Odo Marquard Skepsis und Zustimmung Philosophische Studien Reclam
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Odo Marquard Skepsis und Zustimmung Philosophische Studien Reclam
Universal-Bibliothek Skepsis und Zustimmung Zukunft und Herkunft. Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung Einheit und Vielheit Zeit und Endlichkeit Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes Loriot laureat Medizinerfolg und Medizinkritik. Die modernen Menschen als Prinzessinnen auf der Erbse Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit Zivilcourage
ISBN 3-15-009334-1
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€
[0] 3,10
Marquard Skepsis und Zustimmung
Odo Marquard Skepsis und Zustimmung Philosophische Studien
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Universal-Bibliothek Nr. 9334 Alle Rechte vorbehalten © 1994 Philipp Redam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamtherstellung: Redam, Ditzingen. Printed in Germany 1995 RECLAM und UNIVERsAL·BIBLIOTHEK sind eingetragene Warenzeichen der Philipp Redam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 3-15-009334-1
Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . .
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Skepsis und Zustimmung Dankrede für den Erwin-Stein-Preis
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Zukunft und Herkunft Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung . . . .
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Einheit und Vielheit .
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Zeit und Endlichkeit
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Moratorium des Alltags Eine kleine Philosophie des Festes
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Krise der Erwartung - Stunde der Erfahrung Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes . . . . . . . . . . . . . . . ..
70
Loriot laureat Laudatio auf Bernhard-Viktor von Bülow bei der Verleihung des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor 1985 . . . . . . . . . . . . . .
93
Medizinerfolg und Medizinkritik Die modernen Menschen als Prinzessinnen auf der Erbse. . . . . . . . . . . . . . . . .
99
Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit . . . . .
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Inhalt.
Zivilcourage In memoriam Erwin Stein
123
Textnachweise . . . . .
133
Biographische Notiz.
135
Veröffentlichungen von Odo Marquard
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Vorbemerkung
Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt.! Die Trotzdemdenkereien dieses Bändchens sind zwischen 1981 und 1993 entstanden. In durchaus verschiedener Form unterstützen sie eine skeptische Anthropologie mitsamt ihrer These: Der Mensch ist endlich, sein Leben ist kurz und »zum Tode«. Darum - weil die knappste unserer knappen Ressourcen unsere Lebenszeit ist - ist der Mensch das Zeitmangel-Wesen, das seinen Zeitmangel kompensieren muß und kompensiert: durch Schnelligkeit, durch Langsamkeit, durch die Multitemporalität seiner Mitmenschen, durch Universalisierungen und Pluralisierungen, durch Rationalitätskultur und Kontinuitätskultur und durch die ästhetische und humoristische Einbeziehung des Ausgeschlossenen. Diese Kompensationen - deren Philosophie rehabilitiert werden muß, sobald die Philosophie des emphatischen Einheitsfortschritts in die Krise gerät: also heute - gehören zum Menschen und in gesteigerter Weise zur modernen - zur bürgerlichen - Welt, die gerade durch diese Kompensationen liberal und mehr Nichtkrise ist als Krise und also einigermaßen zustimmungsfähig. Nicht die Moderne ist verhängnisvoll, sondern der Antimodernismus, gerade auch der futurisierte Antimodernismus. Nicht die Bürgerlichkeit ist falsch, sondern die Verweigerung der Bürgerlichkeit: die - vor allem auch in der antibürgerlich revolutionsseligen Geschichtsfinalisierung wirksame - Romantik des Ausnahmezustands. Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Diese bürgerliche Vernünftigkeit unterstützt der skeptische Widerspruchsgeist, der statt für die Utopie für die menschliche Endlichkeit eintritt und für die Kompensationen. Zu dieser Kritik gegenwärtig herrschender Negationskonformismen gehört Zivilcourage: der Mut zur Bürgerlichkeit. So trai-
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Vorbemerkung
niert die Skepsis - als Nein zum großen Nein - die kleinen Jas und dadurch - in bescheidener Weise - die Zustimmung: justament das möchten die Beiträge dieses Bändchens dokumentieren. Anmerkung Zum Erstgebrauch dieser Formel vgl. O. Marquard, »Exile der Heiterkeit«, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik, 7), S. 133.
Skepsis und Zustimmung Dankrede für den Erwin-Stein-Preis Sehr verehrter, lieber Herr Stein! Sehr zu verehrende offizielle Respektspersonen! Sehr verehrte Damen und Herren! Als Skeptiker bin ich skeptisch: habe ich diesen Preis wirklich verdient? Doch es wäre Amtsanmaßung, mich in das Votum derer einzumischen, die diese Ehrungsentscheidung getroffen haben. Jedenfalls habe ich mich über die Zuerkennung des Erwin-Stein-Preises außerordentlich gefreut; und - das ist der Ausdruck meiner Zustimmung - ich danke herzlich dafür. Vor allem danke ich Ihnen, verehrter und lieber Herr Stein, und ich danke der Erwin-Stein-Stiftung, die Sie ins Leben gerufen haben. Ich danke Herrn Avenarius für seine freundlichen Worte, Frau Ueck für ihre engagierte Fürsorge und Frau Doktor Mitsuyu für die Klänge, die sie dem flügel entlockt. Ich danke Hermann Lübbe für seine freundschaftlich laudationale Kritik. Zugleich möchte ich - da ich den Erwin-Stein-Preis, wie es formuliert ist, für mein »Werk« erhalten habe, das freilich ein schmales Werk ist: gerade sechs oder, wenn ich die Übersetzungen ins Englische und Italienische hinzuzähle, neun Bücher einstweilen, und sonst nur editorische, gelehrte, wissenschaftspolitische und essayistische Kleinigkeiten -, ich möchte zugleich, sage ich, die Gelegenheit benutzen, auch einmal öffentlich jener Person zu danken, ohne die dieses Werk - schon wegen der chaotisierenden Tendenzen seines Verfassers - niemals zustande gekommen wäre: nämlich meiner Frau. Angesichts der generösen Dotierung des Preises ist mir klar: Ich kann diese Summe unmöglich allein für mich selber behalten. Darum werde ich die Hälfte dieser 20 000 DM
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Skepsis .~nd Zustimmung
an die Förderergesellschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena weitergeben: Prorektor Meinhold wird, hoffe ich, mich beraten in der Frage der Formulierung einer angemessenen philosophisch-geisteswissenschaftlichen Zweckbindung. Meine kurze Dankesrede gilt dem Thema, das schon anklang: Skepsis und Zustimmung. Ich versuche dabei auf eine Frage zu antworten, die mir letzthin häufiger gestellt wird, und die ja auch naheliegt. Meine Philosophie ist - erklärtermaßen - Skepsis; und Skepsis: das ist - scheint es die Zerstörung von Zustimmungen. Zugleich aber ist - und zwar in wachsendem Maße - meine Philosophie eine Philosophie der Zustimmungen: der Zustimmung zur Welt, der Zustimmung zur modernen Welt, der Zustimmung zu den lebens- und sterbensweltlichen Nahverhältnissen. Ist da nicht ein Bruch, ein Widerspruch? Ist Zustimmung nicht Verrat an der Skepsis? Meine Antwort lautet: Nein; da ist kein Bruch, kein Widerspruch, kein Verrat. Denn es gilt: Indem die Skepsis illusionäre und ruinöse Zustimmungen zerstört, macht sie menschliche Zustimmungen allererst möglich. Als ich philosophisch anfing, war auch meine Skepsis vor allem Zustimmungszerstörung; denn es war ja - unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg - angebracht und nötig, die Zustimmung zu jener totalitären Illusion zu zerstören, die - in Gestalt des Nationalsozialismus - nicht die bürgerliche, sondern eine ganz andere Welt wollte und dadurch fiat utopia, pereat mundus - die Unmenschlichkeit und also die Katastrophe herbeiführte. Als ich philosophisch weiterging, blieb auch meine Skepsis vor allem Zustimmungszerstörung; denn es war ja - spätestens seit 1968 - angebracht und nötig, die Zustimmung zu jener revolutionären Illusion zu zerstören, die - in Gestalt der »großen Weigerung« zugunsten einer klassenlosen Gesellschaft »jenseits des Realitätsprinzips« - nicht die bürgerliche, sondern eine ganz andere Welt wollte und dadurch
Skepsis und Zustimmung
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- fiat utopia, pereat mundus - die bürgerlichen Menschen von ihren Freiheiten befreien wollte durch ihre pseudokritische Wacht am Nein. Die Skepsis widersetzt sich also illusionären und ruinösen Zustimmungen; aber gerade dadurch ermöglicht sie menschliche Zustimmungen. Wir müssen uns - diese Erfahrung macht die Skepsis geltend - hüten, denen zuzustimmen, die uns - absolut und prinzipiell - den Himmel auf Erden versprechen; denn sie mißachten unsere Endlichkeit. Wer den Himmel auf Erden will, erfährt die vorhandene Wirklichkeit zwangsläufig als Hölle auf Erden und übersieht, was sie wirklich ist: Erde auf Erden. Es kommt darauf an, die Erde auf Erden zu akzeptieren. Indem sie dies tut, ist die Skepsis der Sinn für die menschliche Endlichkeit: bis hin zur Endlichkeit menschlicher Zustimmungen. Dabei müssen wir uns - diese Erfahrung gehört für die Skepsis dazu - auch davor hüten, uns einer einzigen monopolistischen Diesseitszustimmung zu verschreiben, die alle anderen Zustimmungen verbietet und auslöscht. Wir müssen ganz im Gegenteil - viele und bunte und verschiedenartige Zustimmungen leben und pflegen, damit uns jede davon durch Gewaltenteilung der Zustimmungen - vor dem AIleinregiment einer einzigen totalitären Diesseitszustimmung rettet und uns gerade dadurch individuelle Freiheit ermöglicht. So ist die Skepsis zugleich der Sinn für Gewaltenteilung: bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Zustimmungen sind. Sie ist das Nein zum großen Nein zugunsten der kleinen Jas. So zerstört die Skepsis gegenmenschliche Zustimmungen, so ermöglicht sie menschliche Zustimmungen, etwa:
a) die Zustimmung zur Welt. Wegen dieser Zustimmung - nota bene - haben mich seit langem Theodizeemotive interessiert; denn sie sind - wie problematisch sie im einzelnen auch sein mögen - Versuche einer philosophischen Zustimmung zur Welt. Dabei haben mich mehr als die großen
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die kleinen Zustimmungsargumente beschäftigt, etwa der Gedanke der Kompensation, der aus diesem Kontext stammt. Daß Übel oder Mängel durch Bonitäten kompensiert werden können, läßt sich im übrigen durchaus verschieden lesen; etwa emphatisch: »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«; oder pragmatisch: »wer Sorgen hat, hat auch Likör«; oder sarkastisch: die »Natur ist gerecht: macht sie ein Bein kurz, macht sie das andere dafür um so länger«; und allemal ist das Kompensation. Dennoch erleichtert der Kompensationsgedanke philosophisch: b) die Zustimmung gerade zur modernen, zur bürgerlichen Welt. Hermann Lübbe hat eben von »Grenzen der Kompensation« gesprochen: die gibt es sicher, schon deswegen, weil es das Inkompensable gibt. Aber diesseits dieser Grenzen der Kompensation sind Kompensationen tatsächlich und positiv wirksam, gerade in der modernen Welt, die ja nur halb wahrgenommen wird, wenn sie ausschließlich als Rationalisierung, Disziplinierung, Gleichschaltung, Uniformisierung und traditionszerstörende Fortschrittsbeschleunigung bemerkt wird. Darum gilt es, auch die andere - die kompensierende, die gegensteuernde - Hälfte der modernen Welt wahrzunehmen: die Historisierung, Liberalisierung, Individualisierung, Pluralisierung und die Entwicklung ihrer Bewahrungskultur. Wer in der modernen der bürgerlichen - Welt beide Tendenzen sieht, dem müßten - meine ich - Antimodernismen schwerfallen und Zustimmung zur bürgerlichen Welt möglich sein: Zustimmung zu jener Welt der Emanzipation des Bürgers, die zugleich die Welt der »Einbürgerung des Proletairs« durch die reformistische Arbeiterbewegung ist. Das gilt auch und gerade für Deutschland als Bundesrepublik: Sie ist keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie eine bürgerliche Welt ist, eine »Zivilgesellschaft«, wie man heute sagt. Denn in der Wirklichkeit steht es nicht deswegen schlimm, weil es zu
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viel, sondern deswegen, weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt. Diese Überzeugung ist zwar unpopulär bei unseren Jammerathleten und Kassandren vom Dienst, unseren Negationskonformisten und Verweigerern der Bürgerlichkeit, die vor der Bürgerlichkeit flüchten statt durch sie standzuhalten. Es braucht Skepsis und also kritischen Mut, dieser Bürgerlichkeitsverweigerung zu widerstehen: durch mehr Zustimmung zur eigenen Bürgerlichkeit. Schließlich ermöglicht die Skepsis: c) die Zustimmung zu den lebens- und sterbensweltlichen Nahverhältnissen. Denn es gibt das Recht der nächsten Dinge gegenüber den letzten. Für mich impliziert das auch die Zustimmung zum Land und zur Stadt, in denen ich seit fast 27 Jahren lebe. Für den gebürtigen Hinterpommern, gelernten Ostfriesen und studierten Westfalen, der ich bin, war es 1965 - als man um Rufe sich noch nicht bewarb, sondern auf Rufe noch züchtig wartete - Zufall, hierher nach Gießen zu kommen. Ich bin dann geblieben, weil ich überwiegend gern hier bin: an der Justus-Liebig-Universität, an ihrem Zentrum für Philosophie, in Gießen, in Hessen. Das hat auch damit zu tun, daß es Hessen gibt, die die demokratische Tradition dieses Landes zustimmungsfähig geprägt haben und vorbildhaft repräsentieren; und einer davon ist Erwin Stein. Er war - als Mitglied des »Verfassungsausschusses« und der »Verfassungsberatenden . Landesversammlung« einer der Väter der Hessischen Verfassung und so in eminenter Weise Mitglied der Legislative. Er war 1947 bis 1949 Hessischer Minister für Kultus und Unterricht und 1949 bis 1951 Hessischer Minister für Justiz, Erziehung und Volksbildung und so in eminenter Weise Mitglied der Exekutive. Er war von 1951 bis 1971 als Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe Hüter der Verfassung der Bundesrepublik und so in eminenter Weise Mitglied der Jurisdiktion. Das alles war er nicht gleichzeitig: im Zeichen der Gewaltenteilung geht das ja nicht. Aber durch diese emi-
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nenten Engagements bei den verschiedenen - geteilten Gewalten war und ist Erwin Stein für mich - ich riskiere diese paradoxe Formulierung - die Inkarnation der Gewaltenteilung. Auch deswegen also - gerade seinetwegen - Zustimmung zu Hessen: Im Land von Stein ist gut sein. Skepsis - ich wiederhole es - ist der Sinn für Gewaltenteilung. Darum kann gerade ein Skeptiker Zustimmung und Enthusiasmus entwickeln für die Inkarnation der Gewaltent~~lung. Erlauben Sie mir, lieber Herr Stein, im Schutz der Offentlichkeit zu sagen, was Ihnen unter vier Augen zu sagen ich mich noch nie getraut habe: daß ich Sie tief und herzlich verehre. Darum ist, diesen Preis, den Ihre Stiftung vergibt und der Ihren Namen trägt, entgegenzunehmen eine Ehre, die mich auf besondere Weise stolz und glücklich macht. Haben Sie, verehrter Herr Stein, herzlichen Dank!
Zukunft und Herkunft Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung Meinen Versuch eines Kurzportraits von Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung - also seiner Theorie der modernen Welt - möchte ich von Anfang an mit Fragezeichen versehen; meine Darstellung soll stets gleichzeitig die Frage einschließen: Ist diese Philosophie, so, wie ich sie darstelle, korrekt dargestellt und im Sinne Joachim Ritters angemessen verstanden? Denn ich bin unsicher. Wer wie ich - gerade nach gewissen Anfangsschwierigkeiten und auch Zwischenschwierigkeiten, Joachim Ritters Optik beizutreten - nun seinen Ansatz weiterzudenken sich bemüht, hat vielleicht die Unbefangenheit verloren, die zur rein referierenden Darstellung befähigt. Dabei stört vielleicht nicht so sehr die eigene Originalitätssucht, die ja mit zunehmendem Alter - soweit sie dort nicht endgültig habituell geworden ist - langweilig wird und abnimmt, sondern eher irritiert das fortdauernde Bedürfnis, einem prägenden Lehrer - gerade auch postum immer noch zu beweisen, daß man das doch kann, was er einem (vielleicht aus pädagogischer List) zu können nicht zugetraut hat: bei mir betraf das - bei meiner Art von Verspieltheit naheliegenderweise - wohl nicht nur die Fähigkeit zur Wahrnehmung institutioneller Pflichten und organisatorischer Pensen, sondern wohl auch die Fähigkeit, wirklich in seinen philosophischen Spuren zu gehen. Ich werde also - bewußt oder unbewußt - philosophisch stets irgendwie zeigen wollen, daß ich doch in Joachim Ritters Spuren gehe, und laufe dabei Gefahr, jene Spuren, in denen ich heute gehe, flugs zu den seinen zu erklären, und das kann ja unzutreffend sein. Darum bedarf sie der Gegenkontrolle, meine Darstellung, die ich in vier Abschnitte gliedere, nämlich die folgenden: 1. Verzögerte Konvergenz; 2. Zugehörig-
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keit des Ausgeschlossenen; 3. Kompensation; 4. Positivierte Entzweiung. Ich beginne mit Abschnitt: 1. Verzögerte Konvergenz
Im Werbefernsehen gibt es seit einiger Zeit eine~ Spot der französischen Milchproduktefirma Danone: ein Lausbub ißt mit sichtlichem Vergnügen ein Danone-Yoghurt und sagt an die Adresse jedes potentiellen Yoghurtessers, der noch nicht Danonist ist: »Schließlich kriegen wir dich doch!« Bei dieser Reklame muß ich regelmäßig an Joachim Ritter denken: nicht nur, weil auch er ja lausbübischen Charme hatte, sondern vor allem, weil er - nicht mit Yoghurt, sondern mit seiner Philosophie - viele seiner Schüler, wenn nicht gar alle, schließlich doch gekriegt hat. Er hatte es - auch darum konnte er es sich leisten, liberal zu sein gar nicht nötig, seine Schüler sofort auf seine Philosophie festzulegen; denn - obwohl das lange und sogar Jahrzehnte dauern konnte - schließlich kriegte er sie doch. Erlauben Sie mir, das durch ein Selbstzitat aus meinem Abschied vom Prinzipiellen zu unterstreichen: Dort! schrieb ich 1981 von jener »bunten und standpunktkontroversen Gruppe«, »die in der späteren Institutionengeschichte der bundesrepublikanischen Philosophie als derjenige Flügel des hermeneutischen Denkens wirksam geworden ist, der die Praktische Philosophie rehabilitierte: eben als RitterSchule, deren Lebendigkeit auch aus der« - wie Robert Spaemann es Mitte der fünfziger Jahre in einem in Paris gehaltenen Vortrag formuliert har - »>heterogenen Zusammensetzung des Collegium Philosophicum Ritters< resultierte, >das Thomisten, evangelische Theologen, Positivisten, Logiker, Marxisten und Skeptiker vereint(e)<.l Denn Ritter verpflichtete seine Schüler nicht auf seine· eigenen Thesen. Diesseits seiner Thesen habe ich von ihm gelernt: daß Merken wichtiger ist als Ableiten; daß niemand von
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vorn anfangen kann, daß jeder anknüpfen muß: also den Sinn fürs Geschichtliche; daß Widersprüche notfalls ausgehalten werden müssen gegen den Schein ihrer Auflösung; daß solche Widersprüche eindrucksvoller präsent sind durch Personen als durch Lektüren und daß dies verlangt: mit fremden Einstellungen leben und von ihnen lernen können; daß also die buntere Philosophenkonstellation die bessere ist; im übrigen den Sinn fürs Institutionelle und seine pflichten; und schließlich: daß Erfahrung - Lebenserfahrung - unersetzlich ist für die Philosophie. Erfahrung ohne Philosophie ist blind; Philosophie ohne Erfahrung ist leer: Man kann keine Philosophie wirklich haben, ohne die Erfahrung zu haben, auf die sie die Antwort ist. Erfahrung aber braucht Zeit. Darum konvergierten die Ritter-Schüler in ihren inhaltlichen Thesen nicht im Studium und in den Lehrjahren, sondern erst Jahrzehnte später: als sie ihrerseits über Erfahrungen verfügten, die ihnen nunmehr Ritters eigene philosophische Antworten plausibel machten; es existiert - das bemerke ich heute [sc. Januar 1981] - in der Ritter-Schule eine Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung.« Auch diese Feststellung möchte ich in die Frage verwandeln: Gab es diese späte Schulkonvergenz wirklich? Wenn es sie gab, entstand sie - falls ich es richtig sehe - durch eine von vielen (nicht von allen) von uns sehr ähnlich absolvierte Form der Replik auf die durch das Jahr 1968 symbolisierte Infragestellung der demokratischen Struktur der Bundesrepublik. Dieser - marxistisch inspirierten - Infragestellung galt die Bundesrepublik nicht mehr als vertretbar gelungene Demokratie, sondern als mißlungene oder versäumte Revolution: Damit - 1968 - begann die Geschichte der Verdrängung ihrer demokratischen Gelungenheiten. Um dieser Infragestellung und Verdrängung entgegenzutreten, lag es nahe, verstärkt auf jene Philosophie zu rekurrieren, die unter anderem durch Lösung aus dem Marxismus in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus entstanden war: auf
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die Philosophie Joachim Ritters. Inzwischen habe ich allerdings den Eindruck, daß dieser Zeitraum der späten Schulkonvergenz der Ritter-Schule schon wieder vorbei ist, wobei die zunehmende Dominanz ökologischer Probleme eine Rolle spielt: die Ritter-Schüler sind inzwischen wieder mehr oder weniger - auf verschiedenen Wegen. Gerade das ist - denke ich - jener Augenblick, in dem Bemühungen zur Erinnerung an die Philosophie Joachim Ritters fällig und wichtig sind. Um es ganz subjektiv zu formulieren: mich interessiert einfach, was er - bei dem jedenfalls ich gelernt habe, daß die Philosophie kein transzendentales Wolkentreten ist, sondern die Theorie ihrer Zeit - zur heutigen Situation philosophisch sagen würde und zu sagen hat: welche Ratschläge er denen geben kann, die heute ihrerseits Ratschläge geben sollen oder gar müssen. Das aber verlangt, zu vergegenwärtigen, was Joachim Ritters gegenwartstheoretische Grundgedanken waren: seine Philosophie der modernen Welt, die - um es kurz zu sagen - eine Philosophie der Entzweiungspositivierung war und ist. Ich beginne diesen Vergegenwärtigungsversuch im Abschnitt: 2. Zugehörigkeit des Ausgeschlossenen
Für mich ist die einschlägige Schlüsselschrift von Joachim Ritter sein Aufsatz »Über das Lachen«, der zuerst 1940 im 14. Band der Blätter für deutsche Philosophie erschienen ist und dann erst wieder 1974 im Bändchen Subjektivität·. Diesen Aufsatz habe ich selber relativ spät gelesen, immerhin spätestens kurz nach dem Abschluß meines Studiums, also Mitte der fünfziger Jahre. Als ich 1966 zur Gruppe »Poetik und Hermeneutik« kam, war es dort Wolfgang Preisendanz, der diesen Aufsatz für diese Gruppe zur Pflichtlektüre gemacht hat. Das, was in diesem Aufsatz über die - um den Ausdruck Plessners von 1941 zu gebrauchen - »Grenz-
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reaktion« des Lachens von Joachim Ritter gesagt worden ist, reicht in seiner philosophischen Bedeutung weit über die Analyse des Phänomens des Lachens hinaus, und zwar in Richtung auf eine Einsicht Joachim Ritters, die mir durch folgende Formulierung interpretierbar scheint: die menschliche Vernunft selber ist - gebaut wie das Lachen - eine Grenzreaktion; denn sie stellt Ausgrenzungen in Frage. Die entscheidende These von Joachim Ritter über das Lachen ist nämlich diese: Weil und wo die offiziell herrschende und geltende Wirklichkeit Wirklichkeiten ausgrenzt oder ausschließt und als nichtig setzt, ist es das Lachen, das geltend macht, daß dieses offiziell Nichtige dennoch zu unserer Wirklichkeit gehört. Das Lachen - schreibt Ritter - hat die »eigentümliche Funktion, die dem Ernst nicht zugängliche Zugehörigkeit des Anderen zu der es ausgrenzenden Lebenswirklichkeit sichtbar zu machen« (79), »gleichgültig, ob dies nun in dem tieferen Sinn einer Kritik an der ernsten Welt selbst und ihrer Ordnung gemeint ist, oder ob dies der vitalen Freude am Reichtum des Lebens und am Recht des Unsinns und Unverstands entspringt« (80). Denn dem humoristischen - Lachen gelingt es, »die Identität eines ... Ausgegrenzten mit dem Ausgrenzenden herzustellen« (78). Just darum ist »in unserer Welt philosophisch, in der Erscheinung des Humors, dem Lachen eine Bedeutung zugefallen ..., durch die es gleichsam in den philosophischen Mittelpunkt der Welt selbst geruckt ... ist« (84). Im Lachen zeigt sich - auf diese Formel, denke ich, kann man das bringen - die Zugehörigkeit des Ausgeschlossenen. Der Blick auf Formen, in denen die Zugehörigkeit von Ausgeschlossenem sich geltend macht, ist - sagte ich - über die Philosophie des Lachens hinaus von allgemeiner Bedeutung. Sie ist es deswegen, weil sie die Aufgabe der Philosophie, das Ganze zu denken, dort festhält, wo es - modern - Schwierigkeiten macht, dieses Ganze altmetaphysisch als jenen Kosmos, jene Schöpfung, jenes System zu begreifen, in deren - hierarchischer - Ordnung Jegliches seinen
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genau definierten Platz hat. Darum wird nun - neumetaphysisch - der Sinn für das Ganze festgehalten in der Verpflichtung der Philosophie, nichts auszulassen, nichts übersehen und das Unbemerkte merken zu wollen. Philosophieren besteht dann darin, Bornierungen abzubauen und Sichtgrenzen kollabieren zu lassen, um - in dieser jetzt fälligen Gestalt der Theorie - ungehindert sehen und sagen zu können: So ist es. In dieser Form also - als Sinn für die Zugehörigkeit des Ausgeschlossenen - bleibt die Philosophie der Sinn für das Ganze als Sinn für Ergänzungen; und ihre Vernunft ist- just so, wie das Lachen, das uns ja ebendarum erleichtert - der Verzicht auf die Anstrengung, wegzusehen. Darum - weil dadurch der Sinn für das Ganze wachgehalten bleibt - ist dieses Geltendmachen der Zugehörigkeit des Ausgeschlossenen - das Joachim Ritter 1945 in seinem T. S. Eliot-Aufsatz »Dichtung und Gedanke«5 erneut erörtert hat - zum Leitkonzept von Ritters weiterer Philosophie der modernen Welt geworden. - Das versuche ich anzudeuten zunächst im Abschnitt: 3. Kompensation
Dieses Leitkonzept seiner Philosophie der modernen Welt hat Joachim Ritter nach 1945 - genauer gesagt, ab 1947 - in Münster ausgeführt: insbesondere in seinen Asthetik-Vorlesungen und in anderen Vorlesungen, in denen er vor allem auch den historischen Sinn analysiert hat. Die Publikationen, in denen einschlägige Ergebnisse von ihm dargelegt wurden, sind vor allem die Aufsätze »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft« und »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«: beide wurden zuerst 1963 publiziert und dann 1974 im Bändchen Subjektivität wiederabgedruckt.' Die These war dabei - abstrakt gesprochen - diese: in der modernen Welt etablieren die auf >Zukunft< bedachten Mo-
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dernisierungen rationelle Wirklichkeiten, indem sie zugleich die Herkunftswirklichkeiten ausschließen; diese ausgeschlossenen Wirklichkeiten jedoch machen zugleich ihre Zugehörigkeit zur modernen Wirklichkeit in verschiedensten Formen geltend. Zur modernen Welt gehört also beides: Realitätsverluste und deren Kompensationen. Die moderne Welt ist geprägt also: a) durch den Prozeß der Rationalisierung ihrer >Zukunft<, der bejaht werden muß, weil er den Menschen unbestreitbare Lebensvorteile, also Menschlichkeiten, bringt. Gleichwohl: die exakte Naturwissenschaft verwandelt das Seiende in Objekte, die moderne Technik das Gegebene in funktionale Artefakte. Die »bürgerliche Gesellschaft« etabliert sich als »das System der Bedürfnisse«/ in dem die Menschen Bedürfnis- und Arbeitswesen und die Dinge Waren und Bedürfnisbefriedigungen sind. Die abstrakten Rechtsordnungen der modernen Welt und ihre universalistische »Moralität«8 realisieren die Gleichheit der Menschen. Dies alles - Rationalisierung, Versachlichung, Aufklärung, Universalisierung - kann aber nur dadurch gelingen, daß in der modernen Welt ihre >Zukunft< sich unabhängig macht von den geschichtlichen Traditionen der >Herkunft<, die dabei - methodisch oder real - ausgeklammert oder ausgeschlossen werden: die moderne Welt etabliert ihre >Zukunft< grundsätzlich >geschichtslos<. Aber zu dieser modernen Welt gehört ebendarum zugleich: b) daß sich dieses Ausgeklammerte und Ausgeschlossene - kompensatorisch - in seiner Zugehörigkeit zur modernen Welt geltend macht: es kehrt - seinerseits modern - vielgestaltig wieder. Gerade weil die moderne Welt »geschichtslos«' wird, wird gerade modern das Geschichtliche zum großen Positivthema. Gerade weil modern die Wirklichkeit zum Objekt »entzaubert« wird, werden nun ihre faszinierenden Züge - ihre Schönheit - festgehalten durch die »ästhetische« Kunst, die dafür modern erst entsteht. Gerade
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weil in der technischen Welt alles zum Artefakt wird, entsteht - von der spezifisch modernen Entdeckung der >Landschaft< an - gerade in ihr der Sinn für die unberührte Natur. Gerade weil die modernen Versachlichungen die Menschen zu austauschbaren Funktionsträgern veräußerlichen, reüssiert gerade modern - gegenläufig - die Innerlichkeit: Subjektivität und Individualität. Gerade weil die modern rationalisierte Gesellschaft sich aus den geschichtlichen Herkunftstraditionen empanzipiert, entsteht - um die »Sittlichkeit«IO, um diese geschichtlichen Herkunftstraditionen festzuhalten - wiederum spezifisch modern der historische Sinn: die konservatorischen Aktivitäten, das Museum, die wissenschaftliche Erinnerung und historische Orientierung, also etwa die Geisteswissenschaften. Gerade weil die moderne Emanzipationskultur sogar die Geschichten wegwirft, erzwingt sie im Gegenzug die Ausbildung dieser Bewahrungskultur als - so Ritter - »Organ ihrer geistigen Kompensation« 11. Das ist - so gewiß nur ganz grob skizziert - Joachim Ritters Kompensationstheorie der modernen Welt, und zwar so, wie ich sie verstehe. Diese Kompensationstheorie blieb oder wurde zunehmend aktuell. 1976 gab Hermann Lübbe in Zukunft ohne Verheißung? Sozialer Wandel als Orientierungsproblem, die von ihm dann mehrfach wiederholte Losung aus: »Kompensation ist das entscheidende Stichwort«.12 Im gleichen Jahr erschien mein Kompensationsartikel im Band 4 des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, und ich überarbeitete den Kompensationsaufsatz für den zweiten Band der Theorie der Geschichte,1l in dem ich u. a. gezeigt habe: der Kompensationsgedanke k
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Wissenschaftsadministratoren wurde allerdings beeinträchtigt durch eine breite Kritik des sich progressiv verstehenden Flügels der Kulturwissenschaften an dieser Kompensationstheorie, so daß man sagen kann: Zur Zeit werden bei denen, die über Budgets entscheiden - die Geisteswissenschaften unter Berufung auf Joachim Ritter, Hermann Lübbe, mich und andere gelobt, und es werden zugleich unter Berufung auf unsere Kritiker ihre Ressourcen gekürzt. üb die Kritik dieser Kritiker an der Kompensationstheorie berechtigt ist, stehe dahin; der Zeitpunkt ihrer Äußerung war ganz sicher politisch schlecht gewählt. Hier allerdings hat nur dieses zu interessieren: die Kompensationstheorie der modernen Welt ist derzeit zugleich aktuell und umstritten. Ich habe darum großes Verständnis für Versuche, Joachim Ritters eigene philosophische Position aus diesem aktuellen Streit herauszuhalten. So hat (um es holzschnittartig zu sagen) Henning Ritter - in seinem ebenso klugen wie liebenswürdigen Nachruf auf meine ersten sechzig JahreIs - den Spieß umzudrehen versucht: Die Ritter-Schule habe (bei ihrem durch Joachim Ritters >Hegelianismus durch Lebenserfahrung< nicht gedeckten Wettkampf, wer unter seinen Schülern den größten Bogen um Hegel zu machen in der Lage sei) Joachim Ritter den Kompensationsgedanken sozusagen aufgenötigt. An jener einzigen Stelle seines gedruckten Werkes, an der Joachim Ritter von Kompensation wirklich gesprochen hat, in seinem Geisteswissenschaftenaufsatz,16 sei der Kompensationsbegriff ich zitiere - »ein Marquard-Zitat«. Die Anmerkung 41 dieses Aufsatzes, auf die sich Henning Ritter dabei bezieht, war für mich lebens geschichtlich extrem bedeutsam: durch sie bin ich aus einem unzitierten zu einem zitierten Philosophen geworden. Das freilich geschah durch Joachim Ritter aus reiner Fürsorglichkeit. Die Kompensationstheorie der modernen Welt aber ist bei Joachim Ritter nach 1947 unbestreitbar vorhanden: zunächst - vortürkisch-verfallstheoretisch l7 - mit eher kritischem Akzent, dann - nachtürkisch-
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entzweiungstheoretisch - positiv gemeint. Trotzdem: stärker als alle Kritik an der Kompensationstheorie hat mich dieser leise Einspruch durch Henning Ritter beeindruckt, der - wenn ich ihn richtig verstehe - nur die Bitte formuliert, noch einmal zu überdenken, ob denn wirklich die Kompensationstheorie das letzte und entscheidende Wort der Philosophie Joachim Ritters über die moderne Welt gewesen ist. Die Antwort auf diese Frage muß ehrlicherweise wohl lauten: nein. - Dies versuche ich nunmehr zu erläutern im abschließenden Abschnitt: 4. Positivierte Entzweiung
Ich erinnere zunächst an den Gang meiner Überlegung. Wenn ich Joachim Ritters Philosophie der modernen Welt angemessen verstehe, verhält es sich mit ihr so: Ihr Leitkonzept ist der Gedanke der Zugehörigkeit des Ausgeschlossenen, wie er uns im Aufsatz »Über das Lachen« zuerst entgegentritt. Dieser Gedanke wird dann - spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - generalisiert zu einer Kompensationstheorie der modernen Welt. Diese aber ist nicht die letzte und jedenfalls nicht die entscheidende Aussage von Joachim Ritter über die moderne Welt; denn - das füge ich jetzt hinzu - diese entscheidende Aussage ist die Philosophie der positivierten Entzweiung. 18 Ich finde sie was ihre Publikation betrifft - vor allem in zwei Texten, die 1969 in Joachim Ritters Metaphysik und Politik wieder abgedruckt worden sind: nämlich »Europäisierung als europäisches Problem« (1956) und »Hege! und die Französische Revolution« (1957),1' die ich - und hier liegt natürlich ein gewisses philologisches Problem - deutlicher als nachtürkische Arbeiten Ritters empfinde als den Geisteswissenschaftenaufsatz und den Landschaftsaufsatz, die später erschienen sind. Es ist hier nicht meine Aufgabe, Joachim Ritters Hegel-Interpretation zu referieren, sondern, die beiden
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entzweiungsphilosophischen Grundaussagen über die moderne Welt zu unterstreichen, die sie enthält, nämlich als These a: Die moderne Entzweiung von Zukunft und Herkunft entzweit Zusammengehöriges; und als These b: Die moderne Zusammengehörigkeit von Zukunft und Herkunft braucht die Entzweiung, um zu gelingen. Ich kann hier nur ganz kurz andeuten, was beide Thesen meinen. a) Hegels Philosophie - betont Joachim Ritter - ist »bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution« (192); Hegel hat - trotz seiner Kritik der »terreur« zeitlebens die »Notwendigkeit und das geschichtliche Recht« (195) der Französischen Revolution bejaht: sie steht in der modernen Welt für die Heraufkunft der emanzipatorischen >Zukunft<. Hegels Philosophie - betont Joachim Ritter - bleibt zugleich bis in ihre innersten Antriebe hinein Metaphysik: Für sie ist und bleibt gerade »die traditionelle metaphysische Theorie ... Erkenntnis der Zeit und Gegenwart« (189). Was in der modernen Welt durch einen Bruch >entzweit< ist, gehört also - im Blick auf diese moderne Welt - bei Hegel und für Joachim Ritter gerade zusammen: Revolution und Metaphysik, also - das repräsentieren Revolution und Metaphysik - die >Zukunft< der geschichtslosen Egalitätswelt und die geschichtliche >Herkunft< ihrer Traditionen. Die erste entscheidende These Joachim Ritters über die moderne Welt ist also: die These der Zusammengehörigkeit des durch die moderne >Entzweiung< Auseinandergetretenen, der Zusammengehörigkeit also von >Zukunft< und >Herkunft<. Eine Konsequenz dieser These ist: fehl am Platz ist - wo »die- Gegenwart ... in der Entzweiung« lebt (213) - die Zusammengehörigkeitsverweigerung, also ebenso der restaurative Progressions muffel, der den Fortschritt negiert und nur die Tradition haben will, wie der supramodernistische Traditionsmuffel, der die Tradition negiert und nur den Fortschritt haben will; denn: ebenso schlimm wie die zukunftslose Herkunft ist die herkunfts-
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lose Zukunft. Vielmehr gilt: Herkunft braucht Zukunft; Zukunft braucht Herkunft. Die weitere Konsequenz dieser These ist: In der modernen Welt ist es die Aufgabe der ästhetischen Kunst, des historischen Sinns und der Geisteswissenschaften und schließlich der Philosophie, unter Diskontinuitäts bedingungen Kontinuitätserfahrungen zu machen und zu artikulieren. So bringen sie als zugehörig ins Spiel, was in der modernen Welt durch ihre >Entzweiung< ausgeschlossen scheint: die Zusammengehörigkeit des Auseinandergetretenen, also daß Zukunft und Herkunft zusammengehören. b) Hegels Philosophie - betont Joachim Ritter - positiviert die >Entzweiung<. >Zukunft< und >Herkunft< - zusammengehörig - brauchen die Entzweiung, um erfolgreich zu existieren: die Entzweiung schützt sie davor, identisch gesetzt und gleichgeschaltet zu werden. So ist die moderne >Entzweiung< eine Art Gewaltenteilung: Sie bewahrt die >Zukunft< vor Alleinherrschaft der >Herkunft< und die >Herkunft< vor Alleinherrschaft der >Zukunft< und ermöglicht so beiden, sich in Eigenart zu verwirklichen und schützt uns davor, in die totale Gesellschaft oder in die totale Substanznostalgie aufgelöst zu werden. Dabei sind - so hat, wenn ich es richtig sehe, Joachim Ritter Hegel verstanden - vor allem die Philosophie und der Staat die Hüter der Entzweiung: Sie sind - die eine geistig, der andere politisch - die Mächte, die verhindern, daß die Zukunft die Herkunft oder die Herkunft die Zukunft negiert. Es geht - in dieser modernen Welt, in der wir leben - also nicht um Identität; vielmehr: wir müssen die Entzweiung von Herkunft und Zukunft ertragen (oder zugespitzt: wir müssen das Doppelleben - das Zweifachleben - als Zukunftsmenschen und Herkunftsmenschen lernen). So wird Joachim Ritters Philosophie der modernen Welt zur Nichtidentitätsphilosophie: zur Philosophie der positivierten Entzweiung. Die >Entzweiung< ist für sie das Problem, das zugleich die Lösung ist: >Entzwei-
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ung< ist das letzte Wort über die moderne Welt, ein positives Wort. Das ist weniger, als die Weltverbesserer fordern, es ist mehr, als die Kassandren fürchten: die moderne - die bürgerliche - Welt ist weder Paradies noch Inferno, sondern geschichtliche Wirklichkeit. Sie ist nicht der Himmel auf Erden und nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden. Indem sie das - diesseits der Illusionen - sichtbar werden läßt, ist die Philosophie - die auch dadurch offiziell Geächtetes positiv geltend macht, d. h. offiziell Ausgeschlossenes hereinholt (>einholt<) - die nötigste aller Friedensbewegungen: die für den Frieden mit der eigenen Wirklichkeit, der vorhandenen Vernunft, dem >bürgerlichen Leben<20 in der bürgerlichen Welt auch und gerade der Bundesrepublik. Diese Wende zur Bürgerlichkeit verabschiedet die großen Illusionen: die marxistisch-revolutionäre, der Joachim Ritter in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren nahestand, und der traditionalistisch-verfallstheoretischen, mit der Joachim Ritter um 1945 herum vorübergehend sympathisierte, ehe seine Philosophie dann - nachtürkisch - wurde, was sie geblieben ist: die Entzweiungsphilosophie des >bürgerlichen Lebens<. Mir ist eine Szene - wohl kurz vor 1960 - in Erinnerung. Als in seinem Arbeitszimmer der >Lesekreis< des »Collegium Philosophicum« wie üblich vor Beginn der Arbeit plauderte, sagte Joachim Ritter plötzlich: »Wenn ich uns hier so sitzen sehe: mit uns hätte ich früher nicht verkehrt.« Diese Bemerkung enthielt - mit Anspielung auf eine komplizierte Dimension - die Zustimmung zum Jetzt: zum >bürgerlichen Leben<, das ein Leben der positiv erfahrenen Entzweiung ist. Erlauben Sie mir, dabei aufmerksam zu machen auf den Umstand, daß der Ausdruck >Entzweiung< jene Vielheitsvokabel >zwei< enthält, die auch im Ausdruck >Zweifel< steckt: das deutet den Grund an, aus dem ein Skeptiker - mit seinem Sinn für Gewaltenteilung - Anhänger der Philosophie der positivierten Entzweiung sein kann.
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Anmerkungen 1 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 7 f. 2 R. Spaemann, »Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte«, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 1 (1959) S. 313. 3 Mit »Marxisten« meinte Spaemann damals Hermann Lübbe, der zwar nie einer war, uns aber damals so erschien: schon wegen seines starken Interesses an soziologischen, sozial- und politikphilosophischen Fragen. Außerdem nahm er während seiner Zeit als Assistent von Gerhard Krüger in Frankfurt an Kolloquien von Horkheimer und Adorno teil. Man könnte vielleicht sagen: Hermann Lübbe hat fast alle philosophischen Positionen durchlaufen, die auch die meisten Angehörigen seiner Studiengeneration durchlaufen haben, nur sehr viel schneller und dadurch sehr viel früher: als z. B. die Frankfurter Schule merkte, daß sie die Frankfurter Schule war, hatte Hermann Lübbe sie schon hinter sich. Zur Zusammensetzung des »Collegium Philosophieum« vgl. H. Lübbe Eu. a.] (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, BaseVStuttgart 1965. 4 J. Ritter, Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 62-92. 5 Ebd., S. 93-104. 6 Ebd., S. 105-140 und 141-163. 7 Vgl. G. W. F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts; Theorie Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1986, S. 339 H. 8 Ebd., S. 203 H. 9 J. Ritter (Anm. 4), S. 130 H. 10 G. W. F. Hegel (Anm. 7), S. 292 H. 11 J. Ritter (Anm. 4), S. 132. 12 H. Lübbe, Zukunft ohne Verheißung? Sozialer Wandel als Orientierungsproblem, Zürich 1976, S.9. Vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, BaseVStuttgart 1977, S. 22 und 304 H. 13 O. Marquard, »Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse«, in: K. G. Faber / Chr. Meier (Hrsg.), Historische Prozesse. Theorie der Geschichte, Bd.2, München 1978, S. 330-362; wiederabgedr. in: O. Marquard, Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn 1989, S. 64-81. 14 Abgedr. u. a. in: O. Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 98-116.
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15 H. Ritter, »Enrwegt. Odo Marquard wird sechzig«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 2. 1988, Feuilleton. 16 J. Ritter (Anm. 4), S. 131/132. 17 Joachim Ritter lehrte 1952-55 als Profe~~or für Philosophie in Istanbul: >vortürkisch< bedeutet hier die Zeit davor, >nachtürkisch< die Zeit danach. 18 Zum Begriff der »Entzweiung« vgl. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie; Theorie Werkausgabe, Bd.2, Frankfurt a. M. 1986, S. 20 ff.; Grundlinien der Philosophie des Rechts, ebd., Bd. 7, S. 340. 19 J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M. 1969, S. 321-340 und 183-255. 20 Vgl. J. Ritter, »Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks«, in: J. R. (Anm. 19), S. 57-105.
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Dieser 14. Deutsche Kongreß für Philosophie ist eine Veranstaltung im Namen der Philosophie. Die Philosophie sagt man - ist die eine. Und doch gibt es viele Philosophien. Als Skeptiker finde ich das gut. Denn Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Philosophien sind. Je bunter, desto besser: auch wenn das manchem zu bunt wird. Doch gerade darin liegt das Problem: wieviel Einheit braucht man, um diese Vielheit haben zu können? Und: wieviel Vielheit braucht man, um jene Einheit aushalten zu können? Vor gut zweieinhalb Jahren wachte ich eines Nachts - der üblichen Arbeitszeit der Philosophen - auf und wußte: das muß das Thema dieses Kongresses werden, Einheit und Vielheit, und beruhigt schlief ich wieder ein. Infolge dieser damaligen Unterbrechung meines skeptischen Schlummers habe ich als derzeit amtierender Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, der diesen Kongreß ausrichtet, heute die Pflicht, in das Kongreßthema »Einheit und Vielheit« einzuführen. Ich tue das hier: nicht, indem ich ein Tableau möglicher Probleme entwerfe, sondern, indem ich - statt dessen - überwiegend nur eine einzige These vertrete, zu der es sicher viele Alternativen gibt, die in den folgenden Tagen zur Sprache kommen werden. Meine These ist, grob gesagt, diese: Je erfolgreicher die Universalisierung, desto nötiger die Pluralisierung. Einheit muß durch Vielheit kompensiert werden und wird durch Vielheit kompensiert: Justament darum ist gerade die moderne - die bürgerliche - Welt mehr Nichtkrise als Krise, also zustimmungsfähig. Diese These deren Darlegung ich vor reichlich einem Jahr in vorläufiger und längerer Form vor der Mitgliederversammlung des Stif-
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terverbandes für die Deutsche Wissenschaft schon einmal geübt habe - erläutere ich hier in folgenden vier Abschnitten: 1. Krise durch Vielheit oder Krise durch Einheit?; 2. Die moderne Welt als Balance von Einheit und Vielheit; 3. Schwierigkeiten beim Jasagen; 4. Die Lebenseinzigkeit und die Mitmenschen. Ich beginne - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt: 1. Krise durch Vielheit oder Krise durch Einheit?
Die Philosophie scheint zur fundamentalen Suche nach Krisengründen verpflichtet; und einschlägig für diese Suche ist die Frage: Ist - in unserer Wirklichkeit - die Einheit durch die Vielheit bedroht oder die Vielheit durch die Einheit? Gerade diese Frage geht heute um in der Philosophie. Dennoch ist sie nur der moderne - einige sagen: der postmoderne - Aggregatzustand eines alten Streits althergebrachter philosophischer Traditionen: der Tradition der Einheitsphilosophien und der Tradition der Vielheitsphilosophien. - Da ist: a) die Tradition der Einheits- oder Universalisierungsphilosophien: sozusagen - ich bin nicht zimperlich - von Parmenides über Platon und Kant bis Habermas. Diese Tradition macht den Vorrang des Einen vor dem Vielen geltend: in der Antike ontologisch im Blick auf das eine alleinwirklich Seiende; im Mittelalter theologisch im Blick auf den einen Gott; in der Neuzeit transzendentalphilosophisch im Blick auf die intersubjektive Einheit des menschlichen Erkenntnis- und Handlungssubjekts oder geschichtsphilosophisch revolutionär oder diskursphilosophisch universalistisch mit dem Ziel der emanzipatorisch egalitären Einheitsmenschheit. Die durchgängige Grundthese ist dabei vergröbert - diese: Vollkommen ist - durch seine Vielheitslosigkeit - ausschließlich das Eine, hilfsweise das Eine im Vielen, das Allgemeine. Wo Vielheit herrscht, ist das ein
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Unglücksfall, der repariert werden muß: es muß universalisiert, totalisiert, globalisiert, egalisiert, emanzipiert; revolutioniert werden. Gelingt das nicht, kommt es zur Krise. So ist die Welt und - durch Blockade des Universellen und das zunehmende Regiment von Sonderinteressen - gerade die moderne, die bürgerliche Welt Krise: nämlich Krise durch Vielheit aus Mangel an Einheit. - Da ist: b) die Tradition der Vielheits- oder Pluralisierungsphilosophien: sozusagen - auch hier bin ich nicht zimperlich von der antiken Sophistik, Peripatetik und Skepsis über die Moralistik, den Historismus und die Lebensphilosophie bis zur heutigen sogenannten Postmoderne und anderen Abschieden vom Prinzipiellen etwa durch Derrida, Lyotard, Rorty, Kockelmans und andere. Diese Tradition macht den Vorrang des Vielen vor dem Einen geltend. Die durchgängige Grundthese ist dabei - wiederum vergröbert - diese: Die wirkliche Wirklichkeit des Lebens - gerade auch die des menschlichen Lebens - ist unerschöpflich vielgestaltig; ihr Grundcharakter ist die Vielheit. Einheit - Allgemeinheit, also auch Vergleichbarkeit und Gleichheit - gibt es nur durch Komplexitätsreduktionen, durch Vereinfachungen; deren Herrschaft ist - insbesondere modern, wo die schrecklichen Vereinfacher am Werk sind, die terribles simplificateurs mit ihren Uniformisierungen und Gleichschaltungen: mit der Einheitswissenschaft, der Einheitsgeschichte, der Einheitspartei, der Einheitsmeinung, der Einheitsmenschheit - ein Unglücksfall, der repariert werden muß: Es muß detotalisiert, dezentralisiert, differenziert, pluralisiert, traditionalisiert, regionalisiert, individualisiert werden. Gelingt das nicht, kommt es zur Krise. So ist die Welt und - durch den modernen Siegeszug der Uniformisierungen - gerade die moderne, die bürgerliche Welt Krise: nämlich Krise durch Einheit aus Mangel an Vielheit. Durch diese ultrapauschalen Bemerkungen wollte ich hier nur andeuten: Beide philosophischen Traditionen - die der Einheitsphilosophien und die der Vielheitsphiloso-
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phien - diagnostizieren die Welt und gegenwärtig vor allem die moderne - die bürgerliche - Welt als Krise. Als Krisengrund aber benennen sie Entgegengesetztes, so daß es - vor allem angesichts der heutigen Gestalt dieser antithetischen Krisenaitiologie - zu jener Alternativfrage kommen muß, von der ich ausging, und deren aktuellen Stand man etwa folgendermaßen formulieren kann: Kommt es zur Krise in der modernen Welt eher durch Mangel an Einheit (also dadurch, daß die Vielheit die Einheit - die Tendenz zur Egalisierung und Universalisierung - überwältigt), oder ganz im Gegenteil eher durch Mangel an Vielheit (also dadurch, daß die Einheit - als Vereinfachung und Uniformisierung - über die Vielheit siegt)? Oder anders und kurz gefragt: Wird die moderne - die bürgerliche - Welt zur Krise, weil in ihr die Einheit an der Vielheit oder weil in ihr die Vielheit an der Einheit zugrunde geht? 2. Die modeme Welt als Balance von Einheit und Vielheit
Die nächste Aufgabe - scheint es - ist, diese Alternativfrage zu entscheiden. Aber - ich frage nicht nur aus Faulheit muß das wirklich sein? Vielleicht sollte man eine These diesseits der einheitsphilosophischen und der vielheitsphilosophischen Krisenaitiologie erwägen, etwa diese: Insbesondere in unserer gegenwärtigen Welt zerstört weder die Vielheit die Einheit noch die Einheit die Vielheit, sondern ganz im Gegenteil; gerade der moderne Zuwachs an Universalisierung fördert und erzwingt den modernen Zuwachs an Pluralisierung und umgekehrt, so daß gilt: Die moderne - die bürgerliche - Welt ist die Balance von Einheit und Vielheit. Freilich: wer - wie ich es hier tun möchte - diese These vertritt, der muß - auch und gerade, wenn er die Härten und Wunden unserer Welt nicht wegretouchieren will- auf das große Krisenpathos verzichten, und er muß - auch und
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gerade, wenn es Schwierigkeiten gibt beim Jasagen zu unserer Welt - sein Jammerbedürfnis und seine Negationslust zügeln. Denn wenn gilt: die moderne - die bürgerliche Welt ist die Balance von Einheit und Vielheit, gerade dann gilt auch: die moderne - die bürgerliche - Welt ist mehr Nichtkrise als Krise. Dabei behaupte ich nicht, daß diese Balance - das Gleichgewicht von Universalisierung und Pluralisierung - in der gegenwärtigen Welt ohne Störungen ist; ich behaupte nur: Diese Störungen sind oder werden in dieser Welt - im großen und ganzen wieder ausgeglichen, oder, um es mit einer - durch meinen Lehrer Joachim Ritter inspirierten - philosophischen Lieblingsvokabel von mir zu sagen: sie werden kompensiert. So steckt in der These: Die moderne - die bürgerliche - Welt ist die Balance von Einheit und Vielheit, ebenso die These: Die moderne - die bürgerliche - Welt ist als das Zeitalter der Vereinheitlichungen zugleich auch das Zeitalter der kompensatorischen Pluralisierungen. Zur Konkretisierung dieser These weise ich hier nur auf zwei einschlägig exemplarische Vorgänge hin (a-b). - In der modernen Welt gibt es: a) die technologischen Vereinheitlichungen; sie werden kompensiert durch traditionale, historische und ästhetische Pluralisierungen. Zur modernen Welt gehört, daß die Naturwissenschaften exakt werden: Die Naturwissenschaftler machen sich unabhängig von ihren unterschiedlichen Herkunftstraditionen, indem sie nunmehr welteinheitlich messen, experimentieren und rechnen. Dadurch wird die Welt - ihrerseits immer einheitlicher - zunehmend technisch verfügbar und standardisiert machbar: So - und das wird ökonomisch gesteigert durch die Konvertibilität der technischen Waren in die Einheitsgröße Geld - wird weltweit immer mehr immer schneller immer gleichförmiger; die Vereinheitlichungen, die Uniformisierungen siegen. Aber das ist über die moderne Welt nur die halbe Wahrheit, deren andere Hälfte diese ist: es sterben - gerade weil sich ihre direkte Handlungsbedeutung für die technologi-
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sche Welt abschwächt - die vielfältigen Herkunftstraditionen religiöser, sprachlicher, kultureller und familiärer Art in der modernen Welt nicht nur nicht ab, sondern sie können justament dort - unverzichtbar für die menschliche Lebenswelt - nun um so leichter - gegebenenfalls am selben Ort - in bunter Vielfalt koexistieren: vom religiösen Pantheon der Konfessionen bis hin zum kulinarischen Pantheon der Küchen. Dabei hilft diesen Traditionen die spezifisch moderne - Genese des historischen Sinns, der - kompensatorisch zu den technologischen Uniformisierungen - gerade die Vielfalt der eigenen und fremden Traditionen geltend macht. Dafür entsteht jetzt, modern, was es vorher nie gegeben hat: das Museum, die konservatorischen Maßnahmen, die forschende Erinnerung, also die Geisteswissenschaften. Zugleich wird die entzaubernde Standardisierung der modernen Welt kompensiert .. durch die spezif~~ch moderne Ersatzverzauberung des Asthetischen: Das Uberraschungsdefizit der gleichförmig werdenden Wirklichkeit wird ausg~.glichen durch die Vielheit der Kunstwerke, deren buntes Uberraschungsund Faszinationspotential jetzt unverzichtbar wird. Kurzum: keine Zeit zuvor hat so viel vereinheitlicht wie die Moderne; keine Zeit zuvor hat so viel pluralisiert wie die Moderne. Beides gehört zusammen: die modernen Pluralisierungen kompensieren die modernen Vereinheitlichungen. In der modernen Welt gibt es: b) die sozialen Vereinheitlichungen; sie werden kompensiert durch gewaltenteilige und individualistische Pluralisierungen. In der modernen Welt kommt es - begrüßenswerterweise - zum Siegeszug des Prinzips der Gleichheit aller Menschen. Das bringt - zunächst im Schutz jener Vereinheitlichungen, die die Staaten sind - jene Geschichte in eine Schlüsselstellung, an der - als der einen - alle Menschen teilnehmen: die Universalgeschichte der Gleichheit, in der - wie Koselleck gezeigt hat - alles »singularisiert« wird: die Fortschritte zum Fortschritt, die Revolutionen zur Revolu-
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tion, die Freiheiten zur Freiheit, die Sitten zur - universalistischen - Moralität des einen einzigen Sittengesetzes, die Geschichten zur einen einzigen Weltgeschichte, so daß auch hier gilt: die Vereinheitlichungen, die Uniformisierungen siegen. - Doch auch das ist über die moderne Welt nur die halbe Wahrheit, deren andere Hälfte diese ist: Kompensatorisch und zum Schutz gegen diese Zentralisierungen und Vereinheitlichungen entstehen - spezifisch modern - die Grund- und Menschenrechte als juristisch operationalisierte Lizenzen für jeden, rechtfertigungsfrei und ohne Angst anders zu sein als die anderen, und es wird zu diesem Schutz - spezifisch modern - die Gewaltenteilung entwickelt: von der politischen Gewaltenteilung über die funktionale Differenzierung und Autonomisierung gesellschaftlicher Teilsysteme bis zur Kultur der vielen Eigenwege zur Humanität, wobei gegen die globalen Uniformisierungen - kompensatorisch - zunächst die nationalen, dann die kulturellen, regionalen und individuellen Besonderheiten mobilisiert werden. Dabei gilt: sola divisione individuum; denn: je mehr Gewaltenteilung, desto mehr Individuum, dessen jedes anders ist als alle anderen, so daß in der modernen Welt - diese gewaltenteilungsbedingte Individualisierung die entschiedenste Form der Pluralisierung ist. Darum also auch hier: keine Zeit zuvor hat so viel vereinheitlicht wie die Moderne; keine Zeit zuvor hat so viel pluralisiert wie die Moderne. Beides gehört zusammen: Die modernen Pluralisierungen kompensieren die modernen Vereinheitlichungen. Mit diesen beiden Hinweisen hoffe ich meine These ein wenig konkretisiert zu haben, die da lautet: Die moderne die bürgerliche - Welt ist die Balance von Einheit und Vielheit; denn als das Zeitalter der Universalisierungen ist sie zugleich das Zeitalter der kompensatorischen Pluralisierungen und darum - als Ära der Kompensationen - mehr Nichtkrise als Krise.
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3. Schwierigkeiten beim Jasagen
Wer diese These vertritt, sagte ich, muß - auch und gerade, wenn er die Härten und Wunden unserer Welt nicht wegretouchieren will - auf das große Krisenpathos verzichten und seine Negationslust in bezug auf die moderne - die bürgerliche, die vorhandene - Welt zügeln und auf den Konformismus mit der heute gängigen Meinung verzichten, das Neinsagen sei das authentische Verhältnis zur vorhandenen Welt: also - vom Antimodernismus über den futurisierten Antimodernismus bis hin zum Postmodernismus die Antibürgerlichkeit, der Widerstand gegen die vorhandene Welt. Doch fällt es schwer, von dieser Negationsbesessenheit zu lassen; denn wir haben - in bezug auf die moderne, die bürgerliche, die vorhandene Welt - Schwierigkeiten beim Jasagen. Dafür - für diesen Hang zum Nein möchte ich - als Modernitätstraditionalist skeptisch für die Moderne plädierend - in diesem Abschnitt einige Ursachen anzugeben versuchen, nämlich die folgenden vier (a-d). Da ist: a) die Negativierungswirkung von Übererwartungen. Die Erfahrung von Mängeln - also auch und gerade die Krisenerfahrung - kann stets zwei Gründe haben: entweder ist da zu wenig Erfüllung, oder da ist zu viel Erw~rtung. Ich denke, unsere Krankheit vom Dienst ist die Ubererwartung: zum allgemeinen Anspruchsdenken gehört auch das Anspruchsdenken in Dingen Vollkommenheit der Welt. Hegel- in seiner Sollenskritik - hat gezeigt: Perfektionistische Sollforderungen wirken als Realitätsvermiesung. Dieser Negativierungsmechanismus ist bei uns heute am Werk: weil die vorhandene Wirklichkeit der Himmel auf Erden sein soll und nicht ist, gilt sie als Hölle auf Erden, als ob es dazwischen nichts gäbe, um dessen Bestand zu zittern und den zu verteidigen sich lohnte: die Erde auf Erden. Wir die spätkulturell Verwöhnten, die daher auch durch perfekte Weltgelungenheit verwöhnt sein wollen - produzieren un-
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sere Modernitätsverdrossenheit - die Neigung zur Negation der bürgerlichen Welt - durch unsinnige Vollko'mmenheitsansprüche: durch übertriebene Einheitserwartungen ebenso wie durch übertriebene Vielheitserwartungen. Darum haben wir Schwierigkeiten beim Jasagen. - Da ist: b) die Übelstandsnostalgie der Wohlstandswelt. Die Kultur - auch die moderne, gerade die moderne - ist stets, wie Gehlen sagte, »Entlastung vom Negativen«: ihre Leistung ist, daß die Menschen vergleichsweise unabhängig werden von Gefahr, Krankheit, Not, Mühe, Angst. Auf derlei Negatives sind Menschen ständig gefaßt im Sinne einer Bereitschaft, es wegzuarbeiten, zu negieren: zum Menschen gehört seine Negationsbereitschaft. Wo das Negative - durch jene Entlastung von ihm, die die Kultur und moderne Kultur ist - aus der Wirklichkeit zunehmend verschwindet, verschwindet nicht gleichzeitig auch die menschliche Negationsbereitschaft. Sie wird nur arbeitslos und sucht - übelstandsnostalgisch - neue Beschäftigungen, d. h. Übel, und findet sie auch, selbst wenn sie sie erfinden muß: schließlich in jener Kultur selber, die vom Negativen entla.~tet, gerade weil sie vom Negativen entlastet. Durch diese Ubelstandsnostalgie der Wohlstandswelt wird endlich - in Ermangelung anderer .. Negationsmöglichkeiten - der Wohlstand selber zum Ubelstand ernannt. Denn je besser es den Menschen geht, desto schlechter finden sie das, wodurch es ihnen besser geht. Oder anders und abstrakt gesagt: Die Entlastung vom Negativen - gerade sie - verführt zur Negativierung des Entlastenden. Ich nenne einige Beispiele für diese unbehagliche Inversion der Negationsbereitschaft: Je mehr Krankheiten die Medizin besiegt, um so größer wird die Neigung, die Medizin selber zur Krankheit zu erklären; je mehr Lebensvorteile die Chemie den Menschen bringt, desto mehr gerät sie in den Verdacht, ausschließlich zur Vergiftung der Menschen erfunden zu sein; je mehr die gewaltenteilig liberale Mehrparteiendemokratie den Menschen Repressionen erspart, um so leichter proklamiert man sie
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selber zur Repression; kurzum und allgemein: die Entlastung vom Negativen - gerade sie - verführt zur Negativierung des Entlastenden. Das bedeutet: Gerade weil die moderne - die bürgerliche, die vorhandene - Kultur Krisen besiegt, wird sie selber zur Krise umerfahren: So - zumindest auch so - kommt es zum heutigen Hang zum Nein und also zu den Schwierigkeiten beim Jasagen. - Da ist: c) der nachträgliche Ungehorsam, der - speziell in Deutschland - diesen Hang zum Nein verstärkt. Er hat mit unserer dunkelsten Vergangenheit zu tun: wir fürchten uns vorm Jasagen, weil im zweiten Viertel unseres Jahrhunderts in unserem Lande zwölf Jahre lang zu viel ja gesagt worden ist. Darum wollen wir das damals versäumte Neinsagen durch heutiges Neinsagen nachholen: den unterbliebenen Aufstand gegen die Diktatur durch chronische Aufsässigkeit gegen die Nichtdiktatur wettmachen. Das nenne ich mit einem Gegenbegriff zu Freuds »nachträglichem Gehorsam« - den nachträglichen Ungehorsam. Als Reaktion ist dieser nachträgliche Ungehorsam zwar verständlich, doch wohl kaum vernünftig, sondern eher absurd, wenn er das gegen unmenschliche Zustände unterbliebene Nein durch ein Nein gegen menschliche Zustände ausgleichen will und sich für den Nichtwiderstand gegen die Tyrannei durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei zu salvieren sucht. Auch wird häufig vergessen, daß vor den zwölf Jahren des falschen Jasagens bei uns fünfzehn Jahre lang falsch nein gesagt worden ist: nämlich zur Weimarer Republik. So entsteht statt des fälligen Friedens mit der modernen, bürgerlichen, bei uns vorhandenen Liberalwelt eine Art Schweinezyklus des Nein- und Jasagens; denn man sagt - nachdem man an der falschen Stelle, nämlich zu unmenschlichen Zuständen, ja gesagt hat und daraufhin an der falschen Stelle, nämlich zu menschlichen Zuständen, nein sagt - dann auch leicht wieder an der falschen Stelle, nämlich erneut zu unmenschlichen Zuständen, ja: darum keimen hierzulande gegenwärtig so häufig romantische Sympathien für Revolu-
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tionsdiktaturen. Dieser - so nur angedeutete - nachträgliche Ungehorsam verstärkt die Neinwelle, die - im Umkreis der bürgerlichen Moderne - ebendarum in der Bundesrepublik besonders heftig rollt. - Da ist - unter diesen Ursachen für unsere Schwierigkeiten beim Jasagen - schließlich: d) ein Philosophiedefizit, nämlich das Fehlen einer Nichtkrisenphilosophie der Moderne, die von der emphatischen Fortschrittsphilosophie verschieden ist. Bisher - spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - hing die Bejahung der modernen Welt an der Überzeugung ihrer Fortgeschrittenheit: am Fortschrittsglauben. Doch gegenwärtig wankt dieser Fortschrittsglaube: Darum kippt das an ihn gebundene emphatische Ja zur modernen Welt um in das emphatische Nein zur modernen Welt. Dagegen denke ich - kann nur eine Nichtkrisenphilosophie der Moderne an, die von der emphatischen Fortschrittsphilosophie verschieden ist und ein unemphatisches Ja zur modernen zur bürgerlichen - Welt plausibel macht. Ich meine nun: Ein aussichtsreicher Kandidat für eine solche nichtfortschrittsphilosophische Nichtkrisenphilosophie der Moderne ist die Philosophie der Kompensation; darum habe ich hier die moderne Welt als Balance - speziell als Balance von Einheit und Vielheit - interpretiert und damit den Kompensationsgedanken geltend gemacht, der - mit Waage und Pendel als Metaphern - auf das Gleichgewichtsmodell rekurriert. Dieser Kompensationsgedanke kommt aus dem Argumentationshaushalt der Theodizeen des beginnenden 18. Jahrhunderts, wo man die Welt als zustimmungsfähig begreifen mußte, um Gott als gut denken zu können: In der Welt 4.as war dort ein Gottesverteidigungsargument - sind die Ubel durch Güter kompensiert. Dieser Kompensationsgedanke - das hat jüngsthin der Canguilhem-Schüler Jean Svagelski gezeigt - wird seit Ende des 18. Jahrhunderts durch den emphatischen Fortschrittsgedanken verdrängt. Ich meine nun: Wo dieser emphatische Fortschrittsgedanke - wie es heute der Fall ist - seinerseits in Schwierigkeiten
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gerät, ist es fällig, den Kompensationsgedanken und das Modell der Balance wieder aufzugreifen. Das habe ich hier versucht. Die Philosophie der Kompensation - man muß das prüfen; und das Prüfungsergebnis ist noch durchaus ungewiß - und speziell die Philosophie der modernen Kompensation der Einheit durch Vielheit könnte zu jener Philosophie der modernen Welt als Nichtkrise beitragen, die von der emphatischen Fortschrittsphilosophie verschieden ist. Solange sie fehlt, haben wir Schwierigkeiten beim Jasagen. So werbe ich - ganz und gar nicht als Jubeldenker, sondern durchaus als Skeptiker - für ein unemphatisches Ja zur modernen, zur bürgerlichen, zur vorhandenen Welt, also antipostmodernistisch für ein Ja zu jenem »Projekt Moderne«, das die bürgerliche Moderne ist: für ein Ja durchaus zu Unvollkommenem. Meine Rekursinstanz ist die Einsicht: Menschen - auch und gerade die modernen - sind nicht so gut dran, um sich den Luxus des Krisenstolzes und der Totalnegativierung leisten zu können; sie sind viel zu zerbrechlich, um irgendeine Positivität der Welt mißachten und »die Rose im Kreuz der Gegenwart« übersehen zu dürfen. So - mit solch ganz und gar nüchternem Blick auf das, was in der modernen Welt Nichtkrise ist - ist die Skepsis die konsequent gemachte Verzweiflung. Die nicht konsequent gemachte Verzweiflung bleibt nur Verzweiflung: Sie verkehrt die Philosophie zur Wacht am Nein und steigert allenfalls die Jammerrate, doch das führt zu nichts. Die konsequent gemachte Verzweiflung hingegen ist die Schule der Wahrnehmung des vorhandenen Positiven; sie ersetzt das leichte Neinsagen durch das schwierige Jasagen, das allerdings etwas heute sehr Unpopuläres verlangt, nämlich: mehr Mut zur eigenen Bürgerlichkeit.
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4. Die Lebenseinzigkeit und die Mitmenschen Mit all diesem ist das Problem der Einheit und Vielheit nicht aus dem Blick verloren. Denn - das war ja die These - die moderne Welt ist mehr Nichtkrise als Krise, weil sie Balance - speziell die Balance von Einheit und Vielheit - ist. Dadurch ist das unemphatische Ja zu ihr möglich, also jener Friede, der heute am wenigsten diskutiert wird und vielleicht doch am wichtigsten ist: daß man mit der eigenen Wirklichkeit seinen Frieden macht. Aber was zwingt die Menschen dazu, sich so - diesseits der absoluten Attitüden - mit dem Ja zum Unvollkommenen zu bescheiden? Es ist - meine ich - unsere Lebenskürze, die uns dazu zwingt. Wir Menschen - stets zugleich Spätgeborene - müssen sterben: wir »sind zum Tode«, oder (um es diesseits aller existenzialistischen Emphase zu sagen): die Natalität und die Mortalität der menschlichen Gesamtpopulation beträgt nach wie vor 100 Prozent. Wir kommen spät und gehen früh, und die Frist dazwischen, die unser Leben ist, ist, selbst wenn sie lang ist, stets zu kurz, um in ihr absolute Sprünge machen zu können. Vita brevis, das Leben ist kurz: darum hat kein Mensch die Zeit, sich - universalisierungsabsolutistisch - aus der Vielheit, in die er hineingeboren ist, beliebig weit in Richtung Einheit wegzubewegen. Vita brevis, das Leben ist kurz: darum hat zugleich kein Mensch die Zeit, seine vielheiclich-hyperkomplexe Wirklichkeit - pluralisierungsabsolutistisch - ohne Vereinfachungen, d. h. einheitslos, zu bewältigen. Unsere Lebenskürze zwingt uns zur - stets nur unvollkommenen - Balancierung von Einheit und Vielheit und zu einem nichtabsoluten Ja dazu. Zum Vollkommenen fehlt uns die Zeit: auch zum vollkommenen Ja und zum vollkommenen Nein. Denn unser Leben ist kurz: vita brevis. Dieses vita-brevis-Argument - darauf hat Eckhard Nordhofen aufmerksam gemacht - ist ein vita-una-Argument. In der Tat: wir haben in dieser Welt - zwischen der einzigen Ge-
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burt, durch die wir selber zur Welt kommen, und dem einzigen Tod, den wir selber sterben müssen - nur ein einziges Leben zur Verfügung. Hier taucht das Problem der Einheit und Vielheit in neuer Form noch einmal auf: weil wir nur ein Leben haben. Aber es trifft nicht zu, daß diese Einheit, nunmehr im Sinne der Lebenseinzigkeit, die Vielheit beseitigt; denn es gibt nicht nur den jeweils Einzelnen, sondern es gibt auch die Anderen, unsere Mitmenschen, die, weil sie viele sind, viele Leben leben, an denen wir teilnehmen können und dadurch - in gewisser Hinsicht - auch ihre Leben haben. Weil wir trotz unserer Lebenseinzigkeit mehrere viele - Leben brauchen, brauchen wir unsere Mitmenschen: Die Kommunikation mit ihnen in all ihrer Vielheit ist für uns die einzige Chance, trotz unserer Lebenseinzigkeit viele Leben zu leben. Dabei ist gerade die Vielheit dieser Mitmenschen - ihre bunte Verschiedenartigkeit - wichtig und darf durch die Kommunikation mit ihnen nicht getilgt, sondern sie muß dabei gerade geschützt und gesteigert werden. Darum muß - dies wenigstens meine ich, bis ich morgen abend durch Jürgen Habermas eines Besseren belehrt werden werde - es muß diese Kommunikation mehr sein als nur jener ideale Diskurs, den die Protagonisten der neuen Frankfurter Schule - also etwa Jürgen Habermas - uns empfehlen. In ihm nämlich löscht - ganz im Gegenteil - die Einheit des diskursiven Konsenses die Vielheit gerade aus, und es macht dort das Allgemeine das Besondere stumm: denn in diesem universalistischen Diskurs ist Vielheit - die Vielfalt der Meinungen - nur als Anfangskonstellation gestattet; Bewegung der Kommunikation ist nur als Abbau der Vielheit - der Vielfalt der Meinungen - gerechtfertigt; und sein Endzustand - der universalistische Konsens - ist einer, bei dem niemand mehr anders denkt als die anderen, so daß dort die Vielheit der Teilnehmer gerade überflüssig wird zugunsten jenes einen Teilnehmers, der dann genügt, um jene Meinung zu hegen, die dann sowieso als einzige herrscht. Der idealdiskursive Konsens ist die Rache des So-
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lipsismus an seiner diskursiven Überwindung. Demgegenüber muß die Kommunikation, die uns mehrere Leben erschließt, die Vielheit gerade bewahren und bekräftigen: Sie muß also die universalistische Optik auch noch von Kants kategorischem Imperativ - sei nur das, was auch alle anderen sein können! - ergänzen und berichtigen durch die pluralistische Optik dessen, was Max Müller den historischen Imperativ genannt hat: Sei das, was nur du sein kannst, und laß auch die anderen das sein, was nur sie sein können! Es muß in dieser pluralisierenden Kommunikation gerade die Vielheit der Anderen maßgeblich bleiben: die Vielfalt ihrer Meinungen, Charaktere, Sitten, Geschichten, Sprachen. Von Tomas Masaryk stammt das schöne Diktum: So viele Sprachen man spricht, so viel mal ist man ein Mensch. Das ist variierbar und stimmt dann immer noch: Mit so vielen Mitmenschen man kommuniziert, so viel mal hat man sein Leben. Denn unsere Lebenseinzigkeit wird eben dadurch vielheitlich kompensiert, daß wir Mitmenschen haben. Ein spezieller Fall solch kompensatorischer Mitmenschlichkeit ist ein Philosophenkongreß, bei dem - trotz der Einheit der Philosophie - gilt: Mit so vielen - verschiedenartigen - Philosophen man sich ausspricht, so viel mal ist man ein Philosoph. Dabei muß - das war hier ich - einer mit dem philosophischen Reden anfangen; dann reden viele Andere, die das zuerst Gesagte - ich erwarte das zuversichtlich - korrigieren und kompensieren. Es ist gut, daß der Ausr!~ter dieses Kongresses über Einheit und Vielheit den Ublichkeiten entsprechend - zwar das erste Wort hat, aber nicht das letzte. Darum setzen wir morgen - denn heute Abend bleibt der Kongreß wegen Eröffnung geschlossen - und in den folgenden Tagen unsere Arbeit fort. Ich danke Ihnen für Ihre Anwesenheit und Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen guten Abend.
Zeit und Endlichkeit
Nur knapp 45 Minuten habe ich hier Zeit, um mich auf philosophische Weise öffentlich über die Zeit zu äußern; und diese Frist möchte ich einhalten, denn ich habe - mit besonderer Berücksichtigung ihrer Endlichkeit - ja eben auf die Zeit zu achten. Drum auch möchte ich sofort - ohne Zeitverzug - ein Buch über die Zeit ins Spiel bringen, das vor nicht allzulanger Zeit, nämlich 1986, erschienen ist und von Hans Blumenberg stammt, betitelt Lebenszeit und Weltzeit.! Dort entwickelt Blumenberg - auf der Grundlage einer eigenwilligen und glanzvollen Interpretation der »genetischen Phänomenologie« des späten Husserl - als zentrales Zeitproblem die menschliche Lebenskürze: Je mehr die Menschen - nach ihrer Vertreibung aus der »Lebenswelt« der unmittelbaren Selbstverständlichkeiten - die objektive Welt mit ihrer unfaßlich riesigen» Weltzeit« entdecken, desto unausweichlicher entdecken sie zugleich, daß ihre »Lebenszeit« eine ultrakurze Episode ist, limitiert durch den Tod, der unerbittlichen Grenze für ihren vital und kognitiv grenzenlosen Weltappetit. Die »Kongruenz« von »Lebenszeit und Weltzeit« erweist sich als Wahn; die »Öffnung der Zeitschere« zwischen »Lebenszeit und Weltzeit« erweist sich als Wirklichkeit, bei der es - das füge nun ich hinzu - ganz und gar kein Zufall ist, daß sie - die menschlich-endliche Lebenszeit im Kontrast zur Weltzeit - gerade modern und gegenwärtig besondere philosophische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Denn die wissenschaftliche Objektivierung und Entgrenzung der Weltzeit - das hat, wohl zuerst 1987 beim Gießener Philosophenkongreß und dann mehrfach wieder, letzthin vor allem Johann Baptist Metz2 betont - diese wissen-
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schaftliche Objektivierung und Entgrenzung der Weltzeit wird in der modernen Welt (vor dem Hintergrund jener Erfahrung, die Nietzsche als den »Tod Gottes« beschrieb) möglich und nötig durch ihre - wie Metz das nennt - »Entfristung«. Erst wo sie ihre eschatologische Finalität als Heilszeit - als befristeter Weg zum erlösenden Ende, als Frist zum Heil - verliert, kann die Weltzeit zu jener - wie Metz sagt - ziellos »offenen« und »evolutionär entfristeten Zeit« werden, die die moderne - physikalisch orientierte Kosmologie geltend macht: Die Objektivierung und Entgrenzung der Weltzeit lebt von der Entfristung der Heilszeit, natürlich auch von der Entfristung ihrer modern säkularisierten Surrogate: etwa von der Selbstzerstörung der finalisierenden Geschichtsphilosophien, zu denen der Marxismus gehört. Jedenfalls: Die Weltzeit avanciert auch und gerade als philosophisches Thema durch die Entfristung der Heilszeit und ihrer Surrogate. Diese These von Johann Baptist Metz halte ich für ungemein plausibel: Sie scheint mir wahr zu sein, aber nicht die ganze Wahrheit. Darum möchte ich diese These von Johann Baptist Metz meinerseits durch folgende These ergänzen: Gerade die moderne Entdeckung der entfristeten, der »offenen« Weltzeit bringt den Fristcharakter der Zeit nicht etwa zum Verschwinden, sondern - im Gegenteil- gerade sie radikalisiert zugleich diesen Fristcharakter, indem sie ihn nun ganz und gar auf jene Zeit verlagert und konzentriert, die für uns Menschen am unvermeidlichsten Frist ist: die endliche Lebenszeit unseres eigenen Lebens, das also, was Blumenberg als jene »Episode« charakterisiert, die jeder von uns ist. Anders gesagt: Für die Philosophie wird - kompensatorisch zur modernen Entfristung der Heilszeit zur Weltzeit - die Zeit gerade modern wie nie zuvor radikal zur Frist: als endliche Lebenszeit des einzelnen Menschen. Sie wird es in unserem Jahrhundert vor allem durch die Philosophie des menschlichen »Seins zum Tode«. Ich nehme hier diese Formel von Martin Heidegger auf, aber sie interessiert
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mich hier weder als Formel des »verstandenen Todes« und Beitrag zur Thanatologie noch als Formel der Todessucht im Zeichen der »Menschheitsdämmerung« und Lebenshärte, sondern als Formel einer nüchternen Temporalphänomenologie der menschlichen Lebenskürze, die philosophisch wichtig wird, wo - modern und heute - die befristete Zeit soteriologischer Finalität thematisch ersetzt wird durch die befristete Zeit menschlicher Mortalität. Als Beitrag zu einer solchen Phänomenologie - mit dem wesentlichen Befund: die Zeit eines jeden Menschen ist endlich und knapp, sie ist befristet, das Leben ist kurz - möchte ich hier einige Überlegungen formulieren, und zwar in folgenden vier Abschnitten: 1. Vita brevis; 2. Forcierung der Schnelligkeit; 3. Kompensatorische Langsamkeit; 4. Multitemporalität. Ich beginne - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt: 1. Vita brevis
Seneca hat in seiner Schrift De brevitate vitae die Klagen über die Kürze unseres Lebens zurückgewiesen. Unser Leben - meinte er - ist nicht kurz, sondern wir machen es kurz, indem wir unsere Lebenszeit an Dinge verschwenden, die nicht der Mühe wert sind. Seine Beispiele sind überaus aktuell: Da ist der Patron, der für seine Klienten von Termin zu Termin hetzt und darüber sein eigenes Leben vergißt; da ist der Patrizier, der mit seinem Friseur stundenlang darüber diskutiert, ob das einzige verbliebene Haar auf seinem Kopf zu einer Rechtslocke oder zu einer Linkslocke verarbeitet werden soll. Sie vergeuden ihre Zeit und versäumen ihr Leben: Das Leben ist nicht kurz, sondern wir machen es kurz, durch Zeitvergeudungen. Aber gerade dieses Argument von Seneca - so zutreffend es ist - setzt die Kürze unseres Lebens voraus. Hätten wir beliebig viel Zeit, könnten wir beliebig viel Zeit vergeuden, ohne Zeit zu ver-
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lieren; es gäbe ja immer wieder neue. Die aber gibt es gerade nicht. Unsere Zeit besteht eben nicht aus beliebig viel Zeit, denn unsere Lebenszeit ist endlich, unser Leben ist kurz. Das bedeutet: Zeit ist - als originäre Gegebenheit unserer Lebenserfahrung - gerade keine aus dem Unbestimmten ins Unbestimmte weiterfließende gleichförmige Folge von Gegenwarten (also auch keine Dauer a la Bergson), der es egal ist, ob einer von uns eine Strecke und welche Strecke er in ihr besetzt, sondern die Zeit ist endlich: sie wird immer weniger, sie verrinnt, läuft ab und aus, und niemand von uns kann sie anhalten und festhalten und ihren Schwund stoppen. Die Zeit ist primär unsere Lebenszeit: sie ist, als die Zeit, die wir (bis zu unserem Tode) noch haben, stets nur derjenige knappe Aufschub, der uns noch gewährt ist und bald - nach kurzer Frist - nicht mehr gewährt sein wird; denn jedermanns gewisseste Zukunft ist sein Tod. Zeit ist also - entsprechend der wichtigsten Zeiterfahrung, die wir machen - endlich: Zeit ist Frist, und wir Menschen wissen das, denn wir »sind zum Tode«. Das - diese Endlichkeitserfahrung unserer Zeit - ist kein »nur subjektives Zeiterlebnis«; vielmehr: verglichen mit der objektiven und meßbaren Weltzeit - die wir brauchen mindestens als Ferien von der Frist, als Entlastung von der Endlichkeit, als Urlaub vom Sein zum Tode - verglichen mit dieser objektiven und meßbaren Weltzeit ist unsere todes begrenzte Lebensfrist die realere Zeit, weil wir sie selber wirklich durchleben und durchsterben müssen. Diese Zeit ist knapp: die knappste aller knappen Ressourcen ist unsere Lebenszeit. Wir kommen spät und gehen früh, und die Strecke dazwischen, die unser Leben ist, ist, wie lang sie auch sein mag, kurz. Denn wir Menschen sind stets Spätgeborene; wo wir anfangen ist nicht der Anfang: wir fangen nicht ab ova an, sondern a galina (als Hermeneutiker, das merken Sie, bin ich bei der Frage nach Henne und Ei kein Ovist, sondern Galinist); und unser Tod, wie lang er auch zögert, kommt immer allzubald. Wir sind »geworfen«, also geboren ins »Sein zum
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Tode«, oder (um es diesseits aller existenzialistischen Emphase zu sagen): Wie die Natalität beträgt auch die Mortalität in der menschlichen Gesamtpopulation nach wie vor durchschnittlich 100 Prozent. Anders formuliert: Das menschliche Leben ist kurz, vita brevis. Es ist - darauf möchte ich nunmehr genauer hinweisen stets so kurz, daß es uns bestimmte temporale Lebensformen aufzwingt, vor allem jene Zeitverfassung, die ich nennen möchte: das temporale Doppelleben. Denn - wenn ich es richtig sehe - aus der Kürze unseres Lebens folgt mindestens dreierlei. Erstens: unsere Zeit ist Frist, das Leben ist kurz; darum können wir nicht beliebig lange warten, sonst verpassen wir unser Leben, denn unsere Zukunft ist - todesbedingt kurz. So müssen wir also ungeduldig sein und eilen. Was wir - verändernd, verbessernd - an Neuem erreichen wollen, müssen wir schnell erreichen. Wir müssen es schneller erreichen als der schnelle Tod uns erreicht, sonst erreichen wir es gar nicht. So gilt: Die Kürze unseres Lebens - also daß unsere Zeit endlich, daß sie Frist ist - zwingt uns Menschen zur Schnelligkeit. Zweitens: unsere Zeit ist Frist, das Leben ist kurz; darum können wir nicht beliebig viel Neues erreichen, uns fehltganz elementar - die Zeit dazu; denn unser Tod - wie lange er auch zögert - kommt einfach zu schnell für zu viele Innovationen. Das limitiert unsere Veränderungsfähigkeit unsere Schnelligkeit - und bindet uns dadurch so fest an unsere Vergangenheit, also an das, was wir schon waren und sind, daß wir ihr nicht in beliebigem Umfang enteilen können. Weil wir - sozusagen - nicht beliebig schnell und nicht beliebig weit aus unserer Herkunftshaut hinauskönnen, bleiben wir trotz aller Schnelligkeit langsam, so daß gilt: Die Kürze unseres Lebens - also daß unsere Zeit endlich, daß sie Frist ist - zwingt uns Menschen zur Langsamkeit. Drittens: unsere Zeit ist Frist, das Leben ist kurz; darum haben wir nicht die Wahl, ob wir schnell oder langsam le-
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ben wollen, sondern wir müssen - unvermeidlicherweise stets beides: schnell leben und langsam leben, Eiler und Zögerer sein. Unsere Lebenskürze - die Endlichkeit unserer Lebenszeit - zwingt uns dazu, und das ist - meine ich - gut so; denn dieses temporale Doppelleben schützt uns - als eine Art Gewaltenteilung der Zeit - vor temporalen Gleichschaltungen: davor, nur - zukunftshungrig - schnell oder nur - herkunftsdominiert - langsam zu leben. Das gilt für die Zeit jedes Menschen, und es gilt ebenso für die moderne und gegenwärtige Zeit, die beides forciert: unsere Schnelligkeit und unsere Langsamkeit. Dadurch scheint sie uns zwar zu zerreißen; aber gerade das müssen wir aushalten. Wir müssen - auch und gerade in der modernen Welt - beides leben, unsere Schnelligkeit und unsere Langsamkeit, unsere Zukunftsbegierde und unsere Herkunftsbezogenheit, sonst leben wir unser Leben nur halb. Dazu einige Hinweise in den beiden folgenden Abschnitten, zunächst - presto - im Abschnitt: 2. Forcierung der Schnelligkeit
Die Menschen - das ist die eine Seite ihres temporalen Doppellebens - sind durch ihre Lebenskürze - dadurch, daß ihre Zeit endlich, daß sie Frist ist - zur Schnelligkeit gezwungen. Die moderne Welt forciert diese Schnelligkeit. Sie verstärkt die Schnelligkeit so sehr, daß dadurch die menschliche Langsamkeit besiegt zu werden und abzusterben scheint: Jetzt scheint allein das schnelle Leben übrigzubleiben. Darum erfährt sich - vor allem Reinhart Koselleck hat das begriffs geschichtlich gezeigt - die moderne Welt temporal zunehmend als beschleunigter Prozeß: sie wird - durch ,. Verzeitlichung« - zur Fortschrittswelt, deren Innovationstempo wächst und deren Veraltungsgeschwindigkeit zunimmt, und zwar immer mehr; philosophisch hat das vor allem Hermann Lübbe geltend gemacht. Möglich wird diese
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Steigerung der Veränderungs schnelligkeit durch ein spezifisch modernes Verfahren, nämlich durch die methodische Neutralisierung der menschlichen Langsamkeiten, vor allem der Traditionswelt. Die Modernisierungskräfte des Fortschritts operieren traditions neutral: Nur so - traditionsneutral- kann die moderne Naturwissenschaft (welteinheitlich messend und experimentierend) immer schneller zu traditionsunabhängig überprüfbaren Ergebnissen kommen; nur so - traditionsneutral - kann die moderne Technik gewachsene Traditionswirklichkeit immer schneller durch artifizielle Funktionswirklichkeiten ersetzen; nur so - traditionsneutral - kann die moderne Wirtschaft ihre Produkte immer schneller zu Waren des weltweiten Handels machen; nur so - durch traditionsneutrale Kommunikationssysteme - kann die moderne Informationstechnologie immer schneller immer mehr Informationen global kommunizierbar machen. Die moderne Fortschrittswelt ist Neutralisierungswelt: je konsequenter die Herkunftstraditionen - die menschliche Langsamkeiten sind - methodisch neutralisiert werden, desto schneller wird der Fortschritt, so daß gerade dadurch eintritt: Die Menschen werden das, was Menschen - getrieben durch die Endlichkeit ihrer Zeit, die Kürze ihres Lebens - ohnehin sein müssen, modern in zunehmend verstärktem Maße, nämlich schnell, als immer schnellere Menschen in einer immer schnelleren Welt. Unbestreitbar bringt diese schnelle Welt uns Lebensvorteile. Zugleich aber leben wir nicht behaglich in dieser immer schnelleren Neutralisierungswelt, die im übrigen dazu neigt, das Neutralisierte auszurangieren: es zu vergessen oder wegzuwerfen, und zwar mit wachsender Fortschrittsgeschwindigkeit in wachsendem Maße. Darum kommen wir mit dem Veränderungstempo dieser modernen Neutralisierungswelt - die sich zur Vergessensgesellschaft und Wegwerfgesellschaft steigert - immer weniger mit. Die Zeitkritiker - unsere Jammerathleten und Kassandren vom Dienst - beklagen das, ihrerseits mit zunehmender Empö-
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rungsgeschwindigkeit: Sie halten - in bezug auf die moderne, die bürgerliche Welt - die Wacht am Nein. Die einen wollen ihr die Schnelligkeit verbieten, die anderen die Langsamkeit; in beiden Fällen wird der Mensch - der zeitknappheitsbedingt schnell >und< langsam sein muß - halbiert und seine Welt wird zur Halbwelt und seine Zeit wird zur Halbzeit. Darum kommt es - zwecks Kritik der lamentierenden Halbvernünfte: also um die Halbierung der Wahrnehmung der modernen Welt und der modernen Menschen zu vermeiden - darauf an, in dieser wandlungsbeschleunigten Welt nicht nur den schnellen, sondern auch den langsamen Menschen zu bemerken. Das versuche ich - lento - im Abschnitt: 3. Kompensatorische Langsamkeit
Denn - das ist die andere Seite ihres temporalen Doppellebens - die Menschen sind durch ihre Lebenskürze - dadurch, daß ihre Zeit endlich, daß sie Frist ist - zugleich zur Langsamkeit gezwungen. Die moderne Welt aber verändert sich schnell und immer schneller. In dieser schnellen - ständig neu und dadurch ständig fremd werdenden - Welt müssen die Menschen (endlichkeitsbedingt) dennoch langsam, herkunftsbezogen und in vertraut bleibenden Verhältnissen leben. Wie kann das gelingen? Ein sinnenfälliges Beispiel, wie man das - dieses Mitnehmen der eigenen Langsamkeit ins Schnelle - macht, liefern uns die ganz jungen Kinder. Sie - für die die Wirklichkeit unermeßlich neu und fremd ist - tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem ständig bei sich und überall mit sich herum: ihren Teddybären. Kinder kompensieren ihr Vertrautheitsdefizit durch Dauerpräs~.nz des Vertrauten: durch - wie Freud das nannte - ein »Ubergangsobjekt«, ein transitional object, beispielsweise durch ihren Teddybären. In der wandlungsbeschleunigten und ebendadurch stets aufs neue un-
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vertrauten und fremd werdenden modernen Welt brauchen und haben auch die Erwachsenen - etwa die Bildungsbeflissenen unter ihnen - ihre Teddybären, z. B. indem sie Klassiker mit sich führen: die, bei denen man immer schon zu wissen glaubt, woran man mit ihnen ist; und so kommt man dann etwa: mit Goethe durchs Jahr; mit Beethoven durch Bonn; mit Habermas durchs Studium; mit Reich-Ranicki durch die Gegenwartsliteratur; und so fort. Das gilt allgemein: Je schneller die Zukunft modern für uns das Neue - das Fremde - wird, desto mehr Vergangenheit müssen wir - teddybärgleich - in die Zukunft mitnehmen und dafür immer mehr Altes auskundschaften und pflegen. Darum wird gegenwärtig zwar mehr vergessen und weggeworfen als je zuvor; aber es wird gegenwärtig auch mehr erinnert und respektvoll aufbewahrt als je zuvor: Das Zeitalter der Entsorgungsdeponien ist zugleich das Zeitalter der Verehrungsdeponien, der Museen, der Naturschutzgebiete und Kulturschutzmaßnahmen: der Denkmalpflege, der Hermeneutik als Altbausanierung im Reiche des Geistes, der Ökologie, der erinnernden Geisteswissenschaften. Weil die Menschen in der modernen - der wandlungsbeschleunigten und dadurch zunehmend diskontinuierlichenWelt ihre Kontinuität besonders schützen müssen, entsteht gerade und nur in ihr der historische Sinn, der mehr als die Veränderlichkeit von Wirklichkeiten die Grenzen dieser Veränderlichkeit erfährt: Der historische Sinn ist - wenn ich das richtig sehe - vor allem der Sinn für Kontinuitäten, für Langsamkeiten. Das gilt auch für den ästhetischen Sinn, zu dem es ebenfalls erst in der modernen Welt kommt, kompensatorisch zu ihren wachsenden Schnelligkeiten: Wichtiger als das - im übrigen ganz und gar unverzichtbare - Innovatorische ist auch und gerade bei der modernen, der ästhetischen Kunst, daß sie sehr langlebig sensibilisiert und orientiert. Wenn Kunstwerke uns erst einmal für sich eingenommen haben, werden wir sie nicht oder nur sehr langsam wieder los. So kommt in die wandlungs beschleunigte, die
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schnelle Welt die Langsamkeit hinein, die die Menschen in ihr brauchen. Vor allem aber sind da die Traditionen, die ungeachtet ihrer Neutralisierung zugunsten der modernen, der schnellen Rationalisierungen - in der modernen Welt begrüßenswert bunt und vielgestaltig - sozusagen multikulturell - und dadurch individualitätsfreundlich vorhanden sind: in der Regel intakter, als wir es wahrhaben wollen. Unter ihnen haben alte Üblichkeiten einen besonderen Vorteil: Gerade in einer Welt mit hoher Innovationsgeschwindigkeit sind alte Lebensformen am wenigsten veraltungsanfällig, weil sie schon alt sind. Mit einem Satz: die modernen Menschen bleiben - trotz der modern zunehmenden Schnelligkeit - das, was die Menschen - limitiert durch die Endlichkeit ihrer Zeit, die Kürze ihres Lebens - ohnehin bleiben müssen, nämlich langsam; denn die modernen Menschen - gerade sie - kompensieren die wachsende Schnelligkeit durch Langsamkeitspflege, durch Bewahrungskultur. Dabei kann die Fortschrittsschnelligkeit selber in den Dienst der menschlichen Langsamkeit treten. Wer schnell ist, gewinnt Zeit; und die so gewonnene Zeit kann als Möglichkeit genutzt werden, sich Zeit zu lassen, also nicht schnell sein zu müssen, sondern langsam zu leben. So eröffnet z. B. die aus der Steigerung der Produktionsschnelligkeit resultierende Arbeitszeitverkürzung - von der täglichen über die wöchentliche und jährliche bis zur Gesamtlebensarbeitszeitverkürzung - dem modernen Menschen die Chance, nicht mehr nur schnell, sondern zugleich auch langsam zu leben. Im übrigen gehört zum wachsenden Veraltungstempo der modernen Welt das wachsende Tempo der Veraltung auch ihrer Veraltungen. Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden: jeder weiß das, der nur ein wenig länger schon lebt. Darum darf man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte - je schneller sein Tempo wird - zugleich unaufgeregt überholen lassen und warten, bis der Weltlauf - von hinten überrundend - wieder bei einem vorbeikommt. Im-
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mer häufiger gilt man dann bei denen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, vorübergehend wieder als Spitzengruppe: So wächst - aufgrund der Wandlungsbeschleunigung in beschleunigtem Maße - modern gerade durch Langsamkeit die Chance, auf der Höhe der Zeit zu sein. Die Menschen: was sie in dieser schnellen und immer schneller werdenden modernen Zeit zugleich müssen, das können sie darum auch; nämlich langsam leben. Meine Betrachtungen über die Endlichkeit der Zeit beende ich im abschließenden Abschnitt: 4. Multitemporalität
Die Menschen - das ist ihr temporales Doppelleben - sind zugleich zur Schnelligkeit und zur Langsamkeit gezwungen. Das hatte ich im ersten Abschnitt angedeutet. Im zweiten Abschnitt hatte ich betont: Gerade die modernen Menschen leben zunehmend schnell. Im dritten Abschnitt hatte ich betont: Gerade die modernen Menschen leben weiterhin langsam. Die temporale Entzweiung, die dadurch entsteht und jeden einzelnen Menschen befällt, darf nicht beseitigt, sondern muß ausgehalten werden. Dieses temporale Doppelleben aber wird erzwungen durch jene Endlichkeit, jene Fristhaftigkeit der menschlichen Zeit, die ich - ein notorischer Skeptiker - unterstrichen hatte durch den Satz: Das Leben ist kurz, vita brevis. Dieser Satz über die temporale Endlichkeit der Menschen ist ein Satz der Lebenserfahrung, also wohl kein apriorischer, sondern ein empirischer Satz. Es gibt Philosophen, die mit solchen Sätzen Schwierigkeiten haben. Wenn Philosophen wirklich reine Philosophen sind - also etwa reine Transzendentalphilosophen, die ihre reine Transzendentalphilosophie streng nach dem Königsberger Reinheitsgebot von 1781 brauen - dürfen sie - diese Apriorisüchtigen nicht, was ein Skeptiker darf. Denn ein Skeptiker - vor al-
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lern, wenn er ein dicker Skeptiker ist, einer mit Lebenserfahrungsappetit und entsprechendem embonpoint de vue darf einen empirischen, einen Satz der Lebenserfahrung zum Grundsatz seiner Philosophie machen, eben diesen: das Leben ist kurz, vita brevis. Dieser Satz bekräftigt die anthropologische These vom Menschen als Mängelwesen temporal: Der Mensch ist das Zeitmangel-Wesen, seine temporale Primärerfahrung ist eine Knappheitserfahrung. Nur wer nicht weiß, daß er sterben muß, spürt diesen Zeitmangel nicht. Der Mensch aber, der »zum Tode« »ist«, erfährt seine Zeit als knapp, und zwar - das möchte ich den bisherigen Überlegungen jetzt betont hinzufügen - nicht nur weil sein Leben kurz ist, sondern vor allem auch, weil jeder von uns in dieser Weltzwischen der einzigen Geburt, durch die er selber zur Welt kommt, und dem einzigen Tod, den er selber sterben muß - nur ein einziges Leben hat: nur eine einzige Lebenszeit. Man lebt nur einmal und hat nur eine Lebenszeit zur Verfügung. Nicht nur durch ihre jeweilige Kürze also, sondern auch durch diese jeweilige Einzigkeit ist unsere Zeit endlich. Freilich: wir sind nicht allein auf der Welt. Es gibt nicht nur den jeweils Einzelnen, sondern es gibt auch die Anderen, unsere Mitmenschen, die, weil sie viele sind, viele Leben und Lebenszeiten leben, an denen wir teilnehmen können und dadurch - in gewisser Hinsicht - auch ihre Leben haben: auch ihre Lebenszeiten. Gerade weil wir trotz der Einzigkeit unserer Lebenszeit mehrere - viele - Lebenszeiten brauchen, brauchen wir unsere Mitmenschen: Die Kommunikation mit ihnen ist für uns - zeitmangelkompensatorisch - die Chance, trotz der Einmaligkeit unseres Lebens viele Male zu leben, also trotz der Einzigkeit unserer Lebenszeit viele Lebenszeiten zu haben, die zugleich z. B. weil diese Lebenszeiten der Anderen teils vor unserer Lebenszeit beginnen und teils nach unserer Lebenszeit aufhören oder mit Lebenszeiten verflochten sind, die vor unserer eigenen Lebenszeit beginnen und nach ihr auf-
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hören - unsere kurze Zeit länger machen. Das Mitsein mit den Mitmenschen ist - wenn der Mitmensch nicht gerade ein Zeitdieb ist, der Zeit nur stiehlt (was man übrigens, fürchte ich, auch durch öffentliche Vorträge tun kann) - für uns die Möglichkeit, mehr Zeit zu haben als wir haben: denn geteilte Zeit ist vielfache Zeit. Diese Pluralisierung unserer Lebenszeit - als Lebenspluralisierung - brauchen wir; und wir bekommen sie von unseren Mitmenschen, und zwar durch das, was man nennen kann: die mitmenschliche Multitemporalität. Mit so vielen Mitmenschen einer als Mitzeitler kotemporiert, so viel mal ist er ein Mensch: durch diese Multitemporalität, die die Menschlichkeit steigert. Wenn man die Zeit - wie ich das hier versucht habe - nicht von der Heilszeit und ihren Surrogaten und nicht von der Weltzeit aus, sondern von der eigenen endlichen Lebenszeit her versteht, dann gilt: Wichtiger als die Einheit der Zeit ist die mitmenschliche Multitemporalität. Damit berühre ich - am Schluß meiner Überlegungen jene Frage, die der Gastgeber unserer Tagung - Hans Michael Baumgartner - uns ans Herz gelegt und in seinem Einladungsbrief folgendermaßen formuliert hat: »Ob und wie (verweisen) die verschiedenen Zeitkonzepte« - zu denen, meine ich, auch die mitmenschliche Multitemporalität, die vielen Lebenszeiten unserer Mitmenschen gehören - »je für sich und untereinander auf einen gemeinsamen Boden, auf eine zugrunde liegende Zeitvorstellung ... , an der wohl festgehalten werden muß, wenn die Rede von der Zeit den mit ihr beanspruchten einheitlichen Sinn bewahren soll?«, und: »Wie wäre diese >Zeit der Zeiten< ihrerseits zu bestimmen?« Habe ich - in meinem Vortrag - diese Frage beantwortet? Keineswegs. Doch es steht nirgends geschrieben, daß ein philosophischer Vortrag - auch wenn es ein öffentlicher Vortrag ist - keine Fragen offenlassen darf. Ohnehin ist ein Skeptiker, wie ich einer bin, geübt primär im Offenlassen von Fragen, im Unterschied etwa zu einem Transzendentalphilosophen, wie Hans Michael Baumgartner einer
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ist, der geübt ist primär im Beantworten von Fragen. Darum spiele ich - indem ich selber wiederhole: Wichtiger als die Einheit der Zeit ist die mitmenschliche Multitemporalität - ich spiele darum die transzendentalphilosophisch zentrale Frage nach der Einheit der Zeit und der >Zeit der Zeiten<, die Du, lieber Michael, auch mir zugespielt hattest, jetzt - das ist ja unser bewährter transzendentalphilosophisch-skeptischer Doppelpaß - zu Dir zurück: als offene Frage. Mit dieser offenen Frage, meine Damen und Herren, beende ich meinen Vortrag, um Ihre Zeit nicht länger in Anspruch zu nehmen; denn es neigt sich der Tag, die Zeit ist endlich und das Leben ist kurz.
Anmerkungen 1 H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986. 2 J. B. Metz, »Theologie versus Polymythie oder Kleine Apologie des biblischen Monotheismus«, in: o. Marquard (Hrsg.), Einheit und Vielheit. XlV. Deutscher Kongreß für Philosophie Gießen, 21.-26. September 1987, Hamburg 1990, S. 170-186.
Moratorium des Alltags Eine kleine Philosophie des Festes
Eine große Philosophie des Festes müßte alles über das Fest sagen, was philosophisch über das Fest zu sagen ist; und all dieses, was da gesagt werden müßte, hätte auch noch ganz und gar richtig zu sein. Mit solch einer großen Philosophie des Festes kann ich nicht dienen. Sie ist hier nicht beabsichtigt. Eine kleine Philosophie des Festes hingegen, diejenige also, die hier beabsichtigt ist: sie darf sich einen Aspekt unter vielen möglichen Aspekten des Festes - einen besonderen, vielleicht gar abseitigen - heraussuchen und ihn - philosophisch - durchüberlegen, auf die Gefahr hin, möglicherweise in einer Sackgasse zu landen. Diesen - riskanten - Gedankenweg einer kleinen Philosophie des Festes möchte ich hier in vier Etappen durcheilen, in vier Abschnitten. 1. Moratorium des Alltags: das Fest
Feste zu feiern ist menschlich; und ich glaube, es ist nur menschlich. Weder Sterne, Meere, Steine, Feuersbrünste noch Pflanzen noch Tiere feiern Feste. Zwar gibt es auch Menschen, die ungern Feste feiern: etwa Festmuffel, wie ich einer bin. Aber selbst diese feierschwachen Menschen können - und ich sage das aus eigener Erfahrung des Widerstrebens - gar nicht umhin, die stets nötigen und unentwegt wiederkehrenden menschlichen Feste mitzufeiern: Willkommen zu sagen zu Menschen, wenn sie geboren sind; Abschied zu nehmen von Menschen, wenn sie gestorben sind; gute Wünsche zu sagen an Menschen, wenn sie durch Heirat oder berufliche oder politische Entscheidungen - Wichtiges vorhaben; Dank zu sagen für das, was gut
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und zugleich nicht selbstverständlich war; und schließlich dabei allüberall Gott die Ehre zu geben oder - hilfsweise seinen Surrogaten, auf die Menschen offenbar nicht verzichten können, sobald sie auf Gott verzichten wollen. Die Menschen sind - unvermeidlich - feiernde und also festliche Lebewesen. Aber unvermeidlich feiernde und festliche Lebewesen sind offenbar nur die Menschen; denn nur die Menschen feiern Feste: andere Lebewesen tun das nicht'. Das Fest ist ein »Anthropinon«, etwas ausschließlich Menschliches. Warum ist das so? Von Helmuth Plessner stammt die Formel von der »exzentrischen Positionalität«l des Menschen, die - grob gesprochen - besagt: Der Mensch ist unter den Lebewesen der Exzentriker. Alle anderen Lebewesen leben ihr Leben; der Mensch lebt sein Leben nicht nur, sondern verhält sich auch noch zu ihm, und das kann er nur, weil er auf Distanz geht zu seinem Leben. Zum Menschen gehört immer beides: daß er sein Leben lebt, und daß er auf Distanz geht zu seinem Leben. Darum - weil der Mensch so der Lebensexzentriker ist - braucht und hat er das Fest. Sein Leben leben: das ist beim Menschen sein Alltag. Auf Distanz gehen zu seinem Leben: das ist beim Menschen das Fest. Man könnte sagen: Tiere haben nur den Alltag; sie leben. Gott hat nur den Sonntag; er schaut. Die Menschen aber haben beides: Sie leben und distanzieren sich vom Leben; sie arbeiten und feiern; sie haben den Alltag und das Fest. So gehört das Fest zur Lebensexzentrizität des Menschen: als eine Art Aussetzung, Unterbrechung des Alltags - und auf diese Formel, die nicht von mir stammt, möchte ich im Folgenden häufiger zurückkommen -, als eine Art Moratorium des Alltags. Ich möchte hier dieses Moratorium des Alltags verteidigen, das das Fest ist. Das ist häufig getan worden und scheint fast überflüssig. Aber ich möchte das Fest anders verteidigen als es bisher meistens geschah. Bisher hat man das Fest fast immer nur (notabene: mit völligem Recht) gegen den Alltag verteidigt: Der Alltag soll das Fest nicht auf-
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fressen, nicht auslöschen. Aber man muß -- und das will ich hier tun - das Fest auch dadurch verteidigen, daß man den Alltag gegen das Fest verteidigt und dadurch das Fest gegen das Fest: gegen die Perversion des Festes. Denn das Fest meine ich - hört auch dann auf, Fest zu sein, wenn es - statt neben den Alltag zu treten - an die Stelle des Alltags tritt und dadurch den Alltag auslöscht. Das Fest neben dem Alltag: das ist gut. Das Fest statt des Alltags: das ist problematisch und muß bös enden. Die eine Gefahr für das Fest ist der totale Alltag, der das Fest nicht mehr gelten läßt. Aber es gibt eben auch die andere Gefahr für das Fest: daß das Fest zum Fest ohne Alltag wird; denn auch dann - wenn für das Fest der Alltag preisgegeben wird - wird das Fest zerstört und hört auf, Fest zu sein. Alltag und Fest: beide gehen dann unter in dem, was man das totale. Fest nennen könnte, im totalen Moratorium des Alltags. 2. Moratorium des Alltags: der Krieg
Ein derart totales Fest - das totale Moratorium des Alltags - ist der Krieg: die Suspension des Alltags und Festes zugleich durch den großen Ausnahmezustand. Diese These übernehme ich - sie zuspitzend - von Manes Sperber. Er hat - zuletzt in seiner Friedenspreisrede von 1984 »Leben im Jahrhundert der Weltkriege«, in der er zugleich bündig erklärt hat: »Ich bin gegen jeden Krieg, ausnahmslos« - eine Frage aufgeworfen, die nunmehr auch mich nicht mehr losläßt: Wie kommt es eigentlich, daß die Menschen unseres Jahrhunderts zu zwei Weltkriegen psychisch bereit waren? Um diese Frage zu beantworten, erörtert Manes Sperber »das allgemeine Verhältnis des Menschen zum Krieg« und schreibt: »Hier eine Einsicht, die sich mir seit Jahren aufdrängt; sie betrifft das Verhältnis des Menschen zu seinem tyrannischen Alltag, den er als Versklavung und als Entkernung seines Wesens empfindet. Ihm sucht er, bewußt oder
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unbewußt, zu entweichen. Ja, seit Jahrtausenden suchen Menschen aller Stände der täglichen Wiederkehr des Gleichen zu entfliehen - gleichviel wohin. Gewiß, man kann in intimen Erlebnissen, in Liebe und Freundschaft, aber auch in intimen Zwistigkeiten Abwechslung, Flucht und Ausflucht suchen, aber nur das große Abenteuer, ein allgemeines Moratorium des Alltags, kann« - scheint es dann »eine völlige Umwälzung der Lebensweise und der alles regelnden täglichen Ordnung herbeiführen ... : der Krieg.«2 Die Menschen fürchten den Krieg nicht nur, sondern sie wünschen ihn auch, zumindest unbewußt, um ihrem Alltag - dem drückenden und lastenden Alltag - zu entkommen. Jede Warnung vor dem Krieg bleibt zu harmlos, die nicht vor dieser Quelle des Kriegswunsches warnt und erkennt: Der Krieg ist für die Menschen nicht nur schrecklich, sondern zugleich von den Menschen auch auf schreckliche Weise gewünscht: als Entlastung vom Alltag, als Moratorium des Alltags. Manes Sperbers These vermag jene Faszination durch den Krieg zu erklären, die vor allem auch zum Ersten Weltkrieg gehörte; etwa jene, die Ernst Jünger - indem er »den Kampf als inneres Erlebnis« in Stahlgewittem pries - und Thomas Mann - indem er den Krieg als »höheres IndianerspieI« ironisierte - zustimmend oder kritisch meinten und die auch noch in Thomas Manns Zauberberg und in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften literarisch wirksam war: Der Ausbruch des Krieges überholt dort den vergeblichen Versuch, dem bürgerlichen Alltag ins höhere Krankfeiern oder in einen »anderen Zustand« zu entkommen. Dabei sollten wir uns nicht zu sicher wähnen, vom geheimen Wunsch nach dem kriegerischen Moratorium des Alltags durch die Erfahrung der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und - im Zeitalter der Nuklearisierung des Krieges durch die Ahnung der weitaus größeren Schrecken künftiger Kriege zuverlässig geheilt zu sein. Denn die Faszination durch eine kriegerische Entlastung vom Alltag ist - scheint
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mir - gegenwärtig nicht erloschen, sie hat sich nur verschoben: Den Krieg will man nicht mehr, dafür aber häufig - gelobt als Revolution - den Bürgerkrieg, und zwar aufgrund der Erwartung, daß der revolutionäre Umsturz des bestehenden Alltags - ein Umsturz, der selber schon eine Aufhebung des Alltags ist und für den die bestehenden Feste als Behinderungen gelten - zu einer ganz anderen und dadurch automatisch zu einer besseren Welt führen: würde, in der man den Alltag endgültig los wäre. Es ist dieser auf den Bürgerkrieg umgelenkte geheime Kriegswunsch, der aus der Unlust am vorhandenen Alltag entspringt, durch den man dann zu absurden Einschätzungen kommen kann: Weil selbst noch die liberalste vorhandene Welt - die bürgerliche Welt - den Alltag hat, will man diese vorhandene Welt loswerden. Durch diesen Hang zum großen revolutionären Moratorium des Alltags gilt so - zum Beispiel - die Bundesrepublik dann nicht als das, was sie ist, als gelungene Demokratie, sondern als mißlungene Revolution. So scheint es - trifft auch auf den Bürgerkrieg zu, was Manes Sperber für den Krieg behauptet hat: Er ist für die Menschen nicht nur schrecklich, sondern zugleich auch von den Menschen auf schreckliche Weise gewünscht: als Entlastung vom Alltag, als Moratorium des Alltags. 3. Moratorium des Alltags: Gesamtkunstwerk und alternatives Leben
Vielleicht - man sollte das zumindest erwägen - hat die wachsende Faszination der Menschen durch den großen Ausnahmezustand bis hin zum Kriegswunsch und bis hin zum Bürgerkriegswunsch zu tun mit dem Zerfall der Kultur der Feste. Das Bedürfnis nach Entlastung vom Alltag muß irgendwie gedeckt werden; und so braucht man - als Moratorium des Alltags - Krieg und Bürgerkrieg, wenn man - als Moratorium des Alltags - die Feste nicht mehr
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hat. Soweit das die Lage der modernen Welt ist, wird gerade in dieser Welt die Frage nach Gegenmitteln dringlich. Eine naheliegende Antwort ist diese: das Gegenmittel gegen diesen schrecklichen Wunsch nach dem Ausnahmezustand nach dem martialischen Moratorium des Alltags: dem Krieg und dem Bürgerkrieg - besteht in einer neuen Kultur der Feste. Ein Remedium, ein Gegenmittel gegen den Hang zur Preisgabe des Alltags, die Krieg und Bürgerkrieg sind, ist in einer entzauberten Welt, wie es die moderne Welt ist die Kultur jener Feste, die die Kunstwerke sind: gelungene Bauwerke, Plastiken, Bilder, Musik und Tänze, Erzählungen, Gedichte, dramatisches Theater. All das sind Feste; und gerade die moderne Welt - weil sie spürt, daß dies nötig war - hat die Kultur dieser Feste, die die Kunstwerke sind, selbständig und dadurch stark gemacht, indem sie den Umgang mit den Kunstwerken zum ästhetischen Umgang werden ließ. Aber die Kraft der Kunst, Remedium gegen das totale Moratorium des Alltags zu sein, scheint dort aufzuhören, wo die Kunst selber zum totalen Moratorium des Alltags zu werden versucht: als Gesamtkunstwerk. Das Gesamtkunstwerk - indem es, in der Weise Richard Wagners, alle Einzelkünste fusionierte, oder indem es, in der Weise der Futuristen, Surrealisten und Dadaisten, alle Einzelkünste zerstörte - will nicht neben die vorhandene alltägliche und festliche Wirklichkeit treten, sondern an ihre Stelle: das Gesamtkunstwerk] ist jenes totale Fest und Moratorium des Alltags, das die vorhandene Wirklichkeit nicht mehr gelten läßt, und ist schließlich - ernst genommen - auf ästhetische Weise das, wogegen es gerufen wurde: der revolutionäre Ausnahmezustand. Ein anderes Remedium, ein anderes Gegenmittel gegen die Apotheose des Ausnahmezustandes - gegen den Hang zu jenem Ausbruch aus dem Alltag, der Krieg und Bürgerkrieg sind - ist die Kultur jener Feste, die - in einer sachlich,
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künstlich, technisch gewordenen Welt, wie es die moderne Welt ist - die Naturverhältnisse sind: die Entdeckung der Landschaft, die Konjunktur des Parks und des Gartens vom botanischen und zoologischen über" den englischen Garten bis zum Schrebergarten, die Sehnsucht nach den Wäldern, die Lust am Wandern und am Reisen in die unberührte Natur. Auch das alles - diese Naturverhältnisse - sind Feste; und wiederum gerade die moderne Welt - je sachlicher, künstlicher, technischer sie wurde - hat die Kultur gerade dieser Naturfeste bestärkt und intensiviert. Aber diese Kraft des Lebens in der Natur, Remedium gegen das totale Moratorium des Alltags zu sein, scheint dort aufzuhören, wo das Leben in der Natur selber zum totalen Moratorium des Alltags zu werden versucht: als »alternatives Leben«. Die Formel des >alternativen Lebens< ist heute mehrdeutig: sie kann gerade die Kultur jener festlichen Naturverhältnisse meinen, und dann ist sie auch für mich durchaus zustimmungsfähig. Aber dort, wo das »alternative Leben« - als ein ganz und gar anderes und neues Leben, das das vorhandene bürgerliche Leben negiert - an die Stelle der vorhandenen Wirklichkeit treten und deren Alltag und deren Feste durch den großen Ausstieg aus ihnen auslöschen soll, gewinnt es selber - meist wohl ungewollt - martialische Züge. Die Faszination des »alternativen Lebens« ist dann die Faszination durch den Ausstieg in den Ausnahmezustand. Daß dieses Moratorium des Alltags nicht neben den Alltag, sondern an die Stelle des Alltags tritt, ist eine Ähnlichkeit mit jenem großen und schrecklichen Moratorium des Alltags,. vor dem Manes Sperber warnte: eben dem Krieg. Diese Ahnlichkeit wird nicht dadurch geringer, daß gerade die Protagonisten des »alternativen Lebens« - häufig friedensbewegt - die größte Kriegsangst haben und ständig den Angsttraum Krieg träumen und uns alle zum Mitträumen verpflichten wollen. Denn die Psychoanalyse - die bei der Psychologie des Friedens und des Krieges zu konsultieren
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gerade Horst Eberhard Richter uns dezidiert und mit Recht empfiehlt4 - hat uns gezeigt, wie ein Angsttraum funktioniens: Die Angst, die man bei ihm hat, ist nicht die Angst vor dem Schrecklichen, das man träumt, sondern die Angst vor dem eigenen Wunsch nach dem Schrecklichen, das man träumt. Der Angsttraum - und so mag es auch bei dem Angsttraum Krieg sein - konserviert, getarnt als seine Abwehr, einen schrecklichen Wunsch: Je größer die Angst, desto größer der Wunsch nach dem Krieg, der ja auch - beim ganz und gar alternativen Leben - nicht unverständlich wäre. Denn - zurück zur Natur! - die Rückkehr in den Naturzustand unter Zivilisationsbedingungen ist der Krieg, bis hin zum Bürgerkrieg. Der extremste Aussteiger ist der Krieger, und das extremste »alternative Leben« ist der Krieg. 4. Plädoyer für eine Kultur der Feste
Meine kleine Philosophie des Festes, die das Fest nicht nur gegen den totalen Alltag, sondern auch gegen das totale Fest verteidigen will, ist zur Kritik des absoluten Festes geworden. Wenn das Fest zur ganzen Wirklichkeit und die ganze Wirklichkeit zum Fest werden soll - zum einen einzigen Alleinfest: zu jenem absoluten Moratorium des Alltags, das weder den Alltag noch andere Feste neben sich duldet und nur noch Ausnahmezustand ist -, geht es nicht gut. Es kann daraus nichts menschlich Aushaltbares werden, denn wer und das wäre ja die Intention dieses absoluten Festes - die Erde zum Himmel machen will, macht sie zuverlässig zur Hölle. Es gibt in unserer Welt diesen Hang zum totalen Moratorium des Alltags, zum totalen Fest; und weil es ihn gibt, darum muß man sich ihm widersetzen. Dazu - denke ich braucht man: mehr Mut zum Alltag und mehr Mut zum Sonntag. Mehr Mut zum Alltag: das bedeutet, das Bedürfnis
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nach Entlastung vom Alltag - nach »Moratorium des Alltags« - zu reduzieren: durch mehr Bereitschaft zum Alltag und zu ihrer Förderung (etwa durch das, was man »Humanisierung der Arbeitswelt« nennt). Mehr Mut zum Sonntag: das bedeutet, eine andere Entlastung vom Alltag - ein vom Krieg, vom Bürgerkrieg, vom totalen Ausstieg verschiedenes' »Moratorium des Alltags« - zu suchen und zu pflegen. Wer sich mit seinem Alltag versöhnt, und wer sich durch den Sonntag - durch die Vielheit und Buntheit der Feste mit seinem Alltag versöhnt, braucht jenes »Moratorium des Alltags« nicht, das der große Ausstieg in den Ausnahmezustand ist: vom »alternativen Leben« bis zum Krieg. Ich meine hier - wenn ich von den Festen als Remedien spreche und spreche darum vom Sonntag - vor allem die religiösen Feste. Je mehr der Sonntag seine Kraft verliert, desto stärker wird das Bedürfnis, das »Moratorium des Alltags« als Krieg zu absolvieren, und je mehr das vermieden werden soll, desto mehr muß das religiöse Fest - exemplarisch der Sonntag - wieder an Kraft gewinnen. Die Perversion des Festes ruft - als Gegenmittel - nach dem Fest. Das mag auch von den halb- oder nichtreligiösen Festen gelten. Darum sollte man gerade auch die zweitbesten Feste nicht tadeln: von der Kunst - wenn sie nicht gerade das Leben ersetzen will - über die Naturzuwendung - wenn sie nicht gerade das Leben ersetzen will - über den Sport wenn er nicht gerade das Leben ersetzen will- bis zu jener halbfestlichen Form des Alltagsmoratoriums auf genau befristete Zeit, die in der modernen Wohlstandswelt entstanden ist: dem Urlaub. Auch der Urlaub tritt nicht an die Stelle des Alltags, sondern neben den Alltag, um ihn lebbarer zu machen, und gehört so - wie der Sonntag - zu den Segnungen des Alltags. Dabei übernimmt der Urlaub auf friedliche Weise Funktionen, die früher der Krieg wahrnahm. Zum Urlaub gehört häufig die Reise, nicht selten die Reise in andere Länder. Der moderne Massentourismus ist die Demokratisierung der Bildungsreise, indem er die fried-
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liche Fortsetzung jenes Breitentourismus ist, den früher nur der Krieg bot. Einstmals mußte man in schöne und interessante Länder einmarschieren, damit viele Menschen sie kennenlernen konnten. Heute - ein Vergleich beispielsweise der Zahl früherer deutscher Besatzungssoldaten mit der Zahl heutiger deutscher Urlauber etwa in Jugoslawien' zeigt dasbraucht man diese martialische Form der Touristik nicht mehr: Heute bucht man Yugotours. Der Massentourismus wird häufig gescholten; ich meine, er ist eine gute Sache. Denn auch der jährliche Urlaub ist - auf bescheidene Weiseein Fest. Und wir brauchen - je schrecklicher der Krieg zu werden droht, desto mehr - die Feste, und zwar alle Feste, um auch so den Kriegswunsch in uns - den Wunsch nach dem schlimmen und schrecklichen »Moratorium des Alltags«, das der Krieg ist - zum Erlöschen zu bringen. In diese Kultur der Feste sollte man auch ihre unscheinbarsten Formen hineinnehmen: Wir sind nicht so gut gestellt, daß wir es uns leisten könnten, auf irgendeine dieser festlichen Lebensformen zu verzichten. Das gilt vielleicht sogar für die Vorformen. Ich stellte eingangs fest: Ich selber bin ein Festmuffel. Ich ergänze das jetzt durch das private Geständnis: Ich bin zugleich ein Schlafenthusiast. Nur so einer mag auf folgenden Gedanken verfallen: Offenbar sind alle höheren Lebewesen darauf angewiesen, sich regelmäßig aus ihrem Leben - ihrem Wach- und Alltag - zurückzuziehen in jenes elementarste »Moratorium des Alltags«, das der Schlaf ist. Möglicherweise ist der Schlaf ein keimhaftes Fest: gut geschlafen ist halb gefeiert; und nur der Exzentriker unter den Lebewesen, der Mensch, braucht nicht allein den Schlaf, sondern darüber hinaus auch noch das Fest. Dabei sind - meine ich - die menschlichen Feste so weitherzig zu pflegen, daß bei ihnen (wie es antike Philosophien empfehlen) alle drei menschlichen Lebensformen, die die antike Ethik unterschied - das genießende Leben, das praktische Leben, das beschauliche Leben - auf ihre Kosten kommen können. Die genießenden Menschen amüsieren
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sich beim Fest; die praktischen Menschen machen - beim festumgebenden Rummel - ihre Geschäfte; die frommen und beschaulichen Menschen aber begehen das Fest, wie es - die anderen Formen des Feierns mit ermöglichend - zentral gemeint ist: beschaulich, bittend und dankend, betend. Auf diese Weise - in all seinen Formen, vor allem aber nicht als Ersetzung, sondern als Ergänzung des Alltags - brauchen die Menschen das Fest. Denn der Mensch ist das exzentrische Lebewesen, das ohne das Fest nicht auskommen kann. Entweder feiert der Mensch Feste, oder er sucht sich schlimme Ersatzformen des Festes - bis hin zum Krieg.
Anmerkungen 1 H. Plessner, »Die Stufen des Organischen und der Mensch« (1928), in: H. P., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 360 ff. 2 M. Sperber, Leben im Jahrhundert der Weltkriege, Frankfurt a. M. 1983, S. 48.
3 Vgl. O. Marquard, "Gesamtkunstwerk und Identitätssystem«, in: H. Szeemann, Der Hang zum Gesamtkunstwerk, Aarau / Frank-
furt a. M. 1983, S. 40-49. 4 H.-E. Richter, Zur Psychologie des Friedens, Reinbek bei Hamburg 1982. 5 Zusammenfassend: S. Freud, "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1917), in: S. F., Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 218 ff., bes. S. 222. 6 Geschrieben 1987.
Krise der Erwartung - Stunde der Erfahrung Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes Würdiger Jubilar, lieber Hans! Hochverehrte gnädige Frau! Sehr zu verehrende offizielle Respektspersonen! Meine sehr verehrten Damen, werte Herren! In der »Epitre a l'auteur du livre des trois imposteurs« von Voltaire steht ein berühmter Satz\ den ich hier folgendermaßen abwandle: Wenn es Hans Robert Jauß nicht gäbe, müßte man ihn erfinden. Aber just das hat Hans Jauß - der (mit seinem ausgeprägten Sinn fürs Präventive) nichts dem Zufall und weniges von dem, was gut getan werden muß, anderen zu tun überläßt - natürlich längst schon vorsorglich selber getan, zumal es - wie wir durch Sartre wissen - auch und gerade im Falle der Existenz den Menschen obliegt, sich zu erfinden. So bleibt bei dieser Erfindung von Jauß durch Jauß - wohl ganz im Sinne des Erfinders - dem Referenten einzig die rezeptions geschichtliche Perspektive übrig. Soweit man dabei aufs Akademische blickt, ist der rezeptionsakademische Existenzbeweis dieser: Jauß wirkt, also ist er; und das primäre Beweismittel - wenn auch beileibe nicht das einzige - ist die Jauß-Schule, die es ansehnlich gibt. Der Beleg wiederum dafür ist - nur scheinbar paradoxerweise - die Tatsache, daß ich hier rede: einer, der von Hans Jauß mehr als nur viel gelernt hat, der aber nicht zu seiner Schule gehört; gerade das beweist, daß es diese seine Schule gibt: denn es ist üblich gerade in Schulen, daß bei Jubeldaten, die ihren obersten Schrittmacher befallen, ein Externer das Wort ergreift; und das ist gruppendynamisch weise: Es schont die internen Rivalitäten, die es in jeder guten Schule gibt, und es festigt ihre Reihen schon allein durch die Einvernehmlichkeit der Evidenz, daß jedes Mit-
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glied der Schule an diesem Tage die Jubelrede kundiger hätte halten können als der, der hier nun wirklich redet. Ich aber, dieser wirkliche Redner, darf mich dafür bedanken, daß man mir die Nähe zutraut und den Abstand konzediert, die nötig sind, um hier am heutigen Jubeltage - diesseits von Introspektion und Inspektion - in einer Rede die richtige Mitte zu versuchen zwischen - einerseits - Bezugnahme auf die Jubelperson und - andererseits - jener Sachbezogenheit, die - gerade im Sinne dieser Jubelperson über der Sache das Persönliche scheinbar gänzlich vergißt. Der Philosoph hat überdies die exzentrische Position des Externen auch in bezug auf die literaturwissenschaftliche Fächerzone und ihre Fragen; dies verschafft ihm, das heißt mir, jenes Naivitätsprivileg, das es ermöglicht, hier heute ein Thema aufzugreifen, das - mit dem Stichwort »Erwartung« an den literaturwissenschaftsprovokanten Begriff des »Erwartungshorizontes«2 erinnernd und mit dem Begriff »Erfahrung« an den hermeneutischen Begriff der »ästhetischen Erfahrung«} - im Felde der Experten natürlich längst weiterdiskutiert ist, bei dem ich aber die Chance habe, es durch eine bedingt vorsätzliche Diskussionsstandunterbietung produktiv zu verfremden, indem ich - vielfach schon Getanes noch einmal tuend - die Frage aufwerfe und erörtere, die mich plagt: Wie - im poetisch-hermeneutischen Reiche des Ästhetischen - kommt es und woran liegt es, daß der Begriff der »ästhetischen Erfahrung« gerade gegenwärtig fundamental und zur titeldringlichen Losung wird? Ich möchte - dabei die Lizenz des Philosophen zu sehr pauschalen Äußerungen reichlich in Anspruch nehmend einige Erwägungen formulieren, die zu einer Antwort beitragen könnten, und ich tue das hier in drei Anläufen. Das bedeutet - obwohl die Metapher des Anlaufs aus dem Bildfeld des Weitsprungs stammt und gerade so hier auch gemeint ist - nicht, daß ich hier große und weite Sprünge machen werde; sondern ganz im Gegenteil: Ich werde hier nur dreimal übertreten - übertreten zu Hans Robert Jauß.
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Meine drei Anläufe benenne ich folgendermaßen: Erster oder rezeptiver Anlauf; zweiter oder interdisziplinärer Anlauf; dritter oder subversiver Anlauf. Damit zum Start. 1. Rezeptiver Anlauf oder die Stunde der Rezeptive
Ich wiederhole zunächst meine Frage: Wie kommt es und woran liegt es, daß der Begriff der »ästhetischen Erfahrung« gerade gegenwärtig fundamental und zur titeldringlichen Losung wird? Meine Antwort auf diese Frage versuche ich durch folgende These: Der Wichtigkeitsgewinn der »ästhetischen Erfahrung« resultiert aus einer elementaren - gerade für die moderne und gegenwärtige Welt charakteristischen Krise der Erwartung, die wesentlich zusammenhängt mit dem modernen Erfahrungsverlust. Diese These muß ich natürlich erläutern, um sie verständlich zu machen, und auch, um zu deklarieren, wo und bei wem ich ihre Bestandteile zusammengestohlen habe. Vielleicht kann ich diese These dabei sogar ein wenig plausibel machen, wobei dann auch plausibel werden muß, wieso mit Erwartung und Erfahrung - was das Ästhetische betrifft - primär gerade Rezipientenbefindlichkeiten entscheidend bedeutsam werden. Für diese Erläuterung meiner These knüpfe ich zunächst an einen Satz an, der das literarische Leit-Genus der modernen Welt - den Roman - betrifft und im ersten Buch von Hans RobertJauß steht, in Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »A la recherche du temps perdu«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans aus dem Jahr 1955; dort heißt es: »Wenn es richtig ist« - was Ortega y Gasset behauptet hatte -, »daß dem realistischen Roman seit Zola der große Abstand zu einer mythischen Idealität fehlte, so darf andererseits vom Zeit-Roman Th. Manns, J. Joyces and M. Prousts gesagt werden, daß er sich wieder gegen einen Mythos richtet, der hoch genug ist, daß aus seiner Auflösung poetische Sub-
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stanz gewonnen werden kann: der Mythos der Geschichte.«4 Soweit dieser frühe Jauß-Text. Die Rezeptivisten (gerade die in Konstanz) versichern uns, daß ein Text keinen Sinn an sich hat: So hat - meine ich, um den Rezeptivisten gerade hier am Bodensee nicht unhöflich zu widersprechen - auch dieser Text keinen Sinn an sich, den ihm ein Jauß an sich gegeben hätte, sondern auch dieser Satztext von Hans Jauß aktualisiert sich in Rezeptionsversionen. Meine Rezeptionsversion dieses Satzes nun ist die folgende: Der moderne Zeit-Roman gehört - wie der moderne Roman überhaupt - in die neuzeitliche Geschichte der Gewaltenteilung, und zwar so: Romane sind Literatur und manchmal Kunst; Kunst jedoch wird nicht nur gegen Kunst gemacht und gelesen, sondern ist stets auch Antwort auf Fragen5, die nicht nur aus Kunst bestehen; in diesem Sinn ist der moderne Zeit-Roman - der das neuzeitspezifische Genus Roman fortschreibt und (nach dem Vorgang von Andre Gide) mit dem Zauberberg von Thomas Mann, dem Ulysses von James Joyce und der Recherche von Marcel Proust konsequent macht - die Replik auf den bedrohlichen Grundmythos der modernen Welt: auf den Mythos - den Monomythos - der einen einzigen Weltgeschichte. Dabei richtet sich dieser Zeit-Roman - etwa durch »Aufhebung der epischen Distanz« und des »memorialistischen Erzählgestus«' - nur sekundär gegen die »antiquarische Historie«, die als Geschichte nur gelten läßt, was schon vorbei und abgeschlossene Vergangenheit ist. Denn primär richtet er sich - indem er auf »Offenheit«7 besteht - gegen jene Geschichte, gegen die schon ihre Antiquarisierung die Notwehr war: gegen die eine Weltgeschichte, die primär nicht Erinnerung ist, sondern Erwartung, und zwar jene, durch die die Menschen finalisiert werden zu bloßen Instrumenten der Fortschrittsvollendung. Gegenüber diesem Finalisierungsanspruch dieser modernen Alleingeschichte sichert der moderne Roman - insbesondere der moderne ZeitRoman - den Menschen Freiheit, indem er sie - polymy-
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thisch - in viele Geschichten verstrickt und dadurch jeden Menschen vom Zwang befreit, zusammen mit allen anderen Menschen nur noch eine einzige Geschichte haben zu dürfen. 8 Wie aber stets bei den Menschen - deren endliche Freiheit ja keine Selbstbestimmung ex nihilo ist - gelingt auch diese Freiheit nur durch die Teilung jener Gewalt, deren Zugriff diese Freiheit bedroht: eben - divide et naTTa! durch Gewaltenteilung. Darauf darf gerade ein philosophischer Skeptiker hinweisen; denn Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Uberzeugungen sind. 9 Diese Teilung - die isosthenes diaphonia, die Balance - der Uberzeugungen sichert die ataraxia, die Gemütsruhe des einzelnen just so, wie die politische Gewaltenteilung die »Freiheit der Bürger« sichert als - wie Montesquieu sagte - jene »Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat«IO. Diese politische Gewaltenteilung aber wird modern begleitet durch jene ästhetisch-narrative Gewaltenteilung, die der moderne Roman vollzieht durch die Teilung jener Gewalt, die die Geschichte (im Singular) ist, in jene einander balancierenden Gewalten, die die Geschichten (im Plural) sind, welche die Romane erzählen. Ich betonte also zunächst nur dies: Seit der Roman modern wurde, indem er die eine Weltgeschichte in viele Geschichten teilte, gehört der moderne Roman - auch er und gerade er - in den neuzeitlichen Prozeß der Gewaltenteilung: als die Teilung der Geschichte in Geschichten. Diesen Vorgang der ästhetischen Gewaltenteilung hat der moderne Zeit-Roman - von dem Hans Jauß an der zitierten Stelle spricht - nur radikalisiert: indem er den Romancier und den Roman sozusagen endgültig von jenem Vorbild löste, das bisher der göttliche Schöpfer und seine Schöpfung für sie waren. Denn für die Gewaltenteilung der Geschichte in Geschichten genügt es nicht, daß - beim Schaffen - der Mensch sich Gott gegenüber selbständig macht als Autor, wenn er die göttliche Allwissenheit weiterhin nachahmt,
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und daß - beim Geschaffenen - der Mensch seine Kunstwerke von der Ähnlichkeitspflicht gegenüber Gottes Schöpfung entbindet, wenn sie deren vermeintliche Abgeschlossenheit weiterhin imitieren. 11 Darum mußten schließlich beim Roman (ebenso wie bei den anderen Gattungen und Künsten) beide Gewalten - Schöpfer und Werk - »arretiert«, das heißt verendlicht werden durch eine dritte Gewalt: und das war der Leser, der Rezipient, dem - im Roman unseres Jahrhunderts - weder Autor noch Werk mehr definitiv vorschreiben wollen, wie er zu lesen, zu rezipieren hat. Im gewaltenteiligen Reiche der Literatur - wo es die Gewalt des Autors gibt, die Kreative, und die Gewalt des Werkes, die Operative - kam also dadurch jetzt eine dritte Gewalt ins Spiel: das war die Stunde der Rezeptive. Der Rezipient wurde von der Kunst ermächtigt und dann von der Literaturwissenschaft entdeckt: nicht - wie es manchem lieb gewesen wäre - als Zensurbehörde, auf die man sich herausreden kann, wenn man im Namen des Fortschritts Lektüren vermeiden oder verbieten will, sondern gerade im Gegenteil: als der Wille zur Vielfalt der Lektüren. Diesen Rezipienten betonte die rezeptionsgeschichtliche Schule: Der Rezipient ist ihr gerade der, der es nicht hinnimmt, daß die Teilung der Geschichte in Geschichten beim Kunstwerk - etwa dem einzelnen Roman gestoppt wird, sondern der - mit seiner hermeneutisch gesteigerten Rezeptionskunst - diese Gewaltenteilung gerade weitertreibt, indem er auf der Möglichkeit verschiedener Lektüren auch noch des einzelnen Werkes besteht. Der rezeptionsgeschichtlich definierte Rezipient will Vieldeutigkeit: Das ist - wie ich anderweitig zu zeigen versucht habe12 - die späte Replik auf das Trauma der hermeneutischen Bürgerkriege um die heilsnotwendig eine richtige Deutung der einen absoluten Heilsgeschichte, die die Konfessionskriege waren, und die akute Replik auf das Trauma der hermeneutischen Bürgerkriege um die heilsnotwendig eine richtige Deutung der einen absoluten Weltgeschichte, zu denen die
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modernen Revolutionen geworden sind. Gegen ihre Tödlichkeit hilft nur die Teilung auch rioch jener Gewalten, die die Interpretationen sind" deren Subjekt das lesende Publikum ist: Originalitas, non veritas, facit interpretationem. Jede der vielen Geschichten, in die die eine Geschichte literarisch geteilt wird, mllß ihrerseits geteilt werden in viele verschiedene Lektüren, die zu anderen und immer wieder anderen Verständnisversionen führen können. Die Stunde der Rezeptive ist die Stunde der Teilung auch noch jener Gewalten, die die Lektüren sind. Zugleich mit dem Rezipienten wurde - ästhetisch - der Begriff der Erfahrung zentral: Warum? Offenbar besteht die Gefahr, daß, wo der Rezipient zur neuen Gewalt wird, das Einzelwerk zur bloßen occasio - zum leeren Auslöser beliebiger Interpretationen herunterkommt: Dafür würde ~ übrigens - im Extremfall ein einziges Kunstwerk genügen: und wozu dann die anderen?13 Dieser Schwierigkeit entgeht der rezeptionsgeschichtliche Ansatz durch Aufmerksamkeit auf jene - datierbaren und objektivierbaren - .. Erwartungshorizonte«, mit denen die Menschen leben, und von denen - indem die Werke sie verletzen - ihre Lektüren die Menschen partiell distanzieren. Hans Robert Jauß selber hat beschrieben, wie auch noch die Abweichung von der Erwartung zur Erwartung werden kann: Daß die modemes von den anciens abwichen, war selber die Vollstreckung einer Erwartung, ehe in der modernen Welt - seit der Querelle auch noch von dieser Abweichungserwartung abgewichen wird mit Folgen besonderer Art. 14 Erwartungshorizonte sind ästhetisch das, was praktisch Üblichkeiten und theoretisch Vorurteile sind. 15 Wie Urteile stets nur partielle Abweichungen von jenen Vorurteilen sind, ohne die wir nicht leben können, sind ästhetische Rezeptionen Abweichungen von Erwartungen, in denen wir unvermeidlich stecken: Das einzelae Werk - der Roman, das Drama, das Gedicht sowie ihr Ausbruch aus dem Genre - dementiert die Erwartung der Rezipienten. Das aber - das Dementi der Erwartung
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durch das Veto einer Realität - ist das, was üblicherweise Erfahrung heißt.16 So erhält der Begriff der Erfahrung im rezeptions geschichtlichen Ansatz zwanglos seine Stelle. Erfahrungen sind Erwartungskrisen; darum gilt normalerweise: Die Krise der Erwartung ist die Stunde der Erfahrung. 2. Interdisziplinärer Anlauf oder Erwartungskrise durch Erfahrungsverlust
Freilich: meine Frage ist dadurch noch nicht beantwortet. Ich wiederhole diese Frage noch einmal: Wie - im poetischhermeneutischen Reiche des Ästhetischen - kommt es und woran liegt es, daß der Begriff der »ästhetischen Erfahrung« gegenwärtig zentral und zur titeldringlichen Losung wird? Offenbar gerade nicht deswegen, weil Erfahrung selbstverständlich ist, sondern im Gegenteil: weil sie aufgehört hat, es zu sein. Die Konjunktur des Begriffs der »ästhetischen Erfahrung« hängt - meine ich - mit einer Krise der Erwartung zusammen, die gerade verschieden ist von jener »normalen« Erwartungskrise, die die Erfahrung ist. Gerade diese andere Krise der Erwartung gibt es heute: denn wir leben in einer Welt der Erwartungskrise nicht mehr durch Erfahrung, sondern durch Mangel an Erfahrung: durch Erfahrungsverlust. Just weil das so ist, muß - meine ich - die Erfahrung eigens und in betonter Weise ästhetisch gerettet werden und ebendarum zugleich in Titeln von Büchern zum Beispiel von Jauß: etwa in die Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung und in ihre große Apologie Asthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik; und symptomatisch ist auch, daß gerade jetzt - 1980 - John Deweys Art as Experience ins Deutsche übersetzt wird. 17 Wir leben - ich wiederhole es - in einer Welt der Erwartungskrise nicht mehr durch Erfahrung, sondern durch Mangel an Erfahrung: durch Erfahrungsverlust. Das haben
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vor allem Reinhart Koselleck und Hermann Lübbe geltend gemacht,18 die dabei fast ausschließlich auf Phänomene diesseits des Ästhetischen sich bezogen. Indem ich ihre Überlegungen hier aufnehme, folge ich - nota bene - ein weiteres Mal Hans Robert Jauß: nämlich jetzt auf seinem Weg ins Interdisziplinäre, für den die Existenz der Gruppe »Poetik und Hermeneutik« das Zeugnis ist. Ein Romanist - scheint mir - hatte besonders günstige Startbedingungen für diesen Weg; denn die Romanistik war seit je die am meisten interdisziplinäre Literaturwissenschaft: So ist die heutige Konjunktur des Interdisziplinären wenigstens zum Teil die Fortsetzung der Romanistik unter Verwendung breiterer Mittel (das Interdisziplinäre also etwa Romanistik für die, die kein Französisch können). Diese Konjunktur des Interdisziplinären kompensiert das Kooperationssiechtum und den Zusammenbruch der alten Interdisziplinaritätsagentur Fakultät so, daß sie - weil die interdisziplinären Arbeiten an universitätsferne Stätten auswandern - produktive Abwesenheiten vom unbehaglich gewordenen Reformhaus Universität begünstigt und gerade dadurch zusätzlich unwiderstehlich wird: als die Chance zu Kurzzeitemigrationen aus den Unbilden einer zu wenig gebremsten Hochschulreform. 19 Das befördert - malum - den Wissenschaftstourismus, gewinnt aber - bonum-durch-malum gerade dadurch überregional und international jene Perspektiven, die das nur Fachliche und im literaturwissenschaftlichen Fall dann auch das bloß Ästhetische überschreiten. Das tut auch jene These, als deren interdisziplinärer Hehler ich hier fungiere, indem ich wiederhole: Wir leben gegenwärtig in einer Welt der Erwartungskrise nicht mehr durch Erfahrung, sondern durch Mangel an Erfahrung: Durch jenen Erfahrungsverlust, der - das vor allem haben Koselleck und Lübbe durch Radikalisierung der Geschichtskrisentheorie aus Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen20 betont - aus der Beschleunigung des Wirk-
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lichkeitswandels in der modernen und gegenwärtigen Welt resultiert. Die Haltbarkeit der Lebenserfahrung läßt nach, weil in unserer Welt jene Situationen immer schneller veralten, in denen und für die sie erworben wurde. Zu diesem modernen Erfahrungsverlust durch Steigerung des Realitätsänderungstempos gehören eine Reihe von Phänomenen, von denen ich hier zwei nur scheinbar paradoxe eigens hervorhebe. Das erste Phänomen ist dieses: Seit wir - durch die innovationsbeschleunigungsbedingte »Auflösung« des» Topos« »historia magistra vitae«21 alias vita magistra vitae - durch Erfahrung und Erfahrungserinnerung immer weniger aus der Geschichte für die Geschichte und aus dem Leben fürs Leben lernen können, expandiert gleichzeitig - ersatzweise - das Lernen in großem Stile zum Pensum einer Sonderinstitution, die erst jetzt eigentlich entsteht: der Schule. Das moderne Zeitalter des Erfahrungsverlustes ist - als das pädagogische Zeitalter - die Ära der wachsend allgemeinen und lebenslangen Schulpflicht: schließlich vom Kindergarten über Schule nebst Hochschule und die Erwachsenenbildung bis zur Seniorenakademie. Dort aber lernt man unter den Bedingungen eines Wirklichkeitsmoratoriums: Als lebenslange Schüler lernen wir, indem wir Erfahrungen erwerben, die wir selber nicht wirklich machen; und zu Gewährsleuten dieser Erfahrungen und des Realitätsprinzips werden dann zugleich in wachsendem Maße die, die dieses Moratorium Schule niemals verlassen: das sind im weitesten Sinne die Lehrer, die darum schließlich unvermeidlicherweise die Realität durch die Schule definieren. Wie einst von Schelling über Wagner bis zum Surrealismus - die Wirklichkeit mit der Kunst identifiziert wurde durch das Gesamtkunstwerk, wird jetzt die Wirklichkeit mit der Schule identifiziert durch die Gesamtschule: Die ganze Wirklichkeit soll - diskursiv - zum Seminar werden kraft des avantgardistischen Willens jener Oberschicht, deren Wirklichkeit das Oberseminar ist. Dabei ist die positive
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Wichtigkeit der Schule unbestreitbar; aber gerade sie befördert zugleich indirekt den Erfahrungsverlust, gegen den sie erfunden und ausgebaut wurde. Das zweite Phänomen ist dieses: daß gerade modern im Zeitalter des wachsenden Erfahrungsverlustes - die Erfahrungswissenschaften aufblühen. Wo die lebensweltliche Erfahrungsfähigkeit abnimmt, soll sie durch Delegation an Erfahrungsspezialisten gerettet werden: Darum werden gerade jetzt die exakten und »harten« Erfahrungswissenschaften institutionalisiert: das moderne Zeitalter des Erfahrungsverlustes wird die Ära der experimentellen Empirie. Je fleißiger, erfolgreicher, apparateintensiver und spezialsprachlicher aber ihre Erfahrungsexperten arbeiten, desto weniger können wir - und »wir« sind im Hinblick auf ihr spezielles Erfahrungspensum immer fast alle - ihnen noch wirklich folgen und müssen so immer mehr Erfahrungen hinnehmen, die wir nicht selber machen: In dem Maße, in dem für die wissenschaftlichen Erfahrungsspezialisten die Welt ausschließlich - wie Kant sagte - zum »Gegenstand möglicher Erfahrung« wird, hört sie zugleich für uns alle überwiegend auf, Gegenstand möglicher eigener Erfahrung zu sein. So befördert auch und .gerade die moderne Konjunktur der Erfahrungswissenschaften - deren positive Wichtigkeit ebenfalls unbestreitbar ist - zugleich indirekt den Erfahrungsverlust, gegen den sie erfunden und ausgebaut wurden. Die elementare Folge des Erfahrungsverlustes ist unter anderem, daß Alter und Jugend sich immer weniger durch Erfahrenheitsunterschiede unterscheiden können; gerade das zwingt sie heute, ihre altersspezifische Identität anders; nämlich über demonstrativ theatralische Differenzspiele zu suchen. Das alles - und vieles andere mehr - gehört zum modernen Kultursyndrom des Erfahrungsverlustes, für das gilt: Durch die zunehmende Innovationsgeschwindigkeit der modernen Welt wächst zugleich die Veraltungsgeschwindigkeit der Lebenserfahrung; denn durch das steigende Tempo des Wirklichkeitswandels nimmt die
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Möglichkeit ab, Erfahrungen zu Erwartungen zu stabilisieren und damit für spätere Situationen applikabel und durch neue Erfahrungen enttäusch bar zu machen. Erfahrung aber ist das Remedium gegen Weltfremdheit, und zwar, wenn ich es richtig sehe, das einzige. Weil aber heute die Dementierkraft der Erfahrung zunehmend leerläuft, verliert das Realitätsprinzip in wachsendem Maß die Chance, sich geltend zu machen; das bedeutet unter anderem: Man wird nicht mehr wirklich erwachsen, und Infantilisierungen beherrschen dann zunehmend die Szene. So wächst in der modernen Welt - tachogen - die Weltfremdheit. Denn die Erfahrung kann die Erwartung· nicht mehr kontrollieren: Darum trennt sich - das besagt Kosellecks These von der zunehmenden »Kluft« zwischen »Erwartung« und »Erfahrung«, die Joachim Ritters Analyse der »Entzweiung« von »Zukunft und Herkunft« weiterführt und präzisier~ - es trennt sich die Erwartung von der Erfahrung und wird weltfremd: Die Menschen verwandeln sich zu erfahrungslosen Erwartern, und es kommt - im Zeitalter des Erfahrungsverlusts - zur großen Illusionierung der Erwartung. Ein Seitenphänomen dazu ist die Apriorisierung der normativen Erwartungen: die Flucht der Moral aus dem Erfahrungsverlust in den Erfahrungsverzicht, also in jenen Apriorismus der Ethik, der - trotz Hegels Einspruch - seit Kant für die moderne Ethik repräsentativ geworden ist und nicht leb barer wird dadurch, daß man heute im Zeichen der Diskursethik diese Erfahrungsaskese kollektiv absolviert. 23 Dabei triumphiert weithin jene Gesinnungsethik, die sich als Verantwortungsethik tarnt, indem sie zur Ethik einer bloßen Verantwortungsgesinnung wird, die etwa Entsorgungsprobleme bei den eigenen Denkfolgen regelmäßig übersieht. Im übrigen werden durch Universalisierungspflichten die Erwartungen aus generösen zu generellen; das aber begünstigt den Zentralvorgang: jene große Utopisierung und Illusionierung der Erwartung, zu der ihre Futurisierung und Singularisierung
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gehört. Dabei lösen sich - nicht mehr durch Erfahrungen gebremst - die Erwartungen vom Gegenwärtigen und Nächsten und richten sich zunehmend aufs Künftige und Fernste und Letzte; und zugleich - nicht mehr durch Erfahrungen differenziert - fusionieren die Erwartungen zu einer einzigen großen Übererwartung: der eschatologischen Erwartung einer alsbald kommenden, zur vorhandenen ganz anderen und endgültig heilen Welt. Das betreibt vor allem die moderne Geschichtsphilosophie, von der revolutionären bis zur nur noch hoffenden: Durch sie wird das moderne Zeitalter des Erfahrungsverlustes zum »Zeitalter der Singularisierungen«2\ wie Koselleck das genannt hat; und dabei singularisiert sie dann nicht nur die Fortschritte zu dem Fortschritt, die Freiheiten zu der Freiheit, die Revolutionen zu der Revolution, die Geschichten zu der Geschichte, sondern vor allem auch die Erwartungen zu der Erwartung: zu der einen einzigen absoluten Totalerwartung, die über jede besondere Befriedigung und damit zugleich über jede wirkliche Enttäuschbarkeit hinaus ist, denn sie ist sozusagen apriori enttäuscht vom Vorhandenen, so daß Hoffnung und Enttäuschung identisch werden in der Dauerempörung. Ihr Prinzip Erwartung wird zum Prinzip Erfahrungsresistenz, zum Prinzip Illusion, zum Prinzip Unbelehrbarkeit. Das wiederum - die Unbereitschaft zur Korrektur durch Erfahrungen - verstärkt den Erfahrungsverlust. Der Erfahrungsverlust illusioniert die Erwartung; die Illusionierung der Erwartung steigert den Erfahrungsverlust. Das, dieser Teufelskreis, ist jene - moderne und heutige - Krise der Erwartung, von der ich sagte: Sie entsteht nicht durch Erfahrung, sondern gerade durch Mangel an Erfahrung: durch den modernen Erfahrungsverlust. Sie verdammt die Menschen dazu, fast nur noch erwartend und fast gar nicht mehr erfahrend zu existieren. Ich meine nun: Diese moderne und gegenwärtig sich zuspitzende Erwartungskrise durch Erfahrungsschwund ist es,
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die die ästhetische Erfahrung unendlich wichtig macht: 25 Sie ist - weil die Menschen nicht ohne Erfahrung leben können - die Stunde der ästhetischen Erfahrung. 3. Subversiver Anlauf oder rezeptionsästhetischer Konservativismus
Darin steckt nun bereits die Antwort auf jene Frage, die ich hier - im Blick primär auf die Arbeiten von Hans Robert Jauß seit 1967, spätestens seit 197226 - aufgeworfen habe und die ich jetzt ein letztes Mal wiederhole: Wie kommt es und woran liegt es, daß der Begriff der »ästhetischen Erfahrung« gerade gegenwärtig fundamental und zur titeldringlichen Losung wird? Durch meine Antwort will ich diesen Vorgang nicht nur unterstreichen und verständlich machen, sondern auch unterstützen; genau das zu tun nenne ich hier zugleich subversiv, denn - wie man alsbald merken wird, wenn man es nicht ohnehin schon weiß - ich bin einer, der Positionen Schwierigkeiten einbringt nicht dadurch, daß er sie angreift, sondern dadurch, daß er ihnen beitritt. Was nun meine Antwort auf die hier leitende Frage betrifft, so ist dabei meine zentrale These die folgende: Der Erfahrungsverlust in der modernen und gegenwärtigen lebensweltlichen Realität - der die Erwartung illusioniert und dadurch in die Krise treibt - wird versuchsweise kompensierf 7 durch ästhetische Erfahrung; und weil das so ist - weil gerade gegenwärtig das reale Defizit an Lebenserfahrung nach Kompensation durch ästhetische Erfahrung sozusagen schreit - muß auch der Begriff der »ästhetischen Erfahrung« gegenwärtig zentral und zur titeldringlichen Losung werden. Die gegenwärtige Konjunktur der ästhetischen Erfahrung kompensiert also - meine ich - die moderne und heutige Krise der Lebenserfahrung. Anders gesagt: Je mehr die moderne Wirklichkeit von der Erfahrung zur Erwartung
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tendiert, um so mehr tendiert - kompensatorisch - die moderne Kunst und ihre Rezeption von der Erwartung zur Erfahrung,28 um die Erfahrung zu retten: ins Ästhetische. Denn es nützt wenig, wie Dewey das Ästhetische in der Erfahrung des Alltags zu entdecken, wenn wir in einer Zeit leben, die ganz und gar umkehrt auch noch die Erfahrung des Alltags ins Ästhetische retten muß, um sie zu behalten. Das ~~er geht nur - die gefährdete Lebenserfahrung k.~nn ins Asthetische nur dann gerettet werden -, wenn das Asthetische (die Kunst und ihre Rezeption) sich selber als Erfahrung will und begreift. Da~ gelingt nicht, obwohl, sondern es gelingt, gerade weil das Asthetische »Genuß« ist, nämlich jener Genuß, der Erfahrung ist: Erfahrungsgenuß29. Das meine ich - bekräftigt (noch diesseits aller Differenzierung in Poiesis, Aisthesis, Katharsis) die Jauß-Formel der ästhetischen Erfahrung als »Selbstgenuß im Fremdgenuß«,3o weil gerade diese Genußfigur die Erfahrungsfigur impliziert: daß jeder sich selbst merken kann nur dadurch, daß er sich jenem scheinbar Fremden öffnet, von dem er dann merkt, daß es zu ihm gehört. Jedermann erfährt sich einzig durch jene Abweichungen von sich selber, durch die er sich selber erst einholt. So mobilisiert dieser »Selbstgenuß im Fremdgenuß« die Dementierkraft und die Akzeptierkraft der Erfahrung: Diese Erfahrung dementiert, daß wir nur das sind, für das wir uns bisher gehalten haben; und diese Erfahrung akzeptiert, daß wir auch das sind, als was wir uns nunmehr bemerkt haben und fortan erwarten. Das bedeutet nicht nur Innovationsfähigkeit, sondern auch Renovationsfähigkeit, das heißt Traditionsfähigkeit: Und zwar gerade in einer Zeit, in der zur wachsenden Veraltungsgeschwindigkeit die wachsende Geschwindigkeit der Veraltung auch ihrer Veraltungen gehört. Darum kollabieren in der ästhetischen Erfahrung nicht nur die Sperren gegen das, was noch nicht ist, sondern vor allem auch die Sperren gegen das, was schon da ist: Durch die ästhetische Erfahrung beenden wir unser Wegsehen und unsere Weigerung, das zu sein, was wir
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schon sind. Und der Genuß besteht dabei in jener Erleichterung, die aus der Ersparung von Selbstbornierungsaufwand resultiert:l ! Wir genießen dadurch, daß - indem unsere Verdrängungen kollabieren - wir uns die Anstrengung ersparen, dumm zu bleiben. Unsere Dummheit vom Dienst aber - die regierende Einfalt der heutigen Welt: Das hatte ich geltend gemacht - ist die erfahrungs los und darum weltfremd gewordene Erwartung, die - weil keine vorhandene Erfüllung sie befriedigt sich gegen die vorhandene Welt kehrt, um Schluß mit ihr zu machen im Namen des Heils: durch eschatologische Weltvernichtung. Dem - meine ich - widersetzt sich die ästhetische Erfahrung, indem sie die Welt gerade festhält, konserviert. Einst tat sie das gegen den platonistischen und den christlich-eschatologischen Weltverzicht etwa - die mediävistisch-philologische Tierliebe unseres Jubelromanisten hat es erkundetl2 - dadurch, daß die Dichtung »unbotmäßig« selbst noch die Tierwelt mobilisierte, um in sie jene allzuweltlichen und allzumenschlichen Züge hineinzuretten, die dem Menschen offziell verboten waren, wo er sich durch Weltverzichte verjenseitigen sollte. Heute geht die ästhetische Erfahrung in »ästhetische Distanz«ll vor allem zum 11lusionspotential der Erwartungshorizonte dort, wo diese als Gesichtskreise mit dem Radius approximativ von Nulll4 - nicht mehr Horizonte, sondern Scheuklappen sind bis hin zu jener absoluten Superscheuklappe der Jetztweltabschaffungsutopie, bei der man - weil man wegen dieser. absoluten Scheuklappe nichts mehr sieht - endgültig nur noch dran glauben muß. Die ästhetische Erfahrung desillusioniert und repluralisiert daher die Erwartungshorizonte indem sie gegen Einfalt Vielfalt setzt - durch jene Gewaltenteilung, von der ich eingangs sprach: so schon dort, wo (auch das ist ein Jauß-Resultat) die Querelle des anciens et des modernes gerade nicht mit der Apotheose des Fortschritts endet, sondern - durch die Entdeckung des »beau relatif« - mit der Geburt des historischen Sinnsl5, so daß
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fortan - meine ich - der Historismus obligatorisch wird für jede weitere Avantgarde, weil er schließlich (mit p[aisir du contexte) am besten die Teilung auch noch jener Gewalten begünstigt, die die Rezeptionen sind. Wenn das so ist, müssen allerdings - scheint mir - die amtierenden Wonnevokabeln der gängigen Kunstdefinition - Utopie, Vorschein, Kritik, Revolte - abdanken zugunsten von ruhigeren und weniger leichtfertigen Bestimmungen: eben Erfahrung, Genuß, Vielfalt, Erinnerung, Katharsis, Identifizierung. An die Stelle der Erwartungskunst tritt dann die Erfahrungskunst. Denn die Kunstwerke sind dann keine Haftminen zur Sprengung der Herkunftswelt, sondern jene weltaufbewahrenden VollstelIen geballter Erfahrung, zu denen vielleicht dann auch - als echte Teilmenge dieser VollstelIen - die Leerstellen36 gehören. Die Kunst kompensiert unsere Weltfremdheit, den modernen Realitätsverlust: Sie macht uns wo die Realität dies zunehmend erschwert - kompensatorisch erfahren; darum ist im modernen Zeitalter der Infantilisierungen die ästhetische Erfahrung (widersetzlich gegen jede Apotheose der Verkindlichung, die ein Mißverständnis ist) ein noch verbliebener Weg zum Erwachsenwerden: Die Fähigkeit, alt zu sein, bevor man es ist. Insgesamt aber gilt: Wo - modern und gegenwärtig - die Erfahrungswelt zur bloßen Erwartungswelt wird, wird die Erfahrungswelt ästhetisch festgehalten: Dadurch, daß die Kunst - gegenläufig - aus Erwartungskunst zur Erfahrungskunst wird. Oder, um die frühere Formulierung zu wiederholen: Je mehr die moderne Wirklichkeit von der Erfahrung zur Erwartung tendiert, um so mehr tendiert - kompensatorisch - die moderne Kunst und ihre Rezeption von der Erwartung zur Erfahrung, um die Erfahrung zu retten: Ins Ästhetische. Daraus folgere ich etwas Waghalsiges, wenn auch natürlich nicht mit dem Nachdruck hoher rezeptionstheoretischer Reputation: Denn ich bin ja bei der Rezeptionsästhetik an der ästhetischen Rezeption nur der Nachtportier für jene Stunden, in denen alle schlafen und niemand mehr
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kommt. Dessenungeachtet folgere ich, und zwar etwas im heutigen kunstverarbeitenden Gewerbe Konterkonformistisches, etwas gegenüber seinen Subversionsenthusiasmen Subversives, nämlich: Es ist als Kompensation des realen Erfahrungsverlustes - justament im Zeichen der Konjunktur der ästhetischen Erfahrung - das fundamentale Pensum der Kunst weltfesthaltender Natux-l 7, also durchweg konservativ, wie denn überhaupt - gegen jedes Utopieprinzip - das ,.Prinzip Erfahrung«J8 auch im Ästhetischen eine konservative Losung ist. Ich weiß: Gerade das nicht nur zu sagen und gerade heute zu sagen, sondern es obendrein auch noch ausgerechnet aus dem Ansatz von Hans RobertJauß zu entwickeln, ist fürwahr ein starkes Stück. Aber was blieb - da, über Jauß zu reden, mir hier noch mehr verboten war als nicht über Jauß zu reden - denn anderes übrig als justament dies zu tun: Bedingungen zu formulieren, und das und nichts anderes habe ich getan, Bedingungen zu formulieren, unter denen ich selber bereit bin, Jaußianer zu sein. So trete ich bei diesem dritten Anlauf zum dritten Mal über - in die Häresie eines rezeptionsästhetischen Konservativismus. Ich schließe, aber ich schließe - wie merklich geworden sein mag - aus der rezeptionsästhetischen Apologie der ästhetischen Erfahrung etwas durchaus anderes, als jene Ästhetiken es tun, die - als Eschatologien des Schlußmachens mit der vorhandenen Welt - die Kunstwerke und ihre Rezeptionen nur als (durch Formzwänge und Genußsucht behinderte) Heilsmittel der eschatologischen Weltaufhebung dulden. Ich schließe - ganz im Gegenteil - nämlich nicht aus, daß Kunstwerke Verlockungen sind zum Vorhandenen, Evidenzen gegen die eschatologische Weltbeendigung, Remedien gegen den Weltverzicht. So komme ich - als Philosoph des Stattdessen - hier statt zum soteriologischen Ende der Welt nur zum halbwegs pünktlichen Ende meiner Ausführungen, die im übrigen keine lückenlose Argumentationskette präsentierten, nichts Systematisches also, sondern - bei diesem heutigen Konstanzer Jubelkonzil - nur einen
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eher unordentlichen Haufen von Ideen, die scheitern: einen Scheiterhaufen also, der sich schließlich doch wohl' richtig nur für eines eignet: nämlich zu Ehren unseres Jubilars - aus Anlaß seines Jubelfalls aus dem Arbeitsparadies seiner bisherigen Jahre in das Arbeitsparadies seiner künftigen Jahre - angezündet zu werden als Zeichen einer heißen und immer heißer werdenden Dankbarkeit. Und sollte es dabei erforderlich sein, auf diesem Scheiterhaufen ein Jubelopfer zu braten, dann wäre ja wohl klar, wer das sein müßte: Ich; denn immerhin habe ich hier - und das auch noch vorsätzlich - eine ganze Menge von Dingen gesagt, die in den avantgardistischen Ohren von Progressionsfreunden häretisch klingen müssen, und dies nun ausgerechnet in einer Stadt, die weltberühmt ist dafür, daß sie schon immer Häretikern freies Geleit feierlich zugesichert hat. Würdiger Jubilar, lieber Hans, verehrte Konstanzer Mitkonzilianten: Wenn es denn sein muß, das Gebratenwerden - ich stehe zur Verfügung. Anmerkungen 1 »Si Dieu n' existait pas, il faudrait l'inventer«: Voltaire, CEuvres completes, Bd. 13, S. 382. 2 H. R. Jauß, »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft« (1966), in: H. R. J., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1967, bes. S. 175 ff.; vgl. S. 200 mit dem Hinweis auf: H. R. J., Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, Tübingen 1959 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, 100). 3 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 175; H. R. J., Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972; H. R. J., »Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung«, in: H. Weinrich (Hrsg.), Positionen der Negativität, München 1975 (Poetik und Hermeneutik, 6), S. 263 bis 339; H. R. J., »Ästhetische Erfahrung als Zugang zu mittelalterlicher Literatur« (1975), in: H. R. J., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München 1977, S.411-427;
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H. R. J., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung, München 1981. Heidelberg 1955; vgl. S.51: »Abkehr von der Geschichte« und »Kritik der historischen Vernunft«. Vgl. H. R. Jauß, »Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik«, in: M. Fuhrmann / H. R. Jauß / W. Pannenberg (Hrsg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981, S. 459-481, bes. S. 467 ff.; H. R. J., .Der fragende Adam - Zur Funktion von Frage und Antwort in literarischer Tradition«, in: Ebd., S. 551-560. H. R. Jauß, Zeit und Erinnerung, Heidelberg 1955, S.51; vgl. S.14-53. Ebd., S. 53: »im Horizont der offenen Zeit«. Vgl. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S.91-116. Vgl. ebd., S. 19. Montesquieu, De l'Esprit des Lois, 11. 6.: »La liberte politique dans un citoyen est cette tranquillite d' esprit qui provient de I' opinion que chacun a de sa sfirete«; CEuvres completes (ed. E. de Laboulaye), Bd. 4, S. 7. Zum Problem vgl. H. R. Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion, München 1964 (Poetik und Hermeneutik, 1). Vgl. O. Marquard, »Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist«, in: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981) S. 1 bis 19, und in: O. M., Abschied vom Prinzipiellen, S.117-146. Vgl. O. Marquard, »Das Fiktive als ens realissimum«, in: D. Heinrich / W. Iser (Hrsg.), Funktion des Fiktiven, München 1982 (Poetik und Hermeneutik, 10), S. 489-495, bes. S. 491 H. H. R. Jauß, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität (1965), in: H. R. J., Literaturgeschichte als Provokation, S. 11-66. Vgl. O. Marquard, .Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, Paderborn 1979 (Materialien zur Normendiskussion, 3), S.332-342, bes. S. 336 f.: Mir scheint die Einführung der »Erwartungshorizonte« (Plural) mit der Rehabilitierung der • Vorurteile« (Plural) - vgl. H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, '1972, bes. S. 255,261 ff. - und der »Präjudizien« (Plural)
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Krise de'rErwartung - Stunde der Erfahrung - vgl. M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967, zusammenfassend S.312 - bzw. des »Status quo« als »Anknüpfungsgröße« - vgl. N. Luhmann, »Status quo als Argument«, in: H. Baier (Hrsg.), Studenten in Opposition. Zur Soziologie der deutschen Hochschule, Bielefeld 1968, S. 73-82 - vergleichbar und die .normbrechende« und dadurch »normbildende Funktion« der Kunst - vg~. H. R. Jauß. (Anm. 3), S. 42 - der ästhetisch gelungene Fall der Ubernahme jener Beweislast zu sein, die unvermeidlich der Veränderer hat. Vgl. H. G. Gadamer (Anm. 15), bes. S. 335 ff.; G. Buck, Lernen und Erfahrung. Zum Begriff der didaktischen Induktion, Stuttgart 1967, 21969. Vgl. Anm. 3 und J. Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980. Vgl. bes. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979; H. Lübbe, .Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philosophischen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt«, in: Gießener Universitätsblätter 12 (1979), S. 42-53. Vgl. H. R. Jauß / H. Nesselhauf (Hrsg.), Gebremste Reform. Ein Kapitel deutscher Hochschulgeschichte, Konstanz 1977; vgl. O. Marquard, »Einige Bemerkungen über das Gruppenverhalten in der Gruppenuniversität« (1981), in: H. A. Glaser (Hrsg.), Hochschulreform - und was nun? Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1982, S. 94-110, bes. S. 108 f. J. Burckhardt, »Weltgeschichtliche Betrachtungen« (1868), in: J. B., Gesammelte Werke, Bd.4: Die geschichtlichen Krisen, S. 116 ff., interpretiert als »beschleunigte Prozesse«. R. Koselleck (Anm. 18), S. 38 ff. R. Koselleck, .,Erfahrungsraum< und ,Erwartungshorizont< zwei historische Kategorien« (Anm. 18), S. 349 ff.; vgl. J. Ritter, Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S.27: »Die mit der Gesellschaft beginnende Zukunft verhält sich diskontinuierlich zur Herkunft.« Vgl. O. Marquard, .Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik (1981), in: K. Stierle / R. Warning (Hrsg.), Das Gespräch, München 1984 (Poetik und Hermeneutik, 11). R. Koselleck (Anm. 18), S.265. Aus dem gleichen Grund wie die Hermeneutik: vgl. O. Marquard, »Felix culpa? Bemerkungen zu einem Applikations-
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schicksal von Genesis 3«, in: M. Fuhrmann I H. R. Jauß W. Pannenberg (Hrsg.) (Anm. 5), S. 53-71, bes. S. 68 ff. Vgl. die in Anm. 3 genannten Arbeiten. Vgl. O. Marquard, .Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur historischer Prozesse, in: K. G. Faber I ehr. Meier (Hrsg.), Historische Prozesse, München 1978 (Theorie der Geschichte, 2), S. 330-362. Vgl. O. Marquard, .Kunst als Antifiktion. Bemerkungen über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive«, in: D. Henrich I W. Iser (Hrsg.), Funktion des Fiktiven, München 1982 (Poetik und Hermeneutik, 10), S. 35-54, bes. S. 53; vgl. O. M., .Kunst als Kompensation ihres Endes«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Asthetische Erfahrung, Paderborn 1981 (Kunst und Philosophie, 1), bes. S.167f. Definiert gegen die »asketische« Ästhetik der .Negativität«: »Das genießende Verhalten, das Kunst auslöst und ermöglicht, ist die ästhetische Urerfahrung«: H. R. Jauß (Anm. 3) 1972, S. 7, bzw. .die ästhetische Erfahrung par excellence«: H. R. Jauß, »Negativität und Identifikation«, S. 272; vgl. H. R.]., Asthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd.1, S.46 (vgl. Anm.3). Ebd., S. 59 H. Vgl. O. Marquard, »Exile der Heiterkeit«, in: W. Preisendanz I R. Warning (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik, 7), S. 150; vgl. O. M., .Vernunft als Grenzreaktion«, in: H. Poser (Hrsg.), Wandel des Vernunftbegriffs, Freiburg i. Br. I München 1981, S. 107-133. H. R. Jauß, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, Tübingen 1959; H. R.]., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977, bes. S. 26 H., S. 49 H. H. R.Jauß (Anm.2), S. 177; zur .Unbotmäßigkeit« der Kunst vgl. zusammenfassend H. R.]., Asthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Anm. 3) Bd. 1, S. 64 ff., sowie - sozusagen als Fallstudie - H. R. J. (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Asthetischen, München 1968 (Poetik und Hermeneutik,3). Variante zu D. Hilbert: .Ein Standpunkt ist ein Gesichtskreis mit dem Radius Null.« H. R.Jauß, .Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in
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der ,Querelle des Anciens et des Modernes<<<, in: H . Kuhn / F. Wiedmann (Hrsg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. Verhandlungen des 7. Deutschen Kongresses für Philosophie. Münster 1962, München 1964, S. 51-72; vgl. den Bericht über die Diskussion dieses Referats von T. (= Edeltraut Luise) Marquard, in: Ebd., S. 305-308. 36 W. Iser, »Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa« (1970), in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228-252, bes. S. 235 H. 37 Vgl. H. R. Jauß, Negativität und Identifikation (Anm. 3), S. 300: Kunst will angesichts »der verkümmerten Erfahrung ... die Erfahrung von Welt ... bewahren«. 38 Vgl. H. Schelsky, Die Hoffnung Blochs, Stuttgart 1979, S. 230.
Loriot laureat Laudatio auf Bemhard-Viktorvon Bülow bei der Verleihung des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor 1985
Sehr verehrter zu Lobender, lieber Herr - ich stocke: Jeder kennt Sie als Loriot, jeder weiß, daß Sie von Bülow heißen; mit welchem dieser beiden Namen soll ich Sie anreden? Ich helfe mir aus dieser Anredeverlegenheit durch eine naheliegende Legierung: Sehr verehrter und lieber Herr von Loriot! Die Stadt Kassel verleiht Ihnen heute ihren Literaturpreis für grotesken Humor 1985. Sie werden dadurch - ich verwende eine Formulierung meiner Frau - aus dem einfachen Loriot zum Loriot laureat: also zum lorbeerbekränzten Spottvogel Bülow. Man hat mich gebeten, bei diesem Vorgang die Laudatio auf Sie zu halten: leichtsinnigerweise also einen weidremden, trockenen, schwerfälligen (weil gebürtig hinterpommerschen) Philosophen, bei dem im übrigen vorauszusehen war, daß er diese Laudationsaufgabe - einmal gefragt - skrupellos übernehmen würde, obwohl er Sie und Ihr Werk mag; denn er lobt es - ob er das nun gut tut oder schlecht - jedenfalls gern. Dabei gilt: Wer - als männliche Person jüngeren Alters, sagen wir: unter 60, mithin als Bub - eine Laudatio, eine Lobrede hält und also Lob spendet, lateinisch laus, ist demnach offenkundig und zwingend verpflichtet, als Laus-Bub zu agieren. Dieser lausbübischen Rolle versuche ich hier zu entsprechen zunächst durch drei Verzichte. Erstens: ich verzichte - und das ist ein indirektes Lob auf die in Lobreden sonst übliche Angabe biographischer Daten des zu Lobenden. Daß Loriot, Jahrgang 1923, Geburtsbrandenburger, nach den obligatorischen Wechselfällen des Lebens jetzt mit Weib und Möpsen in der Nähe von München lebt: das weiß sowieso jeder, und also brauche ich es hier nicht eigens zu sagen. Und wer es noch nicht
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weiß, der lese Loriots Möpse und Menschen: da steht es drin. Zweitens: ich verzichte - und auch das ist ein indirektes Lob - auf die in Lobreden sonst übliche Aufzählung der wichtigsten Werke des zu Lobenden. Denn wiederum: bei Loriot kennt fast jedermann fast alle Werke: die ungesammelten und die »gesammelten Werke«, dabei die prosaischen, die illustrierten, die dramatischen, die circensischen, die gefilmten und medialen, vor allem die ausschließlich gemalten und gezeichneten: die Cartoons mit Menschen und Tieren und Hunden und Nashörnern und Möpsen und Wum und dem Drumherum. Man kennt sie wie Volkslieder. Das Volkslied ist das Volkslied des Volkes; das Bonmot ist das Volkslied des Intellektuellen; der Cartoon ist die ins Bild gesetzte Identität von Volkslied und Bonmot. Ich denke, fast jeder von uns führt Schöpfungen von Loriot als eiserne Schmunzelration in seiner Erinnerung mit sich: also brauche ich auch an sie hier nicht eigens zu erinnern. Drittens: ich verzichte - und auch das schließlich ist ein indirektes Lob - hier auf den Versuch, mit Loriot in einen Festredenwitzigkeitswettbewerb zu treten. Auch das wissen viele: daß Loriot die Kunst der witzigen Festrede fast unüberbietbar meisterhaft beherrscht. Ich bin - und sage dies mit dem zweitaufrichtigsten aller möglichen Komplimente: dem Ausdruck meines blanken Neides - nicht so verwegen, mich hier dem Vergleich auszusetzen: wegen der Gewißheit der sicheren Niederlage. Dieser Konkurrenzverzicht hat eine zwingende Konsequenz: Ich stehe im Folgenden unter dem harten Zwang, ganz und gar ernst reden zu müssen; und ich tue das, indem ich hier für einen kurzen Augenblick das Lob des Besonderen und ganz Besonderen - das Lob Loriots - zum Lob eines Allgemeinen ausweite: zum Lob des - hierzulande häufig noch verachteten und stets zu Unrecht verachteten grotesken Humors durch jenes bescheidene Mittel, das gerade mir zu Gebote steht: nämlich - bevor ich wieder auf
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Loriot als Besonderen und ganz Besonderen zurückkomme - durch eine kurze Philosophie des grotesken Humors. Dabei geraten Humor und Philosophie in eine besondere Relation zueinander. Humor ist - nach einem bekannten Wort - wenn man trotzdem lacht. Philosophie ist - nach einem betrüblicherweise immer noch nicht zureichend bekannten Wort, das nun allerdings gerade von mir stammt - Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Lachen und Denken haben - diesem nach - irgendwie miteinander zu tun: aber wie? Nicht, meine ich - und widerspreche damit einer verbreiteten Traditionsmeinung - nicht so, daß das Lachen als ein dem Denken gegenüber Anderes und Minderes das Denken stört; sondern ganz im Gegenteil: das Lachen ist ein Denken; und Denken - merkende Vernunft und also auch Philosophie - ist die Fortsetzung des Lachens unter Verwendung des Lachmuskels Gehirn als Mittel. Das gilt nicht vom rohen Auslachen: denn dadurch - durch Wegspotten - vertreibt man Wirklichkeiten aus unserem Leben. Wohl aber gilt es vom humoristischen Lachen: denn dadurch bittet man -liebevoll spöttisch - zusätzliche Wirklichkeit, die offiziell geleugnet wird, wenigstens inoffiziell in unser Leben hinein; denn man lacht sie nicht aus, sondern man lacht ihr zu, lacht sie an und lacht sie sich an. Der Humor macht - denkend weil lachend - dasjenige geltend, das wir - obwohl wir es offiziell nicht sein dürfen oder nicht sein wollen - gleichwohl auch noch sind: Er läßt im offiziell Nichtigen das Geltende und dadurch im offiziell Geltenden das Nichtige sichtbar werden; er zeigt das Menschliche als Allzumenschliches und das Allzumenschliche als Menschliches. Wer also humoristisch lacht, der sieht - just wie der, der denkt - mehr Wirklichkeit. Lachen - das humoristische, also auch das karikaturistische - und Denken: beide sind Steigerungen des Merkens und insofern dasselbe. Nur darum - zum Beispiel- konnte Reinhart KoselIeck, ein führender Historiker meiner Generation, über das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Karikatur sagen:
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Beide tun dasselbe: genau hinsehen, weglassen, übertreiben. Und auch Humor und Philosophie tun dasselbe: Beide riskieren die Narrenfreiheit, das zu merken und zu sagen, was man sonst nicht merken und sagen darf oder mag. Darum auch sind Lachen und Denken wirkungsähnlich; denn beide leben davon, daß Merkverbote plötzlich zusammenbrechen. Beide befreien von der Anstrengung, diese Merkverbote aufrechtzuerhalten. Kurzum: Lachen und Denken - beidesind der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Dabei ist der groteske Humor die Kunst, das Eigene auch noch im Fremdesten zu bemerken. Das ist wichtig gerade in unserer modernen Welt, in der - durch ihre wachsende Veraltungsgeschwindigkeit - immer mehr immer schneller fremd wird: also zu dem, was wir offiziell nicht mehr sind oder sein mögen, obwohl wir es inoffiziell bleiben. Darum brauchen wir immer mehr Denken und Lachen und vor allem grotesken Humor, um in diesem Fremden uns selber wiederzuentdecken. Je moderner die moderne Welt wird, desto nötiger wird der groteske Humorist, und um so lobenswerter wird der, der dessen Aufgabe überzeugend erfüllt. Damit bin ich wieder beim Besonderen und ganz Besonderen: bei Loriot. Wie macht er das eigentlich? Einer seiner Kunstgriffe - scheint mir - ist, daß er zeigt: Je moderner - je individueller und souveräner - die Menschen zu sein scheinen, desto unerschütterlicher bleiben sie zugleich das, was sie schon immer waren: nämlich allzumenschlich. Ich belege das kurz durch Beispiele, aus Zeitnot nur durch zwei, die ich (der Literat und der darstellende Künstler Loriot mögen es mir verzeihen) vor allem aus dem zeichnerischen Werk nehme. Beispiel eins: auch wir modernen Menschen bleiben stets mehr Tier, als uns lieb ist; doch glücklicherweise: gerade das Tier ist menschlich. Präzis das sieht man auf Loriots Cartoons, die häufig so verfahren, wie schon die antike Tierfabel und die mittelalterliche und neuzeitliche Tierdichtung
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verfuhren: die Tiere leben - als Vizemenschen - stellvertretend für die Menschen jene allzumenschlichen und menschlichen Züge, die die Menschen selber - durch religiöse und politische Verbote oder durch metaphysischen Stolz - nicht leben dürfen oder mögen. Darum treten sie (wie einst die mythischen Fabeltiere, etwa der Kentaur) auch noch bei Loriot - fast in der Form eines demokratisierten Totemismus - als Mischungen von Mensch und Tier auf, z. B. als sprechender Hund: Wum - sozusgen - ist der Kentaur des kleinen Mannes, ein mythisches Fabeltier wie du und ich, bei dem wir - wie bei allen Tieren Loriots - lachend sagen dürfen: Das sind ja wir und zuweilen bessere Wirs als wir selber. Das gilt - so denke ich, daß so Loriot denkt - vor allem auch bei den Möpsen; denn der Mops heißt ja Mops, weil die Menschen ihre Menschlichkeit zuweilen vom Mops mopsen müssen. Beispiel zwei: gerade wir modernen Menschen - hoch individuell und eigennäsig - sind und bleiben stets mehr (und anders) als uns lieb ist einer wie der andere, also gleich: denn wir alle haben Knollennasen. Aber wir können das zugleich - lachend - akzeptieren, denn erst die Knollennasen machen uns menschlich. Die Spezies des heutigen Menschen heißt, biologisch korrekt, homo sapiens sapiens. Dieses sapiens, offiziell »weise«, kommt vom lateinischen sapere: schnüffelndes Schmecken, also Gaumen und - großzügig übersetzt - Nase haben. Der Mensch - homo sapiens - ist also das Wesen mit Nase, das, nicht selten naseweis und hochnäsig, ebendarum häufig auf die Nase fällt: Just dadurch werden natürlich die menschlichen Nasen alle - auf die Dauer platt und dick, also zur Knollennase. Auch das ist auf Loriots Cartoons und auf einer Reihe seiner Gemälde deutlich zu sehen. Und es ist so sehr menschlich, daß selbst noch im Wahlspruch der Aufklärung »sapere aude!« implizit auch dieses steckt: Mehr Knollennase wagen!, d. h., mehr auf die menschliche Endlichkeit achten.
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Denn die Knollennase ist das Resultat menschlicher Hinfälligkeit und ist - gerade in der modernen Welt der scheinbaren menschlichen Souveränitäten - ein Attribut menschlicher Endlichkeit. So ist Loriots »heile Welt« eine Welt mit doppeltem Boden und mit Falltür; doch wenn sie sich öffnet, stürzt man nicht ins Bodenlose, sondern gerade ins Menschliche. Darüber zu lachen: das ist grotesker Humor a la Loriot. Mit diesem grotesken Humor - heißt es - wie mit dem Leichten überhaupt haben wir Deutschen es schwer: Aber warum findet dann Loriot hierzulande so viel Zustimmung? Im übrigen ist natürlich das Leichte niemals nur das Leichte: der Scherz - gerade der groteske - ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: Wer den Scherz nicht riskiert, nimmt das Ernste nicht ernst genug. Das Lachen - gerade das des grotesken Humors - ist die kleine Subversion, die uns die große Subversion erspart: den absoluten alternativen Gestus, bei dem man nichts mehr zu lachen hat. Darum ist der groteske Humor wichtig und der, der - als meisterhafter Lachenmacher - Mut zu ihm macht, lobenswert: eben Loriot. Es ehrt ihn die Stadt Kassel, die sich dadurch selber ehrt, indem sie Vicco von Bülow ihren Literaturpreis für grotesken Humor verleiht. Auch ich möchte ihm dazu herzlich gratulieren, ihm: dem Loriot laureat.
Medizinerfolg und Medizinkritik Die modemen Menschen als Prinzessinnen auf der Erbse
Sie alle kennen das Märchen von. Christian Andersen, das überschrieben ist: Die Prinzessin auf der Erbse. Es ist ein besonders kurzes Märchen, das gut geeignet ist, zum Leitmotiv eines besonders kurzen Vortrags zu werden. Es findet dort - in diesem Märchen - eine Prüfung statt; und zu jenen fernen und wundersamen Zeiten, als das Prüfen noch geholfen hat, sollte in diesem besonderen Fall geprüft werden, ob Heiratskandidatinnen wirkliche Prinzessinnen seien. Man prüfte das nicht durch multiple choice, sondern durch eine Erbse. Diejenige weibliche Person, die durch eine erhebliche Menge von Matratzen und Daunenauflagen hindurch eine Erbse noch ungut fühlte und darunter wirklich litt: die - als Sensibilissima - war wirklich eine Prinzessm. Heute leben wir nicht mehr im feudalistischen, sondern im modernen Zeitalter, und darum prüfen wir nicht mehr nur Prinzessinnen, sondern alle Menschen, und zwar nicht mehr, ob sie wirkliche Prinzessinen, sondern, ob sie wirklich moderne Menschen seien. Trotzdem braucht - auch modern und gerade heute - das Testverfahren nicht grundsätzlich anders zu sein als das Testverfahren mit der Erbse. Denn es scheint - wie bei der Prinzessin auf der Erbse, die, weil sie unter nichts anderem mehr zu leiden hatte, nun unter einer Erbse litt - justament dies zu gelten: nur diejenigen Menschen, die in der Lage sind, bei zunehmender Verminderung von Leidensquellen immer mehr zu leiden, die und nur die sind - als Sensibilissimi - wirklich moderne Menschen. Auf diese bemerkenswerte und fragwürdige Lage, die auch die heutige Einschätzung der Medizin berührt, möchte ich hier aufmerksam machen und sie kurz diskutieren, und
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zwar in folgenden drei Abschnitten: 1. Das Unbehagen am Fortschritt. 2. Das Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom. 3. Plädoyer für die menschliche Endlichkeitsfähigkeit. Sie selber, meine Damen und Herren, werden dabei spüren können, ob und wie sehr ich in meinen kurzen Darlegungen der immerhin naheliegenden Versuchu~g erliege, Sie - diese hochansehnliche Versammlung von Arzten, die andere Menschen durch Narkose in Schlaf zu versenken vermögen - nun meinerseits durch Philosophie in Schlaf zu versenken. Ich bitte Sie also (auch wenn das Verfahren etwas veraltet ist), jetzt zu zählen, denn ich beginne nun mit Abschnitt: 1. Das Unbehagen am Fortschritt
Zu den bemerkenswerten Vorgängen unserer Gegenwart gehört es, daß weithin die Fortschrittszuversicht in Fortschrittsangst umkippt. Was im 18. Jahrhundert Rousseau, Anfang des 19.Jahrhunderts die frühgrünen Romantiker, Ende des 19. Jahrhunderts Nietzsche und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Spengler, Klages und Heidegger annahmen, als sie den Fortschritt zunehmend als Zerstörung der Moral, Kultur und Natur unter Verdacht stellten, gilt heute weithin als ausgemachte Sache. So kommt es gegenwärtig zum großen Umschlag der Modernisierungsbejahung in jenen fortschrittskritischen Antimodernismus, zu dem - als Teilvorgang - gehört: daß die Zuversicht in die Fortschritte der Medizin abgelöst wird durch die Angst vor den Fortschritten der Medizin, die dankbare Anerkennung des Medizinerfolgs durch die mißtrauisch radikale Medizinkritik. All das, was am modernen Fortschritt vorher zustimmungsfähig und positiv schien, wird jetzt zum Auslöser von Ablehnungen. Es gilt dies für den modernen Fortschritt der exakten Wissenschaften: ihre Vermehrung des Wissens
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wird als Vermehrung nicht mehr des Verbesserungswissens, sondern des Zerstörungswissens wahrgenommen. Es gilt dies zugleich für den modernen Fortschritt der Technologie: Das beschleunigte Wachstum ihrer Fertigkeiten erscheint als Wachstum nicht mehr ihrer Verbesserungskraft, sondern ihrer Zerstörungskraft. Es gilt dies ebenfalls für den modernen Fortschritt der Wirtschaft: Ihre Leistungssteigerung besonders innerhalb der bürgerlichen Welt, denn außerhalb der bürgerlichen Welt hält sich diese Leistungssteigerung in Grenzen - wird nicht mehr als Hebung des Lebensstandards, sondern als Zunahme der Lebensbelastung empfunden. Es gilt dies ebenso für die Politik: Die moderne Entwicklung des Rechtsstaates erscheint als Steigerung nicht mehr der Liberalität, sondern der Repression. Und all das gilt schließlich - last not least - auch für den modernen Fortschritt der Medizin: Ihre dramatisch zunehmende Fähigkeit, Krankheiten zu besiegen, wird - und eine der gerade für ihren Tätigkeitsbereich heute gern verwendeten Denunzierungsvokabeln heißt »Apparatemedizin« -, sie wird als wachsende Entmenschlichung der Medizin und Verdinglichung ihrer Patienten verdammt. Was vormals als Chance für Heilungen begrüßt und gefeiert wurde, gilt jetzt als Instrumentarium der Inhumanität. So wird der Medizinerfolg durch eine allgemeine Welle der Medizinkritik überrollt. Diese große Umwertung des Fortschritts zum Agenten der Zerstörung, die gegenwärtig - auch im Blick auf die Medizin - stattfindet: sie lebt - meine ich - vom Vergessen. Sie vergißt die frühere Gefangenschaft der Menschen in Mühsal, Not, Krankheit, Schmerz und Leiden, die durch den modernen Fortschritt gemildert und gemindert wurde. So tilgt sie - durch Erinnerungsverweigerung, durch Verdrängung des Positiven - beim Blick auf die modernen Fortschritte die Wahrnehmung der Tatsache, daß diese Fortschritte Errungenschaften sind: wissenschaftliche, technologische, ökonomische, politische, medizinische Herbei-
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führungen von Lebensvorteilen für die Menschen, auf die zu verzichten nicht nur unangenehm, sondern selber gegenmenschlich wäre; denn es ist nicht verantwortbar, in einen Zustand zurückzukehren, in dem - beispielsweise - der Schmerz noch nicht beherrschbar oder wenigstens linderbar war und - beispielsweise - die Krankenpflege noch nicht intensiv zu sein vermochte, weil sie ohne Apparate arbeiten mußte. Es will ja auch im Ernst niemand - selbst der grimmigste Antimodernist und Fortschrittskritiker nicht - in diesen Zustand zurück. Darum überzeugt auch jener Ruf »Aufhören!« nicht, der uns - in Sachen Fortschritt - allenthalben entgegenschallt und durch den Vorwurf ergänzt wird, daß der Fortschritt nicht schon lange vorher aufgehört hat; denn - ich beschränke mich auf einige wenige medizingeschichtliche Hinweise und stelle dabei jene Gegenfrage, die ich dem Sinn nach zuerst von Jaenisch gehört habe - wann sollte die Medizin mit ihrem Fortschritt denn aufhören? Sollte sie z. B. in Dingen Impfung - aufhören vor Jenner? Sollte siez. B. in Dingen Anästhesie - aufhören vor Long und Morton? Sollte sie - z. B. in Sachen Bakteriologie - aufhören vor Pasteur und Koch? Sollte sie - z. B. in der Medikamentenentwicklung - aufhören vor Ehrlich, vor Behring, vor Domagk oder vielleicht doch lieber erst vor Fleming? Sollte siez. B. in Dingen Apparatemedizin - aufhören vor Röntgen oder vor der Eisernen Lunge oder doch lieber erst vor der Einrichtung der Intensivstationen seit Ende der SOer oder der Computertomographie seit Anfang der 70er Jahre - oder wann? Sie verstehen, was diese Fragen - die sich in die Zukunft fortsetzen lassen - unterstreichen sollen, nämlich dieses: Wer auch immer den Fortschritt verdammt oder stoppt, er wird - nicht nur in der Medizin, aber gerade auch in der Medizin - den Fortschritt (im ehrenwerten Falle wegen der Besorgnis von schwerlich verantwortbaren Schadensfolgen) stets vor der Erreichung eines menschlichen Lebensvorteils stoppen, den den Menschen vorzuenthalten seinerseits schwerlich verantwortbar ist.
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Trotzdem sind die herrschenden Trends der heutigen öffentlichen Meinung - ablesbar an dem, was ausdrücklich gesagt wird, und ablesbar an dem, was stillschweigend als selbstverständlich unterstellt wird - zunehmend geradezu besessen von der Vorstellung: Fortschritt ist - nicht nur in der Medizin, aber gerade auch in der Medizin - vor allem oder gar ausschließlich ein Übel, das man unerbittlich bekämpfen muß. Dadurch - meine ich - wird folgende Frage unabweisbar: Warum wird der Fortschritt um so suspekter, je mehr Lebensvorteile er herbeiführt? Warum verfällt die Medizin um so mehr der Kritik, je mehr Erfolge sie aufzuweisen hat? Wie kommen die Menschen dazu, die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse justament dort, wo sie stark zunimmt, immer ausschließlicher als Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse zu erfahren? Was bewegt die modernen Menschen dazu, gerade bei zunehmender Verminderung ihrer Leidensquellen immer mehr zu leiden und zu klagen? Oder anders und kurz gefragt: Warum wird - auch und gerade im Blick auf die Medizin - der Fortschritt, je mehr Erfolg er zeitigt, immer unbehaglicher? Darüber zunächst im Abschnitt:
2. Das Prinzessin-auJ-der-Erbse-Syndrom
Ohne Vollständigkeitsanspruch soll auf einige Ursachen hingewiesen werden, die einschlägig zusammenwirken mögen, und zwar zunächst auf die vier folgenden: a) Der moderne Januscharakter des Fortschritts: Der Fortschritt beseitigt nicht nur Übel, er erzeugt auch Übel. Diese Tatsache soll nicht geleugnet werden, aber weil sie ge.genwärtig überall geltend gemacht wird, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Eines freilich erklärt dieser Hinweis auf den modernen Januscharakter des Fortschritts nicht: daß nämlich derzeit am Fortschritt - auch und gerade
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am Fortschritt der Medizin - immer ausschließlicher nur noch interessiert, daß er Übel erzeugt, und fast überhaupt nicht mehr, daß er Übel besiegt und beseitigt. b) Die Begünstigung des Mißtrauens durch Rationalisierungsexpansion: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Der moderne Fortschritt steigert die rationale Kontrolle unserer Wirklichkeit, aber er macht sie - denn niemand mehr vermag diese gesteigerte rationale Kontrolle insgesamt auszuüben - zugleich arbeitsteilig: Weil niemand mehr alles kontrollieren kann, muß sich jeder - gerade in Dingen rationaler Kontrolle - immer mehr auf andere verlassen (ihnen vertrauen), nicht nur z. B. der Patient auf den Chirurgen, sondern auch dieser auf den Anästhesisten, beide auf den Apparatetechniker, dieser auf den Mathematiker und so fort. Wollte jeder alles selber kontrollieren, würde nichts mehr wirklich kontrolliert, und alles käme zum Erliegen. Anders gesagt, gerade der Rationalisierungsfortschritt senkt nicht, sondern er steigert die Notwendigkeit des Vertrauens. Tatsächlich gilt also: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist zunehmend unvermeidlich. Der Rationalisierungsfortschritt aber ist inzwischen so schnell geworden, daß wir bei der Einübung dieses durch ihn zunehmend unvermeidlichen Vertrauens - das ja wohl anders sein muß als nur blind mit dem Tempo dieses Fortschritts nicht mehr mitkommen. Darum ersetzen wir dieses Vertrauen durch Mißtrauen, durch Mißtrauen in den Fortschritt, in den Fortschritt auch der Medizin. c) Der sinkende Grenznutzen zusätzlicher Fortschritte (auf den vor allem Lübbe hinzuweisen pflegt): Anfangsfortschritte haben bei geringerem Aufwand große Nutzeneffekte; zusätzliche Fortschritte haben bei größerem Aufwand relativ geringere Nutzeneffekte. Zum Beispiel durch die Senkung der Kindersterblichkeit - mit relativ geringerem Aufwand und evidentem Erfolg - müssen jetzt mit großem Aufwand und weniger evidentem Erfolg Krankheiten be-
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kämpft werden, für die man früher weithin nicht alt genug wurde, um sie zu bekommen. Gerade bei erfolgreichem Fortschritt wird also die Aufwand-Effekt-Bilanz zusätzlicher Fortschritte ungünstiger und tendiert zu einem Zustand, in dem man schließlich geneigt ist, auf Effekte zu verzichten, weil der Aufwand - zu dem auch die Bewältigung der Folgelasten gehört - zu groß wird: der Grenznutzen des Fortschritts sinkt schließlich in vielen Fällen auf Null. Diese Überlegung - die mir einleuchtet - erklärt, daß es auf nüchterne Weise rational sein kann, wenn gerade bei erfolgreichem Fortschritt die Lust zu weiteren Fortschritten sich abkühlt und zukünftige Fortschritte nicht mehr um jeden Preis erstrebenswert erscheinen. Eines freilich erklärt diese Überlegung nicht: warum die Abwehr des Fortschritts sich aufheizt und gerade auch der erfolgreiche und erfolgversprechende Fortschritt - der mit erheblich bleibendem Grenznutzen, auch der in der Medizin - immer ausschließlicher Feindschaft auf sich zieht. - Das erklärt - zumindest teilweise - vielleicht erst der vierte Hinweis. d) Das Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom: Wo Fortschritte - auch und gerade medizinische Fortschritte - wirklich erfolgreich sind und Übel wirklich abschaffen, da wekken sie selten Begeisterung. Sie werden vielmehr selbstverständlich, und die Aufmerksamkeit konzentriert sich dann ganz und gar auf jene Übel, die übrigbleiben. Da wirkt das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste. Je mehr Negatives aus der Wirklichkeit verschwindet, desto ärgerlicher wird - gerade weil es sich vermindert - das Negative, das übrig bleibt. Knapper werdende Güter werden immer kostbarer, knapper werdende Übel werden negativ kostbarer: Sie werden immer plagender, und Restübel werden schier unerträglich (darum ängstigen heute mehr als einst die Risiken die Restrisiken). Wer - fortschrittsbedingt - unter immer weniger zu leiden hat, leidet unter diesem Wenigen immer mehr. Das - denke ich - ist der Fall der Prinzessin auf
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der Erbse, die, weil sie unter nichts anderem mehr zu leiden hatte, nun unter einer Erbse litt. Darum vermag sie zur Parabel des fortgeschrittenen, des modernen Menschen zu werden, sie und jenes Syndrom, das sie repräsentiert: das Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom. Man kann das - den Fall dieser Sensibilissima - weiterdenken: Was tut diese Prinzessin namens moderner Mensch, wenn - bei weiterem Fortschritt - auch noch die Erbse als Leidensquelle ausfällt? Dann - denke ich - beginnt sie unter den Matratzen und Daunen zu leiden und darunter, daß die Erbse fehlt, denn vielleicht bleibt ja der Leidensbedarf der Menschen in etwa konstant oder läßt jedenfalls langsamer nach als die Möglichkeit, ihn in der Wirklichkeit zu decken; und so leiden die Menschen - wo ihnen andere Leidensmöglichkeiten genommen werden - zum Ersatz schließlich unter dem, was ihnen die Leidensmöglichkeiten nimmt und das Leiden erspart: also etwa unter dem Fortschritt, und zwar gerade dann, wenn er erfolgreich ist. Darum wird er - auch und gerade der Fortschritt der Medizin -, statt daß er dankbar gelobt wird, zunächst selbstverständlich und dann zum Feind. Denn je besser es den Menschen geht, desto schlechter finden sie das, wodurch es ihnen besser geht. Sobald es ihnen wirklich gut geht, beginnen sie, das zu verdammen und aufs Spiel zu setzen, wodurch es ihnen gutgeht. Ich stelle gern unter Beweis, daß das auch komplizierter zu formulieren ist: Die Entlastung vom Negativen - gerade sie - verführt zur Negativierung des Entlastenden. Das bedeutet im Blick auf den Fortschritt: Je mehr Übel der Fortschritt tilgt, desto unwiderstehlicher wird es, den Fortschritt selber als Übel zu sehen. Es bedeutet im Blick auf die Medizin und ihre Fortschritte: Je mehr Krankheiten die Medizin besi~gt, desto stärker wird die Neigung, die Medizin selber zur Krankheit zu erklären; und je mehr Unheil ihre Fortschritte lindern, desto mehr werden ihre Fortschritte selber als Unheil erfahren. Das also ist das Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom, das
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zum real existierenden modernen Menschen ungut gehört. Seine Analyse mag plausibel machen: Der heutige Angriff auf den Fortschritt ist - zu wesentlichen Teilen - Indiz nicht seiner Verderblichkeit, sondern seines Erfolgs; und die gegenwärtige Medizinkritik spricht - zu wesentlichen Teilen nicht für das Versagen der Medizin, sondern gerade für ihr Gelingen, dafür, daß sie - im Maße des Möglichen - ihre Sache überwiegend gut macht, was nicht ausschließt, daß sie ihre Sache noch besser machen kann. Aber gerade dafür braucht sie auch weiterhin den Fortschritt. Ich schließe mit dem ultrakurzen Abschnitt: 3. Plädoyer für die menschliche Endlichkeitsfähigkeit
Das Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom - also die wohl erst in der modernen Welt aus dem Märchen allgemeiner in die Wirklichkeit getretene Fähigkeit der Menschen, unter immer weniger immer mehr und schließlich unter den Leidensminderungen selber zu leiden - wird dadurch perfektioniert, daß die Menschen absolute Ansprüche erheben und an den Fortschritt richten: an den wissenschaftlichen, den technologischen, den ökonomischen, den politischen Fortschritt und schließlich auch an den Fortschritt der Medizin; denn erst dann - wenn die durch Fortschritt verwöhnten Menschen schließlich durch absolute Weltvollkommenheit verwöhnt sein wollen - können sie sicher sein, daß sie durch Welt und Fortschritt und Medizin zuverlässig stets enttäuscht werden, und sie haben dann dadurch eine absolute Unzufriedenheits- und Leidensgarantie (denn unter dieser Bedingung läßt sich fast jede Erbse zum Unheil aufquellen). Dann kann man die großen Krisen ausrufen: die Wissenschaftskrise, die Technologiekrise, die Kapitalismuskrise, die Demokratiekrise, die Medizinkrise, die Fortschrittskrise und die Sinnkrise. Man kann dann nämlich - bei noch so
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guter Lebensqualität - die Jammerrate fast beliebig steigern und sich zum Ausgleich guten Gewissens verzweiflurigsvoll in prekäre Tröstungen stürzen: durch Do-it-yourself-Anästhesie in Betäubungen oder in jene Lebensverdoppelungen, die charakteristisch zu sein scheinen für unsere Gegenwartswelt: vom Zweitfernseher und Zweitauto und Zweithaus über das Zweitstudium und den Zweitberuf in der Schattenwirtschaft oder Nebentätigkeit bis hin zur Zweitfrau oder zum Zweitmann; selbst Lebensverdoppelungen, die schlechthin positiv erscheinen, werden einschlägig mißbrauchbar: das Zweitleben namens Urlaub, aber auch die Zweimiere, das Zweitherz, demnächst die Zweitleber und vielleicht dereinst der Zweitkopf, sobald sie zum selbstverständlichen Lebensanspruch werden. Das Ungenügen am Erstleben soll kompensiert werden durch das Zweitleben:==' Ungenügen aber hat stets einen .. der folgenden beiden Gründe: Mangel an Erfüllung, oder Ubermaß an Erwartung und Anspruch. Wir leben im Zeitalter der übermäßigen, nämlich der absoluten Ansprüche: und absolute Ansprüche - auch und gerade die an die Medizin - können nur enttäuscht werden. Diese durch absolute Überansprüche selbstgemachte Enttäuschung wird dann zum Treibstoff einer Fortschrittsschelte und Medizinkritik, die alle Geschwindigkeitsbegrenzungen mißachtet und rücksichtslos zu rasen beginnt. Wer von der menschlichen Wirklichkeit verlangt, der Himmel auf Erden zu sein, und sie - weil sie das nicht ist - enttäuscht und empört zur Hölle auf Erden erklärt, vergißt, was sie wirklich ist, die Erde auf Erden. Er vergißt vor allem, daß die Menschen endlich sind, sterblich, zerbrechlich, in ihrer Lebensfrist und Macht stets begrenzt und zu absoluten Erfüllungen nicht in der Lage, auch nicht zur absoluten Gesundheit, definiert als absolutes Glück, für deren Herbeiführung die Medizin die absolute Medizin sein müßte, die sie - als menschliche Medizin - nicht sein kann. Es ist nötig, die Medizin von solch pseudokritischem Absolutheitsdruck zu entlasten, und es ist - auch dafür - wichtig,
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daß die Menschen auf absolute Ansprüche verzichten und wieder - endlichkeitsfähig werden. Darum muß man noch vor aller Medizinethik die Menschen ethisch an ihre Pflicht erinnern, nicht unwürdig über die Verhältnisse ihrer Endlichkeit zu leben, also an den alten Grundsatz IlTJÖEv ayav, ne quid nimis, »nichts im Übermaß«. Diese weise Regel die von den Menschen die Endlichkeitsfähigkeit verlangt begrenzt die menschlichen Ansprüche, auch die an die Medizin, und entlastet die Menschen vom Zwang, das zu sein, was sie zwar modern gern sind, was sie aber gerade auch modern nicht sein sollten und nicht zu sein brauchten: nämlich Prinzessinnen auf der Erbse.
Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit
»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«: das steht in der Bibel, Genesis 2.18, und es ist Gott selber, der das dort sagt: Alleinsein und Einsamkeit haben miteinander zu tun: »wer sich der Einsamkeit ergibt, ach! der ist bald allein«, singt der Harfner in Goethes Wilhelm Meister; und wer allein ist, wird häufig einsam sein, vielleicht unvermeidlich erweise: »Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein«: das schrieb Hermann Hesse. Ich zitiere gleich noch einmal: »So bin ich denn nun allein auf Erden, ohne Bruder, ohne Nächsten, ohne Freund, meiner eigenen Gesellschaft überlassen. Der .geselligste und liebevollste Sterbliche ist mit allgemeiner Ubereinstimmung seiner Mitmenschen aus ihrer Gesellschaft verbannt worden. [...] Wider ihren Willen hätte ich die Menschen geliebt, und nur, indem sie aufhörten, Menschen zu sein, konnten sie meine Anhänglichkeit zerstören. Sie sind mir also fremd, unbekannt, endlich nichts geworden, weil sie es so haben wollten. Aber ich, losgelöst von ihnen und von allem, was bin ich selbst? [...] Ja, ohne Zweifel habe ich, ohne es gewahr geworden zu sein, einen Sprung vom Wachen zum Schlaf oder vielmehr vom Leben zum Tode gemacht«: den Sprung in die Einsamkeit. So beginnt Jean-Jacques Rousseaus letztes Werk: die Reveries du promeneur solitaire, die »Träumereien eines einsamen Spaziergängers«. Sie formulieren eine der klassischen Initialklagen über die moderne Einsamkeitslage des Menschen. Schon im Titel signalisiert nicht nur die Rede vom »einsamen« Spaziergänger Einsamkeit, auch das Wort »Träumereien« tut es: denn - einem traditionell geläufigen Unterscheidungskriterium zufolge - nur wenn wir wachen, haben wir eine gemeinsame Welt, wenn wir aber träumen, hat jeder allein seine eigene. Dementsprechend hat Rous-
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seau - der zum Schluß seines Lebens isoliert gelebt hat auch im Wortsinne: angstgeplagt auf einer Insel - diese Schrift nur noch für sich selber geschrieben und an Veröffentlichung nicht mehr gedacht; erst postum ist sie - zuerst 1782, also vor genau 200 Jahren - erschienen. In diesen 200 Jahren seither hat die Einsamkeitsklage nicht an Aktualität verloren; ganz im Gegenteil: die Einsamkeit ist - scheint es - zunehmend zum Zeitleiden geworden, zur großen Last und Qual, die in wachsendem Maße um sich greift. Sie gehört scheint es - in der modernen und gegenwärtigen Welt zu den repräsentativsten Lebensübeln: Wir leben im Zeitalter der Einsamkeit. Ich möchte nun - im Blick auf diese zunehmend beklagte Qualenquelle Einsamkeit - hier in meinen Betrachtungen eine These vertreten, erläutern und versuchsweise plausibel machen, die diese Einschätzung der Einsamkeit ergänzt und dadurch modifiziert, nämlich die folgende These: Was uns modern plagt, quält und malträtiert, ist nicht nur - und schon gar nicht primär - die Einsamkeit, sondern vor allem der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, das Siechtum der Lebenskunst, Einsamkeit positiv zu erfahren. Das - meine ich - ist in Dingen Einsamkeit die eigentliche Malaise unserer Zeit: nicht die Einsamkeit selber, sondern die mangelnde Einsamkeitsfähigkeit. Ich stelle darüber hier vier Betrachtungen an, die ich folgendermaßen überschreibe: 1. Moderne Einsamkeit; 2. Symptomatische Gegengeselligkeiten; 3. Einsamkeitsbedarf; 4. Kultur der Einsamkeitsfähigkeit. 1. Modeme Einsamkeit
Durch meine These will ich gerade nicht in Zweifel ziehen, daß die Einsamkeit wirklich zu den repräsentativsten Lagen just der Jetztwelt gehört: Wir leben - ich wiederhole und
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unterstreiche es - im Zeitalter der Einsamkeit. Daß das so . ist: dafür gibt es mehrere Ursachen. Zunächst führt modern gerade die Vermassung zur Vereinsamung, ganz elementar: Es gibt immer mehr Menschen auf immer engerem Raum. Physisch also rücken die Menschen immer näher zusammen; psychisch aber rücken sie immer weiter auseinander: das eine bedingt das andere. Man kann sich das folgendermaßen klarmachen: Ein Nachbar ist ein Freund; fünf Nachbarn sind gute Bekannte; zehn Nachbarn sind eine Hilfsgemeinschaft; fünfzig Nachbarn beunruhigen; hundert Nachbarn überfordern; tausend Nachbarn sind schier unerträglich: nur durch den Notwehrakt wohltrainierter Gleichgültigkeit bleiben sie aushaltbar; nur wenn man sie nicht mehr zur Kenntnis nimmt, kann man mit ihnen leben. So wird das Dasein in der Masse anonym: inmitten unzähliger Menschen bleibt der Einzelne unbemerkt, allein, einsam. Darum kommt es - zum Beispiel zum vielberedeten Hochhaussyndrom: den Nachbarn kennt man nicht mehr; wie er lebt, wird uninteressant; ob er lebt, ist dann egal; so kann das passieren, worüber zuweilen die Gazetten berichten: ein Gestorbener liegt wochenlang unentdeckt in seiner Wohnung. Mit steigender Zahl der Mitmenschen sinkt die personale Dichte und Intensität der Kommunikation: dadurch entsteht Einsamkeit. Hinzu kommt die modern wachsende Mobilität, die den Zusammenhalt von Familien, Nachbarschaften, Freundschaftsgeflechten räumlich zerreißt: Die mobilitätsschwachen Mitglieder - insbesondere die Alten - verlieren den Kontakt und vereinsamen. So ergeht es den Menschen in der modernen Massengesellschaft, in der das Großstadtleben das Normale wird, weil inzwischen selbst die Landgebiete zur Quasigroßstadt werden. Helmut Schelskys Lob der Großstadt - »daß im Leben des Großstädters die Arbeit immer sachlicher, die Freizeit immer privater geworden ist« stimmt zwar: die Anonymisierung der Arbeitswelt entlastet zu hoher Individualität der Lebens- und Sinnwelt; aber mit
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deren größerer Gestaltungsfreiheit wächst auch das Risiko der Nichtgestaltung, die zur Einsamkeit führt. In seinem soziologischen Bestseller Die einsame Masse hat vor mehr als dreißig Jahren David Riesman noch eine weitere zentrale Vereinsamungsursache betont: Modern - in der nicht mehr »traditionsgeleiteten« Welt - erfolgte in unserem Jahrhundert die Ablösung des »innengeleiteten« durch den »außengeleiteten« Menschen mit seiner Tendenz, stets möglichst genau so zu sein wie die anderen. Nur noch Gleichheit macht fortan gesellschaftsfähig, Ungleichheit schließt aus der Gesellschaft aus. Aber da die Menschen nie nur gleich, sondern stets auch ungleich sind, wird so - je mehr gesellschaftlich nur noch die Gleichheit zählt - jeder zum immer größeren Teile gesellschaftsunfähig, also einsam: beim »außengeleiteten« Menschen gehört zur manifest wachsenden Gleichheit die latent wachsende Einsamkeit. Man kann das radikalisieren und dieses moderne Einsamkeitswachstum verstehen aus jener Verwandlung der NichtEinsamkeit - der Vielsamkeit, die entweder Mehrsamkeit oder Allsamkeit ist: entweder ein Wir, zu dem nicht alle Menschen gehören (wie z. B. eine Familie), oder ein Wir, zu dem alle Menschen gehören (wie z. B. das »System der Bedürfnisse« als industrielle Produktions-, Distributions- und Konsumgesellschaft) -, die die moderne Welt prägt: sie ist als das Zeitalter der Universalisierungen - jene Welt, die zunehmend Mehrsamkeiten durch Allsamkeiten ablöst. In den Allsamkeiten aber wird - im Unterschied zu den Mehrsamkeiten, bei denen das gerade nicht geht - jeder Mensch durch jeden Menschen ersetzbar: seine Einmaligkeit wird bedeutungslos, überflüssig, ausrangiert. Die Menschen können ihre Einmaligkeit dann nur noch als Einsamkeit erfahren. Darum produziert die moderne Emanzipation aus den Mehrsamkeiten in die Allsamkeit zwangsläufig Einsamkeit, und es kommt zu jenem Befund, den ich hier zunächst noch einmal unterstreichen wollte: Wir leben - modern und gegenwärtig - im Zeitalter der Einsamkeit.
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2. Symptomatische Gegengeselligkeiten
All das wird auch indirekt sichtbar: durch Anti-Einsamkeits-Aktivitäten, die freilich die Einsamkeit, statt sie zu überwinden, vielmehr bestätigen und verstärken. Es handelt sich dabei um symptomatische Gegengeselligkeiten: um suchthafte Anti -Einsamkeitskommunikationen. Ich weise hier - pars pro toto - nur auf zwei einschlägige Phänomene hin. Das eine Phänomen ist die Exotisierung der Mitmenschlichkeitsvollzüge: ihre Verlagerung ins Ferne. Die moderne Einsamkeit - die als Kommunikationsnot und Kommunikationstod im Nahbereich beschrieben werden kann zwingt dazu, als Ersatz Kommunikationen mit dem Fernbereich überemphatisch zu aktivieren. Menschlich ist man dann nur noch zu jenen, die ganz weit weg sind: zeitlich, räumlich oder durch sonstigen Abstand. Man liebt - weil man zu den nächsten Menschen im engsten Lebensumkreis nicht mehr zukann - nur die fernsten Menschen: die heile Menschheit der Zukunft, die Menschen fernster Länder (mit Vorliebe für fernöstliche oder lateinamerikanische Revoltiermenschen, weil sie zugleich als siegreiche Zukunftsmenschen gelten) und die Übermenschen, zu denen man in großgehaltenem Bewunderungsabstand lebt: die Idole in Politik, Sport, Kultur und Subkultur. Der Ausfall des Nahen wird ersetzt durch das Ferne: auch Dialoge gelingen nur noch durch den Fernsprecher; selbst das Sehen wird ersetzt durch das Fernsehen. Was - beispielsweise - Berliner Berlinern an Mitmenschlichkeit schuldig bleiben, erstatten sie dann denen, die weit weg von Berlin sind: den Fernauslösern für fernselige Gemeinschaftserlebnisse. An die Stelle der Nächstenliebe tritt die Fernstenliebe: die blockierte Nahsolidarität wird kompensiert durch emphatische Fern-· solidaritäten. Gerade dadurch aber - das ist die Kehr- und Kostenseite dieses Vorgangs - wird man erst recht blind und unempfindlich fürs Nächste: dieser Verlust des Näch-
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sten durch Flucht ins Fernste verstärkt gerade das, dem man entkommen wollte: die Einsamkeit. Das andere Phänomen ist die Konjunktur der Gruppe als Anti-Einsamkeitsmittel: Man flieht - um der Einsamkeit zu entgehen - ins Kollektiv, das jetzt als Allesheiler propagiert wird. Fortan darf man - im Namen der Einsamkeitsbesiegung und weil man sonst »privatistisch« ist - nichts mehr allein machen: weder lesen noch schreiben, weder arbeiten noch wohnen, weder denken noch schlafen, weder reden noch schweigen, weder weinen noch glücklich sein; selbst allein sein darf man nicht mehr allein; alles muß gemeinsam veranstaltet werden: kein Heil außerhalb der Gruppe. Für einen Universitätsmenschen wird das gerade in der heutigen Massenuniversität auffällig: Die Studierenden - jeden duzen sie, keinen kennen sie - fliehen vor den Einsamkeiten des universitären Massenbetriebs suchthaft in Gruppen: in die Fahrgemeinschaft, die Wohngemeinschaft, die Denk- und Diskutiergemeinschaft, die Arbeitsgemeinschaft, die Fühlgemeinschaft, in die Gruppe um der Gruppe - also der Nicht-Einsamkeit - willen. Zu den einschlägigen Faszinosa gehört die Gruppenarbeit: sie wird - sonst durchaus unproduktiv - zur heiligen Kuh als Anti-Einsamkeitssymbol, das für den Gruppenbedarf trainiert, den übrigens am besten in der Hamlet-Analyse seiner »Lehrjahre« d\lrch Hinweis auf Rosenkranz und Güldenstern - Goethe beschrieben hat: »Das, was diese beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Größe. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen und Biegen, dieses Jasagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dieses Schwänzeln, diese Allheit und Leerheit, diese rechtliche Schurkerei, wie kann sie durch einen Menschen ausgedrückt werden? Es sollte ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben könnte; denn sie sind bloß in Gesellschaft etwas, sie sind die Gesellschaft«: Der Gruppenberuf sind der Hofschranze und seine Nachfolgeprofessionen. Die Gruppenarbeit ist - stell-
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vertretend für manch anderen Gruppenenthusiasmus: etwa der für jene Selbsthilfegruppen, die man nur durch Selbsthilfe übersteht - gut gemeint, aber nicht gut die Gruppensucht - Indiz ist die extreme Gefährdung derer, die durch die Gruppe abgehängt werden -, sie macht die Einsamkeit, statt sie zu besiegen, nur noch schlimmer: sie zerstört die Einsamkeitsfähigkeit. Das moderne Zeitalter der Einsamkeit ist also zugleich das Zeitalter der symptomatischen Gegengeselligkeiten: das der kommunikativen Fernemphasen und der Gruppensucht, die beide - indem sie die Einsamkeitsfähigkeit nachhaltig ruinieren - er-st.recht wehrlos machen gegen das, was sie überwinden sollen, in Wirklichkeit aber indirekt ermächtigen: die Einsamkeit. 3. Einsamkeitsbedarf
So komme ich auf meine These zurück: Was uns modern plagt, quält und malträtiert, ist nicht nur - und keineswegs primär - die Einsamkeit, sondern vor allem der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, das Siechtum der Lebenskunst, Einsamkeit positiv zu erfahren. Diese Malaise ist modern, aber sie ist keineswegs selbstverständlich: denn positive Erfahrung der Einsamkeit ist möglich. Schon was - in der mittelalterlichen Mystik: etwa bei Meister Eckhart - zur Erfindung des Wortes >Einsamkeit< führte, war eine Positiverfahrung. Zunächst (wenn ich es richtig sehe) war dort »Einsamkeit« überhaupt kein Wort für das Solitäre und Isolierte, sondern die deutsche Übersetzung von unio im Sinne der unio mystica, der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott: ihre Ein-samkeit war ihr Eins-sein als intensivste Form ihrer Kommunikation. Hätte sich dieser Wortsinn - Einsamkeit ist Vereinigung -
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erhalten und säkularisiert, könnte man heute - statt von der »Einsamkeit des Langstreckenläufers« - von der Einsamkeit der Ehegatten sprechen und das meinen, was die Bibel zum Ausdruck bringt durch die Formel, beide seien »ein Fleisch«: die intensivste Form ihrer Kommunikation. Freilich: dieser Wortsinn - obwohl er im Pietismus des 18. Jahrhunderts nachklang - ist verlorengegangen. >Einsamkeit< wurde schnell zur Bezeichnung jener »Abgeschiedenheit« von den Anderen, die zum mystischen Gotteserlebnis gehört. Wo späterhin Gott aus dem Spiel geriet, war der Mensch dann nur noch abgeschieden, nur noch allein mit sich selber: eben im heutigen Wortsinne »einsam«. Aber auch und gerade diese >bloße< Einsamkeit kann positiv erfahren und darum gesucht werden: Es gibt positiven Einsamkeitsbedarf. Ich weise hin auf drei einschlägige Einsamkeitsformen, die mir naheliegen durch meine Eigenschaft als Skeptiker, Universitätswissenschaftler und einsamkeitsbedürftiges Lebewesen. Einsamkeit suchen - und mögen - die Skeptiker. Repräsentativ ist etwa - er lebte frühmodern: sozusagen zwischen Pyrrhon und mir - Montaigne, der sich (nach intensiver öffentlicher Wirksamkeit) zurückzog in die solitude, die Einsamkeit. Um zu lesen, zu schreiben und zu erfahren, ohne je abschließend Bescheid zu wissen, retirierte er in »die dritte Etage eines Turms«: Die Skeptiker - anders als die Generäle des absoluten Wissens und Tuns - stehen nicht »spekulativ« auf dem Turm, sondern sitzen im Turm, hilfsweise - seit es mehr Reihenhäuser als Türme gibt - in einem Arbeitszimmer im Souterrain. Mit Bedacht setzen sie sich zwischen die Stühle der herrschenden Lehren. Denn Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung: für die Teilung selbst noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind. Der Skeptiker schätzt und schürt den Zwist der herrschenden Lehren. Wenn diese sich zanken, freut er sich: denn gerade dadurch - teile und denke! - kommt er frei von ihnen und ihrem gewaltigen Scheuklappenaufwand. Er schließt sich ihnen nicht
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an, also schließt er sich aus und wird so - einsam - ein Einzelner. Diese Einsamkeit aber ist für den Skeptiker die Chance, auf eigene Rechnung - auf eigene Narrenkappe zu merken und zu denken: Sie deckt - diesseits aller Selbstbestätigungsgeselligkeiten - den skeptischen Einsamkeitsbedarf. Einsamkeit suchen - und brauchen - die Wissenschaftler: ohne Einsamkeit ist Wissenschaft nicht möglich, auch wenn das heute verpönt ist. Durch Einsamkeit wird aus der Wissenschaft keine privatistische Sinekure, sondern das, was die Wissenschaft institutionell sein muß: die Isolierstation für das erkenntismäßig Brisante. Wissenschaft ist: alles denken wollen. Man muß ohne Rücksicht auf Folgen denken dürfen, sonst kann man nicht alles denken. Dafür braucht es einen Ort, an dem die Denkfolgen gut entsorgt sind. Der Wissenschaftler muß sozusagen Sandsäcke zwischen sich und der übrigen Welt haben: für den Fall, daß sein Denken explodiert, damit dann kein anderer zu Schaden kommt. Dafür ist Einsamkeit nötig, jener Elfenbeinturm, dessen Elfenbein ist: der Berstschutz für Gedanken. Darum verlangte Wilhelm von Humboldt für die Wissenschaft an der Universität »Einsamkeit und Freiheit«: Denkfreiheit, die durch Einsamkeit entsorgt ist. Wo man heute - in der Gruppenuniversität - Wissenschaftsfreiheit ohne Einsamkeit will, macht dieser Einsamkeitsbedarf sich trotzdem geltend. Nicht zufällig sind seither die Professoren zu einer Gilde von Reisenden geworden: sie reisen unentwegt zu fernen Kongreßonen. Aber wichtig bei ihren Reisen ist nicht das Ankommen - weder das am Kongreßort noch das am Berufs ort -, sondern das Wegsein von beiden: die Reise dazwischen, die in der Regel eine einsame Reise ist, bei der man noch denken kann. So rettet - wo die Universität ihn nicht mehr deckt - der heutige Wissenschaftstourismus - diesseits der Wissenschaftsverwaltungsgeselligkeit - den wissenschaftlichen Einsamkeitsbedarf. Einsamkeit suchen - und entbehren - die Menschen, die
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nicht zurechtkommen mit jenem Tribunal, das in der heutigen Verpflichtung zur totalen Geselligkeit steckt, weil jeder sogleich als verworfen gilt, der da nicht mitmacht. Es gibt passionierte Quartalakteure: QuartalsportIer, Quartalsäufer oder Quartalleser. Ich für meinen Teil gehöre zu den Quartalwanderern, die anfallsweise durch Wälder und Straßen streifen. Landschaftssehnsucht und Pflasternostalgie - auf den ersten Blick krasse Gegensätze - sind vielfach beschrieben worden: etwa bei Carl Gustav Carus als »jenes erst in unserer Zeit hervorgetretene Bestreben, sich zeitweise wie zu einer Art Naturadoration hinauszustürzen in Wälder und Berge, in Täler und Felsen«; etwa bei Siegfried Kracauer als »Straßenrausch, der mich in Paris immer ergreift. Damals [...] verbrachte ich [...] Wochen allein in Paris und lief jeden Tag mehrere Stunden durch die Quartiere. Es war eine Besessenheit, der ich nicht zu widerstehen vermochte.« Mir jedoch kommt es hier auf jene Streunsucht an, für die die unberührte Landschaft und die belebten Großstadtstraßen gerade austauschbar werden. Beide bieten - als Entlastung von den modernen Rechtfertigungszumutungen der totalen Geselligkeitspflicht - dem Einzelnen die Chance, unauffindbar und dadurch unbelangbar zu werden: bei beiden taucht er ein in rettende Einsamkeiten. Als moderne Versionen der Tarnkappe decken beide - gegen die Tribunalsucht moderner Geselligkeiten - menschlichen Einsamkeitsbedarf. Das sind nur einige Beispiele; aber sie zeigen: Es gibt nicht nur die Last, es gibt auch die Lust der Einsamkeit. 4. Kultur der Einsamkeitsfähigkeit
Entscheidend ist die Frage, ob und wie sich Einsamkeitslast in Einsamkeitslust umarbeiten läßt: also die Frage nach einer Kultur der Einsamkeitsfähigkeit. Denn es stimmt nicht, daß die Menschen die Einsamkeit
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bleibenlassen könnten. Selbst wenn die bisher geschilderten Formen der Einsamkeit vermeidlich wären: niemals doch wären sie sofort vermeidlich; auch um sie vorübergehend zu bestehen, brauchte man Einsamkeitsfähigkeit. Und es gibtunbezweifelbarerweise - für alle Menschen die unvermeidliche Einsamkeit. Es gibt sie, weil wir sterben. Wenn wir abtreten, lassen wir unsere Mitwelt allein, die dabei ihrerseits uns allein lassen muß: wir sterben als allein gelassene Alleinlasser. Und weil wir - durch Geburt zum Tode verurteilt und dies wissend - unser Leben lang »zum Tode« sind, durchzieht diese elementare Einsamkeit lebenslang unser Leben. Dieses Leben ist kurz: darum haben wir niemals die Zeit zu beliebiger Nicht-Einsamkeit; wie unser Sterben kann unser Leben - mit seinen Lebensentscheidungen »niemand uns abnehmen«: wir haben keine Zeit, stets alle oder auch nur viele bei ihm mitreden zu lassen. Diese sterblichkeitsbedingte Einsamkeit - zumindest sie - verlangt Einsamkeitsfähigkeit. Von dieser Einsamkeitskompetenz lebt auch unsere Kommunikationskompetenz. Wer - einsamkeitsunfähig - mit all seinen Lebensfragen alle erreichbaren Mitmenschen dauernd behelligt, kommuniziert nicht, sondern wird als krankhafter Fürsorgefall unerträglich. Freilich: gerade diese Art von Unselbständigkeit ernennen heute einige Kommunikationskompetenzler zum Kommunikationsideal. Sie berufen sich auf den Satz: Mündigkeit ist Kommunikationsfähigkeit. Aber dieser Satz sagt nur die halbe Wahrheit, denn mindestens ebensosehr gilt: Mündigkeit ist Einsamkeitsfähigkeit. Darum wiederhole ich: Was uns modern vor allem plagt, quält und malträtiert, ist nicht die Einsamkeit, sondern der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, das Siechtum der Lebenskunst, Einsamkeit positiv zu erfahren. Die eigentliche Malaise unserer Zeit ist nicht die Einsamkeit selber, sondern der Mangel an Einsamkeitsfähigkeit. Entscheidend wichtig ist darum die Kultur
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der Einsamkeitsfähigkeit. Worin besteht sie? Darauf zu antworten ist schwer. Ich weise hier - ohne Vollständigkeitsabsichten - auf drei Momente hin, die mir für die Kultur der Einsamkeitsfähigkeit wichtig scheinen: Humor, Bildung, Religion. Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört - zum Beispiel- Humor. Durch diesen Leichtsinn, der aus Schwermut kommt, kann man »trotzdem« leben, nämlich in bekömmlicher Distanz zu sich selber: also auch in Distanz zur eigenen Einsamkeit, etwa durch Vermeidung von Übererwartungen. Wer nur mit stets gelingender Superkommunikation zufrieden ist, verurteilt sich selber zur Einsamkeit; wer sogar vom Standbild auf dem nächsten Platz erwartet, daß es ihm um den Hals fällt, und sich einsam fühlt, wenn es das - wie bei Standbildern üblich - nicht tut, gehört zu den Genies der Verzweiflungserzeugung. Er würde für sich und seine Mitwelt umgänglicher, wenn er - mit lächelnder Distanz zu sich selber - seine unmäßigen Kommunikationsansprüche reduziert. Je weniger Kommunikation jemand braucht, um so mehr Kommunikation gelingt ihm; je einsamer einer sein kann, desto weniger ist er es. Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört - zum Beispiel - Bildung: keine Alles- und Besserwisserei, sondern die Ausdehnung des Aktionsradius der Merk- und Genußfähigkeit dadurch, daß man nicht auf unmittelbare Präsenzen angewiesen bleibt, sondern mit den Medien der Vergegenwärtigung und Wiedervergegenwärtigung umzugehen weiß: mit Büchern, Bildern, Tonfolgen durch das Bündnis von Phantasie und Erinnerung. Bildung ist: diese zusätzlichen Zuwendungen trainiert zu haben, die gerade Einsamkeit kompensieren können als die Lebenskunst, auch allein nicht allein zu sein. Bildung - das ist eine ihrer Zentraldefinitionen -, Bildung ist die Sicherung der Einsamkeitsfähigkeit. Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört - auch und vielleicht unvermeidlicherweise - Religion: Gott ist - für
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den Religiösen - der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Der Nichtreligiöse glaubt, daß das nicht ausreicht: kommunikativ scheint ihm der profane Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den Heiligen Geist symbolisiert. Aber Menschen sterblichkeitsbedingt einsame Lebewesen - sind seinsmäßig nicht so gestellt, daß sie es sich leisten könnten, auf solchen Trost leichtfertig zu verzichten: denn zweifellos gibt es Einsamkeitssituationen, in denen die Taube auf dem Dach - sozusagen - der einzige Spatz ist, den man noch in der Hand hat.
Zivilcourage In memoriam Erwin Stein
Courage ist das französische Wort für Tapferkeit, Mut. Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik die Tapferkeit als Tugend und die Tugend als Mitte bestimmt: Tapferkeit griechisch andreia, lateinisch fortitudo - ist die Mitte (die mesotes, die mediocritas) zwischen Tollkühnheit und Feigheit, zwischen thrasytes und deilia, zwischen audacia und ignavia. Erich Kästner hat gemeint: »Leben ist immer lebensgefährlich.« Menschlich zu leben und zu handeln verlangt also diese Tapferkeit, diesen Mut, diese Courage. Die Wortzusammensetzung Zivilcourage wurde - scheint es - nötig, weil die Tapferkeit in der Gefahr steht, ausschließlich als Kampfestugend des Soldaten verstaIJ.den zu werden, die ich nicht herabsetzen möchte. Aber die Tapferkeit hat einen weiteren Umfang als diese Kampfestugend des Soldaten: Sie umfaßt den ganzen menschlichen und darum auch den zivilen Bereich. Es scheint sogar - vor allem, seit die ergänzende Maßstäblichkeit des religiösen Märtyrermutes verblaßte - dieser zivile Bereich in der Bürgerwelt, auch und gerade der modernen, der Kernbereich der Tapferkeit zu sein. So wurde es nötig, dafür ein Wort zu finden; und gefunden wurde das Wort Zivilcourage, das schon bei Aristoteles vorgebildet war, der von der an.~reia politike sprach, die später - etwa in der lateinischen Ubersetzung des Averroes-Kommentars zur Nikomachischen Ethik - fortitudo civilis hieß. Dabei ist nicht jede x-beliebige Aufmüpfigkeit Zivilcourage. Man braucht sie überhaupt nicht nur für das Nein, sondern auch und gerade für das Ja. Ich meine: Zivilcourage ist vor allem der Mut, zivil - also ein civis, ein polites, .ein Bürger - zu sein; oder kurz gesagt: Zivilcourage ist der Mut zur Bürgerlichkeit. Diesen Mut zur Bürgerlichkeit hat Erwin Stein, geboren
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am 7. März 1903, gestorben am 15. August 1992, in. ungewöhnlichem Maß besessen. Ich werde das hier nur mit andeuten können in den drei Abschnitten meiner Betrachtung über die Zivilcourage, die die Lebenszeit von Erwin Stein allgemeiner ins Auge faßt und deren erster Abschnitt Bemerkungen über die Weimarer Republik, deren zweiter Abschnitt Bemerkungen über die Zeit des Nationalsozialismus und über die frühe Bundesrepublik, deren dritter Abschnitt Bemerkungen über die spätere Bundesrepublik enthält, und die ich folgendermaßen überschreibe: 1. Jasagen und Neinsagen; 2. Mut zur Bürgerlichkeit; 3. Gewissenhaben und Gewissensein. Diese meine Betrachtungen über die Zivilcourage - im Blick auf Erwin Stein und natürlich mit der Möglichkeit des Deutungsirrtums - beginne ich mit Abschnitt: 1. Jasagen und Neinsagen
Beides - das richtige Jasagen und das richtige Neinsagen ist zweifellos eine schwierige Kunst; zu ihr gehört Zivilcourage; und sie muß gelernt werden. Die Lehrjahre von Erwin Stein - der Ende des Ersten Weltkriegs 15 Jahre alt war - war die Zeit der Weimarer Republik. In ihr gab es Schwierigkeiten beim Jasagen, ähnlich wie später in der Bundesrepublik. In dieser - der Bundesrepublik - begünstigt den Hang zum Nein die Furcht vorm Ja; vor allem, weil im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts während der Herrschaft des Nationalsozialismus - in Deutschland zwölf Jahre lang zuviel ja gesagt wurde, will man das damals versäumte Neinsagen durch heutiges Neinsagen nachholen: den Nichtwiderstand gegen die Tyrannei durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei wettmachen. Bei diesem nachträglichen Ungehorsam wird leicht vergessen, daß in Deutschland vor den zwölf Jahren des falschen Jasagens fünfzehn Jahre lang falsch nein gesagt wor-
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den ist: zur Weimarer Republik. Sie wurde weithin nicht akzeptiert, sondern negiert: teils, weil sie nicht mehr die Monarchie war, der man rechts nachtrauerte, teils, weil sie nicht die Revolution wurde, die man links erhoffte, sondern eine bürgerliche Republik. Ich verwende hier einen weiten Begriff des Bürgerlichen. Ich vernachlässige die Unterscheidung zwischen citoyen und bourgeois; denn bei des gehört zusammen. Im übrigen: zur Bürgerwelt gehört neben der Emanzipation des »dritten Standes« auch, daß der »vierte Stand« in den »dritten Stand« sich auflöst: also - im Gegensatz zu jener Ausbürgerung des Proletariats, die Marx durch seine Verelendungstheorie irrtümlich prognostizierte - jene »Einbürgerung des Proletairs«, die Franz von Baader schon 1835 voraussah und die die reformistische Arbeiterbewegung entscheidend mitbewirkt hat, die darum auch zu einer Zentralkraft der Weimarer Republik wurde, die eine bürgerliche Republik war.· Zu dieser bürgerlichen Republik wurde - zunehmend nein gesagt: durch das Wachstum der Extremismen und Radikalismen. Was im politischen Leben der Weimarer Republik - die schließlich aus Realgründen das verlor, was eine Demokratie politisch lebensfähig macht: die bürgerliche Mitte - die »negativen Mehrheiten« waren, war in ihrer Kultur die Mehrheit bürgerlichkeitsnegierender Philosophien, die das Bürgerliche - bei Spengler und Heidegger als »Untergang des Abendlandes« und als »Uneigentlichkeit« und - bei Bloch und Lukacs - als Verrat an der »Utopie« und als versäumte Revolution und Permanenz der »Entfremdung« angriffen und so jene Einstellung kultivierten, die unser Jahrhundert unheilvoll dominiert hat und die ich nennen möchte: die Verweigerung der Bürgerlichkeit. Das Bürgerliche erschien als das Falsche: entfremdet, mittelmäßig, langweilig, mit Außerordentlichkeitsdefiziten und ohne Mut zum Ausnahmezustand. Indes: vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Darum ist nicht das
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Bürgerliche falsch, sondern seine Negation: Verderblich ist gerade nicht die Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung der Bürgerlichkeit. Darum hat - wenn ich es richtig sehe - Erwin Stein diese Bürgerlichkeitsverweigerung seinerseits schon früh verweigert. Dazu war Zivilcourage nötig: Mut zur Bürgerlichkeit. Er - der Rechtswissenschaften studierte, 1928 juristisch promovierte und 1929 die große juristische Staatsprüfung ablegte - hat sich dem philosophischen Einfluß Leopold Zieglers geöffnet, der den Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg als Chance begriff und - wie Ziegler 1920 in seinem Gestaltwandel der Götter schrieb - hoffte, »daß dieser Untergang einer alten Welt zugleich der Aufgang einer neuen ist«: also nicht - wie Spengler zu meinen schien - nur Untergang, aber auch nicht - wie Lukacs m.~inte - Start zum politischen Umsturz. Den mythischen Uberschwang von Zieglers Ansatz diesseits der Negationen hat Erwin Stein - in Richtung aufs Ja zum Bürgerlichen - durch die Nüchternheit des Juristen gezähmt. Er wurde Staatsanwalt und Richter durch die Courage, auch institutionell zivil zu wirken; denn der Mut zur Bürgerlichkeit umfaßt auch den Mut, ein bürgerlicher Beamter zu werden. So sagte er ja zur bürgerlichen Weimarer Republik, zu der - mit dem radikalen Pathos der Bürgerlichkeitsverweigerung - sonst allenthalben zunehmend - und zwar falsch - nein gesagt wurde. 2. Mut zur Bürgerlichkeit
Wir wissen, daß dieses falsche Nein sich 1933 politisch durchsetzte: Die Verweigerung der Bürgerlichkeit führte vollstreckt durch den rechten Radikalismus, auf komplizierte Weise indirekt begünstigt durch den linken Radikalismus - zum Ende der Weimarer Republik und in die Herrschaft des Nationalsozialismus mit seinen grausamen Folgen, und zwar vor allem auch dadurch, daß die Bürger
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den Mut verloren, ihre Bürgerlichkeit zu verteidigen: sie verloren ihre Zivilcourage. Wo das geschieht - wo das Zivile nicht mehr couragiert ist - wird die Courage unzivilisiert: sie sucht dann das Unmenschliche, um sich dadurch als Courage zu beweisen und den eigenen Ausnahmezustandsbedarf zu decken. So wurde aus der Verweigerung der Bürgerlichkeit die Zerstörung der Bürgerlichkeit. Dazu hat Erwin Stein - der besaß, was damals zu wenige besaßen: nämlich Zivilcourage, den Mut zur Bürgerlichkeit - unmißverständlich und unverzüglich nein gesagt und die Konsequenzen getragen: Er schied 1933 aus dem Staatsdienst aus, versuchte als Rechtsanwalt Fuß zu fassen und seine Frau nach England zu retten, die als Jüdin in Lebensgefahr war; ihre Rückkehr war eine Rückkehr in den Tod. Wer das weiß, ahnt, warum Erwin Stein nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, so energisch und leidenschaftlich in die Politik drängte: ins Engagement für die Demokratie. Es sollte - das wollte er erreichen und dafür suchte und fand er Verbündete - die Wiederholung des Schrecklichen unmöglich gemacht werden. Für dieses Ziel - den Aufbau und die Kultur eines Gemeinwesens, das dies sicherstellte - hat er politisch gearbeitet und gestritten: 1945 als einer der Mitbegründer der CDU in Hessen, deren linkem Flügel man ihn - den Protestanten, der auch Synodaler war - zurechnen mag, wenn man ihn überhaupt etikettieren kann. Er wurde 1946 Abgeordneter der verfassungsberatenden Landesversammlung in Großhessen und engagiertes Mitglied ihres Verfassungsausschusses; er gehört zu den Vätern der hessischen Verfassung, die er später zusammen mit Georg August Zinn auch maßgeblich kommentiert hat. 1947 wurde er Abgeordneter des hessischen Landtags; 1947 bis 1951 war er - in der Koalitionsregierung Stock - Hessischer Minister für Kultus und Unterricht und Hessischer Minister für Justiz, Erziehung und Volksbildung. 1951 bis 1971 gehörte er zum Kreis der initialen Richter des Bundesverfassungsge-
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richts in Karlsruhe, dessen Stil er mitgeprägt hat. Während dieser ganzen Zeit hat er - mit Sinn für die Untrennbarkeit von Politik und Kultur - Wichtiges und Wichtigstes auf den Weg gebracht. Auch nachdem er - nach Hessen zurückkehrend - in den Ruhestand getreten war, hat er - zugleich wissenschaftlich arbeitend: verfassungsrechtlich, presserechtlich, bildungsrechtlich, sehr früh auch schon naturschutzrechtlich - weiterhin politisch gewirkt. So hat er beispielsweise - in den Streit um die Hessischen Rahmenrichtlinien befriedend eingegriffen, indem er 1978 ihre Allgemeine Grundlegung schrieb: als Ermahnung ihrer Gegner zur Reformbereitschaft, aber zugleich - so lese ich sie - als Warnung ihrer Anhänger vor einer pädagogischen Verweigerung der Bürgerlichkeit. Durch diese Hinweise auf die konkrete politische Tätigkeit von Erwin Stein möchte ich unterstreichen: Durch jene politische Verbindung von Unbeirrbarkeit und Konsenssuche über die Parteigrenzen hinweg, die für ihn charakteristisch war, lebte er - fernab von der zögernden Attitüde haftbarkeitsscheuer Halbzustimmungen - die tätigste und exponierteste Form der Zustimmung zum neuen deutschen Rechtsstaat: durch den rechtlichen und politischen Aufbau seiner Liberalwirklichkeit, die Kritik erst lohnend macht. Das war - für diesen »Mann der ersten Stunde«, der zum Mann der ersten Jahrzehnte wurde - die aktive und konstruktive Identifizierung mit der neuen Demokratie, die als Bundesrepublik - ihrerseits eine bürgerliche Republik wurde. Auch sie geriet - wegen dieser ihrer Bürgerlichkeit- in das Schußfeld der schon gegen die Weimarer Republik wirkenden doppelten Negation: teils galt sie als Verrat des Abendlandes an das Materielle und Libertinistische, teils galt sie als entfremdungsstabilisierendes Versäumen der sozialistischen Revolution. Aber die Bundesrepublik ist kein mißlungenes Abendland und keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Bürgerlichkeit. Daß sie -
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die bewahrenswerteste der uns historisch erreichbaren Sozialordnungen - zur im menschlichen Maß gelungenen Demokratie wurde: das lag an Menschen, wie Erwin Stein einer war, und daran, daß sie die große Mehrheit der Bürger dieser Republik für eine Identifizierung mit ihr gewinnen konnten: durch Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung, also durch Zivilcourage, den Mut zur Bürgerlichkeit. 3. Gewissenhaben und Gewissensein
Die sogenannte Verdrängungstheorie vertritt die These, daß die frühe Bundesrepublik und ihre Bürger, unfähig zu trauern, bis 1968 die nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt haben und dadurch der Auseinandersetzung mit ihr ausgewichen seien. Ich halte es für eine Schwäche dieser Verdrängungstheorie, die jüngsthin als Lebenslügentheorie wiederholt worden ist, daß Menschen wie Erwin Stein und die, die ihnen verbunden waren, in ihr praktisch nicht vorkommen: sie gehören zu dem, was die Verdrängungstheorie ihrerseits verdrängt. So bleibt sie - die kritische - kritiklos auch gegenüber jenem Vorgang, der das >nie wieder Nationalsozialismus< zu einem >nie wieder Identifizierung< verdünnt und radikalisiert und dadurch eine neue Verweigerung der Bürgerlichkeit begünstigt hat, die der späteren Bundesrepublik nicht gut tat, weil sie als Hang zum Nein zur Bundesrepublik und ihrer Bürgerlichkeit wirksam wurde. Diese neue Verweigerung der Bürgerlichkeit hatte ich eingangs - mit einem Gegenbegriff zu Freuds »nachträglichem Gehorsam« - als nachträglichen Ungehorsam zu beschreiben versucht: als das fragwürdige Unternehmen, den Nichtwiderstand gegen die Tyrannei - die nationalsozialistische, alsbald vielleicht auch die realsozialistische durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei - gegen die bürgerlich liberale Bundesrepublik - nachträglich wettzu-
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machen. Ich meine: Man muß dieses an falscher Stelle nachgeholte Nein, man muß diesen nachträglichen Ungehorsam - von der sogenannten Studentenbewegung der späten 60er Jahre über die Modernitätskritik im Namen der Natur seit den späten 70er Jahren bis zum uns möglicherweise bevorstehenden neuen Außerparlamentarismus durch künftige Positivierungen sogenannter ,.Politikverdrossenheit« als Entlastungsarrangement durchschauen: als die große Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein. Seit durch den erfolgreichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg - das Entsetzen über das gewesene Schreckliche nicht mehr unmittelbar mit der Straferfahrung der Zerstörung sich verband, wurde - unter dem Druck des ungetilgt schlechten Gewissens - dieses Entlastungsarrangement nun, in der späteren Bundesrepublik, weithin nahezu unwiderstehlich: nämlich daß man - wo Schuldvorwürfe es überlasten - das schlechte Gewissen selber nicht mehr zu >haben< braucht, wenn man das schlechte Gewissen für andere >wird<, so daß man immer weniger von sich selber, dafür aber immer mehr von den anderen verlangt, dieses schlechte Gewissen zu haben. Das ist das Entlastungsarrangement, das ich hier meine: die Flucht aus dem Gewissen, das man selber hat, in das Gewissen, das man für andere ist und nicht mehr selber hat. Man entkommt dem Tribunal, indem man es wird; und man wird das Tribunal, indem man - unter Beanspruchung des Kritikmonopols - alle bestehenden Verhältnisse - gerade die nächsten: also vor allem auch die Bundesrepublik - in Frage stellt: durch Verweigerung ihrer Bürgerlichkeit. Das - diese neue Verweigerung der Bürgerlichkeit in der späteren Bundesrepublik - ist ein Vorgang, gegen den es erneut Zivilcourage braucht: den Mut zum Ja zur Bundesrepublik und ihrer liberalen Bürgerlichkeit. Denn Zivilcourage - der Mut zur Bürgerlichkeit - ist vor allem auch die Courage zum Widerstand gegen diese Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein: die Opposition gegen die
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Trennung von Gewissenhaben und Gewissensein und die Option für die Zusammengehörigkeit von Gewissenhaben und Gewissensein mit der Erfahrung, daß nur diejenigen Menschen wirklich Gewissen sein können, die zugleich Gewissen haben. Zu diesen Menschen gehörte Erwin Stein, und zwar in eminenter Weise: als ein Mensch, der Gewissen war, weil er Gewissen hatte. Darum war er der, der er war: ein schlechthin unabhängiger Mann, der sich das eigene Denken und Handeln weder verbieten noch vorschreiben ließ, der unter allen Umständen immer er selbst blieb und gerade deswegen im Dienst des Gemeinwohls wirkte. Wer ihn persönlich kennenlernte, mußte von ihm beeindruckt und fasziniert sein: ihm - seinem nüchternen Enthusiasmus für die Demokratie und die Kultur - Respekt und Zuneigung entgegenbringen und Bewunderung für seine Zivilcourage: seinen Mut zur Bürgerlichkeit.
Textnachweise
Skepsis und Zustimmung. Dankrede für den Erwin-Stein-Preis. (Am 7. Februar 1992 in Gießen.) - In: H. Avenarius (Hrsg.): Festschrift für Odo Marquard aus Anlaß der Verleihung des Erwin-Stein-Preises 1992. Frankfurt a. M.: Erwin-Stein-Stiftung, 1992. S. 25-29. Zukunft und Herkunft. Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung. (Vortrag beim Kolloquium»Joachim Ritter und die Philosophie in den Anfängen der Bundesrepublik«, Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg, am 29. November 1989.) In: K. Röttgers (Hrsg.): Politik und Kultur nach der Aufklärung. Festschrift Hermann Lübbe zum 65. Geburtstag. Basel: Schwabe, 1992. S.96-107. Einheit und Vielheit. (Eröffnungsvortrag des 14. Deutschen Kongresses für Philosophie am 21. September 1987 in Gießen.) - In: O. Marquard (Hrsg.): Einheit und Vielheit. XIV. Deutscher Kongreß für Philosophie. Gießen, 21.-26. September 1987. Hamburg: Meiner, 1990. S. 1-10. Zeit und Endlichkeit. (Öffendicher Vortrag der Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland am 4. Oktober 1991 in Bonn.) - In: H. M. Baumgartner (Hrsg.): Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen. Freiburg i. Br. / München: Alber, 1993. S. 363-377. Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes. (Vortrag am 17. Mai 1987 im Hessischen Rundfunk.) - In: U. Schultz (Hrsg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München: Beck, 1988. S. 413-420. Krise der Erwartung - Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes. (Rede zum 60. Geburtstag von Hans Robert Jauß am 12. Dezember 1981 in Konstanz.) - In: Konstanzer Universitätsreden, Nr.139. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 1982. S. 15-37. Loriot laureat. Laudatio auf Bernhard-Viktor von Bülow bei der Verleihung des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor
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Textnachweise
1985. (Am 6. November 1985.) - In: Wilhelm-Busch-J~rbuch 1985. Hannover: Wilhelm-Busch-Gesellschaft, 1986. S. 81-85.
Medizinerfolg und Medizinkritik. Die modernen Menschen als Prinzessinnen auf der Erbse. (Festvortrag bei der Eröffnung des Deutschen Anästhesiekongresses 1989 am 26. April 1989 im Rathaus zu Bremen.) - In: Der Gynäkologe 22 (1989). S. 339-342. Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit. (Vortrag am 12. Januar 1983 im Sender Freies Berlin.) - In: R. Walter (Hrsg.): Von der Kraft der sieben Einsamkeiten. Freiburg i. Br.: Herder, 1983. S. 127-142. Zivilcourage. In memoriam Erwin Stein. (Festvortrag bei der Gedenkfeier für Erwin Stein im Kaisersaal des Römer am 24. März 1993 in Frankfurt a. M.) - Erstveröffentlichung.
Biographische Notiz
Odo Marquard, geboren am 26. Februar 1928 in Stolp (Pommern) 1934-45 Schulbesuch in Kolberg (Pommern), Sonthofen (Allgäu), Falkenburg (Pommern) 1945 Volkssturm und Kriegsgefangenschaft 1946 Abitur in Treysa (Hessen) 1947-54 Studium der Philosophie, Germanistik, evangelischen Theologie und katholischen Fundamentaltheologie sowie kunstgeschichtliche und historische Studien in Münster (Westf.) und Freiburg i. Br. 1954 Promotion zum Dr. phil. in Freiburg i. Br. (bei Max Müller) 1955-63 Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Münster (bei Joachim Ritter) 1963 Habilitation und Privatdozent für Philosophie in Münster Ab 1965 Ordentlicher Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen 1982/83 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 1984 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1985-87 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland Hessischer Verdienstorden 1990 1992 Erwin-Stein-Preis 1993 Emeritierung Dr. phil. h. c. und Schiller-Professur für Philosophie 1994 der Universität Jena
Veröffentlichungen von Odo Marquard Bücher Skeptische Methode im Blick auf Kant. Freiburg i. Br. I München: Alber, 1958. '1982. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. '1992. (stw 394.) Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 1981 Cu. ö.]. (Universal-Bibliothek. 7724.) - Eng!. Ausg. 1990. Poln. Ausg. 1994. Apologie des Zufälligen. Philosphische Studien. Stuttgart: Reclam, 1986 Cu. ö.]. (Universal-Bibliothek. 8352.) - Eng!. Ausg. 1991. !ta!. Ausg. 1991. Poln. Ausg. 1994. Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln: Dinter, 1987. 21988. Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn: Schöningh, 1989. 21994. - Ita!. Ausg. 1994. Glück im Unglück. Normen, Üblichkeiten, Kompensationen. München: Fink, 1995.
H erausgeber/Mitherausgeber Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter und K. Gründer in Verb. mit [...] Odo Marquard [...]. Bd. 1 ff. BasellStuttgart: Schwabe, 1971 ff. [Bisher ersch. Bd. 1-8.] Identität. (Zus. mit K. Stierle.) München: Fink, 1979. (Poetik und Hermeneutik. 8.) Plessner, H.: Gesammelte Schriften. (Zus. mit G. Dux und E. Ströker.) 10 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980-85. Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Medizinethische Probleme. (Zus. mit H. Staudinger.) München/Paderborn: FinkiSchöningh, 1987. (Ethik der Wissenschaften. 4.) Ethische Probleme des ärztlichen Alltags. (Zus. mit E. Seidler und H. Staudinger.) München/Paderborn: FinkiSchöningh, 1988. (Ethik der Wissenschaften. 7.)
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Veröffentlichungen von Odo Marquard
Medizinische Ethik und soziale Verantwortung. (Zus. mit E. Seidler und H. Staudinger.) München/Paderborn: FinkiSchöningn, 1989. (Ethik der Wissenschaften. 8.) Einheit und Vielheit. XlV. Deutscher Kongreß für Philosophie Gießen, 21.-26. September 1987. (Unter Mitw. von P. Probst und F. J. Wetz.) Hamburg: Meiner, 1990.