewandt habe. Ich habe sie dann aus den Augen verloren, bis ich sie auf der Hauptstation wie dergesehen habe. Ich hatte schon fast vergessen, wie toll sie ist. So, wie es jetzt steht, vermisse ich sie jede Minute, in der sie nicht bei mir ist.«
»Auch im Moment?« Tim nickte ernst. »Aber im Moment trifft es sich gut, daß sie fort mußte. Während du mit Dr. Ahn gesprochen hast, habe ich einen Anruf von Jonathan Hanks erhalten. Er will mir etwas mitteilen.« »Will er dich allein sprechen?« »Nein. Ich habe ihm gesagt, daß du den Inhalt des Briefes kennst.« »Hast du auch Christine von dem Inhalt erzählt?« Tim schüttelte den Kopf. »Dann weiß sie auch von dem Diebstahl nichts?« »Nein. Ich vermeide das Thema, wenn sie dabei ist. Ich will nicht, daß sie mit hereingezogen wird. Wenn ich auch nicht genau weiß, was das Ganze zu bedeu ten hat, so bin ich doch sicher, daß es etwas zu bedeu ten hat – und zwar nichts Gutes. Die Kommandantin und Martino geben sich nicht mit Kleinigkeiten ab.« »Das ist mir auch klar. Aber vielleicht sind die Mo tive schlichter. Vielleicht wollen sie nur die Steuern hinterziehen.« Tim lachte, doch wurde er gleich wieder ernst. »Daran habe ich zuerst auch gedacht. Aber beden ke doch, welches Risiko sie dafür eingehen würden. Nach der Satzung der IRV wären sie ihre Stellung los, und ihr berufliches Ansehen würde darunter leiden. Ganz zu schweigen von den Auseinandersetzungen
zwischen der IRV und den Militärbehörden, die ein solcher Skandal hinter sich herziehen würde.« »Glaubst du wirklich, daß man so scharf vorgehen würde?« fragte Ross. »Natürlich liegt vieles im argen«, gab Tim zu. »Wahrscheinlich mehr, als wir wahrhaben wollen. Und deshalb möchte ich nicht, daß Christine darin verwickelt wird. Wenn ihr etwas zustößt, mache ich mir Vorwürfe. Nein, ich bin fest entschlossen, sie aus der ganzen Affäre herauszuhalten.« »Ein lobenswerter Vorsatz«, sagte eine tiefe Stimme hinter Ross. Erschrocken fuhr er herum. Jonathan Hanks war so lang und dünn, wie ihn Ross vor Monaten auf Boreas kennengelernt hatte. Seinen linken Arm trug er in einer festen, glatten Plastikröhre. Hank wandte sich an Tim: »Schlau von dir. Eine Verschwörung sollte so wenig Mitglieder wie mög lich haben.« Ross wurde bleich. Er war sicher, daß Hanks' Be merkung im ganzen Lokal zu hören war, denn wenn Hanks eines besaß, dann war es ein kräftiger, tragen der Baß. Doch einige verstohlene Blicke überzeugten Ross, daß niemand aufmerksam geworden war. Die Gäste hatten es wohl als Scherz aufgefaßt. Hanks ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Ein glückli ches neues Jahr«, wünschte er mit viel Herzlichkeit in der Stimme.
»Ebenfalls«, erwiderte Tim, wobei er Hanks' linken Arm betrachtete. »Wie ist das geschehen?« »Mein gestutzter Flügel? Ein Leitungsrohr ist dar auf gefallen.« »Ein schlechtes Jahr für linke Arme«, bemerkte Ross. Tim nickte. »Ach, nicht mehr als ein kleiner Kratzer«, wehrte Hanks ab. »Aber dem Arzt gefiel die Sache nicht, und er steckte mich für einen Tag ins Bett, um festzustel len, ob ich auch innere Verletzungen davongetragen habe. Ich hatte keine.« »Aber – du hast den Unfall gar nicht in deinem Brief erwähnt«, sagte Tim. »Wie gesagt, es ist nicht weiter schlimm.« Hanks zuckte mit den Achseln. »Etwas anderes hat meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. In meiner Station gab es einen Burschen, den die Ärzte mit ›Winters‹ anredeten. Mir war, als ob ich ihm schon einmal begegnet sei. Lange Zeit konnte ich ihn nir gends unterbringen. Dann fiel mir ein, daß er sich damals Thorton genannt hatte. Er hatte bei der Mon tage von Boreas als Elektronikspezialist gearbeitet. Das ist jetzt fünf Jahre her.« »Und was stimmt mit ihm nicht?« fragte Ross. »Nun«, fuhr Hanks fort, »ich verwickelte ihn in ein Gespräch. Er behauptete, auf ›Basketball‹ als LeckAbdichter zu arbeiten. Was hat ein hochqualifizierter
Elektronik-Spezialist auf dem alten ›Basketball‹ zu suchen? Er log mit jedem Wort. Und um das Maß voll zu machen, gab er eine Verbrennung, die eindeutig vom Mikroschweißen herrührte, als Sonnenbrand aus.« »Mikroschweißen dient doch zur Herstellung elek tronischer Teile«, wunderte sich Ross. »Eben!« rief Hanks. »Das hat noch nichts zu sagen«, wandte Tim ein. »Vielleicht hat er einen Fernsehempfänger für die Mannschaft zusammengebastelt.« »Das bezweifle ich. Derartige Ausrüstungsteile werden in einem einzigen Stück geliefert. Nein, Mi kroschweißen wird bei größeren Projekten ange wandt. Thorton hat auf dem ›Basketball‹ Monate ver bracht, wie ich seiner Akte entnehmen konnte.« »Ich blicke überhaupt noch nicht durch«, sagte Tim. »Ich sehe nur, daß eine Menge Leute lügen.« »Und die IRV kümmert sich in keiner Weise dar um«, ergänzte Ross. »Es scheint so«, bestätigte Hanks. »Was sollen wir tun?« »Was können wir denn tun?« fragte Tim. »Zu Gurvitsch gehen«, schlug Ross vor. »Er ist lei tender Direktor bei der IRV. Ich wette, es wird ihn in teressieren.« »Ich weiß nicht recht«, zögerte Hanks. »Wenn wir
uns geirrt haben und sich alles als rechtmäßig her ausstellt, kommen wir in Teufels Küche. Wir haben noch nicht genug Beweise.« »Man kann doch solche Informationen nicht ein fach für sich behalten«, ereiferte sich Ross. Sein Inter esse war jetzt angestachelt. Er fühlte, wie sein Gau men trocken wurde und sein Herz schneller schlug. »Auf die Dauer wird das auch nicht notwendig sein, Ross«, tröstete ihn Hanks. »Aber eine Weile müssen wir noch stillhalten. So, wie mein Arm aus sieht, ist mein Aufenthalt in der Hauptstation been det. Ich soll morgen das nächste Flugzeug nach Lon don nehmen.« »Das ändert alles«, sagte Tim enttäuscht. »Nicht alles«, widersprach Hanks. »Ich lasse euch meine Adresse zukommen. Und ihr beide haltet Au gen und Ohren offen, achtet auf Klatsch und Gerüch te und teilt mir alles Wesentliche mit. Ich werde dem nachgehen und der IRV schließlich einen ausführli chen Bericht unterbreiten.« Hanks schaute von einem zum andern. »Seid ihr damit einverstanden?« Es blieb ihnen nichts übrig, als zuzustimmen. »Aber werden unsere Informationen in ein oder zwei Monaten heiß genug sein, um die IRV zu einer Untersuchung zu veranlassen?« zweifelte Ross. »Glaubt mir«, versicherte Hanks, »wenn sich ir gend etwas Verdächtiges herausstellt, wird die IRV
handeln – und zwar schnell. Sie wird zwar bürokra tisch verwaltet, aber wenn die Beweise offensichtlich sind, wird sie reagieren.« Trotz seiner Zweifel mußte sich Ross eingestehen, daß Hanks' Plan die größte Aussicht auf Erfolg bot. Eine voreilige Aktion konnte sie alle drei in unvor hersehbare Gefahr bringen. Er begriff, daß sie in Zu kunft sehr auf der Hut sein mußten. »Ist jetzt alles geklärt?« fragte Tim ungeduldig. »Gut. Die Party beginnt gerade, und ich glaube, wir können etwas Abwechslung vertragen.« Es erhob sich kein Widerspruch, und sie begaben sich zum großen Saal, in dem das Fest bereits in vol lem Gang war. Aus dem überfüllten Raum schlugen ihnen Musik und Gelächter entgegen. Die Beleuch tung war mehr als nur gedämpft – sie war praktisch überhaupt nicht vorhanden. »Ich kann gar nichts sehen«, beschwerte sich Tim. »Ich auch nicht«, sagte Ross. »Aber das ist ja der Witz bei der Sache.« »Dann kämpft ab jetzt jeder für sich selbst.« Tim begann zum Takt der Musik zu klatschen. Die Stunden flogen vorbei. Ross zählte sie nicht. Un ermüdlich spielte die Band Stück für Stück, und Ross begann sich zu fragen, ob hier vielleicht Roboter spielten.
Der Gedanke erheiterte ihn, und er spürte die Wir kung des Neujahrspunsches und der Zigaretten. Ross war mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Er tanzte mit einer ungewöhnlich anziehenden jungen Frau, eine Stewardeß des Flugbootes. Ihr hautenges Trikot phosphoreszierte in leuchtendem Orange, und bei jeder Bewegung schien ein Schauer von Sternschnuppen über ihren Körper zu gleiten. Er hätte gern ihren Namen gewußt und wollte sie gera de danach fragen, als er eine Hand auf der Schulter spürte. Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der Stewardeß, und Ross fuhr herum. Da stand noch ein Mädchen. Ein grauer Samtanzug paßte zu ihren grauen Augen. Blondes Haar um rahmte das Gesicht. Plötzlich erinnerte sich Ross. »Christine!« rief er aus. »Sie sehen umwerfend aus!« Sie lächelte. »Ich freue mich, daß Ihnen mein An zug gefällt. Aber ich bin nicht hierhergekommen, um mich bewundern zu lassen. Tim und ich haben Sie überall gesucht.« »Ich war die ganze Zeit hier.« »Ich verstehe. Ich störe Sie wirklich ungern, aber ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.« »Kann das nicht warten?« »Leider nein. Tim hat vor etwa einer Stunde erfah ren, daß ihr beide auf Boreas zurückmüßt. Der Ur laub ist gestrichen.«
»Das darf nicht wahr sein! Es muß sich um einen Irrtum handeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist kein Irrtum. Der Befehl kam vor etwa einer Stunde. Wir standen gerade mit einigen Freunden um den Punsch herum, als Julian Martino auftauchte und Tim die Anweisung übergab.« Ross fühlte, wie heißer Zorn in ihm hochstieg. »Er war es also! Das ist typisch für ihn – er kann es nicht sehen, daß sich Menschen amüsieren. Er muß dazwi schenschlagen –« Christine hob die Hand. »Warten Sie noch!« Sie zog ihn in die Vorhalle, und in eine kurze Atempause der Musik fielen ihre Worte klar und ver ständlich. »Es war nicht Martino, der das Schiff zurückbeor dert hat, und auch nicht Eva Keough. Jemand anders hat den Anlaß dazu gegeben.« »Wer denn?« fragte Ross verwirrt. »Wer ist daran schuld?« »Dr. Nystrom.« Sie schwieg einen Moment. »Er hat um die Urlaubssperre gebeten und die Anweisung unterzeichnet. Wenn Sie so wollen, dann ist es seine Schuld.« Kurz darauf schloß sich die Luke der Versorgungs fähre hinter ihm. Zwanzig Minuten später befanden sich Martino, Tim und er im offenen Raum.
11
»Tot? Sind Sie sicher?« Ross' Frage schien den Raum zu füllen und sich in dem Labyrinth astronomischer Geräte zu verfangen. »Ganz sicher«, antwortete Dr. Nystrom leise. »Aber ... wie konnte das geschehen?« fragte Tim. Dr. Nystrom ließ eine Pause verstreichen, ehe er antwortete. »Ich habe wirklich keine Ahnung, warum der Re lais-Satellit plötzlich tot ist und keine Signale mehr aussendet. Eben hatte er noch eine ganze Fülle von Datenmaterial übermittelt, und im nächsten Augen blick herrschte totales Schweigen. Ich konnte nicht das geringste Signal mehr empfangen. Sogar die Trä gerwellen fielen aus.« »Könnte es nicht an einem ausgebrannten Transi stor oder etwas Ähnlichem liegen?« fragte Ross. Dr. Nystrom überreichte den beiden zwei Behälter mit Kaffee. »Daran habe ich anfangs auch gedacht – eine kleinere Störung. Aber der Satellit war in allen seinen Systemen parallel konstruiert, so daß die Re serveeinheiten die Aufgaben übernommen hätten. Auf jeden Fall ist, was auch immer die Ursache sein mag, der gesamte Mechanismus in Mitleidenschaft gezogen.
Dann drehte ich durch. Ich brauchte dieses Daten material unbedingt für meine Beobachtungsarbeit an der Nova. Ich ging zur Kommandantin und beantrag te, daß ich das Versorgungsschiff benutzen dürfte, um die Ursache der Störung selbst herauszufinden. Ich hatte nicht daran gedacht, daß euer Urlaub da durch unterbrochen würde. Ich bitte um Entschuldi gung.« Ross' Zorn verrauchte, als er Dr. Nystrom sagen hörte: ›Dann drehte ich durch‹. Er verstand die Reak tion des Astronomen. Wahrscheinlich hätte er sich in der gleichen Situation ähnlich verhalten. »Vergessen Sie's!« sagte er freundlich zu Dr. Ny strom. »Das einzige, was ich nicht verstehen kann, ist, daß Sie so eigensinnig darauf bestehen, mit dem Schiff al lein loszuziehen«, sagte Tim. »Ich weiß, das ist keine Sache für Amateure. Aber ich glaube, ich schaffe es allein. Die meisten Kontroll systeme arbeiten auf Computerbasis. In einem Notfall könnten vermutlich auch Sie mit dem Schiff umge hen.« »Ich würde es zumindest versuchen«, antwortete Tim. »Aber das meine ich ja gerade. Was wird aus Ih nen, wenn ein Notfall eintritt?« »Ich würde versuchen, damit fertigzuwerden«, schmunzelte Dr. Nystrom.
»Zwei Leute hätten mehr Chancen«, beharrte Tim. »Schon möglich. Aber ich möchte nicht die Ver antwortung für das Leben eines anderen überneh men. Alles in allem ist mein Vorschlag der einfachste. Und was soll das düstere Gerede von einem Notfall? Ich habe volles Vertrauen in die Ausrüstung.« »Der Satellit hat auch versagt«, gab Ross zu beden ken. »Nur deshalb, weil kein Mensch an Bord war«, entgegnete der Astronom. »Es war niemand da, der die Störung kommen sah und gleich in den Anfängen unterbinden konnte. Eine Maschine kann derartige Entscheidungen nicht treffen – aber ein Mensch kann es.« »Nein«, fuhr er fort, »sobald das Schiff aufgetankt und fahrbereit ist, werde ich meinen störrischen klei nen Satelliten persönlich aufsuchen.« »Da müssen Sie sich wahrscheinlich noch eine Wei le gedulden«, teilte ihm Ross mit. Er erklärte dem Astronomen, daß sie auf der Rückreise zu Boreas festgestellt hatten, daß der Sauerstoffvorrat in den großen Behältern einen gefährlich niedrigen Stand er reicht hatte. »Als das Schiff hier angelegt hat, war der Vorrat auf drei Stunden zusammengeschrumpf«, er zählte Ross. »Tim hat einen Antrag auf Installation neuer Tanks aus den Lagervorräten ausgefüllt.« »Danke«, sagte Dr. Nystrom, »damit haben Sie mir
sehr geholfen. Ich hoffe nur, daß diese neue Verzöge rung nicht allzu viele Stunden in Anspruch nimmt.« Die Kompliziertheit eines Raumfluges von einer Umlaufbahn zur anderen ließ dem Kurs, den Dr. Ny strom ausgearbeitet hatte, wenig Spielraum. Das Rendezvous mit dem Satelliten erforderte eine un glaubliche Koordination von Treibstoffverbrauch, Geschwindigkeit und Richtung. Der Umstand, daß der Satellit keine Signale mehr aussandte, erschwerte die Aktion zusätzlich. Dr. Nystrom würde auf Radar und ›blinde‹ Navigation angewiesen sein. Die ge schätzte Dauer des Ausflugs von Abflug bis zur Rückkehr zu Boreas betrug vierundsiebzig Stunden. »Jede Minute, die ich hier warten muß, fügt neue Komplikationen hinzu«, brummte Dr. Nystrom. Es war klar, daß er dem Flug mit nur schlecht verhohle ner Begeisterung entgegensah. »Ich will lieber mal nachsehen, warum es so lange mit den Vorbereitun gen dauert.« Mit diesen Worten packte er drei größe re Bündel und ging auf die Tür zu. Ross und Tim folgten ihm. »Sie sind immerhin drei Tage unterwegs«, bemerk te Ross. »In dem Bündel sind Socken und Unterwäsche, und in dem anderen wissenschaftliche Zeitschriften«, erklärte der Astronom. »Ich bin während der Arbeit mit der Nova kaum zum Lesen gekommen. In den
Mußestunden, die vor mir liegen, kann ich einiges wieder aufholen.« Sie standen jetzt vor dem Eingang zum Führer stand des Schiffes. Vom Heck des Schiffes hörte man Geräusche. »Sie arbeiten immer noch daran«, resignierte Dr. Nystrom. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so lange dauert.« Ross blickte auf seine Uhr. »Seit unserer Ankunft sind nicht mehr als anderthalb Stunden vergangen. Das Wartungspersonal weiß sicher darüber Bescheid, daß Sie es eilig haben.« »Sie haben wahrscheinlich recht, ich sollte nicht nörgeln. Zumal ich ja lang genug weg sein werde.« »Ich wundere mich, daß es Ihnen gelungen ist, das Schiff für so lange Zeit zu ergattern«, sagte Tim. »Ich glaube nicht, daß es den Dienstplan allzu sehr durcheinander bringt«, erwiderte Dr. Nystrom. Er schien auf die Arbeitsgeräusche aus dem Schiffsin nern zu lauschen. »Ich meine, es ist erstaunlich, daß Eva Keough oh ne weiteres die Erlaubnis erteilt hat, Ihnen das Schiff ganz allein zu überlassen.« »Ich mußte sie gar nicht groß überreden«, sagte Dr. Nystrom. »Als ich sie darum bat, stimmte sie sofort zu.« »Und Sie finden das nicht höchst erstaunlich?«
»Nein, was sollte daran erstaunlich sein?« Tim schwieg einen Augenblick. Dann sagte er langsam: »Es scheint mir seltsam, daß sie ausgerech net auf Ihre Wünsche so schnell eingeht. Wie Sie wis sen, sind Sie beide nicht gerade die dicksten Freun de.« »Sehr richtig«, antwortete Dr. Nystrom. »Jedenfalls steht die Tatsache fest, daß sie die Rückkehr des Ver sorgungsschiffes befohlen hat.« »Das haben wir gemerkt. Vielleicht hat sie sich Ih rem Standpunkt angenähert. Das wäre mal eine nette Abwechslung.« »Weiß Gott. Aber irgendwie kann ich nicht so recht daran glauben, Tim. Wahrscheinlich hatte sie nur die Möglichkeit im Auge, mich für einige Tage vom Leib zu haben.« »Das ist bedauerlich«, sagte Ross. »Ich kenne die Kommandantin nun schon seit eini ger Zeit«, fuhr Dr. Nystrom gleichmütig fort, »und ich verstehe ihre Motive inzwischen etwas besser. Als ich ihr Büro betrat, schien sie über einem Problem zu grübeln. Zweifellos wollte sie ungestört nackdenken und sagte deshalb zu allem ja und amen. Dann schob sie mich hastig hinaus und schloß hinter mir fest die Tür.« Ross spürte die Enttäuschung, die in der Stimme Tims mitschwang, als er sagte: »Und ich hatte schon
gehofft, sie sei auf dem Weg, die Meinungsverschie denheiten zwischen Ihnen und ihr beizulegen. Boreas könnte nach all diesen Monaten der Anspannung et was Harmonie und Frieden gut gebrauchen.« »Es wäre eine großzügige Geste gewesen«, stimmte Dr. Nystrom zu, »wenn nicht etwas anderes hinter ih rer Großzügigkeit gesteckt hätte. Aber vielleicht schaffte meine Abwesenheit tatsächlich eine ent spanntere Atmosphäre, in der Sie Ihre Meinungsver schiedenheiten mit ihr regeln können.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Tim zweifelnd. Dr. Nystrom grinste Tim ermutigend zu. »Ich weiß, daß Sie und die Kommandantin nie ein Herz und ei ne Seele werden können – aber einen Schritt in dieser Richtung sollten Sie unbedingt versuchen. Die feind selige Stimmung an Bord würde sich etwas beruhi gen, und Sie haben selbst gesagt, daß das erfreulich wäre.« »Ja, das habe ich gesagt – aber es müßte schon ein Wunder geschehen, um aus Boreas ein angenehmes Plätzchen zu machen. Ich habe das Gefühl, daß die jetzigen Zustände der Kommandantin in den Kram passen. Sie gibt sich keine große Mühe, das Betriebs klima zu ändern.« Dr. Nystrom nickte. »Vielleicht ist es nur ein Wunschdenken von mir«, räumte er ein. »Doch ich habe das Gefühl, daß sie in
Wirklichkeit ein anständiger Mensch ist. Aber etwas, das sie tief in sich verborgen hält, hat sie zu ihrer jet zigen Haltung gebracht. Wenn man zu ihrem Kern vordringen könnte –« Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Dr. Nystrom schaute von Ross zu Tim. »Vielleicht haben Sie recht, und ich mache mir Illusionen. Aber es ist einen Versuch wert. Wie schade wäre es doch, wenn man die passende Gelegenheit versäumen würde.« Inzwischen hatten die Arbeitsgeräusche aus dem Schiffsinnern aufgehört, und eine Sekunde danach verkündete der Lautsprecher, daß das Schiff für seine lange Schleife um die Erde bereit sei. »Ich will mir Ihren Vorschlag überlegen«, ver sprach Tim. »Tun Sie das«, rief Dr. Nystrom zurück. Er hastete mit seinen Gepäckstücken über den Landungssteg. Ross hörte, wie sich die Luke öffnete, als ihm ein Ge danke siedend heiß durch den Kopf schoß. »Heh!«, rief er über das Landungsdeck. »Was soll inzwischen aus Whit werden?« Im Trubel der Ereignisse hatte niemand an Dr. Ny stroms kleinen Liebling gedacht. Vom Ende des Stegs kam ein Kichern. »Keine Sorge, Ross. Wissen Sie, ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn hier allein zurückzulassen. Whit begleitet mich.«
»Wo ist er denn?« »Hier.« Noch ehe sich die Luke schloß, sah Ross unter dem zurückgeschlagenen Tuch des dritten Ge päckstücks einen Käfig, aus dem ein winziger Vogel in das Innere des Schiffes schoß. »Sehen Sie, Ihre Sor gen sind überflüssig. Ich reise nicht allein.«
12
Als Ross am nächsten Morgen erwachte, war er kaum imstande, sich zu bewegen. Sechs Stunden zuvor war er vom Surren der Klimaanlage über seinem Bett ein geschlafen. Jetzt dröhnte es in seinen Ohren wie der Niagarafall. Seine Gelenke schmerzten, und in seinem Bauch rumpelte es bedrohlich, als er sich hinzusetzen versuchte. Nachdem er sich lustlos angekleidet hatte, begab er sich automatisch auf den Weg zur Früh stücksküche. Als er die Kombüse betrat, traf ihn der Geruch nach Essen wie ein Keulenschlag. Sein Magen drohte sich umzudrehen, und seine Innereien zuckten. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Ross suchte schleunigst in der Krankenstation Zu flucht. Zum Glück war Tim anwesend. Er warf einen Blick auf Ross und steckte ihm ein Thermometer unter die Zunge. Eine Sekunde später las er die Temperatur ab. »Genau vierzig Grad«, sagte Tim. Er verglich die Krankheitssymptome mit einer Liste. Schließlich beugte er sich in seinem Stuhl vor und stemmte die Ellbogen auf die glänzende Schreibtischplatte. »Intestinalinfluenzvirus«, sagte Tim. »Auch Darm grippe genannt.«
Das wird es wohl sein, dachte Ross, während er die Versuche seines Inneren fühlte, mit sich selbst ins rei ne zu kommen. »Hab ich noch nie gehabt. Ist es schlimm?« »Das kommt darauf an. Hast du irgend etwas ge gessen?« Ross schüttelte voll Abscheu den Kopf. »Das vereinfacht die Heilung«, meinte Tim. Er ent nahm dem kleinen, aber hochwirksamen Arzneivor rat eine durchsichtige Plastikflasche, die zur Hälfte mit riesigen weißen Pillen gefüllt war. »Nimm eine sofort, und in einer Stunde eine weitere.« Ross zögerte; dann spülte er die Pille hinunter. Sein Magen reagierte mit wilden Zuckungen, bis schließ lich der gewünschte beruhigende Effekt eintrat. »Jetzt geht es besser, danke«, sagte er. Der Schmerz begann sich aus seinem Körper zurückzuziehen. »Du hast diesen speziellen Virus vermutlich auf der Hauptstation aufgeschnappt«, meinte Tim. »Es kommen so viele Besucher von der Erde. Zum Glück ist die Krankheit erst nach unserer Reise ausgebro chen und nicht während –« Ross verbannte diesen Gedanken aus seinem Kopf. »Wie geht's jetzt weiter?« fragte er mit krächzender Stimme. »Du wirst für vierundzwanzig Stunden aus dem Dienstplan genommen, damit du nicht überall he
rumstreichst und alle ansteckst. Du gehst jetzt erst mal ins Bett. Wenn ich meine Runde gemacht habe, werde ich nach dir sehen.« »Deine Runde? Hat noch jemand Grippe?« »Noch niemand«, antwortete Tim. »Ich muß Julian Martino seine Injektionen verabreichen, um die Strah lenvergiftung aufzuhalten, die er bei dem Unfall erlit ten hat. Wenn sich die Kommandantin doch nur überzeugen ließe, daß er in die Klinik der Hauptstati on gehört!« »Warum ordnest du nicht einfach seine Überfüh rung an?« Tim schüttelte resigniert den Kopf. »Er möchte selbst hierbleiben. Er und Eva Keough – das ist zu viel Widerstand. Julian Martino kann nirgendwohin verlegt werden.« Ross verbrachte den Morgen und den Nachmittag in einem unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder hochschreckte, um eine der weißen Pillen zu nehmen. Die Zeit schien elastisch zu sein; mal dehnten sich die Minuten, mal rasten die Stunden vorbei. Nur undeutlich kam ihm zu Bewußtsein, daß au ßerhalb seiner Klause der Arbeitsalltag seinen Lauf nahm. Die Geräusche sagten ihm nichts. Boreas war für ihn nicht mehr als ein ferner Traum, den er ein mal gewußt und dann wieder vergessen hatte. Ein
heißer tropischer Wind schien ihn zu wiegen, und er schlief wieder ein. Hände packten seine Schultern und schüttelten ihn. Nicht gerade derb, aber auch nicht unbedingt zart, wie sein erwachendes Bewußtsein registrierte. Die Hände griffen zweckgerichtet zu. Welchen Zweck mochten sie wohl verfolgen? Den Zweck, einen aufzuwecken, kam die Antwort aus einem anderen Teil seines Gehirns. Man will mich aufwecken. Ross öffnete die Augen und blinzelte in die Hellig keit. Die Hände hörten auf, ihn zu schütteln, und er vernahm das Gemurmel vieler Stimmen. »Ross!« hörte er jemand sagen. »Ross!« Die Stimme schwamm davon. »Er antwortet nicht«, sagte eine andere Stimme. »Die Wirkung der Pillen müßte jetzt vorbei sein«, antwortete die erste Stimme. »Ross! Wach doch auf!« Das verschwommene Bild vor seinen Augen ge wann allmählich Gestalt. »Tim, was soll die ganze Aufregung?« fragte Ross mit erstaunlich klarer und fester Stimme. »Was ist los?« Das Geschnatter vieler Stimmen antwortete ihm. Ross setzte sich aufrecht hin. Der Raum war voll mit Menschen. Neben ihm stand natürlich Tim. Die Col berts betrachteten ihn mit einem besorgten Ausdruck.
Nahe der Tür erblickte er eine Gestalt in einer schwarzen Uniform. Es war die Kommandantin Eva Keough. »Ross, kannst du mich deutlich verstehen?« Tim beugte sich über ihn. »Natürlich«, erwiderte Ross etwas beleidigt. »Oder glaubst du vielleicht, ich sei taub?« »Die Medizin, die ich dir verschrieben habe, ist verdammt stark. Ich dachte, du seist noch erschöpft.« »Nur ein bißchen schläfrig. Ich fühle mich jetzt wieder gut«, antwortete Ross. Er deutete auf die Ver sammlung. »Halten hier alle Krankenwache an mei nem Bett?« »Es gibt natürlich einen Grund für die Zusammen kunft. Du kannst mir glauben, daß ich dich nicht vor zeitig geweckt hätte, wenn der Grund nicht sehr trif tig wäre.« Tim trat beiseite und machte Eva Keough Platz. »Glauben Sie, daß Sie bald wieder auf den Beinen sind, Mr. Moran?« fragte sie freundlich. »Geben Sie mir eine Minute Zeit, um mich anzu ziehen«, sagte Ross. »Ausgezeichnet. Ich hatte es gehofft.« Die Art und Weise, in der sie ihre Sätze betonte, verlieh ihnen etwas Geheimnisvolles. Ross fühlte sich veranlaßt zu fragen, was denn schiefgegangen sei. »Hier ist soweit alles in Ordnung. Auf der Erde
sieht es jedoch ganz anders aus. Eines der Passagier flugboote mußte im Arktischen Ozean nördlich von Kanada notlanden.« »Hat jemand überlebt?« »Das weiß niemand. Der Kontakt mit dem Flug boot ist seit dem Moment unterbrochen, als es in die Atmosphäre eintrat und seine Triebwerke explodier ten. Das Schiff ist vermutlich in der Nähe von Meig hen Island aufgeschlagen.« Der Arktische Ozean nördlich von Kanada. In Ross tauchte eine Erinnerung auf. »Der Sturm«, sagte er. »Hat sich nicht ein Sturm in der Arktis gebildet? Ich erinnere mich, Aufnahmen des Tiefdruckgebiets gemacht zu haben.« Joel Colbert ergriff das Wort. Er gab eine detaillier te und lebendige Schilderung des Orkans, der in bei ßender Kälte die Eiskristalle wie Geschosse vor sich herjagte. Es war das erschreckende Bild einer rück sichtslosen, grausamen Natur, in deren eisigem Griff alles Leben in kurzer Zeit erlöschen mußte. »Ausgerechnet dort sind sie hineingeraten?« fragte Ross erschrocken. »Ja, mitten in den Orkan«, bestätigte die Komman dantin. »Man hat zwar einen Rettungstrupp auf die Beine gebracht, aber da der genaue Ort der Bruchlan dung nicht bekannt ist, können die Retter nicht wir kungsvoll eingesetzt werden. Wir haben nur eine
grobe Schätzung, wo das Schiff niedergegangen sein könnte.« »Wir?« »Die IRV hat Boreas die Aufgabe übertragen, das Schiff zu finden«, erklärte Myra Colbert. »Joel und ich haben die ersten Sondierungen schon vorgenommen, aber zwei Leute werden damit nicht fertig.« »Und ich soll dabei helfen?« fragte Ross. »Das ist der Zweck unserer Versammlung«, bestä tigte Eva Keough. »Es handelt sich um eine Bitte und nicht um einen Befehl.« »In Ordnung«, sagte Ross ohne Zögern. »Wann kann er losgehen?« »Sobald Sie in der Beobachtungskuppel sind und die Kameras einschalten, Mr. Moran.« Acht Tage danach wuchs das Monster immer noch. Mit furchtbarer Kraft dehnte es sich nach Süden und Osten aus. Entfernungen bedeuteten nichts für den Sturm. Seine Eiswinde griffen über den Arktischen Ozean wie die Beine eines riesenhaften Lebewesens und wühlten die Oberfläche auf. Ein arktischer Alp traum, dachte Ross. Und irgendwo in dieser weißen Eishölle lag ein kleines, unbedeutendes Fetzchen Metall. Irgendwo. Zahllose Stunden der Suche hatten es noch nicht ermitteln können, obwohl die Aktion jetzt
aufs äußerste intensiviert worden war. Der Sturm hatte seine Gefangenen gut versteckt. Wenn es überhaupt Gefangene gab, dachte Ross. Wenn er das Wüten des Orkans verfolgte, so kamen ihm daran berechtigte Zweifel. Es war außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft, daß irgendein Le bewesen die unaufhörlichen Angriffe tobender Eis massen ohne besonderen Schutz über längere Zeit aushalten konnte. Der zerborstene Schiffsmantel konnte diesen Schutz kaum bieten. »Etwas Neues?« fragte Myra Colbert über das In tercom. »Nichts«, antwortete Ross, nachdem er die Ergeb nisse der letzten zwei Stunden noch einmal durchge sehen hatte. »Noch kein Nachlassen des Unwetters im Gebiet vor Meighen Island. Es sieht sogar schlech ter aus denn je. Ich frage mich, wie ein Bodentrupp da durchkommen soll.« »Die Windgeschwindigkeit beträgt in dieser Ge gend einhundertsechzig Kilometer pro Stunde«, sagte Myra Colbert nach einer Pause. »Diesen Stürmen kann kein Flugzeug trotzen.« In seinem Innern stimmte Ross zu, und die schmerzliche Erinnerung an einen anderen Flug in einen anderen Sturm stieg in ihm hoch. Es sind schon genug Menschen umgekommen, dachte er. Warum sollen es noch mehr werden?
»Ja, es muß ein Oberflächensuchtrupp ausgesandt werden«, sagte Ross. »Aber sie werden es schwer ha ben in den Eisfeldern, die der Wind vor sich hertreibt. Sie sollten diesen Rat zur Erde durchgeben.« »Das ist ein guter Vorschlag, aber ich bin nicht die jenige, die mit der Erde Verbindung hält. Eva Keough hat Anweisung gegeben, daß alle Beobachtungen über ihr Büro zur Erde gehen sollen.« »Das scheint mir einen Zeitverlust zu bedeuten.« Myra Colbert war geduldig. »Da kann man gar nichts machen. Die Kommandantin hat sehr ener gisch darauf bestanden. Sie will die erste sein, die von einem Erfolg erfährt.« »Sie sollte das Ganze nicht so verzögern. Der Sturm ist in den letzten Stunden schlimmer geworden. Ich habe alles Menschenmögliche versucht, um die Erd oberfläche sichtbar zu machen, aber diese Wolkenschichten sind für jedes Instrument undurchdring lich.« Ross schwieg eine Weile. »Es ist hoffnungslos. Ich kann nicht ein einziges Detail erkennen. Vielleicht in ein oder zwei Tagen, wenn sich der Sturm etwas gelegt hat –« »Dann gibt es keine Überlebenden mehr«, sagte Myra Colbert. »Ich weiß, aber was kann man denn noch tun? Die se Sturmwolken lagern über dem Arktischen Ozean
wie eine richtige Mauer. Ich gebe Niederlagen nicht gern zu, aber in diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig.« »Haben Sie wirklich alles versucht? Wie steht es mit den Infrarot-Kameras?« drängte Joel Colbert. »Ich habe gleich am Anfang Infrarotaufnahmen gemacht. Dieses Verfahren eignet sich jedoch nur zur Feststellung größerer Warmlufteinbrüche. Ein Körper von der Größe des Flugbootes hinterläßt auf dem Film keine Spuren.« Joel Colbert schwieg lange. Dann kam seine Stim me müde und resigniert aus dem Lautsprecher. »Wenn es so ist, muß ich Ihnen zustimmen. Ich werde die Kommandantin sofort unterrichten.« Wie zu erwarten, war die Kommandantin nicht ge rade erfreut. Sie nahm die Meldung mit Befremden entgegen und überschüttete Ross und die Colberts mit einer Menge Fragen, als ob sie diese für das Un wetter persönlich verantwortlich machen wollte. Ross zügelte sein Temperament und erläuterte seinen Ent schluß noch einmal. »In Ordnung«, sagte die Kommandantin, als er fer tig war. »Ich sehe, daß es im Moment sinnlos ist, mit den Beobachtungen fortzufahren. Ich werde es mei nen Vorgesetzten auf der Erde durchgeben. Sie drei sollten sich jetzt ausruhen, denn in acht Stunden wird die Suche wieder aufgenommen.«
Ross atmete auf. Er fühlte sich völlig zerschlagen und wußte, daß er kurz vor einem Zusammenbruch stand. Im Augenblick brauchte er Schlaf mehr als al les andere. Müde hob er die Hand, um das Intercom auszuschalten. Da drang noch einmal die Stimme Eva Keoughs aus dem Lautsprecher. »Mr. Moran, Ihre Station ver fügt über die modernste Fotoausrüstung. Sollte der Fall eintreten, daß irgendeine weniger gut ausgerü stete Mannschaft das Flugboot lokalisiert, dann wird man mir einige peinliche Fragen über die Qualifikati on meiner Leute stellen. Beten Sie, daß dieser Fall nicht eintritt.« Mit dieser Warnung schaltete sich das Intercom aus. Ross schleppte sich in seine Kabine und warf sich auf sein Lager. Sein Körper verlangte nach Schlaf, aber seine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kom men. War es richtig gewesen, die Suche abzubrechen, während es noch Überlebende geben konnte? Hatte er alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Hatte er nichts übersehen? Irgend etwas störte ihn und wollte in seiner Erin nerung Gestalt annehmen. Ross versuchte sich zu konzentrieren. Da war doch noch etwas ... Plötzlich sprang er auf und lief zu seiner Jacke, die er achtlos über einen Stuhl geworfen hatte. Er griff in
die Tasche, und seine Finger schlossen sich um einen kleinen Metallbehälter – Dr. Ahns Geschenk an Dr. Nystrom. Der Film! Sein Gehirn lief jetzt auf Hochtouren, als er sich an die Worte des asiatischen Wissenschaftlers erinnerte: Sechs neuartige, hochempfindliche Infrarotfilme. Ross rannte zur Beobachtungskuppel und lud die Filme einen nach dem andern in die Infrarot-Kamera, die er mit Hilfe des Suchers auf das Gebiet vor Meig hen Island richtete. Der Blick durch den Sucher zeigte nichts als graue Wolkenbänke, doch der Infrarotfilm würde die Gegend auf seine spezielle Weise sichtbar machen – nicht durch die Aufzeichnung von Hellund Dunkeltönen, sondern durch Ablichtung von Wärme und Kälte. Er schaltete die Kamera ein. Man hörte es sechsmal in schneller Reihenfolge klicken, dann war der Satz komplett. Die Negative wurden ausgeworfen, Ross steckte sie in den Behälter und eilte zum Entwicklungsraum, denn er wollte die se wichtigen Filme von Hand entwickeln. In wenigen Minuten war es soweit. Ross legte die entwickelten feuchten Negative auf eine von unten beleuchtete Glasplatte. Ein Vergrößerer machte jedes Detail sichtbar. Die Negative boten einen befremdlichen Anblick. Schlieren von Gold und Scharlachrot bildeten die
Luftströmungen unterschiedlicher Temperatur ab. Der kalte Fels von Meighen Island war als anthrazit farbener Fleck zu erkennen. Ross sah, daß Dr. Ahn nicht zu viel über die Qualität der Filme erzählt hatte. Es grenzte an Zauberei. Das Unwetter schien durch sichtig wie Glas geworden zu sein, und die Oberflä che der Erde zeigte sich in allen Einzelheiten. Der erste und zweite Film zeigten nichts Interessan tes. Ross wollte den dritten gerade zur Seite legen, als ihm ein gelber Punkt am Bildrand auffiel. Er betrachte te den Punkt nochmals durch einen Vergrößerer. Die Form war unverkennbar: ein Projektil mit Stummelflügeln, das auf einer Seite verbogen und aufgerissen war. Den ovalen Fleck, der die Spindel umgab, deutete Ross als Schmelzwasser. Das dunkle Gelb des Flugbootes bewies eindeutig, daß von dem Wrack noch Wärme ausgestrahlt wurde. Die Chan cen, Überlebende zu finden, waren gestiegen ... Aufgeregt schaltete Ross das Intercom ein. Aus dem Büro der Kommandantin kam keine Antwort. Dann versuchte er es mit dem Raum des Assistenten – ebenfalls erfolglos. Ross nahm die Negative an sich und rannte hinaus. In den Korridoren herrschte Schweigen. Die trübe Nachtbeleuchtung gab ein dü steres Licht. Ross fühlte, wie sich eine große Leere in ihm aus breitete. Schliefen denn alle auf Boreas? Er schlug die
Richtung zur zentralen Funkstation ein und hoffte, dort auf einen Menschen zu treffen. Die Tür zur Zentrale war zu, aber nicht verschlos sen. Ross trat ein und fand den Raum leer. Ein Fern schreiber klapperte vor sich hin. Ross griff nach einem Mikrophon und drückte auf den Sendeknopf. Während er wartete, kam ihm undeutlich zu Be wußtsein, daß er sich mit seinem Verhalten über Au torität und Rangfolge hinwegsetzte. Sekunden später hörte er die sachliche Meldung einer Bodenstation. »Nordamerikanische Luftrettungsdivision. Bitte kommen, Boreas!« Ross gab seinen Namen und den Längen- und Brei tengrad des Wracks durch. »Halt!« sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. »Spricht dort nicht die Kommandantin Keough?« »Nein«, antwortete Ross müde. »Ich bin einer der Meteorologen. Genügt das?« »Gewiß. Bitte geben Sie noch einmal die Koordina ten der Wrackposition durch.« Ross hörte am anderen Ende mehrere Stimmen durcheinanderreden, dann meldete sich der Sprecher wieder. »Das ist ja schreck lich. Sobald der Sturm nachgelassen hat, schicken wir ein Such- und Rettungsflugzeug aus.« »Sie können nicht so lang warten«, drängte Ross. »Die Überlebenden müssen sofort geborgen werden.«
»Wir verstehen Ihre Gefühle, Mr. Moran. Aber es existiert tatsächlich kein Flugzeug, das bei diesem Sturm sicher landen und starten kann. Mit einer wei teren Bruchlandung wäre niemandem gedient. Nein, wir sind leider gezwungen abzuwarten.« Ross ließ die Negative enttäuscht auf den Tisch fal len. Bittere Resignation stieg in ihm hoch. Die Reakti on der Bodenstation machte seine ganze Arbeit sinn los. Bis das Rettungsflugzeug starten konnte, würden alle Überlebenden tot sein. Er schleppte sich in seinen Raum zurück und fiel sofort in den Schlaf der Erschöpfung.
13
Ross war der Held des Tages. Es traf ihn am nächsten Morgen völlig überraschend, nachdem alles wie sonst begonnen hatte. Nach einem von ihm als völlig ungenügend emp fundenen Schlaf, schwankte er ungewaschen und un rasiert zur Küche. Er brauchte im Moment nichts mehr als eine Tasse heißen Kaffees. Verschwommen sah er eine große Gestalt in einem weißen Mantel auf sich zueilen, die ihm schon von weitem irgend etwas zurief. Es war Tim. »Ich habe gerade davon erfahren«, erzählte er auf geregt. »Das war eine große Leistung. Wirklich groß artig.« Ross starrte ihn verblüfft an. »Ich rede davon, daß du das Wrack gefunden hast, Mann!« begeisterte sich Tim und schlug Ross auf den Rücken. »Alle Welt spricht darüber und nennt dich ein richtiges Genie. Ich lade dich zu einem Drink ein. Komm!« »Kaffee?« »Zu allem, was du willst.« Ein kleines Empfangskomitee erwartete ihn. Die Colberts erhoben sich bei seinem Eintritt und klatsch ten. Ross war verstört.
»Machen Sie doch nicht so ein Gesicht!« rief ihm Myra Colbert zu. »Sie sind jetzt berühmt und müssen sich dreinfügen. Nur keine falsche Bescheidenheit!« »Moment mal«, sagte Ross. »Bevor man mich als Helden feiert, sollte man sich darauf besinnen, daß ich nichts weiter getan habe, als diese Bilder aufzu nehmen. Und es war noch nicht einmal mein eigener Film. Vielmehr hat mir jemand –« »Das spielt alles überhaupt keine Rolle, Ross. Sie waren derjenige, der das Schiff gefunden hat, und das allein zählt. Sie haben weitergemacht, als die anderen schon aufgegeben hatten und die Verunglückten ih rem Schicksal überlassen wollten.« Ein Gefühl der Verlegenheit breitete sich in Ross aus, als so viel Lob über ihn ausgeschüttet wurde; doch Myra Colberts letzter Satz machte ihn hellwach. »Wollen Sie damit sagen, daß – daß es wirklich Überlebende gibt?« »Sieben von neunundfünfzig sind durchgekom men«, erklärte Joel Colbert. »Sie waren lebende Eis zapfen – aber lebend.« »Ich verstehe noch nicht ganz«, wunderte sich Ross. »Wie konnte ein Flugzeug durch den Sturm kommen?« »Das ist das Beste daran«, sagte Tim. »Man hat ei nen Weg gefunden, völlig unbehelligt durch den Sturm zu dem Wrack vorzudringen. Ein sowjetisches U-Boot konnte mit Hilfe deiner Positionsangaben
zehn Meter vom Unfallort durch die Eisfläche bre chen und auftauchen.« »Das ist die beste Nachricht, die ich je erhalten ha be«, strahlte Ross. »Trink deinen Kaffee schnell aus. Eine der Nach richtenagenturen wollte dich sprechen, sobald du auf den Beinen bist«, sagte Myra Colbert. Ihre aufgeregte Stimme klang in dem kleinen Raum wie eine Alarm glocke. Der Reporter war höflich und ausdauernd. Er legte Wert auf jedes Detail. Eine Stunde dauerte das Fern gespräch mit der Erde, ehe sich der Mann zufriedengab. Mit einem Seufzer legte Ross den Hörer auf die Gabel. Mit etwas Glück, dachte er, ist meine Rolle bei der Rettungsaktion bald vergessen, und ich kann wieder meiner Arbeit nachgehen wie zuvor. Er überlegte weiter, daß in einer Zeit, da sich zwei große Nationen waffenklirrend gegenüberstanden, die Entdeckungen eines jungen Meteorologen in einer fernen Raumstation nicht von übermäßigem Interesse sein würden. Er sollte recht behalten. Sein Name wurde ein paar Mal in den Nachrichten erwähnt und dann vergessen. Die Mannschaftsmit glieder der Boreas begannen ihn wieder als ihresglei
chen zu behandeln. Drei Stunden nach dem Interview ließ ihn die Kommandantin zu sich rufen. Ross fragte sich, was sie wohl dazu zu sagen hatte. Sie kam schnell zum Kern der Sache. »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Man hat mich unterrichtet, daß Sie für die Auffindung des Wracks verantwortlich sind?« »Ja.« »Dann beglückwünsche ich Sie zu Ihrer Findigkeit. Ich bin erfreut, daß es einem meiner Leute schließlich doch gelungen ist, das Flugboot zu entdecken. Eines jedoch stört mich dabei. Sie können sich wahrschein lich denken, was ich meine.« Hält sie mich etwa für einen Hellseher? fragte sich Ross im stillen. Wenn ja, dann hat sie sich geirrt, dachte er weiter und betrachtete ihr abweisendes, glattes Gesicht. Ihre Augen waren fest auf ihn gerich tet, ihr Mund bildete einen Strich, ihre Haare waren perfekt frisiert. Sie war vollkommen ruhig und hatte sich absolut in der Gewalt. Ross wurde nervös. »Ich fürchte, nein«, antwortete er. »Dann darf ich vielleicht Ihr Gedächtnis auffri schen, Mr. Moran. Ehe Sie mit der Suche nach dem Wrack begonnen haben, hatte ich Sie angewiesen, alle Entdeckungen über mich zu leiten. Erinnern Sie sich daran?«
Ross nickte, und sie sprach weiter. »Warum sind Sie dann meiner Anweisung nicht nachgekommen? Warum wurde ich von Ihnen nicht informiert?« »Ich dachte, Sie würden schlafen.« »Sie dachten?« sagte sie ausdruckslos. »Ihr Büro war geschlossen, soviel ich mich erinnern kann. Ebenso das Büro ihres Assistenten. Als ich die Filme entwickelt hatte, war weit und breit niemand zu finden. Es blieb mir keine andere Wahl, als selbst Verbindung zur Erde aufzunehmen.« »War das nicht ein bißchen unverschämt?« fragte sie. »Ich glaube nicht«, erwiderte Ross mit fester Stim me. »Hat es Sie nicht gestört, daß Sie keine Erlaubnis besaßen?« »Ich wußte nicht«, entgegnete Ross, »daß ich in ei nem Notfall eine Erlaubnis brauche.« Jetzt drückte seine Stimme Ärger aus. Das hatte eine gewisse Wirkung. Sie ließ die starre Maske fallen. »Sie sind unsachlich«, fauchte sie zurück. »Ich wollte aus gutem Grund noch vor anderen Dienststel len informiert werden. Was wäre gewesen, wenn Sie sich geirrt hätten und Ihre Daten falsch gewesen wä ren? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welchen Schaden Sie angerichtet hätten?«
Ross hatte nicht darüber nachgedacht, da ja das Gegenteil so offensichtlich eingetreten war. Die Kommandantin hatte ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen und ihre Maske aufgesetzt. »Dann werde ich Ihnen sagen, was passiert wäre. Nicht Sie wären der Blamierte gewesen, sondern ich. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich bin für alles, was auf Borea vorgeht, voll verantwortlich – für die Da ten, die Mannschaft und die Maschinen. Sie haben mich und meine Position aufs Spiel gesetzt, indem Sie so selbstherrlich gehandelt haben.« Sie warf Ross einen warnenden Blick zu. »Das ist schon das zweite Mal, daß Sie sich einen unentschuld baren Fehler leisten – einen Fehler, den ich weder dul den noch vergessen kann. Ich werde in Zukunft nicht mehr ruhig zusehen, Mr. Moran. Sollten Sie sich noch einmal eine derart schwerwiegende Verfehlung zu schulden kommen lassen, wäre ich gezwungen, Sie aus der Mannschaft der Boreas zu entfernen.« »Ich habe verstanden«, murmelte Ross höflich. Er hatte diese Drohung schon die ganze Zeit erwartet und war tief in seinem Innern weit davon entfernt, sich zu fürchten. Er wußte, daß er richtig gehandelt hatte, als er sich auf eigene Faust mit der Rettungssta tion in Verbindung gesetzt hatte. Sein Vorgehen durf te nicht nach Vorschriften beurteilt werden, die die sem Ausnahmefall nicht gerecht werden konnten.
Trotz der Kritik durch die Kommandantin Eva Ke ough war Ross auf seine Handlungsweise stolz. Zum erstenmal seit Monaten vertraute er seinem eigenen Urteil. Er war unerschütterlich davon überzeugt, rich tig gehandelt zu haben, und fühlte sich doch auf selt same Weise mit den Ansichten der Kommandantin verbunden. Er hatte kein Interesse daran, sie nochmals heraus zufordern. Die Unterhaltung war hiermit wohl beendet. Ross bemühte sich verzweifelt, das unbehagliche Schwei gen zu brechen und einen würdigen und gnädigen Abgang zu finden. Es fiel ihm nichts Geeignetes ein. Er erhob sich und spürte, wie ihre Augen forschend auf ihm ruhten und seine Verlegenheit wahrnahmen. Auf dem Weg zur Tür blieb er stehen. »Hätten Sie Interesse daran, die Filme zu sehen? Sie sind von hervorragender Qualität.« »Nein«, antwortete die Kommandantin, die sich bereits wieder ihrer Arbeit auf dem Schreibtisch zu gewandt hatte. Ross war gerade im Begriff, die Tür zu schließen, als ihn ihre Stimme noch einmal zurückhielt. »Einen Moment, Mr. Moran. Da ist noch ein Punkt, den ich gern geklärt hätte. Wie kamen diese Filme in ihren Besitz?« Ross erklärte es, und die Kommandantin hörte ge
nau zu. Sie machte sich einige Notizen und fragte dann: »Sie sagten, dieser Film sei eine Neuentwick lung, im Versuchsstadium und hochempfindlich – und dennoch hat Ihnen dieser – wie heißt er doch gleich – Dr. Ahn den Film ausgehändigt?« »Mit der Bitte, ihn an Dr. Nystrom weiterzugeben.« »Ich frage mich, ob die U.S.-Luftwaffe davon weiß, daß mit ihrem Eigentum so großzügig umgegangen wird?« Ross zuckte die Achseln. »Da die Filme auf dem Gebiet der Radioastronomie verwendet werden soll ten, hielt Dr. Ahn unseren Astronomen wohl für den geeigneten Mann, sie zu erproben.« »Ja, das könnte zutreffen. Danke, ich brauche Sie jetzt nicht mehr.« Es war das erstemal seit Dr. Nystroms Abflug vor mehr als fünfzig Stunden, daß Ross wieder an ihn dachte. Er fragte sich, ob der raumkreuzende Wissen schaftler sein Ziel erreicht habe und ob er sich schon wieder auf dem Heimflug befinde. Ross beschloß, den Mann aufzusuchen, der dar über etwas wissen konnte. »Ich habe noch keinerlei Nachricht«, sagte Tim. »Überhaupt keine Funkverbindung?« »Das ist kein Grund zur Besorgnis«, beruhigte ihn Tim. »Er hat alle Hände voll zu tun, das Schiff zu steuern, das Radar zu bedienen und die Navigation
vorzunehmen. Wahrscheinlich hat er nicht halb so viele Ruhepausen, wie er dachte.« »Dann machst du dir also überhaupt keine Sor gen?« Tim schüttelte den Kopf. »Wenn es jemand anders wäre, der das Schiff steuert, müßte ich ›ja‹ sagen. Bei Dr. Nystrom gelten andere Maßstäbe. Meiner Mei nung nach versteht er mehr von Raumfahrt als ir gendeiner dieser Piloten, die du auf der Hauptstation gesehen hast und die das Zweifache seines Gehalts beziehen. Er weiß immer genau, was er zu tun hat, und erlaubt sich keine Nervosität.« Ross mußte Tim zustimmen, wenn er an Dr. Ny stroms Haltung während des Reaktorunfalls dachte. »Er zeigte damals keine Spur von Panik.« Tim nickte. »So ist er immer. Stark und gesund. Er wäre der perfekte Patient, doch er wird nie krank.« Tim lächelte. »Dr. Nystrom ist schon eine Persönlich keit. Die einzige, die sich mit ihm messen kann, ist unsere heißgeliebte Kommandantin.« »Es überrascht mich, so etwas gerade von dir zu hören.« »Nun ja«, sagte Tim mit einem etwas gequälten Lä cheln, »ich versuche meine Meinung über sie zu än dern, wie es Dr. Nystrom vorgeschlagen hat.« »Dann hast du damit anscheinend mehr Glück als ich«, seufzte Ross. »Ich hatte gerade eine Auseinan
dersetzung mit ihr. Sie hat mich abgekanzelt, weil ich sie nicht als erste von der Entdeckung des Wracks benachrichtigt habe.« Tim lehnte sich in seinem Stuhl ruckartig vor. Seit dem Beginn ihrer Unterhaltung wuchs in Ross der Verdacht, daß Tim etwas verschwieg. Er hatte recht. Der junge Arzt schien plötzlich am Ende zu sein. »Ich habe dich angelogen«, sagte er verzagt. »Meine Meinung über die Kommandantin hat sich nicht im ge ringsten geändert. Tatsächlich glaube ich, daß es mit ihr noch schlimmer wird als je zuvor. Vor einer Weile hat sie angeordnet, daß Julian Martino seine tägliche Injektion nicht mehr erhalten dürfe. Stell dir vor! Kein Wort der Erklärung. Ich mußte seine Arznei, seine Spritzen und seine Krankenberichte zusammenpak ken. Um sechs Uhr muß ich sie bei ihr abliefern.« »Wie wichtig sind seine Arzneien?« »Sehr wichtig. Ein Mensch, der eine derartige Strahlenverbrennung erlitten hat, wird nicht in einem oder zwei Monaten gesund. Er muß fast ein Jahr lang behandelt werden. Wenn man ihm seine Arznei weg nimmt, stirbt er.« »Ich weiß nicht, warum sie so etwas tun sollte. Hat sie gesagt, daß Martino überhaupt keine Injektion mehr bekommen dürfe?« »Nicht direkt. Nur, daß ich sie nicht mehr verabrei chen und in der Krankenstation vorrätig haben darf.«
»Dann soll er wahrscheinlich von Boreas wegge bracht werden«, vermutete Ross. »Die Medizin gehört zu seinem Reisegepäck.« »Ich räume diese Möglichkeit ein«, erwiderte Tim. »Das war auch mein erster Gedanke. Aber dann frag te ich mich, an welchem Ort, an den Martino gebracht werden könnte, wohl ein solcher Arzneimangel herrscht, daß er die Spritzen mitbringen muß. Auf je der Raumstation der IRV ist für ärztliche Hilfe ge sorgt. Das gilt selbst für die kleinsten Schiffe. Ihr Ver halten ergibt keinen rechten Sinn, wie man es auch betrachten mag. In dem logischen Gebäude fehlt ir gendein Stein – und wie es aussieht, kein ganz klei ner.«
14
Der Rhythmus seines Alltags ließ Ross manchmal vergessen, wo er sich befand. Die Ausstattung der Station erzeugte die Vorstellung, daß sich Boreas nicht in einer langgestreckten elliptischen Bahn um die Erde bewegte, sondern selbst auf festem Boden stand. Ross konnte sich ohne weiteres einbilden, er lebe wieder in einem der Komplexe seiner Universität in Pasadena, Kalifornien, die sich aus einer Kombina tion von Schlafraum, Klassenzimmer und Laborato rium aufgebaut hatten. Er konnte sich erinnern, ganze Wochen innerhalb dieser Baukomplexe verbracht zu haben, ohne ein ein ziges Mal ins Freie zu gehen und das Sonnenlicht zu sehen. Essen, Schlafen, Studieren, ja sogar Tanzen und Kinobesuche hatten sich innerhalb des Gebäudes ab gespielt. Abgesehen von Unterschieden hinsichtlich der Schwerkraft war die Ähnlichkeit einer Raumstati on schon derartig angepaßt, daß es eines besonderen Ereignisses bedurfte, ihn daran zu erinnern, daß es ein weiter Weg war von der Erde bis zur Boreas. Das Ereignis trat eine Stunde nach seinem Ge spräch mit Tim ein. Ross war damit beschäftigt, die Dunkelkammer aufzuräumen, in der er die Filme entwickelt hatte. Er
hatte den Raum in einem wüsten Zustand vorgefun den. Chemikalien und Geräte lagen in großen Was serpfützen. Die von unten beleuchtete Platte des Ver größerungstisches war mit einer schmierigen Masse von Entwicklerlösung bedeckt. Überall standen naß gespritzte, unverschlossene Fläschchen und Säurebal lons herum. Mit einem feuchten Schwamm versuchte Ross, die rätselhaften Wasserspuren zu beseitigen. Als er sich dem Wasserhahn zuwandte, erkannte er des Rätsels Lösung. In einem dünnen, durchsichtigen Strahl rann das Wasser auf den Boden. Während auf der Erde der tie fergelegene Abfluß die Rinnsale aufgenommen und weitergeleitet hätte, bewirkte hier die mangelnde Schwerkraft einen gänzlich unerwarteten Effekt. Das Wasser spritzte vom Boden mit Tausenden von Tröpfchen hoch in die Luft, von wo es langsam nie derschwebte, um abermals in tausend Teilchen zu zersprühen. Ross betrachtete vollkommen fasziniert das präch tige Schauspiel, das ein so schlichter Stoff wie Wasser mit Hilfe der verminderten Schwerkraft aufführen konnte. Schließlich riß er sich los und wandte sich den fla chen Schüsseln zu, in denen die drei Filme schwam men, die er noch nicht untersucht hatte. Aus purer Neugierde hielt er sie gegen das Licht. Er stutzte.
Ross legte eines der Fotos unter den Vergrößerer, um es näher zu untersuchen. In der Mitte von einem der Negative zeigte sich ein pfenniggroßer kreisrun der Fleck. Ross hatte noch nie etwas Ähnliches gese hen, und er schaltete die stärkste Vergrößerungsstufe ein. Der Fleck besaß tatsächlich eine vollkommene Kreisform, deren äußerer Rand sich scharf und über gangslos gegen den Sturm abgrenzte. Es dauerte einige Minuten, ehe Ross die Antwort fand. Das Objekt mußte hoch über dem Sturm und der Atmosphäre schweben, da andernfalls in der un mittelbaren Umgebung eine Wärmestrahlung vor handen sein müßte. Vermutlich handelte es sich um einen Satelliten. Seine Größe und seine arktische Posi tion ließen nur einen einzigen Schluß zu. Ross hatte unabsichtlich den Satelliten namens ›Basketball‹ auf den Film gebannt. Doch das seltsamste war für Ross, daß sich im In neren des Satelliten ein dunkler Schatten abzeichnete. Doch war seine Form trotz des Vergrößerers zu ver schwommen, als daß Einzelheiten zu erkennen gewe sen wären. Ein dreimaliger lauter Klingelton ließ Ross zu sammenschrecken. Das Intercom hatte sich gemeldet. Nervös drückte Ross auf die Sprechtaste. »Ist Ross dort?« flüsterte es aus dem Lautsprecher.
»Am Apparat«, antwortete Ross. »Mit wem spreche ich?« »Hier ist Tim.« »Wie wäre es, wenn du etwas lauter sprechen würdest?« »Ich kann jetzt nicht. Bist du im Moment sehr be schäftigt?« »Nein. Um was geht es denn?« Ein Klicken aus dem Lautsprecher verriet, daß Tim am anderen Ende abgeschaltet hatte. Noch ehe eine Minute verstrichen war, steckte Tim den Kopf zur Tür herein, sah sich um und schloß die Tür wieder sorgfältig hinter sich. Seine Miene verriet ernste Besorgnis. »Ich glaube, daß mein Intercom abgehört wird«, sagte er, noch immer flüsternd. »Und deines wahr scheinlich auch.« »Woher willst du das wissen?« zweifelte Ross. »In dem Moment, als ich eingeschaltet hatte, hörte ich den Atem eines Menschen, und kurz darauf ein Summen, das wohl von einem Tonbandgerät stammt.« »Aber warum hast du dich denn so angestrengt zu flüstern, wenn sowieso alles aufgenommen wird?« fragte Ross. »Wahrscheinlich ganz instinktiv. Obwohl es natür lich sinnlos war.«
Der Blick, den Ross Tim zuwarf, mußte wohl etwas skeptisch gewesen sein, denn Tim beeilte sich hastig zu versichern, daß er nicht übergeschnappt sei. »Ich schwöre dir, es hat sich alles genau so abgespielt, wie ich es dir erzählt habe.« »In letzter Zeit halte ich hier an Bord auch alles für möglich«, sagte Ross. »Ich bin froh, daß du verstehst.« »Das habe ich zwar nicht behauptet, aber lassen wir jetzt das Thema. Was hast du auf dem Herzen?« »Ich habe eben die neuesten Nachrichten über das Wrack gehört.« Tim schwieg eine Weile und betrach tete seine Finger, die unruhig auf der Tischplatte trommelten. Als er sein Gesicht wieder Ross zuwand te, schien alle Farbe daraus gewichen zu sein. »Jonathan Hanks ist tot.« Die Worte standen im Raum. Ross' Augen weiteten sich vor Schreck und Un glauben. »Ja, es ist wahr. Er starb beim Absturz des Flugboo tes. Sein Name stand auf der Liste der Opfer. Ich habe mich durch einen Anruf bei der Hauptstation verge wissert. Am ersten Januar hat er das Flugboot nach London genommen.« »Erinnerst du dich, was er vor seinem Aufbruch nach England gesagt hat?« fragte Tim. »Er wollte dort so lange bleiben, bis er genügend Beweise gesammelt
hat, um der IRV einen überzeugenden Bericht unter breiten zu können.« Ross erinnerte sich wieder an die Szene in dem kleinen Lokal mit den runden Tischchen, den feiern den Touristen und der Unterhaltung mit Hanks. »Damit ist der Plan erledigt«, sagte Ross. »Hanks hatte mehr Information als irgendeiner von uns. Ich frage mich, ob er Aufzeichnungen hinterlassen hat?« Tim schüttelte den Kopf. »Er war schlau genug, nichts Schriftliches niederzulegen. Nein, Hanks hatte ein gutes Erinnerungsvermögen, auch für Einzelhei ten. Was er gehört oder gesehen hat, pflegt er an dem sichersten Ort aufzubewahren, den es gibt: nämlich in seinem Kopf ...« »Dann ist alles aus. Die Informationen sind mit ihm zusammen verlorengegangen. Wir haben kein Mate rial, mit dem wir weiterarbeiten können.« »Ich muß zugeben, daß es so aussieht. Es hat den Anschein, als ob wir wieder am Anfang stehen.« »Wir besitzen eine lange Liste von Verdachtsmo menten«, seufzte Ross, »aber kein Körnchen eines Beweises. Und Beweise werden wir brauchen – gutes und solides Tatsachenmaterial gegen Martino und die Kommandantin, das jeder Nachprüfung standhält.« Ross hatte sich in Zorn geredet. »Wutausbrüche schaffen auch keine Beweise her bei«, ermahnte ihn Tim.
»Ich kann mir nicht helfen«, ärgerte sich Ross. »Es macht mich verrückt, wenn ich daran denke, daß die beiden mich dauernd auf die Vorschriften hinweisen und dabei selbst während jeder Sekunde, die sie sich an Bord befinden, die Vorschriften grob verletzen. Was für ein Wahnsinn!« Mit angespannten Muskeln stand Ross eine Weile da. Dann verließ ihn die Wut so schnell, wie sie ge kommen war. Er schaute Tim an. »Jetzt bin ich dran, dir zu versichern, daß ich nicht übergeschnappt bin«, sagte er in einem ruhigeren Ton. »Du hast wahrscheinlich recht, und wir müssen von vorn anfangen – wir beide allein und ohne Hilfe.« »Diese Antwort hatte ich von dir erhofft«, freute sich Tim. »Die Informationen, die Hanks herauskno belte, können wir uns auch verschaffen. Da bin ich ganz sicher.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es wird Zeit für mich. Ich brauche für Martinos Arznei en noch einen passenden Karton. Hilfst du mir, im Zentrallager einen zu suchen?« »Ja, ich komme mit. Das Lager ist groß.« »Danke, Ross.« »Keine Ursache. Ich tue alles für Martinos Ab gang.« Das Zentrallager lag nicht weit von der Dunkel kammer.
»Ich brauche eine Schachtel mittlerer Größe«, sagte Tim. »Ruf mich, wenn du etwas gefunden hast.« Ross begann die Suche bei dem Stapel mit Elektrotei len und Treibstoffbehältern, doch alle Kartons waren säuberlich in Plastik verpackt und verschlossen. Eine Kiste von geeigneter Größe, die er für leer hielt, erwies sich beim Aufheben als mit schweren Messingteilen gefüllt. Er verlor das Gleichgewicht und fiel mit der Schulter gegen einen harten, kalten Gegenstand. Ross rieb sich die schmerzende Stelle und blickte sich neugierig um. Der metallische Gegenstand war nichts anderes als einer von drei großen Sauerstoffbehältern. Etwas stimmte nicht mit ihnen. Ross runzelte die Stirn und versuchte sich zu konzentrieren. Die Sauerstoffbehälter hatten einen noch unver sehrten Verschluß. Dicker Staub lagerte auf ihnen. Kalte Furcht kroch in ihm hoch, und er rief laut nach Tim. Diese Behälter ... Tim erschien mit einem kleinen Karton. »Du brauchst nicht so laut zu schreien«, sagte er, »ich habe schon etwas Passendes gefunden.« Statt einer Antwort wies Ross auf die Zylinder. »Sind das nicht die Sauerstofftanks, die für Dr. Ny stroms Schiff bestimmt waren?« »Als ich merkte, daß der Sauerstoffvorrat zu Ende ging, habe ich einen Antrag auf Erneuerung gestellt.«
Tim klopfte mit den Knöcheln gegen das Metall. »Das hier sind die leeren Behälter.« »Und warum sind sie dann noch verschlossen und staubbedeckt von ihrer monatelangen Lagerung?« wollte Ross wissen. Tim reckte den Hals. »Das ist seltsam, allerdings«, gab er zu. »Die Wartungsmannschaft muß statt dieser drei Zylinder andere zum Austausch verwendet ha ben. Es gibt ein Verzeichnis über derartige Prozedu ren. Es hängt wahrscheinlich am Hauptdock.« Tim hatte recht. Das Verzeichnis war so an der Wand neben dem Eingang angebracht, daß jeder Vorbeigehende seinen Bedarf an Vorräten darauf niederschreiben konnte. Tim ging die Liste durch, bis er auf seine eigenen Eintragungen stieß. »Nach dieser Liste sind die Sauerstoffvorräte des Schiffes schon seit zwei Monaten nicht erneuert wor den. Und noch etwas: Schau dir mal an, was aus mei nem eigenen Antrag auf Sauerstofferneuerung ge worden ist.« Er händigte Ross die Liste aus. Ross las Tims in der üblichen Form gestellten Antrag auf Austausch von drei Sauerstoffzylindern. Der unmißverständliche Auftrag war dick und kreuzweise durchgestrichen, und jemand hatte die Worte »Antrag abgelehnt« hinzugefügt. Jetzt wurde Ross alles klar. Dr. Nystrom hatte den
Flug angetreten, ohne zu wissen, daß der Sauerstoff vorrat schon fast erschöpft war. Eine einfache Rech nung ergab, daß der Astronom noch für höchstens zwölf Stunden Atemluft hatte. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt waren aber schon über sechzig Stunden ver strichen. Ross wunderte sich nicht mehr darüber, daß die Verbindung mit dem Schiff abgebrochen war. Ir gend jemand hatte dafür gesorgt. Es handelte sich um einen schlichten und eindeutigen Mordanschlag. Ein Mensch ohne Sauerstoff mußte ersticken. Als Ross in seinen Überlegungen so weit gekom men war, wurde die Tür aufgestoßen, und eine Schar dunkel gekleideter Männer fielen mit dem Ruf »Da sind sie!« über die beiden her. Ross fühlte sich von mehreren starken Armen gepackt und zur Wand ge zerrt. Sein Kopf schlug krachend gegen ein eisernes Schott, und sein Bewußtsein schwand ... Der rote Nebel vor seinen Augen wurde allmählich lichter, und Ross erkannte die Gesichtszüge der Kommandantin Eva Keough. Sie stand inmitten eini ger Männer, die wie sie enganliegende schwarze Kleidung, Halbstiefel und enge schwarze Gürtel mit Pistolenhalftern trugen. Ross versuchte, Tim zu entdecken. Die Drehung des Kopfes schmerzte ihn, und er stöhnte leise auf. »Ach, Sie sind aufgewacht«, sagte Eva Keough.
»Doch das spielt keine große Rolle, denn Sie werden Boreas bald verlassen – für immer verlassen.« »Wie meinen Sie das? Wollen Sie mich umbringen, wie Sie es mit Dr. Nystrom getan haben?« fragte Ross ächzend. »Wir können es uns kaum leisten, ein weiteres Schiff zu opfern. Das war ein Scherz, Mr. Moran!« »Wie kann der Tod eines Menschen scherzhaft sein? Ich glaube nicht, daß das Gericht so humorvoll sein wird.« Eva Keough lächelte und erklärte geduldig: »Es wird keine Gerichtsverhandlung geben, Mr. Moran, denn Dr. Nystrom starb im Zuge einer militärischen Aktion. Die Aktion, die Sie gerade miterleben, bildet den nächsten Abschnitt.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Aber ich weiß, daß Sie für die IRV arbeiten, und daß die IRV sie über den Tod Dr. Nystroms vernehmen wird.« »Sie haben mir nicht zugehört«, erwiderte Eva Ke ough. »Ich sagte, es handle sich um eine Aktion der Vereinigten Streitkräfte. Meine Zugehörigkeit zur IRV ist aufgehoben. Von jetzt an trage ich wieder den Rang eines Offiziers.« »Damit verletzen Sie den Wiener Vertrag«, schrie Ross. »Der Vertrag ist ein Stück Papier«, entgegnete Eva Keough kalt.
»Ich wette, die IRV denkt darüber anders.« »Die IRV ist hilflos. Andernfalls wäre diese Aktion unnötig. Sie können sicher sein, daß ich nicht beab sichtige, Sie an einen sicheren Ort zu bringen. Genau sogut könnte ich alles beim alten lassen.« »Ich werde überhaupt nirgends hingehen«, brüllte Ross. »Ich habe meine Rechte als Staatsbürger!« Sie schüttelte den Kopf. »Sie besitzen keinerlei Rechte. Es handelt sich hier um eine Angelegenheit der nationalen –« sie verbesserte sich rasch, »– der Weltsicherheit. Folglich stehen Sie unter Kriegsrecht.« »Das glaube ich Ihnen nicht. Wo ist Tim?« »Colonel Martino verhört ihn gerade. Sie brauchen sich über ihn keine Gedanken zu machen.« »Aber ich mache mir welche. Was liegt gegen Tim vor?« »Er steht unter dem Verdacht, mit dem Feind zu konspirieren. Genau wie Sie auch.« »Das ist das Verrückteste, das ich jemals gehört ha be.« Sie schwieg eine Weile. »Sie geben doch zu, daß Sie in enger Verbindung mit Dr. Nystrom stehen?« fragte sie dann. »Ja, natürlich. Bis Sie ihn umgebracht haben.« Ihre Stimme war voll Zorn. »Ihre ›enge Verbin dung‹ ist nichts anderes als ein Agentenring, der die höheren Positionen von Regierung und Wissenschaft,
besonders bei der IRV, unterwandert hat. Bis ihnen der Militärische Nachrichtendienst auf die Schliche gekommen ist, haben diese Agenten ungehindert auf der Erde und im Raum arbeiten können. Sie lebten jahrelang völlig unverdächtigt mitten unter uns und holten mit Hilfe einer neuen Fernwaffe zum Schlag gegen die Regierungszentren der Welt aus.« »Sie glauben im Ernst, daß Dr. Nystrom in eine sol che Verschwörung verwickelt war?« »Eine weitere Ihrer ›engen Verbindungen‹, nämlich der Mann, den Sie als Jonathan Hanks kennen, hat das zugegeben.« »Hanks?« wunderte sich Ross. »Hanks ist doch bei dem Absturz des Flugbootes ums Leben gekommen!« »Ja, er hat für seine Taten gebüßt. Aber zuvor konnte ihn der Sicherheitsoffizier des russischen UBootes noch verhören.« »Ausgeschlossen«, sagte Tim fest. »Weder er noch Dr. Nystrom waren Spione. Auch Tim ist keiner.« »Sie sollten ihn nicht so voreilig verteidigen. Der Militärische Nachrichtendienst ist im Besitz eines Briefes, den Hanks an Mr. Diehle geschrieben hat. Der Inhalt belastet beide sehr.« Ross erschrak. Der Brief! Jetzt wußten sie alles über diese Sache. Aber warum machten sie so viel Aufhe bens davon? »Hanks gestand dem sowjetischen Sicherheitsoffi
zier noch mehr Einzelheiten. Er hat zum Beispiel zu gegeben, daß der Koreanische Astronom Dr. Ahn Mitglied des Spionagerings ist. Er wurde soeben ver haftet und wird gerade in Denver verhört. Seine Ge ständnisse haben ein weiteres Detail enthüllt, von dem wir allerdings schon seit einiger Zeit wußten – nämlich, daß über der Erde im Weltraum eine Waffe versteckt gehalten wird. In einigen Stunden wird er uns die Position verraten haben. Und dann«, fügte sie triumphierend hinzu, »wer den wir uns damit beschäftigen.« Ihre Augen leuchteten. Ross hörte, wie eine Tür aufgestoßen wurde. Schroffer Stimmenwechsel drang zu ihm, und dann wurde Tim von Julian Martino in den Raum gesto ßen. Der Colonel stellte Tim neben Ross, trat einige Schritte zurück und zog seine Waffe. Er richtete die Mündung zuerst auf Tim und dann auf Ross. Tim machte auf Ross einen sehr erschöpften Ein druck, und es schien ihm, als ob man seinen Freund unter Drogen gesetzt hätte, um ihm die Zunge zu lö sen. Tim schwankte und blinzelte ins Licht. »Hat er etwas Wichtiges gesagt?« fragte Eva Ke ough. »Nein«, antwortete Martino finster. »Er wußte le diglich, daß wir während unserer Zugehörigkeit zur IRV Militäroffiziere waren.«
»Das ist alles?« forschte sie eindringlich. »Was ist denn mit dem Brief und mit Hanks?« »Nichts«, erwiderte Martino. »Die Wirkung der Droge müßte bald nachlassen.« Tim schüttelte den Kopf. Sofort richtete Martino die Waffe auf ihn und spannte den Abzug. »Sie sind aber ziemlich nervös«, stellte Eva Keough fest. »Geben Sie mir das Ding, ehe es losgeht.« Ross beobachtete die Übergabe der Waffe mit In teresse. Schon Martino schien wenig Übung im Um gang mit der Automatik zu haben; doch für Eva Ke ough schien sie einen völlig unbekannten Gegenstand darzustellen. Sie hielt die Waffe in den Händen, als handle es sich um einen Rechenschieber oder um eine Tasse Kaffee. Ross fühlte, wie eine leichte Erschütterung durch die Station ging. »Unser Schiff hat angelegt«, sagte Martino mit zu friedenem Lächeln. »Genau nach Plan.« Eva Keough schaute zu Ross hin. »Ich werde Sie jetzt woanders hinbringen lassen. Dort werde ich Ihnen einige Fragen stellen.« Ross warf einen Blick zu Tim hinüber, der zurück blinzelte. Gott sei Dank, frohlockte er innerlich. Ich habe nicht die geringste Lust, mit diesen Irren allein zu sein. »Bitte stellen Sie sich neben den Eingang«, wies ihn
Eva Keough an. »Wenn sich die Tür öffnet, treten Sie ein und –« In ihrem Tonfall war etwas, das Ross schon sein ganzes Leben lang an Lehrern, Polizisten und Beam ten gestört hatte. Er beschloß, nicht blindlings in ihr sorgfältig vorbereitetes Gefängnis zu gehen. »Nein«, schrie er aus Leibeskräften. »Nein, nein! NEIN!« Erschrocken riß die Frau die Waffe hoch und zielte auf sein Gesicht. Eine Sekunde lang fummelte sie an der schweren Automatik, dann krümmte sich ihr Mittelfinger um den Abzug und drückte ab. Ross hörte ein schwaches Klicken. Keine Explosion, die sein Gehirn in Stücke riß, folgte. Die Zeit schien stillzustehen. Ross begriff, daß er noch am Leben war. Die ungeübten Finger Eva Ke oughs hatten versehentlich den Sicherungshebel um gelegt. Der Abzug war gesperrt. Er wollte Tim darauf hinweisen; aber der Arzt hat te die Situation schon erfaßt und hechtete mit einem gewaltigen Sprung vorwärts. Die Frau versuchte verzweifelt abzudrücken. Tim prallte auf sie. Die Wucht des Aufpralls schleuderte sie gegen Martino. Die Waffe flog durch die Luft. Tim war noch immer in Aktion. Er stieß die Auto matik von Martinos ausgestreckter Hand fort und stürzte sich geduckt auf die schwarzuniformierten
Männer. Seine breiten Schultern mähten die über raschten Wachen links und rechts nieder. Ross sah, wie einer der Männer zu seinem Pisto lenhalfter griff. Er wollte sich auf ihn stürzen, aber Tim kam ihm zuvor. Ein linker Haken schickte den Uniformierten zu Boden. Tim schaute nach Ross und wies auf eine offenstehende Tür. »Hau ab!« brüllte er. Ross zögerte. Tim war sieben bewaffneten Leuten hoffnungslos unterlegen. Doch daran würde auch das Eingreifen von Ross nichts helfen können. »Geh schon!« brüllte Tim. »Hau endlich ab!« Es war sein Ernst. Ross drehte sich um und rannte durch die Tür, die er hinter sich zuwarf. Über eine Leiter rutschte er in einen verlassenen Korridor. Hinter sich hörte er, wie die Tür aufflog. Schüsse peitschten durch die Gänge und brachen sich in einem vielfältigen Echo. Ross duckte sich in einen Seitengang. Die Schüsse klangen jetzt entfernter. Noch ein ver einzelter Knall, dann herrschte Stille. Plötzlich wieder Schüsse, ganz in seiner Nähe. Man hatte ihn entdeckt. Ross wußte nicht, wo er war und wohin er sich wenden sollte. Die Korridore sahen alle gleich aus. Er rannte um sein Leben. Die Lungen drohten zu bersten. Sein Herzschlag dröhnte durch
seinen Körper wie der Kolben einer riesigen Maschi ne in einer leeren Fabrikhalle. Und sein Bewußtsein formte immer wieder die Worte: Sammy, Sammy, waren deine letzten Sekunden genauso?
15
Keuchend lehnte sich Ross von innen gegen die Tür seines Zimmers. Er hätte keinen Schritt mehr tun kön nen. Seine Beine versagten ihm den Dienst. Er verrie gelte die Tür und ließ sich langsam zu Boden sinken. Für den Augenblick war es ihm gelungen, seinen Verfolgern zu entkommen. Wie lange konnte es noch dauern, bis sie ihn aufstöberten? Zum Glück glich Bo reas mit seiner dreidimensionalen Komplexität von Korridoren, Hallen und Passagen einem Labyrinth, das einem Flüchtigen einige Chancen bot, sich eine Zeitlang zu verstecken. Ross kämpfte seine Panik nieder. Im Moment war sein Zimmer das geeignetste Versteck – es gab eine verschließbare Tür und fließendes Wasser, Dinge, auf die es bei einem längeren Aufenthalt ankam. Er blick te sich um. Der Raum war kaum wiederzuerkennen. Der Inhalt sämtlicher Schubladen war durch das ganze Zimmer verstreut. Das Unterste war nach oben gekehrt. Jeder Winkel war durchsucht worden. Es schien jedoch nichts zu fehlen. Ross' Verstand arbeitete wieder völlig klar. Er über legte. Kein Geräusch außer dem Surren des Ventila tors. Keine Schritte, keine Stimmen, keine Schüsse. Das konnte zweierlei bedeuten. Entweder hatten sie
die Suche nach ihm aufgegeben, oder sie hatten sich zu rückgezogen, um mit einer systematischen Durchsu chung der ganzen Station zu beginnen. Ross konnte sich nicht vorstellen, daß eine Frau wie Eva Keough ein fach aufgegeben hatte. Es war viel wahrscheinlicher, daß sie sich daran machten, Boreas bis in den letzten Winkel zu durchsuchen und notfalls auseinanderzu nehmen. Er dachte über seinen nächsten Schritt nach. Auf die Dauer würde er ein besseres Versteck finden müssen. Aber wo? Die Möglichkeiten waren nicht ge rade zahlreich und vielversprechend. Er konnte sich zum Beispiel hinter das Gitter des Ventilators quet schen, oder in die schmale Lücke zwischen Bett und Fußboden kriechen. Wahrscheinlich würden ihn die Schwarzuniformierten dort nicht entdecken, wenn sie kamen. Und sie würden bestimmt kommen. Im Moment konnte er nichts tun, als das Unver meidliche zu erwarten. »Ross Moran«, plärrte es aus den Stationslautspre chern. »Ross Moran«, wiederholte Eva Keough. Die Lautsprecher verstärkten ihr Stimmvolumen um das Zwanzigfache. »Sie haben genau drei Minuten, um zur Schiffsanlegestelle zu kommen und sich zu erge ben. Wir treffen soeben die Vorbereitungen zum Ab flug. Ich habe vor, die Station zu räumen. Die Elektri zität wird abgestellt, und der Sauerstoff wird in den
Weltraum gelassen. Jetzt bleiben Ihnen noch zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden.« Ross überlegte, welche Folgen es hätte, wenn Eva Keough ihre Drohungen wahrmachen würde. Der Entzug der Elektrizität schien ihm von geringer Be deutung. Licht, Wasserumlaufpumpe und die zur Er zeugung von künstlicher Schwerkraft notwendige Rotation würde ausfallen. Doch diese Drohungen verblaßten gegen die Folgen, die ein Entweichen der Atemluft in den Weltraum nach sich ziehen würde. Ross dachte schauernd an das Ende, das Dr. Nystrom genommen hatte. Sollte er aufgeben? Tim hatte sein Leben für Ross' Flucht eingesetzt. Nein, er mußte jetzt durchhalten. Alles andere wäre Verrat an Tim. »Noch zwei Minuten. Ich stelle den Reaktor ab. Er geben sie sich!« Die Deckenbeleuchtung flackerte. Ross schätzte, daß ihm noch etwa eine Minute Licht blieb, um das Durcheinander in seinem Zimmer zu durchsuchen. Er fand Sammys Taschenlampe im selben Moment, als der Lautsprecher wieder zu dröhnen begann. »Noch eine Minute, Mr. Moran«, ertönte Eva Ke oughs Stimme, die eine Spur von Ärger verriet. »Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren. Machen Sie doch keinen Unsinn. Werfen Sie nicht leichtsinnig Ihr Leben weg.«
Mehr sagte sie nicht. Kurz danach verlöschten die nur noch schwach glühenden Fluoreszenzröhren ganz. Tim saß am Bettrand und hielt die brennende Taschenlampe in der Hand. Sie vermittelte ihm das Gefühl, von den Energiequellen der Boreas unabhän gig zu sein – ein Gefühl, das eher psychologischer als realer Natur war. Alarmierend war das allmähliche Nachlassen des Luftstroms aus dem Ventilator. Dann versagten die Pumpen, und es herrschte Stille. Plötzlich drang, erst schwach, dann immer stärker werdend, ein unangenehmes Geräusch an sein Ohr. Er lauschte. Sauggeräusche. Die Luft begann aus dem Zimmer zu entweichen. Ross sprang auf und schloß die Luke des Ventilati onsschachtes. Ein lautes Zischen aus dem Korridor verriet ihm, daß auch draußen der Luftvorrat schwand. Dann reagierte das automatische Luftdruck-Kontrollsystem der Station, und eine Reihe dicht schließender Schotts fiel zu. Schwere Verriegelungen klickten. Boreas war jetzt in mehrere selbständige Abschnitte unterteilt. Für den Moment konnte sich Ross sicher fühlen. Aus der Ferne hörte Ross das Donnern von Raketen triebwerken. Eva Keough und ihre Mannschaft hatten die Station verlassen. Ab jetzt war er allein – einge
sperrt in seiner winzigen, sauerstoffgefüllten Zelle. Ross konnte sich leicht ausrechnen, wieviel Atemluft ihm noch zur Verfügung stand. Schon jetzt spürte er, wie jeder Atemzug unbefriedigender wurde. Es war Zeit zu handeln. Am Ende des Korridors befand sich ein Notsauerstoffvorrat, der für Ross das Ziel Nummer eins darstellen mußte. Wenn er erst einmal im Besitz eines tragbaren Atemgeräts war, konnte er sich weitergehende Schritte überlegen, die eine vernünftige Aussicht auf Erfolg boten. Er stieß entschlossen die Tür seines Zimmers auf. Zischend glich sich der Druck aus, und Ross rannte in der dünnen Luft zu dem Atemgerät, das in einem durchsichtigen Plastikbehälter lag. Er zerschlug die Hülle, ergriff das Gerät und aktivierte die Atemmas ke. Dann genoß er eine Weile das Wohlgefühl, kühles trockenes Oxygen zu schmecken. Ross schnallte sich den Sauerstoffzylinder auf den Rücken und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Korridor gleiten. Die Türen waren verschlossen. Sein Versuch, sie mit den bloßen Händen zu öffnen, stellte sich schnell als sinnlos heraus. Solange der Luftdruck nicht normal war, würde die Automatik al le Türen eisern verschlossen halten. Ross starrte düster vor sich hin. Er war also aus dem kleinen Gefängnis seines Zimmers nur in das größere des Korridors geflohen.
Es gab nur einen Weg hinaus. Die Ventilationsanlage. Die Schächte durchzogen die gesamte Station. Ihre Verzweigungen verbanden alle Räume und Gänge von Boreas miteinander. Sie waren eng und verschlungen, aber Ross wußte, daß er keine andere Wahl hatte. Auf seinem Bett stehend entfernte er das Gitter des Schachtes und legte auf diese Weise eine Öffnung frei, die gerade seiner Schulterbreite entsprach. Zu sammen mit dem umgeschnallten Atemgerät paßte er nicht in diesen schmalen Schlauch. Er behielt die Atemmaske vor dem Mund, setzte die Sauerstofffla sche ab und schob sie zuerst in den Schacht. Dann kroch er Zentimeter für Zentimeter hinterher. Das Licht der Taschenlampe erzeugte an den glatten Wänden seltsame Reflexe. Nach einigen Metern erreichte er einen wesentlich höheren und breiteren Schacht, dem er hoffnungsvoll folgte, bis der Sauerstoffzylinder auf einen Wider stand stieß. Ein lückenlos über die ganze Breite des Tunnels gespanntes Stahlnetz versperrte den Weg. An Umkehren war nicht zu denken. Ross hatte we nig Lust, rückwärts kriechend in eine Turbine zu ge raten. Das Hindernis mußte beseitigt werden, und zwar bald, denn nach der Anzeige des Meßgeräts reichte der Sauerstoffvorrat für nicht viel mehr als vierzig Minuten. Verzweifelt suchte er eine Lösung.
Er brauchte ein Werkzeug. Die Sauerstoffflasche! Mit ihr als Rammbock konnte er versuchen, das Netz zu zerreißen – ein gewagtes Manöver, denn das Innere des Behälters stand unter hohem Druck. Er hatte von Raumfahrern gehört, die eine Sauerstoffflasche hatten fallen lassen. Es war, als ob eine Stange Dynamit ex plodierte. Der Vorratsanzeiger sank auf drei Minuten. Ross packte den Zylinder mit beiden Händen, schloß instinktiv die Augen und rammte ihn mit aller Kraft gegen das Netz. Das Netz zerriß mit einem Knall. Nach einigen Metern entdeckte er einen vergitter ten Schacht, der auf einen Tunnel hinausführte. Mit Hilfe der Flasche zerschlug er das Gitter. Er kroch hinaus und befand sich in der Vorratskammer. Ross nahm den Weg durch die Tür, durchquerte Kombüse und Speiseraum und eilte zum Vorraum, wo er ein neues Atemgerät vorfand. Über eine Leiter erreichte er das Anlegedock, in dessen Nähe er einen Ersatzkontrollraum kannte. Von dort aus mußte Eva Keough die Energiever sorgung von Boreas lahmgelegt haben. Binnen einer halben Stunde hatte sich Ross mit den Reglerkreisen so vertraut gemacht, daß er den Versorgungsprozeß wieder in Gang bringen konnte. Als erstes flammte die Beleuchtung auf; dann
pumpte die Klimaanlage frischen Sauerstoff in die Station. Als Ross hörte, daß die verriegelten Schotts Abschnitt nach Abschnitt wieder freigaben, setzte er die Atemmaske ab. Er holte tief Luft und reckte sich. Es war ein großar tiges Gefühl. Die Station war wieder zum Leben erwacht. Er wandte sich vom Kontrollbord ab und wollte den Raum verlassen, als er durch das Beobachtungsfen ster einen Lichtschein wahrnahm, der ihn an das Blinkzeichen der Navigationsleuchte eines Raum schiffes erinnerte. Er sagte sich, daß es sich um eine Spiegelung einer der Kontrolleuchten handeln müsse. Die Erklärung war logisch, aber falsch. Ross hörte die charakteristischen Metallgeräusche eines anlegenden Schiffes. Mit einem Blick auf die abgestumpften Flügel hatte er jeden Zweifel in sich beseitigt. Nach neunundsechzig Stunden war das lange vermißte Versorgungsschiff zurückgekehrt. Dr. Alfred Nystrom stand im Ersatzkontrollraum und betrachtete eingehend den kreisrunden Fleck auf dem Infrarotfilm. »Wenn dieser Fleck den ›Basketball‹ darstellt«, sag te er, »– und ich vermute nichts anderes –, und wenn im Innern tatsächlich ein größerer Mechanismus ver borgen ist, dann paßt alles zusammen.«
Ross dachte einen Moment nach. »Ich glaube, Sie haben recht. Es muß sich um einen Laser handeln.« »Ich habe die Daten ein paar Mal durch den Com puter laufen lassen. Das Resultat war immer das glei che. Als der Relaissatellit fünfzehn Kilometer vom ›Baseball‹ entfernt war, verstummte er. Anscheinend hatte seine Nähe die Mannschaft des ›Basketball‹ be unruhigt und –« »– und sie haben das Feuer eröffnet«, ergänzte Ross den Gedankengang des Astronomen. »Es gibt keine andere Erklärung für den Zustand, in dem ich den Relaissatelliten vorgefunden habe. Er war zu einer formlosen Masse zusammengeschmolzen.« Ross sah keinen Grund zu widersprechen. Er hatte sich noch immer nicht von dem Schock erholt, Dr. Nystrom lebendig wiederzusehen. Es war ihm, als ob er zu einem Geist spräche. Dr. Nystrom wußte noch mehr zu berichten. Das Raumschiff, das Eva Keough und ihre Leute fortge bracht hatte, war auf dem Weg zum ›Basketball‹. Der Astronom hatte seinen Kurs mit Hilfe des Radars ver folgen können. Der nächste Schritt, den Dr. Nystrom vorhatte, versetzte Ross einen neuen Schock. Er hatte die Absicht, Eva Keough zu folgen. »Sie manövrieren sich damit genau in die Situation, in der sie Sie haben will«, protestierte Ross. »Sie hat zugegeben, daß die Anordnung, das Schiff ohne Sau
erstoff fliegen zu lassen, von ihr stammt. Wenn sie einen Laser hat, dann wird sie mit Ihnen dasselbe machen wie mit dem Relaissatelliten.« »Falls sie einen Laser hat – das ist der springende Punkt. Vielleicht ist es gar kein Laser. Ich will es he rausfinden«, sagte er trocken. »Der Treibstoffvorrat des Versorgungsschiffs reicht aus, und ich habe das Überraschungsmoment auf meiner Seite.« »Das stimmt. Für Eva Keough sind Sie der verstor bene Dr. Nystrom.« Der Astronom lächelte bei dem Gedanken. »Sie wird vermutlich recht überrascht sein, mich in derart guter Verfassung wiederzusehen.« »Ich habe ja dieselbe Erfahrung mit Ihnen ge macht«, sagte Ross, »und es interessiert mich zu se hen, ob sie genauso reagiert.« Es dauerte eine Weile, ehe Dr. Nystrom begriff, was Ross damit meinte. »Halt, Ross! Niemand hat gesagt, daß Sie mitkom men sollen!« Er warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Sie meinen es anscheinend ernst?« Ross nickte. Er hatte diesen Entschluß gefaßt und würde sich um nichts in der Welt davon abbringen lassen. »Sie wissen, daß es Ihnen genauso gehen könnte, wie Sie es mir prophezeit haben?« fragte Dr. Ny strom. »Ein Laserstrahl kennt keine Unterschiede.«
»Ich habe gerade eine Schießerei hinter mir«, ant wortete Ross. »Der Gedanke daran ängstigt mich nicht halb so sehr wie die Möglichkeit, auf Boreas al lein zurückzubleiben.« Schließlich gab Dr. Nystrom sein Einverständnis, und Ross machte sich auf den Weg zum Anlegedock. Dr. Nystrom rief ihn zurück. »Das Schiff kann nicht starten, ehe wir nicht alle Sauerstoffbehälter an Bord gefüllt haben.« »Soviel ich weiß, befinden sich die drei grünen Zy linder noch im Zentrallager«, antwortete Ross. »Es gibt noch mehr davon. Andernfalls wäre ich jetzt nicht so gesund und munter. Der einzige Um stand, der mir das Leben gerettet hat, war die Tatsa che, daß Eva Keough nicht daran gedacht hat, daß sich fünf Raumanzüge in dem Schiff befinden. Jeder enthält in den Trageflaschen Sauerstoff für zwölf Stunden. Sie sind alle leer und müssen wieder aufge füllt werden. Eva Keough soll ihre Fehler allein ma chen«, sagte Dr. Nystrom grimmig lächelnd. »Ich denke nicht daran, ihrem Beispiel zu folgen.«
16
Der Zeitpunkt der Begegnung mit dem Satelliten war nahegerückt. Ross nahm mit einem Seufzer das Fernrohr von den Augen. »Noch keine Spur vom ›Basketball‹«, meldete er Dr. Nystrom. »Das entspricht meinen Erwartungen«, antwortete der Astronom. »Er wird so lange unsichtbar bleiben, bis er aus dem Erdschatten tritt.« Das Schiff und der Satellit schwebten beide über der Nachtseite der Erde. Das erste Licht der Dämme rung näherte sich. Nervös starrte Ross wieder durch das Fernglas in den leeren Raum. Nichts außer den Sternen und der halben Scheibe des Mondes war zu sehen. Das Schiff, der Satellit und die Erde blieben in tiefes Dunkel getaucht. Der Gedanke, daß sich der ›Basketball‹ in dieser Sekunde unentdeckt in unmittelbarer Nachbarschaft des Schiffes befinden konnte, beunruhigte Ross. Viel leicht betrug die Entfernung nicht mehr als ein paar Meter, und der auf das Schiff gerichtete Laser wurde gerade auf Betriebstemperatur aufgewärmt. Ross wünschte, er hätte Dr. Nystrom dazu überreden kön nen, das Schiffsradar zu benutzen und auf diese Wei se die Position des Satelliten eindeutig festzustellen.
Vor fünf Stunden hatten sie Boreas verlassen. Dr. Nystroms Absicht war es, sich dem ›Basketball‹ un bemerkt zu nähern. Das bedeutete, daß Licht, Funk und Radar ausgeschaltet bleiben mußten. Ross hatte nicht die leiseste Ahnung, wo der Satellit auftauchen konnte. Er sah nichts als tintenschwarze Nacht, und trotz Dr. Nystroms Versicherungen, der Satellit wür de deutlich und rechtzeitig zu erkennen sein, nagten in ihm leise Zweifel. Über dem östlichen Rand der Erde wurde es hell, und schließlich kletterte eine riesige gelb-weiße Scheibe über die dünne, durchsichtige Schicht der Atmosphäre. »Sonnenaufgang«, verkündete Dr. Nystrom trium phierend. »Legen Sie jetzt das Fernglas weg, Ross, und schauen Sie nach vorn links.« Ross drehte sich um. Der Astronom hatte recht. Ei ne kleine Metallkugel reflektierte in ungefähr zwan zig Kilometer Entfernung das Sonnenlicht. Ein kurzes Einschalten des Triebwerks verkürzte die Entfernung um die Hälfte. Es war tatsächlich der ›Basketball‹, der von einer münzgroßen Scheibe auf das Ausmaß einer stattli chen Orange angewachsen war. Mit ausgeschaltetem Triebwerk schwebte das Schiff langsam auf die glei ßende Kugel zu. Unter ihnen leuchtete der Stille Ozean in tiefem
Blau, von dem sich verstreute weiße Wolken abho ben. Zur Rechten erkannte Ross die australische Kü ste. Der Horizont verschwamm in Dunst und Wol kenschichten. Der Kurs des Schiffes verlief gerade wegs in südlicher Richtung. Ross hörte ein Klicken in der Kabine und drehte sich um. Dr. Nystrom hatte das Funkgerät eingeschal tet und richtete die Empfangsantenne auf den ›Bas ketball‹. »Es scheint dort irgendeine Aufregung zu geben«, berichtete er eine Minute später, den Hörer an sein Ohr gepreßt. »Sind wir entdeckt?« fragte Ross zögernd und drehte sich rasch wieder zu dem Satelliten um. Nichts hatte sich verändert. Der ›Basketball‹ zeigte sich als riesiges, aus Aluminiumfolie zusammenge schweißtes rundliches Objekt, das trotz seines kom pakten Aussehens nichts anderes als ein aufgeblase ner hohler Ballon war. »Ich glaube nicht, daß sie uns geortet haben«, ant wortete Dr. Nystrom. »Ich konnte einen regen Funk verkehr mit der Erde und einige verschlüsselte Funk sprüche aufnehmen. Es gibt aber kein Anzeichen da für, daß unsere Anwesenheit entdeckt ist.« Ich kann nicht verstehen, daß sie uns nicht entdeckt haben, dachte Ross. Wir sind doch nur zehn Kilome ter voneinander entfernt!
»Einen Moment«, sagte Dr. Nystrom aufgeregt. »Der Funkverkehr wird dichter. Ich höre alles. Da – jemand gibt eine Anweisung zum Start. Jetzt kommt die Bestätigung.« »Was hat das zu bedeuten?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte der Astronom. »Haben Sie Angst?« »Ich weiß nicht. Nach allem, was Sie mir über das Schicksal Ihres Relaissatelliten erzählt haben, sollte ich eigentlich Angst bekommen.« »Ich gebe Ihnen recht«, sagte Dr. Nystrom sachlich. »Wir haben keinen Anlaß, uns noch länger hier he rumzutreiben.« Seine Hand zitterte etwas, als er sie nach dem Startknopf ausstreckte. Er sollte die Bewegung nicht zu Ende führen. Der ›Basketball‹ explodierte. Die Aluminiumfolie dehnte und verformte sich. Dann zerriß sie lautlos. Unzählige Fetzen aus Alumi niumfolie fegten wie Blätter im Herbstwind davon. An der Stelle, wo einmal der ›Basketball‹ gewesen war, glänzte ein riesiges metallisches Insekt in der Morgensonne. Ross lehnte sich weit vor und starrte auf die furchterregende Erscheinung. Die Maschine besaß ein zylindrisch geformtes Ende, das in einen Komplex von Düsen auslief. Das andere Ende be stand aus einer verwirrenden Fülle von Antennen,
Sonden und durchsichtigen Blasen und ähnelte am ehesten einem tausendfach vergrößerten Spinnen kopf. Das Objekt drehte sich langsam im Raum und be wegte wie spielerisch seine Fühler. Einige beklem mende Sekunden lang richtete es eine seiner Anten nen direkt auf das Versorgungsschiff, und Ross er wartete jeden Moment den grellen Lichtschein eines Lasers. Die Maschine schien jedoch an dem Raumschiff nicht interessiert zu sein. Wahrscheinlich betrachtete sie das Schiff nur als einen der Aluminiumfetzen. Sie drehte sich ruhig weiter, richtete sich in nördlicher Richtung aus und legte die Antennen an. Ein sonnenheller Strahl fuhr aus dem Düsensystem des Metallobjekts. Einen Herzschlag später war die Maschine nur noch als ferner Lichtpunkt wahrzu nehmen. »Was für ein tolles Raumschiff«, sagte Dr. Nystrom bewundernd. »Dieses Schiff hat also den Relaissatelliten zer stört«, stellte Ross fest. Dr. Nystrom nickte ehrfürchtig. »Ich habe noch nie etwas ähnliches gesehen. Es muß das erste seiner Art sein. Anscheinend wurde es vor unserer Nase im In nern des ›Basketball‹ gebaut.« Dr. Nystrom war gerade im Begriff, den Kopfhörer
abzulegen und das Funkgerät auszuschalten, als ein schwaches Geräusch seine Aufmerksamkeit fesselte. »Äußerst ungewöhnlich«, murmelte er. »In der Nähe arbeitet ein sehr schwacher Sender, wahr scheinlich das Sprechgerät eines Raumanzugs.« Der Astronom bestimmte die Position des Senders. »Zehn Kilometer von hier«, sagte er. »Ich würde das Ding gern in näheren Augenschein nehmen.« Ross nickte, und das Schiff trieb gemächlich zwischen den Aluminiumfetzen vorwärts, bis ein Objekt in Sicht kam. »Es ist tatsächlich ein Raumanzug«, bestätigte Ross. »Das fremde Raumschiff hat etwas zurückgelassen.« Im Innern des Raumanzugs bewegte sich ein Mensch, der die Anwesenheit des Schiffes offenbar nicht bemerkt hatte. Dr. Nystrom öffnete die große Ladeluke. Durch ge schicktes Manövrieren erreichte er, daß das Schiff durch seine Eigenbewegung den Menschen in sich aufnahm. Dann schloß er die Luke wieder und stellte den alten Luftdruck her. Ross kletterte zu der Gestalt im Raumanzug. Er sah, daß die Sichtscheibe beschla gen war, und öffnete alarmiert den Helm. »Mein Gott«, rief er Dr. Nystrom zu, »es ist Tim.« Tim öffnete ein verschwollenes Auge. »Mach nicht soviel Lärm«, sagte er mühsam atmend. »Mir geht es ausgezeichnet.«
»Du bist ein elender Lügner«, antwortete Ross, während er Tim aus dem Raumanzug zerrte. Dann pfiff er durch die Zähne. Der Anblick war erschrek kend. Tim war am ganzen Körper mit Abschürfungen und blauen Malen übersät und mit Blut verkrustet, das aus einer Schußwunde an seinem rechten Ober arm stammte. Ross schüttelte den Kopf. »Dich hat es richtig er wischt!« »Das kommt davon, daß ich nicht reden wollte«, stöhnte der Arzt. »Zuerst wußte ich gar nicht, was sie von mir wollten. Und dann hat mir ihre unhöfliche Art die Lust zur Zusammenarbeit genommen.« Als der Astronom hinzutrat, kostete es Tim sichtlich Mü he, den Kopf zu drehen. »Sind Sie es, Dr. Nystrom?« »Kein anderer«, kam die Antwort. »Soeben habe ich die Hauptstation benachrichtigt. Die Krankensta tion ist in Bereitschaft, Sie zu empfangen.« »Ein deprimierender Gedanke.« Ross schleppte den Koffer für Erste Hilfe heran und begann, Tims Schußverletzung zu behandeln. Tim lächelte blaß und lehnte sich zurück. »Meine Kol legen werden mir nicht glauben, daß mich ein Meteo rologe anästhetisiert hat. Ein Niedergang der ärztli chen Kunst.« »Willst du es lieber selbst tun?« fragte Ross. »Nein, ich genieße den Austausch der Rollen sehr.
Da wir gerade von Rollen sprechen – Eva Keough hält Sie für einen Spion, Dr. Nystrom. Hat sie damit recht?« »Was meinen Sie selbst dazu?« »Ich wußte, daß Sie keiner sind«, sagte Tim. »Aber wie kommt der Militärische Nachrichtendienst auf diese Idee?« »Wahrscheinlich durch dieselbe Art von Logik, durch die Sie in die Sache hereingezogen worden sind.« »Die sind alle verrückt!« stellte Tim fest. »Sie lö cherten mich auf Boreas und auf dem ›Basketball‹ ständig mit einer einzigen Frage: Wo befindet sich die Zentrale des Agentenrings? Sie glauben fest an die Existenz einer geheimen Basis.« »Auch zu mir hat Eva Keough davon gesprochen«, bestätigte Ross. »Ich wüßte gern, was du ihnen er zählt hast.« »Den Verband nicht so straff anlegen!« befahl Tim in sachlichem Ton. Dann fuhr er fort: »Ich sagte, die Zentrale sei auf Atlantis oder einem ähnlich sagen umwobenen Ort. Zuerst wußte Martino nicht, was er davon halten sollte. Doch er kam rasch dahinter, und ich mußte fürchten, noch einmal mit seiner Fünfund vierziger Bekanntschaft zu machen.« Ross befestigte die Bandage und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu betrachten.
»Zum Glück ist dieses Los an dir vorbeigegangen«, sagte Ross stirnrunzelnd, »sonst wärest du noch län ger meinen ärztlichen Künsten ausgesetzt gewesen.« »Der Verband sitzt wunderbar, ich danke dir«, lob te Tim. Dann erzählte er weiter. »Als ich mit Martino gerade an diesem Punkt angelangt war, stürzte Eva Keough herein und befahl, mich in Ruhe zu lassen. Sie verkündete, daß Dr. Ahn unter dem Einfluß von Drogen zusammengebrochen sei. Seine Aussage hat sie ziemlich aufgewühlt. Sie beschloß, die geheime Spionagezentrale sofort zu zerstören. Ich wurde in einen Raumanzug gesteckt und durch die Luke hin ausgestoßen. Das nächste, an das ich mich erinnern kann, seid ihr beide. So klein ist das Universum.« »Was hat Dr. Ahn im einzelnen gesagt?« fragte Dr. Nystrom. »Die Drogen müssen ihn völlig durcheinanderge bracht haben. Er sagte, Boreas sei die Zentrale. Eva Ke ough ist noch verwirrter, denn sie hat ihm geglaubt.« »Sind Sie sicher, daß jetzt Boreas ihr Ziel ist?« frag te Dr. Nystrom rasch. »Ja, unsere alte Heimat«, bestätigte Tim. »Es wird nicht viel von ihr übrigbleiben.« »Wie meinen Sie das?« »Evas Schiff ist schwer bewaffnet.« Dr. Nystrom nahm Ross auf die Seite und teilte ihm flüsternd mit, daß er die Navigationsautomatik
auf Kurs zur Hauptstation eingestellt habe. »Der Computer bringt euch beide innerhalb einer Stunde zur Hauptstation.« »Uns beide?« wunderte sich Ross. »Kommen Sie denn nicht mit?« »Noch nicht. Ich habe noch auf Boreas zu tun.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Eva Keough wird Sie in die Luft jagen.« »Dann muß ich sie eben davon abhalten.« Ross sah, daß Dr. Nystrom fest entschlossen war. Er hatte jetzt eine unangenehme Entscheidung zu treffen. So sehr ihm auch der Gedanke mißfiel, Tim allein zur Hauptstation zu schicken, so wenig wollte er Dr. Nystrom im Stich lassen. »Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhigte ihn sein Freund. »Ich kann gut auf mich selber aufpassen. Achte lieber darauf, daß Eva Keough Dr. Nystrom nichts antut.« Ross fand schließlich einen passenden Raumanzug. Nachdem er ihn angelegt hatte, betrat er zusammen mit Dr. Nystrom die Luftschleuse und schloß die in nere Tür. Einen Augenblick danach öffnete sich die Außen luke. Kraftvoll stieß sich Ross ab und schwebte weit in den Raum hinaus. Eine Minute später zündeten die Triebwerke des Schiffes, das auf einer kurzen Tan gentialkurve in Richtung Hauptstation davonflog.
Ross blickte sich um. Wo war Dr. Nystrom? fragte er sich. Und wo war das Flugboot, das sie zu Boreas bringen sollte? Ross begann sich unbehaglich zu fühlen. Mit wach sender Verzweiflung suchte er den Raum nach einer Gestaltung im Druckanzug oder nach einem kleinen Flugboot ab. Doch der Raum war, von einigen Aluminiumfetzen abgesehen, leer. Ross schaltete das Sprechgerät seines Raumanzugs ein und sandte einen Ruf aus. Im Kopfhörer blieb es still. Er trieb allein im Raum. Fünfzehnhundert Kilome ter unter ihm strahlte die Erde in Azurblau und Sma ragdgrün. Ruhig zog der Halbmond seine Bahn durch das samtige Schwarz. Ross hielt die Augen geschlossen. Er spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Plötzlich richtete sich jedes Haar seines Körpers einzeln auf. Seine Haut brannte, und ein krampfarti ger Schmerz schoß durch seinen Körper. In Ross baute sich ein hohes elektrisches Span nungsfeld auf. Die Energiezellen meines Anzugs brennen durch, dachte Ross. Im nächsten Augenblick werde ich elek trisch hingerichtet. Was für eine komische Art zu ster ben. Der Himmel spaltete sich und verschluckte ihn.
17
Ross merkte, daß er bewegt worden war. Vor seinen Augen verschwamm ein Gewirr von Linien, Ecken und glitzernden Oberflächen. Dann prägten sich die einzelnen Elemente deutlicher aus, und er erkannte seine Umgebung. Es war das radioastronomische Labor Dr. Ny stroms. An den Wänden befanden sich die Schalttafeln der Computer und die Konsolen der Verstärker. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums stand Dr. Ny strom, dessen rechte Hand auf einem in die Wand eingelassenen Kontrollbord ruhte. Mit der Linken gab er Ross Zeichen. Ross löste die Bindungen seines Anzugs und nahm den Helm ab. Es wurde ihm verschwommen bewußt, daß der Astronom eine ganze Anzahl von Fragen auf ihn abschoß. Doch er fühlte sich zu einer Antwort nicht in der Lage, denn er war viel zu sehr mit den Fragen beschäftigt, die er sich selbst stellte. Wie war er hierhergekommen? Und wie konnte Dr. Nystrom hier anwesend sein? War er überhaupt hier? Oder handelte es sich nur um eine besonders ein dringliche Halluzination, verursacht durch den Elek troschock?
Doch Ross wußte genau, daß es sich weder um eine Halluzination noch um eine Illusion oder einen Traum handelte. Das Labor war aus festem und soli dem Material. Bis auf eine Ausnahme wich nichts von der Normalität ab: Ross hatte von einem Herzschlag zum anderen et wa fünfzigtausend Kilometer zurückgelegt. Und ir gendwie stand er jetzt im astronomischen Labor von Boreas. Dr. Nystrom hielt mitten im Satz inne. »Sie haben mir überhaupt nicht zugehört«, stellte er sachlich fest. Ross musterte den Astronomen. »Sie haben mich bis jetzt hinters Licht geführt.« Dr. Nystrom schwieg. »Eva Keough hatte recht«, fuhr Ross in einer Mi schung aus Wut und Selbstbeherrschung fort. »Sie waren die ganze Zeit ein Spion.« Die Anschuldigung wischte die gelassene Haltung Dr. Nystroms weg. »Sie wissen, daß das völliger Unsinn ist. Eva Ke ough hat keineswegs recht – sie liegt vielmehr total daneben. Sie hat sich durch die Panikmache ihrer Vorgesetzten und Mitstreiter und durch ihre eigenen Befürchtungen aus der Ruhe bringen lassen.« »Wollen Sie mir das ernstlich weismachen?« fragte Ross bitter. »Lassen Sie sich von den Alarmreaktionen der an
deren nicht um Ihren klaren Verstand bringen, Ross!« beschwor ihn Dr. Nystrom. »Mir scheint, Eva Keough hat gute Gründe für ihre Haltung.« Ross deutete mit dem ausgestreckten Arm auf das Kontrollbord in der Wandnische. »Dieses Schaltbrett habe ich noch nie gesehen. Die Wand war immer glatt. Was halten Sie hier verborgen? Ist es die Waffe, von der sie gesprochen hat?« »Nein«, antwortete Dr. Nystrom ruhig. »Sie und Eva irren sich. Dieses Schaltbrett gehört zu einem Trans portsystem, gleichgültig, was der Militärische Nach richtendienst darüber denken mag. Diese Vorrichtung hat Sie hierher gebracht, und ich kann mir nicht vor stellen, daß Sie das als feindseligen Akt betrachten.« »Was für einen Zweck hat dieses Transportsystem dann?« »Es unterstützt gelegentlich meine Arbeit. Ich bin hauptsächlich Beobachter«, erklärte Dr. Nystrom. »Ich bin es seit geschlagenen dreißig Jahren. Ich beo bachte vor allem Menschen und Ereignisse. Ich habe gewartet –« »Worauf?« fragte Ross argwöhnisch. »Ich habe auf den Zeitpunkt gewartet, an dem ich meine Rolle aufgeben und heimkehren kann.« »Spion oder Beobachter – wo ist da der Unter schied?« Ross schaute den Astronomen fest an. »Das läuft doch auf das gleiche hinaus.«
»Keineswegs, Ross. Der Unterschied liegt im Zweck. Ich habe nie in feindlicher Absicht gehan delt.« Ross' Zweifel waren damit noch nicht beseitigt. »Aber für wen führen Sie denn Ihre Beobachtungen durch?« beharrte er. »Oder, einfacher ausgedrückt – wo sind Sie zu Hause?« Dr. Nystrom nahm ein Buch zur Hand und blätter te darin. Es war ein astronomisches Werk. Bei einem Diagramm der Milchstraße hielt er inne und deutete mit dem Zeigefinger auf ein Gebiet großer Sterndich te. »Dort«, sagte er schlicht. Ihre Welt war anders als die Erde. Sie kreiste im Zen trum der Galaxis um eine gewaltige Sonne, einen al ternden Roten Riesen. Ihr Planet bot ihnen trostlose und furchtbare Lebensbedingungen. Unüberwindli che Risse und Schluchten spalteten die Kruste des Planeten, so daß ihre Wohnsiedlungen mehr oder weniger isoliert voneinander existierten. Unaufhör lich fegten Staubstürme über die alptraumhafte Landschaft. Schon früh im Lauf ihrer Geschichte hatten sie das Prinzip des fahrzeuggebundenen Transports aufge geben und statt dessen Pforten benutzt. Es handelte sich dabei um Energiefelder, die imstande waren, die
Raumstruktur an bestimmten Orten aufzulösen. Da durch wurde es möglich, zwischen solchen Pforten ohne Zeitverlust zu reisen. Dank der Pforten war jeder Punkt des Universums nicht mehr als einen Schritt vom andern entfernt. Innerhalb von Jahrmillionen verfeinerten sie die Technik der Pforten bis zur Per fektion. Die Geschichte ihrer Isolierung lastete schwer auf ihnen, und so dehnten sie den Bereich der Pforten auf andere Planeten ihres Sonnensystems aus. Doch sie stießen nur auf öde, unbelebte Welten. Besessen vom Forschungsdrang übersprangen sie mit Hilfe der Pforten die Kluft zum nächsten Sonnen system, wo neue Enttäuschungen auf sie warteten. Doch sie ließen sich nicht entmutigen und weiteten den Pfortenverband bis zum Rand der Galaxis aus. Überall suchten sie nach Leben und fanden nichts als Felsen, Wolken und Wüste. Ihr Suchen wurde immer gehetzter. Verzweifelt reisten sie durch die Tiefen des Raums. Ihre Angst wuchs. Waren sie allein in der Galaxis? Ein Verband von Pforten führte in einen der äuße ren Arme der galaktischen Spirale. Sie stießen auf ei ne gelbe Normalsonne und neun Planeten. Einer davon war bewohnt. Nach Jahrtausenden ergebnislosen Suchens ver setzte ihnen die plötzliche Begegnung mit intelligen
ten Lebewesen einen Schock, und sie zogen sich so fort wieder zurück. Sie waren sehr vorsichtig und lie ßen sich Zeit. Geduldig beobachteten sie die neue Welt von der Ferne. Dann sandten sie Kundschafter unter die Menschen. Ein helles Klingelzeichen aus dem fremdartigen Kontrollbord in der Wand unterbrach Dr. Nystroms Erzählung, und Ross vermutete, daß es etwas mit der Kontrolle des Pfortenfeldes zu tun haben mußte. »Entschuldigen Sie«, sagte der Astronom und eilte mit besorgter Miene zu der Schalttafel hin. Ross' Gedanken kreisten um die Neuigkeiten, die er gerade gehört hatte. Er fragte sich, welche Rolle ihm selbst und anderen bei der Ausführung des großartigen Plans zugedacht war. Er wußte, daß die Ereignisse, die zu diesem Treffen in dem astronomi schen Labor geführt hatten, die ganze Menschheit be trafen. Die Menschheit ist wieder einmal am Scheideweg, dachte er. Tief in seinem Innern fühlte er eine eisige Kälte. Er hegte starke Zweifel an der Fähigkeit der Mächtigen, mit der Situation auf angemessene Weise fertig zu werden und richtig zu reagieren. Der bishe rige Verlauf der Geschichte trug nichts zur Ermuti gung bei; Ross brauchte nur an Eva Keough zu den ken. Ein neues Klingelzeichen vom Schaltbrett her riß
Ross aus seinen Gedanken. Dr. Nystrom hatte einen Bildschirm aktiviert. Inmitten eines Suchgitters be wegte sich ein einzelner roter Fleck. Dr. Nystrom deutete mit dem Zeigefinger auf den wandernden karmesinroten Punkt. »Das Kriegsschiff«, sagte er. In seiner Stimme lag Nervosität. »Es macht Jagd auf uns.«
18
Das Kriegsschiff erschien am Himmel als wandernder heller Stern unter Sternen. Seine Existenz war un übersehbar. »Es begibt sich in eine parallele Umlaufbahn«, er klärte Dr. Nystrom nach einem Blick auf das Suchgit ter des Schirms. »Vielleicht kann ich auf seine Wellen länge gehen –« Während der Astronom das Funkgerät bediente, konzentrierte Ross seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Das dreihundert Kilometer entfernte Schiff war jetzt in seinen Details zu erkennen, und Ross verglich es wieder mit einer Spinne, die im Raum hing. Er zog einen langen, grellen Feuerschweif hinter sich her. Die Kabinenfenster waren be leuchtet. Eva Keough hielt es nicht für nötig, die An näherung an Boreas heimlich durchzuführen. Sie war sich ihrer Sache sicher und vertraute offensichtlich der Stärke ihrer Waffen. Mit Boreas würde sie keine Mühe haben. Dr. Nystrom sagte, als ob er Ross' Gedanken gele sen hätte: »Wenn Sie fort wollen, dann sagen Sie es bitte. Der Angriff erfolgt bald und vermutlich ohne Vorwarnung.« »Ich habe gerade daran gedacht«, antwortete Ross.
»Boreas hat keine Chance, genau wie der Relaissatel lit. Sie wissen das.« »Das ist richtig, Ross. Aber Sie übersehen eines: Der Relaissatellit hatte keine Chance, weil er nicht denken konnte. Er war nichts als eine Maschine. Mit Boreas ist es etwas anderes. Solange ich an Bord bin, kann ich für die Station denken.« »Wir sollten beide verschwinden«, drängte Ross. »Ich wiederhole: Wenn Sie gehen wollen, dann sa gen Sie es rechtzeitig.« »Und Sie?« »Ich bleibe.« Dr. Nystroms Entschluß schien endgültig zu sein. Der Astronom wandte sich wieder dem Funkgerät zu. Warum wollte er bleiben, dachte Ross. Warum war Boreas für ihn so wichtig? Und welche Bedeu tung konnte die Erde für den Angehörigen einer Rasse haben, die sich ohne Rücksicht auf die Lichtge schwindigkeit durch das ganze All bewegen konnte? Was für außergewöhnliche Wesen mußten die Frem den sein, dachte Ross. Er erinnerte sich an altgriechi sche Sagen, in denen sich Götter in die Angelegenhei ten der Menschen mischten. Meist war der Ausgang tragisch. Doch es handelte sich ja nur um Sagen. Dies hier war jedoch lebendige Wirklichkeit. Hier prallten Menschheit und außerirdische Wesen zu sammen. Wenn es Eva Keough gelingen sollte, die
Pforte zu zerstören und Dr. Nystrom zu töten, dann wären Vergeltungsschläge aus dem All die unver meidliche Folge. Doch ebensowenig würde sich die Erde mit einer Niederlage abfinden können. Es mußte eine andere Lösung gefunden werden, dachte Ross mit wachsender Panik. Es war ihm klar, daß er in den Augen eines jeden Menschen als Verrä ter gelten würde, wenn er Dr. Nystrom half. Es wäre der größte Verrat aller Zeiten. Und doch konnte er Dr. Nystrom nicht auf Boreas allein lassen, ohne ge gen sein Gewissen zu handeln. »Ich habe mich entschlossen«, teilte er Dr. Nystrom mit. »Ich bleibe. Was können wir tun?« »Ich habe versucht, mit dem Kriegsschiff Funkver bindung herzustellen, habe aber keine Antwort erhal ten. Wir müssen ihnen den ersten Schritt überlassen.« Das Kriegsschiff hatte seine Haupttriebwerke aus geschaltet und schwebte langsam näher. Dann drehte es, und Ross konnte beobachten, wie sich Luken öff neten und Antennen aus dem Schiffsinneren hervor wuchsen. Er sah näher hin. »Aus dem Bug schiebt sich ein langer Stab«, sagte Ross. »Ich sehe es«, antwortete Dr. Nystrom. »Ich habe einen der Pfortenschirme direkt darauf gerichtet.« Ross stellte sich neben den Astronomen. Der Pfor tenschirm zeigte ein klares Bild. Dr. Nystrom wählte
eine noch stärkere Vergrößerung. Der Stab schien nä herzurücken und füllte schließlich die ganze Bildflä che. Eine monströse Apparatur schien direkt auf den Schirm zu zielen. »Der Laser«, stellte Dr. Nystrom fest. »Legen Sie lieber den Raumanzug an, Ross. Wenn die Station durchlöchert ist, wird die Luft aus dem Labor entwei chen.« »Wie steht es mit der Elektrizität?« Ross nahm die Sauerstoffflaschen, schnallte sie auf den Rücken und schloß den Helm. Dann stellte er den Kopfhörer ein und prüfte besorgt den Sauerstoffvorrat. Er reichte für eine Dreiviertelstunde. Noch während er die Meßuhr beobachtete, fiel die Nadel von fünfundvier zig auf vierundvierzig Minuten. Dr. Nystrom meldete sich über das Sprechgerät. »Die Elektrizitätsversorgung ist von der Atemluft un abhängig. Mit der Pforte ist es dasselbe.« Schweigend betrachteten sie den Bildschirm. Das Kriegsschiff zog einige der Sonden wieder ein und streckte andere hinaus. Man konnte leicht vergessen, daß es sich um ein künstliches Gebilde handelte, dachte Ross. Das Schiff fuhr eine breite Antenne aus und richte te sie auf Boreas. »Hallo Boreas!« tönte es aus dem Radio. »Dr. Ny strom, bitte melden Sie sich. Wir wissen, daß Sie an
Bord sind, denn wir haben Signale Ihres Sprechgeräts aufgefangen.« »Hier ist Dr. Nystrom«, hörte Ross über den Kopf hörer. »Vermutlich spricht dort Eva Keough. Wir können uns die Formalität sparen. Was wollen Sie?« »Aber Dr. Nystrom! So eine dumme Frage«, sagte Eva Keough mit einer Stimme, als spräche sie zu ei nem störrischen Kind. »Sie sollen sich ergeben und wegen Spionage vor Gericht gestellt werden.« »Nein.« Das war die ganze Antwort; doch Ross konnte den Ärger und die Entschlossenheit Dr. Ny stroms heraushören. »Ich warne Sie, Dr. Nystrom. Auf die Dauer wird Ihnen Ihr – wie soll ich es ausdrücken – Ihr besonde rer Status nichts helfen.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, erwiderte der Astronom. »Versuchen Sie nicht auszuweichen«, fauchte Eva Keough. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Es ist keine Zeit für lange Vorreden. Wahrscheinlich haben Sie Ihre Lage noch nicht klar erfaßt. Ich will sie Ihnen erklären. Der Spionagering, den Sie aufgebaut haben, ist gesprengt. Eines der Mitglieder ist tot, ein anderes hat alles gestanden. Alles, Dr. Nystrom! Wir wissen genau über Sie Bescheid. Dank Dr. Ahn besit zen wir eine ausführliche Beschreibung Ihrer Ma chenschaften.«
»Dann wissen Sie auch, daß es keinen Grund zur Anwendung von Gewalt gibt«, entgegnete Dr. Ny strom. »Im Gegenteil. Ich sehe sehr gute Gründe, und ich werde Gewalt anwenden, wenn Sie sich nicht erge ben.« Dr. Nystrom hielt die Hand vor das Mikrophon und wandte sich zu Ross um. »Wenn Dr. Ahn wirk lich ein ›Geständnis‹ abgelegt hat, dann wissen sie vielleicht auch über die Pforte Bescheid.« »Daran habe ich auch gedacht«, sagte Ross. »Sie könnten Eva Keough die Pforte als Preis für Ihre Frei heit anbieten.« »Ich habe Bedenken, die Pforte in ihre Hände fallen zu lassen. Nein, ich sehe keinen Ausweg aus dieser Situation.« Er gab das Mikrophon wieder frei. »Mein Entschluß steht fest. Ich werde mich weder ergeben, noch die Station verlassen.« »Dann ist Ihnen nicht mehr zu helfen. Und wie steht es mit Ihnen, Mr. Moran? Ich muß Ihnen mittei len, daß die Vereinten Nationen mich ermächtigt ha ben, Boreas zu vernichten, wenn dies notwendig werden sollte.« Ross hatte gehofft, sich aus dem direkten Gespräch heraushalten zu können. Doch mit seinen nächsten Worten legte er sich endgültig fest. »Ich bleibe bei Dr. Nystrom«, hörte er sich sagen.
»Das ist sehr bedauerlich. Ich hatte gehofft, Sie würden die Lage klar sehen und die richtige Seite wählen.« »Ich habe richtig gewählt.« Er wollte noch mehr sagen, aber im Lautsprecher knackte es, und die Sprechverbindung war abgeris sen. Auf dem Bildschirm sah er, wie der Laser her umschwang und rötlich zu glühen begann. Das Gerät sandte einen gleißenden, scharf gebün delten Lichtstrahl aus, der eine Seite der Station auf riß. Das Glühen wurde zunächst schwächer, während der Laser sich abkühlte. Dann feuerte er wieder. Diesmal saß der Einschlag näher. Das Metall der Laborwand kochte. Ein Loch er schien in der Wand und im gegenüberliegenden Schott. Pfeifend entwich die Luft in den Weltraum. Der Laser feuerte wieder. Ein weißglühender Fleck neben der Schalttafel der Pforte blendete Ross. Er schrie dem Astronomen eine Warnung zu. Dann schmolz das Metall. Milchiger Qualm erfüllte den Raum. Der Laser pausierte ... Und feuerte abermals. Der Einschlag saß einen Me ter neben Dr. Nystrom, der sich duckte. »Sie müssen eine neuartige Zielvorrichtung haben«, sagte er hei ser.
Ross nickte und schaute zu, wie sich die Einschläge der Pforte näherten. Ein weiterer Schuß streifte fast den Astronomen und verwandelte die Leuchtkörper zu einer undefi nierbaren Masse. »Wir müssen uns wehren«, schrie Ross. »Wie denn?« Dr. Nystroms Stimme klang hohl und resigniert. »Boreas ist unbewaffnet.« Der Laser feuerte wieder. In wenigen Augenblik ken würden sie erledigt sein. Ross hatte eine Idee. Am Ende des Korridors lag die Notstation. Im Nu war er wieder zurück. Verständnislos starrte Dr. Ny strom auf die große Feueraxt, die Ross in den Händen hielt. »Schalten Sie die Pforte ein und transportieren Sie mich in die Nähe des Lasers!« drängte Ross. »Ich will ihn mit diesem Beil zerschmettern.« Drohend schwang Ross das schwere Werkzeug. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete der Astronom das ungewohnte Bild des axtbewehrten Mannes. Dann schmunzelte er leicht und setzte rasch die Pforte in Betrieb. Der Laser feuerte. Kühlte ab. Und feuerte wieder ... »Fertig!« rief Dr. Nystrom und griff nach dem Schalter. Ross bereitete sich auf den Elektroschock vor. Nichts geschah. »Ross«, sagte Dr. Nystrom, »es ist unmöglich.
Draußen ist keine Schwerkraft und nichts, das Ihnen ein Gegengewicht gibt. Wenn Sie versuchen, die Axt zu heben, schlagen Sie nichts als Purzelbäume in die Gegenrichtung.« Aktion und Reaktion: das dritte Newtonsche Ge setz. »Ich verstehe.« Enttäuscht blickte Ross auf die be triebsbereite Pforte. Doch, es gab einen Weg! »Warum nicht umge kehrt? Ich meine, warum sollte man den Laser nicht hierher transportieren?« »In das Labor?« fragte Dr. Nystrom. Seine Stimme zitterte. »Ich müßte das Massengleichgewicht verän dern, um den Kraftabfluß auszugleichen.« Er machte sich an der Schalttafel zu schaffen. Das Raumschiff feuerte. Durch ein Leck konnte Ross ihren Gegner sehen – einen hellen, feuerspeien den Fleck inmitten der Sterne. »Die Pforte ist direkt auf den Laser gerichtet«, ver kündete Dr. Nystrom. »Halten Sie sich gut fest!« Ross stemmte die Füße gegen den Boden. Er fühlte, wie das elektrische Spannungsfeld von ihm Besitz er griff. Die Raumstruktur des Universums wurde ver ändert. Das Labor und der Laser lagen übergangslos in derselben Raumfalte. Ross hob die Axt. Mitten im Labor gewann der Laser Gewalt. Die komplizierte Vielfalt seiner Bauelemente glitzerte ge
fährlich in dem unsteten Licht. Unbeholfen schlug Ross zu. Der Stiel entglitt seinen Händen. »Zurück, Ross!« schrie Dr. Nystrom gellend. Die Pforte kehrte den Kraftfluß um. Die Raumstruk tur normalisierte sich. Die alten Entfernungen galten wieder. Ross und Dr. Nystrom drängten sich um den Bild schirm. Da, im Bug des Raumschiffs, stand der Laser. Alles vergeblich, dachte Ross verzweifelt. Dr. Nystrom stellte eine stärkere Vergrößerung ein. Jetzt war es deutlich zu sehen. Die Schneide der Axt steckte tief im Laser, der einen Augenblick später im Schiffsinnern verschwand. Kurz danach meldete sich das Sprechgerät. »Alle Achtung, Dr. Nystrom. Ich weiß nicht, wie Sie das zustandegebracht haben. Vermutlich hat uns Dr. Ahn doch einige Einzelheiten vorenthalten. Aber das spielt keine Rolle. Wir sind auf Überraschungen vor bereitet. Ihre Zauberkunststücke werden Ihnen wenig helfen. Ich habe gerade die Anweisung erhalten, Sie zum letzten Mal zur Übergabe aufzufordern. Ergeben Sie sich!« »Kommandantin«, antwortete der Astronom, »das ist eine vielschichtige Angelegenheit. Vielleicht könn ten wir in einigen Punkten einen Kompromiß erzie len?« »Auf gar keinen Fall. Dies ist ein Ultimatum«, sagte
Eva Keough. »Ich würde gegen meine Dienstpflichten verstoßen, wenn ich auf Sie eingehen würde. Ich habe ein unangenehmes Gefühl, wie so ein ›Kompromiß‹ aussehen könnte.« Es erfolgte keine weitere Warnung. Drei Projektile verließen das Kriegsschiff und beschleunigten in Richtung auf Boreas. Sie waren zu schnell, als daß Dr. Nystrom sie hätte auffangen können. »Ich kann sie nicht anpeilen«, rief der Astronom Ross zu. Sie schlugen gleichzeitig ein. Das eine Geschoß ex plodierte im Vorratsdeck. Das zweite detonierte mit dumpfem Knall im rotierenden Schwerkraftbereich der Station. Das dritte verfehlte das Labor weit, traf eine Parabolantenne, zerriß sie in zwei Teile und zer störte den Reaktor. Die Kontrolleuchten der Pforte erloschen. Boreas war jetzt hilflos. Es gab keinen Weg zurück. Sie saßen in der Falle. Seltsamerweise schien Dr. Nystrom darüber anders zu denken. Kopf und Arme waren in einem Gewirr von Drähten und Elektronikteilen verschwunden. Dann flammte ein Mikroschweißgerät auf. Ross erschien alles so sinnlos. »Dr. Nystrom«, sagte er müde, »lassen Sie 's gut sein. Ich habe soeben einen Blick hinaus geworfen. Der Reaktor ist getroffen.« »Ich habe das bereits am Ausfall der Pforte ge merkt«, kam die Antwort. »Und ich hatte gefürchtet,
daß auch die Brennstoffzellen in Mitleidenschaft ge zogen sind. Doch die sind noch in Ordnung. Ich habe die Leitungen angeschlossen.« Das Schweißgerät wurde ausgeschaltet, und Dr. Nystrom tauchte wieder auf. Die Kontrolleuchten hatten wieder zu blinken begonnen. »So ist es schon besser«, meinte Dr. Nystrom. Er drehte sich zu Ross um. »Das Kriegsschiff wird jeden Moment merken, daß Boreas überlebt hat. Sie werden zum letzten Schlag ausholen. Deshalb habe ich vor, Sie mit Hilfe der Pforte zur Erde zu senden.« »Das klingt vernünftig. Und Sie folgen mir, nicht wahr?« Dr. Nystrom schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht riskieren, daß die Pforte Eva Keough in die Hände fällt.« Seine Stimme schwankte. »Das wäre einfach – einfach unausdenkbar.« »Aber es geschieht noch Schlimmeres, wenn Sie nicht mit mir kommen. Sie sind der einzige, der die sem Wahnsinn ein Ende bereiten kann. Sie müssen den Leuten alles erklären, damit sie wissen, daß Sie keine Bedrohung für die Erde darstellen. Ich glaube Ihnen zwar, aber ich bin der einzige Augenzeuge. Niemand auf der Erde kann Bescheid wissen, wenn Sie selbst tot sind.« »Die Brennstoffzellen sind noch voll genug, um ei nen weiteren Transport mit der Pforte zu ermögli
chen«, drängte Dr. Nystrom. »Aber ich bezweifle, daß die Reserven stark genug sind, um bis zum Sonnen system von Centauri zu reichen. Wahrscheinlich kommen wir über unser Sonnensystem nicht hinaus. Sie müssen Boreas verlassen.« Ross wollte antworten, aber der Bildschirm lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Das Kriegsschiff hatte ein großes Objekt in den Raum entlassen. Es schwebte einige Sekunden bewegungslos. Dann wurde es von einem Düsenantrieb machtvoll in Richtung auf Bo reas beschleunigt. »Sie sollten sich jetzt lieber darauf konzentrieren«, rief Ross mit lauter Stimme. »Das ist ihr Vernich tungsschlag.« Ein atomarer Vernichtungsschlag. Dr. Nystrom richtete die Pforte aus. Es gelang ihm, die Bombe anzupeilen. Die Kontrolleuchten blinkten, die Pforte war bereit. Doch Dr. Nystrom zögerte. Ross konnte sehen, wie sich das Kriegsschiff zurückzog. Es muß sich um eine Wasserstoffbombe handeln, dachte Ross. Er konnte sie jetzt schon mit bloßem Auge er kennen. Sie hatte die Größe einer Einwegbahn und kam unaufhaltsam näher. »Dr. Nystrom«, rief Ross. Der Astronom schien ge lähmt zu sein. Seine Hand ruhte reglos über der Schalttafel. Drohend und häßlich näherte sich die Bombe. In wenigen Sekunden würde sie einschlagen.
Dr. Nystrom bewegte sich. Seine behandschuhte Rechte drückte immer wieder krampfartig die Akti vierungstaste der Pforte, bis alle Kontrolleuchten erlo schen waren. Die Pforte war tot. Ross richtete den Blick durch die zerfetzten Wände von Boreas in den Raum hinaus, wo die halbe Scheibe des Mondes zwischen den Sternen hing. Plötzlich erstrahlte auf der unbeleuchteten Mond hälfte ein sonnenheller Feuerball, wuchs und über glänzte den vollen Mond, ehe die Helligkeit wieder zurückging. Ross stand starr. Es gab in der Geschichte der Menschheit kein Beispiel einer ähnlich machtvollen Demonstration. Langsam verglühte der letzte Schein, und der Erdtrabant hatte sich in einen Halbmond zu rückverwandelt. Das Kriegsschiff stoppte fünfhundert Kilometer von Boreas entfernt. Dr. Nystrom blickte auf. »Ich glaube, sie werden mit uns Verbindung aufnehmen.« Er betrachtete besorgt die Pforte. »Ich will sehen, ob ich sie reparieren kann.« Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüs sig, denn aus dem Lautsprecher drang Eva Keoughs resignierte Stimme. Als sie zu Ende gesprochen hatte, stellte Dr. Nystrom seine Bedingungen. Sie hörte wi derspruchslos zu. Innerhalb einer Minute kam eine Einigung zustande.
Die Schlacht von Boreas war geschlagen. Doch es stand ein weit wichtigerer Kampf bevor, dessen Aus gang über die Zukunft der Menschen entscheiden würde.
19
Die Offiziersmesse lag mittschiffs. Die Konstrukteure des Kriegsschiffs hatten sie so geplant, daß sie mit wenig Aufwand in einen Versammlungssaal ver wandelt werden konnte. Aber es war deutlich zu se hen, daß sie nicht mit einer Versammlung dieses Ausmaßes gerechnet hatten. Das Auditorium war dicht gefüllt mit Menschen, deren Gesichtszüge Ross zum Teil kannte: Diploma ten, UN-Gesandte, IRV-Funktionäre und Staatsmän ner. Viele von ihnen mußten sich mit Kisten, Schach teln oder dem blanken Fußboden als Sitzgelegenheit begnügen. Insgesamt neun Flugboote hatten inzwischen ange legt, und weitere waren angekündigt. Mit der glei chen Ungeduld wie alle anderen erwartete Ross die Ansprache Dr. Nystroms. Myra und Joel Colbert, die seit der gewaltsamen Räumung von Boreas Gefange ne Eva Keoughs gewesen waren, hatten allerdings dankbar in der Fähre zur Hauptstation Platz genom men. Die Strapazen der Gefangenschaft hatten beide gezeichnet. Ross lauschte den Gesprächen der Staatsoberhäup ter. Es war entnervend und enttäuschend. Ihre Un terhaltungen bewegten sich zwischen Klatsch und
haltlosen Vermutungen. Die Staatsmänner spiegelten genau den Rest der Menschheit wider. Ross übte Zu rückhaltung und gab keine Auskünfte. Sein bruch stückhaftes Wissen konnte den Gerüchten nur neue Nahrung geben. Außerdem hatte ihm Dr. Nystrom ebensowenig wie den anderen etwas über seine An sprache mitgeteilt. Das Stimmengewirr verstummte. Dr. Nystrom hat te den Raum betreten. Seine Haltung war zuversicht lich, als er unter zaghaftem Beifall und nervösem Ge flüster das Rednerpult betrat. Viele drängten sich nach vorn, um ihn von der Nähe zu sehen, denn es hatte geheißen, er sei ein sehr ungewöhnliches Indi viduum. Er begann mit der Schilderung der Geschichte sei ner eigenen Rasse, wie sie Ross schon gehört hatte. Er beschrieb den unwirtlichen Lebensraum seines Plane ten und erzählte, wie es zur Erfindung der Pforten ge kommen war. Nachdem er die Wirkungsweise der Pforten im ein zelnen dargestellt hatte, sprach er von der galakti schen Suche seiner Rasse nach Leben, einer Suche, die mit der Entdeckung der Erde ein vorläufiges Ende ge funden hatte. Ross stellte fest, daß Dr. Nystrom gut in Form war. Seine Stimme klang klar und kräftig, und sein Körper zeigte keine Anzeichen von Ermüdung. Wenn man
berücksichtigt, was er gerade durchgemacht hatte, war dieser Umstand mehr als erstaunlich und machte auf die Delegierten wahrscheinlich einen größeren Eindruck als die Beschreibung der Pforte. Die Erzählung Dr. Nystroms nahm Ross wie beim erstenmal gefangen. Besonders faszinierend fand er die Mitteilung, daß die einzelnen Lebewesen dieser Rasse ein weit höheres Alter erreichten als ein Mensch. »Ich gelte bei meiner Rasse als relativ jung«, führte Dr. Nystrom aus, »aber ich bin schon einige Jahrhun derte älter als das älteste Versammlungsmitglied in diesem Saal.« Diese Mitteilung löste eine beträchtliche Verwir rung unter den Delegierten aus. Dr. Nystrom ließ ih nen Zeit zur Diskussion. Als wieder Ruhe eingekehrt war, stellten die Delegierten fest, daß Dr. Nystrom bei einem neuen Punkt seiner Ausführungen angelangt war. Er hatte eine riesige Landkarte von Australien auf gerollt. Dann ergriff er wieder das Wort: »Ein sinnloser und furchtbarer Krieg steht diesem Gebiet der Erde bevor. Die Auseinandersetzung droht, weil eine an dere Nation in der Bevölkerungszahl zu stark zuge nommen hat, um ihre Angehörigen weiterhin zu kleiden und zu nähren. Sie halten die Auswanderung
nach Australien für die beste Lösung. Die Australier sind anderer Ansicht. Sie bereiten sich darauf vor, den Ansturm von Auswanderern abzuwehren. Wir wissen, daß es zu einer Katastrophe kommen muß. Und überall auf der Erde bahnt sich auf die Dauer eine ähnliche Entwicklung an. Wenn die Kon tinente überfüllt sind, wird man nach anderen Aus wegen suchen. Der Mond und die Planeten des Son nensystems sind unbewohnbar und lebensfeindlich. Die Sterne sind so weit entfernt, daß ein Raumschiff hundert und mehr Jahre allein für den Hinflug benö tigen würde.« Dr. Nystrom legte eine Pause ein. Ross hörte zu stimmendes Gemurmel. Den Delegierten waren die Verhältnisse ihrer eigenen Länder nur zu gut be kannt. Sie wußten von dem Hunger, dem Gefühl der Heimatlosigkeit und der wachsenden Verzweiflung der sieben Milliarden, die die Erde bevölkerten. »Sie werden sicher verstehen, worauf ich hinaus will. Meine eigene Rasse ist zwar langlebig, aber ihre Bevöl kerungszahl ist niedrig. Durch die Pforte haben sich uns Milliarden neuer Planeten erschlossen. Aber wir sind zu wenige, um den neuentdeckten Welten mehr als ei ne kurze Besichtigung zukommen zu lassen. Andererseits hat die Erde viel zu viele Menschen. Ihre Zivilisation bricht allmählich auseinander, da die Massen nicht mehr ernährt werden können.«
Einer der UN-Delegierten war aufgesprungen. »Wenn ich Sie recht verstehe, dann wollen Sie eine Art Übereinkommen zwischen Ihrer und unserer Rasse vorschlagen?« »Ja«, antwortete Dr. Nystrom. »Mir schwebt eine gleichberechtigte Partnerschaft vor, die die Erfor schung und Kolonisation der Planeten zum Gegen stand hat, die wir dank der Pforte entdeckt haben. Tausende davon sind bewohnbar und warten auf Er kundungstrupps. Es sind Welten, auf denen Men schen ohne raffinierte Überlebens-Maschinerie exi stieren können.« Ein weiterer Delegierter ergriff das Wort. »Glauben Sie im Ernst, daß irgendein vernünftiger Mensch sich einer Ihrer – Ihrer Pforten anvertraut, um nachher vielleicht in einer Wüste oder einem Dschungel zu landen?« »Es gehört sicher Mut dazu. Aber die Städte auf der Erde sind im Moment selber Dschungel. Ich bin durch die Straßen von Kalkutta, Rio, Tokio und New York gegangen. Oft war es gefährlicher als auf unbe wohnten Welten. Niemand soll zur Auswanderung gezwungen werden. Doch es werden sich genug kühne und ruhe lose Seelen finden, die dazu bereit sind und die ein neues Leben anfangen wollen. Sonst wäre meine Ein schätzung des Menschengeschlechts völlig falsch.«
Ein älterer Diplomat meldete sich zu Wort. »Ich habe genug gehört, um überzeugt zu sein. Doch Sie haben uns ein Angebot gemacht, dessen Wert astro nomisch zu beziffern ist. Welchen Preis verlangen Sie dafür?« »Partnerschaft hat keinen Preis«, antwortete Dr. Nystrom, »außer gegenseitigem Respekt und Ver trauen.« Damit war die Ansprache beendet. Die Delegierten erhoben sich von ihren Plätzen und teilten sich in er regt diskutierende Gruppen auf. Ross begab sich zu Dr. Nystrom. »Ich bin gespannt, wie die Staatsmänner reagie ren«, sagte der Astronom. »Ich glaube, daß sie grundsätzlich mit Ihren Vor schlägen einverstanden sein werden«, vermutete Ross. »Ich hoffe es.« Ehe Ross sich zu diesem Thema weiter äußern konnte, trat ein Bote hinzu und teilte den beiden mit, daß Eva Keough um eine kurze Unterredung gebeten habe. Zögernd stimmte Dr. Nystrom zu. Nach einigem Überlegen nickte auch Ross. Eva Keough hatte keine gute Zeit hinter sich. Zu erst war sie vom Militär zum Rückzug gezwungen worden. Dann hatte sie das Schiffskommando abge
ben müssen. Die IRV hatte das riesige Kriegsschiff beschlagnahmt und sie unter Arrest gestellt. Vor ihrer Kabine hielt ein Posten Wache. Ihre kühle Gelassenheit war dahin. Ihre Stimme zit terte, als sie Dr. Nystrom um Verzeihung bat. »Was vorbei ist, ist vorbei«, antwortete der Astro nom. »Sie mußten in mir eine Bedrohung für die Menschheit sehen und haben entsprechend reagiert. Es trifft Sie keine Schuld.« Ross hörte keinen falschen Ton aus der Antwort heraus. Dr. Nystrom meinte es, wie er es sagte.
20
Zwei Tage danach saß Ross mit Dr. Nystrom, Tim und Christine in dem kleinen Lokal auf der Hauptsta tion beim Frühstück. Strahlend zeigte die junge Ärz tin einen Verlobungsring vor. »Ist Tim nicht gräßlich?« sagte sie glücklich. »Stel len Sie sich vor, er hat den Ring ein ganzes Jahr in der Tasche mit sich herumgetragen, ehe er mich gefragt hat.« Sie versetzte ihm einen scherzhaften Boxhieb. »He, was bist denn du für eine Ärztin?« wehrte sich Tim. »Ich bin schließlich ein verwundeter Mann!« Christine wandte sich lächelnd an Ross und Dr. Nystrom. »Sobald der verwundete Kriegsheld gene sen ist, gehen wir nach Sidney. Dort wird die erste Pforte für die Auswanderung eingerichtet.« Ross lachte. »Das Universum ist wirklich klein. Auch ich spiele mit dem Gedanken auszuwandern. Man wird auf den neuen Planeten Meteorologen brauchen. Außerdem habe ich eine Idee. Ich will ei nen interplanetarischen Wetterdienst einrichten.« Tim warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Seit wann ist Wetter interplanetarisch?« »Dr. Nystrom hat mir einiges über die neuen Pla neten erzählt, das mir zu denken gegeben hat. Wenn
die Pforte Menschen und Materie von Planet zu Pla net transportieren kann, dann sollte sie auch imstan de sein, Wetter zu transportieren. Zum Beispiel könn te unerwünschter Regen von einem feuchten Dschungelplaneten zu einer trockenen Wüstenwelt übermittelt werden.« »Und umgekehrt trockene Wärme in ein feuchthei ßes Klima.« Tim nickte. »Warum tun wir uns nicht zusammen?« fragte Ross. »Wir haben uns zunächst für ein Jahr nach Sidney zum medizinischen Auswanderungsdienst verpflich tet, wo wir Kolonisten betreuen sollen. Dann können wir nachkommen.« Christine schaute über den Tisch hinweg besorgt zu Dr. Nystrom hin, dessen Blick sich geistesabwesend in der Ferne verlor. »Stimmt etwas nicht?« fragte sie. Er seufzte. »Ich soll morgen in Los Angeles vor füh renden Medizinern der IRV einen Vortrag über extra terrestrische Biologie halten. Hier in meiner Akten mappe habe ich zwar Hunderte von Notizen, aber in Wirklichkeit weiß ich noch nicht, was ich sagen soll.« Ross überlief es kalt, als er an die Herkunft Dr. Ny stroms erinnert wurde. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie kein ... kein ...« »Kein richtiger Mensch sind?« ergänzte dieser lä
chelnd. »Nun, in gewisser Hinsicht bin ich inzwi schen ein Mensch geworden. Doch ich darf Ihnen versichern, daß die äußerliche Ähnlichkeit gering ist und nur durch jahrelange Plastikoperationen erzielt werden konnte. Das gleiche gilt für meine beiden Ge fährten, die Ihnen als Dr. Ahn und als Jonathan Hanks bekannt sind.« »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung«, murmelte Ross. »Unsere inneren Organe«, fuhr der Außerirdische fort, »sind von den menschlichen völlig verschieden. Jeder Chirurg, der mich unter sein Messer bekommen hätte, hätte das sofort festgestellt. Deshalb war es un sere Hauptsorge, keinem Arzt in die Hände zu fal len.« »Sie waren immer ein Musterbeispiel an Gesund heit«, schmunzelte Tim. Dr. Nystrom lächelte etwas gequält. »Sie haben keine Ahnung, in was für Schwierigkeiten wir immer wieder gekommen sind. Zum Beispiel hat sich Dr. Ahn im Winter einmal im Rocky Mountain National park verirrt. Um ihn vor dem Erfrierungstod zu ret ten, mußte ich ihn mit Hilfe der Pforte nach Boreas transportieren – was ist daran so komisch, Tim?« »Nichts weiter – ich habe mich nur an Belehrungen über eingebildete Ozongerüche erinnert«, antwortete Tim mit einem Blick auf Ross.
»Nun ja«, fuhr Dr. Nystrom fort, »als das sowjeti sche U-Boot den verunglückten Hanks aufgelesen hat, war die Maskerade vorbei. Nach internationalem Seerecht mußte der Schiffsarzt eine Autopsie vor nehmen. Der Militärische Nachrichtendienst zählte eins und eins zusammen und verhaftete Dr. Ahn.« Ein uniformierter Flugbetreuer trat an den Tisch. »Dr. Alfred Nystrom? Mr. Ross Moran? Ihr Flugboot geht in zehn Minuten.« Eine Stewardeß führte sie zu ihren Plätzen. Die Ka binentür schloß sich lautlos. Die Triebwerke schalte ten sich ein, und das Schiff begann sich langsam vor wärts zu bewegen. Dann stoppte es mit einem plötzlichen Ruck. Die Kabinentür ging auf, und der Uniformierte von vor hin erschien in der Öffnung. »Dr. Nystrom!« rief er. »Ihre Freunde in dem Lokal sagten, Sie hätten dies hier vergessen.« Der Angesprochene nahm verlegen lächelnd die Aktenmappe mit den Notizen entgegen. »Ich danke Ihnen.« Ross blickte sich in der Kabine um und sah, daß sich alle Passagiere umgedreht hatten und sich an der Verlegenheit des berühmten Dr. Alfred Nystrom weideten. Jetzt wäre der rechte Moment, dachte Ross, zu wet ten, daß Dr. Nystrom lieber in den Boden versinken
möchte als diesen grinsenden Gesichtern ausgesetzt zu sein. »Wie konnte ich nur alle meine Notizen verges sen?« flüsterte Dr. Nystrom. Als das Schiff wieder Fahrt aufnahm, ließ er sich in den Sitz zurückfallen, und Ross hörte ihn murmeln: »Früher hätte ich solche Fehlleistungen entschuldigen können, indem ich gesagt hätte: ›Tut mir leid, ich bin ja schließlich nur ein Mensch ...‹« Dr. Nystrom kroch in sich zusammen. »Ich fürchte, ich gehe schweren Zeiten entgegen.«