Odo Marquard
AESTHETICA UND NAESTHETICA Philosophische Überlegungen
Ferdinand Schäningh
Odo Marquard, geb. 1928, aus...
162 downloads
1016 Views
9MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Odo Marquard
AESTHETICA UND NAESTHETICA Philosophische Überlegungen
Ferdinand Schäningh
Odo Marquard, geb. 1928, aus der hermeneutischen Schule kommender Skeptiker und Usualist, ist ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Gießen. Er erhielt 1984 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Wichtigste Veröffentlichungen: Skeptische Methode im Blick auf Kant, 1958 e1982); Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 1973 e1987); Abschied vom Prinzipiellen, 1981 (41987); Krise der Erwartung Stunde der Erfahrung 1982; Apologie des Zufälligen, 1986; Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, 1987.
Der Band vereinigt die ästhetischen Überlegungen eines Denkers, der weithin als »der geistreichste philosophische Schriftsteller der Gegenwart« (Johannes Gross im FAZ-Magazin) bezeichnet wird. Was ist Kunst, daß sie Gegenstand einer Ästhetik werden kann? Warum wird sie das erst in der nachkantischen Moderne? Was war die Philosophie des Schönen und der Kunst, bevor sie zur Ästhetik wurde? Warum wurde sie zur Ästhetik erst in jenem Augenblick, wo »die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes« (Hegel) zu werden scheint? Warum tritt die Ästhetik stets als »doppelte Ästhetik« auf? Wie verhält sie sich zur Geschichtsphilosophie? Was bedeutet der »Hang zum Gesamtkunstwerk«? Was kommt nach der Postmodernen? Odo Marquards Überlegungen erörtern grundlegende Fragen der Ästhetik. In ihrer Tendenz arbeiten sie an einer Kompensationstheorie des Ästhetischen. Marquards These: Das Ästhetische kompensiert den eschatologischen Weltverlust.
ISBN 3 506 76533 7
Odo Marquard
AESTHETICA UND ANAESTHETICA Philosophische Überlegungen
Wilhelm Fink Verlag
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http; Ildnb.ddb,de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen W"ie-edcrgabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfähigung ~ und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Vertahhren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, P)aatten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.
ISBN 3-7705-3750-5 © 2003 Wilhelm Fink Verlag, München (Die 1. Auflage erschien 1989 im Verlag Ferdinand Schöningh)
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn
Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . · . . · · · · · · . · ·
7
AesthetiC2 und Anaestheuca. Auch als Einleitung .............. ·
11
Kmt und die Wende zur Ästhetik ......................... · · ·
21
Zw Bedeutung der Theorie des Unbewußten für ~ine Theorie der meht mehr schönen Kunst ..................................
35
Exile der Heiterkeit ................................. · . · · · · ·
47
Kompensation. überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Proze.5SC' .................................................
64
Kunst als Antiftktion. Venuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive ..............
82
Gesamtkunstwerk und Idcntitätssystem.
überlegungen im Anschluß an Hegels Schcllingkritik . . . . . . . . . . ..
100
Kunst als Kompensation ihres Endes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
113
Anmerkungen Aesthetica und Anaesthctica. Auch als Einleitung . . . . . . . . . .. Kant und die Wende zur Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Zur Bedeutung der Theorie des Unterbcwußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst .......................... Exile der Heiterkeit .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse ........................................ Kunst als Antiflktion. Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive ..........
122 123
13 ~ 144 149 160
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem.
überlegungen im Anschluß an Hegels ScheUingkritik . . . . . . . . Kunst als Kompensation ihres Endes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
162
Nachweise ...............................................
16~
l3iographisch-bibliographische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
163
Vorbemerkung
Was kommt nach der Postmoderne? Ich meine: die Modeme. Die Formel •• Postmodeme" ist entweder eine antimodemistischc oder eine pluralistische Losung. Als antimodemistische Losung ist sie eine gefährliche Illusion; denn die Abschaffung der modemen Welt ist keineswegs wünschenswen. Als pluralistische Losung bejaht sie ein altes und respektables modemistisches Motiv; denn die modeme Welt: das war und ist Rationalisierung plus Pluralisierung. Aktueller als die Fragen nach der Postmoderne sind und bleiben darum gerade auch im Felde des Ästhetischen - die Fragen nach der Modeme, also etwa: was ist Kunst. daß sie Thema einer Ästhetik werden kann und muß? Warum wird sie das erst modem? Was war die Philosophie des Schönen und der Kunst, bevor sie zw Ästhetik wurde? Warum wurde die Kunst - die schöne und die nicht mehr schöne - zum Thema der Ästhetik justament angesichts des nEndes der Kunst"? Warum tritt die Ästhetik wesentlich als "doppelte Ästhetik .. auf? Wie verhält sich das Ästhetische zum modemen Prozess der Versachlichung und zur revolutionären Geschichtsphilosophie? Was bedeutet der "Hang zum GesamtkunstWerk"? Warum ist und bleibt für die modeme Welt das Ästhetische unverzichtbar, die modeme Welt also unausweichlich das Zeitalter des Ästhetischen? Diese und ähnliche Fragen werden in den Aufsätzen dieses Buches erönert. Es handelt sich hierbei um acht Aufsätze, die in den dreißig Jahrcn zwischen 1959 und 1989 zu verschiedenen Anlässen entstanden sind. Durch den 19~9/60 geschriebenen Vonrag .. Kant und die Wende zur Ästhetik" blieb ich an der Universität. Durch die 1966 für ihr drittes Kolloquium verfaßte Vorlage .,Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für ein~ Theorie der nicht mehr schönen Kunst" kam ich zur Forschungsgruppc "Poetik und Hermen~utilcu. Diese bciden Arbeiten waren - im Felde der Ästhetik - Vorübungen: sie venreten Positionen, die ich inzwischen überwiegend kritisch sehe; doch waren sie nicht nur für mich selber wichtig, sondern auch wirksam: darum sind sie hier abgedruckt. Der 1974 für das siebte Kolloquium der nP~tik und Hermeneutik .. fonnuliene Beitnlg "Exile der Heiterkeit dommentien eine Kurskorrektur: er löste - zugun$len der Kunst - die Verbindung von Kunst und Revolution. Die zwischen 1975 und 1977 geschriebene und in der zweiten KoUoquiensequenz der Studiengruppc "Theorie der Geschichte" dislrutiene Abhandlung "Kompensation - Überlcgungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozcssc" U
8
Vorbemerk:ung
untersucht begriffsgeschichdich die für meine weiteren Überlegungen wichtige Kategorie der "Kompensation" . Beiuäge zu einer Kompensationstheorie des Ästhetischen sind die 1979 für das zehnte Kolloquium der "Poetik und Hermeneutik" entstandene Arbeit "Kunst als AntifIktion - Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive" , der 1982 für den Katalog von Harald Szeemanns Ausstellungen "Der Hang zum Gesamtkunstwerk" ausgearbeitete Beitrag "Gesamtkunstwerk und Identitätssystem - überlegungen im Anschluß an Hegels Schellingkritik" und der 1980 für Willi Oelmüllers "Kolloquium Kunst und Philosophie I" geschriebene Text "Kunst als Kompensation ihres Endes", zu dem ich jetzt Anmerkungen hinzugefügt habe. Die Einleitung "Aesthetica und Anaesthetica" schließlich wurde von mir 1986 für dieses Buch geschrieben und - da ich eine Variante inzwischen zweckentfremdet hatte - 1989 überarbeitet und ergänzt. Drei Texte von mir zur Ästhetik konnten nicht in dieses Buch aufgenommen werden: erstens die überlegungen zur Ästhetik aus meinem 1960 -1962 geschriebenen und erst 1987 beiJürgen Dinter in Köln erschienenen Buch "Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse" (don vor allem 131- 209 und 3~~ -427); zweitens der 1%2 entstandene Text "Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19.Jahrhundens", der in meinem Buch "Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie" (Frankfun: Suhrkamp, 1973 bzw. - als stw 394 - 1982) 82 -106 und 185 - 208 abgedruckt ist; drittens mein 1981 bei der akademischen Feier des 60. Gebunstags von Hans RobenJauß in Konstanz gehaltener Vortrag "Krise der Erwanung - Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modemen Erfahrungsverlustes " , der als N r. 139 der Konstanzer Universitätsreden 1982 im U niversitätsverlag Konstanz erschienen ist. All diese Arbeiten zur Ästhetik sind - wie gesagt und nun gezeigt Gelegenheitsarbeiten. Dennoch betreffen sie ein für mich philosophisch ungemein wichtiges Feld, weil ich - wie ich es in der autobiographischen Einleitung zu meinem Buch "Abschied vom Prinzipiellen" formulien habe - durch die Ästhetik zur Philosophie gekommen bin: "auf dem Weg über die Ersatzbegeisterung an der Kunst - dem Versuch, durch Töne, Bilder, Wone die Wirklichkeit aussehender zu machen als Verlockung zum .Lebenbleiben - und ihrer Verführung, sich gerade nicht zu verwirklichen, sondern zu vermöglichen: also über das Ästhetische." Dabei hat die ÄsthetikVorlesung, dieJoachim Ritter ab 1948 in Münster hielt, meine überlegungen zur Ästhetik entscheidend bestimmt, auch wenn ich schließlich zu Ergebnissen gekommen sein mag, die ich auf meine eigene Kappe zu nehmen habe. Nächst Joachim Ritter und seinem "Collegium Philosophicum " bin ich wohl am meisten den Anregungen verpflichtet, die ich durch die Gruppe "Poetik und Hermeneutik" erhielt, und also ihrem Schrittma-
Vorbemerkung
9
cher Hans RobenJauß. auch wenn dieser für Kompensationstheorien - um es vorsichtig awzudrücken - nicht eben schwärmt. Die Ergebnisse der acht zu diesem Buch zusammengesteUten Tene aber konvergieren - denke ich - am meisten gerade in einer Kompensationsmesc: die ästhetische Kunst und die philosophische Ästhetik werden spezifisch modem nötig und wirklich als Chancen. den Realitätsverlwt. ohne den die modemen Versachlichungen nicht zu haben sind. und den Realitätsverlust. zu dem die modernen Utopisierungen führen. durch Realitätsgewinne wettzumachen (zu kompensieren). die jene merkende Vernunft erzielt. die die ästhetische Kunst und ihre Erfahrung ist. so daß gilt: je moderner die modeme Welt wird. desto unvermeidlicher wird das Ästhetische. Im übrigen muß ich es dem Leser überlassen. welchen Gebrauch er von den hier abgedruckten Tenen macht: ob er sie als Aesthetica nutzt. als Mer1chilfen. oder als Schlummermittel. als Anaesthetica.
Aesthetica und Anaesthetica Auch als Einleitung
George Bernard Shaw. als er in der Zeitung seine Todesnachricht las. telegC2phiene an die Redaktion: Nachricht von meinem Tod nark übertrieben. Ähnlich verhält es sich mit der Nachricht vom Tod des Ästhetischen: sie ist gleichfalls - ollndestens - nark übenrieben. Es stimmt einfach nicht. daß wir im nachästhetischen Zeitalter leben; und so ist denn dieses Buch - das Buch eines skeptischen Antieschatologen - eines mit Sicherheit ganz und gar nicht: eine Philosophie der nachästhetischen Kunst. Und es stimmt zugleich auch nicht. daß wir in der Postmoderne leben; und so ist denn dieses Buch - das Buch eines Moderrutätstraditionalisten - eines mit Sicherheit ganz und gar: die Behauptung der Resistenz der Modeme gegen die Postmoderne und die Veneidigung des ästhetischen Zeitalters gegen den Antimodemismus. speziell den futurisienen Antimodemismus. Im übrigen ist dieses Buch mancherlei; und einiges darüber muß - da man bei Büchern (schon. um sie nicht lesen zu müssen) stets eine Einleitung erwanet - hier einleitend gesagt werden. Das soU unverzüglich geschehen; und es beginnt naheliegenderweisc mit einigen Bemerkungen zur Überschrift. Die Ausdrücke .. Aesthetica" und .. Anaesthetica" sind hier zur Titelformulierung - zur Titelformulierung dieses Buches und zur Titelformulierung dieser seiner Einleitung - zusammengefügt. Damit will ich - insofern ist diese Titelformulierung durch den Doppelsinn des Alpha privativum bei den .. Anaesthetica" gewoUt doppeldeutig - auf zwei ganz verschiedene Dinge hinaus. Erstens: dieses Buch - darum enthält es neben Aesthetica Anaesthetica: neben Texten über die Kunst auch Texte über jene Wirklichkeit. die nicht Kunst ist - widersetzt sich der Ausschließlichkeit ästhetischer Immanenz. Ästhetische Immanenz ist wichtig; doch ebenso wichtig ist es. zu sehen. daß das. was nicht das Ästhetische ist. für das Ästhetische wichtig ist. Zwar ist Kunst - gerade modem. geC2de ästhetisch - stets Anrwon auf Kunst; doch zugleich ist Kunst - und das gilt in besonderem Maße für den modemen Prozeß ihrer Ästhetisierung: der Erringung ihrer Autonomie - Antwon auf das an der Wirklichkeit. das selber nicht Kunst und nicht ästhetisch und in diesem Sinne an-ästhetisch ist. Darum gehön zur philosophischen Ästhetik der nichtästhetische Blick auf die Wirklichkeit: zu den Aesthetica gehören ~ls notwendige Ergänzung und Fundierung - Anaesthetica.
12
Aesthetica und Anacs:thetic:
Zweitens: dieses Buch - darum handelt es zugleich von Aesthetic:a une Anaesthetica - warnt vor der Gefahr des Umschlags des Ästhetischen in d~ Anästhetische: vor der Verwandlung von Sensibilität in Unempfmdlichkeit von Kunst in Betäubung. Vor allem dann, wenn die ästhetische Kunst kunstgrenzvergcsscn - die ganze Wirklichkeit in den Traum und Rausch dei Kunst hineinzieht und gewissermaßen die Wirklichkeit durch Kunst ersetzt dann ist das nicht mehr nur Ästhetisierung der Kunst, sondern Ästhetisie rung der Wirklichkeit selber. Das ist nicht gut, denn das ist - durch dies( Ästhetisierung der Wirklichkeit - die Anästhetisierung des Menschen. Au! Aesthetica werden - gefährlich - Anaesthetica. Zu all diesem formuliere ich in der Einleitung nur einleitende Bemerkun· gen, und zwar in folgenden drei Abschnitten: 1. Ästhetisierung der Kunst 2. Ästhetisierung der Wirklichkeit; 3. Nach der Postmoderne. 1. (Ästhetisierung der Kunst). - Nicht immer war die Kunst ästhetisch(
Kunst; und nicht immer brauchte und hatte die Philosophie eine Ästhetik um die Kunst - die schöne und die nicht mehr schöne - philosophisch ZUI Autonomie zu ermuntern. Ganz im Gegenteil: dies alles ist eine durchau! modeme Angelegenheit. Man kann das an den Initialdaten der Ästhetil ablesen: erst 1no erscheint Baumgarrens "Aesthetica" , die eme philO5Ophi. sche Ästhetik; und em 1790 - durch Kants "Kritik der Uneilskraft" stand fest, was 1781 in Kants "Kritik der reinen Vernunft" noch nicht fes1 stand: daß nicht jede "Sinnenlehre" , sondern nur die Philosophie dei schönen Kunst, Ästhetik heißt, die em ab 1800 - bei Schelling schließlich durch seine Vorlesungen zur "Philosophie der Kunst" (1802 - 1805) vorübergehend zur regierenden Hauptphilosophie wurde. Das ist die philo. sophische Bekräftigung jenes Vorgangs, den ich hier Ästhetisierung dei Kunst nenne: daß das Schöne zur Sache der Kunst wird; daß die Kunst ZUI Sache der Sinnlichkeit wird; daß also die schöne Kunst zugleich autonom und zur Sache des Genies wird. Aber warum geschah das alles em modem; Ich sympathisiere mit vier Thesen - die - miteinander kompatibel und möglicherweise konvergent - auf diese Frage zu antwonen versuchen. - D~ ist: These 1: die Ästhetisienmg rier Ku"st ilompensiert - als spezifIsch modeme Rettung der zauberhaften Züge der Wirklichkeit ins Ästhetische die motleme "E"l%IIuberu"g" der Welt (Max Weber); justament deswegel1 ist die Ästhetisierung der Kunst ein Phänomen gerade und nur der modernen Welt. In der Welt davor - insbesondere antik - war die schöne Kunst "Kunstreligion" (Hegei) bzw. Religionskunst: Element des Kults, der d~ Seiende rühmte. Vormodern war das Schöne vor allem das Seiende: d~ Gegebene, das vornehmlich die Vernunft vernahm. Vorästhetisch - insbesondere in der antiken Philosophie - war darum die Philosophie des Schö-
Auch als Einleitung
13
nen keine Philosophie der Kunst und die Philosophie der Kunst keine Philosophie des Schönen; denn das Schöne - als das Seiende - konnte gerade nicht das - durch Kunst - Gemachte sein. Modem aber wird das anders: die Welt - indem sie zugunsten der alleinsakralen Unantastbarkeit des biblischen Alleingottes selber auf sakrale Unantastbarkeit verzichten mußte und dadurch zum Material für das menschliche Machen entzauben wurde - wird nun aus dem gegebenen Seienden zum menschlichen Anefaltt: zur wissenschaftlichen Experimentalwelt , zur technischen Produktionswelt, zur kommerziellen Geld- und Warenwelt, zur politischen Staats- und Reformwelt . Die Welt hön so auf. die seiende - die primär gegebene - und aus diesem Grund schöne Welt zu sein. Darum ist in der modemen Welt das Schöne entweder das Vergangene oder muß selber erst - und das gilt sogar für das "Naturschöne" - durch menschliches Machen. durch Kunst, in diese Welt hineingebracht werden und dabei - weil inzwischen die Vernunft zur experimentellen. technischen, kommerziellen und politischen Vernunft neutralisien wurde - durch eine Alternative zur Vernunft, darum sensibel durch Sinnlichkeit, gemerkt werden. So wird die schöne Kunst ästhetisch; sie emanzipien sich aus dem Kult und wird autonom; und die Philosophie des Schönen wird zur Philosophie der Kunst, die Philosophie der Kunst wird zur Philosophie des Schönen: zur Ästhetik. So kommt es gerade und nur modern - zur Ästhetisierung der Kunst. - Da ist: These 2: die kthetiJienmg der KII"st ~ompe1lSiert - als ästhetisches Festhalten der Kunst gegen ihr Ende - de" eschlllologische" freitflerillst; juswnent deswegen ist die Ästhetisierung der Kunst ein Phänomen post Christum natum, also grundsätzlich ein modemes Phänomen. Die gnostische Obenreibung der biblischen Eschatologie negien die Welt: sie betreibt - im Namen des Erlösergottes, der als Weltrichter die vorhandene Welt verwirft - das Ende der vorhandenen Welt, ihres Schöpfers und ihrer Kunst. Darum mußte die Kunst sich schließlich vom Religiösen freimachen, und es mußte - was niemals zuvor geschehen war - die Kunst die Bedingung der Autonomie auf sich nehmen. um Kunst zu bleiben und das Schöne der vorhandenen Welt gegen ihre Negation in die Kunst zu retten. Dieses Pensum wiederholt sich - zugespitzt - modem. Die modeme Form der erlösungseschatologischen Weltnegation ist die revolutionäre Geschichtsphilosophie: sie tribunalisien die vorhandene Welt, d. h. macht ihr - freilich jetzt nicht mehr gnädig wie einst der gnädige Gott - nunmehr gnadenlos das Gericht zugunsten einer ganz anderen - vermeintlich heilen - zukünftigen Welt. Aber diese Tribunalisierung - die modeme Radikalform des Weltgerichts - ist menschlich nicht lebbar: so provozien sie indirekt den Ausbruch der Menschen in die Unbelangbarkeit, dessen Form die ästhetische Kunst ist. Die Ästhetisierung der Kunst: sie ist Entlastung vom Weltgericht und insofern profan in etwa das. was christlich die göttliche Gnade war:
14
Acsthetica und Anaesthetic
ein Gnadenstand unter Bedingungen der nicht mehr eschatologischen Welt - Da ist: These 3: die Ästhetisierung der Kunst gehört tJls Mome"t zum - spezi fISCh modemen - Prozeß der E"tiJbelu"g der Obef; justament auch deswe gen ist die Ästhetisierung der Kunst ein Phänomen gerade und nur de modernen Welt. nämlich ein Vorgang. der durch die modeme Theodizel beforden wurde. Gerade die Neuzeit muß - als "zweite Überwindung de Gnosis" (Hans Blumenberg1 ) - unter verschärften Bedingungen angesicht der Übel der Welt den Nachweis der Güte Gottes dwch Nachweis der Gütl der Welt führen; wo der klassische Optimismus der Leibniztheodizee dabe nicht mehr gelingt. wird zu einem entscheidenden Posten im philosophi schen Gottesveneidigungsctat dann das Argument. daß die Übel so übe nicht sind: die Übel werden - durch diesen modemen Zwang zur Theodizel - zu verkannten Bonitäten. die rehabilitien werden müssen und rehabili tien werden. Das gilt - in bedeutendem Umfang - für alle Sonen de Übels. So werden modern - unter Theodizeedruck - entübe1t: das gnoseo logische Übel (es macht - z. B. im Fiktionalismus - der Irnum modem einl steile Positivkarriere); das physische Übel (es promovien modem z. B. zun Kreativitätsstimulans); das moralische Übel (weil - z. B. für Rousscau une Nietzsche - die Kultur das Gute - das Natürliche und Starke - zum Bösel umlügt. wird es aus dieser Verbösung des Guten durch Entbösung des Bösel befreit); das metaphysische Übel (es kommt zur Positivkarriere der eigenau thentischen Endlichkeit: z. B. die Wandelbarkeit wird positivien zur Ge schichte). schließlich das ästhetische Übel: nicht nur verwandelt sich da Unschöne - das vormodem als metaphysisches Übel amtiene - moden rasant zum ästhetischen Positivwen; denn neben die Ästhetik des Schönel tritt zunehmend die Ästhetik des Nichtschönen: des Erhabenen. Sentimen talischen, Interessanten, Romantischen, Symbolischen, Abstrakten, Häßli ehen, Dionysischen, Fragmentarischen, Gebrochenen, Nichtidentischen Negativen; das Unschöne überflügelt das Schöne als ästhetischer Fundamen talwen. Aber diese Positivierung des ästhetischen Übels setzt ihrerseit voraus die Entübelung des Ästhetischen: das traditionell übel gestellte nämlich "inferiore" Vermögen der Aisthesis - Sinnlichkeit - avancier modern zur vermeintlich höchsten (nämlich künstlerischen) Potenz mensch licher Kreativität und Genialität eben durch die Entstehung der Ästhetik die - justament im Augenblick der Krise des Optimismus um 1no in Kontext dieser modernen Entübelung des Übels - auch als Hilfsorgan de Theodizee agien bis hin zum Satz von Nietzsche, "daß nur als ästhetische Phänomen das Dasein der Welt gerechtfenigt ist"), und jedenfalls durd Ästhetisierung der Kunst. - Da ist (besonders waghalsig): These 4: die Ästhetisieru"g der Ku"st isl die - speziftsch modeme Rettu"g der Werkgerechhgkeit u"ter Bedi"gu"ge" des (lutherischen) Prole
Auch als Einleitung
15
justament deswegen - weil dies nur nachreformatorisch möglich war - ist die Ästhetisierung der Kunst ein Phänomen gerade und nur der modemen Welt. Wo die Heilsrelevanz .. guter Werke" dwch das reformatorische ..sola gratia" und .. sola fide" abgewiesen wird. bleibt den guten Werken. um Heilsrelevanz zu behalten. nur mehr die Flucht aus dem religiösen in den profanen Bereich: in das Ästhetische. das ebendarum nicht zufällig im Terrain des Protestantismus - philosophisch zum Thema wurde. und zwar vor allem im Raum des Luthenums. Im Gebiet des Katholizismus brauchte die Werkgerechtigkeit nicht gerettet zu werden; im protestantisch reformienen Gebiet - vor allem im Calvinismus - rettete sich die Werkgerechtigkeit auf kompliziene Weise in die .. innerweltliche Askese" des Kapitalismus (Max Weber·). Wo beide Wege zunächst nicht offenstanden - also im Terrain des lutherischen Protestantismus - mußte das Ästhetische ausdrück.lich erfunden werden, um die Heilsrelevanz der guten Werke zu bewahren; don zuerst - wo die Heilsbedeutung der guten Werke radikal bestritten wurde - mußten die guten Werke aus dem religiösen Territorium in das - ebendafür nun geschaffene - ästhetische Territorium emigrieren, um Heilsrelevanz zu behalten. Dabei wurden die guten Werke zu schönen Werken, eben zu Kunsrwerken: zu guten Werken der schönen und schließlich auch, in der weiteren Enrwick.lung. der ästhetisch .. nicht mehr schönen" - Künste. Durch die Ästhetisierung der Kunst wurden gerade und nur modem - die .. guten Werke" sälrularisien zu guten "schönen Werken": zu ästhetischen KunstWerken. Von diesen vier Thesen habe ich die erste von Joachim Ritter übernommen; die drei anderen - die eben deswegen in der Folge weniger ausgefühn sind - mögen halbwegs originell sein. Alle vier Thesen benennen spezifisch modeme Vorgänge; und diese vier Vorgänge sind - in meinen Augen: den Augen eines skeptischen Modernitätstraditionalisten - zustimmungsfähige Geschichten. Was dabei entstand, ist unverzichtbar; denn die Modeme zu der die ästhetisiene Kunst, also das Ästhetische, unabdingbar gehön ist die bewahrensweneste der uns geschichtlich erreichbaren Welten. sllmlis",IlS;
2. (Ästhetisierung der Wirklichkeit). - Problematisch - als Verkehrung
des Ästhetischen ins Anästhetische - ist nicht die Ästhetisierung der Kunst, sondern die Ästhetisierung der Wirklichkeit. Werkgerecbtigkeit: das meint die Ermunterung vieler Werke, die flankierend zur Erlösung - einige .. Gerechtigkeit" d. h. Erlösung bringen, sozusagen die kleine - die menschenmögliche - Erlösung. So ist auch die sälrularisiene Werkgerechtigkeit - die Fülle der ästhetischen Werke - das Gewimmel vieler Werke; und daß sie - die ästhetisienen guten Werke: die ästhetischen Kunstwerke - viele sind, ist gut: es dient der ästhetischen Gewaltenteilung, der Teilung der ästhetischen Gewalten. Indes: was ge-
16
Acsthetica und Anaesmetica
schieht modem - post Christum natum und nach dem vermeintlichen Tode Gottes - mit der großen Erlösung: jenem göttlich einen - absolut betrachtet: alleinguten - Werk, durch das der menschgewordene Gott Christus die Welt erlöst? Auch dieses absolute Werk - das alleinseligmachende Erlösungswerk des einen Alleingottes - fmdet nachchrisdich (also nach der Aufhebung des christlichen Verbots menschlicher Sdbsterlösung) einen profanen Ersatz; und dieser Ersatz - die menschliche Selbsterlösung durch ein einziges MenschheitsWerk - durchläuft, scheint es, während der üitstrecke der Neuzeit mindestens zwei Stadien: das Stadium der Revolutionierung der Wirklichkeit und das Stadium der Ästhetisierung der Wirklichkeit. Das erste Stadium dieser ersatzhaften Selbsterlösungsveranstaltung der Menschen, die Phase der RetlOlulionierung der Wirldi&h~eit, beginnt in der von Reinhan Koselleck so getauften "Sattelzeit'" um 17~O: es ist die Phase der modemen - der Tendenz nach revolutionären - Geschichtsphilosophie. Sie verbietet - durch "Singularisierung"6 der Geschichte - den Menschen, viele Geschichten zu haben, und erlaubt ihnen - jedem Menschen für sich und allen Menschen zusammen - nur noch, eine einzige Geschichte zu haben 7 : die Geschichte ihrer Selbsterlösung, eben "die" Geschichte, die eine einzige Gesamtgeschichte der Menschheit. Gegen die alten vielen Mythen setzt sie eine neue Mythologie: den Monomythos der Revolutionsgeschichte; und diese Alleingeschichte - meint die revolutionäre Geschichtsphilosophie - wird als menschliche Selbsterlösung von den Menschen nicht mehr schicksalhaft hingenommen, sondern von ihnen - als Menschenwerk - "gemacht". Dieser geschichtsphilosophische Monomythos ist neue Mythologie als Mythologie des Neuen. Sie ist Philosophie des Fortschritts, der gesteigen wird zur Revolution, weil die Geschichte sich am besten dadurch als Alleingeschichte behauptet, daß sie - alle anderen Geschichten als veraltet abhängend - die unüberbietbar neueste Geschichte des unüberbietbar Neuesten wird: die Geschichte des letzten Schritts der Geschichtsvollendung, der endgültig menschheitserlösenden Revolution. Diese Revolution tritt aus dem Aggregatzustand der geschichtsphilosophischen Erwanung und Verheißung erstmals in den Aggregatzustand der Realität durch die französische Revolution. Sie wird - durch diese Revolution und ihre Nachfolger - zum Gegenstand wirklicher Erfahrung, die zeigt: was diese Revolution bringen sollte, die Menschheitserlösung, das bringt sie nicht; sie bringt eher das Gegenteil. So kommt es - als Ende dieser ersten Phase - zur Enttäuschung der revolutionären Naherwanung. Das zweite Stadium dieser ersatzhaften Selbsterlösungsveranstaltung der Menschen, die Phase der Ästhetirierung der Wirldich~eit, beginnt justament unter dem Eindruck eben dieser Enttäuschung der revolutionären Naherwartung. Die Romantik - und ein Hauptgewährsmann dafür ist Schelling, der gleichzeitig, 17978 , frühgrün auf die Natur als Hilfsgeschichte
Auch als Einleitung
17
blickte - rettet den politisch in der Realität gescheitenen Versuch der revolutionären Vollendung und Erlösung der Menschheit in ein ästhetisches Programm. Der Monomythos der revolutionären Gcschichtsvollendung soll sein politisches Scheitern als ästhetisches Kunstwerk überleben: als nelle Mythologie. Dabei bleibt die neue Mythologie Monomythos: Alleingeschichte als Gesamtgeschichte für alle Menschen. wenn auch jetzt ästhetisch. Nichts macht das deutlicher als die Wirkungsgeschichte des Programms der .. neuen Mythologie" von 17969 : sie mündet in die Idee des Gesllmlkllnslwerh. Diese beginnt mit Schellings Identitätssystem - das die gesamte Wirklichkeit zum Kunstwerk erldän - und setzt sich im 19. und 20.Jahrhunden fon meist in panidieren Versionen: im Versuch der Verbindung aller besonderen Kunstformen (Wagner) oder dem Versuch der Zcrstörung aller besonderen Kunstformen (Futurismus und Surrealismus). um - als Realisierung der neuen Mythologie - das Gesamtkunstwerk zur Gesamtwirklichkeit oder die Gesamtwirklichkeit zum Gesamtkunstwerk zu machen. Dabei triumphien die Monomythie: es gäbe - wo der .. Hang zum Gesamtkunstwerk" (Harald Szccmann) radikal würde - nicht allein nur noch eine einzige Alleingeschichte • sondern zugleich auch nur noch ein einziges Alleinkunstwerk. weil angesichts des absoluten Kunstwerks alle anderen Kunstwerke - auch die besonderen Mythen und besonderen Avantgarden - als ästhetische Häresien geächtet und verbannt werden müßten. Jeder Mensch für sich und alle Menschen zusammen dürften dann nur noch dieses eine einzige Kunstwerk haben und leben. und zwar so sehr. daß sie neben diesem absoluten Gesamtkunstwerk - indem es die Grenze von Kunst und Nichtkunst tilgt: eben durch diese Abgrenzungsverweigerung ist es Gesamtkunstwerk - auch keine weitere Wirklichkeit mehr haben dürften; denn dieses totale Gesamtkunstwerk - das (als die absolute Identität von Kunstwerk und Revolution) mit der Wirklichkeit zusammen auch alle Menschen ästhetisch gleichschaltet - wäre die totalitäre Erfüllung des monomythischen Programms der .. neuen Mythologie". Dubios - ich wiederhole es - ist nicht die Ästhetisierung der Kunst. sondern diese Ästhetisierung der Wirklichkeit. die - als die zum einen einzigen Menschenwerk gemachte Selbsterlösung des Menschen - die Revolutionierung der Wirklichkeit fonsetzt: als letzte Stufe dieser Stufenfolge der Ermächtigung der Illusion. bei der das Ästhetische - gefährlich nicht. weil es zu unwirklich. sondern weil es zu wirklich wird - statt zur .. ästhetischen Erfahrung" (Hans Roben Jauß IO ) zum anästhetischen Abschied von der Erfahrung fühn: zur Anästhetisierung des Menschen. Und das - meine ich - ist nicht gut. 3. (Nach der Postmoderne). - Diese anästhetische Ermächtigung der Illusion ist die Gegenneuzeit . Wo nämlich - in der skizzien totalen Weise -
18
Aesthecica und Anacsthetica
das Gesamtkunstwerk und nur noch das Gesamtkunstwerk propagien wird, läuft das - alle modernen Avantgarden überbietend und verneinend hinaus auf die Forderung, die vorhandene Welt durch dieses absolute Kunstwerk zu ersetzen. Die vorhandene Welt aber ist die moderne Welt. Der Versuch, sie zu ersetzen - durch Ersetzung zu negieren - gehön in die Tradition des Versuchs, sich von der Modeme loszusagen und ihr feindlich entgegenzutreten: in die Tradition des Antimodemismlls. Sie berühn sich dadurch zugleich mit einer Losung, die heute als "Gespenst" "umgeht" (Hans Roben )auß ll ): mit der Losung der Postmodeme. Das mag auf den ersten Blick ein wenig paradox anmuten; diese Paradoxie aber - denke ich - milden sich, wenn man aufmerksam wird auf jenen Vorgang, in den schließlich auch die Losung der "Postmoderne" und - vom "posthistoire" über das "Ende der Neuzeit" bis zum "Poststrukturalismus" - aller "Postismen .. gehön, und den ich nenne: die Futllrisierung des Antimodemismlls 12 • Seit Beginn der modernen Welt durchläuft das für die öffentliche Intellektualität jeweils aktuelle Gegenwansverhältnis - grob gesprochen - drei Phasen. Da ist: a) die - promodernistische - Gegenwansbejahung auf Kosten der Vergangenheit. Das ist die Einstellung der klassischen Aufklärung: von Voltaire bis Hegel. Die Gegenwart ist aufgeklän; die Vergangenheit - das Mittelalter - war das noch nicht und also finster, doch das haben wir hinter uns: gut ist die Gegenwart; und die Zukunft ist einzig die Konsequentmachung der Gegenwart mit Hilfe gegenwäniger Mittel. So ist die Gegenwart - die Moderne - schlechthin zustimmungsfähig. Diese Zustimmung der klassischen Aufklärung zur Gegenwart stand am Anfang der Modeme; doch sie wurde wiederholt preisgegeben. Denn da ist: b) die - antimodernistische - Gegenwansvernemung im Namen der Vergangenheit: diese mag nun als vorkulturelle Natur oder als vorchristliche Antike oder als vormodemes Mittelalter bestimmt werden. Das - dieser regressive Antimodernismus - ist die Einstellung der Romantik: von Rousseau über Novalis und Nietzsche bis hin zur heutigen grünen Welle. Für sie ist die Vergangenheit - die vor der Neuzeit, die vor dem Christentum, die vor der Kultur, die vor dem Urknall - strahlendes Vorbild, von dem die Neuzeit abgefallen ist: die modeme Gegenwart entsteht durch Verfall; so muß - gegen diesen Verfall - die moderne Gegenwan negien werden, und die Zukunft kann nur dann gut sein, wenn sie die Wiederkehr dieser guten Vergangenheit ist. Das ist die Position des Antimodernismus von der Vergangenheit her. Aber dieser Antimodernismus ist wandlungsfähig. Denn da ist schließlich : c) die - antimodemistische - Gegenwansverneinung im Namen der Zukunft. Das ist die Einstellung des futurisienen Antimodernismw: ihr Protagonist war Fichte mit seiner Diagnose der Gegenwart als Zeit der
Auch als Einleitung
19
"vollendeten Sündhaftigkeit"u. Die wirkungsvollste Gestalt dieses Bündnisses von Antimodernismus und Fonschrittstheorie ist die revolutionsphilosophische Entfremdungskritik an der bürgerlichen Gesellschaft durch Marx, deren Varianten das heutige Denken weithin beeindrucken: die modeme Gegenwan - als Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, als Ära der kapitalistischen Ausbeutung, als technokratische Entfremdungsepoche, als Periode der Krise durch Wachstum und der Kriegsgefahr durch Friedensvorsorge, als sonstwie zu beendende Neuzeit - wird nicht mehr durch eine heile Vergangenheit in Frage gestellt, sondern durch eine als heil verheißene Zukunft: die der klassenlosen Gesellschaft oder sonstwie alternativer Formen der Nachmodeme. Auch dieser geschichtsphilosophische Angriff auf die vorhandene Welt im Namen der Zukunft ist ein Antimodernismus 14 : der futurisiene Antimodernismus . Das Programm der "Postmoderne" gehön zu diesem futurisienen Antimodernismus, bei dem inzwischen die Modeme selbst dann nicht mehr gut wegkommt, wenn ihr keine erlösende Zukunft entgegengehalten werden kann. Man tritt jetzt gegen die Moderne nicht mehr im Namen einer bestimmten heilen Zukunft an, man tritt nur noch gegen die Modeme an, so daß der wichtigste Erfolg schon darin gesehen wird, die Moderne hinter sich zu haben oder sie hinter sich haben zu wollen: das Programm der Postmo-
derne ist die Schwundstufo des futurisierten AntimorJemismus. Aber - so scheint es mir - die Postmoderne IIIs Programm ist I4ngsl dementiert durch die Postmodeme IIIs rellie Kunstform; denn deren auffälligstes Kennzeichen - der Stilpluralismus - ist eine Angelegenheit ganz und gar nur der Modeme: nämlich die Wiederkehr des Historismus in jenem flO de si~cle, das zugleich flO de millenaire ist. Die tatsächliche Postmoderne IIIs rellle KUnJtgestlllt ist Neohistorismus und insofern das Ergreifen einer genuinen Möglichkeit gerade der Modeme. Daraus folgere ich als These: das, was nlUh der Postmoderne ~ommt und I4ngst wiedergdommen ist - ist die Modeme. Die Postmoderne lebt ästhetisch - wie jeder ästhetische Ansatz des Antimodernismus - allein durch ihre Inkonsequenz. Jeder Antimodernismus - der regressive, der revolutionäre, sogar der des total gemachten Gesamtkunstwerks - negien das Ästhetische d. h. häretisien die autonomen Kunstwerke. Wo man sie gegen die Grundtendenz des Antimodernismus - festhält, gilt das als modernistischer Verrat. Ich plädiere dafür, diesem Verrat das schlechte Gewissen zu nehmen, indem man die Zustimmung zur Modeme reaktivien. Das bedeutet außerästhetisch: moderat zurückzukommen auf die Tradition der ersten - der promodernistischen - Phase der Einstellung zur modemen Welt: auf die der bürgerlichen Auflclirung, und zwar durch etwas heute sehr Unpopuläres: durch Zustimmung zur eigenen Bürgerlichkeit, auch zur eigenen Bildungsbürgerlichkeit.
20
Aesthetica und Anaesthetica
Das bedeutet zugleich ästhetisch: resistent zu werden gegen antiästhetische Affekte, denn sie sind antimodernistische Affekte. Das Ende der ästhetischen Kunst ist nicht die Definition, sondern das Gegenteil der Modeme: die Modeme - als ästhetisches Zeitalter - ist gegen das Ende der Kunst erbaut. Denn die modeme Welt braucht - als Kompensation ihrer Entzauberungen - das Ästhetische in der Form der autonomen Kunst. Freilich kommt es von Anfang an zum Streit zwischen der Ästhetik des Gelingens des vorhandenen Ästhetischen (des Schönen, Naiven, Klassischen, Apollinischen usf.) und der Ästhetik des Scheiterns des vorhandenen Ästhetischen (des Erhabenen, Sentimentalischen, Romantischen, Dionysischen usf.): von der "Querelle des anciens et des modemes" bis zur Opposition von Akademie und Avantgarde. Die spezifisch modeme Dauerschlichtung dieses Streits - Hans Roben Jauß hat das gezeigt" - ist der historische Sinn und der Historismus: modem hat eben nicht eine einzige Kunstform recht, sondern - relativ - recht haben viele oder gar alle Kunstformen . Das diese Pluralisierungen des Ästhetischen - ist jenes "postmoderne" Motiv, das nicht nlJ&h der Moderne, sondern von Anfang an in der Moderne wirksam war und ist. Dieses Motiv ästhetischer Pluralisierung gehön zu jenem Pluralisierungspotential, das in der modemen Welt den Prozeß ihrer Rationalisierung - die stets zur Universalisierung tendien - kompensien. Die moderne Welt: das ist Rationalisierung plus Pluralisierung. Nur beides zusammen macht sie zustimmungsfähig. Dabei betont der Skeptiker die Pluralisierung. Denn Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung, für die Teilung jeglicher Alleingewalt in Gewalten: vom Zweifel - der Gewaltenteilung der Überzeugungen - über die politische Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind. 16 Sie schützt jeden Menschen - durch die jeweils anderen Wirklichkeiten - vor dem Alleinzugriff einer einzigen Wirklichkeit und gibt ihn dadurch frei zur je eigenen Individualität. Dazu gehön auch die iislhe#sche GeUNIIlenleil,mg: die Möglichkeit, viele und bunte Kunstgestalten zu haben. Sie schützt vor dem absoluten Alleinkunstwerk durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Kunstformen, Kunststile, Kunstwerke und ihre Deutungen sind, und ermöglicht so den modemen Menschen auch ästhetische Individualität. Das ist dann keine Abschaffung der Moderne, sondern justament ihr Gegenteil: die Veneidigung der modernen - bürgerlichen - Welt gegen den antimodernistischen Angriff auf sie. Es kommt darauf an, jene Postmoderne, die - antimodernistisch - die Moderne hinter sich haben will, hinter sich zu haben: nach der Postmoderne kommt die Modeme. Dafür braucht die modeme Welt - als Kompensation ihrer fonschreitenden Rationalisierung - auch und gerade und immer mehr die Pluralisierungskraft der ästhetischen Kunst: je moderner die modeme Welt wird, desto unvermeidlicher wird das Ästhetische.
Kant und die Wende zur Ästhetik l
1. Von Kam soll die Rede ~in, und zwar nicht vom Wissenschaftstheoretiker Kam (den die Marburger Schule am gründlichsten und vielleicht auch stimmigsten interpretien hat)2, nicht vom vermeintlichen Fundamentalontologen Kam (wie Heidegger ihn einse - und heute nicht mehr4 - zu ~hen versuchte). nicht vom sozialphilosophischen Revolutionär Kant (den vor nicht allzulanger Zeit Lucien Goldmann in einem eindrucksvollen Buch' im Anschluß an linkshegelsche Ansätze erneut analysien hat). und auch nicht von Kant. dem Bewahrer der metaphysischen Tradition (dem von Paul~n6 über Heimsoeth 7 bis zu Krüger' und darüber hinaus bedeutende Interpreten9 nachgegangen sind). sondern es soll die Rede ~in von dem Kam. der der Wende zur Ästhetik vorgearbeitet hat. 2. Di~ Wende zur Ästhetik ist ohnehin eine denkwürdige Angelegenheit.
Denn daß nach mehreren Anläufen - zu nennen sind etwa Gracian. Vico. Shaftesbury. Baumganen - vor allem seit der Mitte des 18.Jahrhunderu eine philosophische Ästhetik. eine Lehre vom Schönen. vom Künstler und der Kunst sich entwickelt. 'o bedeutet ja nicht nur. daß die Philosophie ein neues und reiches Spezialgebiet entdeckt hat und nun .. auch" mit der Kunst. dem Gefühl. der Phantasie, dem Geschmack. dem Genie. mit der Innerlichkeit schöner Seelen und erhabener. tragischer oder ironischer Gemüter. mit dem Erlebnis und dem Ausdruck. der Inspiration und den Formzwängen, mit dem Schöpferischen und ~inen Depressionen. mit der Langeweile. mit der Schwermut sich befaßt. Entscheidend ist ja vielmehr dies: die Philosophie solcher vermeintlich .. speziellen" Phänomene hat eine durchaus .. universelle" Absicht. Sie deutet die Kunst nicht. um die Kunst. sondern. um die Welt zu verstehen. Und sie deutet den Künstler nicht. um den Künstler. sondern. um den Menschen zu verstehen. Denn - das ist ihre Überzeugung - nicht mehr am Wei~n oder Heiligen. also im theologischen Blick auf Gott. aber auch nicht am Forscher. also wissenschafts-philosophisch. und auch nicht am Bürger. also geschichtsphilosophisch. sondern am künstlerischen .. Genie". d. h. ästhetisch sieht man. was der Mensch ist. Das Entstehen dieser Überzeugung ist gemeint. wenn von der Wende zur Ästhetik die Rede ist. also dies: daß die Äslhell'll seit Ende des 18.}flhrhunderls und dem Anspruch nllCh bis heUle zur dienslhflbenden Fundamenlfllphilosophie wird. Als Fundamentalphilosophie ist die Ästhetik verstanden worden von den großen Ästhetiken. von Schillers ästhetischen Schriften". von der Künstlerverklärung der Romantiker 12 • von der in mehreren Ansätzen vor
22
Kam und die Wende zur Ästhetik
sich hin resignierenden Ästhetik Friedrich Theodor Vischers lJ , vielleicht auch von der pessimistischen Erlösungsästhetik Schopenhauers '4 , sicher aber von der .. Anistenmetaphysik" des jungen Nietzsche U , und ebenso von der psychologisch-historischen Erlebnisästhetik Diltheys '6. Und als Fundamentalphilosophie wird die Ästhetik kritisien von den großen Romantik- und Ästhetik-Kritikern, von Hegd 17 , von Kierkegaard 11 , vom späteren Nietzsche '9 • Also davon ist hier die Rede, wenn von der Wende zur Ästhetik die Rede ist: daß die Ästhetilt seit Enrie ries 18.}llhrhunrierts und dem Anspruch
nll&h bis heute zur diensthllbenrien FundamenllJJphilosophie wird. Wie kommt es dazu? Wie kommt es zu dieser Wende? Diese Frage deren Formulierung und Erönerung hier an Untersuchungen J. Ritters 20 anschließt - diese Frage hat eine besondere Schärfe, denn die Wende zur Ästhetik bedeutet für die Philosophie einen Bruch mit mindestens einer ihrer stärksten Traditionen. Seit ihrer Frühzeit - zu denken ist nicht nur, aber vor allem an Platon 21 - neigt Philosophie zur Künstlerkritik. Sie kritisien Künstler und Dichter. Sie verklagt die Kunst als Euthanasie der Wahrheit und den Dichter als Menschen, der dichtet, anstatt zu sein. Und jetzt - scheinbar plötzlich - distanzien sich Philosophie von dieser Kritik. Jetzt verzichtet sie auf die traditionelle Künstlerkritik. Jetzt lobt sie den Menschen, der dichtet, um zu sein. Jetzt inthronisien sie die Kunst. Jetzt huldigt sie der Dichtung. Jetzt verklän sie das sogenannte .. Irrationale" und verleugnet ihre traditionelle Bindung an die Vernunft. Warum? Dazu kommt es nicht von ungefähr und aus Versehen. Dazu korDJnt es auch nicht durch eine Künstlerverschwörung, weil die Künstler die Philosophie unterwandern zwecks Herauflobung ihres Metiers. Das hat tiefere und realere Gründe, und danach muß gefragt werden. Warum dieser philosophische Vorrang der Ästhetik?ll Wie kommt es dazu? Wieso wird für den Menschen und seine Philosophie zu einer bestimmten Zeit die Ästhetik nötig? Wozu braucht er sie? Kurz: Wozu Ästhellll?~ 3. Das also ist die Frage, die hier zur Debatte steht. Wer an eine Philosophie diese Wozufrage richtet - wozu diese Philosophie? wozu Ästhetik? wozu Wissenschaftsphilosophie? wozu Geschichtsphilosophie? - wer eine Philosophie mit dieser Wozufrage quält, der sieht sie in besonderer Weise. Er nimmt sie nicht als Fundus immergültiger Aussagen - weder, daß er all das und vielleicht sogar nur das, was diese Philosophie sagt, für ein-für-allemal wahr hält, noch, daß er Zeitliches und Überzeitliches an ihr scheidee4 und jenes ins Kröpfchen der Historie, dieses ins Töpfchen der Systematik tut. Er nimmt sie anders. Wie? Eben durch Beantwonung der Wozufrage. Das .. Wozu?" - offenbar verweist es auf ein .. Dazu", auf einen Zweck; und die Wozufrage prüft das Befragte auf seine Beteiligung an der Erreichung dieses Zwecks. So scheint eine wozufragende Interpretation die befragte Philoso-
Kant und die Wende zur Ästhetik
23
phie als guten oder schlechten Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung des Geschichtssinns. des Geschichtsziels zu verstehen. Freilich: wo sie das will, müßte der Interpret das Geschichtsziel kennen. Was aber, wenn das nicht der Fall ist? Was soU er tun, wenn er dieses Geschichtsziel nicht kennt ?2) Dann ist er gezwungen, eine noch andere, verbleibende Möglichkeit des wozufragenden Deutens zu suchen. Wer das Ziel nicht kennt, kennt doch vieUeicht einen Ausgangspunkt, also nicht das wohin die Geschichte will, sondern das, wovon sie weg will; und es ist möglich, eine Philosophie im Blick auf dieses "Wovonweg" , "Worausheraus" , auf diese relative Ausgangslage, der sie entgehen will. von der sie wegkommen will. zu interpretieren. Eine solche Deutung nimmt also die betreffende Philosophie als Ausweg. 26 Interpretieren lind Philosophieren wirdfür sie ZII einem GesprlJch über die Allswege. In den Zusammenhang dieses Gesprächs gehön die Wozufrage , die hier gemeint ist. Und wer durch diese Frage eine Philosophie in die RoUe eines Panners im Gespräch über die Auswege zwingt (wie ich das hier tun möchte), der nimmt sie also in der Tat in besonderer Weise - und das sollte zugleich bedeuten: er nimmt sie in besonderer Weise ernst. 4. Wo Philosophie und philosophische Interpretation das Gespräch über die Auswege ist. da muß sie sich für die Situation interessieren, die Auswege nötig macht. Und wenn Philosophie zugleich Rede übers "Allgemeine" ist und "jedermann notwendig interessieren" soll, 27 dann muß es sich dabei schon um eine sehr allgemeine Situation handeln. Solch eine allgemeine Situation ist die modeme Situation des Menschen. Einige Philosophen und Theologen haben - nicht ohne dabei Kritik zu erdulden - diese Situation als "Emanzipation", als Lösung des Menschen aus seinen überliefenen religiösen Bindungen gedeutet/8 und ich möchte ihnen darin hier folgen. obwohl man schwerlich wird bestreiten können, daß diese Deutung ihre Schwierigkeiten hat. Es sei hier eine kurze und grobe Skizze versucht. Ein wichtiger Emanzipationsschritt scheint der zu sein. daß im ausgehenden Mittelalter Theologie und Philosophie sich trennen. Theologie und Philosophie entfremden sich. Glaube und Vernunft leben sich auseinander. Und wenn anders Vernunft die vielleicht einzige Bedingung ist, unter der "die Welt" in einer positiven Weise ins theologische Denken eingebracht werden kann, dann bedeutet das: durch die Lösung der Vernunft aus dem theologischen Denken wird die Welt in gewisser Weise theologisch unbegreiflich. Ihr wird die Möglichkeit genommen, sich theologisch zu verstehen. So formien und formulien sie sich der Tendenz nach theologiefrei, d. h. profan. 29 Die. oder richtiger: eine wesentliche Folge davon ist das. was man die EntZllllherung des Interessendenkens nennen kann. und die ich als Grundzug dieser Situation hervorheben möchte. Die Welt wird offen die Welt der entzaubenen und enthemm-
24
Kant und die Wende zur Ästhetik
ten Bedürfnisse und Interessen. die .. sinnliche" Welt der rivalisierenden Individuen und Gruppen. des Dranges zur Macht. der Angst vor den anderen und der Sorge ums Überleben. Lobend gemeinte Kategorien für diese Lage wie die des Konkurrenzkampfs und ihre übersetzung ins Biologische - Kampf ums Dasein - können kaum verschleiern: der Gesellschaftszustand der extremen. vollendeten Emanzipation wäre identisch mit dem Kampf aller gegen alle. mit dem Naturzustand des Hobbe~. Das Unbehagen an diesem Zustand treibt in den .. Staat um jeden Preis" • das Unbehagen an diesem in die "Freiheit um jeden Preis": zur Entzauberung der Interessenwelt gehön die Wechselwinschaft zwischen Anarchie und Diktatur. Eine Lage. wird man sagen. eine Situation. die nicht ohne Schwierigkeiten ist: eine Sitllat;on der Hilfertlfe. Der Bedarf an Auswegen wird. scheint es. verständlich. Und er ist verständlich auch und gerade dann. wenn die skizziene Lage keine vollendete Wirklichkeit. sondern latente und stets bedrohliche Möglichkeit ist. Im Zusammenhang des hier verfolgten Themas interessieren zunächst vor allem diejenigen Auswege. die man die Auswege durch Vernunft nennen kann. Vernunft gehön offenbar nicht zu den Erregern der geschildenen Aporie. sondern zu den Versuchen ihrer Bewältigung: diese auswegfordernde Enthemmung des Interessendenkens krankt ja nicht an zuviel. sondern gerade an zuwenig Vernunft. Es ist angebracht. das gegenüber jeder An von .. misologischer" Zeitkritik J1 zu betonen. Auch und gerade die modeme Vernunft ist der Versuch. jener beschriebenen. bedrohlichen Lage zu entgehen. Das gilt bereits für die erste Form. in der die moderne Vernunft einen Rettungsanspruch erhebt. für die beobachtende. experimentierende. mathematisierende. prognostizierende. kurz: für die kontrollierende Vernunft der exakten Wissenschaften. die gemeint ist. wenn in der Folge - ohne daß damit die eigenanige Wissenschaftlichkeit anderer Vernunftformen bestritten wird - abkürzend von der wissenschaftlichen Vernllnft und dem wissenschaftlichen Denken die Rede ist. Und es gilt ebenso für die zweite Form. in der die moderne Vernunft einen Rettungsanspruch erhebt. für die geschichtliche Vernllnft. das geschichtliche Denken. H Der Übergang des Rettungsund Führungsanspruchs von jener ersten Form. der wissenschaftlichen Vernunft. an diese zweite Form. die geschichtliche Vernunft. ist eines der großen Themen und Ereignisse der modemen Philosophie. H Er bezeugt zugleich die Fähigkeit der Vernunft zur Auseinandersetzung um den besten Ausweg. d. h. um ihre eigene richtige Form. Und er ist jenes Ereignis - und darum interessien es hier - in dessen Zusammenhang die Wende zur Ästhetik gehön. Denn die Wende zlIr Ästhe#~ gehört ;n Jen ZlIsammenhang Jer Ab~ehr IIon der (eXiMten) Wissenschaft (l/s domi"ierender Mll&ht lind der ZlIwendllng ZlIr Geschichte (l/s dominierender Mll&ht. Sie gehön in diesen Zusammenhang als die Möglichkeit derer. denen jene Abkehr von der
Kant und die Wende zur Ästhetik
25
Wissenschaft gelingt und diese Zuwendung zur Geschichte nicht gelingt. Wozu Ästhetik? Wozu wird sie gebraucht? Ästhetik wird angesichts der Aporie des emanzipierten Menschen gebrallcht als Allsweg dort, wo das wissenschaftliche Denken nicht mehr lind das geschichtliche Denken noch nicht /rllgl. Das ist die These. Der ZlIg zlIr Äslhetik enlslehl alls der Hemmllng des Verlallft der Wende flon der Wissenschaftsphilosophie zlIr Geschichtsphilosophie. Die Voraussetzung dieses Zuges zur Ästhetik ist das Gären und Rumoren dieser Wende, dieses Übergangs vom wissenschaftlichen zum geschichtlichen Denken. 5. Und damit zu Kant. Denn Kant ist ein Philosoph dieses Übergangs. Kant isl ein Philosoph des Obergangs flom wissenschaftlichen zlIm geschichtlichen Denken. Er ist es geworden dadurch, daß er in seiner "Kritik der reinen Vernunft" an die exakte Wissenschaft, und d. h. für ihn: an die mathematische Naturwissenschaft die Frage richtete,~ ob sie ihren Führungsanspruch zu Recht erhebe. Und weil einen Führungs- und Renungsanspruch erheben wohl dies bedeutet: "alles" in Ordnung d. h. "alles" ins rechte Verhältnis bringen, und d. h. zunächst einmal: "alles" zu Won kommen lassen und d. h. das Ganze denken - darum ist Kants Frage an die exakte Wissenschaft auch die, ob sie wirklich das Ganze denken könne, d. h. ob sie iluen Totalitätsanspruch zu Recht erhebe. Vielleicht könnte man bezweifeln, daß das Kants Frage ist. Vielleicht könnte man einwenden, Kants Problem sei die Frage nach der Metaphysik gewesen. Die ,Kritik der reinen Vernunft' sage von sich selbst, sie wolle die "Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt"n. Und nach dem Zeugnis der ,Prolegomena' habe Kant interessien, "ob auch so etwas, als Metaphysik, überall nur möglich sei"J6. Um diese Frage zu entscheiden, halx Kam das beruhmte Problem der Möglichkeit synthetischer Uneile apriori aufgeworfen und nach der Möglichkeit reiner Mathematik und reiner Naturwissenschaft gefragt.)7 Er habe die Reichweite ihrer Erkenntnis geprüft und sei zur Einsicht gekommen, daß sie begrenzt sei; Metaphysik aber wolle über die Grenze dieser Reichweite hinausdenken - das jedoch sei illegitim, und darum sei Metaphysik unmöglich. Ja Das sei die Frage Kants und das sei die These Kants. Gewiß, das ist sie. Aber steckt da nicht vielleicht doch noch ein Problem, dessen Beachtung diese Frage und These Kants in ein anderes, erhellenderes Licht rückt und ihren springenden Punkt, ihren Skopus, sozusagen den Witz der Sache allererst enthüllt? Es kommt, glaube ich, in der Philosophie fast mehr als auf alles andere darauf an, im richtigen Augenblick schwer von Begriff zu sein. Vielleicht ist man es hier im richtigen Augenblick, wenn man zunächst einmal nicht begreift, wieso - und das ist ja bei Kant der Fall wieso eigentlich das Schicksal der Metaphysik von der Reichweite mathema-
26
Kant und die Wende zur Ästhetik
tischer Naturwissenschaft abhängen soll. Was denn in aller Welt haben diese beiden menschlichen Möglichkeiten miteinander zu tun? Ist das nicht so ähnlich, als wolle man das Schicksal der Musik von der Hobelkunst der Tischler abhängig machen? Das Musizieren liegt außerhalb der Reichweite des Hobelns, also ist Musizieren unmöglich; die Metaphysik liegt außerhalb der Reichweite mathematischer Naturwissenschaft, also ist Metaphysik unmöglich. Gibt das einen brauchbaren Sinn? Offenbar nicht. J9 Also hat Kant schlecht gedacht? Keineswegs. Also hat die Verknüpfung des Schicksals der Metaphysik mit der Lösung des Problems der Reichweite mathematisch-naturwissenschaftlicher, d. h. exakter Erkenntnis doch einen guten Sinn? Durchaus. Und zwar genau dann, wenn das fragliche Schicksal der Metaphysik nicht das Schicksal der Metaphysik "schlechthin und überhaupt", sondern das Schicksal einer Metaphysik ist, die mit Denkmitteln mathematischer Naturwissenschaft operien - der Kant unmittelbar vorgegebenen, der Aufklärungsmetaphysik. 40 Auch diese Metaphysik will, was jede Metaphysik will: das Ganze denken. Aber sie will es mit Mitteln exakter Wissenschaft. Das Schicksal der Metaphysik hängt ab von der Reichweite mathematischer Naturwissenschaft also dann, wenn es sich um eine Metaphysik handelt, die mit Denkmitteln mathematischer Naturwissenschaft operien; also dann, wenn es sich bei der Metaphysik um einen Metaphysikversuch mathematischer Naturwissenschaft handelt, also dann, wenn diese Metaphysik den Versuch der exakten Wissenschaft aktualisien, das Ganze zu denken, d. h. wenn sie den Totalitätsanspruch dieser Wissenschaft aktualisien. Diese Metaphysik und keine andere stellt Kant in Frage. Und weil er das und nichts anderes tut, darum wird man sagen dürfen und sagen müssen, Kants Frage sei eine Frage an die exakte Wissenschaft, und zwar die, ob sie wirklich das Ganze denken könne, d. h. ob sie ihren Totalitätsanspruch - ihren Rettungs- und Führungsanspruch - zu Recht erhebe. Diese Frage und nur diese Frage kann Kant entsCheiden und entscheidet Kant durch Prüfung der Reichweite mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Sein Ergebnis ist die Unterscheidung von "Erscheinungen" und "Dingen an sich" und die These: mit den Denkmitteln mathematischer Naturwissenschaft können nur Erscheinungen, nicht aber Dinge an sich erkannt werden. 41 Das bedeutet im wesentlichen: die mathematische Naturwissenschaft erkennt auf Grund einer Faktenzensur, eines numerus clausus für Tatbestände. Sie läßt nur Tatbestände zu, die sich experimentell erfahren lassen. Das Experiment (und entsprechend alles, was in ein Experiment an Voraussetzungen und Daten eingeht) ist Mittel fürs Zustandekommen einer Erkenntnis, die im strengsten Sinn nicht nur einem Individuum oder einer Gruppe, sondern lilien Wissenschaftsteilnehmem gehön. Es lebt zugunsten der Etablierung eines strikt venretbaren Erkenntnissubjekts. Dieses strikt venretbare Erkenntnissubjekt - Kant nennt es die "urspcünglich-syntheti-
Kant und die Wende zw Ästhetik
27
sche Einheit der Apperzeption ".2 (und demonstrien ihre .. Voraussetzungslosigkeit", und d. i. u. a. ihre Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher Individualität dadurch, daß er sein Verhältnis zum Individuellen gar nicht zur Sprache bringt) - dieses strikt venretbare Erkenntnissubjekt so// sein·}: das ist das Prinzip dieser wissenschaftlichen Faktenzensur. Es läßt im Reiche der Wissenschaft nur das zu, d. h. nur das .. erscheinen" , was den Bestand dieses strikt venretbaren Erkenntnissubjekts unterstützt. Es läßt nicht zu, d. h. nicht "erscheinen", was ihn nicht unterstützt. Kantisch gesprochen: es läßt die Welt nur als "mögliche Erfahrung", nur als Welt der .. Erscheinungen" zu, und es läßt die "Dinge an sich" außer Betracht." Dieses Prinzip beherrscht und erschließt die Welt also als Reich der Mittel - nicht als "Reich der Zwecke" .•, Weil aber mathematische Naturwissenschaft, exakte Wissenschaft in diesem Sinne prinzipiell etwas außer Betracht läßt, denkt sie nicht das Ganze. Darum darf sie keinen metaphysischen, also keinen Totalitätsanspruch und d. h. keinen Führungs- und Rettungsanspruch erheben. Das ist die These von Kants ,Kritik der reinen Vernunft'. Sie implizien zweierlei. Erstens: Wissenschaft ist eX/J!lte Wissenschaft einzig und am besten dann, wenn sie !leinen Führungs- und Rellungsanspruch erhebt. Zweitens: Vernunft wird ihrem Führungs- und Rellungsanspruch einzig und am besten dann gerecht, wenn Jie sich nicht mit wissenschaftlicher Vernunft gleichsetzt, wenn sie zu einer neuen Form der Vernunft übergeht. Damit leitet Kant die Wende zum geschichtlichen Denken ein. 6. Es ist nicht überflüssig, die Bedeutung dieser Kantischen Wissenschaftskritik eigens hervorzuheben. Denn sie ist heute in einer merkwürdigen Lage: der gegenwänige Positivist versucht erst gar nicht, sie zu verstehen;46 und der gegenwänige Philosoph, der in den Provinzen der geschichtlichen Vernunft siedelt, hält sie für so selbstverständlich, daß man darüber nicht zu sprechen braucht - es gibt Philosophien, deren Lösungen so erfolgreich sind, daß unverständlich wird, warum ihre Probleme jemals Probleme waren. Nun, angesichts der Einstellung des Positivismus und angesichts auch der Einstellung der geschichtlichen Philosophie ist es durchaus nötig, die Bedeutung der Kantischen Wissenschaftskritik und ihrer Forderung an die exakte Wissenschaft nach Preisgabe ihres Führungs- und Rettungsanspruchs zu betonen. Die Bedeutung der Kantischen Forderung wird klar aus den schlimmen Folgen der möglichen Absage an diese Forderung. Kant hat diese Folgen zum Teil in der "transzendentalen Dialektik" der ,Kritik der reinen Vernunft' geschilden und untersucht.· 7 Eine solche Absage würde einschließen, daß die Wissenschaft, die das Ganze nicht erkennen kann, gleichwohl das Ganze erkennen will. Die Folge ist, daß sie den Aktionsradius ihrer Fähigkeiten fürs Ganze erklän, daß sie "Erscheinungen" zu "Dingen an sich"
28
!Cant und die Wende zw Ästhetik
ernennt. Um das zu können, muß sie eine su bille und oft recht kompliziene Kunst des Ignorierens entwickeln. Es ist gar nicht auszudenken, was in dieser Kunst geleistet werden kann, und sei es in der Form, die gesamte Armee einer hochentwickelten Reflektienheit an einer Problemfront zusammenzuziehen, damit an einer anderen die Truppen der Naivität um so leichter zum Siege kommen. Gegen diese Kunst des Ignorierens, gegen das durch Ignorieren geprägte (im Sinne von Hegels Begriff des "Abstrakten")" abstrakte Denken wendet sich Kants Kritik. Die Absage an das Ignorieren ist die Grundfigur seines Denkens: KtJnts " Tr"nszendenllllphiJosophie" ist Protest gegens AbslraRte durch Erinnertlng "ns "erleugnete Zugehörige. 49 Diese Erinnerung und dieser Protest ist nötig, denn das abstrakte Denken ist gefährlich. Gefährlich ist es in jeder Form. Gefährlich ist es also auch und gerade als ein absuaktes Denken der wissenschaftlichen Vernunft. Als dieses Denken dieser Vernunft hat es die Form der These: außerhalb der exakten Wissenschaften gibt es keine vernünftigen und mit Vernunft zu besprechenden und zu lösenden Probleme.)() Diese These ist kein harmloser Irrtum, kein einfaches Vorbeisehen an dem, was vielleicht "sonst noch zu berücksichtigen" wäre, kein bloßes Übersehen dessen, was man "auch noch" sehen könnte und sollte. Denn diese These ist ein Treubruch. Sie bedeutet Auslieferung. Sie gibt die verleugnete Wirklichkeit ans Unvernünftige preis. Sie liefen die verleugnete Wirklichkeit aus ans enthemmte Interessendenken. Sie zwingt die verleugnete Wirklichkeit faktisch, die nur noch "sinnliche" Welt zu sein. Der Führungs- und Rettungsversuch der wissenschaftlichen Vernunft - statt die Gefahr zu bannen, förden er diese Gefahr.~l 7. Wen trifft diese Preisgabe? Wen gibt das abstrakte Denken ans Unvernünftige preis? Nach der Meinung Kants vor allem anderen das Problem der Zwecke, der leitenden Gesichtspunkte und Ziele der Lebensführung und genauer: das Problem des entscheidenden Ziels, des "Endzwecks"'l. Dieses Problem gilt es der Unvernunft zu entreißen. Aber es kann ihr entrissen werden dann und nur dann. wenn es eine Vernunft gibt. die diesem Problem gewachsen ist. Die wissenschaftliche Vernunft ist das nicht. Sie ist vorm Problem des Endzwecks ohnm4&hlig. Darum sucht Kant nach einer mächtigen. wirklich führenden und rettenden Vernunft. Diese Suche geht in Richtung auf die geschichtliche Vernunft. Aber sie geht nur in diese Richtung. Es gehön zum Schicksal und zur Eigenan der Kantischen Philosophie. daß sie bei ihrer Suche nicht auf die geschichtliche. sondern auf die moralische Vernunft stößt; daß sie - so könnte man das auch formulieren - nicht auf die Vernu"ft des "ermittelten Ziels, sondern auf die Vernunft des un"ermiJtelte" Ziels trifft. Freilich: auch die moralische Vernunft überläßt das Problem des Endzwecks und seine Lösung nicht dem .. eudämonistischen" Interessendenlcen. Auch sie verord-
Kant und die Wende zur Ästhetik
29
net einen vernünftigen Endzweck, und sie verschafft ihm Gehör durchs Gewissen. Sie erläßt den "kategorischen Imperativ", den Kam in seiner ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' gefunden H und in seiner ,Kritik der praktischen Vernunft' aufgestellt~ und gerechtfertigt hae~, und dessen allbekannte Formel sich interpretierend etwa so übersetzen läßt)6: handle nicht als Interessenwesen, sondern als Mensch; behandle deine Mitmenschen nicht als Instrumente deiner Interessen, sondern als Menschen; also betrage dich, als ob du Glied eines "Reiches der Zwecke" WÜSt, d. h. als ob du in einer staatlichen Wirklichkeit lebtest, in der die Menschen als Menschen leben können und leben. Hier ist allerlei der Frage wen. Etwa - philosophisch - das Recht der traditionsreichen These "gutes Leben ist politisches d. h. staatsgebundenes Leben" .)7 Oder - theologisch - das Recht der ebenfalls uaditionsreichen These von der Menschlichkeit als Ziel. ,. Ich möchte an diesen Fragen hier vorbeigehen und statt dessen das Problem betonen, das sich an das "Als ob" knüpft.)9 Die moralische Vernunft verlangt vom Menschen, so zu leben, "als ob" er in einer staatlichen Wirklichkeit lebe, in der die Menschen als Menschen leben können und leben. Dieses "Als ob" demonstrien: die gute Wirklichkeit ist Forderung. Das "Reich der Zwecke" ist keine Realität. Der gute Staat soll sein. Aber er ist nicht. So verschafft die moralische Vernunft offenbar nur den Begriff, nicht die Wirklichkeit des guten Seins. Und da dieses gute Sein doch das Ziel ist. bedeutet das: Kants Philosophie der moralischen Vernunft gibt nur den bloßen Begriff des Endzwecks. des Ziels. Nun gibt es eine Lehre vom Begriff, die entscheidende Aussagen über den Begriff macht. Ich meine die ,Lehre vom Begriff' in HegeIs •Logik , . Eine ihrer fundamentalen Einsichten ist. daß zum Begriff die Bedingungen seiner Verwirklichung gehören. 60 So gehön zum Beispiel zum Begriff der Wohnung auch das Baugewerbe. die Lage am Wohnungsmarkt, das Kreditwesen für die Mietzuschüsse • das Vermieterinteresse • dann etwa die Heirat oder der Umzug. die zu ihrer Einrichtung drängen. die hergebrachten Gewohnheiten des behausten Lebens usf.: zum Begriff gehören die Bedingungen. die Mittel seiner Verwirklichung. So jedenfalls denkt den Begriff die geschichtliche Vernunft. die eben darum die Vernunft des vermittdten Ziels ist. Der Hinweis auf diesen Zug der geschichtlichen Vernunft soll zeigen, daß er der moralischen Vernunftjehll. Die moralische Vernunft denkt auch den Begriff des Ziels. den Begriff der guten Wirklichkeit. des menschenwürdigen Staates, aber sie denkt diesen Begriff abgesehen von den Bedingungen seiner Verwirklichung. Sie denkt ihn ohnmächtig - ohne Macht über die Mittel seiner Verwirklichung. Darum ist sie Vernunft des unvermittelten Ziels. Auch die mortJliJche Vernunft iJl tJlJO - freilich anders als die wissenschaftliche Vernunft - eine ohnmikhlige Vernunft. Vielleicht hängt es mit dieser fehlenden Macht der Verwirklichung zusammen. daß sie den Begriff des
30
Kant und die Wende zur Ästhetik
Endzwecks nur unbestimmt und formal denken kann und so den Kritikern Angriffsc.hancen bietet61 : der sogenannte "Formalismus" ist Ausdruck der Ohnmacht der moralischen Vernunft. Und ohnmächtig ist die moralische Vernunft. weil sie den Begriff des Ziels denkt ohne Macht über die Mittel seiner Verwirklichung und in einern entscheidenden Sinne absehend vom Problem seiner Verwirklichung. 62 Das heißt im übrigen nicht. daß Kam das Verwirklichungsproblem unbeachtet gelassen hätte. Im Gegenteil. Er hat es sogar recht ausführlich diskutien und hat mehrere Möglichkeiten erwogen. vornehmlich zwei. Vor allem in einer Gruppe kleinerer Schriften über die Geschichte und den Frieden entwickelt er die "Idee". daß der .. Antagonism" der Interessen und die Furcht vorm schlimmen Ende des unvernünftigen Treibens die Menschen zur Vernunft und die Vernunft zur Wirklichkeit bringen könnte. 6~ Und in der Postulatenlehre der .Kritik der praktischen Vernunft' und in der Religionsschrift posrulien er eine quasi heilsgeschichdiche Konzeption und Gott als Helfer beim Unternehmen. die Menschen zur Vernunft und die Vernunft zur Wirklichkeit zu bringen. 64 Beide Lösungen aber versieht Kant mit einern grundsätzlichen Fragezeichen: Kam prüft sie. aber die moralische Vernunft rechnet nicht mit ihnen. sie wagt es nicht. sich auf diese Verwirklichungschancen einzulassen. Darum erlaubt sie der menschlichen. vernünftigen. sittlichen Handlung nicht. sich als Vetwirklichungsbeitrag. sie nötigt sie. sich als Selbstzweck zu verstehen. 6) Das ist jener Zug der Kantischen Ethik. an dem man abzulesen pflegt. daß sie nicht zu den .. Erfolgs-" • sondern zu den "Gesinnungs-Ethiken" gehön. Dieser Zug ist ein wichtiges Indiz für die Ohnmacht der moralischen Vernunft. Offenbar also verhält es sich so: /(ant, enttlJuscht 1Ion der OhnfllllCht der
wissemchQftlichen Vernunft und Quf der Suche fUlCh einer reifenden und m4&htigen Vernunft, trifft Qufdie morlllische Vernunft und damit erneut Quf eine ohnm4&htige Vernunft. 8. Diese OhnfllllCht der morlllischen Vernunft ist es, die /(ant Qufden Weg der Wende zur Ästhetik zwingt. Dafür gibt es biographische Indizien. 66 Der
sachliche Zusammenhang sei hier wenigstens angedeutet. 67 Angesichts des ungelösten Verwirklichungsproblems - welche Möglichkeiten hat da eine ohnmächtige Vernunft? Sie hat keine Macht. Sie muß befürchten. daß ihre guten Vorsäue durch die Wirklichkeit der Interessenwelt zu Schaden kommen und ruinien werden. Gewissermaßen hilflos steht ihre Tugend vor dem Weltlauf. Was kann sie tun? Die machtlose Vernunft muß zur List greifen. 68 d. h. sie muß davon leben. daß irgendwie die sinnliche Welt der Interessen zum Sachverwalter der Vernunft und ihres Zwecks wird. Das nennt man heute - wo es gelingt - Sublimierung. es ist die Methode Kuckucksei: das. was die Vernunft selbst nicht auszubrüten ver-
Kmt und die Wende zur Ästhetik
31
mag, soll im Nest der Triebe ausgebrütet werden. Das setzt nun freilich voraus, daß es Triebe gibt, die damit einverstanden sind, Interessen also, die ihrem Interessenziel entsagen. Kants dritte Kritik, die ,Kritik der Uneilskraft' ist die großangeiegte und mit subtilsten Mitteln arbeitende Fahndung nach solchen "interessenfreien Interessen" - nach einer über das Exakte hinaus "vernünftigen Natur" .69 Der erste Teil der ,Kritik der Uneilskraft', die ,Kritik der ästhetischen Uneilskraft'70 sucht und stellt und ergreift die gesuchte vernünftige Sinnlichkeit in der Gestalt des "Geschmacks"71, des Sinns für das Schöne 72 • Ich kann das hier nur andeuten und auch auf die Theorie des "Erhabenen" 7J nur hinweisen, die man als ein Fragezeichen lesen kann zur ästhetischen Lösung, als eine Ästhetik des Scheiterns der Ästhetik. Die hier wesentliche Frage ist nun die: ist der "Geschmack", ist der ästhetische Sinn wirklich das, was gesucht war? Gesucht war eine vernünftige Natürlichkeit, eine sinnliche Macht der Verwirklichung des Vernunftziels. Gefunden ist eine sinnliche Macht - aber sie ist keine Macht der VerwirlJi&hung, sondern nur eine Macht der Symbolisierung des Vernunftziels. 7. Kant hat das im berühmten § 59 der ,Kritik der Uneilskraft' dargelegt. n Dieser Paragraph darf als Kernstück der Kantischen Ästhetik gelten, und das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er in einem gewissen Sinn auch das älteste Stück der Ästhetik des sogenannten "kritischen Kant" ist; denn überspitzt formulien: dieser Paragraph ist die klärende Wiederholung eines Lehrstücks der ,Kritik der praktischen Vernunft', jener nicht eben häufig interpretienen ,Typik der reinen praktischen Uneilskraft' , die ein merkwürdiger und bemerkenswener Passus ist: halb durch Symmetriedenken erzwungenes Verlegenheits-Pendant zum Schematismuskapitel, halb vorweggenommene Kurzfassung der ,Kritik der Uneilskraft' . 76 Bereits in der ,Kritik der praktischen Vernunft' also hat Kant erwogen, der Realisierung des guten Seins durch seine Symbolisierung aufzuhelfen. Und der § 59 der ,Uneilskraftkritik' wiederholt es und verschärft es: sllllt RetJiisierung Symbolisierung des gulen Seins. Das hat zugleich etwas Zweideutiges an sich, man weiß nicht recht: wird da die Verwirklichung des menschenwürdigen Staates unterstützt, vorbereitet, eingeleitet, oder wird sie nur auf schöne Weise bestattet? Gehön die Ästhetik zur Vorhut oder zum Trauergefolge der geschichtlich-vernünftigen Aufgabe? Ist das Schöne als Symbol des Sittlichen Stimulans der Verwirklichung oder Sedativ angesichts ihrer Aussichtslosigkeit? Ist es - auf diese Formel darf man das wohl bringen - ist es Inslrrlmenl oder ErsIlIZ der politischen Verwirklichung, der geschichtlichen Vernunft? Das erste - Symbolisierung als Instrument - hat Kam erhofft; fürs zweite - Symbolisierung als Ersatz - hat er vorgesorgt. Denn das quälende Problem dieser zweiten MöglichJceit, das Problem einer ästhetischen Symbolisierung, die - wenigstens der Tendenz nach - im Grunde nichts mehr
32
Kant und die Wende zur Ästhetik
symbolisien. weil sie sich aus dem Zusammenhang des geschichtlichen Problems gelöst. weil sie ihrer politisch-sittlichen Rolle gekündigt hat. ist zwangsläufig das Bewußtsein ihrer eigenen Unwirklichkeit. 77 Und je weniger das Ästhetische und die Kunst durch die soziale Wirklichkeit des Sittlichen und der Geschichte sich definien. getragen. gcrcchtfenigt fühlt. um so stärker wird ihr Bedürfnis. sich durch den Anschluß an eine andere, eine außcrsoziale und außcrgeschichdiche Wirklichkeit zu rcchtfenigen. Solch eine außcrgeschichtliche Wirklichkeit ist die Natur. eine außersoziale: die nicht .. als Naturwissenschaft gegebene" Natur. Diese Natur wird jetzt akut. Es entsteht also - gerade durch den Anspruch der Ästhetik und die Fragwürdigkeit dieses Anspruchs - das entscheidenste Interesse an einer nicht gesellschaftlich-geschichtlich definienen. nicht als Naturwissenschaft präsenten Natur. 78 Darum widmet sich Kant im zweiten Teil seiner. Uneilskraftkritik' - und nicht zufällig damit im selben Problemzusammenhang mit der Ästhetik - der Philosophie dieser Natur - in der .Kritik der teleologischen Uneilskraft<79: wo die Ästhehk ihre Bindung an die Geschichtsphilosophie löst, gerät sie zwangslt1ujig in die Bindung an die Naturphilosophie. Schon bei ihren ersten Auftritten. schon bei Kant zeigt sich das: zur ÄsthetIk gehört die latente Bereitschaft, die Naturphilosophie sich zu assoziieren, sie schließlich zur Hauptphilosophie zu machen und damit potentiell zur lebensphilosophie überzugehen. Diese Bereitschaft schlummen. solange Ästhetik als Instrument. sie erwacht. sobald Ästhetik als Ersatz des geschichtlichen Denkens gesucht und gemeint wird. Aber was ist sie? Ist sie Instrument? Ist sie Ersatz? Was ist sie? Wozu ist sie da? Wozu Ästhetik? Die eingangs formuliene These hat sich offenbar auch und gerade angesichts der .Kritik der Uneilskraft' gehalten und bestätigt. Wozu Ästhetik? Wozu wird sie gebraucht? Ästhetik wird - das lehn gerade die Kantische Philosophie - angesichts der Aporie des emanzipienen Menschen gebraucht als Ausweg don. wo das wissenschaftliche Denken - durch seine Einschränkung auf den Erscheinungsgebrauch - nicht mehr. und das geschichtliche Denken - in der Form des nur moralischen - noch nicht trägt. Aber die Frage nach der Ästhetik hat sich zugleich differenzien und zugespitzt; springt die Ästhetik ein als Instrument oder als Ersatz der geschichtlichen Vernunft? Diese Frage an Kant richten hieße Kant überfragen. Es gehön in der Tat zur Eigenan seiner Philosophie. daß sie diese Frage unentschieden läßt. Sie hat es nicht nötig. zu entscheiden. Sie hat - wenn ich das so sagen darf - sie hat noch zu viele Eisen im Feuer. um zu solchen Alternativfragen Bezug zu haben. Das ästhetische Denken und das geschichtliche - beide sind noch im Spiel. Kant hatte es noch nicht nötig. wie neuere Philosophen alles auf eine Kane zu setzen. 9. Ist der ästhetische Ansatz Instrument oder Ersatz des geschichtlichen
Kant und die Wende zur Ästhetik
33
Denkens, der politischen Verwirklichung? ](a"t 14ß1 diese Frllge Ime"tschiede". E"tschiede" wird sie i" der ROf1llJ"tiR, lI"d ZWIlr (der Te"de"z 1IIuh) i" dem Si"", ""ß kthetiR zlIm Erslltz der Geschichtsphilosophie wird. Ein kurzer Hinweis auf dieses weitere Schicksal des ästhetischen Ansatzes mag den Abschluß bilden. Der Wandel des ästhetischen Ansatzes" von Kant zur Romantik" läßt sich am Denkweg Schillers zeigen. 80 Er wird in einem für ihn entscheidenden Lebensabschnin Kantianer. Und in seinen Briefen ,Ober die ästhetische Erziehung des Menschen' - ihr Erstdruck trug als Mono den Rousseau-Satz "Si c'est la raison qui fait I'homme, c'est le sentiment, qui le conduit"8l, und entsprechend versichern sie: "Ausbildung des Empfmdungsvermögens ist ... das ... Bedürfnis der Zcit"82 - in diesen Briefen geht Schiller, betonter noch als Kant, vom Problem des guten Staates aus und fragt nach dem besten Wege seiner Verwirklichung. Er fühn über die Erziehung des Einzelnen zum Staatsbürger. Und diese Erziehung - meint Schiller - muß ästhetische Erziehung sein. 83 Der Mensch braucht ästhetische Bildung, um in der rechten Weise politisch und geschichtlich zu sein. So wird im Zusammenhang des politischen Problems das Schöne und die Kunst thematisch. Aber die Untersuchung des ästhetischen "Spieltriebs"" überspielt das politische Problem. Die Briefe brechen ab, ohne di~ Frage des guten Staates wieder aufzunehmen. 8 ' Das ist nicht zufällig so. Vielmehr ist es Ausdruck einer entscheidenden Resignation: das Problem der Geschichte, das Problem der Verwirklichung des guten Staates scheint in wachsendem Maße unlösbar, darum wird es gern aus dem Blickfeld entlassen; es gibt Probleme, die so verhängnisvoll unvermeidlich und zugleich in solchem Grade unlösbar sind, daß man mit ihnen nichts anderes mehr anzufangen weiß, als sie zu vergessen. Und so bestimmt Schillers wenig spätere theoretische Schrift ,Ober naive und sentimentalische Dichtung' - sie pflegt, wie es bei den Verzweiflungen an der Geschichtsphilosophie dann üblich wird, die Typologie (der Dichtungsanen) - die Rolle des Künstlers und der Kunst nicht mehr im Verhältnis zum Staat. sondern im Verhältnis zur Natur. 86 Die Kunst und das Schöne - bei Kant die temperiene Vorwegnahme der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit des guten Staates - wird beim späteren Schiller zur temperierten Wieder-Holung der ungeschichtlich-asozialen Wirklichkeit der fernen Natur. Damit ist die romantische Position grundsätzlich erreicht. Die TOf1IIJ"lische ÄsthetiR löst sich IIIIS dem ZlIsllmme"hll"g des geschichtlich-politische" Problems lI"d bestimmt sich dllrch ths Verhiilt"is zlIr ,,/er"en Nlltllr". Es könnte das ihre Aporie sein, ihre Gefahr und ihre Abstraktheit und das, was sie als Ausweg disqualifizien. Jedenfalls mag damit eines der ständigen Probleme des Romantikers zusammenhängen, sein pfahl im Fleisch. das quälende Bewußtsein seiner Unwirklichkeit. 87 Je unausweichlicher es quält, desto heftiger ruft er nach der Natur. Solange die Natur
34
Kant und die Wende zur Ästhetik
ausbleibt, solange sie die feme Natur ist, leidet er daran und beklagt ihre Feme. Aber es scheint so, als ob er letztlich diese Klage und diese Feme der Gegenwan der Natur vorzöge. Das Unglück ihrer Absenz scheint er dem vermeintlichen Glück ihrer Präsenz vorzuziehen. Was bedeutet das? Ist das gesuchte und ersehnte Glück am Ende gar kein Glück? Gerade das scheinen zwei Denker erfahren zu haben, die in einem bestimmten Sinn zu Philosophen derjenigen Natur geworden sind, die die Romantiker so schmerzlich vermißten: Schopenhauer und Niel%Jche. Sie erfahren diese Natur nicht als die feme, sondern als gegenwärtig. Und sie erfahren sie als Wille, als Lebensdrang: die romantisch vermißte Natur erweist sich, gegenwärtig geworden, als die Triebnatur des Kampfes aller gegen alle; sie wirft die Rousseausche Maske ab und tritt offen auf als Hobbesscher Naturzustand. Das Verhältnis zu dieser Lage und dieser Natur ist derart zwiespältig, daß es gleichermaßen das pessimistische Nein Schopenhauers und das pessimistische Ja Nietzsches zuläßt. Offenbar verhält es sich so: wo dtJs eintritt, was die RomtJntik ersehnt - Gegenwart der Natur und Hingabe an die Natur bedeutet dtJs die He"schaft der entZlluberten Interessenwelt. Verhält es sich so? Und was bedeutet das? Bringt der Hilferuf nach der Natur die Situation der Hilferufe zurück? Gehört es zu der Wende zur Ästhetik, daß sie die Notlage provoziert, der sie entgehen wollte?88 10. Die Ästhetik und ihr Anspruch sind auch heute im Spiel. Es wurde auf
einige Motive hingewiesen, die dazu geführt haben und führen. Zugleich zeigte sich, daß dieser auch noch gegenwärtige Anspruch der Ästhetik nicht unproblematisch ist. Wenn anders die Möglichkeit besteht, ihn als eine der - mittelbaren - Folgen Kants anzusehen, dann (und gerade dann) gilt es, auch auf diese Folgen ~nls die ~nlische Frage anzuwenden. Es gilt, mit Kant eine Philosophie in Frage zu stellen, die sich von der geschichtlichen, von der politischen Wirklichkeit entfernt und in diesem Sinne "nichts mit der Wirklichkeit zu tun" hat. Wo Philosophie sich von der Wirklichkeit trennt, überantwortet sie die Wirklichkeit ihren schlechten Möglichkeiten. "Die Philosophie hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun": in diesem Sinne ist das - Hegd hat es gesagt - "schlimm für die Wirklichkeit".
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst
1. Das Folgende ist ein Nekrolog auf Lebendiges: die Kunst - sagt Hege! in
seiner Ästhetikvorlesung - ist nllCh rler Seite ihrer höchsten Bestimmung!iir uns ein Verg"ngenes. 1 Vielleicht hat Hegel recht: dann ist die These fällig und überfällig, daß die Kunst und ihre Theorie - die seit 1750 so genannte ,Ästhetik' - fonan in der Philosophie keinen Fundamentalplatz mehr haben kann; nllCh rler Seite ihrer höchsten Bestimmung ist es mit ihr vorbei. Und ohne Zweifel: Hegel hat - auch nicht-hegelianisch gesehen - recht: denn entweder ist die Welt heil, dann ist die Kunst im Ernst nicht nötig; oder die Welt ist unheil, dann ist die Kunst im Ernst zu schwach: sie ist überflüssig oder kann nichts ausrichten. 2. Trotzdem wird hier von der Kunst und ihrer Theorie - also mit Vorsicht von ,Ästhetik' - philosophisch gesprochen. Denn - das will der Titel dieser Überlegung ja andeuten - es soll um die Frage gehen: was eigentlich leistet die ,Theorie des Unbewußten' für eine ,Theorie der nicht mehr schönen Kunst'? Dabei wird im folgenden unter einer ,Theorie der nicht mehr schönen Kunst' die Theorie einer Kunst verstanden, für die das Schön(" - zunächst gefaßt als sinnliche Präsenz (Nachahmung) einer im Grunde heil scheinenden Welt - nicht mehr der entscheidende Maßstab ist. Dieser Maßstab löst sich spätestens im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunden endgültig auf. Die genannte Frage meint darum genauer: hat bzw. was hat die just im gleichen Zeitraum aufblühende Theorie des Unbewußten mit diesem Auflösungsvorgang zu tun? Was hat sie zu tun mit jener Bewegung, durch welche die Kunst indifferent wird gegenüber der Verpflichtung, schöne Kunst zu sein?
3. Also: im Zentrum der Aufmerksamkeit steht einerseits die Theorie des Unbewußten: eine Theorie, die heute wesentlich durch Freud repräsentien ist; und: im Zentrum der Aufmerksamkeit steht andererseits die Theorie der nicht mehr schönen Kunst: eine Theorie, über die Freud und seine Anhänger leider sehr wenig gesagt haben. Aus beidem folgt, was hier nicht diskutien wird. Betrachtet wird a)die Theorie des Unbewußten und eine bestimmte Theorie der Kunst, also nicht der Einfluß der (psychoanalytischen) Theorie des Unbewußten auf künstlerische Produktionen. Zwar: ohne Zweifel gibt es diesen - und zwar
36
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußlen
einen starken - Einfluß vor allem der Freudschen Theorie auf die Kunst: aber ein armer Philosoph hat weder Überblick noch Kompetenz. über gerade diesen Einfluß sich zu äußern. Betrachtet wird: b) die Theorie des Unbewußten. aber nicht die Theorie des Unterbewußten: letztere hat Freud zurückgewiesen; er nennt die Bezeichnung eines . .. , Unterbewußtseins' ... inko"ek.t und meführend. 2 Das Unterbewußtsein ist für Freud also gewiß keine Quelle irgendeines Ästhetischen. sondern allenfalls eine Quelle heftigen Unwillens. Betrachtet wird hier also einzig die Theorie des Unbewußten. 4. Die Theorie des Unbewußten wird nach all diesem hier zunächst als Freud-Theorie eingefühn: als Theorem der Psychoanalyse bzw. der im Sinn von Freud verstandenen Tiefenpsychologie. ~ Gewiß mit Recht: Die Unter· scheidung des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse. 4 Gleichwohl stammt der Begriff des Unbewußten nicht von Freud. Eine ausführliche Begriffsgeschichte ist hier nicht möglich. Nur ein Traditionsstrang sei angedeutet: er berührt zunächst Freuds Nietzsche-Verhältnis, das UOtz (oder richtiger: wegen) zweier Bemerkungen Freuds) und trotz eines Hinweises von Jones6 • trotz der Analyse von R.). Brande. aber auch trotz des Freudschen Umgangs mit Adler (bis 1911) und Lou Andreas-Salome (ab 1911) immer noch ungeklän ist. 8 1893 erschien Breuers und Freuds Vorläufige Mitteilung. 91883/84 suchte)osefPaneth, ein Studienfreund Freuds. Nietzsche mehrfach in Nizza auf; sie redeten miteinander; Paneth schrieb darüber an Freud. 'o Diese Berichtsbriefe sind zwar nicht greifbar, wohl aber - auszugsweise - Berichtsbriefe , die Paneth (offenbar ein leidenschaftlicher Gesprächsprotokollant) in der nämlichen Zeit an seine Braut geschrieben hat; etwa: wir stimmten (überein), daß das unbewußte Leben jedes Menschen . .. unendlich viel reicher und wichtiger sei als das bewußte und: Vieles liege in einem Menschen embryonisch . .. und wirke unbewußt. \I Daran läßt sich immerhin sehen, daß Penath, der briefschreibende Freud-Freund, mit Nietzsche über das Unbewußte gesprochen hat; überdies auch. daß er mit ihm eben so sprach. wie ein begeistener Anhänger mit einem von ihm verehnen großen Mann: nämlich über die Gemeinplätze der Zeit. Denn natürlich war damals der Begriff des Unbewußten durch E. v. Hanmanns einschlägige Philosophie des Unbewußten (zuerst 1869) allen bekannt. Hanmann rückverwies auf C. G. Carus: der Dresdner A1%t Carus ... und seine, Psyche' wird mit Recht als Vorliiufer der Philosophie des Unbewußten betrachtet. 12 urus seinerseits - seine These: Der Schlüssel zur Erke""t"is des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins lJ - bekannte sich zu Schelling. Denn bei Schelling ist die Theorie des Unbewußten - durch eine Wendu"g des Fichteschen
Zur Bedeutung der Theorie des Unbc:wußten
37
Begnffil. und ursprünglich Kantischen Gedankens\) einer unbewußt Realität produzierenden Einbildungskraft - einfach massiv da: Nichts verhindene ...• eine Region jenseits des jettt vorhandenen Bewußtseins anzunehmen und eine Tätigkeit. die nicht mehr selbst. sondern nur durch ihr Resultat in das Bewußtsein kommt ... eine dem ... Bewußtsein vorausgehende transzendentale Vergangenheit dieses Ich . . . eine transzendentale Geschichte des Ichs ... Das ... Ich findet in seinem Bewußtsein nur noch gleichsam die Monumente. die Denkmäler jenes Weges. nicht den Weg selbst. Aber eben darum ist es nun Sache der Wissenschaft und zwar der Urwissenschaft. der Philosophie. jenes Ich des Bewußtseins mit Bewußtsein zu sich selbst. d. h. ins Bewußtsein. kommen zu lassen. Oder: die Aufgabe der Wissenschaft ist ... eine Anamnese ... 16 •.• Was wir Wissenschaft nennen. ist ... Streben nach dem Wicderbcwußtwerden ... 17 ••• Das Eigentümliche des transzendentalen Idealismus. in Ansehung dieser Lehre. ist eben dies •... daß er sich in eine jenseits des gemeinen Bewußtseins liegende Region versetzt ... I' ... Die Natur der uanszendentalen Betrachtungsan muß also überhaupt darin bestehen. daß in ihr ... das. was ... das Bewußtsein flicht. zum Bewußtsein gebracht ... wird ... 19 ... Die Philosophie beruht also ... auf dem ... Vermögen .... das Unbewußte ... zu reflektieren ... 20
Derlei Begriffsgenealogie ließe sich fortsetzen und ergänzen. sei es in bezug auf den Begriff des Unbewußten selber, sei es in bezug auf andere Begriffe und Theoreme, die heute einzig als Elemente der psychoanalytischen Theorie noch präsent sind. 21 Zeigen würde das zweierlei: a) Psychoanalytische Begriffe gehören in die Philosophiegeschichte und haben philosophische (nämlich geschichtsphilosophische) Relevanz. Sie sind philosophische Begriffe mindestens deswegen, weil sie philosophische Begriffe waren, ehe sie zu psychoanalytischen Begriffen wurden, und weil erstaunlich an ihnen nicht dies ist: daß sie zu philosophischer Geltung drängen, sondern umgekehn dies: daß sie aufhören konnten, philosophische Geltung zu haben. Die psychoanalytische Theorie u. a. des Unbewußten darf nicht als ,Gegensatz', sie muß vielmehr als ein bestimmter ,Zustand' der Philosophie begriffen werden. b) Wer nach irgendeiner philosophischen Bedeutung der Theorie des Unbewußten - also auch nach der für die nicht mehr schöne Kunst und ihre Theorie - sucht, sollte tunlichst nicht bei Freud anfangen, sondern früher: etwa in der Romantik und ihrer Philosophie. 22 5. Denn spätestens in der Romantik erhält die Theorie des Unbewußten Relevanz für die philosophische Theorie der Kunst. Sie greift dabei ein in einen Prozeß, der - wie Hegel meint - durchs Christentum in Gang gebracht worden ist. Es ist der Prozeß der Entsehränkong des Kunstfähigen: die - wie man sagen könnte - Aufhebung des numerus dausus in bezug auf das, was künstlerisch erfaßt werden darf und wie es künstlerisch erfaßt werden darf. Hegel analysien diesen Prozeß in seiner Ästhetik der roflUmlische" Ku"sl-
38
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten
form. H Seine Analyse fühn zu einer soziologisch-theologischen These: christlich wird die Religion zunehmend innerlich; zugleich wird die äußerliche Welt zunehmend entgötterr4 • Max Weber würde sagen: enlZllllberl; und beide Tendenzen steigern einander wechselseitig: a)Je mehr die Welt entzauben wird. desto mehr wird die Religion verinnerlicht: Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre. und Seufzer und Gebete suchen den Gott. dessen Anschauung es sich versagt. weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist. welcher das Angeschaute als Ding. den Hain als Hölzer erkennen würde ... 2) d. h. nur die ... gegenwärtige(n) prosaischen Zustände ... 26 ••• der bürgerlichen Gesellschaft ... 27 und ... mitten in dieser industrieUen Bildung und dem wechselseitigen Benutzen und Verdrängen der übrigen ... die härteste Grausamkeit der Armut ... 28
b)Je mehr die Religion verinnerlicht wird. desto mehr wird die Welt entzauben: Jetzt ... ist das Innere gleichgültig gegen die Gestaltungsweise der unmittelbaren Welt, da die Unmittelbarkeit unwürdig ist der Seligkeit der Seele in sich. Das äußerliche Erscheinende ... erhält ... nur die Aufgabe, darzutun. daß das Äußere das nicht befriedigende Dasein sei ... 29 ••• Das ... Universum soU ... gottverlassen sein. so daß nach diesem Atheismus der sittlichen Welt das Wahre sich außer ihr befinde ... !O
Die Ästhetik der romantischen Kunstform gehön zur Theorie dieser allgemeinen Geschichte der Verinnerlichung durch Entzauberung und Entzauberung durch Verinnerlichung. Sie macht geltend: wo die Wirklichkeit gleichzeitig zur extrem äußerlichen und zur extrem innerlichen wird. wo die Welt der Sachen und die Welt der Empfmdsamkeiten in wachsendem Maße auseinandenritt. vermag sie sich nicht mehr als die schöne zu präsentieren und sich wahrhaft und allein in schöner Kunst auszusprechen. Die Wirklichkeit braucht andere. befriedigendere Mittel. um sich ihre Wahrheit zu erschließen: um sich über sich selbst klarzuwerden. Das ausgezeichnete Mittel dafür ist in der modemen d. h. reflektien gewordenen Welt nicht mehr die Kunst. sondern die Wissenschaft: der Getillnke lind die Ref/exion hllt die schöne Kllnst überflügelt.)1 Unter der Bedingung der Entzweiung von Innerlichkeit und Sachlichkeit (von Subjektivität und Objektivität) verlien die Kunst ihre absolute Stellung; zugleich aber gewinnt sie neue Möglichkeiten: denn unter der Bedingung dieser Entzweiung wird das Kunstfähige in der genannten Weise unbegrenzt. Indem der absolute Inhalt in den Punkt des subjektiven Gemüts zusammengedrängt erscheint und somit aller Prozeß in das menschliche Innere hineinverlegt wird, so ist dadurch der Kreis des Inhalts auch wieder unendlich erweiten. Er schließt sich zu schrankenloser Mannigfaltigkeit auf ... II . . . wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift und ...
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten
39
kein Interesse ausschließt - da die Kunst nicht mehr nur das darzustellen braucht. was auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist. sondern alles. worin der Mensch überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat ... H •.. Eben deshalb ... läßt die romantische Kunst die Äußerlichkeit sich ... frei für sich ergehen und erlaubt in dieser Rücksicht allem und jedem Stoff. bis auf Blumen. Bäume und gewöhnlichste Hawgerilte herunter. auch in der natürlichen ZufaIligkeit des Daseins ungehinden in die Darstellung einzutreten ... }04
Damit ist freilich nur die Tendenz zur Entsc.hränkung des Kunstfähigen angedeutet: nicht mehr. Denn Hegel hat diese Tendenz nur im Umriß beschrieben. Im Prinzip jedoch ist - auf Grund dieser Tendenz und ihrer Theorie - der Kunst jetzt alles und jedes gestattet. 6. Hegels Theorie der romantischen Kllnstform ist heute weder gängig noch beliebt. Dem Verfasser aber scheint sie - auch und gerade für das. was hier zur Diskussion steht - plausibel: er sieht keinen Grund. sie preiszugeben. Zweifellos: das wirklich Schöne bleibt für Hegel der Idmsischen Kllnstform vorbehalten: Die klassische Kunstform nämlich hat das höchste erreicht. was die Kunst ... zu leisten vermag. und wenn an ihr etwas mangelhaft ist. so ist es nur die Kunst selber und die Beschränktheit der Kunstsphäre ... n ... die klassische Kunst (ward) ... die Vollendung des Reichs der Schönheit. Schöneres bnn nicht sein und werden. J6
Aber was folgt daraus? Doch nur dieses: die nachklassische und besonders die heutige Kunst kann optimal nicht mehr durch Schönheit defmien werden. So ist Hegels Theorie der romantischen Kunstform die - bei Hegel zweifellos noch nicht zu Ende gefühne - Theorie des fonschreitenden Abbaus der Schönheit als Prinzips der Kunst. Hegel berichtet also eine Verfallsgcschichte. Dennoch schreibt er: Man kilnn wohl hoffen, daß die Kllnst immer mehr steigen lind sich vollenden werde. H Hegel meint also ebensowenig wie eine Geschichte des Verfalls der Welt eine Geschichte des Verfalls der Kunst.}8 Aber er fügt hinzu: ihre Form hat allfgehört, das höchste Bedürfnis des GeisteI ZII lein. J9 Mithin meint Hegel eine Geschichte des Verfalls der Relevanz der Kunst: Hegels Ästhetik der romantischen Kunstform ist die Philosophie der Geschichte des Verfalls der fundamentalen Bedeutung der Kunst. Freilich: diese Philosophie der Geschichte dieses Verfalls ist zugleich die Philosophie der Geschichte eines Fonschritts: des Fonschritts in den technischen und thematischen Lizenzen der Kunst. Die Kunst wird progressiv schrankenloser in dem, was sie darf. Wo sie diese Freiheit - die gewissermaßen bezahlt ist mit ihrem Bedeutungsschwund - radikal nützt, wird sie schließlich zur ,nicht mehr schönen Kunst': zur Kunst, die: indifferent ist mindestens gegenü ber der Verpflichtung, schöne Kunst zu sein. Hegels - in seinen äußersten Konsequenzen von ihm nicht reflektiener - Ausdruck für
40
Zur Ikdeutung der Theorie des Unbewußten
diese Kunst ist: sie sei HinlJuJgehen der Kumt über Jich Je/bJt, doch . .. in Form der Kumt Je/ber. 40 Im Blick darauf ist hier These: eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst muß sein die konsequent gemachte und über Heget hinaus weitergetriebene Hegelsche Theorie der romantischen Kunstform. 41 7. Denn diese Theorie ist die Philosophie des Prozesses der Aufhebung des numerus clausus in bezug auf das, was künstlerisch erfaßt werden darf und wie es künstlerisch erfaßt werden darf. In diesen Prozeß greift nun - wurde gesagt - die Theorie des Unbewußten ein. Das geschieht zunächst im Zeitraum der von Hegel so genannten AujlöJungJjormen der romantiIchen Kumt: 42 einem Zeitalter, das - nach Hegels Analyse - extrem zu äußerlich und zu innerlich ist, um jene ,innerliche Äußerlichkeit' und ,äußerliche Innerlichkeit' zu besitzen, die als die ,schöne' künstlerisch nachgeahmt zu werden vermag. Wie kann sie sich das ist die romantische Frage - gleichwohl in schöner Kunst ausdrücken? Wie kann darüber hinaus - dem von Hegel analysienen und akzeptienen Bedeutungsschwund zum Trotz - die absolute Bedeutung der Kunst aufrechterhalten und gestärkt werden? Die romantische Ästhetik sucht Antwon auf diese Frage in drei Theorien: der Theorie des Genies; der Theorie der Naturbestimmtheit des Genies; der Theorie des Unbewußten. - Da ist a)die Theorie des Genies. Ihre Frage ist: wie kann eine nicht mehr von sich her schöne geschichtliche Wirklichkeit sich trotzdem in schöner Kunst absolut ausdrücken? Ihre Antwon ist: es muß etwas geben, das - wo Schönheit in der vorhandenen Welt nicht zu ftnden ist - Schönheit in die Wirklichkeit allererst hineinbringt: also ein Organ nicht zum Nachahmen, sondern speziell zum Überbieten der Wirklichkeit durch Kunst. Dieses Überbietungsorgan ist das Genie. Sein Übertreffen der Wirlliichkeil durch die KunJt J schreibt SchelJing, der als romantischer Gewährsmann legitimien ist schon durch Hegels Schellingkritik44 - vollbringt das Genie in BegeiItenmg, EnthuJilumuJ: 4 ) wie die Romantik insgesamt, so löst auch Schelling die Kunsttheorie aus der Tradition der Mimesis-Theorie und rekurrien dann folgerichtig auf die Tradition der Enthusiasmus-Theorie. 46 Das freilich wirft weitere Probleme auf. - Darum gibt es b)die Theorie der Naturbestimmtheit des Genies. Ihre Frage ist: woher bezieht das Genie seine Überbietungskraft, wenn doch nicht aus der gegenwänig geschichtlichen Wirklichkeit? Ihre Antwon ist" wenn diese Oberbietungskraft nicht aus der Geschichte kommen kann, muß sie aus NichtGeschichte kommen. Aus der Geschichte kann sie nicht kommen: die Geschichte soll ja überboten werden. Aus dieser Überbietungsverpflichtung folgt einerseits der Zwang, die Geschichte als das zu betrachten, was überboten werden muß: Geschichte wird verfallstheoretisch reduzien aufs Ensemble der Motive fürs Verlassen der Geschichte. Es folgt aus jener Verpflichtung
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten
41
andererseits der Zwang, etwas Heilend-Kräftiges zu finden, von dem her die Geschichte überboten werden kann: wenn dies nicht wiederum Geschichte sein darf, muß es Nicht-Geschichte sein. Die radikale Nicht-Geschichte ist für den geschichtlichen Menschen jene Geschichte, die er am meisten hinter sich hat: das ist - für die teils artifiziell, teils privat, also insgesamt extrem zur Nicht-Natur gewordene Welt - die Natur. Das künstlerische Genie lebt und schafft aus dieser vorgeschichtlichen Natur. 47 Damit kommt eine neue An von ,imitatio naturae' ins Spiel: die Naturimitation wird romantisch zugleich abgebaut und bewahn. Allerdings kann sie die Natur nicht mehr als Vorhandenes kopieren: 48 denn vorhanden ist - als Anefakt plus Gefühl - die geschichtliche Welt; wie kann da ,Natur' imitien werden? Offenbar einzig noch durch eine ,imitatio'. die nicht mehr Kopie, sondern Nachfolge ist: das Genie prä.sentien nicht die Natur. sondern als Natur49 und wie Natur. so Die romantische Genieästhetik ist, indem sie dies behauptet, grundsätzlich Naturphilosophie der Kunst. Das freilich wirft weitere Probleme auf. - Darum gibt es c)die Theorie des Unbewußten. Ihre Frage ist: wie kann die Natur. wenn der geschichtliche Mensch sie doch hinter sich hat. gleichwohl gegenwärtig sein? Ihre Antwon ist: die Natur ist unbewußt präsent. Die Aporie. daß Natur in der geschichtlichen Welt zugleich vergangen d. h. verschwunden und gegenwänig d. h. anwesend ist, daß sie also zugleich nicht ist und doch ist: die Aporie dieses .zugleich' löst die Theorie des Unbewußten; denn sie macht eben begreiflich: die Natur .ist nicht'. nämlich nicht .bewußt'; aber die Natur .ist doch', nämlich .unbewußt' .)1 Diesen Status des Unbewußten hat die Natur exemplarisch im Genie für die Kunst: Ichon länglt - schreibt Schelling - ist eingelehen worden, 114ß in der Kunlt nicht allel mit dem Bewußtlein aUIgenchtet wird, 114ß mit der bewußten T4tigkeit eine bewußtIoIe Kraft Iich flerbinden muJ{'2. die Philolophie der Kunlt ntl&h GrundI4tzen deI tranlzendentalen IdealismuI H muß beim Genie)4 die bewußte T4tigkeit mI beltimmt durch dje bewußtIole reflektieren. )) Nämliches meintJean Paul: das Mikhtiglte im Dichter - so schreibt erS6 - welches leinen Werken die gute und die bÖle Seile einbl4set, ist gerade tI4I Unbewußte. Und: der Genius - so formulien den gleichen Tatbestand noch der spätere Carus 57 zeichnet sich eben . .. rladurch aUI, tUß er flon dem Unbewußten ... überml gedr4ngt und beltimml wird. Diese erste. romantische Theorie des Unbewußten rettet die Natur für die Kunst vor der Geschichte: sie wird im Zusammenhang der Kunstdiskussion zuerst don nötig und repräsentativ, wo der absolute Anspruch schöner Kunst - Hegel zum Trotz und das faktische Schicksal der Kunst retardierend - noch einmal aufrechterhalten und gestärkt werden soU. und wo dies geschieht durch Abkehr von der Geschichte und durch Rekurs auf die vorgeschichtliche und angeblich heilende Macht der Natur.
42
Zw Bedeutung der Theorie des Unbcwußten
8. Dieser Rekurs aber ist faktisch eine Regression. Unmittelbare Natur: das ist in der geschichtlichen Welt ein Anachronismus. Sie heilt nicht, sie gefährdet. Anachronistisch ist in der modemen - bewußt und anifiziell gewordenen - Welt auch alles, was jetzt noch als Natur produzien und wie Natur. Folglich ist auch, Genie zu sein und als Genie zu produzieren, ein Akt der Regression. Seine und die Verfassung von all dem, für welches das Genie einsteht, ist darum das Scheitern; und die schöne Kunst des Genies wird zunehmend nur mehr zur Kunst, sich über diese Lage produktiv zu täuschen, schließlich auch dies nur noch momentan: die Geniekunst - schreibt schon 1819 Schopenhauer - erlösiden Menschen nichlaufimmer, sondern nur aufAugenblicke . .. undisi . .. nur einslweilen ein Trosl. 58 Die Flüchtigkeit dieses Trostes und sein Zusammenbruch konfrontien den Menschen fonan direkt mit der nicht weiter mehr ästhetisch verzaubenen Natur: also mit ihrer Gefährlichkeit. Der romantische Versuch, diese Natur durchs Genie als Retter zu rufen, ist fehlgeschlagen. Was Rettung bringen sollte, bedroht. Schon die Philosophie der späteren Romantik - die des älteren Schelling etwa oder diejenige Schopenhauers - charakterisien die Natur nicht mehr wie die Philosophie der früheren durch Organismus-Attribute, sondern durch Chaos-Attribute. 59 Die Natur gefährdet und zerstön. So kann diese Natur und das Genie nur noch derjenige wollen, der Zerstörung will: die eigene und ersatzweise die der anderen. Es zieht ihn dann - halb oder ganz - zum Tode: zum eigenen und ersatzweise zu dem der anderen. Die zerstörerische Natur wird übermächtig; das künstlerische Genie aber - die höchste Potenz des spielenden Menschen - hat ausgespielt: offenbar wurde es nur deswegen erfunden und gelebt, um die Konfrontation mit der skizzienen Schreckenslage zu verdecken und zu verzögern. Dieser Lage muß also - nach der genieästhetischen Episode - der Mensch sich stellen. Auf die Dauer kann er sie nicht aushalten. Zumindest braucht er neue Formen der Ausflucht. Weil die bisherigen ästhetischen Lösungen versagen, wird diese Lage zwangsläufig zum außerästhetischen Problem. Mindestens zwei neue Auswegmöglichkeiten bieten sich an. Spätestens seit Beginn des neunzehnten Jahrhundens wird dieses Problem a)zum außerästhetischen Problem innerhalb der Reichweite der Ästhetik. Damit wird etwas aktut, was bei Hegel angelegt, gewiß aber noch nicht ausdrücklich vorgesehen war: der Weg in die nichl mehr schöne Kunsl. All jene Untergänge, die real zu leben der Mensch scheuen muß, sucht er in künstlerische Unwirklichkeit zu übersetzen. Er konzentrien sich, gerade weil er es fürchtet, anistisch aufs Schlimme. Er versucht, sich seine Realisierung durch seine Thematisierung und durch die Weise seiner Thematisierung zu ersparen. Darum tritt alsbald neben die Ästhetik des Schönen die des Nicht-Schönen: die des Erhabenen, des Tragischen, des Komischen, des Ironischen, des Humoristischen, des Kauzigen, des Grausigen, des Häßli-
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten
43
chen, usw. Diese Ästhetik des Nicht-Schönen entwickelt sich aus der Rolle einer Nebenästhetik heraus. Sie wird schließlich universell; dabei entdeckt sie eine Fülle neuer Themen und Formen. 60 Die Problematik dieser Auswegmöglichkeit macht zugleich eine andere Möglichkeit akut: das ästhetisch ungelöste Problem wird b) zum außerästhetischen Problem außerhalb der Reichweite der Ästhetik. Damit wird wiederum etwas akut, was bei Hegel allenfalls angelegt, gewiß aber noch nicht ausdrücklich vorgesehen war: der Weg in die nicht mehr künstlerische Kunst. Besonders naheliegend sind Aktionen in der Obhut der Heillrunst. All jene Untergänge, die real zu leben der Mensch scheuen muß, sucht er dabei in vermittelte, reflektierbare, aufhalt bare , kurierbare und jedenfalls betreute Formen des Zerbrechens zu überführen: er sucht sie als Krankheiten zu leben im Schutze des Arztes. So tritt bereits innerhalb der Romantik neben das philosophische Zentralinteresse am Ästhetischen das am Medizinischen; auch die Dichtung wird wachsend aufmerksam nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf Krankheit und Arzt. Kunst begreift sich zunehmend selber als Therapie oder Symptom oder - pharmazeutisch-toxikologisch - als die Indifferenz beider: als stimulierende oder sedative Droge und artifizielles Paradies. Genie wird zum Symptom unter Symptomen, .\sthetik zur Spezialität diagnostischer Praxis. Das vormals ästhetisch anikuliene Problem anikulien sich - wenigstens notfalls - medizinisch. 61 9. Beide Möglichkeiten werden im Laufe des neunzehnten Jahrhundens d. h. sie werdengleichzeilig und in gleicher StlChe - akut und repräsentativ: ebenso die Möglichkeit der nicht mehr schönen Kunst wie auch die im Aktionsradius der Medizin. Was bedeutet das? Doch wohl dieses: dieselbe Herausforderung - die unbewußte Natürlichkeit der geschichtlichen Welt - ist durch künstlerische wie durch nichtkünstlerische Maßnahmen gleichermaßen beantwonbar. Daraus folgt die pnnzipielle Konvertibilität von Kunst und Nichtkunst. Die Auswechselbarkeit oder Identität künstlerischer und medizinisch relevanter Phänomene - vielleicht gar ein irriger Befund, sicher aber einer, an dem Wahres sich ablesen läßt62 - ist davon nur ein Sonderfall. Im Blick auf diesen Sonderfall lassen sich jedoch allgemeine Kategorien jener Konvenibilität entwickeln. Das getan zu haben, macht einschlägig die Bedeutung der Theorie Freuds. Diese Bedeutung wird leicht verdeckt: teils durch die Kurzschlüssigkeit mancher Kunst- und Künstleranalyse Freuds, teils durch die scheinbare Konventionalität seiner kunsttheoretischen Thesen. Wo Freud über Kunst sich äußen, scheint er zunächst nur die romantische Genietheorie zu wiederholen: Kunst hat mit Phantasie zu tun; sie bewahn innerhalb der hanen Realität liebliche Schonungen; innerhalb der Kultur präsentien sie Natur;
44
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten
sie ist Spiel. gesteigener Tagtraum: 6 ) all das haben die romantischen Genietheoretiker auch gesagt. Man kann durchaus zum Eindruck kommen. daß gerade die psychoanalytische bzw. tiefenpsychologische Kunsttheorie besonders konservativ ist: sozusagen der allerletzte Versuch. die romantische Genietheorie aufrechtzuerhalten. Aber das scheint nw so. In Wirklichkeit hat Freud - indem er noch einmal die Theorie der Kunst auf eine Theorie des Unbewußten baute - dieser Kunsttheorie neue Möglichkeiten erschlossen. Die Kunst bleibt. wo sie unschön ist. nicht länger suspekt; zugleich wird begreifbar. daß Kunst mit Nicht-Kunst konvenibel ist. Freud erschließt diese Begreifensmöglichkeiten im wesentlichen durch zwei theoretische Operationen. Erstens hat Freud das Unbewußte als das Verdrängte interpretien: 6oC Unseren Begnffdes Unbewußten - schreibt er - gewinnen wir IlUS der Lehre "on der Verdrängung. 6) Diese Lehre macht plausibler. als noch die Romantik dies tun konnte. wie Heiles in der offiziellen Wirklichkeit nicht zugelassen wird; und diese Lehre macht zugleich die nachromantische Einsicht geltend. daß das offiziell nicht Zugelassene nicht allemal das Heile ist: seine Abwehr kann nötig werden. wo es regredien und destruien. Freuds Defmition des Unbcwußten durch Verdrängung hat also das Unbewußte verzweideutigt: verdrängt wird das zu Unrecht verstoßene Heile - Deckname Eros - und das zu Recht verbannte Unheil - Deckname Todestrieb - gleichermaßen. 66 Zugleich aber hat diese neue Defmition dem Begriff des Unbewußten seine traditionelle Langweiligkeit genommen: erst die Verdrängungslehre macht ihn brisant. 67 Zweitens hat Freud - auf Grund dieser Verdrängungslehre - eine Geschehensfigur durchsichtig machen können. die er die Wiederkehr des Verdr4nglen nennt: 68 was immer aus der offiziellen Wirklichkeit an Gutem oder Schlimmen ausgestoßen wird. erzwingt dabei eine Ersatzpräsenz. Wir erfllhren - schreibt Freud - daß die Verdrängung in der Regel eine ErSlltzbildung schilift . .. "'s Anzeichen einer Wiederkehr des Verdrängten. 69 Diese Wiederkehr des Verdrängten ist für Freud die Geschehensfigur der Sublimierungen. Symptome und Therapien. Und jedenfalls ist die Wiederkehr des Verdrängten der Schlüsselbegriff der von Freud her möglichen Theorie der Kunst: lIf1 is perhllps the ",ost "isible return 0/ the represseti. 70 Mit diesem Begriff vermag Freud mindestens dreierlei geltend zu machen: a) Wiederkehr des Verdrängten: das kann - wenn doch das Verdrängte Gutes oder Schlimmes zu sein vermag - zweierlei sein; und so ist Kunst. begriffen als Wiederkehr des Verdrängten. ihrerseits zweierlei: Geltendmachen des unterdrückten Besseren oder milde Präsenz des schlimm-Regressiven. Sie ist Vorschein 71 des Heilen oder Abfang des Barbarischen 71 • Sie antizipien Glück oder domeruzien Aggressionen. Die einstmals schöne: jetzt bahnt sie an oder erspan. Sie ist temperiener Protest oder jene ",ilde
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten
Narkose, in die uns die Kunst lIersetzt,73um Unenrägliches zu enragen. Erschließender Protest und ersparende Narkose: zuweilen ist das ununterscheid bar: wo wird Protest zur Ersparung? wo wird Ersparung zum Protest? -: beide Fragen gehören zu dieser Theorie der Kunst; indes wo sie gestellt werden, ist eines immer vorausgesetzt: Kunst ist Funktion 1I0n etwlls, ths selber nicht Kunst ist. b)Wiederkehr des Verdrängten: das ist nicht nur die Kunst; sondern das sind auch: pathologische Symptome, Traum und Rausch, Fehlleistungen, lächerlichkeiten; aber das sind ebenso: geschichtliche Aktionen, Institutionen, Ideologien; und das sind schließlich theoretische Operationen und die Formen ihres Vollzugs: also z. B. Forschungsgruppen, die mit Grenzphänomenen des Ästhetischen sich befassen. Kunst ist also eine der Formen von Wiederkehr des Verdrängten unter viden; sie ist eine Ersatzbildung unter anderen; unter all diesen Paralldaktionen ist sie nur ,auch eine': Kunst ist konvenibel mit außerästhetischen Phänomenen; sie ist ersetzbar durch Nicht-Kunst; der scheinbar qualitative Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst löst sich auf: die Kunst lIer/iert ihre Ilusgezeichnete Stellung. c)Wiederkehr des Verdrängten: durch diese Kennzeichnung, die sie gleichsetzt mit allerlei anderen Ersatzbildungen, erhält die Kunst bei Freud in der Tat eine rellltill dürftige RO//e;74 und so verlien auch die Theorie der Kunst bei ihm ihre exzeptionelle Position. Gerade dies aber kann für den Kreis des InhJts und der AuffllJsungn der Kunst nicht folgenlos bleiben: wenn Kunst und Nicht-Kunst venauschbare Phänomene werden, wird die Grenze der Kunst uninteressant und das, was in ihr zulässig ist, unterliegt keiner Beschränkung mehr. Wo Kunst und Nichtkunst konvenibel werden, gibt es - unabhängig davon, ob Freud dies ausdrücklich gesagt hat oder nicht - nichts mehr, was nicht kunstfähig wäre. Die Festlegung der Kunst auf das Schöne wird endgültig bedeutungslos; denn: radikaler noch als für Hegd ist die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für Freud ein Vergangenes. 10. Was leistet die Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst? Wie sich gezeigt hat: einiges. Zunächst allerdings kollaborien die Theorie des Unbewußten mit der des Genies. Dann aber - vor allem in ihrer radikal-nachromantischen, ihrer Freud-Gestalt - gewinnt sie entscheidende Bedeutung für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst. 76 Freuds Definition der Kunst als Wiederkehr des Verdrängten: gerade weil sie die Kunst konvenibel macht mit außerästhetischen Phänomenen, macht sie sie auch extrem unempfindlich gegenüber der Verpflichtung, schöne Kunst zu sein. Die Möglichkeiten dieser Definition habe ich anzudeuten versucht: Kunst ist bei Freud - wie manch andere Aktion - entweder Form der Erschließung einer verdrängten wahren Wirklichkeit (Protest) oder Form der
46
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten
Ersparung einer verdrängten schlimmen Wirklichkeit (Narkose) oder beides: narkotisierender Protest oder protestierende Narkose. All das wird sie gewissermaßen notwendig beim heutigen Stand eines - bereits von Hege! analysienen - allgemeinen Prozesses: der zunehmenden Aufhebung aller Beschränkungen in bezug auf das. was künstlerisch erfaßt werden darf und wie es künstlerisch erfaßt werden darf. Etwa in diesem Sinne ist der hier vorgebrachte Nekrolog auf die absolute Bedeutung der Kunst strikt identisch mit einem Epinikion auf die ihr zugewachsene Fähigkeit. alles und dies alles in jeder nur möglichen Weise zur Geltung zu bringen.
Exile der Heiterkeit Philosophie ist das Alleremsteste. aber so ernst wieder auch nicht. Th. W. Adomo. Negative Dillleil#il
1. Kntiil flerlUI Heiterileit Philosophie ist. wenn man trotzdem denkt: trotz - dies heißt das heute trotz jener ihrer Trends, die den Menschen die Heiterkeit verbieten wollen. Aber wer in Wirklichkeit denkt, denkt die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist nicht heiter: das - mit emphatischem Ernst - antworten die Kritischen Theoretiker; und sie verweisen auf das, was sie Entfremdung nennen: daß des einen Leben der Tod des anderen ist, daß die Menschen vom Leiden anderer Menschen leben, die Freiheit von der Knechtschaft, die Gleichheit vom Unterschied, das Hinsehn vom Wegschn, das Glück vom Unglück. die Heiterkeit vom Grauen: dieser Zustand - der sogenannte bestehende - klagt an, er bedrückt. bestürzt und empört. er macht traurig; darum ist für diese ernsten Kritiker die denkende Wissenschaft, die Philosophie - das schreibt Adorno - .. die traurige Wissenschaft'" und eben nicht - wie Nietzsche wollte - .. die fröhliche Wissenschaft", deren etwas mühsame Fröhlichkeit - die sich zwar als Heiterkeit maskierte: sie versteht sich .. besser ... auf die Heiterkeit", aber vielleicht einzig deswegen, weil sie es darauf anlegte ... gut zu vergessen"2 - doch nur auf indirekte Weise die philosophische Pflicht zur Traurigkeit zu beweisen scheint. Wohlgemerkt: längst bevor die Traurigkeit zur philosophischen Pflicht wurde. hatte die Philosophie Neigung zur Traurigkeit. zur Melancholie (ou 8LcI vO
48
Exile der Heiterkeit
was sie aus der Wirklichkeit ausgeschlossen glaubt: das Glück und die Heiterkeit; als Gegenwäniges läßt die kritische Philosophie sie im Stich und vertreibt sie in die hoffnungslose Hoffnung des ganz anderen einer heilen Zukunft: erst damit sind sie wirklich preisgegeben. Aus ist es mit der göttlichen und glücklichen. vorbei ist es mit der heiteren. zu Ende ist es mit der fröhlichen. aus ist es schließlich sogar mit der traurigen Wissenschaft: die Philosophie will kritisch Ernst machen. d. h. die Heiterkeit lassen; so ergreift der Ernst die Macht. so venreibt er die Heiterkeit. Wohin? Das ist die Frage. Philosophie ist. wenn man trotzdem denkt: an Exile der Heiterkeit. Wer so - in dieser prekären. fast schon gejagten Form - auf Heiterkeit setzt. sollte - falls er kann - bei sich selber anfangen oder wenigstens aufhören. der Philosoph beim Philosophen. die Philosophie bei der Philosophie. bei ihrer eigenen Heiterkeit. Aber gibt es denn diese Heiterkeit noch. darf es sie noch geben. ist sie nicht unmenschlich? Die Philosophie einstmals die scientia non humana sed divina4 - war heitere Wissenschaft: kann sie - nun als scientia non divina sed humana - heitere Wissenschaft bleiben? Vielleicht bewahn sie - wo sie sich weigen. eifernde und traurige und wütende Wissenschaft zu werden - die Heiterkeit und ihre Heiterkeit einzig dadurch. daß sie sich ihrer traditionellen Beziehungen zum Lachen erinnen. daß sie - approximativ - zur Wissenschaft vom Komischen. hilfsweise zur komischen Wissenschaft. gegebenenfalls zur komischen Wissenschaft vom Komischen wird. Aber wie kommt sie dazu? Womöglich. indem sie der Fluchtroute der Heiterkeit folgt und deren Emigrationsstationen: Wirklichkeit. Kunst. Komisches. Philosophie. Je mehr die Heiterkeit auf der Flucht ist. d. h. je entkommender und je ohnmächtiger sie wird. desto mehr nähen sie sich dem Lachen; denn vielleicht besteht diese Flucht darin. daß jede dieser Stationen - auf der Suche nach Distanz um den Preis der Ohnmacht - in ihr Exzentrisches emigrien: die Wirklichkeit in die Kunst. die Kunst in das Komische. das Komische in die Philosophie. Die .ungelebte' Heiterkeit der Wirklichkeit macht sich geltend durch die Kunst. die der Kunst macht sich geltend durch das Komische. die des Komischen macht sich geltend durch die Philosophie. Das könnte heißen: in demselben - großen oder geringen - Maße. in welchem die Kunst die Pointe der Wirklichkeit ist. ist das Komische die Pointe der Kunst und die Philosophie die Pointe des Komischen; oder umgekehn: in demselben - großen oder geringen - Maße. in welchem die Wirklichkeit die Pointe der Kunst ist. ist die Kunst die Pointe des Komischen und das Komische die Pointe der Philosophie. Vielleicht handelte es sich - bei diesem Fluchtweg der Heiterkeit von Exil zu Exil - um eine Konsequenz. jedenfalls handelt es sich bei ihm - plausibel oder nicht - um eine Sequenz: sie sei. versuchsweise. verfolgt. Dabei wird hier - angesichts der neoeschatologischen Wut auf die
Exile der Heiterkeit
49
Heiterkeit und zweckmäßigerweise - don angefangen. wo in einem poetisch hermeneutischen Zirkel angefangen werden muß: bei der Kunst.
2. Kunslllls Heilerileilsexil Wo die Wirklichkeit offiziell zum nur noch Ernsten wird. emigrien ihre Heiterkeit in jenen Teil dieser Wirklichkeit. der kompensatorisch - sozusagen hilfsweise und statt dessen - ihre Heiterkeit bewahn: in die Kunst. "Ernst ist das Leben. heiter ist die Kunst"1: das hat Schiller formulien. und Weinrich - als Signalspczialist - hat es erneut signalisien. nämlich in der Weise Weinrichs: bei seinen "Drei Thesen von der Heiterkeit der Kunst"6 hat er - zum Zwecke der Inszenierung einer Wissenschaft von der üteratur für Kenner und Leser - senderbewußt und empfängerbewußt die Rollen verteilt: hier ist der Künstler und da ist das Publikum; dieses ist heiter und jener ist - ein wenig frustrien durch die irreduktible Heiterkeit des Publikums. zugleich aber harmlosigkeitsgewiß und darum in bekümmerter Weise unbekümmen aufNegativcs. aufErnstcs becbcht - der Gegensteuermann: ernst ist der Künstler. heiter ist das Publikum. Aber weder hat Schiller es so gesagt. noch hat Weinrich es ausschließlich so gemeint. Drum hat zwar Wc:inrichs TcXt recllt; aber Weimichs Überschrift hat noch mehr recht als Weinrichs Text. Denn das Publikum ist ja nicht - weder von Natur noch per dccisionem absolutam - aus sich selber heiter. sondern eben durch die Kunst: die Heiterkeit der Kunst entsteht nicht durch die Heiterkeit des PubJiJrums. sondern die Heiterkeit des Publikums entsteht durch die Heiterkeit der Kunst. Aber woher diese Heiterkeit dcr Kunst? Die Wirklichkeit ist doch wirklich - und jedenfalls offiziell - traurig und ernst. Setzt sich also die Kunst betrügerisch - über die Wirklichkeit hinweg? Keineswegs. Denn die Kunst ist dadurch Kunst. daß sie die Wirklichkeit zu ihrem Moment macht: wäre in der Kunst - wie das die realistischen Widerspiegier der Tendenz nach meinen - alles Wirklichkeit. wäre sie eben Wirklichkeit und keine Kunst; und wäre in der Kunst - wie das die kreativistischen Illwionisten der Tendenz nach meinen - gar nichts Wirklichkeit. wäre sie eben gar nichts und dann auch keine Kunst. Entscheidend also ist. daß die Wirklichkeit ihre Traurigkeit. ihr Ernst - in der Kunst Moment ist. und daß man sieht: die Heiterkeit der Kunst ist gar nicht das Gegenteil des Ernstes. sondern eine bestimmte Weise. mit dem Ernste zu leben. nämlich so. daß er zum Moment eingearbeitet. d. h. heruntergespielt wird. und zwar dadurch. daß die Kunst das. was in der Wirklichkeit des offiziellen Ernstes nichts gilt und das Nichtige ist. geltend macht. und indem sie das. was in dieser Wirklichkeit offiziell alles ist und totale Geltung beansprucht. in dieser totalen Geltung
50
Exile der Heiterkeit
negien. Die Heiterkeit der Kunst besteht darin, daß sie - indem sie anderes ins Spiel bringt - den Ernst zum Moment herunterspiele. Das ist ihr freilich nur möglich, weil der Lebenscrnst immer schon überboten ist durch den Ablebensernst; zum Moment herunterspielen kann die Kunst den Ernst der Wirklichkeit deswegen, weil sie sich mit dem verbündet, was ihn an Ernst überbietet: dem eigenen Tod. Dieses Bündnis mit dem eigenen Tode begründet - indem es durch den Tod vom Leben und dann durch das Leben (und es muß dazu all seinen Glanz ins Spiel bringen) vom Tode entlastet die Heiterkeit der Kunst: die Kunst ist schon zuviel Tod, um noch ganz ernsthaft Leben, und sie ist noch zuviel Leben, um schon ganz ernsthaft Tod zu sein: wenn der Tod zu den letzten Dingen gehön oder das letzte Ding ist, sind KunstWerke - und dies vor allem stiftet ihre Einmaligkeit: daß sie letzte Blicke sind, für die die Dinge aussehender werden und sozusagen Plädoyers fürs Lebenbleiben und gegen das Sterbenwollen - vorletzte Dinge schlechthin. Darum gehön zu ihrer Heiterkeit - und dies negien nicht das Publikum, sondern erklän seine Eigenan als Ferien vom Wir - die Einsamkeit des Todes: just so, wie bei einem, der schon abgefahren und noch nicht angekommen und gerade dadurch - obwohl zwischen Ernst und Ernst unterwegs - für den Ernst nicht erreichbar ist, ist es bei der Kunst, die heiter ist, weil sie sich - für beide nicht erreichbar und in diesem Sinne ohne Angst woanders - zwischen dem Ernst des Lebens und dem Ernst des Todes aufhält: Kunst ist instirutionalisiene Unerreichbarkei~. Freilich: ist das nicht - nur noch einmal ein wenig durcheinandergcschüttelt und geringfügig anders arrangien und im übrigen kräftig verkürzt - der Kunstbegriff der ,Kunstpcriode'? Ist diese Kunstpcriode - die der Ästhetik der autonomen Kunst - nicht längst vorbei? Kommt also die DefInition der KUDSt durch ihre Heiterkeit nicht viel zu spät? Wie verhält sie - die von an degage handelt im Zeitalter der litterature engagec9 - sich zum "Ende der Kunstpcriode" IO ? Wie - nach dem Ende Hegels - zu Hegels Satz vom Ende der Kunst II? Ist sie heute - im Zeitalter des HeiterkeitsVerueibs durch die Kritik, die Ernst machen will - überhaupt noch eine mögliche KunstdefInition? Bleibt die Kunst - als TraurigkeitsVerweigerung, als flüchtiges Vize glück durch Unerreichbarkeitsinstirutionen - nicht viel zu erreichbar und verschrbar? Ist sie ein sicheres Exil der Heiterkeit? Und falls nicht: was dann?
3. Kritik versUJ Heileru,'t
Es besteht eine Schuldvermurung gegen die durch Heiterkeit dcfmiene Kunst: in eine scheinbare Autonomie entzieht sie sich - scheint es - jener absoluten und absolut ernsten Aufgabe, der sich - wenn die Kritik, die
Exile der Heiterkeit
~1
Ernst machen will, recht hat nichts entziehen darf: dem vermeintlich unbedingten und totalen Pensum, die traurigen Verhältnisse zum Besseren, zum Besten zu wenden, also der Weltverbesserung. Wenn das so ist, kommt es darauf an, die Kunst zum Ernst zurückzurufen, sie zur Verantwonung zu ziehen und ihr ihre Heiterkeit auszuueiben durch die argwöhnische Frage, wie sie zu dieser absoluten Aufgabe sich verhalte. Das ist - operierend mit einer Sozialbindungsklausel der Kunst - die Frage nach ihrer Funktion: im Blick auf die absolute und absolut ernste Aufgabe der Weltverbesserung hat - meint die Kritik, die Ernst machen will - alles Funktion, indem es ihr nützt oder nicht nützt, d. h. schadet 12 • So mißt sie die tatsächliche Funktion der Kunst an ihrer obligaten, verdächtigt sie des Verrats an ihrer obligaten Funktion, klagt sie der Relevanzverfehlung an, beschuldigt sie und verlangt von ihr Entschuldigungsanstrengungen. Daher fragt sie - die Antwon schon kennend: Kunst ist ancilla salutis, servus emancipationis oder schlimm (und also schlimm) - mit dieser Absicht: wozu Kunst? Diese kritische Frage verschafft der Kunst schlechtes Gewissen und zerstön dadurch die Heiterkeit der Kunst. Wozu Kunst? Die Kunstkritiker, die Ernst machen wollen, also - weil es eine Korrelation gibt zwischen Dilettantismus und Aggressivität - die Soziodilettanten unter den Ästhetikern haben diese Frage - zu Lasten der Kunst und ihrer Heiterkeit - nur verschieden beantwOnet; es kommt darauf an, sie zu parieren. Alles - meinen die so Fragenden - ist verdächtig, vorm absoluten und absolut ernsten Pensum der Weltverbesserung schuldig zu sein. AlS() - das folgt daraus - auch die Kunst, also - das folgt ebenso daraus - nicht nur die Kunst, also auch die Fragen an die Kunst und die Fragenden dieser Fragen, also schließlich - denn sogar das und vor allem das folgt daraus - auch die Frage ,wozu Kunst?': a11 das ist verdächtig. Es kommt darauf an, die Kritik auf die Kritik, den totalen Verdacht auf den totalen Verdacht anzuwenden. Wozu seine Wozufragen an die Kunst? Wozu die Tribunalsucht gerade der Ästhetik: warum hat die Kritik, die Ernst machen will, sie nötig, warum hat sie sich selber nötig? Wozu Wozufragen mit der Intention, alles zu verdächtigen, über alles Gericht zu sitzen, das absolute Gewissen und totale Ober-Ich von allem zu sein? Dazu: um angesichts der Traurigkeit der Welt unterm Druck der Qual dessen, der da Gewissen hat, diesem Gewissenhaben zu entkommen, also zum Zwecke der Flucht, einer Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissemein. Freuds Theorie der Ökonomie des Ober-Ich implizien - scheint es - justament diesen unbehaglichen Zusammenhang: daß jemand, der Gewissen ,wird', sich dadurch die Notwendigkeit ersparen kann. Gewissen zu ,haben'u; das muß nicht so laufen, erklän aber, warum die Kritik in der Regel nicht wegen der Kritik, sondern gerade als Entlastung durch diesen Vermeidungsenrag attraktiv wird. Darum auch darf man im Hause der
Exile der Heiterkeit
Kritik nicht von Entlastung sprechen: das korwnt der Sache zu nahe. Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit Schritt innerhalb einer bestimmten Tradition: denn erst - in der biblischen Religion - saß Gott über die Menschen zu Gericht; dann - in der Theodizee - die Menschen über Gott; dann - in der geschichtsphilosophischen Kritik - die Menschen über sich selber. Das Gericht der Kritik ist also Sdbstgericht. und das ist anstrengend. darum wählt die Kritik den Ausweg. dabei nicht der Angeklagte zu sein. sondern - durch eine imitatio Dei - der Ankläger; sie wird Instanz. um nicht Fall zu sein; sie entlastet sich. indem sie richtet. um nicht gerichtet zu werden; sie beschuldigt alles. um selber entschuldigt zu sein (wer unschuldig ist. werfe den ersten Stein; darum - um sich Unschuld zu beweisen - werden heute Steine geworfen). Die Kritik: das sind Ferien vom über-Ich dadurch. daß sie selber jenes über-Ich wird. das die anderen nw haben. und das selber kein über-Ich hat. Dem .. an sich" und .. für sie" verwteilten Zustande ist sie dann .. für sich" 14 schon entkommen: der veruneilte Zustand sind somit die anderen. Und die Kritik entkommt absolut. indem alle veruneilten Zustände so die anderen werden und die Kritik selber gerade dadurch das absolut Unanklagbare wird. das. was Menschen doch eigentlich nicht sein können: das Absolute. das nicht mehr gerichtet wird. weil es nur noch selber und nur noch andere richtet. Die Kritik: sie •hatte , Gewissen. aber das hat sie in dem Maße. in dem sie absolut vom ist. hinter sich: statt dessen ,ist' sie nun Gewissen. und zwar das absolute. Diese Flucht in den Prozeß. den sie anderen macht. um ihn nicht selber gemacht zu bekommen. diese Flucht ins absolute über-Ich. welche die Kritik ist, ist also nicht Wahrheit. sondern in Wahrheit eben Flucht: Entlastung in der Maske des Dienstes an der Wdtverbesserung durch Belastung der anderen: ihr wesentlicher - uneingestandener - Zweck ist die Etablierung ihrer eigenen absoluten Immunität\). Jede ihrer Anklagen ist ein Mittel. jede von ihr angeklagte Wirklichkeit ist eine occasio l6 • immun zu werden. Darum - dies gilt für jede Kritik. die Ernst machen will, es gilt insbesondere auch für die Kunstkritik. die Ernst machen will - darum trifft sie die Wirklichkeit. die sie anklagt. nicht spezifisch: denn diese ist für die Kritik ja nur ein Vorwand für ihre absolute Immunität. Gerade das UnspezifISChe ist der Kritik an der Wirklichkeit wichtig. gerade darauf legt sie sie fest: das zu sein. was die Kritik selber auch ist. aber nicht wahrhaben will. Denn gerade dadurch. daß die Kritik alles andere anklagt. bloß Entlastung zu sein, ist sie selber bloß Entlastung; gerade dadurch. daß sie allem anderen die Heiterkeit und die Lust verbietet - die bildnerische Lust am Raum. dit' musikalische lust an der Zeit. die poetische lust am Text 17 • die hermeneutische lust am Kontext - verschafft sie sich selber eine raffmiene Surrogatlust: die Wonnen des Argwohns. das Vergnügen am Verdacht. die Faszination der Entlarvung; gerade dadurch. daß die Kritik die Diskriminierung
Exile der Heiterkeit
diskriminien. sichen sie sich selber das Diskriminierungsmonopol; gerade dadurch. daß sie alle Privilegien angreift. gewinnt sie selber das absolute. das Privilegienabschaffungsprivileg; gerade dadurch. daß sie gegen Autonomien - etwa die Autonomie der Kunst - zu Felde zieht. erreicht sie für sich selber jene Autonomie. die die Heteronomie für die anderen ist; gerade dadurch. daß sie jede Unterdrückung verdammt. wird sie selber zur Unterdrückung. und gerade dadurch. daß sie gegen das Parasitäre sich wendet. wird sie selber das Parasitäre. Je mehr sie sich dadurch - gemessen an ihrem eigenen Maßstab - ins Unrecht setzt. braucht sie das Ins-Unrecht-Setzen anderer. um sich selber für diesen Einwand taub zu machen und über ihn erhaben zu sein. So macht sie allem anderen (und die Flucht in diesen Vorwurf ist die Kritik) den Vorwurf. das zu sein. was sie selber isti': der einzige Unterschied - sozusagen die integriene Gesamtdifferenz - zwischen der Kritik und allem anderen besteht darin. daß sie selber der Ankläger ist und alles andere das Angeklagte. Aber justament dieser Unterschied ist ihr Trick: er - also diese ständige Verwandlung der accusatio sui in eine accusatio alterius. die die Kritik Dialektik nennt 19 - ist das Kapital. mit dem die Kritik ihren absoluten Profit macht. denn er erlaubt ihr die Flucht. an der ihr liegt: die aus dem Gewissenhaben in die absolute Immunität des Gewissenseins. Solch ein Versuch. den bösen Blick der Kritik auf die Kritik selber zu richten. mag zeigen: die Kritik. die Ernst machen will. ist trotz ihrer Geltung nichtig. Aber dennoch begründet dieser böse Blick keine heitere Prognose. vor allem keine für die Heiterkeit der Kunst: die Kritik. die Ernst machen will. hat nämlich trotz ihrer Nichtigkeit Geltung. und zwar in wachsendem Maße. Denn gerade weil sie - durchschaut - Flucht aus der Wirklichkeit. und gerade weil sie - durchschaut - ein Entlastungsarrangement ist. ist sie erfolgreich: die Moral ist nur die Maske. ihr faktischer Eskapismus aber der Grund ihres Erfolges; gerade auf ihrer Fragwürdigkeit beruht ihre Attraktivität. ihre Unwiderstehlichkeit. der Triumph der Kritik. So fihn sie - wachsend erfolgreich - fon. durch ihre Anklagen die Wirklichkeit zu belasten und zu defmieren. durch ihre Anklagen die Kunst zu belasten und zu diskriminieren. Der wachsende Triumph der Kritik ist das Ende der Kunst: das Ende ihrer Heiterkeit 20 •
4. Komik als Heilerkeilsexil Wo der Kunst - dem Exil der Heiterkeit - kritisch die Heiterkeit verboten wird. emigrien diese Heiterkeit in einen besonderen Teil dieser Kunst. der kompensatorisch - sozusagen hilfsweise und statt dessen - ihre Heiterkeit bewahn: in die komische Kunst. ins Komische. ins Lachen.
54
Exile der Heiterkeit
Komisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offIZiell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt. Dieser Versuch einer systematisch-philosophischen Definition ist - angesichts des historischen Überflusses an philosophischen Deflnitionsversuchen - pure Notwehr. Die historische Philosophie geht mit Texten um, die systematische Philosophie umgeht Texte21 : aber selbst hier gelingt das Umgehen der historisch vorliegenden einschlägigen Texte nur durch Bezugnahme auf einen Text; denn im Grunde handelt es sich bei der vorgeschlagenenen Definition einzig um die Neuformulierung jener These, die Joachim Ritter .. ÜberdasLachen"Z2venretenhat: das lachen - meint er - habe die "eigentümliche Funktion, die ... Zugehörigkeit des anderen zu der es ausgrenzenden Lebenswirklichkeit sichtbar zu machen "23 , nämlich "diese geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Dasein" z.c, "gleichgültig, ob dies nun in dem ... Sinn einer Kritik an der ... Welt selbst und ihrer Ordnung gemeint ist, oder ob es der vitalen Freude am Reichtum des Lebens und am Recht des Unsinns und Unverstands entspringt"Z); jedenfalls: das Komische und das lachen - schreibt er - .. ruft das Wesen herbei, das die verständige und anständige Ordnung nur als das Unverständige und Unanständige duldet, und setzt diese Ordnung selbst matt" 26. Im Anschluß an diese Thesen Ritters formien sich - auch, wenn dabei vielleicht unvermerkt diese These etwas umgedeutet werden sollte und auch, wenn so (Plessner 7 zum Trotz) die sozial-geschichtliche Sphäre als Bezugssystem wieder priorisien wird, und schließlich auch, wenn sie am Ende doch nicht stimmt - die vorgeschlagene Formel: komisch ist und zum Lachen reizt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt. Auch dieser These muß gewiß .. ihre komische Kraft durch ausschließende Merkmale gesichen werden" 28; so gibt es - und es darf offenbleiben, ob es sich da wirklich um ausschließende oder gar um einander ausschließende Merkmale handelt - einige weitere Bestimmungen; zuvörderst das, was man die Schwermut der Komik nennen könnte: die Untilgbarkeit nämlich des Bewußtseins, daß es überhaupt Verhältnisse gibt, die auf dem Unterschied zwischen Geltendem und Nichtigem beruhen, und daß - extrem: im Namen der Aufklärung selber - stillschweigend Aufklärung verboten sein kann darüber, daß das jeweils Geltende nicht unbedingt das Geltende und das jeweils Nichtige nicht unbedingt das Nichtige sein muß. Dieses Aufklärungsverbot läßt sich oftmals umgehen nur durch Formulierungen, bei denen unentschieden bleibt, ob man es umgeht oder nicht: durch Anspielungen 29 • Der Formulierende wird dann dabei zwar nicht ohne Angst anders sein, aber vielleicht mit Angst immer woanders sein können als don, wo man ihn gerade vermutet: er hat dabei - bei Pointen, die Anspielungen sind - den amphibischen Status der Ungreifbarkeit JO ; dies ist der Grund,
Exile der Heiterkeit
warum die Heiterkeit des Komischen die kommissarische Venretung, sozusagen die potenziene Vizeheiterkeit der Kunst sein kann. Anspielungen: zumindest können sie komisch sein. Indem man über sie lacht, zeigt sich an, daß das Aufklärungsverbot momentan durchbrochen ist: wider Erwanen eben wird sichtbar, daß das Geltende nicht unbedingt das Geltende, wird sichtbar, daß das Nichtige nicht unbedingt das Nichtige ist; im scheinbar unproblematisch Geltenden zeigt sich das Nichtige, im scheinbar unproblematischen Nichtigen zeigt sich das Geltende: die offiziellen Verhältnisse werden momentan über den Haufen geworfen. Das erspan - und dies ist der Aspekt Freuds H : risw statt nisus - vorübergehend den Aufwand, der zur Stabilisierung dieser offiziellen Verhältnisse nötig ist; es erspan freilich zugleich auch den Aufwand, der zur realen Kollision mit diesen Verhältnissen nötig wäre: indem man sie komisch nimmt und lacht, genießt man den Voneil, in jener momentanen Erleichterungslage den Status der Ohnmacht zu haben; so antwonet man auf die plötzlich sichtbar werdende Veränderlichkeit der Verhältnisse nicht mit Ändern oder Stabilisieren, also nicht mit einer Aktion, sondern einzig mit einer Aktion statt der Aktion: mit Lachen. Komisch ist also etwas oder muß es sein, mit dem man - grawamer- und angenehmetweise - nicht fenig wird, schon gar nicht durch eine Theorie. "Zum Lachen" - sagt Plessner - "ist es ja nur, weil wir nicht damit fenig werden. Eine Theorie, die feniger werden will als wir, hätte das Phänomen ... erstickt"H. Lachen bedeutet KIIp;tullltion H der Ausgrenzung vor der Zugehörigkeit des offiziell Ausgegrenzten; aber wie bei jeder Kapitulation ist es auch bei dieser wichtig, zu sehen, ob es sich um eine Kapitulation unter Bedingungen oder um eine bedingungslose: Kapitulation handelt. Beim Lachen ist beides möglich: das offiziell Ausgegrenzte kann mehr mit Absicht auf Distanz oder mehr mit Absicht auf Integration ,herbeigerufen' werden; die Grenze kann - durch Lachen - überwiegend aufrechterhalten oder überwiegend preisgegeben werden, es geht dann mehr um 1ttp«~ oder mehr um &1tltPO\l, so daß für diese lachende Mißachtung der offiziellen Demarkation beim - wie man es nennen könnte - Konzessionslachen mehr die Grenze und beim - wie man es nennen könnte - Kooptationslachen mehr ihre Hinfälligkeit wichtig ist}<4. Man lacht sich die Dinge vom Hals oder auf den Hals. Allemal aber bleibt dem durch Lachen Herbeigerufenen eine milde Ausgrenzung auferlegt; der Lachende und das Belachte kommunizieren sozwagen immer ein wenig exterritorial in bezug auf das Offizielle: an jenem neutralen On, den Roland Barthes auch für die "Lust am Text")) in Anspruch nimmt; denn auch das hat das Lachen mit allen Kapitulationen gemeinsam, daß sie am neutralen On oder im Niemandsland perfekt gemacht werden. Dies alles sind Gesichtspunkte, die nicht verlorengehen dürfen, sondern gewahn und im Auge behalten werden müssen, wenn die hier vorgeschlagene Definition nicht zu kurz greifen will: komisch ist und
56
Exile der Heiterkeit
zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt. Wo der Kunst - das war die These dieses AbschnittS - kritisch die Heiterkeit verboten wird, emigrien diese Heiterkeit in einen besonderen Teil dieser Kunst, der kompensatorisch - sozusagen hilfsweise und statt dessen - ihre Heiterkeit bewahn: in die komische Kunst, ins Komische, ins Lachen. Das ist möglich, wenn das Komische das ist, als was es hier beschrieben wurde: im eminenten Sinn eine Unerreichbarkeitsinstitution und in bezug auf die Fronten des offIziellen Ernstes exterritorial. Dabei ist das Wichtigste nicht, daß es sich hier um eine Form der Kunst handelt, sondern - unter den Bedingungen des Endes der Kunst vor und nach der ,Kunstperiode' - um ein Exil der Heiterkeit. Das bedeutet einen mindestens doppelten Preis des Lachens. Angebracht ist - angesichts des Lachgewinns der Distanz - eine laus risus; und angebracht ist - angesichts der Ohnmacht des Lachens - eine lamentatio risus. Denn der Lacher gewinnt und verlien, gewinnt durch Verlust: d. h. er kommt davon, falls er davonkommt .
.5. Kritik flerStlS Heiterkeit Denn es gibt nicht nur den Preis, es gibt auch die Preisgabe des Lachens: das sacrificium risus. Die Kritik, die Ernst machen will, opfen das Lachen: so, wie für sie das Glück des einzelnen nur ein progreßhinderliches Surrogat des Heils der totalen Emanzipation ist, sind auch die Heiterkeit der Kunst und die potenziene Reserveheiterkeit des Lachens für sie nur Surrogate. Und in der Tat: zum Lob des Lachens gehön - wie zum Lobe der heiteren Kunst - die Preisung der Surrogate: die Rehabilitierung der Ersatzhandlungen, jener Dinge, die Menschen statt dessen tun oder fInden. Denn auch die Heiterkeit der Kunst ist nicht das Glück, sondern etwas statt dessen: sozusagen das zweitbeste Glück; und die ins Lachen sich rettende Heiterkeit ist ebenfalls nicht das Glück, sondern etwas statt dessen: Glück und Heiterkeit unter Bedingungen ihrer Unmöglichkeit. Aber es kommt darauf an, zu sehen, daß die genuin menschliche Chance darin liegt, etwas statt dessen zu tun: etwas in seine Ersatzformen und gegebenenfalls sogar in seine Residualformen zu retten; gerade Residualformen können vernünftig sein: die eiserne Ration ist auch eine Form von ratio. Zum Preis des Lachens gehön der Preis der Surrogate: Fürsprache für die zweitbesten Möglichkeiten. Aber die Kritik, die Ernst machen will, duldet keine zweitbesten Möglichkeiten: sie will die besten und nichts so Halbes wie ein Surrogat, sondern entweder alles oder nichts; das gehön zu ihrem unbedingten Ernst. Nicht nur, weil sie sich durch allerlei Opfer - durch das sacciftcium individualitatis, das sacrificium felicitatis, das sacrificium intellectus, das sacriftcium
Exile der Heiterkeit
essentiae. und eben auch durch das sacrificium riNs - beweisen möchte. daß sie die Kritik ist. die Ernst machen will. ist sie gegen das Komische. gegen das Lachen. Und dieses Opfer des Lachens ist auch nicht nur eine Einstandsuntat beim Vollzug der Zugehörigkeit zur communio emancipatorum. Denn: lachen kann man nur don. wo nicht alles total dwchsichtig ist. wo also noch überraschungen möglich sind; das Lachen - als Geltendma-:. chen des Inoffiziellen - setzt voraus. daß es das Inoffizielle gibt. Aber gerade das kann und will die Kritik nicht dulden; darum kann sie gar nicht anders. sie muß das Lachen eliminieren; denn die Kritik ist ja eben. alles Inoffizielle offiziell zu machen und alles Undurchschaute zu durchschauen. jedenfalls bei allem. was von der Kritik selber verschieden ist. Faktisch freilich verlagen sie das Inoffizielle nur aus ihren Akkusationsobjekten in sich selber hinein. in das Akkusationssubjekt. Wenn sie ständig die anderen anklagt und durchschaut, um nicht sich selber anklagen und durchschauen zu müssen, bleibt - indem sie die Transparenz zur absoluten Pflicht der anderen macht - die Kritik an sich und für sich selber ein Geheimnis: das Zeitalter der Kritik ist darum - das zeigen schon simpelste Erfahrungen das Zeitalter der Geheimtransparenz. So kann die Kritik - indem sie sich durchschaut haben will. aber nicht durchschaut hat - selber komisch sein: ihr wütender Ernst und ihr Unhumor - sozusagen ein Statussymbol der totalen Transparenz - schützt sie nicht davor, sich lächerlich zu machen. Im übrigen aber gibt es im Herrschaftsgebiet der Kritik, die Ernst machen will. stricte dictu und gewissermaßen per defInitionem criticam nichts zu lachen. insbesondere don. wo es vollendet ist; don nämlich ist nichts mehr verdrängt. denn don ist alles offiziell; don kann nichts mehr überraschen. denn don ist alles durchschaut; nichts mehr darf in diesem Reiche der Identität von Identität und Nichtidentität - der Identität von Gleichheit und Freiheit - der Durchsichtigkeit sich entziehen: in diesem Zustande des absoluten Heils. der "der Illusionen" nicht mehr "bedarf")6 und in dem jede Illusion - jede vorsätzliche oder läßliche Regung. sich dem absoluten Wissen zu entziehen - Verrat ist. ist das Grundrecht auf Ineffabilität gelöscht und das Lachen - der Anwalt gerade dieses Grundrechts - nicht nur überflüssig. sondern eine verwerfliche Regression. Wie das Glück und die Kunst und sonstige nicht heilsrelevante Heiterkeiten ist auch das Lachen don nicht mehr nötig; man hat es don hinter sich; es ist Vorgeschichte geworden. denn don ist alles offiziell. nichts ist mehr nichtig. alles ist vielmehr total transparent. Je weniger dieser vollendete Zustand schon erreicht ist. desto grimmiger wird er von denen antizipien. die ihn betreiben: so verfügen die militanten Funktionäre der Kritik. die Ernst machen will. es befehlen diese Dunkelmänner der Durchsichtigkeit. die reinen Geister des Materialismus. die Diktatoren der Emanzipation das Ende des Lachens.
58
Exile der Heiterkeit
Das Ende des Lachens gehön in den Zusammenhang des Endes der Kunst; dieses Ende der Kunst aber ist ein schon sehr altes Ende: denn es begann mit der biblischen Religion. Man muß sehen, daß die Kritik die Akkusationsgestalt der göttlichen Allwissenheit und das Reich der totalen Transparenz ohne Lachen ein - freilich bedrückender - Aggregatzustand der visio beatifica ist: was damals die selig restlose Selbstanschauung Gottes warl 7 , an der teilzuhaben den Gläubigen verheißen wurde, ist die kritische Identität des Gewußten mit dem Wissen geworden, in der kein Gewußtes sich der Aufsicht durch das absolute Wissen mehr entziehen darf: die irdische Identität von Himmel und Hölle ("integriene Gesamtewigkeit"}8). Das - und manches andere mehr - paßt zu dem, was oben angedeutet wurde: daß die Kritik, die Ernst machen will, ihr Ziel und ihr Richtergestus in eine bestimmte Tradition gehön: denn (um es zu wiederholen) erst - in der biblischen Religion - saß Gott über die Menschen zu Gericht; dann - in der Theodizee - die Menschen über Gott; schließlich - in der geschichtsphilosophischen Kritik - die Menschen über sich selber. Das ist eine Tradition mit Kontinuität: die genannten Schritte bedeuten - bei aller Entzauberung, die sie bringen - weniger Säkularisation als vielmehr Mißlingen der Säkularisation: die Kontinuität wird nicht zu schwach, sondern sie bleibt zu stark39 . Wenn das so sich verhält, dann ist - kann man sagen - die Kritik mit Gott in die Welt gekommen; und sie blieb - auch nach dem Tode Gottes - zu viel, was sie war. Und wenn - was hier durchweg gemeint wurde - zugleich die Kritik mit dem Ende der Kunst zu tun hat: dann ist demnach dieses Ende der Kunst älter als die Neuzeit; denn dann beginnt das Ende der Kunst nicht erst nach der ,Kunstperiode' der autonomen Kunst, sondern schon relativ unmittelbar nachgriechisch, nämlich mit der biblischen Religion. Das ist auch die Meinung dessen, der zuerst vom Ende der Kunst sprach, die Meinung Hegels40 : das Christentum - und die modeme Reflexion, d. h. Kritik nur folgeweise - ist das Ende der Kunst. Mit und seit dem Christentum gibt es - dem Anspruch nach - eine höhere Bestimmung als die heitere Schönheit der Kunst; indem die Kunst sich dieser höheren Bestimmung fügt und sich dem Kriterium der Heilsrelevanz unterwirft, ist sie zu Ende: die Kritik, die Ernst machen will, zieht da nur die Konsequenz. Aber die Kunstperiode, aber die autonome Kunst? Daran hängt unser Herz; aber sie ist nw ein flüchtiges Zwischenspiel. Wie die Neuzeit, die - mit all ihren Autonomien - nicht nur begann, sondern auch endet, ist die autonome Kunst und ihre Philosophie, die Ästhetik, im eschatologisch-kritischen Prozeß des Endes der KUnst nur das Produkt einer glücklichen Pause: in ihr ist die Kunst ihrem Ende auf Zeit entkommen; ihre Belastung durch die Last ihres Untergangs hat sich vorübergehend gemilden. Aber vor dieser Milderung und nach dieser Milderung: da war es schwer für die Kunst, Kunst und heiter zu sein; da brauchte sie Hilfen und Auffang-
Exile der Heiterkeit
59
stellen. Eine derartige Hilfe ist - das war hier die These - das Komische und das Lachen. Als die Kunst - unter der Last ihres Endes - nicht autonom und heiter sein durfte. also vor der Kunstperiode und nach der Kunstperiode: da hatte das Komische seine große Zeit und das Lachen seine wichtigste Rolle: vorher als Form der Antizipation und nachher als Form der Konservierung der Heiterkeit der autonomen Kunst. Aber jenes Vorher und dieses Nachher. sie sind nicht gleich: wenn der Prozeß des Endes der Kunst fortschreitet. wenn in wachsendem Maße das Lachen hineinverwickdt und dabei das Ende des Lachens akut wird. dann muß die Form. die das Komische als Heiterkeitsexil vor der Kunstperiode hatte. und die Form. die das Komische als Heiterkeitsexil nach der Kunstperiode hat. verschieden sein. Das ist - vorausgesetzt. die Literaturwissenschaftier sind so liebenswürdig. es nachzuweisen - tatsächlich der Fall: das Komische als Antizipationsgestalt der autonomen Kunst ist das Komische als Genus der Kunst; das Komische als Konservierungsgestalt der autonomen Kunst ist das Komische als Objekt der Theorie41 • Dieses letztere bedeutet: angesichts des Endes des Lachens rettet sich schließlich - und es darf nach der Kunstperiode nicht wählerisch sein: was bleibt ihm schon übrig? - das Komische in die Philosophie.
6. Philosophie als HeiterReitsexiJ Wo dem Lachen - dem Exil der Heiterkeit - kritisch das Lachen verboten wird. emigrien seine Heiterkeit in jenen exzenuischen Teil der Wirklichkeit. der kompensatorisch - sozusagen hilfsweise und stattdessen - seine Heiterkeit bewahn: in die Philosophie. Zunächst wird dabei das Komische - und zwar in wesentlicher Weise Thema. Gegenstand der Philosophie. Es ist plausibel. daß diese Philosophie wachsend in Opposition zur geschichtsphilosophischen Kritik gerät. die ja Ernst machen und das Lachen beenden will. Dieses Faktum ist interessant und wichtig: jene Philosophie. für die das Komische zum wesentlichen Thema wird. ist Nichtgeschichtsphilosophie. Komisch ist - meint Kant in seiner dritten Kritik - und zum Lachen zwingt die .. plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts"4z. Komisch ist - meint Schelling im identitätsphilosophischen Ansatz - und zum Lachen zwingt "die Umkehrung jedes möglichen Verhältnisses. das auf Gegensatz beruht"43. Komisch ist - meint Friedrich Theodor Vischer - und zum Lachen zwingt der Gegensatz zum Erhabenen4ol • Komisch ist - meint Karl Rosenkranz - und zum Lachen zwingt .. die Aufheiterung des Häßlichen ins Schöne"·'. Komisch ist - meint Bergson - und zum Lachen zwingt ein als Mechanismus sich gebendes Lebendiges46 • Komisch ist - meint Freud speziell im Blick auf elen Witz - und zum Lachen zwingt eine momentane Verdrängungserspa-
60
Exile der Heiterkeit
rung47 • Komisch ist - meint Plessner - und zum Lachen zwingt eine unabweisbare, nicht unmittelbar bedrohliche, aber unbcantwonbare Situation4•• Das ist - an nw einigen Beispielen gezeigt - die Karriere des Komischen als Objekt der Philosophie seit der Kunstperiode: der Weg von der transzendentalphilosophischen und später psychologistischen Ästhetik des Kunstkomischen zur Lebensphilosophie und Anthropologie der conditio humana des Lachens. Das Komische und das Lachen wird für die Philosophie dabei wachsend zentral, und die Philosophie, für die es wachsend zentral wird, tritt in Gegensatz zur gcschichtsphilosophischen Kritik, die Ernst machen will. Diese Oppositionsphilosophie wird zum Exil der Heiterkeit: darum wird ihr das Komische, das Lachen wichtig. Aber das ist für sie kein bloßer Hilfsdienst an einem anderen: denn das Komische gehön - und es ist wichtig, das zu sehen - notwendig zur Philosophie, wo Philosophie etwas anderes ist als die Kritik, die Ernst machen will. Wenn diese - die Kritik - die "Aufhebung der Philosophie" 49 ist, gehön das Komische und das Lachen unabdingbar zur nicht aufgehobenen Philosophie: traditionell und auch und gerade don, wo die nicht aufgehobene Philosophie gegenwänig die Nachhut der Neuzeit bildet. Aber warum gehön das Komische zur Philosophie und inwiefern? Hilfreich für eine Erklärung ist die Beachtung der Tatsache, daß das modern verstärkte Interesse an der Philosophie der Komik zusammengeht mit dem modern vielleicht erst entstehenden und jedenfalls verstärkten Interesse an der Philosophie der Philosophie. Diese Tatsache wäre so zu deuten: daß die Philosophie der Komik die Philosophen wachsend intercssien als eine An von abgelegenem Obungsgelände für die Philosophie der Philosophie, und dies deswegen, weil die Philosophie der Komik die Komik der Philosophie betrifft. Es könnte also sein, daß die Philosophie ihren Sinn fürs Komische und ihre eigene Komik - sei es wie einen Malcel, sei es wie eine neue Waffe - als Geheimnis bewahren und die Theorie ihrer Komik wie manch andere Theorie ihrer selbst sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit entwikkein möchte. Wäre das so, dann stünde sie vor einer Schwierigkeit; Theorie nämlich: das ist Öffentlichmachen ; wie aber kann man Öffentlichmachen unter Ausschluß der Öffentlichkeit machen? Wie geht Theorie zusammen mit Ineffabilität? Eine Lösung dieser Schwierigkeit hat lGerkegaard versucht durch seine Technik der Pseudonyme)o: der Philosoph läßt die Theorie seiner Sache vorgeblich von einem anderen als die Theorie von dessen Sache machen; aber dieses Unternehmen funJctionien natürlich nur so lange, wie man ihm nicht völlig auf die Schliche gekommen ist. So wird der andere mögliche Weg unausweichlich: daß die Philosophie die Philosophie ihrer selbst nicht mehr ,durch' andere, sondern ,über' etwas anderes macht, und daß sie darum die Philosophie der Komik der Philosophie zunächst als Philosophie der Komik von komischen Sujets betreibt, welche nicht die
Exile der Heiterkeit
61
Philosophie sind. Sie verhält sich dann dabei ganz wie jemand. von dem man sagen kann: er beschäftigt sich nachdrücklichst unentwegt mit Steinen, Sternen. Tieren. Leuten. Büchern. Theorien und so fon mit allerlei Sachen: also insgeheim und ganz offenkundig ausschließlich immer nur mit sich selbst. These ist also: die Philosophie der Komik wird wachsend nötig und interessant und praktizien als Inkognitoform der Philosophie der Komik der Philosophie. Denn die Philosophie - die nicht aufgehobene. die. die trotzdem denkt und sich darum weigen. von der Kritik der Illusion zur Illusion der Kritik weiterzugehen - ist weder murige noch fröhliche. sie ist vielmehr heitere. und sie riskien es. komische Wissenschaft zu sein. Sie ist aus dem Stoff. aus dem das Lachen ist. denn sie ist Theorie. und es gibt zweifellos eine innige Verwandtschaft zwischen dem Komischen und der Theorie. Das zeigt sich nicht nur daran. daß die Philosophie - seit der Protophilosoph Thales in den Brunnen fiel und die Philosophen dies und mancherlei anderes Komische ihres Gewerbes gern berichteten - beständig und eifrig die Überlieferung der eigenen Komik gewesen ise'. Denn das Komische und die philosophische Theorie sind auch dann. wenn man es genau und systematisch nimmt. unzenrennlich. Freilich muß man dabei zwischen Theorie und Theorie unterscheiden. Denn es gibt - wie es politisch eine Staatsräson oder eine Paneiräson und wie es ästhetisch eine Werkräson gibt - auch eine Sichträson : wo Theorien etwas beherrschen oder bewirken und recht behalten und Folgen haben woUen. werden sie stets zu Gefangenen ihres Anfangs; sie haben ihren point of no return: politische Formationen kehren nicht mehr um. wenn in ihrem Namen zu viel Blut. wissenschaftliche formationen kehren nicht mehr um. wenn in ihrem Namen zu viel Geist und Ansehen und Tinte vergossen oder auch nur zu viel Zeit venan wurde: sie kapitulieren dann nicht mehr. Aber wenn eine Theorie nicht mehr kapitulien. muß sie jene Hilfsinterpretationen und Zwecklügen in sich aufnehmen. die sie braucht. um zu bleiben. was sie schon war; gerade durch diese Anstrengung. die eigene Linie zu halten. wird sie selber ein offiziell Geltendes. welches dasjenige. was nicht in den Kram paßt. als Nichtiges traktien: aber just dadurch hön sie auf. das zu sein. was sie doch sein wollte: Theorie. also Zusehn. wie es wirklich ist. Die Rettung der Theorie ist das Lachen. das Lachen über sich selber. das im offiziell Geltenden der Theorie das Nichtige. und im offiziell Nichtigen der Theorie das Geltende sichtbar werden läßt. Das implizien. daß die Theorie für ihre Distanz den gleichen Preis zu zahlen hat wie das Lachen. nämlich Ohnmacht: Theorie - wirkliche Theorie - ist gegenwänig Zusehn. das das Nachsehn hat; aber - und zwar wegen dieses unerläßlichen Ingrediens des Lachens über sich selber. das zu ihr gehön trotz des Nachsehns. das dieses Zusehn hat. befreit. d. h. erleichten die Theorie. weil sie - indem sie alles aufzunehmen sucht - eine Verdrän-
62
Exile der Heiterkeit
gungsersparung ist: Suspension des Aufwands an Bornierungsdisziplin. Also gerade bei der Theorie: risus start nisus. So nimmt sie hin, womit sie nicht fenig geworden ist, so - heiter - nimmt sie sich selber hin. Darum also - wegen ihrer Bestimmung als Theorie - ist für die Philosophie ihre eigene Komik nicht nur tolerabel, sondern lebensnotwendig: sie ist das Medium, in welchem die Philosophie jene Fragen aushält, für die sie die Kompetenz hat: Fragen, mit denen nicht fertig zu werden ist. Denn das war die Philosophie und das ist sie geblieben: die Wissenschaft der großen Fragen, an die sich die Erwartung von großen Antwonen knüpft. Aber - so ist das doch - wehe der Philosophie, wenn sie diese Antwonen gibt; und doppelt wehe ihr, wenn sie diese Antwonen nicht gibt. Neidvoll blickt die Philosophie auf die Wissenschaften der kleinen Fragen und Antwonen. Hier gibt es die geheimen Wunschträume; denn wie wonnevoll wäre das: einmal in einem Philosophenleben zum Beispiel Anlaß und Kraft zu haben zu einer einzigen, zu einer winzigen Konjektur. Neidvoll blickt die Philosophie auf den Empiriker. Argwöhnisch aber blickt der Empiriker zurück auf die Philosophie und macht ihr Vorwürfe: nicht nur - das ist ja das KomischVerzweiflungsvolle - nicht nur dann, wenn sie die Empirie überschreitet, sondern gerade auch dann, wenn sie die Empirie nicht überschreitet. Und so steht die Philosophie jeden guten Tag erneut vor der bangen Frage, auf welche Weise sie es diesmal falsch machen will. Die großen Fragen und Antwonen sind philosophisch offenbar nur noch als Scherz zu riskieren, und die Philosophie ist dann nur mehr als komisches Phänomen gerechtfertigt; denn am besten noch fähn sie, wenn sie ihr Selbstdementi immer gleich mitbringt: wenn sie beständig das in ihr Geltende zum Nichtigen und das in ihr Nichtige zum Geltenden ummünzt. Darum macht sie zwar - auch hier - geltend, daß die Philosophie komisch, und so setzt sie damit zwar - auch hier - als Nichtiges, daß die Philosophie ernst sei; aber gleichzeitig wird sie - auch hier - das Nichtige in jenem Geltenden und - auch hier - das Geltende in diesem Nichtigen sichtbar werden lassen: also ex defmitione komisch, also ex condusione ernst sein. Beides zugleich zu sein: das ist für sie unvermeidlich; das bedeutet aber - im Reich der Wissenschaft und der Wirklichkeit - ein mühseliges leben. In einem minder berühmten Passus des für die Fragen des Lachens berühmten § 54 seiner Kn"M tler UneiJshtlft schreibt Kant: "Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung und den Schlaf. Er härte" - fahn Kant da fon - "er bitte noch das Lachen dazu rechnen können .. '2. Hoffnung - also der illusionistische Teil dieses Trostes - erleichten als eine An von Abschlagszahlung auf das kommende Heile; Schlaf - also der realistische Teil dieses Trosts - erleichten als eine An von Abschlagszahlung auf den kommenden Tod. Wer aber nicht hoffen und nicht schlafen kann: der muß eben lachen. Das tut die
Exile der Heiterkeit
63
Philosophie, die trotzdem denkt. Sie hat weniger Positionen als Pointen (Pointen sind Exhibitionen, durch die jemand im Verborgenen lebt): allemal ist sie so die Verwandlung gespannter Erwanungen in nichts; das ist - sie wurde oben zitien - Kants Defmition des I.achens B , und so ist diese komische Philosophie - tristesse oblige - vielleicht das Heitere und womöglich - im Zeitalter der traurigen Wissenschaft - das letzte Exil der Heiterkeit, ein trauriges: denn wer so lacht, hat nichts zu lachen.
Kompensation - Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher ProzesseI
1. Am Anfang - jedenfalls am Anfang der modemen Welt - war der Prozeß; don ist, wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, beim Selbstverständnis der einen Geschichte das Won Prozeß im juristischen Sinne wönlich zu nehmen: denn da kommt es zur "Verwandlung der Geschichte in einen forensischen Prozeß"2: "Aus dem historischen Uneil wurde eine geschichtliche Erwanung der Rechtsvollsueckung ... die ganze Geschichte wurde nunmehr prozessualisien, indem ihrem Vollzug eine rechtsstiftende und rechtsWaltende Aufgabe vindizien wurde. "3 Die Geschichte wird ein Gerichtsverfahren, das seiner Intention nach der gerechten Sache unwiderstehlich zum Siege verhilft, indem es die an ihrem Fonschritt schuldig Gewordenen - übrigens bei fallender Begnadigungsrate - veruneilt. Dies ist zugleich der Prozeß schlechthin: "die Weltgeschichte ist das Weltgericht"4. Dieser Universalprozeß hatte mindestens drei aufeinanderfolgende Gestalten. Zuerst - im Sinne der biblischen ErwartUng desJUngsten Gerichts macht Gott den Menschen den Prozeß; darüber wurden die Menschen zu Christen. Dann - in der Theodizee - machen die Menschen Gott den Prozeß; darüber wurden die Menschen zu Bürgern. Schließlich - in der Geschichtsphilosophie - machen die Menschen den Menschen den Prozeß; darüber wurden die Menschen zu Feinden. Aber sie wollen Menschen sein; so sind die Gewinner dieses Prozesses zugleich seine Verlierer und also zumindest - verwirn: Menschen unterm Himmelszelt, ratlos. Am Ende - jedenfalls am Ende dieser einen Geschichte und in diesem begrenzten Sinne im "posthistoire" - interessieren die Prozesse: also just don, wo der eine Universalprozeß dieseran am Ende ist. Denn beim großen Aufschwung der Menschen zum absoluten Weltrichter mit totaler Weltkontrolle machen sie Ohnmachtserfahrungen: die Geschichte wird - im Effekt - zum Felde des Entgleitens. Die Dinge laufen anders, sie entlaufen, und zwar auch und gerade don, wo sie - zunehmend - nicht mehr "naturwüchsig" laufen. Die Autonomisierung erzeugt Heteronomien. Es gibt die Dialektik der Aufklärung, die Abenteuer der Dialektik, die hausgemachten Mißgeschicke der Emanzipation: den Illusionsenrag der total gemachten Desillusionierung, die Entmündigung durch kritische Bemündigung, den Verfeindungszwang beim Kampf gegen die Zwänge, die Repressionseffekte der Emanzipation. Der Prozeß gerät außer Kontrolle; Intentionen und Resultate divergieren; die Geschichte läuft aus dem Ruder. Die geschichts-
Kompensation
65
philosophisch proklamiene Menschenabsicht, es zu sein, wird ersetzt durch die Kunst, es nicht gewesen zu sein'. Der im Namen der einen guten Sache - des Heils, der Würde und des Glücks, der Freiheit und Gleichheit gefühne eine absolute Prozeß komprominien sich: er ist also schließlich am Ende. Danach bleiben zwei Bestimmungen für die Geschichte als Prozeß möglich6 . Entweder, die juridische Bedeutung des Prozeßbegriffs wird festgehalten; aber nicht mehr den gewonnenen, sondern den "verlorenen Prozessen" gilt fortan Aufmerksamkeit und Sympathie 7 • Oder, die juridische Bedeutung des Prozeßbegriffs wird preisgegeben; die gute Sache verschwindet ins Jenseits der idealen Sollensforderungen, Normen, Geltungen, Wene und Regulative; im Diesseits der Geschichte aber dominieren minelfristig ablaufende Zwangsläufigkeiten. Die eine große Freiheit wird überlebt von den vielen mitderen Notwendigkeiten. Dieser Prozeßcharakter des intentionsverwischenden, zerstreuten, störbaren, sich erschöpfenden Ablaufens - non ex opere operantis sed ex opere operato, ohn'all Verdienst allein aus Fatum - entlastet: er deckt einen elementaren Fatalismusbedarf, den nicht nur diejenigen haben, die - opponunistisch - vom laufenden Ablauf Voneile erwanen, oder diejenigen, die - defätistisch - der Ungewißheit des Ausgangs die Gewißheit der Niederlage vorziehen. Es braucht nämlich jedermann viel Fatalismus, der kein Fatalist sein will: daß man nicht alles machen muß, daß also - anders gesagt - viele Dinge "immer schon" ohne Zutun laufen und gelaufen sein müssen, ist die Möglichkeitsbedingung des Handelns in Reichweiten, in denen man handeln kann B• Die Praxis macht stets nur das Wenige, was noch zu machen ist; damit sie möglich sei, muß in einem sehr beträchtlichen Umfang schon nichts mehr zu machen sein. Das ist dann zugleich bereits das Stichwon für die Theorie, denn Theorie ist das, was man macht, wenn gar nichts mehr zu machen ist9 • Daß all dieses - und vieles andere dieser An - in den Vordergrund drängt, gehön zum geschichtsbetreffenden Bedeutungswandel des Prozeßbegriffs, der darin besteht, daß aus dem richtenden Prozeß die gerichteten Prozesse werden. Der Blick auf diesen Wandel ist - beim Thema "Geschichte als Prozeß" - die große Perspektive. Indes, Kleinvieh macht auch Mist. Wo die Historiker - so oder anders aufs transzendentale Panorama bedacht sind, darf der Philosoph sich kompensatorisch - kümmern um ein Detail. Deswegen geht es im folgenden um die Metaphysik eines Details. Zu den Details gehören jene Verlaufsfiguren-Begriffe, die - nach dem Exitus des Towbegriffs des absoluten Prozesses und diesseits vom Langstreckenbegriff des Systems und vom Kurzstrecken begriff des Ereignisses - Minelstreckenbegriffe sind und nunmehr gerade dadurch Aufmerksamkeit auf sich ziehen: don, wo mit dem totalen Prozeßbegriff der Geschichtsphilosophie in bezug auf die Geschichte die Idee der Totalität insgesamt suspekt oder allenfalls zum Regulativ emeritien
66
Kompensation
wird 10. können und müssen insbesondere jene Kategorien interessant werden. die zwar nicht mehr die Geschichte als Totalität. also als Ganzes. wohl aber geschichtliche Prozesse als Ergänzungen und Wiederergänzungen sozusagen als Ergänzungen ohne Ganzes ll - zu begreifen erlauben. Zu ihnen gehön der Begriff .. Kompensation", darum scheint er mir wichtig. Meine These ist: Kompensation ist eine geschichtsphilosophische Kategorie. oder genauer gesagt: Kompensation ist eine wesentliche - eine gleichwohl nicht unproblematische - Kategorie zum Begreifen einer Verlaufsfigur oder eines Verlaufsmoments insbesondere moderner geschichtlicher Prozesse. 2. Um diese These plausibel zu machen. beginne ich bescheiden. nämlich mit dem Hinweis darauf. daß der Begriff Kompensation - wie immer es sich sonst mit ihm verhalten mag - jedenfalls eines ist: ein aktueller Begriff. Ich möchte das durch drei Beispiele belegen. Erstens: Kontrovers. aber heftig diskutien wird heutzutage das Programm .. kompensatorischer Erziehung". zunächst. seit 1958. in der Folge des .. National Defense Education Act" in den Vereinigten Staaten l2 • dann. mit nur geringem Zeitverzug, auch hierzulande: .. kompensatorische Erziehung" wird schnell zum Erfolgswon der Bildungsreform-Literatur13 • Und gemeint ist mit diesem pädagogischen Kompensationsprograrnm grob gesagt folgendes: das Bildungssystem ist so zu reformieren. daß Chancendefizite eines Teils seiner Sozialisationsklienten im Interesse der Chancengleichheit aller ausgeglichen - eben kompensien - werden. Die kontroverse Diskussion im einzelnen braucht hier nicht zu interessieren l \ sondern nur dies: das Prinzip Kompensation ist pädagogisch aktuell. Zweitens: Durchgesetzt hat sich - obwohl es umstritten bleibt - heutzutage allenthalben das Programm .. kompensatorischer Winschaftspolitik". Erfunden wurde es von Lord Keynes U ; den Kompensationsbegriff lanciene einschlägig - zunächst für den Teilbereich der .. compensatory fiscal policy" - ein Ökonom aus der Keynes-Schule. nämlich 1941 der Amerikaner Alvin H. Hansen l6 . Seither hat dieser Begriff sich allgemeiner durchgesetzt. Und gemeint ist mit diesem ökonomischen Kompensationsprograrnm grob gesagt folgendes: im Konjunkturzyklus sind bei Rezessionen Investitionsneigungsdefizite der privaten Winschaft durch stimulierende Interventionen der öffentlichen Hand auszugleichen. In den westlichen Staaten ist das inzwischen offizielle Doktrin der Konjunkturpolitik; sie übernehmen dadurch - nach der Formulierung von }ürgen Habermas - .. marktkompensierende Aufgaben" 17. Auch hier muß nicht eigens betont werden: das Prinzip Kompensation ist ökonomisch aktuell. Drittens: }oachim Ritter hat in verschiedenen Untersuchungen l8 auf modeme Phänomene kompensatorischer Lebensführung aufmerksam gemacht: wo die moderne Gesellschaft technisch-artifiziell und dadurch naturfern. wo
Kompensation
67
sie rationell und dadurch beziehungslos zur geschichtlichen Tradition wird, don - gerade don und nur don - entsteht der emphatische Sinn für die Natur und für die Geschichte: etwa die Landschaftsmalerei, etwa die Geschichtswissenschaft, etwa die Institution des Museums. Weil die versachlichte Gesellschaft zur Verluruealität wird, schaffen die Menschen sich zum Ausgleich - also "kompensatorisch" - Bcwahrungsrealitäten. Ein wichtiges Trivialphänomen aus diesem Kontext ist der Urlaub: erst don, wo die Arbeitswelt sich extrem versachlicht und beziehungslos wird zum individuellen Leben, kommt es kompensatorisch zur allgemeinen Institutionalisierung des Urlaubs, sozusagen zur Gebun des Urlaubs aus dem Geiste der Kompensation. Wir pflegen zu vergessen, daß dies - Natursinn, Geschichtssinn, Urlaub und manch anderes dieser Art - weder ewige noch auch nur alte, daß sie vielmehr ganz modeme Tatbestände sind; darum muß man eigens darauf hinweisen: das Prinzip Kompensation ist im täglichen Gegenwansleben aktuell. Ich könnte weitere Beispiele bringen '9 • Ich unterlasse das, weil die angefühnen Beispiele, wie ich meine, schon hinlänglich belegen, was ich belegen wollte: Kompensation, das ist ein aktueller Begriff. 3. Eine Definition dieses Begriffes könnte folgendermaßen lauten: Kompensation bedeutet Ausgleich von Mangellagen durch ersetzende oderwiederersetzende Leistungen. Auch diese Dcfmition - die nicht gut ist, aber es gibt keine gute Kompensationsdefmition - scheint mir etwas zu belegen: daß nämlich Definitionen zuweilen wenig Aufschluß geben über das, was sie defmieren. Darum genügen - insbesondere für Wichtigkeitsnachweise Definitionen nur selten oder gar nicht. Freilich genügt, obwohl es weiterfühn, dafür auch nicht, nur - wie ich das für den Kompensationsbegriff eben versucht habe - festzustellen, in welchen Zusammenhängen Begriffe aktuell verwendet werden. Denn was diese Begriffe gegenwänig attraktiv macht, ist häufig nicht das, was sie - im aktuellen Zusammenhang aktual bedeuten, sondern das, was sie darüber hinaus - meist unbcwußt mitbedeuten. Dieses latente, aber wirkungswichtige Bedeutungspotential von Begriffen erfähn man in der Regel nur dadurch, daß man auf ihre Geschichte blickt, auf die Begriffsgeschichte. Was für Menschen die erste Liebe, ist für Begriffe der erste Gebrauch: er hat bahnende oder gar prägende Bedeutung. So muß man - und zwar gerade im Zusammenhang einer philosophischen Überlegung - auch beim Kompensationsbgriff fragen: woher kommt er, wo wurde er in philosophisch erheblicher Weise zuerst gebraucht? Auf diese Frage gibt es unter Philosophen - das ist belegbar etwa durch die Kompensationsanikel der heutigen philosophischen Wönerbüchero folgende gängige und allgemein anerkannte Antwon: der Kompensations-
68
Kompensation
begriff kommt aus der Psychologie, und zwar aus dem Umkreis der Psychoanalyse. Erfunden und durchgesetzt hat ihn einer ihrer berühmten Häretiker: jener, der seine Psychoanalyse, um sie von derjenigen Freuds zu unterscheiden, Individualpsychologie nannte. Das ist Alfred Adler: 1907 in seiner Studie über Mi"derwertigkeit 110" Orga"e" und in späteren Schriften hat er untersucht, wie Organdefekte oder "Minderwenigkeitskomplexe" entweder geglückte oder neurotisch-mißglückte psychische Ausgleichsaktionen erzwingen, eben .. Kompensationen"zl. Freud hat diesen Erfolgsterminus seines zum Konkurrenten gewordenen Schülers verständlicherweise nach Möglichkeit vermieden 2z ; ebenso verständlicherweise hat ihn C. G.Jung, ein anderer Häretiker der Psychoanalyse, aufgegriffen. Jung hat ihn allgemeiner gewendet: .. Kompensation", heißt es in seiner Schrift Psychologische Type", .. bedeutet Ausgleichung oder Ersetzung ... Während Adler seinen Begriff der Kompensation auf die Ausgleichung des Minderwettigkeitsgefühls einschränkt, fasse ich (sc.Jung) ... Kompensation allgemein als ... Sdbsuegulierung des psychischen Apparates ... (und) in diesem Sinne ... die Tätigkeit des Unbewußten als Ausgleichung der durch die Bewußtseinsfunktion erzeugten Einseitigkeit der ... Einstellung auf. "Z} Kompensation: dieser Begriff kommt also, scheint es, aus der Psychoanalyse. Und wenn er in unserem Jahrhunden in anderen Bereichen - der Pädagogik, der Ökonomie, der kulturkritischen Reflexion - Erfolg hat, dann ist das, scheint es, jener Zufall, der auch andere psychoanalytische Begriffe einschlägig erfolgreich werden läßt, im Grunde aber ist es ein nur sekundärer Gebrauch, eine Zweckentfremdung. Denn sein Ursprung, seine Heimat, seinen ersten und legitimen Anwendungsbereich hat dieser Begriff, so scheint es, in der Psychologie psychoanalytischer Provenienz; und sein Gebunsjahr ist das Jahr 1907.
Diese Begriffsgenealogie hat offenbar allgemein überzeugt; und sie klingt ja auch überzeugend. Sie hat nur einen einzigen, einen winzigen Nachteil: sie stimmt nicht. 4. Auch das möchte ich belegen. Für den Zusammenhang dieser Überlegung bringt es wenig, wenn ich zeige, daß Adler den Kompensationsbegriff aus einer um 1900 heftig gefühnen Diskussion der Hirnphysiologie (Neurologie) übernommen hatz•. Darum zitiere ich hier gleich einen anderen, einen älteren, einen historio-philosophischen Text. 1868 suchtJacob Burckhardt in der letzten seiner WeltgeJchichtliche" BetrllChtu"ge", der .. über Glück und Unglück in der Weltgeschichte", angesichts ihrer Schrecken durch Blick auf die .. Ökonomie der Weltgeschichte"Z~ einen "unserer Ahnung zugänglichen Trost "Z6; und da, schreibt er, .. meldet sich als Trost das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation, nachweisbar wenigstens an einer Stelle: an der Zunahme der Bevölkerung nach großen Seuchen und Kriegen. Es scheint ein
Kompensation
69
Gesamtleben der Menschheit zu existieren, welches die Verluste ersetzt. So ist es ... wahrscheinlich. daß das Zurückweichen der Weltkultur aus dem östlichen Becken des Mittelmeeres im 15. Jahrhunden ... kompensien wurde durch die ozeanische Ausbreitung der westeuropäischen Völker; der Weltakzent rückt nur auf eine andere Stelle ... So substituien hier statt eines untergegangenen Lebens die allgemeine Lebenskraft der Welt ein neues. Nur ist die Kompensation nicht etwa ein Ersatz der Leiden, auf welchen der Täter hinweisen könnte, sondern nur ein Weiterleben der verletzten Menschheit mit Verlegung des Schwerpunktes. "27 Als "Schattierungen" der "Kompensation" nennt Burckhardt "Verschiebung" und "Ersatz"28. Indes, so schreibt er: "die Lehre von der Kompensation ist meist doch nur eine verkappte Lehre von der Wünschbarkeit, und es ist und bleibt ratsam, mit diesem aus ihr zu gewinnenden Troste sparsam umzugehen, da wir doch kein bündiges Uneil über diese Verluste und Gewinste haben"29. Dieser Text zeigt zunächst zumindest das eine: von einem Erstgebrauch des Kompensationsbegriffs allererst in der psychoanalytischen Individualpsychologie kann keine Rede sein; ein schon 1868 zentral gebrauchter Begriff kann nicht erst 1907 zentral geworden sein. Am Kompensationsbegriff einem psychoanalytischen und dann allgemeiner und dadurch auch philosophisch aktuell gewordenen Begriff - zeigt sich so, was zugleich für viele psychoanalytische Grundbegriffe gilt: daß sie zu allgemein interessanten und philosophischen Begriffen in der Tat gegenwärtig werden, aber dies nur deswegen, weil sie allgemein interessante und philosophische Begriffe schon waren, ehe sie zu psychoanalytischen Begriffen wurden; sie haben eine - in der Regel vergessene - philosophische Vorgeschichte 30 • Dies eben gilt auch und gerade für den Begriff Kompensation. Ich formuliere das gleich als begriffsgeschichtliche These meiner Überlegung: Der Begriff Kompensation - nur vermeintlich individual psychologisch-psychoanalytischer Herkunft - wird heutzutage zum allgemein interessanten und philosophisch erheblichen Begriff, aber dies nur deswegen, weil er ein allgemein interessanter und philosophisch erheblicher Begriff schon war, ehe er zum psychoanalytischindividualpsychologischen Begriff wurde; auch und gerade der Begriff Kompensation hat eine - vergessene - philosophische Vorgeschichte. 5. Um diese Behauptung zu erhänen, reicht freilich der Hinweis auf die zitiene weltgeschichtliche Betrachtung des Historikerphilosophen Burckhardt nicht aus. Indes, dieser Burckhardt-Text selber weist ja auch über sich hinaus: Burckhardt behandelt "das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation" und "die Lehre von der Kompensation" offenkundig nicht als etwas, das vor seinen Ausführungen unbekannt gewesen wäre. Und das alles war in der Tat auch nicht unbekannt. Zuerst 1808, und dann bis 1846 in vier weiteren Auflagen, erscheint von Pierre-Hyacinthe Azals, einem von 1766
70
Kompensation
bis 1845 lebenden französischen Philosophen, der u. a. auch ein}ugement philosophique sur}elln-jacques Roussellu et sur Vollllire geschrieben hat, ein Buch mit dem Titel Des compenslltions dans /es destinees humaninel l ; Anis nennt dieses Buch - einen philosophischen Dialog mit einem zweibändigen Novellenanhang , der teilweise eine integriene Gruppenarbeit von Monsieur und Madame AZalS ist - einen "Traite de la Justice providentielle"n. Unterschwellig spielt in ihm das GesetZ der großen Zahl - das meines Wissens erst Coumot 1843 mit dem Kompensationsbegriff ausdrücklich in Verbindung gebracht hat B - , insbesondere in der Form des Gesetzes der langen Dauer, eine Rolle: a la longue werden malheurs kompensien. So kommt AZalS zu dem, was er schlicht "la loi" nennt: "Das Los der Menschen, in seiner Gesamtheit betrachtet, ist das Werk der ganzen Natur, und alle Menschen sind gleich in bezug auf ihr Schicksal. Das ist alles, was Gott tun kann, und es ist alles, was seine höchste bienveillance (Güte) für uns tut."}04 Dieses Gleichheitsprinzip hinsichtlich der Menschenschicksale ist - wenn es auch zugleich pauschaler und einzelschicksalbezogener ist - "familienähnlich"n mit Rankes berühmtem Prinzip der Chancengleichheit der Epochen: wäre - das hat Hans-RobenJauß in einer mir wohlgesonnenen Anmerkung seines auflagenstärksten Buches betont}6, und ich habe es in der von Helmut Berding miterzeugten Ausgabe von Rankes Über die Epochen der neueren Geschichte H noch einmal überprüft: Jauß hat recht - wäre nicht jede Epoche unmittelbar zu Gon, wäre Gott nicht gerecht; und hätte - dies meint Azäis - nicht jeder Mensch ein gleich glückliches Schicksal, wäre Gott auch nicht gerecht. "Man beklagt sich", schreibt er, "über das Unglück; aber es ist Gott, der - in seiner Gerechtigkeit - es unter die Menschen veneilt. Man braucht ein edles Herz und einen wachen Geist, um diese Wahrheit anzue:rke:nne:n"J'; und um sie: wirklich einzusehen, braucht man, meint AZals, eben "l'idee des compensations generales", "Ie Principe des Compensations" , insbesondere "des compensations de l'infonune"J9, das eine idee "consolante"40 ist: ein Trost. AzaIs geht allen "applications" dieses Prinzips nach, er ist unendlich kompensationsfmdig (man könnte sagen: kompensationsspitzfindig), praktisch jedes Malheur erscheint ihm als treffliche Inve:stition für alsbaldige Bonheurs. Beispiel: Frau und Kinder kommen um, welch einmalige Trainingschance für sagesse41 ! So will er begreifen, daß die Glücks-Unglücks-Bilanz bei allen gleich und bei jedem ausgeglichen ist 42 • Wo für diesen Ausgleich "dieses Leben" nicht ausreicht, muß dann die Lehre von der Unsterblichkeit herbei: in religiös-metaphysischen Ansätzen - und jetzt spreche ich nicht mehr nur von AzaIs - kommt man dadurch endgültig aus den roten Zahlen. Es war - schreibt darum Auguste Comte in seinem Discours sur I'esprit positi/ 1844 rückblickend und kritisch: und gewiß kannte er das Buch von AzaIs, und ebenso gewiß meinte er nicht nur das Buch von Az:üs - es war in der "alten Philosophie" "die Aussicht auf die
Kompensation
71
Ewigkeit" eine "unermeßliche Kompensation jedweder Übel"·}. Wer, wie ich, hier hinreichend heuristisch voreingenommen ist, sieht schnell, wofür diese Bilanztechnik der Kompensationssuche in einer Zeit, die - noch mit einem guten göttlichen Weltschöpfer zu rechnen sich bemühte, letzten Endes philosophisch wichtig sein mußte: für die Veneidigung Gottes gegen den Einwand, der angesichts der Übel in der Welt gegen seine Güte erhoben werden kann, also - um den philosophischen Terminus technicus zu verwenden, den das 18.Jahrhunden einschlägig einfühne - für die Theodizee. Und so hat denn auch Leibniz, der Verfasser der ersten Theodizee, 1710 den Kompcnsationsbegriff zur Veneidigung der Gottesgüte eingesetzt: "der Schöpfer der Natur", schreibt er, "hat die Übel und Mängel durch zahllose Annehmlichkeiten kompensien ...... Dieses Argument ist im sogenannten "System des Optimismus", das Leibniz und seine Schule venraten, ein wichtiger Posten im argumentativen Gottesveneidigungsetat: das Prinzip Kompensation ist eine wohletabliene Kategorie der Theodizee. Hierauf werde ich zurückkommen. 6. Denn natürlich ist der Begriff Kompensation noch älter: er starrunt nicht aus der Theodizee; nicht einmal philosophisch relevant geworden ist er don zuerst. Ganz am Anfang freilich war er überhaupt kein philosophischer Begriff; er kommt - das griechische Äquivalenzwon ~(CJ~ oder &v(CJ~ einmal beiseite gelassen - vielmehr aus der Ökonomie, nämlich aus der römischen Handelssprache. Compensus, compensatio, Kompensation bedeutet Geschäft· s , insbesondere das geldvermeidende Geschäft: ein Wonsinn, der den Älteren von uns aus der unmittelbaren Nachkriegszeit ebenfalls wohlgeläufig ist. Andererseits ist im angelsächsischen Sprachraum "compensation" das Entgelt, der Lohn, das, worüber Tarifpartner verhandeln. Im übrigen nehme ich an, daß es an meiner notorischen historiographischen Ignoranz liegt, daß ich nur vermute, daß der Kompensationsbegriff in der Geschichte der Diskussion der judicia commutativa eine Rolle spielt. Als offizieller Rechtsbegriff bedeutet Kompensation eine Spezialregelung beim Schadensersatz~ und insbesondere die Entschuldung durch Aufrechnung gegenseitiger Schulden: so kommt der Begriff im 2.Jahrhunden nach Christus in den Insliluliones von Gajus· 7 , so kommt er Ende des 17.Jahrhundens in juristischen Schriften von Leibniz, so kommt er im 18.Jahrhunden in den ausschließlich juristischen Kompensationsartikeln der französischen Encydopedie" und bei Zedler·9 , so kommt er schließlich in der Kommentarliteratur zu den Aufrechnungsparagraphen 387 ff. des BGB vorso:Juristen sind offenbar - jedenfalls in ihrer Begrifflichkeit - konservativ. Immerhin, wenn es sich bei "Kompensation" um einen herkunftsmäßig ökonomischen und um einen Rechtsbegriff des Schadensersatzes und der
72
Kompensation
Entschuldung handelt. liegt es nahe zu vermuten. daß der Begriff Kompensation don philosophisch erhebliche Bedeutung gewinnen konnte und mußte. wo die Philosophie Theologie war und die Theologie christlich vom Ereignis der Erlösung und Vergebung menschlicher Schuld durch Gott handelt: von der menschlichen Sünde und der providentiellen Heilsökonomie Gottes. Der erste Theologiephilosoph. der überhaupt - weil er als erster christlicher Philosoph und Patristiker lateinisch schrieb - die Chance hatte. das Won compensatio zu benutzen. hat diese Chance sogleich einschlägig ergriffen. Das ist - Ende des 2.Jahrhundens - Tertullian. Die Erlösungstat Gottes in ChristUS. schreibt er. geschieht .. durch eine Kompensation. die in seinem Blute besteht"; die Sünde. meint er... ist durch diese Kompensation erledigt worden,,'I. Diesen Wongebrauch - den fast 900 Jahre später Anselm bei seinerJuridifizierung der Rechtfenigungslehre zur Satisfaktionstheologie durch einen ähnlichen l2 bestätigt - kennen m. W. in der Regel nicht einmal Theologen; ich möchte. was hier bei Tertullian sich ankündigt. ebenso schlicht wie waghalsig auf folgende Formel bringen: Kompensation ist in der philosophischen Tradition der christlichen Theologie ein Äquivalenzwon für Erlösung. Ich will Sie mit der Schilderung der weiteren Entwicklung quer durch das Mittelalter nicht langweilen. dies auch deswegen nicht. weil ich da immer noch zu wenig gesucht und gefunden habe. In dieser Tradition kann es - unter anderem - strittig werden. ob Gott. der Erlöser. in bezug auf die sündige Korruption der Schöpfung das Kompensationsmonopol hat. oder ob die Menschen da - durch gute Werke - mitkompensieren können oder gar sollen. weil sie dadurch die göttliche Erlösung herbeizukompensieren vermögen. Die Reformatoren bestreiten dies: die Erlösung durch Gott ist nicht erzwingbar. sondern eine .. ungeschuldete Kompensation"; so nennt sie 1696 Johannes Andreas QuenstedtH • Die Problemlage verschärft sich dann durch den Zweifel von Philosophen: es gibt - so etwa lautet dieses Bedenken - ja nicht nur die Sünde. die eine .. felix culpa" ist. weil sie die erfolgreiche erlösende Kompensation Gottes erforderlich machte; es gibt doch auch die - und dieses Argument hat das Gewicht der tagtäglichen Erfahrung des Leidens - nicht (oder nicht mehr) heilsgeschichtlich qualifizierbaren Übel: hat der Schöpfer denn die - etwa durch eine .. compensatio rerum")4. von der Johannes Clauberg 1647 am Schluß seiner Ontosophia spricht - hinreichend kompensien? Der Verdacht. daß dies nicht der Fall sein könnte. zieht Gottes Güte in Zweifel: das fühn dann - im 18.Jahrhunden - zum Problem der Theodizee. Hierzu hatte ich die einschlägig .. optimistische" Antwon von Leibniz schon zitien: Gott läßt zwar - notgedrungen - die Übel zu. aber er kompensien sie hinreichend: .. denn eben" • schreibt noch 1755 der junge Kant. der damals die .. optimistische" Theodize von Leibniz veneidigte ... die Kompensation der Übel
Kompensation
73
ist eigentlich jener Zweck. den der göttliche Schöpfer vor Augen gehabt hat"" . Kompensation: das war also (zunächst) in der philosophischen Tradition der christlichen Theologie - angesichts der Sünde - ein Äquivalenzwon für Erlösung. d. h. für die Entschuldigung der Menschen durch Gon; und Kompensation: das wurde (dann) in der Theodizee - angesichts der Übel zum Argumentenwon für die Entschuldigung Gones durch die Menschen: zu einer. wie ich schon sagte. im Kontext der Theodizee wohletablienen Kategorie. Hierauf. ich wiederhole es. werde ich zurückkommen. 7. Zuvor diskutiere ich eine scheinbare Paradoxie des Ergebnisses meiner
bisherigen Überlegung. Diese Überlegung ergab: der philosophisch relevante Erstgebrauch des Kompensationsbegriffs erfolgte nicht bei Adler. sondern bei Tenullian. also nicht 1907. sondern um 200. Das ist. begriffsgeschichtlich gesehen. in Richtung Vergangenheit ein temporaler Gdändegewinn von 1700 Jahren; doch es ist für die eigentliche Absicht dieser Überlegung - so wird man einwenden und dies sportsprachlich oder bildungssprachlieh ausdrücken - ein Eigentor. ein Pyrrhussieg: also offenbar ruinös. Denn meine Überlegung wollte eigentlich doch dies: den Begriff Kompensation vorstellen als eine geschichtsphilosophische. eine Kategorie zum Begreifen insbesondere moderner geschichtlicher Verläufe. also als etwas be· sonders gegenwartsfähig Neues. Das bisherige Ergebnis meiner Überlegung aber ist etwas. das fast das Gegenteil ist: Kompensation - dies zeigt sich ist ein ganz besonders uralter Begriff. Wie stimmt das zusammen? Kann man die Aktualität eines Begriffs bekräftigen. indem man sein Alter beweist? Kann man das gegenwansfähig Neue einer Kategorie zeigen. indem man ihr ganz Altes zeigt? Ich glaube. man kann. Hierzu eine kurze absuakte Zwischenbeuachtung. die möglicherweise etwas unkonventionell gerät. Es gibt (Stichwon: sozialer Wandel 16) die außerordentlich plausible These von der wachsenden Veränderungs- und Innovationsgeschwindigkeit der modemen Welt: alles wird immer schneller zum Überholten und Alten. Daraus folgen man u. a. die Notwendigkeit des Dauer-Umlernens. Indes. ich gebe zu bedenken: mit dem Wachstum der Innovationsgeschwindigkeit wächst möglicherweise auch die Chance. daß scheinbar Veraltetes sich wieder als gegenwartsfähig erweist. Die Renaissance des Systemdenkens oder des Marxismus und andere NostalgieweUen der sechziger und siebziger Jahre sind dafür Indizien. Wo Neues immer schneller zum Alten wird. könnte es sein. daß Altes immer schneller wieder das Neueste werden kann. Mir genügt es hier. daß dies unter Voraussetzung der Knappheit nicht nw der Ressourcen Energie. Zeit und Sinn. sondern gerade auch der Ressource Sicht - auf Philosopheme zutrifft; es wäre dies - nota bene - ein Kompensationsbefund: die zuneh-
74
Kompensation
mende Veraltungsgeschwindigkeit wird kompensien durch Zunahme der Reaktivierungschancen fürs Alte. Hierzu ein Exkurs: für Philosophen - und vielleicht nicht nur für sie - würde daraus folgen, daß es ratsam ist, bei Veränderungen nicht allzuschnell mitzulaufen. Beim Dauerlauf Geschichte rechnen ohnehin nur die fonschrittlichsten Fonschrittsphilosophen damit, daß er ad frnem stattfrndet: für sie lohnt es sich, sich zu sputen und möglichst jeden zu überholen, um stets ganz vom zu sein. Aus abstrakteren Gründen eilig sind auch noch die Transzendentalphilosophen; sie brauchen ihr regulatives Prinzip wie Nurmi die Stoppuhr, auch das treibt an. Die anderen aber dürfen bummeln, denn sie können einsehen: die aussichtsreiche Aktualitätsstrategie besteht gar nicht darin, die eigene Aktions- und Lerngeschwindigkeit zu steigern, sondern im Gegenteil darin, gelassen zu wanen, bis der Weltlauf - von hinten überrundend - wieder bei einem vorbeikommt; vorübergehend gilt man dann bei denen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, imümlich wieder als Spitzengruppe. Diesen Tatbestand kann man auch formulieren, indem man Günther Patzigs Maulwurfshügel-Metapher aufgreift und weiterdenkt: "Den Urheber des Hügels" , schreibt Patzig in seinem Nachwon zu Camaps Scheinproblemen H, "wird man unter ihm selten antreffen", und ebenso, meint er, zeigen "die Werke des Philosophen ... immer nur an, wo er einmal gewesen ist, was ihm einmal als wahr und wichtig erschien"; diese verlassenen Maulwurfshügel alias Denkwerke sind dann, wenn ich ihn richtig verstehe, das Studierfeld der Historiographie. Aber was Patzig schreibt, das gilt, meine ich, nur für natucwüchsig traditionelle Maulwürfe, die sich wie dies ihrer An gemäß zu sein scheint - fleißig, aber langsam bewegen. In dem Maße jedoch, in welchem Maulwürfe - wie schon faktisch die Philosophen - ins moderne Lebenstempo fallen würden, in dem Maße also, in dem auch die unterirdische Bewegungsgeschwindigkeit von Maulwürfen (exponentiell) zunähme, würde - bei begrenztem Raum - die Wahrscheinlichkeit wachsen, daß sie immer wieder unter ihren alten Hügeln vorbeikommen und donselbst anzutreffen sind. Für den weisen Maulwurf - und entsprechend für den weisen, faulen, skeptischen Philosophen - folgt daraus: er erzeugt am besten nur einen einzigen Hügel und bleibt drunter sitzen; erstens ist es so bequemer; zweitens stön er nicht die anderen; drittens fällt es, im Zeitalter massenhafter Dauerbewegung und Oberinformation, gar nicht auf; und vienens sichen es die führende Position in nicht geringerem Maße als die angestrengte Bewegung. Zurück zum Grundgedanken: Die zunehmende Veraltungsgeschwindigkeit, sagte ich, wird kompensien durch Zunahme der Rea.ktivierungschancen fürs Alte. Wenn dies stimmt, wird es - je schneller die modeme Welt umlebt und umdenkt - immer wahrscheinlicher, daß - jedenfalls im Terrain der Philosophie und bei Knappheit der Ressource Sicht - die
KompensatioD Historiographie des Alten sich gar nicht mit verlassenen Positionen beschäftigt; denn mit wachsender Innovationsgeschwindigkeit wächst - zumindest im Bereiche der Philosophie - zugleich die Chance, daß gerade das Alte das Neueste ist. Die Philosophiegeschichte gehön insofern - zumindest auch und zumindest möglicherweise - zu den Renovierungsunternehmen: sie ist Altbausanierung im Reiche des Geistes. Dies bedeutet - vielleicht haben Sie das gemerkt - unter radikal modemen Bedingungen eine liebeserklärung an die Wissenschaft Geschichte: an die, die an das Alte denkt; gerade sie beschäftigt sich ebendadurch wahrscheinlicherweise mit dem nächsten Neuesten. Darum - dies folgere ich - ist es nicht absurd, die Modernität des Kompensationsbegriffes dadurch zu bekräftigen, daß man ihn als ganz alten erweist. Freilich: daß er wirklich geschichtsphilosophisch gegenwansfähig ist, das ist damit noch nicht konkret gezeigt. Eine Überlegung, die wie diese sich mit ihrer Aufmerksamkeit zuletzt hauptsächlich vor dem 19.Jahrhunden herumgetrieben hat, hat einschlägig noch nicht genug getan. Sie hat einstweilen noch ein Modernitätsdefizit; dieses gilt es nunmehr zu kompensieren. 8. Kompensation: das war, so sagte ich, zunächst in der philosophischen
Tradition der christlichen Theologie - angesichts der Sünde - ein Äquivalenzwon für Erlösung d. h. für die Entschuldigung der Menschen durch Gott; und Kompensation: das wurde, so sagte ich, dann in der Theodizee angesichts der Übel - zum Argumentenwon für die Entschuldigung Gottes durch die Menschen: zu einer im Kontext der Theodizee wohletablienen Kategorie. Aber der Argumentationswen der Kompensationsargumentation blieb umstritten. Sobald - und so lief ja das Schicksal der Theodizee - der Eindruck sich verstärkte, daß die weltlichen Übel durch Gott zu wenig kompensien werden, geriet die .. optimistische" Theodizee in Schwierigkeiten. Darum sieht sich die Philosophie - wo Gott als Kompensator zu versagen scheint - um nach einem Ersatzkompensator. Der naheliegende Kandidat dafür ist die Natur, zumal man seit Spinoza zwischen Gott und der Natur zuweilen ohnehin nicht mehr so recht hat unterscheiden können. Dann ist es nicht mehr die providentielle Ökonomie Gottes, sondern die .. Ökonomie der Natur" , die die Übel und Mängel ausgleicht und innerhalb ihres "Etats" die Verluste kompensien: das hat vor allem - in seinem Erste" E"twurf ei"er aIIgemei"e" Ei"leitu"g i" die "ergleiche"de A"atomie von 179~ - Goethe betont'8, und Adolf Meyer-Abich hat das Goethes "Kompensationsprinzip " genannt i9 . Aber dieses Venrauen in die Kompensationskraft der Natur - mit der im Grunde ja auch die Physiologen und Mediziner rechnen, wenn sie untersuchen, wie Organe oder Organpanien vikarierend
76
Kompensation
für einander eintreten, und schließlich auch die Psychoanalytiker und don vor allem Jung -, diese Kompensationskraft der Natur hat ihre Gefahren; das hat Wilhelm Szilasi mit einer kurzen Äußerung ebenso sarkastisch wie pcüis charakterisien: "Natur", sagte er, "Natur ist gerecht: macht sie ein Bein kurz, macht sie das andere dafür umso länger. "60 Darum - weil dergleichen schließlich passien - haben die emanzipatorischen Geschichtsphilosophen - und ich meine hier vor allem die Formation des deutschen Idealismus mit seinen extremen Exponenten Fichte und Man und derenjünger - sich lieber nicht auf die Natur verlassen wollen. Freilich: auch auf Gott mochten sie nicht zurückgreifen; vielmehr machten sie angesichts der Übel - die Veneidigung seiner Güte (die Theodizee) dadurch konsequent, daß sie - im Prinzip jedenfalls - Gottes Existenz negienen: "die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt"61; angesichts der unbewältigten Übermacht der übel ist, radikal gedacht, Gott gut genau nur dann, wenn er nicht existien. wenn also Gott der Schöpfer dieser Welt der Übel nicht ist: darum wird in dieser geschichtsphiJosophisehen Extremtheodizee zum Schöpfer der Mensch; und seine Schöpfung wird gerade deswegen fundamental als ~schichte bestimmt, damit es gelingt, den Menschen als Schöpfer dieser Schöpfung zu begreifen; denn Geschichte: das ist seit Vico per defmitionem das, was der Mensch selber macht. Aber wenn jetzt der Mensch der Schöpfer ist, muß - angesichts der übel - nun der Mensch mit ihnen fenigwerden; er muß sie kompensieren oder radikaler bereinigen: durch Totalemanzipation, durch Fonschritt, durch Revolution, durch ein letztes ~fecht. Die Dominanz dieser "großen" geschichtsphilosophischen Begriffe verdrängt, scheint mir, zunächst den Begriff Kompensation, den die ~schichtsphilosophie - nach eigenem Bekunden ja die Erbin der Theodizee'l - der Sache nach als Denkfigur gleichwohl aus dem Erbe der Theodizee übernimmt; dabei muß man freilich unterscheiden, ob diese Figur vor oder nach jener Zuversichtserschütterung formulien wird, die etwa Schopenhauer anikulien. Vor Schopenhauer formulien Friedrich Hölderlin, nach Schopenhauer Wilhelm Busch; Hölderlin: "wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch"6J; Busch: "wer Sorgen hat, hat auch Likör"64; beides - die Formel aus Pa/mOl und die Formel aus der Frommen Helene - sind Kompensationsformeln, sehr ähnliche sogar, nur in verschiedenem Stadium. Außerdem ist natürlich der Gedanke, daß durch sch~inbar Unvernünftiges Vernünftiges bewirkt wird - also Hegels Theorie der "List der Vernunft" -, zumindest potentiell ein Kompensationskonzept6'. Im übrigen aber kann man sagen: die Karriere der Kategorie Kompensation innerhalb des Schicksals der ~ichtsphilosophie verläuft selber als Kompensation. Sie kompensien die Erschütterung und den Zusammenbruch der geschichtsphilosophischen Fundamentalbegriffe: Fonschritt, Re-
Kompensation
77
volution. Reich der Freiheit. klassenlose GeseUschaft. Wo es diesen Begriffen nicht mehr gut geht. wo die Zuversicht in diese unbedingten Totalkompcnsationen schwindet. da sucht man nach den - bunt und mannigfaltig zufallenden oder machbaren - Partialkompensationen. Und don wird Kompensation als Kategorie aktueU. Sie gehön sozusagen zur geschichtsphilosophischen Einsatzreserve: gerade weil sie in der klassischen Geschichtsphilosophie der Totalemanzipation allenfalls ein Nebengedanke war. mitlaufende Konkursmasse der Theodizee. gerade darum kann sie für nachgeschichtsphilosophische Historiker - siehe Burckhardt - zur interessanten Kategorie werden": als eine. die zwar nicht mehr die Geschichte als Ganzes. wohl aber geschichtliche Prozesse als Ergänzungen (als Ergänzungen ohne Ganzes) zu begreifen erlaubt. Kompensation wird schließlich sogar zur anthropologischen Hauptkategorie. allerdings - plausiblerweise - erst don. wo die Geschichtsphilosophie brüchig wird. Erst don - in der philosophischen Gegenwartsanthropologie - wird. nachdem die psychoanalytischen Individualpsychologen vorgearbeitet haben. der Mensch fundamental als Kompensationswesen begriffen: bei Amold Gehlen als der. der primär durch .. Mängel" gekennzeichnet ist; .. kompensien". sagt Gehlen ... werden diese Mängel aber durch die Fähigkeit" des Menschen ... die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umzuarbeiten"67; und beiJean-Paul Same ist er .. Existenz". die ihren Mangel an Essenz durch .. EntwUrf" kompensieren muß. indem der Mensch sich .. erfindet" durch .. die Wahl. die er ist"68. Kompensation wird zum Anthropinon schlechthin und der Mensch zum homo compensator: zu dem. der etwas stattdessen tun muß. tun kann und tut. Kompensation - das möchte ich mit all diesem sagen - ist eine in d~r Theologie angelegte. in der Theodizee großgewordene und darum in di~ Geschichtsphilosophie übergegangene. don aber kleingehaltene Kategorie; gerade deswegen ist sie prädestinien. spätgeschichtsphilosophisch oder gar nachgeschichtsphilosophisch das zu werden. was ich von ihr behauptet ha~: eine wesentliche Kategorie zum Verständnis des Menschen. insbesondere aber zum Verständnis einer Verlaufsfigur moderner geschichtlicher Proze~. Erst kompensiene Gott. dann kompensiene die Natur. schließlich kompcnsien der Mensch selber als Täter der einen Emanzipationsgeschichte: doch erst don. wo diese eine Emanzipationsgeschichte problematisch wird und dadurch die Geschichten wieder zu Ehren kommen und statt des einen richtenden Prozesses die vielen ~richteten Prozesse. wird die Kategorie Kompensation - die in den bisherigen Verwendungstraditionen trotz alJ.em nur Randbedeutung hatte - frei für die Aufmerksamkeit der~r. die modem~ geschichtliche Verläuf~. geplante oder erduldet~. gestalten oder besichtigen.
78
Kompensation
9. Burckhardt, der diese Aufmerksamkeit entwickelte, verdächtigt die Kategorie Kompensation als einen als Gesetz getarnten Wunsch. Er witten sozusagen ihre theologische Vergangenheit: das, was in ihr nur Prinzip Hoffnung ist; ihr illusionärer Trostcharakter ist ihm suspekt. Aber man muß - und jetzt kurz vor Schluß meiner überlegung beginne ich endlich zu philosophieren: gefährliche und verdächtige Tätigkeiten soll man schnell und tunliehst don verrichten, wo die Aufmerksamkeit möglicher Zeugen schon erlahmt ist - man muß fragen: sind Kompensationen eigentlich notwendigerweise ein Trost? Zunächst einmal ist die Kompensation - als eine auf dem Umweg über eine Defizienz erzeugte Entschädigung, als indirekt ermächtigtes Gegenteil eines primären Scheiterns Produkt einer Divergenz zwischen Intention und Effekt. Es kommt anders, als man denkt und will; zumindest muß man mehr und anderes in Kauf nehmen, als man vorhatte. Auch wo das gutgeht, vollstreckt eine Kompensation dieses .. Gesetz der Heterogonie der Zwecke" (im Sinne Wilhelm Wundts) bzw. der "Innovation und Folgelast" (im Sinne Rainer Spechts)69, und zwar gerade bei Makroverläufen; etwa: man will die Wirklichkeit rationalisieren, statt dessen entstehen die Geisteswissenschaften. Man erledigt nicht nur ein Pensum, sondern zusätzlich noch ein - unbeabsichtigtes Kon-Pensum. In der Regel aber denkt man bei einer solchen Divergenz und zwar ganz mit Recht - gerade nicht an etwas Gutes. Darum kann und darf man den Gedanken der Kompensation aus seinem "optimistischen" Kontext lösen. Sobald man das tut, sieht man, daß es Kompensationen auch und gerade als Restitution des Negativen gibt: als Vollstreckung des Gesetzes der Erhaltung der Absurdität. Ein Minimum an Durcheinander wird stets wiederhergestellt: wo es durch Ordnung gestön wird, wird diese Störung wieder ausgeglichen, kompensien. Wer das Planungswesen. insbesondere das Bildungsplanungswesen, betrachtet, muß eigentlich zum Schluß kommen, diese Ausgleichsbewegung sei die wahrscheinlichere: Planung ist jedenfalls häufig - Fortsetzung des Chaos unter Verwendung anderer Mittel. Ordnung ist - das hat Aristoteles gesagt70 - privativ, eine Steresis; gerade auch ein Mangel an Chaos erzwingt dann seinen Ausgleich: eine Kompensation im Dienste der Erhaltung des Chaos durch List der Unvernunft. Das ist gewiß keine "Lehre von der Wünschbarkeit" , hier bewirkt der Einsatz des Kompensationsgedankens eher das Gegenteil von Trost. Das mag auch don zutreffen, wo die Sache auf den ersten Blick milder aussicht. Helmuth Plessner hat in seinem Buch Die flerspätete Nation die Philosophie - speziell die deutsche - als Kompensation der zerbrechenden "heilsgeschichtlichen Deutung des Menschen" interpretien: sie ist, schreibt er, "ein vom Schicksal erzwungener grandioser Schadenersatz"71. Aber er zeigt zugleich, wie - insbesondere, wenn aus Verspätungsgründen mitkompensierende Realitäten nicht zureichend ausgebildet werden - die Philoso-
Kompensation
79
phie sich in dieser Rolle nahezu zwangsläufig selber zerstön und dadurch Fanatismen indirekt ermächtigt: das ist offenbar - und so etwas gibt es also - eine Kompensation mit dickem Ende, eine, die als Hoffnung begann und als Enttäuschung aufhöne. Weiter: wenn, wie Reinhan Koselleck darlegt, in der modemen Welt eine wachsende "Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung" aufreiße 2 , die "Entzweiung" von "Herkunft und Zukunft", wie Joachim Ritter das nannteH, dann gehören dazu Prozesse, durch die die Menschen versuchen, diesen Bruch in sich selbst, diesesZusammenhangsdefizit zu kompensieren. Wie sehen - im Detail - diese Kompensationen aus? Zweifellos gibt es den Versuch, zu diesem Kompensationszweck die Erwanung preiszugeben, um innerhalb der Reichweite der eigenen Erfahrung leben zu können; das reduzien den Aktion.skreis auf überschaubare Kleinsituationen approximativ mit dem Radius Null; diese Kompensation tendien zum Glück im Winkel oder gar im Schmollwinkel. Aber dazu gehön immer die Frage, wem dadurch das Feld - sozusagen der NichtWinkel, von dem die erfahrungsgeborgenen Winkel leben - überlassen wird, eine bestenfalls bange Frage. Zweifellos gibt es auch den entgegengesetzten Versuch: den, zu diesem Kompensationszweck die Erfahrung an die Erwanung heranzumogeln, also die kompensatorische Ermächtigung der Illusion, wie sie heute Brauch ist bei der Reflexions-Schickeria im Einflußbereich der Kritischen Theorie; dieser Njet-Set operien veränderungssüchtig und erwanungseuphorisch mit der emanzipatorisch teilhaberrechthaberischen Maxime "dabeisein ist alles": don muß dann auch die Erfahrung dabeisein, und wenn sie es nicht ist, wird - etwa indem man apriori festlegt, was bei den dann so genannten verbindlichen Erprobungen das Resultat zu sein hat - die Erfahrung zur illusionären Anpassung an die Erwanung gezwungen. Dabei aber wächst die Enttäuschungswahrscheinlichkeit. Das also wären - hier ganz unexplizien nur angedeutet - Beispiele für Kompensationen, die wirklicher- oder möglicherweise bös enden und somit kaum anders sind als Scheintröstungen: trostloser Trost. Erst wenn diese - historiographisch sicher interessanten - Normalfalle hinreichend ins Auge gefaßt sind, darf man auch den Grenzfall erwägen. und erst dann kommen all jene Phänomene ins Spiel, von denen eingangs und bei Burckhardt die Rede war: daß die Menschen sich bei Beschädigung ihres Humanitätsniveaus durch Ersatzleistungen schadlos halten. Wo - das ist HegeIs klassisches Beispiel 74 - in der modemen Welt der "heilige Hain" entzauben wird zum bloßen "Holz". wird seine Heiligkeit kompensatorisch festgehalten im "Gefühl". Die Versachlichung der Welt entschädigt sich durch die Genese der Innerlichkeit. Zur Entzauberung der Wirklichkeit gehön als Kompensation die Entwicklung der Subjektivität als Stätte einer ausgleichenden - der ästhetischen - Faszination. Wo die Vernunft zur Kontrollvernunft der Experimente und Formeln sich konzentrien und das
80
Kompensation
nicht Expcrimentable dabei notwendigerweise ausklammern muß, entstehen nicht nur - durch diese Operation des methodischen Zweifels - die exakten Naturwissenschaften, sondern auch - als gegenläufige Entschädigung, als Kompensation - der historische Sinn, der dasjenige geltend macht, was die Experimentalvernunft gerade nicht erschließen kann: angesichts der Expcrimentalwelt ist er - kompensatorisch - der Agent der Lebenswelt. Dies in der Form der Wissenschaft zu sein - und ich referiere hier im wesentlichen nur Thesen vonJoachim Rittern - ist Die All/gilbe tier Geisteswissenschaften in tier mor/emen Gesellschaft: eine Kompensationsaufgabe . Weil diese Gesellschaft - und zwar im Interesse von Wohlstand und Gleichheit unvermeidlicherweise - geschichtslos wird und dadurch abstrakt, erzwingt diese ihre Mängelverfassung die Ausbildung dieser Erinnerungswissenschaften als - so Ritter - "Organ ihrer geistigen Kompensation"76. "Das wird" - und dies ist jetzt ein längeres Ritter-Zitat - "unmittelbar an dem nur scheinbar abseitigen Vorgang der ,Modernisierung' in seiner typischen Verlaufsform deutlich. Wo er einsetzt, ist immer die reale Bewegung das Erste, in der das alte geschichtliche Gut: Trachten, Einrichtungen, Gerät aus den Häusern und Onen des Wohnens und Lebens verdrängt wird. Aber dazu gehön, daß das so aus der gegenwänigen Wirklichkeit Entfernte gleichsam sein Sein veränden; es wird ,das Historische' und zieht - als dieses sein reales Nichtsein hinter sich lassend - nunmehr der Bewahrung würdig in die Museen ein, die für es geschaffen werden. "77 lütter spricht hier von einer "typischen Verlaufsform ": es ist die geschichtliche Verlaufsform der Kompensation. Modernisierungen verlaufen ganz allgemein so, daß sie zugleich Defizite und Kompensationen erzeugen. Das gilt auch dann, wenn - ich erwähnte eingangs die Beispiele der kompensatorischen Erziehung und Winschaftspolitik - die Modernisierungsprozessc selber schon als Kompensation auftreten: sie erzwingen dann ihrerseits Kompensationsschäden-Kompensationen. Beispiele für diese typische Verlaufsform sind nicht zuletzt die Modernisierungsaktionen im Bildungssystem. Etwa im Bereich jener Altersheime für Twens, zu denen die reformienen Universitäten geworden sind, venreiben die Maßnahmen zur Förderung der Bildungsegalität die Forschung in den außeruniversitären oder wenigstens interuniversitären Bereich; die Reformschäden der Universität ermöglichen ihre Kompensation durch die Aktivität privater Stiftungen und öffentlicher Träger: man ist an der Universität, aber man denkt woanders. Die Forscher - und dieses wohl nicht zufällig gerade in der letzten Zeit kräftig expandierende Phänomen gehorcht eben der Logik oder Dynamik des Wiederersatzes - , insbesondere die GeisteswissenschaftIer verschwinden in die Intermundien der überregionalen - gegebenenfalls der interkontinentalen Interdisziplinarität und des Wissenschaftstourismus 71 . Wenn sie am One ihrer Residenzpflicht nur mehr verwal-
Kompensation
81
ten, denken sie einzig noch dann, wenn sie reisen: darum müssen sie viel reiserl. Das ist - frei nach Burckhardt - ein Weiterleben der verletzten Forschung mit Verlegung des Schwerpunktes. Mit anderen Wonen: gerade das Wirken der Wemer-Reimers-Stiftung ist ein besonders gutes Beispiel für eine geschichtliche Kompensation. 10. Ein mir nicht schlechthin fernstehender Autor hat in einer früheren Arbeit geschrieben: .. In die Historie sind Philosophen in der Regel unglücklich verliebt ... 79 Es kam mir hier darauf an, einige Gründe oder wenigstens Vorwände zu liefern. dienlich. diese Meinung zu festigen. Meine hier hauptsächlich zu diesem Zwecke - im übrigen zunächst vorwiegend mit begriffsgeschichtlichen Mitteln. dann vorwiegend mit Mitteln, sagen wir, einer spekulativen Phänomenologie - entwickelte These läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Kompensation, ein einigermaßen aktueller Begriff, kommt nicht - wie man gemeinhin annimmt ursprünglich aus dem Umkreis der Psychoanalyse, sondern er kommt aus einer langen - vergessenen - philosophischen Geschichte schließlich auch in den Umkreis der Psychoanalyse hinein und dann wieder aus ihm heraus in die allgemeine Reflexion. Der Begriff Kompensation wird philosophisch erheblich nicht erst kw! nach 1900. sondern um 200. Kompensation. das habe ich zeigen wollen, ist eine in der christlichen Theologie angelegte, in der Theodizee großgewordene und darum in die klassische Geschichtsphilosophie übergegangene. don aber kleingehaltene Kategorie. Gerade deswegen ist sie prädestinien. spätgeschichtsphilosophisch oder gar nachgeschichtsphilosophisch und also gegcnwänig das zu werden. was ich zu Anfang von ihr behauptet hatte: eine wesentliche - eine gleichwohl nicht unproblematische - Kategorie zum Verständnis einer Verlaufsfigur insbesondere moderner geschichtlicher Prozesse, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil sie dies ist: eine Kategorie zum Begreifen der Verlaufsfigur oder wenigstens eines Verlaufsmoments des geschichtlichen Prozesses der Modernisierung selber.
Kunst als Antiftktion - Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen Fontane
Ist das wirklich ein Gegensatz: das Wirkliche und das Fiktive? Oder ist er selber fiktiv? Oder ist das gar keine Alternative? Denn es könnte ja folgendermaßen sein, nämlich historisch sich wandelnd: es war einmal eine Zeit, in der - womöglich vorübergehend - Reales und Fiktives in wirklichem Gegensatz standen; aber wir leben nicht mehr in dieser Zeit; heutzutage kommen Realität und Fiktion nur noch als Legierung vor und nirgendwo mehr rein: das positive Stadium ist das fiktive. Solange die Wirklichkeit nichts anderes war als Wirklichkeit und also ganz und gar nicht Fiktion: da konnte die Gegenwirklichkeit Kunst als Ensemble von Fiktionen zuträglich definien werden. Sobald aber das Fiktive das Reale unterwanden, die Wirklichkeit sozusagen durchftktionalisien wird und der Unterschied des Wirklichen und Fiktiven sich auflöst: bleibt da die Gegenwirklichkeit Kunst als das Fiktive noch zureichend bestimmt? Und was - in dieser Situation - wäre die Kunst, wenn sie nicht mehr das Reich des Fiktiven wäre? Diese Frage tritt im Folgenden in der Maske der Antwon auf durch die These: die Kunsl wird wo die WirlJichkeit selber zum Ensemble des Fikti"en sich wllndell ihrerseits zur Anlijiklion. Wenn dieser Vorgang interessien, muß die Untersuchungsaufmerksamkeit sich mehr als auf die mögliche konterfiktionalistische Umdefmition der Kunst - die Replik ist - auf jenen Prozeß richten, der sie nötig macht und erzwingt: auf den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive. Dieser Weg ist komplizien und lang: hier kann er - durch eine sehr pauschale und grob simpliftzierende Skizze - nur angedeutet werden, und zwar in folgenden vier Abschnitten: 1. Philosophischer Fiktionalismus; 2. Eschatologische Weltvernichtung; 3. Weg der Wirklichkeit ins Fiktive; 4. Kunst als Anciftlction. 1. (Philosophischer Fiktionalismus). - Lange Zeit, scheint es, brauchte die Philosophie Fiktionen nur als Kontrastexempel : als Beispiel für das bloß Ausgedachte. Das ist jene Teilmenge der entia rationis, die ficta sind: sine fundamento in re, ohne korrespondierende Realität, teils selbstwidersprüchliehe ,Undinge' (hölzernes Eisen, viereckiger Kreis), teils willkürliche Eigenschaftskombinationen, aus denen etwa die Fabeltiere bestehen: Chimären, Kentauren, Sirenen, Einhörner und viele andere mehr. Die philosophische
Kunst als Antifiktioo
83
Tradition - hier vor allem Ockham, Suarez, Descanes, Clauberg, Spinoza (erst bei Berkeley und bei Kant änden sich das) - blickt aufs bloß Ausgedachte, um das Gedachtsein jenes Gedachten besser zu begreifen, das kein bloß Ausgedachtes ist, weil ihm Realität entspricht. I Bei jenen "ideae a me ipso factae" - die, wie "Syrenes, Hippogryphes, & similia, a me ipso fmguntur"Z - scheint die Einbildungskraft em spät das philosophieoffizielle Mit- und Hauptbestimmungsrecht erhalten zu haben: das "ens rationis ratiocinantis" wird em spät - etwa im Anschluß an Baumganens Rehabilitierung der sinnlichen Vermögen und seiner Bestimmung der "fictiones poeticae" als "fictiones heterocosmicae"J - zum imaginatum; em don bahnt sich - in der Philosophie - seine ästhetische Promotion zum Bedeutsamen an. Zu ihr gehön, daß ficta aus dem StatuS des bloß Ausgedachten etwa dann halbwegs erlöst werden können, wenn sie zu Metaphern avancieren: so wurde der "Kentaur" durch Burckhardt zur Metapher für die .,Geschichtsphilosophie" (die eine "contradictio in adiecto" sei)~; fottan wird der philosophische Job als Beispiel fürs Ausgedachte für den Kentauren im Arbeitsamtssinne unzumutbar: in die dadurch vakant gewordene Stelle tritt wenig später der" bald present king of France" ein und das Problem der sinnlosen Sätze. Insgesamt aber gilt: zunächst und Im in die sp41e Neuzeil
hinein sind die ficlll hloße KonlrllSlexempelfiJr IrrelIIes, und die Philosophie dieser FiRlionen hleiht peripher. In ihr sind die Fiktionen etwas, was gerade keine Belastung mit Wirklichkeitsanspruchen verträgt. Das - beim Zeus! - hat sich gegenwärtig geänden: inzwischen sind in der Philosophie die Fiktionen (nicht nur ästhetisch) nobilitien, etwa - um hier nur einen ebenso extremen wie repr2sentativen Tatbestand herauszugreifen - in der Theorie des "kommunikativen Handelns" und näherhin des "Diskurses": wir können - schreibt Habermas' - "nicht umhin, konuafaktisch immer wieder so zu tun, als sei dieses Modell (sc. des reinen kommunikativen DiskurshandeIns) wirklich - auf dieser unvermeidlichen Fiktion (!) beruht die Humanität des Umgangs unter Menschen, die noch Menschen, d. h. in ihren Selbstobjektivationen noch nicht sich als Subjekten völlig fremd geworden sind": solange die Aussagen Ober den "unverzerrten" "idealen" Diskurs "irreale Konditionalsätze" sind, ist es - durch "kontrafaktische Untemellung" - eine Fiktion, die zum einzigen Wirklichkeitsgaranten faktisch möglicher Humanität wird. Nicht irgendetwas hingt an einer Fiktion, sondern das Wichtigste: die Menschlichkeit. So rutscht das Fiktive aus der Peripherie der Philosophie - der Zone der Kontrastexempel fürs Irreale - in ihr Zentrum: als Möglichkeitsgarant auch noch desjenigen Diskurses, der die Philosophie selber ist. Aus der - pen' o
pheren - Philosophie der Fihion wird gegenUNlrlig die - zenIrIlle Philosophie der PiRtion der Philosophie und der jiklionshedinglen Relllil41 dn HUmllnen. In dieser diskurstheoretischen ,Philosophie des Als-ob der
84
Kunst als Antifiktion
Philosophie' erbt der ideale Diskurs - als Denken des Denkens mit totaler Sichselberdurchsichtigkeit. als ,unhintergehbare' Letztinstanz und maßgeblichstes Partizipandum - die Attribute Gottes: das ideale Philosophierkollektiv wird durch den einen und selben Vorgang ens realissimum und Fiktion. Zwischen dem traditionell philosophischen Randdascin der Fiktionen und ihrer gegenwänigen philosophischen Karriere, die die Philosophie selber zu ihrem wichtigsten Gegenstand und zur Fiktion werden läßt, ist offensichtlich etwas Entscheidendes geschehen: zwischen beiden Zuständen - der alten Philosophie der Fiktion und der neuen Philosophie der Fiktion der Philosophie - liegt die Genesis des philosophischen Fiktionalismus, der aus dem pragmatisch inspirienen Bündnis von Kantianismus und lebensphilosophie entstand; im deutschen Sprachraum ist sein repräsentativster Venreter Hans Vaihinger mit seiner Philosophie des Als-ob (geschrieben 1876 ff .• publizien 1911). Vaihinger - dessen "idealistischer Positivismus" sich für die produktive Rolle der Fiktionen insbesondere in den Wissenschaften interessien - fügt (S. 171 ff.) den zwei traditioneUen Fiktionskriterien (Irrealität mit dem GrenzfaU des Sclbstwiderspruchs; Fiktionsbewußtscin) zwei neue hinzu: als "Durchgangspunkte" haben die produktiven Fiktionen nur transitorische Relevanz. aber sie haben eben Relevanz für die Wirklichkeit, d. h. "Zweckmäßigkeit" als .. Kunstgriffe". die etwas bewirken helfen, was ohne sie nicht zustandekäme in der Praxis: und diese ist die Instanz jeder Theorie. So kann .. eine Fiktion als ein ,legitimer Imum' gelten", welcher "das Recht seines Bcstehens durch den Erfolg nachzuweisen hat" (S. 190) in der Praxis der Wissenschaften für die menschliche Sclbst- bzw. Identitätserhaltung (S. 182): das .. Bestreben der Wissenschaft geht darauf aus •... die Vorstellungswelt zu einem immer brauchbareren Instrument der Berechnung und des Handelns zu machen . . . Irnum und Wahrheit fallen unter den gemeinsamen Oberbegriff des Mittels zur Berechnung der Außenwelt; das unzweckmäßige Mittel ist der Irnum, das zweckmäßige heißt man Wahrheit" (S. 193). so daß .. Wahrheit nur der zweckmäßigste Irnum ist" (S. 192): die erfolgreichste, die fruchtbarste Fiktion. Das erinnen - und soll nach Vaihinger erinnern (vgl. XIV f .. S. 771 ff.) - an N ietzsches .. Lehre vom bewußt gewollten Schein"; denn "Wahrheit" ist auch nach Nietzsche - für jene .. klugen Tiere". die Menschen, die. in der .. hochmütigsten und verlogensten Minute der .Weltgeschichte"'. "das Erkennen erfanden" - .. Lüge im außcrmoralischen Sinn"6: ein .. Zurechtmachen" der Wirklichkeit, ihre Umfälschung ins Lebensdienliche ... Wahrheit ist die An von Irnum, ohne welche eine bestimmte An von lebendigem Wesen" - die spccics homo .. nicht leben könnte" 7: Wahrheit heißt die erfolgreichste Fiktion. Diese fIktionalistischen Thesen - bei Vaihinger. aber auch bei Nietzsche - waren zumindest angelegt in den berührm-berüchtigten Als-ob-Formulierungen
Kunst als Antiftktion
85
Kants (vgl. Vaihinger 5.613 ff.). Als-obs sind in erster Linie die "regulativen Ideen": Kam selber nennt sie an mindestens einer Stelle seines Werks "heuristische Fiktionen" .8 Diese Als-ob-Formulierungen Kants sind - nach Vaihingers Obeneugung - bereits von Forberg (vgl. s. 733ff.) und Lange (vgl. S. 753 ff.) ftktionaIistisch vereindeutigt worden: Vaihingers Fiktionalismus ist ein im Geist des Pragmatismus lebensphilosophisch radikalisiener Kantianismus. Dabei scheinen auch Kants "Postulate der reinen praktischen Vemunft"9 Als-obs zu sein: handlungsdienliche Fiktionen. Wenn auch Kant selber sich in seiner Postulatenreihe formulierungseinschlägig zurückhält (vgl. Vaihinger, 5.656), so gilt doch: wir müssen - meint Kant - handeln, "als ob" Gott existiene; denn: wir müssen Gott postulieren, um zuversichtlich bleiben zu können, daß über Folgen und Nebenfolgen des sittlich unbedingten Handelns hinweg ein guter Ausgang der Dinge sich herstellt. Wo die Gesinnungsethik auf Kosten der Verantwonungsethilc regien, kann nur noch Gott helfen: darum muß er notfalls fmgien werden; in diesem Sinne braucht auch gerade der autonome Mensch Religion. Auf diese praktischphilosophische Als-ob-Theologie Kants hat kürzlich eine theologische Arbeit Bezug genommen: die durch Carl-Heinz Ratschow betreute Dissenalion von Julius Harms lO , deren zweiter Abschnitt unter dem Titel "Immanud Kam: ,w~ '""11' und ,als ob' " veröffentlicht worden ist. 1l Don meint Harms, es habe das - von ihm nicht näher charakterisiene - paulinische " ,haben als hätte man nicht' dem" - angeblich Leibnizschen - .. ,etsi deus non daretur' längst sachlich vorgearbeitet" (5.41); und Kants scheinbare postularische Umkehrung dieser Formd in ein "als ob Gott gegeben sei" (5.43) sei dann in Wahrheit die Radikalisierung dieser fiktionalistischen Reduktionsposition : Gott werde bei Kant - im Namen der menschlichen Autonomie - so sehr zum bloßen "Hilfsgedanken" "ohne Realität" (5. 55) entlebendigt und entwirklicht und mit ihm Menschen und Wdt, daß auch in der Folge - für die durch Kant Eingeschüchtenen: vonJacobi überJcan Paul bis zur dialektischen Theologie - Gott nur noch als wdtfremder Jenseitsgott sich blicken lassen darf (5. 58ff.): vom "W( '""11" über das "etsi non" zum "als-ob" läuft nach Harms die Linie einer falschen Theologie. Ich diskutiere diese theologische These hier nicht theologisch. Ich nehme aber im Folgenden diese Stichwone - "W( 1'11", "etsi deus non daretur", "etsi deus daretur" - auf, um mir diesen Zusammenhang (ohne vid Rücksicht auf Rezeption oder Kritik der These von Harms), in meiner Weise zurechtzulegen und zu interpretieren, nämlich im Blick auf die - angesichts der modemen Konjunktur des philosophischen Fiktionalismus nahdiegende Frage: woher kommt er eigentlich, dieser - durch die neuzeitliche Philosophiegeschichte nur mi/bekundete - Trend zur FunriamenttJIisienmg des Fikti"en?
86
Kunst als Antiftlction
2. (Eschatologische Weltvernichtung). - Im ersten Brief des Paulus an die
Korinther finden sich im 7. Kapitel Vers 29 ff. jene Formulierungen mit dem .. Wc 1'-iI" , die traditionell durch das "haben als hätte man nicht" zusammengefaßt und charakterisien werden. Als Nichttheologe kann ich in die theologische Interndiskussion dieser Als-ob-nicht-Formel nicht eingreifen; mir scheint aber: durch diese Verpflichtung zur Fiktion des Nichthabens - die eingeleitet wird mit dem Satz "die Zeit ist kurz" und abgeschlossen wird mit dem Satz "denn das Wesen dieser Welt vergeht" - ruft Paulus die Korinther und damit die Christen auf, die christlich-eschatologische Verheißung ernstzunehmen: "diese Welt" wird - und zwar alsbald - durch Gott aufgehoben werden zugunsten jener "neuen Welt", die das Heil ist; darum ist die vorhandene Jetztwelt durch die verheißene Heilswelt bereits jetzt "erunwir~ lichl; und die Christen sollen das kommende Nichtsein der vorhandenen Welt schon jetzt - im Modus des Als-ob - antizipierend leben: die Nichlhabensfi~lion des nWc 11-i1" ist die Vorwegnahme der eschatologischen Weltvernichtung. Kein Zweifel: dies bedürfte genauerer Interpretation. Auch müßte verfolgt werden, wie sich die eschatologische Weltvernichtung mit der platonistischen Veruneigentlichung der "phainomena" zugunsten der Ideen und mit der gnostischen Weltnegation verbunden hat. Es könnte zugleich bekräftigt werden: seit diesem nWc 11-i1" ist ein Als-ob religiös legitimien und fundamentalisien: das ist ein folgenreicher Präzedenzfall. Schließlich ließe sich anikulieren, was sich gegen den Gebrauch des Ausdrucks ,Fiktion' für dieses Nichthabens-Als-ob spern: der Eindruck, daß die eschatologische Weltvernichtung das Fiktive am "W( 11-i1" zugleich dementien. Denn wer an Gottes Verheißung glaubt. für den ist das Weltende schon Realität: die eschatologische Weltvernichtung vernichtet beim "als-ob-nicht" auch noch das "als-ob" durch das .. nicht"; erst dadurch wird sie zu jenem Schock, zu dem sie geworden ist. Dies alles also bedürfte genauerer Interpretation; indes: meine Überlegung muß - schon aus Umfangsgründen - ohne sie auskommen; darum springt sie sogleich in die These, auf die es im Folgenden ankommt: der Trend zur Fundamentalisierung des Fi~ti"en ~omml aus der biblischen Eschatologie; denn die eschatologische Weltvernichtung erzwingt nicht nur (direkt) die - zunächst fiktive - Negation der vorhandenen Welt (weil die reale nicht kommt), sondern sie provozien - indem sie präsent bleibt als reale Befürchtung - in der Folge auch (indirekt) die kontereschatologische Wiederherstellung der eschatologisch vernichteten Welt nur mehr im Modus der Fiktion: nämlich durch Umkehrung des nWc 1'-iI" ins "Als-ob"; und - nota bene - die Kunst wurde zunächst (ehe sie an dieser Definition zu leiden beginnt) ein wichtiger Teil dieser fiktiven Wiederherstellung der eschatologisch vernichteten DiesseitsWelt. Man kann sagen: die eschatologische Welttlemichtung ist jenes Trauma,
Kunst als Antiftktion
87
gegen tim post Christl1m 1I4tllm et ",ortllllm die Diesseitswelt linie ben lind die Philosophie, die für sie eintreten will, IIntJenken muß. Etwa in diesem Sinne hat Hans Blumenberg die Neuzeit als "zweite Überwindung der Gnosis" (als zweite Überwindung ihrer Weltnegation, einer Variante der eschatologischen Weltvernichtung) interpretiert 12 und damit - implizit das Mittelalter als eme Überwindung der Gnosis vemanden: als mißlungene. Seide - Mittelalter und Neuzeit - versuchen verschiedene Antworten auf die eschatologische Weltvernichtung. Gegen die eschatologische Weltvernichtung kann man anleben und andenken, indem man entweder - das ist der Versuch des Mittelalters und seiner Philosophie - die vorhandene DiesseitsWelt so wirldich - als Schöpfung Gones so ontologisch gewichtig - zu machen versucht, daß die Vernichtung dagegen vergeblich anrennt: durch Ontologisierung; oder indem man - das ist der Versuch der Neuzeit in mindestens einem ihrer repräsentativen philosophischen Trends - die vorhandene DiesseitsWelt so unwirldich zu machen versucht, daß die Vernichtung mangels Masse nichts mehr zu vernichten hat und ins Leere läuft: durch Fiktionalisierung. Die Wirklichkeit wird entweder Natur durch wirklichkeitsmaximierende Seinsteilhabe, oder sie wird Faktur mit dem Grenzfall der Fiktur, indem gilt: die Wirklichkeit ist ein Produkt durch Fiktionen, ein Fiktionsprodukt. Dies letztere also ist - als zweite Replik auf das Trauma der eschatologischen Weltvernichtung - die (oder wenigstens eine) Antwort der Neuzeit. Drum auch steht bereits arn Beginn der neuzeitlich-modernen Welt eine Fiktion: die große Gegenfilltion zlIm .. ~ j.L~" der eschatologischen Weltvernichtung, sozusagen das Gegen-.. w~ j.L~". nämlich das "elsi deus non tUreIlIr". Wo Gott zu ihrem Heil die Welt vernichtet, mußte man - diese Vernichtung erwanend und vorwegnehmend - schon so tun, als ob die Welt nicht sei; wo Ilber die WeIl - gegen die eschlllologische Well"ernichlung -
fislgehl1llen und bewllhrt werden soU, muß mIln im Gegenleil so lun, I1Is ob ihr Vernichler - Gott - nichI sei: man muß dann nicht mehr - umwillen Gones - eschatologisch-ftktiv leben und denken ,etsi mundus non daretur' , sondern - umwillen der Welt - antieschatologisch-ftktiv leben und denken "etsi deus non daretur": das .. w~ j.LTj" in Bezug auf die Welt ist umgedreht zu einem .. w~ j.LTj" in Bezug auf Gott: die eschatologische Fiktion ist konterkariert durch eine antieschatologische Fiktion. Die Formel "etsi deus non daretur" entstand (soweit mir bekannt ist) zur Zeit des 30jährigen Krieges, in dem die Religion und Theologie - konfessionell kontrovers und tödlich geworden - die bisher ausgebliebene Weltvernichtung nunmehr auf schreckliche Weise zu betreiben begann. Die Formel gehört in den Umkreis des Diktum des Albericus Gentilis: "Silete Theologi in munere alieno!" U Das "etsi deus non daretur" hat Hugo Grotius in seinem Werk De jtlre belli IIC pllCis (1625) verwandt. 14 Die Wendung steht arn Anfang des
88
Kunst als AntifIktion
modemen Naturrechtsdenkens; der Problemkontext ist - simplifizien dargestellt - dieser: durch die nominalistische Theologie der ,potentia absoluta' Gottes steht jegliche Rechtsordnung schrankenlos zu Gottes Disposition; so wird die lex naturalis ununterscheidbar von der (göttlichen) lex positiva, wobei lex positiva Ausdruck für die biblische Offenbarung und ihre Regelsetzung sein kann; wo aber diese mit Bwgerkriegsfolgen kontrovers wird, muß die friedenserhebliche Frage nach einem konfessionell ,neutralen' Recht - angesichts eines Gottes mit potentia absoluta - zur Frage nach einem Recht werden, das Gottes Disposition (und theologischer Interpretation) entzogen bleibt: so entsteht das Interesse an einem Naturrecht, das vernunftautonom und eigenauthentisch gilt, auch wenn es Gott (und seine theologischen Interpreten) nicht gäbe, und das begründet werden kann und muß, als ob es Gon nicht gäbe, also das Interesse an einem Naturrecht .. etsi (sc. quasi) deus non daretur". Die Intention dieser Formel - deren Fonwirkung in Dingen Ethik z. B. noch Max Scheler bekundete, indem er eine repräsentative, auf ethische Autonomie bedachte Form der modemen Anthropologie als "postUlatorischen Atheismus" charakterisieneu - hat über das Naturrechtsdenken hinaus allgemeine Bedeutung gewonnen; sie ist fonan auch don faktisch im Spiel, wo die Formel expressis verbis nicht auftaucht: etwa wo Descanes gegen Gottes weltvernichtungskräftige potentia absoluta - neuzeitrepräsentativ - ein "fundamentum inconcussum" sucht, zu dem die Allmacht Gottes "nicht zukann", fmgien er - als schlimme Möglichkeit der potentia absoluta - den .. genius malignus" alias .. dieu trompeur" ( .. non repugnemus, totumque hoc de Deo demus esse fictitium")'6 und daß jegliche .. vetus opinio" irrig sei ("quapropter ... non mala agam, si ... illasque aliquandiu omnino falsas imaginaria que esse fingam")." Der "methodische Zweifel" operien - zum Zwecke der Gewinnung jener durch Gott unvernichtbaren Position, die später Husserl das "Residuum der Weltvernichtung" nannte 18 - mit Nichlgellungljik#onen, insbesondere mit der Figur ,als ob es das Hergebrachte nicht gäbe'; darum darf man wohl meinen: "der melhodüche Zweifel" Isl - wie Ip41er die "ph4nomenologüche Epoche" - die Generlllüierung MI "elli deul non helur". Freilich: genügt eine Nichtseinsfiktion als Replik auf das Trauma der eschatologischen Weltvernichtung? Das ist die Frage, die weitenreibt. Es reicht offenbar nicht aus, das Nichtsein des eschatologischen Weltvemichters nur zu fingieren, solange die eschatologische Weltvernichtung als reale Bedrohung erfahren wird. Die Abwehr dieser Bedrohung gelingt dann offenbar erst durch die Überzeugung, daß es Gott wirklich nicht gibt: auch beim Versuch, die eschatologische Weltvernichtung zu negieren, wird im "als-ob-nicht" auch noch das "als-ob" durch das "nicht" negien. So gehl 1111 RJulika/replil! gegen die elchQ/ologüche Wellflemichlung - der melho-
Kunst als Antiftlction
89
diJche AtheiJmus schließlich über in den relllen AtheiJmus: fiJr diesen iJt nicht mehr die Nichtexistenz GOlles, sondem die Existenz Gottes eine Fiktion; darum - immer noch aus der Tendenz zur Abwehr der eschatologischen Weltvemichtung - kornInt es nunmehr zum Kampf gegen die, die diese Fiktion pflegen: die Theologen und Metaphysiker; der Feldzug gegen sie wird zum Probevorlauf für die späterhin allgemeinere Dauerfahndung nach "falschem Bewußtsein". Fonan entstehen - von Hume über Feuerbach bis Freud - jene Thesen, die Gott zum Produkt der menschlichen Einbildungskraft erklären. Nicht Gott macht den Menschen, sondern der Mensch macht Gott, aber nicht jeder Mensch: der aufgeklärte Mensch nicht. Die Religion ist eine Illusion ohne Zukunft, denn die Imagination der Existenz Gottes ist - so meinen diese Ansätze - wissenschaftlich obsolet: sie gehön ontogenetisch und phylogenetisch zur Kindheit der Menschen. Das hat vor allem Comte durch sein Dreistadiengesetz zum Ausdruck gebracht: das früheste Stadium - "l'etat theologique" - war "I'etat fictif" , und das zweite, "I'etat metaphysique ou abstrait", blieb fiktiv; erst im dritten und letzten Stadium, dem "etat positif ou reel", gelingt - meint Comte - die "subordination constante de l'imagination a I'observation" zum Zwecke des "voir pour prevoir"19 "pour prevenir": em das positive Stadium überwindet - durch seinen wissenschaftlichen Realitätssinn - das Fiktive, das als das Unwissenschaftliche suspekt wird. So werden "Fiktion" und" Fiktives" zunikhst - aber gerade riMJurch drängen und gertJten sie approximalifl ins Zentrum philosophiJeher Aufmerksamkeit - zu phi/osophiJchen DiJkn·minierungSflouoeln. 3. (Weg der Wirklichkeit ins Fiktive). - Mit dieser Diskriminierung paradoxerweise - beginnt die positive Karriere des Fiktiven in der modernen Welt: man stilisien zum Gegner, was zu sein man sich anschickt. Im Feuerschutz der Diskriminierung des Fiktiven setzt die modeme Welt an zur bejahten Fundamentalisierung des Fiktiven. Die gerade erst verdammten Fiktionen werden alsbald positivien. Bereits Voltaire schrieb: "si Dieu n' exis· tait pas, iJ faudrait I' inventer"20; genau das scheint Kant in seiner Postulatenlehre aufzunehmen: man muß handeln, als ob es Gott gäbe. Wurde vorher beim "als-ob-nicht" der eschatologische Bezug auf die Welt durch den antieschatologischen Bezug auf Gott ersetzt, so wird jetzt das "als-ob-nicht" selber umgedreht zum "als-ob": das ,haben als hätte man nicht' wird zum ,nichthaben als hätte man'; und das - interpretien als die avanciene neuzeitliche Replik auf die eschatologische Weltvernichtung - bedeutet: so sehr wirkt rJm TrtJuma der eschatologischen Weltvemichtung fort, daß die neuzeitlich-modeme &wahrung, WiederhersteUung und Optimierung der vemichteten Welt weitgehend nur mehr durch Fiktionen gelingt; so nimmt die modeme WirJJichkeit den Weg ins Fiklifle lind lanciert die Kmriere des
90
Kunst als Antiftktion
Ais-ob. Dabei spielt eine wichtige - vielleicht entscheidende - Rolle der Versuch, Gott als einen Schöpfer zu fmden, der sich zur vorhandenen Welt nicht negativ, sondern positiv verhält: nicht als ihr Vernichter, sondern als ihr Bejaher. Dies muß jene Bestände zum Problem machen, die die eschatologische Weltvernichtung nahelegten: die Sünde, das Böse, die Übel; angesichts dieser Negativbefunde muß Gott als Schöpfer der Welt begriffen und ,gerechtfertigt' werden, in der es sie gibt: durch eine An ,Entübelung der Übel', auch der gnoseologischen Übel. Das ist das Pensum der Theodizee; und so ist hier näherhin dies die These: der Weg der modemen WirIJichkeit ins Fiktifle wird insbesondere lIngestoßen durch die Theodizee: die Kmriere der Fiktionen hlll mit der ,Zulassung' der Übel zu tun. Ich versuche, diesen Vorgang hier - wenn auch nur andeutungsweise, und indem ich zunächst das Phänomen der Genesis des Ästhetischen (vgl. unten Abschnitt 4) ausklammere - durch Hinweise auf nur zwei philosophiehistorisch greifbare Tatbestände zu belegen: durch Hinweis auf die theoretische (a) und die praktische (b) Karriere des Fiktiven. - Da ist einerseits: a) der Siegeszug des Nötigkeitspnnzips. Er scheint mit Kants transzendentalem Idealismus zu beginnen. Man hat diesen als Apriorismus charakterisien, aber gerade das bleibt unspeziflsch, denn: "der ,Apriorismus' ist die Methode jeder wissenschaftlichen Philosophie, die sich selbst versteht". schreibt Heidegger l und hat recht. Kants transzendentalter Idealismus ist spezifisch charakterisien - vielmehr derjenige Apriorismus. der - prima facie erstmalig - die Aprioris als "Bedingungen der Möglichkeit" legitimien: durch ihre , Nötigkeit' als Mittel zum Zweck; dieser Zweck ist in der .. Kritik der reinen Vernunft" ausdrückbar durch den Imperativ: exakte Wissenschaft soll sein und gedeihen! Das ist ein nichtkategorischer nichthypothetischer Imperativ; solche Imperative nennt Kam .. pragmatisch" 22: der transzendentale Idealismus ist Pragmatismus ohne pragmatisches Pragma. Er lancien - als oberstes Legitimationsprinzip der .. transzendentalen Deduktion"H - das Nötigkeitspn'nzip, und das hat Konsequenzen: der Charakter der Nötigkeit kann fonan den anderen Charakteren des Apriori Invarianz und Realitätsadäquanz - den Rang ablaufen. und er tUt das in Fonsetzung einer Denkfigur, die bei Lc:ibniz begann: dieser ersetzt in seiner .. Theodicee" (1710) das kreationsbezügliche .. und es war alles sehr gut" (Genesis 1.21) durch die schwächere These des .. Optimismus": zwar ist die Welt nicht sehr gut, aber sie ist die bestmögliche. Denn es gibt - malum die Übel; diese aber sind - bonum-durch-malum - conditiones sine quibus non (eben: Bedingungen der Möglichkeit) der Realisierbarkeit der Optimalwelt. Le,bniz (bzw. der Gott seIner" Theodicie ") wllr der erste, der fIIIIIa - Unflollkommenheiten - als "Bedingungen der Möglichkeit" ,zuließ' d. h. legitimierte: durch ,hr Nötigsein fürs Optimum. Dlls ,Nötigkeitspnnzip' - wie se,n Einslltz zur Rechtfertigung flan Übeln - entstllmmt der
Kunst als AntifIktion
91
Theodizee, die auf einen Gott aus war. der die Welt nicht eschatologisch vernichtet. sondern amieschatologisch bejaht. Vorm Nötigkeitsprinzip sind bona und mala prinzipiell gleich: ma.la werden - wie bona - durch ihre Nötigkeit fürs Optimum justifizierbar; seither gibt es als Möglichkeitsbedingungen .legitimiene Übel'. Dieses Nötigkeitsprinzip überlebt die Säkularisation der Theodizee zur .. transzendenta.len Deduktion". a.Iso Kants Umadressierung der .. quaestio juris" vom rechtfenigungspflichtigen Adressaten Gott an den rechtferugungspflichtigen Adressaten Mensch. In der Krih"k der reinen Vernunft wird es dabei zugleich gnoseologisch pointien; just das eröffnet den Weg zur Konsequenz: wenn überhaupt Obelllls Möglichkeitsbedingungen eines Oph"mum legitimiert werden können, Ihnn auch die gnoseologischen Obel. Zu diesen gehön - außer der .. inferioren" Aisthesis und dem Datierbaren (Historischen) - insbesondere der Irrtum: Der Schein. die Täuschung und Selbsttäuschung. die Lüge im außermora.lischen Sinn. a.Iso das Fiktille. In diesem Zusammenhang wird auch der gnoseologisehe Spezialfa.ll des .. ma.lum metaphysicum" Endlichkeit - die endliche Erkenntnis - zum maßgeblichen Gesichtspunkt. Auf ihre Aprioris bezieht Kam das Nötigkeitsprinzip. indem er sie a.Is .. Bedingungen der Möglichkeif' nicht mehr der besten a.Iler möglichen Welten. sondern der besten a.Iler möglichen Wissenschaften (der mathematischen Naturwissenschaften) legitimien: seither läuft (ich wiederhole es) der Charakter der Notigkeit den anderen. den Bonitätscharakteren des Apriori - Invarianz und Rea.litätsadäquanz - den Rang ab. Fonan ist grundsätzlich nicht mehr einzusehen. warum nur Invariantes und Rea.litätsadäquates a.Is .. Bedingung der Möglichkeif' zugelassen werden soll: die gnoseologischen Übel - das ,nur' Historische und das Fiktive - werden apriorifähig und ineins damit die Aprioris historisien und fiktiona.lisien. Unterwegs zur Verfassung der Fiktur wird die Wirklichkeit zunächst zur .Erscheinung , : Kants .Subjektivierung' der Aprioris ist das Präludium nicht nur ihrer Historisierung, die im deutschen Idelllismus erfolgt. sondern auch ihre Fiktionlllisierung durch das pragmatisch inspiriene Bündnis von Kantianismus und Lebensphilosophie repräsentativ im Fiktionlllismus Vaihingers. Dieser schreibt: .. kein Mensch weiß. daß er beim Denken beständig fehlt und im. und doch macht er Fonschritte" (S. 217): die Erkenntnismittel - ma.lum - sind weithin Fiktionen. aber - bonum-durch-ma.lum - gerade dadurch kommt es zum Wissenschaftsprogress. Ich lasse beiseite. daß auch Vaihingers .. Methode der entgegengesetzten Fehler" (S. 194 ff.) zu einem Theodizee-Folgethema (.Kompensation') gehön. und betone hier nur noch dies: .. Denken" - schreibt Vaihinger - .. ist ein reguliener Imum" (S. 217); Fiktionen werden durch Fiktionen ersetzt, und so macht der Imum die Wissenschaftsgeschichte. darum kann in ihr nicht Verifikation. sondern nur Falsifikation stattfinden; meines Wissens wurde bisher übersehen. in welch beträchtlichem Maße der
92
Kunst als Antiftktion
"idealistische Positivismus" Vaihingers mit dem "kritischen Rationalismus" Poppers konvergien durch diesen Primat der FalsiflZierung. Insgesamt aber gilt: zur g"oseologische" Ko"ju"ktur der Fiktio"e" ko""te es "ur du"h de" Siegeszug des NÖhgkeiJspri"zips komme,,; dieses ""er e"tstammt der Theodizee. Die modeme - theoretische - Positivieru"g der Fiktio"e" MS "Bedi"gu"ge" der Möglichkeit" fiir das W issemcha/tsoptimum ist - letztme,,des - der g"oseologische SpezialftJi/ des Theodizeegeda"ke"s der ,Zulassu"g' der Übelllls Bedi"gu"ge" der Möglichkeit für das Weltoptimum. Just dieser Siegeszug des Nötigkeitsprinzips also verwandelt die modeme Wirklichkeit - approximativ - zur Fiktur. - Da ist andererseits: b)der - praktische - Ko"ju"hurauftchwu"g bei de" Zweckillusio"en. Auch sie gehören zunächst zu den gnoseologischen - genauer: zu den praktikognoseologischen - Übeln; auch sie mIlChen modem einen Prozeß der Positivierung du"h; und auch das ist - letztenendes - ein SpezialftJi/ des Theodizeemotivs der ,Zulassung' der Übe1MS Bedingungen der Möglichkeit fiJr das Weltoptimum. Denn auch die Zweckillusionen suchen sich durch das Nötigkeitsprinzip zu rechtfenigen: sofern der Zweck die Mittel heiligt. heiligt auch jener Zweck. der nicht in Wissen besteht. sondern menschliches Handeln dirigien, sogar noch jene Mittel zu diesem Zweck. die die Illusionen sind: einschlägig unbewußte oder gar bewußte Fiktionen. Darum kann man ihnen - diesen mala intellectualia - zu Leibe rücken mit der Frage: cui bono? (cui hoc malum bono?). Dieser Befund wird modern in großem Stile zunächst durch seine Kn·tik entdeckt: die Zweckillusionen gelten anfangs vornehmlich als Auflc1ärungshemmnisse. als Hindernisse auf dem Emanzipationsweg zur Vernunft. Seit Kants Durchleuchtung von .. notwendigen" Illusionen sogar der Vernunft selber - von "transzendentalem Schein"l4 - wird der ungeheure Umfang des Aktionsfeldes dieser Zweckillusionen ahnbar; denn jedes Handeln braucht - weil es .interessien' ist und aus Gründen der Handlungsfähigkeit: der Kondition - Selbsttäuschungen. Darum geht die anfängliche Diskriminierung nur der theologischen und metaphysischen Fiktionen alsbald über in die modeme Großfahndung nach ,falschem Bewußtsein' insgesamt, in die Ideologiekritik mit ihrer Karriere des Verdachts. Und man ftndet falsches Bewußtsein - interessengelenkte Selbsttäuschungen - dann allüberall: nach Vorbereitung durch die Idolenlehre Bacons politisch-ökonomisch in den Rechtfenigungsideologien herrschender Klassen (Marx). theologisch im "Trug der Spekulation. sich aus der Existenz herauserinnern zu wollen" (Kierkegaard Z) . vitalistisch-soziologisch in den .. sekundären Rationalisierungen " gesellschaftlicher Aktionen durch .. Derivationen" (Pareto). psychologisch bei den .. Lebenslügen" (Ibsen) und der schlechten .. Wiederkehr des Verdrängten" in den Neurosen (Freud), d. h. den Versuchen. miunenschlichkeitsdeflZitäre .. Minderwenigkeitskomplexe" durch .. ftktive Leitlinien" und ihre "Verstärkung" zu "kompensie-
Kunst als Antifilction
93
ren" (A. Adler6 ). Man kann sagen: das Schicksal der Ideologiekritik war es, zu erfolgreich zu werden; schließlich kommt es zum .. totalen Ideologiebegriff"Z7; indem aber dieser beinhaltet: die gesamte menschliche HanJ/ungswirlJichkeit ist Jas Terrain der Wirksamkeit "on - interessengelenkten Fihionen, ist die Konsequenz die Subsumierung auch noch der Kritik der Zweckillusionen unter die Zweckillusionen, und dann liegt es nahe, zu meinen: falsches Bewußtsein zu hahen ist un"ermeidlich, darum muß man es nolens "olens akzeptieren; ZWIIT hesteht es - malum - aus IUusionen, aher - honum-du",h-malum - nur tiadu",h können wir handeln. Dieser repriisentati"e Sinneswandel in Bezug auf die ZweckiJIusionen ist moti"iert du",h einen hestimmten Grad der Veriinderungsheschleunigung der modernen Welt. Nicht nur der Urmensch absolvien einen Fiktionszwang etwa durch .. institutionelle Fiktionen"18; auch und gerade der Mensch der avancienen Spätkultur wird fiktionspflichtig: erst die spätmodeme Beschleunigung ihres sozialen Wandels macht die - unbewußte, bewußte oder halbbewußte - Einwilligung in die Selbstendastung des eigenen Handlungslebens durch Fiktionen - durch halbwillentlich falsches Bewußtsein - unwiderstehlich. und zwar auch und gerade im Schutz der moralischen Empörung darüber. daß dies so ist: diese selber trägt - aufgrund des Geseues der Erhaltung der Naivität - bei zum Funktionieren dieser handlungsdienlichen Eigenverblendung. In einer Welt zunehmend schnellerer Sdbstkomplizierung etablien jede •Komplexitätsreduktion • zumindest Quasifiktionen. Man könnte diese spezifisch moderne Bewußtseinslage die durchgängige tachogene Weltfremdheit nennen. Ich erläutere sie durch Hinweis auf einen exemplarischen Befund: Handlungen - insbesondere Interaktionen von erheblicher Größenordnung - brauchen stets Zeit; während sie vergeht. ändern sich unter Beschleunigungsbedingungen mit der Wirklichkeit die Orientierungsdaten. aufgrund derer man die Handlung unternahm; von einem bestimmten temporal point of no return ab verlangt die Sichträson der Handlung. die Änderung der Daten zu ignorieren: ohne diese Konstanzfiktionen brächte man keine Handlung mehr zuende. Wo alles fließt, zwingt jedes Du",hhalten einer HanJ/ungslinie zu Fiktionen. Freilich wächst gerade dadurch das Risiko ungewollter Nebenfolgen 19 ; insbesondere Großplanungen werden so zur sdfdestroying prophecy. Das aus diesem Grunde unentbehrliche Handlungsinstrument einer Dennoch-Zuflersicht liefern - spätestens seit Kant - Postulate praktischer Vernunft. Das sind heute nicht mehr in erster ünie die globalen Postulate: das Als-ob einer übermenschlich wiedereinrenkenden Allmacht (Gott) und einer trans-endlichen Geduld. ihre Erfolge abzuwarten (Unsterblichkeit); sondern zuversichtsgarantierende Postulate werden alle Konstanzpräsumptionen (wie sie sich melden durch die gegenwänig nicht zufällig inflationär gebrauchte Wendung .. ich ,ehe davon aus. daß ... ") und überhaupt alle ceteris-parihus-Klauseln.
Kunst als Antiftktion Diese bilden ihrerseits ein wachsend komplizienes Ensemble. das zu seiner Betreuung Expenen braucht; darum postulien man heute in der Regel nicht mehr PostUlate, man postulien - und bezahlt - PostUlierer: Das Orientierungsdatenproduktionsgewerbe mit seiner Superabteilung für die Fiktionskonfektion. zu der nicht nur die hochrechnenden Statistiker gehören. sondern auch die TräumproflS. Die jeweils große Mehrheit der Handlungsteilnehmer ist nicht mehr in der Lage. den Realitätsgehalt der Orientierungsdaten wirklich zu beuneilen: synchron zur zunehmenden Legierung von Realität und Fiktion verwischt sich auch der Unterschied von RealitätsWahrnehmung und Fiktionsbewußtsein; mir scheint gegenwanszentral. daß beide wachsend den Charakter des HaibbewlIßte" annehmen und dadurch tendenziell konvergieren. Darum ist es in unserem Jahrhunden so leicht. wirkliche Schrecklichkeiten zu ignorieren und von fiktiven Positivitäten überzeugt zu sein (und umgekehn): was in den Kram paßt zu glauben. und was nicht in den Kram paßt zu verdrängen; die Illusionsbereitschaft wächst. Dem arbeitet eine Wirklichkeit zu. die - seit sie exklusiv zum "Gegenstand möglicher Erfahrung" ernannt wurde (Kant) - weithin für den Einzelnen gerade aufhön. Gegenstand möglicher eige"er Erfahrung zu sein: nicht nur. weil in der wandlungs beschleunigten Welt Erfahrung schnell veraltet. sondern vor allem auch. weil die Erfahrung als wissenschaftlich anifizielle Empirie zur Sache apparativ ausgestatteter Sonderexpenen wird: man macht seine Erfahrungen nicht mehr selber. man bekommt sie gemacht. Darum beruht die Mentalgestalt unserer Welt zunehmend auf Hörensagen: sie wird zum Gerücht. das - zum Teil - die Medien verwalten. Die modeme Wir~ichlleit erh4l1 i" wlIChse"de", Maße je"e F4rbll"g flO" Halbll"wirllJich/teit, i" der Fiktio" lI"d Realit4t 1I"II"terscheitJbllr werde". Durch diesen Verlust des "Prinzips Erfahrung")O kommt es - wie Koselleck gezeigt hat'1 - modernitätspezifisch zur großen Konjunktur der "Erwartung". Diese wird versuchsweise durch Philosophien monopolisien. etwa durch die Marmmen; zwar bestreiten diese den fiktiven Charakter ihrer Erwartung des Diesseitsheils; faktisch begründen sie gerade dadurch ein Fiktionsmonopol: wenn es nicht mehr darauf ankommt. statt des falschen Bewußtseins das richtige Bewußtsein zu haben. sondern wenn es genügt. das .richtige' falsche Bewußtsein zu haben. muß - ggf. mit der Fiktion absoluter Rationalität entschieden werden. welches das ist. Die Instanz dieser Dezision - die Partei mit Nachfolgefunktionen des kirchlichen Lehramtes}l - setzt sich an die Stelle des faktischen Selbstbewußtseins des Proletariats als dessen durch organisatorisch abgesichene Fiktion - "zugerechnetes KlassenbeWUßtsein"B: wovon die Men.schheitsavantgarde vernünftigerweise überzeugt sein würde. wenn sie schon (was begtündbar derzeit faktisch unmöglich ist) vernünftigerweise überzeugt sein könnte. bestimmen die Berufsrevolutionüe. In dieser Tradtion denken heute - akademisch moderat - die
Kunst als Antiflktion Diskursphilosophen: indem sie als Teilnehmer und Teilgeber philosophischer Diskurse "konuafaktisch unterstellen" d. h. "so tun, als sei die ideale Sprechsituation (oder das Modell reinen kommunikativen Handelns ) nicht bloß fiktiv, sondern wirklich"~, bestimmen sie, wovon die Menschheit vernünftigerweise überzeugt sein würde, wenn sie schon (was begründbar derzeit faktisch unmöglich ist) vernünftigerweise überzeugt sein könnte; sie entwickeln - sozusagen - das zugerechnete Menschheitsbewußtsein als Fiktion mit Nichtftktivitätsftktion. Just durch diese ftktionalistische Wende zur Universalpragmatik bleibt Habermas ein treuer Schüler Adornos; dieser schrieb - zu einem Zeitpunkt der Frankfuner Schule, als Habermas noch nicht ahnte, daß er zu ihr einmal gehören würde - zusammen mit Horkheimer von einem "eingebildeten Zeugen"}' d. h. fiktiven Notar der Philosophie, von der es im letzten Stück der Mi"i"", Mormitl" heißt: "Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantwonen ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten ... Aber es ist ... das ganz Unmögliche ... Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß (der philosophische Gedanke) noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Fordetung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig." Es genügt, so zu philosophieren, als ob sie wirklich wäre: der Zweck - die Erlösung - kann bewahn werden nur noch als Fiktion, die philosophisch gerechtfertigt ist einzig noch als das Mittel, auf dem Weg zu ihm zu sein: die Ko"ju,,~tur der Zwec~i//usio"e" ~ulmi"iert i" der IUusio"ienmg - Jer Filelionlllwrtl"g - soglJ1' "och des ZwecM.. auch sie verwandelt die modeme Wirklichkeit - approximativ zur Fiktur. Diese heiden Hinweise (a, b) sollten einige - nur einige - Belege beibringen für die These: die moJeme Wir~ich~eit "imml - ms spille Replik IIU/ die eschlllologische Wellvemichlu"g - Je" Weg i"s lülive. Seil Leibniz die Obel IIusdriJc~ich zu positivem Die"sle zuließ u"d dies - i" Jer Folge zu"ehme"d explizit - IIuch fiJr die g"oseologische" Obel, das Fi~live, i" A"sprtlch ge"omme" wurde, sowie mit wIIChse"der Ver4"Jertl"gsgeschwi"digkeil Jer moJeme" Welt sleigl Jer FiJ:1io"sgehmt Jer moJeme" Remil4l, möglicherweise expo"e"tieU. Die Menschen leben immer mehr aufgrund von AIs-obs. "Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen": fast signifikanter noch, als daß Fontane dies schrieb, ist, daß Freud es zustimmend zitiene. J7 Es ist also - Comte zum Trotz - nicht so, daß modem erstmals in voUem Umfang der Wirklichkeitssinn auf den Plan tritt; ganz im Gegenteil: Relllil4lsp,;"zip u"d Irremit41spri"zip (Fiklionspri"zip) fusio"iere" .. das "euzeitlich ,positifle SI""ium ' , ;;berwi"Jet' "ichl, es, wird' das ,fi~/i"e ': die spillmodeme Wirklichkeil wird - u"d ZWIJ1' zu"ehme"d u"d zu"ehme"d IIuch wiIIe"tlich - zur Fiklur. Darin steckt, was hier nicht weiter erönen
96
Kunst als Antifiktion
werden kann: die Fiktionalisierung. die mit dem Als-ob gegen die eschatologische Weltvernichtung antrat. akkomodien sich dieser und ihrem ..w~ 1'7)" : Welterdichtung und Weltvernichtung werden ihrerseits ununterscheidbar. So mag füglich bezweifelt werden. daß die Expansion der Fiktionen zur Rettung des Diesseits genügt: vielleicht ist sie nur die indirekte und kompliziene Form. der eschatologischen Weltvemichtung zuzuarbeiten und mit der Welt auch noch die Neuzeit in ihr Ende zu stürzen. Zugleich aber und vor allem bedeutet es: das Fiktive und das Wirkliche werden der Tendenz nach konvertibel; ens et fictum convenuntur. DIIJ Fiktifle zu sein wird zum entscheidenden Definiens der RelllitiJt. 4. (Kunst als Antifiktion). - WIIS bedeutet das fiJr die Kunst? Auf diese Frage wollte diese Überlegung hinaus. Denn zufllkhst - scheint es - wllr das Fiktifle doch die DomiJne der Kunst, und zwar floUends dort, wo - im 18.}IIhrhunderl - das Ästhetische entstllnd. Wenn Gott - eschatologisch - die Welt vernichtet. muß man sie. um sie zu behalten. erfmden: und wenn die Erfindungen der Wissenschaften und der technischen und politischen Praxis dafür nicht ausreichen. übernimmt den - beträchtlichen Rest des Erfindungspensums die Kunst: so wird sie zur ästhetischen Kunst; sie wird l8 aus Nachahmung der Realität zur Überbietung der Realität: zur originellen Schöpfung. zur genialischen IUusion. zum Fiktiven. Ich lasse: hier die Detailcharakteristik dieser Genesis des Ästhetischen auch was ihren philosophischen Weg betrifft: von Baumganens Aesthetiu (1750) über Kants Kritik der UrleiJskrilft (1790) und Schillers Briefe Über die 4sthetische Eniehung des Menschen (1795) bis zum sechsten Hauptabschnitt von Schellings System des ""nszendentllien Idelliismus (1800) und seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst (1802 - 05) - beiseite; ich lasse: hier auch beiseite. daß - wenn es noch traditionell zu den mala metaphysica gehön. daß der Mensch ein Sinnenwesen ist - diese Aufwertung der Aisthesis durch die Genesis des Ästhetischen ihrerseits wiederum die theodizecmäßige Entübelung der Übel voraussetzt und insofern die Konjunktur eines Theodizecmotivs nach dem Ende des •Optimismus' zu sein scheint; ich betone hier vielmehr nur dieses: in dieser - ästhetischen Bestimmung der Kunst als genialer Wirklichkeitsüberbietung durch Fiktion ist die Kunst nur die Radikalisierung dessen. was auch die Wirklichkeit schon ist; denn diese ist ebenfalls Wirklichkeitsüberbietung mittels Fiktion. Die Kunst ist zwar nicht mehr .. Nachahmung der Realität" (denn auch die Wirklichkeit ist nicht mehr Nachahmung - gewollte Tradition - und auch nicht mehr Realität). sondern die Kunst ist wirklich Fiktion. aber auch die Wirklichkeit ist - wenn die bisherigen Überlegungen plausibel waren Fiktion: die Filltur, die die - iJsthelische - KIlnst ist, ist nur die eminente Form der Piktur, die die - modeme - Relllil4l isl. Daraus folgt mancherlei
Kunst als Anuftkuon
97
-wie mir scheint - Wichtiges, insbesondere aber zwei Tatbestände. Der ersle Tatbestand ist, daß die iJslhelische KlInsI ihre Eülionalilillsdefinition repriJsenlfJti" dllrch RetJIilillskon/ormismlls ZII erfüllen IrfJChlen ktJnn: als Gegen besetzung gegen die Furcht vor der Unverbindlichkeit (nw das Ästhetische zu sein); aber das geht nur und ist konsequent genau dann, wenn die Realität selber ist, was auch die Kunst ist: Fiktur. Dann entwickelt sich jene ästhetische Programmatik, die die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit zu tilgen sich bemüht: die des Gesamtkunstwerks, das so ,gesamt' sein will, daß die ganze oder wenigstens die wichtigste Wirklichkeit zu ihm gehön: es gibt diese Programmatik'? spätestens seit Schellings Identitätssystem, das die ganze Wirklichkeit zum Kunstwerk erklän; erst wo dieser Versuch scheiten. zerfällt das gesamtkunstwerkliche Programm in zwei reduzienere: in das Bündnis der Kunst mit dem Kult bei Richard Wagner und das Bündnis der Kunst mit der politisienen Straße im Surrealismus; es muß dahingestellt bleiben, wieweit dieses Programm im Anfangsumfang wie.;lerhergestellt wird durch jene Theorien, die "die Welt als Vorstellung" (Schopenhauer) defmieren, als performance, in der alle Menschen "Rollen" zu spielen haben (G. H. Mead). Jedenfalls suchen die ästhetischen Künstler auch sonst den Konformismus der Kunst mit der Realität, zum Beispiel durch Überstieg in politische Programmatik, so daß sie enden, wie eben ästhetische Künstler enden: als Engagiene . Der zweile - damit eng zusammenhän~nde Tatbestand ist, daß die ilslhehJchen Bestimmllngen der Kllnsl - orienliert
fJm Begriff des Fikliven - die KlInsI zlInehmendllnspezijisch bestimmen lind sie dtJtIllrch - gegenüber der RetJIilill - prinzipiell ersetz/ich mtJChen. Diejenigen Defmitionen, die innerhalb der nur kurzen Geschichte der ästhetischen Defmition der Kunst erfolgreich werden, sind im wachsenden Maße nicht nur Bestimmungen der Kunst, sondern stets auch Bestimmungen nichtkünstlerischer Realität; und das ist kein definitorischer Lapsus der philosophischen Ästhetik, vielmehr: es kommt der ästhetischen Kunst - im Zeichen des Fiktiven - gerade darauf an, nicht spezifisch, sondern unspezifisch defmien zu werden, um sich unspeziflSCh benehmen zu können. Die berühmten Definitionsformeln der philosophischen Ästhetik - ,Zweckmäßigkeit ohne Zweck', ,Freiheit in der Erscheinung', ,Identität des Bewußten und Bewußtlosen im Ich und Bewußtsein dieser Identität', ,Wiederkehr des Verdrängten' , ,promesse du bonheur' , ,Vorschein' , ,das Nichtidentische • sind allesamt Bestimmungen, die gerade nicht exklusiv das Kunstwerk definieren, sondern stets auch lesbar sind als Realitätsformeln: als Charakteristik moderner realgeschichtlich-politischer Tendenzen und Institutionen. Das ist besonders deutlich bei Fichtes berühmter Bestimmung der" "schönen Kunst" im § 31 seines Syslem der Sillenlehre: "sie macht den trarlSCendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen" .40 Das debütiene als Bestimmung der Kunst und leuchtet gegenwänig ein als Pensumsdefinition des ,herrschafts-
98
Kunst als Antiftktion
freien Diskurses' (dessen Fiktionsgehalt schon erönen wurde); denn dieser scheint gerade jenes Pensum zu haben, das nach Fichte auch Schelling der schönen Kunst zusprach: nämlich daß ihr "das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann" .4\ Der Diskurs: er macht den uanszendentalen Gesichtspunkt zu dem konsensualen, zu dem allen "gemeinen". Auch hier exemplarisch - ist die Definition von Kunst zugleich die Defmition von Nichtkunst: auch sie begünstigt die "prinzipielle Konvenibilität von Kunst und Nichtlrunst"42, die für die ästhetische Kunst charakteristisch scheint; auch sie defmien - exemplarisch - die Kunst in ihre prinzipielle Ersetzlichkeit und Entbehrlichkeit hinein und in diesem Sinn in ihr Ende. Was folgt daraus? Wohl dieses: wenn - wo die Wir~ichReit modem zur FiRturwird - die Kunst durch ihre Fiktionaldefinition, die sie verwechselbar mIlCht und auswechselbar mit der modemen Wirklichkeit, aufhört, das Unersetzliche zu sein, und in diesem Sinne zuende ist, muß die Kunst diese Fiktionaldefinition preisgeben, um riaJ Unersetzliche zu bleiben. Sie tritt dann sozusagen das Attribut, das Fiktive zu sein, an die Realität ab und geht zugleich auf die Suche nach einer neuen Definition. Die Konsequenz ist also - formal angezeigt - diese: die Kunst bleibt - unter Bedi"gungen des modemen Wegs der WirlJichkeit ins Fiktive - unbeendet d. h. u"ersetzlich nur dann, wenn sie sich ,gegen' das Fiktive definiert: als Antifihton, was immer das des näheren bedeutet. Es kann bedeuten: die Ku"st - als Antifiktion - wird modem und gegenw4rlig die Zuflucht der Theorill, also dessen, was an der Theorie nicht bloße - ggf. fiktionsgeleitete - Sichtdisziplin ist. sondern wirkliche Erfahrung. Vielleicht darf man sagen: in dem Maße, in dem die Wirklichkeit weg von der ,Erfahrung' hin zur ,Erwanung' tendien. bewegt sich - gegenläufig: kompensatorisch - das Ästhetische weg von der ,Erwanung' hin zur ,Erfahrung'; das ist - wenn ich es richtig sehe - jene Kunstumdefmitionsbewegung, die gegenwänig insbesondere Hans Roben Jauß vollzogen hat und vollzieht und bestätigt.43 Dabei tendien, meine ich, die Kunst zur Kontemplation. Jedes Kunstwerk läßt offizielle (ggf. fiktionsgeleitete ) Sichträson kapitulieren durch das Sehen des bisher Nichtgesehenen und die Anerkennung: so ist es. 44 Dadurch - als Theorie, als Erfahrung - bringt die Kunst (kompensatorisch) zur Sprache, was selbst in der extrem zur Fiktur gcwordenen Gegenwanswirklichkeit non-ftction-rcality bleibt: das ist mancherlei, und - gerade wenn die modeme Welt zu handeln und zu denken versucht ,quasi mors non daretur' jedenfalls ist es der Tod: ich sterbe, also bin und war ich wirklich und habe mich nicht nur erfunden oder erfinden lassen (etwa als Requisit der Utopie). Das - und anderes - entdeckt als Fonsetzung der Theoria unter Verwendung eines modemen Mittels gerade die autonome Kunst. Ku"st ist dann als Antifiktion, als Zuflucht der TheoriIJ - die Entt4uschung des nur
Kunst als Antiftktion
99
Fihi"en durch dIIS Sehe" des Übersehe"e" mit jener prekären Glücksmöglichkeit • die jetzt von der Theoria an die Kunst übergeht: dieser Glücksenrag besteht in der Erleichterung. die aus der Ersparung von Selbstbonierungsaufwand resultien. All das - avisien durch den unbestimmten Ausdruck .Antiflktion· - müßte genauer recherchien und ausgefühn werden. Aber das unterbleibt hier; denn hier sollte eine Frage ja nur gesteUt werden. Diese Frage trat hier in der Maske der Antwon auf durch die These: die Ku"st wird - wo die WirlJichlleit selber zum Ensemble des Fillti"en sich wandelt - ihrerseits zur Antifilltion; und die Frage in dieser These ist: verhält sich das so? Es lockt. diese Reizthese zu venreten. und zwar - als diskussionsdienliche Hilfskontruktion - gerade don. wo die Poetikohermeneuten unter dem Stichwon des Fiktiven zu einer Erönerung vornehmlich der Kunst ansetzen: don nämlich wird es nachgerade unwiderstehlich. querzudenken durch die unwahrscheinlichste und riskanteste aller möglichen ftktionsbezüglichen Thesen: es sei das Fiktive gar nicht das Attribut der Kunst. sondern das Attribut der (modemen) Wirklichkeit; dies auf die Gefahr hin. daß das allzu phantastisch klingt. allzuschr nach Fiktion. Aber vielleicht ist - uotz allem - das hier versuchte Stück fiction-science nur quasi unum fictitium. quasi una fantasia.
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem Überlegungen im Anschluß an Hegels Schellingkritik
Dies alles gibt es also: die Gesamtausgabei • den Gesamtbetriebsrat. den Gesamtdrehimpuls. die Gesamthandsgemeinschaft. die Gesamthochschule. den Gesamtkatalog. die Gesamtschuld. die Gesamtschule. die Gesamtstrafe. die Gesa.mtstreitkräfte. den Gesamtverband und etliches Einschlägige mehr; und als echte Teilmenge dieses Gcsamtgesamts gibt es das Gesamtkunstwerk: was ist das? Eine Definition ist schwierig: Kriterien aber - im Sinne .. besonderer Kennzeichen" seines Steckbriefs - kann man angeben. Dabei scheint es nützlich. als besonderes Kennzeichen des Gesamtkunstwerks nicht allein die multimediale Verbindung aller Künste in einem einzigen Kunstwerk gelten zu lassen. sondern vor allem auch noch eine andere Verbindung: die von Kunst und Wirklichkeit; denn zum Gesamtkunstwerk gehön die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität. Im übrigen hat - wenn ich es richtig sehe - die Karriere des Gesamtkunstwerks mindestens drei historische Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung ist. daß - durch Trennung vom "mechanischen" Anefakt - das Kunstwerk emphatisch und ästhetisch wird: das ist ein moderner. cin Vorgang des ästhetischen Zeitalters. Man kann - für jenc Gegenden. in denen seit 1750 die philosophische Ästhetik erfunden wurde - diesc ästhetischc Emphatisierung des Kunstwerks (unter anderem) verstehen als Rettung der Wcrkgerechtigkeit unter Bedingungen des Protestantismus: seit durch das .. sola gratia" und .. sola fade" der Reformatoren die Heilsrelevanz der .. guten Wcrke" in Zweifel gezogen war. mußten die gutcn Werke aus dem religiösen Territorium in das ästhetischc Territorium emigrieren. um Heilsrelevanz zu behalten. Dabei wurden dic guten Werke alsbald ihrerseits gratial interpretien als Werke des durch die .. Naturgnadc" des .. Genies" .. begnadeten Künstlers" mit dem Pensum menschlicher Selbsterlösung durch Kunst - nun zu schönen Werken. eben zu Kunstwerken: zu guten Werken der schönen Künste und schließlich auch - in dcr weiteren Entwicklung - der .. nicht mehr schönen Künste": der erhabencn, sentimentalischen. interessanten. romantischen, dionysischen. avantgardistischen Kunst und Antikunst. Die zweite Voraussetzung ist. daß ein neuer Begriff des Gesamten Karriere macht. Er wird - etwa gleichzeitig mit der ästhetischen Ernphatisierung des
GesamtkunstWerk und Identitätssystem
101
Kunstwerks, vor allem jedoch im 18.Jahrhunden - philosophisch don erforderlich und zentral, wo der Begriff Gottes und seiner Schöpfung als Begriff für das Gesamte in Zweifel gerät, wo aber zugleich an den Menschen als realen Gesamtschöpfer seiner Gesamtwirklichkeit - als Gesamtbeherrscher der Natur, als Gesamttäter der Geschichte - wegen berechtigter Zweifel an seiner Allmacht nicht wirklich geglaubt wird. Don mußte ein Begriff fürs Gesamte herbei, den diese Unentschiedenheit - Gott oder Mensch - nicht stöne, weil er gegenüber beiden Gesamtsichten und Gesamttäterkonzeptionen neutral blieb: das war - als ein neuer Begriff des Gesamten - der Begriff des "Systems", der nun - vor allem in der Philosophie des deutschen Idealismus - seine große Erfolgszeit hatte. Die dritte Voraussetzung ist, daß die erste und die zweite Voraussetzung fusionieren: daß das System zum Kunstwerk und das Kunstwerk zum System wird. Das lag nahe. Wo die Realschöpfer - Gott und Mensch - mit dem Gesamtsystem Schwierigkeiten haben (und das Regiment des Systembegriffs ist ja eben das Indiz dafür, daß sie Schwierigkeiten haben), treten die phantastischen Schöpfer auf den Plan: die Künstler; sie springen dann ein als Gesamtleute für das Gesamte, so daß das Gesamte - das System - nun ästhetisch als Kunstwerk definien wird und, schließlich, dann - in der Folge - auch konkret nach jenem Kunstwerk gesucht wird, das das Gesamte ist. Das geschah zuerst bei Schelling, der erkläne: "der eigemliche Sinn, mit dem diese" - seine - "An der Philosophie aufgefaßt werden muß, ist also der ästhetische, und eben darum die ... Kunst das wahre Organon der Philosophie" (III 351). Das ist der Ursprungsaugenblick der Idee des GesamlRunslwerh. Darum meine ich, so riskant dies sein und so abenteuerlich es klingen mag: die Idee des Gesamtkunstwerks beginnt mit dem "ästhetischsten" System des deutschen Idealismus, dem "Identitätssystem" (IV 113; X 107) von Schelling; und die Kritik an der Idee des Gesamtkunstwerks beginnt mit Hegels Kritik an Schellings Identitätssystem. Nicht bestritten ist damit: durchgesetzt hat das Konzept das Gesamtkunstwerks Wagner mit seinen Musikdramen. auch wenn er seinerseits das Won "Gesamtkunstwerk" eher beiläufig gebraucht (111 12,29,159) und niemals programmatisch. Aber: "erinnern wir uns" - schreibt Nietzsche im Ft:J/ Wagner - , "daß Wagner in der Zeit, wo Hegel und Schelling die Geister verfühnen, jung war" (11 924): in dieser Zeit eben fmg - postabsolutistisch , nach barock - an, was dann seit Mitte des 19. Jahrhundens zur ästhetischen Konkretion drängte: die Idee des Gesamtkunstwerks. Mein - als These gemeinter - Vorschlag besteht also darin: Hegels SchelJingkcitik zu lesen als die erste Kritik der Idee des Gesamtkunstwerks, und also SchelJings Identitätsystem - das von Hegel kcitisiene - einzurücken in die Geschichte der Idee des Gesamtkunstwerks. Ich versuche das hier in folgenden fünf Abschnitten: I. Ein Text und eine Frage; 2. Endlichkeit der Emanzipation;
102
GesamtkunstWerk und Identitätssystem
3. Ermächtigung der Illusion; 4. Fusionen, Diffusionen, Konfusionen; 5. Prekäre Kompensationen. 1. (Ein Text und eine Frage). - Heutzutage sind "System" und "Identität" zu philosophischen Imponiervokabeln geworden: erfolgreich, unausweichlich, jede von beiden sozusagen ein transzendentaler Hit. Aber wenn man sie hön, gibt es Augenblicke des Unbehagens. Auch darum ist es gut, ein Mitglied der philosophischen Branche, das von Identität und System etwas verstand, nämlich HegeI, erneut nach seinen Bedenken zu fragen gegen jene Philosophie von Schelling, die - zwischen 1800 und 1805 - Identität und System verband zum Identitätssystem. Der Text, auf den ich mich dabei beziehe, ist allgemein bekannt: er ist berühmt, berüchtigt und von Hegel; er steht in der Vorrede seiner PhlJnomenQ/ogie des Geisles(1807; vgl. III 11-67). Ich rufe diesen Text - zitatenhaltig, kurz, verkürzend - in Erinnerung: Hegel streitet don im Namen der "Anstrengung" und "Arbeit des Begriffs" (56, 65) gegen jenes "Philosophieren, das sich zu gut für den Begriff und durch dessen Mangel für ein anschauendes .. , Denken hält" (64): für "intellektuelles Anschauen" (vgl. 23) der "absoluten Identität" (51) ... Irgendein Dasein" - schreibt Hegel - "wie es im Absoluten ist, betrachten, besteht hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird, es sei zwar jetzt von ihm gesprochen worden als von einem Etwas; im Absoluten, dem A = A, jedoch gebe es dergleichen gar nicht, sondern darin sei alles eins" (22). Auch die identitätssystematische "Konstruktion" (49) des Verschiedenen - meint Hegel mißachte die Verschiedenheit des Verschiedenen: durch "Unmethode ... der Begeisterung" (48) plus "naturphilosophischen Formalismus" (49) bringe sie "die wissenschaftliche Organisation zur Tabelle herab" (48), "zum leblosen Schema, zu einem eigentlichen Schemen" (ebd.). Es "mag" - schreibt Hegel - "hierüber die Unerfahrenheit in ein bewunderndes Staunen geraten" und "darin eine tiefe Genialität verehren" (50); doch sagt er - .. der Pftff einer solchen Weisheit ist so bald erlernt, als es leicht ist, ihn auszuüben ... Das Instrument dieses gleichtönigen Formalismus ist nicht schwerer zu handhaben als die Palette eines Malers, auf der sich nur zwei Farben befmden würden, etwa Rot und Grün, um mit jener eine Fläche anzufärben, wenn ein historisches Stück, mit dieser, wenn eine Landschaft verlangt wäre" (50): aber sogar dieser Unterschied einer roten Geschichte und grünen Natur - meint Hegel - soll identitätssystematisch sub specie absoluti nicht gelten, so .. daß" - sagt er - "sich diese Manier zugleich zur einfarbigen absoluten Malerei vollendet, indem sie ... , der Unterschiede des Schemas sich schämend, sie als der Reflexion angehörig in der Leerheit des Absoluten versenkt, auf daß die reine Identität, das formlose Weiße hergestellt werde" (51), jenes absolut Weiße, das als das Weiße so absolut ist, daß
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem
103
es absolut ununterscheidbar wird vom Schwarzen: darum ist in diesem Identitätsgedanken - schreibt Heget und diese Formulierung ist berühmt - "sein Absolutes ... die Nacht, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind" (22): dadurch aber ist es - sagt er - "die Naivität der Leere an Erkenntnis" (ebd.). Mit all diesem meint, trotz allem, was einschränkend gesagt werden kann und muß, Hegel - ohne don den Namen zu nennen Schelling und sein Identitätssystem. Auch ich war lange der Meinung, hier sei Hegel ungerecht gewesen gegen seinen jüngeren Freund. Aber man muß Hegels Einsprüche - auch den gegen das Identitätssystem - immer ernstnehmen. Aufgrund dieser Maxime ergibt sich hier die Frage der weiteren Überlegung: wo lag - wenn man doch Schelling veneidigen könnte durch den schlichten Hinweis, daß da im Identitätssystem trotz allem viel natürliche und geschichtliche Wirklichkeit begriffen und viel Unterschied beachtet ist - wo also lag der eigentliche Grund für Hegels Bedenken? Oder anders gefragt: was war Schellings Identitätssystem, so daß Hegel es bedenklich finden konnte und mußte? 2. (Endlichkeit der Emanzipation). Diese Frage - was ist es? - fragt nach seiner Identität: der Identitätssystem-Identität. Auch diese ist - wie Identitäten sonst - defmierbar durch eine Geschichte, die hier als kurze Geschichte erzählt weld~n muß. als philosophische Kurzgeschichte. Ich beginne sie - indem ich zunächst die Frage erzähle, auf die das Identitätssystern die Antwon ist - bei Kant, denn Schellings Identitätssystem war die Replik auf Fichtes Wissenschaftslehre, Fichtes Wissenschaftslehre war die Replik auf Kants Transzendentalphilosophie . Kants Transzendentalphilosophie aber - was immer sie sonst noch war und tat - unterschied nachdruckliehst den Menschen von Gott, das endliche Wissen vom absoluten Wissen: diese Bescheidenheit - durch die das endliche WissenschaftsWissen unbeschränkte Neugierlizenzen erhielt, weil es aufhöne, häresiefähig, d. h. an theologisch absoluten Relevanzgesichtspunkten meßbar zu sein - machte Kants Philosophie zur eigentlichen Philosophie der Neuzeit. Fichtes Wissenschaftslehre war das Ende dieser Bescheidenheit und insofern - vielleicht kann man das sagen - der Anfang der Gegenneuzeit: wenn der Mensch - so überlegte Fichte - nicht absolut weiß, dann weiß er auch nicht absolut, was er tut und was er tut, wenn er weiß; das aber - meinte Fichte - darf nicht sein: darum muß der Mensch - durch intellektuelle Anschauung - absolut wissen. Aber kann er das? Er kann, denn er soll; im GegenwartSjargon: er ist komrafaktisch kompetent; alles andere ist eine kantianisch faule, eine positivistisch halbierende Ausrede: sobald nur das Menschen-Ich absolut tut, tut es schon absolut, als ob es absolut weiß, und dies reicht; denn - das meint Fichtes Wissenschaftslehre - dadurch bringt es die Wirklichkeit schlechthin zur Emanzipationsräson, indem es sie verpflichtet, unbedingt - d. h. zu
104
GesamtkunstWerk und Identititssystem
Bedingungen des Ich - solidarisch zu sein mit dem Ich. Alles soU für das Ich d. h. nichts soll gegen das Ich sein und darum vorsichtshalber auch nichts ohne das Ich. Das wird garantien, indem alles durch das Ich ist, sozusagen aufgrund kontrafa.ktischer Kreationskompetenz des Ich - durch Egofaktur. Dabei muß in einem ständigen Prozeß der Solidaritätskonuollen sichergestellt werden, daß das, was durch das Ich ist, auch hinlänglich unbedingt für das Ich ist. Diesem Prozeß hält nichts stand: alles wird in ihm schließlich zum Angeklagten und moralisch Veruneilten, nur das Ich selber ist dabei immer schon eins weiter, nämlich Ankläger und moralischer Richter, und dadurch ist das Ich (und sind seine Parteigänger) stets absolut vom; das Ich macht also seinen Weg, indem es beständig aus dem Status des Diskriminienen in den Status des Diskriminierers überläuft: dieses Überlaufen - eine Flucht nach vom, die später Dialektik heißt - ist die Geschichte: die "pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes", wie Fichte sie nennt (I 222), die Emanzipationsgeschichte der Autonomie des menschlichen Ich. Der junge Schelling - der, wie er sagte, "damals nur Fichtes System erklären" wollte (X 96) durch "Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre " (I 343 ff. ) - hat dies alles mitgemacht und beforden: die transzendentale Karriere der Emanzipationsgcschichte des Ich, der "Geschichte des Selbst bewußtseins " , wie er sie nennt (I 382, III 398f.). Jedoch - und hier weist man gewiß mit Recht auf die Wirkung des Schicksals der französischen Revolution hin, als deren Parallelaktion auch Schelling (etwa in seiner Rede zum Tode Kants: IV 4 f.) die deutsche Autonomiephilosophie verstand - Schelling hat in den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg dieser Philosophie der Emanzipationsgeschichte alsbald eingebracht die Formulierung einer Enttäuschungserfahrung: dieser Geschichte fehlt die Allmacht, sie stößt an Grenzen; das sich setzende Ich muß sich entsetzen; es wird "depotenzien" (IV 85): das ist der 1801 zum bloßen Methodenbegriff verharmloste Ausdruck Schellings für diese Enttäuschung der emanzipatorischen Naherwartung; die Emanzipation - darauf läuft diese Erfahrung hinaus - die Emanzipation ist endlich. Schelling hat innerhalb des TranszendentaJsystems von 1800 im fünften Hauptabschnitt, außerhalb desselben in den naturphilosophischen Schriften seit 1797 diese Grenze, dieses Ende der emanzipatorischen Egofaktur benannt: er nannte es die "Natur". Dies - nota bene - unterscheidet Schelling von Hegel, bei dem nicht mehr die Nichtgeschichte Narur, sondern die Geschichte selber als Grenze dieser Emanzipationsgeschichte erkannt wird: die Herkunftsgeschichte als Grenze der Zulrunftsgeschichte. Für Schelling aber kommt es aus dieser Ohnmachtserfahrung der "Geschichte des Selbstbewußtseins" angesichts ihrer von Schelling benannten Grenze - der Natur zur Frage: wie kann die Emanzipationsgeschichte mit ihrer Endlichkeit leben?
Gesamtkunstwerk und Identititssystem
3. (Ermächtigung der Illusion). - Das Identitätssystem ist die Antwon auf diese Frage: und es antwonet - grundsätzlich - folgendermaßen: die Emanzipationsgeschichte muß ihre Endlichkeit vergessen. Vergessen werden muß, daß die Geschichte anders ist als die Natur; vergessen werden muß, daß die Natur die Geschichte limitien. Als das System dieses in der Maske der Anamnesis auftretenden Vergessens ist das Identitätssystem der schnelle Marsch in die Illusionen. Darum hat Schelling folgerichtig - wie es im sechsten Hauptabschnitt seines Systems des Iranszendentlllen ldelllirmus schon vorbereitet war und etwa in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802 ausgefühn ist - mit diesem Vergessen jenes Organ betraut, das für Illusionen zuständig ist: die Kunst; genauer: die "intellektuelle Anschauung", die zur "ästhetischen" und dadurch zur "absoluten" wird (vgl. IV 339ff.); denn jetzt - identitätssystematisch im Zeichen des Vergessens und der Illusion - kommt es darauf an, die Gesamtwirklichkeit ästhetisch anzuschauen: nicht mehr nur in Kunstwerken, sondern IIIs Kunstwerk (vgl. V 368). Zweifellos waren - gemessen an Schelling - diejenigen bloße Stückwerkästheten, die bei einer Triennale in Mailand don eingesetzte Polizisten zu Kunstwerken erklärten; denn Schelling erklärte die ganze Wirklichkeit zum Kunstwerk: zum gesamtesten aller möglichen Gesamtkunstwerke. Das Identitätssystem ist eine Ästhetik der Gesamtwirklichkeit; und diese soll darum dann auch ästhetisch parieren und sich wie ein Kunstwerk benehmen: "das Verhältnis" - schreibt Schelling - "der einzelnen Teile in dem geschlossenen und organischen Ganzen ... ist wie das der verschiedenen Gestalten in einem vollkommen konstruienen poetischen Werk" (V 107). Das bedeutet unter anderem, daß Natur und Geschichte nicht mehr als prozeßformbezogen additive ParaJJelaktionen gedacht werden, sondern als integriene Gesamtwirklichkeit: zwischen ihren "Potenzen" und Unterpotenzen - die durch ihre "Stelle" im System definien werden (vgl. V 373); das Identitätssystem ist Stellenwenphilosophie - werden die Barrieren scheinbar absoluter Unterschiede abgebaut, und jeder Abbau erzeugt neue spekulative pfründen für Identitätsagenten. Was das menschliche Ich betrifft, so erspan ihm das Identitätssystem kunstVoll, das Absolute zu sein, ohne zunächst - vor der Lehre vom "Abfall" (1804: VI 38) - mit seinem Unterschied zum Absoluten ernstzumachen: dadurch wurde es, was in diesem System - absolut betrachtet - ohnehin alles ist: die Indifferenz. Auch sonst wurde - durch ästhetische Gleichschaltung - alles identisch: Allgemeines und Besonderes, Gleichheit und Unterschied, Harmonie und Konflikt, Egalität und Profil. Konformismus und Kritik, und so fon. Ich habe hier nicht zu prüfen, wie sehr - oder gar ab wann - Platon und die Seinen dabei zu tauglichen oder gar willigen Helfershelfern wurden. Denn mir kommt es hier wesentlich darauf an, zu betonen, daß das Identitätssy-
106
Gesamtkunstwerk und Idmtititssystem
stern in die Geschichte der Idee des Gesamtkunstwerks gehön: eben weil es die Wirklichkeit stricte dictu zum Gesamtkunstwerk erklärt. Was ist Schellings Identitätssystem, so daß Hegel es bedenklich finden mußte? Meine vorläufige Antwon ist also: das IdentitätsSystem war - in der so nur angedeuteten Weise - die Ermächtigung der Illusion, und zwar in einer Weise, die es einrückt in die Geschichte der Idee des Gesamtkunstwerks. Die identitätssystematische Ausführung dieser Idee mißlang bei Schdling. Darum zog sie sich alsbald auf eine separiener ästhetische Wirklichkeit zurück. Schelling selber hat diese Möglichkeit auf den Schlußseiten der Schlußphilosophie seines Identitätssystems - der zwischen 1802 und 1805 zweimal gehaltenen Vorlesungen über Philosophie der Kunst - bereits erwogen (V 735 f.): nach dem Zusammenbruch der identitätssystematischen Deutung der Gesamtwirklichkeit als Kunstwerk beginnt - zum Ersatz die Suche nach jenem konkreten Kunstwerk, das das Gesamte ist zumindest dadurch, daß es - wenn schon nicht die Wirklichkeit - alle Künste (sie potenzierend oder destruierend) integrien und dadurch das Kunstwerk wirklicher machen will. Schelling schreibt: "Ich bemerke nur noch, daß die vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz, selbst wieder synthetisien die komponieneste Theatererscheinung ist, dergleichen das Drama des Altenums war, wovon uns nur eine Karikatur, die Oper, geblieben ist, die in höherem und edlerem Stil von Seiten der Poesie sowohl als der übrigen konkurrierenden Künste uns am ehesten zur Aufführung des alten mit Musik und Gesang verbundenen Dramas zurückführen könnte" (V 736): man kann das als die Ankündigung von Wagner lesen. Just don also. wo das Identitätssystem - das die gesamte Wirklichkeit zum Kunstwerk erkläne - an sein Ende kommt und zerbricht. provozien dies - mit degischem Enthusiasmus für die Verbindung zwischen Kunst und "öffentlichen Leben" nebst "Gottesdienst" (ebd.) sowie durch kritische Bezugnahme auf die "Oper" - bereits bei Schelling die Suche nach jenem Kunstwerk. das alle Künste in einem Kunstwerk vereinigt und gerade dadurch die Trennung von Kunst und Wirklichkeit mildert: die Suche r,ach dem Gesamtkunstwerk. 4. (Fusionen, Diffusionen, Konfusionen). - Die Ermächtigung der Illusion wird also jetzt gewissermaßen umgedreht: nicht mehr die Wirklichkeit selber ist das Kunstwerk. sondern das Kunstwerk seinerseits will die Wirklichkeit werden. Dazu nimmt es die Kraft aller Einzelkünste - hilfsweise die Kraft der Zerstörung aller Einzdkünste - zusammen. In diesem Sinne hatte das Gesamtkunstwerk - das gewissermaßen das in ein besonderes Kunstwerk emigiriene Identitätssystem ist - mehrere Ausprägungen. Nicht ihre Histo-
GesamtkunstWerk und Identitätssystem
107
riographie, sondern allenfalls ihre Typologie ist hier beabsichtigt. Es scheint - mindestens - folgende vier GesamtkunstWerksonen zu geben. - Da ist: a) das direkle posi/ifle GesQmlku"slwerk: es ist jenes, das alle Einzelkünste in einem KunstWerk flerbi"del, um dadurch die Dignität der Wirklichkeit zu gewinnen. Das war jenes Gesamtkunstwerk, das Richard Wagner suchte. Gemessen am Identitätssystem war es eine Einschränkung und überdies einseitig: ein theatralisches Bündnis der Kunst mit dem Kult. Es begann um 1848 - mit der Revolution, die zur Revolution der Kunst wurde schließlich im Zeichen Schopenhauers: "Wagners Pessimismus" - meint Adorno (XIII 134) - "ist die Haltung des übergelaufenen Rebellen". Erneut sucht die revolutionäre Naherwanung nach ihrer Enttäuschung Trost im Gesamtkunstwerk. Don soll zumindest der "Egoismus" der Künste durch ihren "Kommunismus" besiegt werden (Wagner, Die Kunslu"d die Reflolulio" 1849: 11 'j) im Ku"slwerk der Zuktmft (1850: 111 42 ff., vgl. 67). Weil - meint Wagner - seit dem Zusammenbruch des griechischen Gemeinsinns "das große griechische GesamtkunstWerk" (III 29), "das große Gesamtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandteile" sich aufgelöst hat (111 12) und gegenwänig das "Drama" zur "Oper" heruntergekommen ist (DrQmII u"d Oper, 1851), muß es nun endlich wiedergeboren werden aus dem Geist der Musik: jetzt freilich nicht mehr als bloß "hellenische", sondern jetzt als "menschliche Kunst" (III 62) durch "Wiedervereinigung" aller Kunstanen (Tanzkunst, Tonkunst, Dichtkunst: III 67 ff.; mit Hilfe von Baukunst, Bildhauerkunst und Malerei: III 123 ff.) zum "wahren Drama" (111 150), dem "großen, allgemeinsamen KunstWerk der Zukunft" (111 63), durch das "der Egoist Kommunist, der Eine Alle, der Mensch Gott, die Kunstarten Kunst" werden (III 67) in "freier Genossenschaft der Künstler" (IIJ 160 ff.), zu der schließlich alle Menschen gehören, "das Volk" (111 169). So kann - meint Wagner - dieses Gesamtkunstwerk der Zukunft "unmittelbarer Lebensakt" sein und "Werk des Lebens selbst" (111 46, 171). das sich selber anschaut im "Mythos" (IV 88). Dabei nimmt - scheint mir - Wagner unbewußt Schellings weltalterphilosophischen Mythos auf von dem Gott, dessen Ich es mit seinem Es so schwer hat, daß ihm der - dabei autonom werdende - Mensch bei seiner Erlösung helfen muß, und gibt ihm in seinen Musikdramen - extrem im "Ring" jene Gestalt, in der er nach Schopenhauer möglich bleibt: als Mythos vom "traurigen Gott" (Wapnewski). Das Gesamtkunstwerk wird zum Gottesdienst dieses endsüchtigen Gottes, "die lebendig dargestellte Religion" (III 63), der Kult der "neuen Religion" (IIJ 123), der "Religion der Zukunft" (111 63). So nimmt das direkte positive Gesamtkunstwerk die Kraft aller Künste zusammen, um selber die Wirklichkeit zu werden: als Anistenversion eines neomythisch religiösen Kults. - Da ist: b)das direkle "egQlifle GesQmlku"slwerk: es ist jenes, das alle Einzelkün-
108
Gesamtkunstwerk und IdentitätssyStem
ste in einem Antikunstwerk zerstört, um dadurch die Dignität der Wirklichkeit zu gewinnen. Das war jenes Gesamtkunstwerk, das im Einzugsgebiet von Futwismus, Dadaismus und Surrealismus gesucht wurde und wird. Gemessen am Identitätssystem ist es ebenfalls eine Einschränkung und überdies einseitig: ein theatralisches Bündnis der Kunst mit der politisienen Straße. Auch dabei - meine ich - spielt der Mythos eine Rolle: der, den Gcorges Sorel in seinen Reflexions sur Ja lIiolence ( 19(8) geltend machte, der "Mythos des Generalstreiks": denn hier handelt es sich um die generelle Bcstreikung der Einzelkünste zugunsten der Wirklichkeit. Diese Form des Gesamtkunstwerks begann spätestens zu Anfang unseres Jahrhundetts mit den ästhetisch-anarchistischen Provokations-Happcnings der Futuristen und Dadaisten. Es geht darum, mit den - gattungshaft-etablienen - Einzelkünsten die Trennung von Kunst und Wirklichkeit zu zerschlagen. Das wollte auch Yvan Goll mit seinen "Oberdramen" (Die Unsterblichen. Der Ungestorbene: 1918. Bcrlin 1920), der erklän: "Die Bühne ... wird ,überreal'" und "enorm" (65), denn "ein schwerer Kampf ist entsponnen zum neuen Drama, zum Oberdrama" (64), das das Normaldrama pcrsiflien. Die subversive Sprengung aller Künste - die als subversive Sprengung der herrschenden Wirklichkeit wirkt - etablien die revolutionäre Wirklichkeit. Dabei spielt bei den Surrealisten zunächst das Unbewußte - die freie Assoziation des Automatismus und der Traum - den Opponenten gegen die Sonderkünste und das herrschende Realitätsprinzip: "leh glaube" schreibt 1924 Breton im ersten MIInifost des Su~Jismus - "an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität" (18). Dabei engagieren sich die Surrealisten in unterschiedlichem Maße marxistisch-policisch, vor allem Aragon; insgesamt proklamieren sie - wie Elisabcth Lenk herausgearbeitet hat - "den Kommunismus des Genies" (59). Es kommt ihnen "nicht so sehr darauf an, KunstWerke zu produzieren: vielmehr wird die Gruppe sich selber zum KunstWerk, die Kunst zu einer kollektiven Angelegenheit, deren stets fluktuierendes Resultat die surreale Gesellschaft wäre" (74). Dieses Konzept lebt heute fon im "Psychodrama" der "Sclbsterfahrungsgruppcn" und hat - wie schon Da-Da, der kürzC5te Stabreim der Weltgeschichte - Ähnlichkeit mit Intentionen Wagners, der 1849 im Kü"stler/um der Zuku"ft schrieb: "das Genie wird nicht mehr vereinzelt dastehen, sondern alle werden am Genie tätig teilhaben, das Genie wird ein gemeinsames sein" (135): alle Menschen werden Künstler, das gehön also auch hier zur Anistencschatologie des GesamtkunstWerks, zum System der Identität von Avantgarde und Heilsarmcc. Und wo heute noch ein Einzelner dieses negative Gesamtkunstwerk zustandebringen will, indem er alles kann und alles durchstreicht, was er kann, muß er zumindest durch Kleidungsrituale suggerieren, kein Einzelner
Gesamtkunstwerk und IdentitätsSystem
109
zu sein: darum war etwa - )oseph Beuys (dieses Ein-Mann-Heer für PazifIsmus und Nichtuniformierung) der disziplinieneste und exzessivste Uniformträger der Gegenwart: der standhafte Sinn-Soldat. Sonst aber regieren einschlägig die Gruppen: gerade auch don, wo die Politik "karnevalisien" wird dwch jene revolutionären Happenings, zu denen man zuweilen reist wie die Etablienen zu den Festspielen nach Bayreuth; es sind Polit-Saturnalien, deren Szenerien Straßen sind oder - jüngsthin - jene anderen grünen Hügel, auf denen die barocke Pastorale wiederkehn: denn die heutigen Umweltschutzdemonstrationen sind - zumindest auch - die Schäferspiele der spätbürgerlichen Welt. Das alles - und vieles andere mehr - gehön zu jenem direkten negativen Gesamtkunstwerk, bei dem - zur Erschütterung der vorhandenen Gesellschaft - alle etablienen Kunstarten gesamtästhetisch durch einen großen Anti-Akt zerstön werden, um die politisch-revolutionäre Wirklichkeit zu gewinnen. c)das i"direkte extreme GesamtkunJtwer/l: es ist jenes, das nicht auf wirklichkeitsjenscitige Kunstwerke aus ist, sondern auf die Wirklichkeit selber, aber nur einen Teil dieser Wirklichkeit ästhetisch sieht oder inszeoien, und zwar tendenziell den extremen, den AlIJflllhmezustl1"d. Gemessen am Identitätssystem ist das ebenfalls eine Einschränkung: denn hier wird gerade nicht die ganze Wirklichkeit ästhetisien, sondern ein Teil, wenn auch der, der zur totalen Wirklichkeit werden will. Was Siegfried Kracauec 1927 - im Blick auf die Revuen der Tiller-Girls und die MenschenmasscnArrangements der "Stadion-Sterne" _. als Das Ornament der Masse beschrieb (50- 63), hat 1935 WalterBenjamin im Aufsatz über Das KUnJtwer/l im Zeitalter sei"er technische" Reproduzierbar/leit in seine schrecklichen Dimensionen verfolgt: "In den großen Festaufzügen, den Monsterversammlungen. den Massenveranstaltungen sponlicher An und dem Krieg. die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugefühn werden. sieht die Masse sich selbst ins Gesicht ... Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnissc; der Faschismus sucht ihnen einen Ausd1'llck in deren Konservierung zu geben. Er läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Mit d' Annunzio hat die Dekadence in die Politik ihren Einzug gehalten. mit Marinetti der Futurismus und mit Hitler die Schwabinger Tradition. Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik konvergieren in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg." (I. 2 467). Benjamin zitien aus "Marinettis Manifest zum äthiopischen Kolonialkrieg" ("Der Krieg ist schön ... Dichter und Künstler des Futurismus ... erinnen Euch dieser Grundsätze der Ästhetik des Krieges") und schließt folgendermaßen: "So steht es mit der Ästhetisierung der Politik. welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwonet ihm mit der Politisierung der Kunst" (I. 2468/469). was freilich - worauf ArnoJd Gehlen in den ZeitBildern hingewiesen hat (150 ff.) - von Anfang an recht dialektisch verlief;
110
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem
denn zur kommunistischen Politisierung der Kunst gehöne - seit den 20cr Jahren permanent - die politische Ächtung der ästhetischen Avantgarde. die politisch als unzuverlässig galt. und die - als fonan "entpolitisiene Revolution" - durch diese Ächtung unfreiwillig "in die bloße Kunstimmanenz hineingezwungen wurde". Darum wurde die kommunistisch politisiene Kunst zugleich nicht-avantgardistisch: sie nahm jene Tendenzen - für deren nationalsozialistische Inszenierungen etwa Alben Speer repräsentativ wurde - in sich auf. die Benjamin am Faschismus kritisien hatte. und wurde ihnen schließlich zum Verwechseln ähnlich; freilich. an die Stelle der Ästhetisierung des Krieges tritt die Ästhetisierung des Bürgerkrieges. - Da ist: d)das indirehe nichtexlreme Gesamtkunstwerk: es ist der Trend zum neuen IdentitätsSystem als Versuch. seinen transitorischen Beschränkungen zu entkommen und erneut die gesamte Wirklichkeit zu ästhetisieren. und zwar gerade die nicht extreme. also ihren No1'f1Ullzustand. Daß "nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfenigt ist". konnte der frühe Nietzsche (I 14. vgl. 40. 131) auch deswegen sagen. weil Schopcnhauer. von dem er herkam. in seiner pessimistischen Variante des Identitätssystems seinerseits schon die ganze Wirklichkeit ästhetisien hatte: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) interpretien die Erscheinungswelt als Theater; denn die Welt ist insgesamt "Vorstellung" (performance)d. h. als "Ding an sich" zugleich Ding-durch-Inszenierung: "der Wille fühn das große Trauer- und Lust-Spiel auf eigene Kosten auf und ist auch sein eigener Zuschauer" (I 453). In dieser" Vorstellung" namens Welt spielen wir unsere "Rollen" und werden dadurch immer ausschließlicher zu dem. "was einer vorstellt" (IV 377. 421 f.). wie es dann die derzeitige Rollen-Soziologie behauptet: "All the world's astage. and all the men and women merely players" • zitien Ralf Dahrendorf in seinem Homo sociologicus Shakespcare (17). So leben wir im Zeitalter der Vorstellung - schon Tocqueville hat die Affinität zwischen moderner Demokratie und Theater betont (565 - 569) und darum auch im Zeitalter der Ausstellung: im 19.Jahrhunden entstehen - als Ausstellungen der vergangenen Geschichte - die Museen und seit 1851 - als Selbstdarstellungen auch ihres Zukunftswillens - die Weltausstellungen. deren KJeinformen die großen Messen werden. die ihr eigenes Design entwickeln. Gleichzeitig entsteht - konträr zum Einzelhandel der Gcsamthandel: mit der Losung" alle Waren unter einem Dach" reüssien parallel zum Gesamtkunstwerk das Kaufhaus. das Zola als "Paradies der Damen" (A.u bo"heur des dames, 1883) beschreibt. Auch das sind "künstliche Paradiese" (Baudelaire): zur Welt als Wille und Vorstellung gehön die Welt als Pille und Ausstellung. Weil in diesen Formen die modeme Gcsamtwirklichkeit seit langem unemphatisch durchästhetisien ist. sind es auch - seit die Wirklichkeit immer mehr geplant wird - ihre Planungen und deren Szenarios. Das wurde vorgeübt in den ästhetischen Planspielen
an
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem
111
und Architektunräumen der utopischen Sozialisten und bei denen, die ihre Nachfolger wurden. Gerade durch diese Ästhetik der Planung entkommt das identitätssystematische Programm - die Initialform der Idee des Gesamtkunstwerks - seinen uansitorischen Beschränkungen heutzutage in die großen integrienen Gesamtpläne, die - gescholten als Technokratie und gelobt als Reformperspektiven - in Wahrheit Ästhetiken der Wirklichkeit sind, die erneut die gesamte Wirklichkeit zum integrienen Gesamtkunstwerk machen wollen. Ihre Protagonisten wiederholen - indem zwischen ihnen und dem Absoluten sozusagen nur die Finanzminister und ihre knappen Budgets stehen, zwischen ihnen und der Endlichkeit zuweilen nur die Aussicht auf Karriere - die Verfassung der Indifferenz. Wo ihnen die Realität zur bloßen occasio für Programme wird, denkt man zuweilen nostalgisch an jene Zeiten, in denen es noch möglich war, deranige Kommunikationsgemeinschaften - auch die von Gesamtplanästhetikern - zu Akademien zu adeln, um ihre Wirksamkeit durch Ehre zu vereiteln. Jedenfalls wird - angesichts der Geschichte des Gesamtkunstwerks vom Identitätssystem bis zu den Gesamtplänen und ihren absoluten Regisseuren - klar, daß Fichtes Intentionen womöglich don am meisten uiumphienen, wo Fichte durch Schelling scheinbar ästhetisch überwunden wurde, und es wird angesicht.~ dieser Geschichte - klar, daß das Ästhetische gar nicht - wie seine vehementesten Kritiker meinten - dadurch problematisch wird, daß es zu unwirklich ist; es wird nämlich - ganz im Gegenteil - don unenräglieh, wo es zu wirlJich wird: wo das identitätssystematische Programm, das des Gesamtkunstwerks, Kunst und Wirklichkeit identisch setzt - konvenibei macht - und dadurch beiden seine Identitäten absolut aufzwingt: die Identität von Nichtkunst und Kunst, von Ernst und Unernst, von Verantwortungsbewußtsein und Leichtsinn, von Wirklichkeit und Schein. Wo identitätssystematisch die Kunst - die Illusion - eines wird mit der Wirklichkeit, bekommt die Wirklichkeit selber die Verfassung der Illusion; dann hat zwar die Kunst mit der Wirklichkeit alles, aber die Wirklichkeit selber hat dann nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun. ~.
(Prekäre Kompensationen). Darum - weil er diese Implikationen und Konsequenzen spüne - hat Heget Einspruch erhoben gegen Schetlings Identitätssystem, eben weil es war: die Ermächtigung der Illusionen; und durch diesen Einspruch - der grimmig, erfolgreich und berechtigt war hat er mitgeuoffen, was mitgeuoffen werden mußte: einige Weiterungen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein Ansatz mit Schwächen diese Schwächen durch weitere Schwächen zu kompensieren versucht. Justament so - scheint es - war es bei Schetlings Identitätssystem, und zwar in Formen, die für den Problemkomplex Gesamtkunstwerk nicht ohne Bedeutung blieben. Meine Überlegung schließt mit Kurzhinweisen auf zwei einschlägige Phänomene.
112
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem
Das eine Phänomen ist die Oberkompcnsation des identitätssystematischen Differenzdefizits. Das Identitätssystem - so sieht das auch Hegel verdrängt im Namen der Identität den Unterschied. Dieser verdrängte Unterschied rächt sich für seine Verdrängung durch seine prekäre Wiederkehr: als das Esoterische. Denn das Esoterische ist emphatisch Unterschied: zum Gewöhnlichen. zum Alltäglichen. zum Allgemeinen. "Die Philosophie" - schreibt Schelling im 8171110 - "ist notwendig ihrer Natur nach esoterisch" (IV 232). Diesen philosophischen Esoterismus des Identitätssystems - den Hegel kritisiene - hat das GesamtkunstWerk (trotz seiner Tendenz zum Kommunismus des Genies. zum Menschheitlichen und Kollektiven) in all seinen Formen anistisch fongesetzt: es gibt - gewissermaßen als identitätssystematisches Erbe - im GesamtkunstWerk einen I4te"te" Esoterismtls. Das andere Phänomen ist die Oberkompensation des identitätssystematischen Geschichtsdefizits. Das Identitätssystem - so sieht das auch Hegel verdrängt im Namen des Systems die Geschichte. Diese verdrängte Geschichte rächt sich für ihre Verdrängung durch ihre prekäre Wiederkehr: als das Mythische; denn das Mythische ist das prekär Geschichtliche. "Wir müssen eine neue Mythologie haben". fordene Schelling (wenn er es denn wirklich war) im Älteste" Syste",progrllmm. Identitätssystematisch erklän er in der Kunstphilosophie die "Mythologie" zum "Stoff der Kunst" (V 388 ff.) und - das kritisiene Hegel - zum Schöpfungspensum nicht nur der Dichter (V 444). vielmehr: jeder soll "von dieser noch im Werden begriffenen (mythologischen) Welt ... sich seine Mythologie schaffen" (V 445. vgl. 446). Zwar bricht Schelling selber seinen weltalterphilosophischen Versuch einer neuen Mythologie ab schließlich zugunsten einer Philosophie de, ältesten Mythologie und Philosophie der ältesten neuen Mythologie. dei christlichen O/fe"bIlT1l"g. Gleichwohl bleibt die weitere Geschichte de~ Gesamtkunstwerks in all seinen Gestalten durch diese Tendenz zum Mytho~ - zum neuen Mythos - geprägt: es gibt - und auch das ist zumindes1 indirekt ein identitätssystematisches Erbe - im GesamtkunstWerk eineIl mllmfeslen Mythis",tls. Seide - der latente Esoterismus. der manifeste Myth.ismus des Gesamt· kunstwerks - verstärken nur jene Züge. die Hegel mißtrauisch gemach1 hatten gegen das Identitätssystem. die Stangestalt des GesamtkunstWerks. Es war als Identitätssystem - und blieb als Gesamtkunstwerk - die Ermäch· tigung der Illusion. Darum läßt sich Hegels Einspruch gegen Schelling~ Identitätssystem so lesen. wie ich es hier vorgeschlagen und ein weni~ ausprobien habe: als - früheste - Anikulation des Unbehagens am Ge· samtkunstWerk.
Kunst als Kompensation ihres Endes
Die Absicht meiner Skizze ist - auch wenn ich im folgenden die Philosophenlizenz zu sehr pauschalen Äußerungen reichlich in Anspruch nehmen werde - durchaus bescheiden: ich möchte an Kompensationstheorien des Ästhetischen erinnern; und ich tue das in acht kurzen Abschnitten.
1. (Zum Kontext)
Was ich skizziere. steht bei mir - als Beitrag zu einer ,Philosophie des Stattdessen' - im Zusammenhang mit begriffsgeschichtlichen und problemgeschichtlichen Recherchen über den Kompcnsationsgedanken. die einstweilen folgendes - hier grob simplifizienes - Resultat haben: der philosophisch derzeit hochaktuelle - Kompcnsationsbegriff kommt nicht erst aus dem Umkreis der Psychoanalyse. er kommt als prägnantes philosophisches Konzept vielmehr aus der Theodizee des 18.Jahrhundens: Gott nämlich - das meinte die optimistische Theodizee - hat nicht nur die übel .zulassen , müssen. er hat auch für ihre Kompensation gesorgt. Freilich: erst durch den Zusammenbruch der optimistischen Leibnizgestalt der Theodizee wurde der Kompcnsationsgedanke zum eigenständigen philosophischen Fundamentalgedanken : also - begriffsgeschichtlich nachweisbar - um 1750. d. h. just da. wo - durch Baumganen - auch die Ästhetik entstand. übrigens gleichzeitig mit der Geschichtsphilosophie. Die Ästhetik nämlich - als Philosophie der schönen Kunst - hat es (ich sage sattsam Bekanntes) in der Philosophie nicht immer gegeben. Vorästhetisch - als die Philosophie zentral Metraphysik war - war die Philosophie des Schönen (als des Seienden) keine Philosophie der Kunst und die Philosophie der Kunst (des Machens) keine Philosophie des Schönen (des Unmachbaren); erst modem - auf der Basis einer Sinnenlehre - fusionieren beide zur Philosophie der schönen Kunst. d. h. zur Ästhetik: ebendas geschieht gewissermaßen sattelzeitbrav - Mitte des 18.Jahrhundens just don. wo auch - durch die Krise der Leibniz-Theodizee - der Kompensationsgedanke zum eigenständigen philosophischen Fundamentalgedanken wird. Diese grundsätzliche Gleichzeitigkeit der philosophischen Konjunktur der Ästhetik und des Kompcnsationsgedankens sowie die Tatsache. daß •Kompensation , als Kategorie einer .Ergänzung ohne Ganzes' der Bauformd der Grundbestimmungen der von Kant so genannten "reflektierenden Uneilskraft" entspricht. legen es nahe. die Verbindung des Ästhetischen
114
Kunst als Kompensation ihres Endes
und Kompensatorischen ins Auge zu fassen: Kompensation als Pensum des Ästhetischen.
2. (Negtltive Kompenstltionstheone des Ästhetischen)
1977 hat Christian Enzensberger in seinem als "politische Ästhetik" deklarierten Buch .Literatur und Interesse' I folgende These vertreten: Kunst. speziell Literatur. ist nicht "Widerspiegelung" • sondern .. Kompensation" der sozialen Entfremdungsrealität. nämlich ihres "Sinndefizits" . Darum hat die Kunst - die Literatur - grundsätzlich die Gegenform der Utopie. Aber indem sie nur Kunst ist und nicht politische Praxis, indem sie die Wirklichkeit nur kompensiert und nicht revolutioniert, verrät sie die Utopie ans Vorhandene: .. durch ihre Form wie ihre Funktion ist Kunst immer reaktionär. Es gibt keine revolutionäre Kunst - oder sie ist keine mehr." 2 Die Dichter lügen, die Literaturwissenschaftier und Ästhetiker sind ihre lügengehilfen. mit einer Ausnahme: das ist Enzensberger; der nämlich - als einziger - sagt die Wahrheit, denn er eben entlarvt die Kunst dieserart als bloße Kompensation. Ich nenne diese Kompensationstheorie des Ästhetischen negativ, weil sie zur Kompensationsrolle der Kunst negativ sich verhält. Sie scheint mir wichtig: nicht nwals eindrucksvolles Zeugnis für die Erhaltung und Steigerung von Naivität durch Reflexion, sondern vor allem deswegen, weil sie die Konsequenz zieht aus der - euphorisch futuralen - Definition der Kunst als Antizipation. Kritik, Vorschein), Utopie, Revolution: daß nämlich die Kunst stets nur das Zurückbleiben hinter dieser Definition sein kann und so stets (mehr oder weniger) als Verrat gelten muß an dem, was zu ihrem Maßstab gemacht wurde, an der Revolution. Das spricht Enzensberger aus: er macht damit - gewissermaßen als Inhaber eines anglistischen Lehrstuhls für Dichteraustreibung und Bildersturm - das alsbaldige KunstVerdikt der sozialistischen Sowjetrevolution und ihrer Vorgänger- und Nachfolgerevolutionen zur Position der Ästhetik: das Ende der Kunst, das sacrificium anis. den Suizid der Kunst ad maiorem revolutionis gloriam.
3. (positive KompenstllionstheorU des Ästhetischen) Aber vielleicht ist die Kunst ja gar keine mißlungene Revolution, sondern eine gelungene Bewahrung und just darum Kompensation: das jedenfalls war - Enzensberger zitiert sie nicht. kennt sie vielleicht auch nicht - die These Joachim Ritters in seiner zuerst 1948 gehaltenen Ästhetikvorlesung, deren auch universitätsgeschichtliche Wirksamkeit gar nicht hoch genug
Kunst als Kompensation ihres Endes
1l~
eingeschätzt werden kann: durch diese Vorlesung nämlich entstand die Ritterschule . Ritters These - vorformulien 1940 in seinem Aufsatz ,Ober das Lachen' und 1945 in seinem Eliot-Aufsatz ,Dichtung und Gedanke'· - ist, stark verkürzt, diese: in der modemen Welt beueibt ein Prozeß, den man nicht nicht wollen kann, nämlich der Modernisierungsprozeß ihrer Versachlichung, zugleich ihre Entzauberung; diese Entzauberung ist - malum - ein Verlust; aber dieser Verlust wird - bonum-durch-malum - kompensien durch die Ausbildung des Organs einer neuen Verzauberung, die zur prekären Entschädigung für den Verlust der alten wird: das ist das ebendarum spezifIsch modeme Kompensationsorgan der ästhetischen Kunst. Modern zerfällt der heilige Hain in Holz und Gefühl (HegeP): wo die menschliche Lebenswelt aus einer primär vorgegebenen Herkunftswelt der entia - mit zunehmender Beschleunigung - zur primär anifiziellen Zukunftswelt der Sachen sich wandelt, müssen - zunehmend - ihre ,schönen' Qualitäten kompensatorisch festgehalten werden durch die geniale Innerlichkeit des ästhetischen Künstlers; insofern ist die Ästhetik - als .. Anistenmetaphysik" (Nietzsche6 ) - Fonsetzung der Metaphysik unter Verwendung moderner Mittel: just darum wird sie um 1800 zur diensthabenden Fundamentalphil0sophie und die Geniekunst zum absoluten Organ (Schelling7). Dadurch aber gerät sie in eine Oberforderungskrise: in der Folge bricht ihr vorübergehend absoluter Anspruch zusammen.
4. (SIII% flom Ende der KUnJI) Diesen Zusammenbruch des absoluten Anspruchs der ästhetischen Kunst seit Anfang des 19.}ahrhundens - meinte Ritter - hat Hegel diagnostizien durch seinen Satz vom Ende der Kunst·: das jedenfalls war Ritters Interpretationsmeinung, solange ich seine ,Ästhetik' gehön habe; Peter Probst - der länger in Münster war als ich - erzählte mir, Ritter habe diese Interpretation revidien: vielleicht - diese Vermutung läge dann nahe - unter dem Eindruck von Willi Oelmüllers differenzierender Interpretation des HegetSatzes vom Ende der Kunst 9 • Zunächst aber war Ritters Interpretationsthese diese: Hegels Satz vom Ende der Kunst ist der Satz vom Zusammenbruch des Oberanspruchs der modemen ästhetischen Kunst. Diese These - aus der ich selber 1966 extreme Konsequenzen gezogen habe 'o - hat Hans Georg Gadamer kritisien: ich habe die Ehre gehabt, in seiner Rezension der ,Poetilc und Hermeneutik m'" von ihm jene zanen Prügel zu bekommen, die wohl Ritter einschlägig zugedacht waren. Aber Gadamer hatte - zumindest in diesem Punkte - ja zweifellos recht. Denn Hegels Satz vom Ende der Kunst (das hat auch Walter Bröcker 12 betont)
116
Kunst als Kompensation ihres Endes
besagt in seiner zentralen Pointe: seit der .antike' d. h. griechische Gesichtspunkt der Schönheit durch den •modemen , d. h. biblisch-christlichen Gesichtspunkt des Heils überboten war. mußte die Kunst - als primär nicht heilsnotwendige - sich in den Dienst des Heils begeben oder abueten: beides besiegelt ihr Ende. Das bedeutet grundsätzlich zweierlei. etwas Inhaltliches und etwas Chronologisches. Inhaltlich bedeutet es: der Satz vom Ende der Kunst gehön in das Ensemble der eschatologischen Sätze der biblischen Religion. der Sätze vom Ende des alten Adam. vom Ende des Gesetzes. vom Ende der Sünde und Entfremdung. vom Ende (d. h. der Torheit oder der Aufhebung) der Philosophie. vom Ende der Geschichte bzw. Vorgeschichte. usw.; dabei sind diese Endsätze stets nur Teilsätze des eschatologischen Endsatzes schlechthin; des Satzes vom Ende der - bisherigen. alten. korrumpienen - Welt. Das Ende der Kunst gehön zur eschatologischen Weltnegation. die durch das Christentum weltwirksam wurde B • und es bleibt akut. solange diese eschatologische Weltnegation weltwirksam bleibt: schließlich noch und gerade in ihrer stets zu wenig säkularisienen Gestalt. der modemen Geschichtsphilosophie. Chronologisch bedeutet das: das Initialdatum des Endes der Kunst sind nicht die Anfangsjahre des I9.Jahrhunderts. sondern die Anfangsjahre des I.Jahrhunderts post Christum natum. Das Ende der Kunst kommt also nicht nach. es kommt vielmehr - und zwar deutlich - vor der Ära der ästhetischen Kunst: erst kommt das Ende der Kunst und dann die ästhetische Kunst. und keineswegs umgekehn.
5. (Kunst als Kompensation ihres Endes) Aus diesen Befunden ergibt sich zwanglos eine positive Kompensationstheorie des Ästhetischen. die zwar diejenige Ritters nicht negien. sondern nur ergänzt. die ich aber auf meine eigene Kappe zu nehmen habe. Sie läßt sich durch zwei Thesen ausdrücken. nämlich: a) die - modeme - ästhetische Kunst ist die historische Replik auf das christentumsbedingte und späterhin geschichts- d. h. revolutionsphilosophiebedingte - Ende der Kunst, b) die ästhetische Kunst kompensien nicht nur die modeme Versachlichung der Lebenswelt. sondern sie kompensien auch und vor allem den eschatologischen Weltverlust. Darin - meine ich - steckt: man muß - so unpopulär und konterkonformistisch das heute sein mag - die eschatologische Instrumentalisierung der Kunst und ihre defInitorische Angleichung an die Utopie beenden: die ästhetische Kunst ist so wenig Vehikel der Eschatologie und Vorschein der Utopie, daß sie ganz im Gegenteil die eschatologisch-utopische Weltblind-
Kunst als Kompensation ihres Endes
117
heit gerade kompensien. Wo im Zeichen der eschatologischen Diesseitsdenunziation und utopischen Jetztweltvermiesung das Vorhandene als Nichtiges gilt, muß die Kunst - ästhetisch - das Geltende in diesem Nichtigen und das Nichtige in jenem Geltenden sichtbar machen; das aber ist ein Konservierungspensum. Kunst ist konservativ oder sie ist keine: Enzensberger hat das schon richtig geseheni., er hat nur vergessen, es zu bejahen. Um diese konservative Rolle der Kompensation des eschatologischen WeitverlUstS zu fmden und auszufüllen, mußte die Kunst - gegen die Zumutung, zum Heilsinstrument der eschatologischen Weltnegation, zur ancilla salutis zu werden - die Anstrengung auf sich nehmen, sich zur ästhetischen Kunst zu wandeln, d. h. zu werden, was sie niemals vorher war: autonome Kunst. Und sie mußte - was ebenfalls niemals vorher geschah - diese Autonomie der Kunst philosophisch bekräftigen lassen: durch philosophische Ästhetik. Die Formel ,Kunst als Kompensation ihres Endes' ist also kein Paradox, sondern die genaue Bestimmung des Replikstatus exklusiv der ästhetischen Kunst.
6. (phlinomen der tJoppeiten ÄIthetill) Die Ästhetik ist das Festhalten der Kunst gegen ihr Ende: darum wird sie lur doppelten Ästhetik. U Dem präludien im 17.Jahrhunden in Frankreich die ,Querelle des Anciens et des Modernes'16: sie zuerst macht das Ende der Kunst binnenästhetisch aushalt bar, indem sie es interpretien und dadurch milden: nur die Kunst der Alten ist zu Ende; und das ist schlimm (Anciens) oder gut (Modemes). In der antiken Kunst veneidigt man die Kunst, oder durch ihre Preisgabe - durch Option nur mehr für die christlich beginnende moderne Kunst - erkauft man das Überleben der Kunst: die Kunst soll ästhetisch festgehalten werden, indem sie entweder ,gegen' oder ,durch' das Ende der Kunst definien wird. Diese französische .Querelle' - englisch varüen durch die Opposition der .ideas' des .beautiful' einerseits und des .sublime' andererseits - wird durch den Auftritt der Ästhetik in der zweiten Hälfte des IB.Jahrhunderts zur querelle allemande: sie regien die Ästhetik der Goethezeit von Winckelmann bis Schelling (Peter Szondi l7 ) und die Grundsatzoppositionen bei F. Schlegel und Schiller (Hans Roben Jauß 1'); und sie glieden und beherrscht die philosophische Ästhetik von Hegel bis Adomo; dabei ist Hegel ein ,Ancien': .. die schönen Tage der griechischen Kunst ... sind vorüber" ... die klassische Kunst (ward) ... die Vollendung des Reichs der Schönheit. Schöneres kann nicht sein und werden" 19; Adorno dagegen ist ein .Moderne': Hegel .. schleppte" .. klassizistisch befangen" .. das konventionelle Naivetätsideal" .. mit": aber es .. ist" nur .. die Stunde naiver
118
Kunst als Kompensation ihres Endes
Kunst dahin" 20. Dic philosophischc Ästhetik ist durchwcg doppeltc Ästhetik, in der dic Kunst stets zwcimal auftaucht: bei Kant als - antik orienticnc - ,schönc' und - modem orientienc - ,erhabenc' d. h. ,nicht mchr schönc Kunst', als ,objcktive' und ,intcressantc' (Fricdrich Schlcgel), als ,naive' und ,sentimentalischc' (Schiller), als ,klassischc' und ,romantischc' (Hcgel), als ,apollinischc' und ,dionysische' (Nietzschc), als litteraturc degagec und ,litteraturc cngagec' (Sanrc), als ,ästhetischc Immancnz' und ,ästhetischc Reflexion', und so fon, kurz: als Ästhetik des Gelingcns dcr ästhetischcn Autonomic und Ästhetik des Scheitems dcr ästhctischcn Autonomic; dcnn dic ästhctischc Rcplik auf das Endc der Kunst hat grundsätzlich zwei Antwonmöglichkcitcn: dcn Widerstand odcr die Akkommodation, zu welch letztcr dic romantischcn Konvcrsionen gchörcn, so daß dic ,Modcrnes' häufig cnden, wic eben Romantiker cndcn: als Engagicnc. Indcm nun die ästhctischc Kunst bei dieser ,Qucrcllc' nicht stchcnblcibt, sondcrn durch sic hindurchgcht, bekräftigt sic ihre Autonomie auch indirckt. Hans Roben)außl' hat gczcigt, daß das Resultat dcr ,Qucrcllc' nicht dcr Sicg cincr Seitc, sondcrn dic Relativicrung beidcr Seitcn ist: dic Gebun dcs historischcn Sinns. Aufgrund dicser Prägung durch dcn historischen Sinn, dcr das Bündnis des Ästhetischen mit dem Museum begünstigt, besteht die Kunst auch ästhetisch darauf, viele Geschichtcn zu haben. Darum widcrsetzt sie sich dem Monomythos der Heilsgeschichte und pflegt - kompensatorisch - die Polymythie. So kompensien sie - zum Beispiel - die geschichtsphilosophischc Proklamation dcr einen einzigen d. h. ,der' Geschichte um 1750 (Koselleck) durch die modcrne Konjunktur des ästhetischen Genus der vielen Geschichten, des Romans. Zugleich vcrzichtet dic eschatologischc Weltnegation - durch strenge Verdikte - auf den Dienst dcr hcilsdicnstwilligcn Kunst: dic Revolution verschmäht das politischc Engagemcnt dcr Kunst und zwingt dadurch - wic Gehlcn anmcrkt - auch die modcrnc Kunst "in die Kunstirnmanenz zurück"ll; das ctablien dic Abstraktion, die Entlastung vom großen existenziellen Inhalt. dcn Primat dcr Form (dcs Zeitdruckcrsatzcs untcr Mußebedingungen). So wird dic ästhetische Kunst - im Durchgang durch die doppeltc Ästhctik - auch indirekt autonom.
7. (Ausbruch in die Unbe/angb"rkeit)
Das allcs geschah kunsthistorisch seit dcr Renaissance und philosophisch seit Mitte des 18.)ahrhundens: abcr warum - wcnn doch schon (christlich gesehen) Christus das Ereignis war, das für die Kunst die Replik durch Ästhetik crzwang - warum kam diese Rcplik so spät? Darauf antwonc ich: erst mußtc das eintretcn, was zur ,übenribunalisic-
Kunst als Kompensation ihres Endes
119
rung' der menschlichen Lebenswirklichkeit fühne, nämlich der ,Verlust der Gnade '23 , und dazu kam es erst modem. Die biblisch-eschatologische Weltnegation ist das Weltgericht: die absolute Anklage Gottes gegen die sündige Korruption der vorhandenen Welt. Diese absolute Anklage aber war christlich zugleich absolut ermäßigt: dwch die begnadigende Erlösungstat Gottes per Christum. Der Status des absoluten Angeklagten blieb den Menschen also christlich erspart durch die göttliche Gnade. Das änden sich erst modem. Don wird zum absoluten Ankläger der Mensch: zunächst in der Theodizee als Ankläger Gottes, dann in der radikalisienen Theodizee, der Geschichtsphilosophie, als AnJdäger der Menschen. Dabei - durch Vollstreckung des letzten der theologisch-eschatologischen Sätze: des Satzes vom Ende Gottes, der später der Satz vom Tode Gottes wird - geht Gott als der christliche Begnadiger verloren: die WeitankJage des Menschen wird gnadenlos. Dieser Verlust der Gnade fühn - durch den Zusammenbruch der Leibniz-Theodizee Mitte des 18.Jahrhunderts - zur Obenribunalisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit. Ihr philosophischer Agent ist die revolutionäre Geschichtsphilosophie. Ihr Realbeleg ist die Tribunalsucht der französischen Revolution und ihrer Nachfolgerevolutionen. Fonan hat vor diesem gnadenlosen Tribunal - jeder Mensch die absolute Rechtfertigungslast für sein Seindürfen und Soseindürfen (und das setzt sich fon in manch anderen ,conten of justificatiou'); konkret: wenn ich - höflich zu sein versuchend - sage: .. gestatten Sie. Marquard". lautet die übenribunalistische Antwon: "hier wird gar nichts gestattet: mit welchem Recht sind Sie Marquard, warum haben Sie sich nicht längst zu einem ganz anderen geänden, und mit welchem Recht sind Sie überhaupt und nicht vielmehr nicht?!" So muß - in der übenribunalisienen Welt - jedermann gnadenlos die Entschuldigung dafür leben. daß es ihn gibt und nicht vielmehr nicht, und daß es ihn so gibt, wie es ihn gibt, und nicht vielmehr anders. Diese Obenribunalisierung ist der spezifisch modeme Aggregatzustand der eschatologischen Weltnegation . Sie ist unlebbar: denn niemand kann sich ständig total zur Disposition stellen. Darum entsteht - gegenläufig zur Obenribunalisierung - gerade und erst ab Mitte des 18.Jahrhunderts jener enorme Entlasrungsbedarf, der das Ästhetische lancien: ein Antitribunalverlangen nach Rechtfenigungsunbedürftigkeit. Die modeme Obenribunalisierung erzwingt den Ausbruch in die Unbelangbarkeit. Dazu gehön die gerade modem expandierende Kultur legitimationsdiesseitiger Besonderheiten: die Karriere des Geschmacks, den man - weil er indemonstrabel ist - nicht zu rechtfenigen braucht. Darum wird gerade und erst in der modemen Welt - als Replik auf jenen Aggregatzustand der eschatologischen Weltnegation, der in der Obenribunalisierung besteht - das Ästhetische fällig und wichtig: es wird - durch den Schritt der Kunst vom Normativen zum Originellen - zum Refugium menschli-
120
Kunst als Kompensation ihres Endes
cher Rechtfenigungsunbedürftigkeit: ein Kompensat der verlorenen Gnade. Als Urlaub vom Tribunal wird die Kunst ästhetisch und unwiderstehlich und überwichtig und das autonome Kunstwerk vielleicht am meisten das, vor dem die Frage "mit welchem Recht ... ?" verstummt: als Ausbruch in die Unbelangbarkeit.
8. (Kunst IIIs Antijilltion;
Aber was passien in der Krise des Ästhetischen seit Anfang des 19. Jahrhundens, wenn sie nicht mit Hegel als Ende der Kunst, sondern allenfalls mit Heine als "Ende der Kunstperiode" beschrieben werden kann, bei dem wie Wolfgang Preisendanz gezeigt hae4 - das Ästhetische selber zum "Grenzphänomen " wird? Don - meine ich - beginnt die ästhetische Kunst eine unangemessene Definition abzusueifen: ihre Bestimmung als Fiktion zs . Das wird nötig, weil das Fiktive zunehmend zum Element der modemen Wirklichkeit selber wird und darum als spezifisches Defmiens der Kunst schließlich ausfällt. Das hat (just wie jene Positivierung der Sinnlichkeit, durch die die Ästhetik zum Zuge kam) mit dem Theodizecgedanken der ,Zulassung' der Übel zu tun; denn dazu gehön auch die Positivierung der gnoseologischen Übel, also des Irnums und der Fiktionen. Darum erhalten - ermunten durch die Philosophien des Als-ob von Kant, Forberg, Nietzsche und Vaihinger - die Fiktionen modem wachsend positive Realbedeutung für die menschliche Wissensund HandlungswirkJichkeit. Ich dokumentiere das hier nur durch ein einziges Beispiel: das Phänomen der tachogenen Weltfremdheit. In einer Welt zunehmend schnellerer Sdbstkomplizierung etablien jede ,Komplexitätsreduktion ' Fiktionen. Etwa Handlungen - insbesondere Interaktionen von erheblicher Größenordnung - brauchen stets Zeit; während sie vergeht, ändern sich unter Beschleunigungsbedingungen noch während der Handlung die Orientierungsdaten, aufgrund derer man die Handlung unternahm; von einem bestimmten temporal point of no return ab verlangt die Sichträson der Handlung, die Änderung dieser Daten zu ignorieren: ohne deranige Konstanzflktionen brächte man keine Handlung mehr zu Ende. Wo alles fließt, zwingt jedes Dwchhalten einer Handlung zu Fiktionen: Realitätsprinzip und Fiktionsprinzip fusionieren; das ,positive Stadium' wird das ,fiktive': die modeme Realität wird - auf diese und manch andere Weise - repräsentativ zur fiction-reality, zur Fiktur. Daraus folgt für die ästhetische Kunst der Zwang zur Umdefmition. Wo die Wirklichkeit selber zum Ensemble von Fiktionen wird, bleibt die ästhetische Kunst das durch Wirklichkeit Unersetzliche nur dann, wenn sie sich fottan nicht mehr ,durch', sondern ,gegen' das Fiktive definien: als Antifik-
Kunst als Kompensation ihres Endes
121
tion. Hans-Ulrich Gumbrecht hat - mit Blick auf Französisches und Spanisches - die Entstehung des Realismus als Produkt dieser Umdefinition der Kunst zur Antifikcion beschrieben. 16 Zu ihr gehön auch dies: daß die ästhetische Kunst - neokognitiv - zur Zuflucht der Theoria wird. also dessen. was an der Theorie nicht bloße Sichtdisziplin ist. sondern wirkliche Erfahrung, so daß in dem Maße, in dem die Wirklichkeit selber weg von der .Erfahrung' hin zur .Erwanung' tendien (Koselleck). das Ästhetische sich kompensatorisch - weg von der .Erwanung' hin zur .Erfahrung' bewegt. indem jedes Kunstwerk offizielle (ggf. fikcionsgeleitete) Sichtdisziplin kapitulieren läßt durch das Sehen des bisher Nichtgcschenen und die Anerkennung: so ist es. Kunst ist dann - als Antiflktion - die Enttäuschung des nur Fiktiven durchs Sehen des Übersehenen mit jener prekären Glücksmöglichkeit. die so von der Theorie an die Kunst übergeht: des Glücks durch die Erleichterung, die aus der Ersparung von Selbstbornierungsaufwand resultien. so daß bei jenem Geschäft. von dem Nestroy sagte .. Kunst ist. wenn mans nicht kann. denn wenn mans kann, ists keine Kunst". für die. die an ihm teilhaben. die Charakteristik durch Gottfried Senn gilt: .. innen ein Paria; und sie dürfen jedes Fleisch essen" .
Anmerkungen Aesthetica und Anaesthetica. Auch als Einleitung
1 O. Marquard. Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgan 1986. 21 ff. 2 H. Blwnenberg. Die Legitimitit der Neuzeit. Frankfurt 1966. 78. 3 F. Nieusche. Die Gebun der Tragödie. Werke (hg. K. Schlechta) Bd. 1. 17. 40 u.Ö.
4 M. Weber. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. in: M. Weber: Gesammelte Aufsäue zur Religionssoziologie. Bd.1. Tübingen "1947. bes. 84ff. ~ R. KoseUeck. Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. in: Archiv der Begriffsgeschichte 9 (1967) 82. 91. 9~. 6 R. Kosdleck. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfun 1979. 62. vgl. ~off. 7 Vgl. O. Marquard. Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1981. bes. 97ff. 8 F. W.). Schelling.ldeen zu einer Philosophie der Natur. Sämtliche Werke. Bd. 2. 1 ff. 9 Vgl. R. Bubner (Hg.). Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hegel-Studien. Beiheft 9. Bonn 1973. 26H.; vgl. dortselbst 3~ - ~2 X. Tilliette: ScheUing als Verfasser des Systemprogramms? 10 H. R.)auS. Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfun 1982. 11 H. R.)auS. Der literarische Prozeß des Modernismus von Rousseau bis Adomo. in: R. Herzog I R. Koselleck (Hgg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik 12. München 1987. 243 ff. 12 Vgl. O. Marquard. Temporale Positionalität - Zum geschichtlichen Zäsurbedarf des modemen Menschen. in: a. a. O. 343 - 3H. bes. 346 ff.; O. Marquard. Futurisiener Antimodemismus. Bemerkungen zur Geschichtsphilosophie der Natur. in: O. Schwemmer (Hg.). Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis. Frankfun 1987.91-104. 13 J. G. Fichte. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804). Sämtliche Werke Bd. 7. 18. 14 Diese Position habe ich 1973 unter dem Titel .. Geschichtsphilosophie" kritisien; vgl. O. Marquard. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Franlcfun 1973. 16: .. in ihr mißlingt die Neuzeit. Sie will ohnehin ein Ende machen; so macht sie und ist sie das Ende der Neuzeit und damit - indem sie zwar selber das Gegenteil meint - nicht das gute Ende einer schlimmen. sondern das schlimme Ende einer guten Zeit. Die Geschichtsphilosophie ist die Gegenneuzeit." Vgl.
IH. 1~ H. R.)auß. Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der .. Querelle des Anciens et des Modemes". in: H. Kuhn I F. Wiedmann (Hgg.): Die Philosophie
und die Frage nach dem Foruchritt. München 1964. n -72. 16 Vgl. O. Marquard. Lob des Polytheismus (1978). in: O. Marquard. Abschied vom
Anmerkungen
123
Prinzipiellen. Stungan 1981. 91-116: indem dieser Aufsau den Menschen durch Veneidigung seiner .. viden Geschichten" vor seiner Knechtung dwch eine .. AUeingeschichte" ( .. Monomythos") zu bewahren sucht. wehn er dwch ein scheinbar .. postmodernes" Motiv die antimodemistische Postmoderne - die gcschichtsphilosophische .. Gegcnneuzeit" mit dem Pathos der einen großen überwindung und Abschaffung der modemen Wdt - gerade ab und ist so vor allem eine Apologie der Modeme.
Kant und die Wende zur Ästhetik 1 Vonrag. gehalten 20.2.1960 Pädag. Akademie Bidefdd; die Anmerkungen sind ergänzt. 2 H. Cohen. Kants Theorie der Erfahrung (1871). 3 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929). 4 Vgl. a.a.O. eI9~1) 7/8 (Vorwonl ); zw .. Spätinterprctation" M.Heidegger. Vorträge und Aufsätze (19~4), bes. 74ff.; Der Satz vom Grund (19H). 124ff. ~ L. Goldmann. Mensch. Gemeinschaft und Weil in der Philosophie lmmanud Kants. Studien zur Geschichte der Dialektik (194~). 6 F. Paulsen. I. Kant (1898). 7 H. Heimsocth. Studien zur Philosophie lmmanud Kants. Metaphysische Ursprunge und ontologische Grundlagen (19~6); Metaphysik der Neuzeit (1929). 87 -104. 8 G. Krüger, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik (1931). 9 U. a.: J. Martthal. Le point de dEpan de la mEtaphysique (1923ff.). Cah.3; M. Wundt. Kam als Metaphysiker (1924); H.). de Vlceschauwer. zusf.: L'Cvolution de la pensee Kantienne (1939); G. Martin. Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie (19~1). 10 Vgl. A. Baeumler. Kants Kritik der Uneilskntft. Ihre Geschichte und ihre Systematik. Bd. 1: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18.Jh. bis zur Kritik der Uneilskraft (1923). 11 Vgl. u. Abschn. 9. 12 Vgl. Novalis. Werke (Wasmuth), Bd. 3 (19~9). Fragment. 192~ (1798): .. Die Poesie ist der Hdd der Philosophie. Die Philosophie erhebt die Poesie zum Grundsatz ... Philosophie ist die Theorie der Poesie. " 13 Vgl. dazu W.Odmüller. Fr. Th. Vischer und das Problem der nachhegeIschen Ästhetik (19~9). 14 A. Schopenhauer. Die Weh als Wille und Vorstellung (1818), Buch 3. 1~ F. Nietzsche. Die Gebun der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1871). 16 W. Dilthey. Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887); Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (1892); Das Erlebnis und die Dichtung (190~). 17 G. W. F. Hegd, z. B. Phänomenologie des Geistes (1807) (hrsg. v. Hoffmeister 1949).462/463: das ästhetische Leben .. kommt nicht zwWirklichkeit ... Es fehlt ihm die Kraft der Entäußerung, die Kraft, sich zum Dinge zu machen und das Sein zu emagen. Es lebt in der Angst. die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken; und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit und beham in der cigensinni-
124
18 19 20 21 22
23
24
Anmerkungen
gen Kraftlosigkeit. seinem bis zur letzten Abstraktion zugespitzten Selbst zu entsagen und sich Substantialität zu geben oder sein Denken in Sein zu verwandeln und sich dem absoluten Unterschiede anzuveruauen ... sein Tun ist das Sehnen. das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verlien. und über diesen Verlust hinaus und zurück zu sich fallend. sich nuc als verlorenes findet; - in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele. verglimmt sie in sich. und schwindet als ein gestaltloser Dunst. der sich in Luft auflöst." S. Kierkegaacd. bes. Der Begriff der Ironie mit beständiger Rücksicht auf Sokcates (1841). VgI. repräsentativ a. a. O. (Aom. 1~) den .. Versuch einer Selbstkritik" (1886). Werke (hrsg. v. Schlechta). Bd. 1. 9 - 18. J. Ritter. Philosophische Ästhetik. Münstersche Vorlesungen 1948 ff. Insbes. Politeia 376 Eff. ~9~ Aff. .. Es kommt uns hier ... darauf an. den ... geschichtlichen Grund aufzuzeigen. · .. der der Ästhetik. dem Bewußtsein über Kunst eine weltanschauliche Bedeutung verliehen hat. die die Kunst in früheren Entwicklungen nie besitzen konnte · .. Worauf es hier ankommt ist die systemtheoretische • die weltanschauliche Bedeutung. die dem Prinzip der Kunst für diese Epoche zukommt": G. Mies. Geschichte und Klassenbewußtsein (1923). IS1. Zur Form der Frage vgI. Nietzsche. a. a. 0 .. 9: .. die Griechen - wie? gerade sie hanen die Tragödie nötig? Mehr noch - die Kunst? Wozu - griechische Kunst? · .. " Ferner M. Heidegger. Holzwege (19~0). 248. N. Hanmann. Diesseits von Idealismus und Realismus. Ein Beitrag zur Scheidung des Geschichtlichen und übergcschichtlichen in der Kantischen Philosophie (1924). in: Kleinere Schriften. Bd.2 (19H). bes. die allgemeinen Reflexionen 278 -
2~
26
27 28
29
28~.
.. Wie aber sind nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht":). Burclchardt. Weltgeschichtliche Betrachtungen (1868/69). Gesamtausgabe. Bd. 7. 2. .. Das Affirmative ist so Negation der Negation; duplex negatio affirmat. nach der bekannten grammatischen Regel": G. W. F. Hegel. Geschichte der Philosophie. Sämtl. Werke (Glockner). Bd. 19.383; und so hätten prinzipiell philosophische .. Begriffe. Vorstellungen und Wone einen polemischen Sinn; sie haben eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge. sind an eine konkrete Situation gebunden" und .. sind unverständlich. wenn man nicht weiß. wer in concreto durch ein solches Won getroffen. bekämpft. negien und widerlegt werden soll": C. Schmitt. Der Begriff des Politischen (1932).8. I. Kant. Kritik der reinen Vernunft B. 867 Aom. Teils .. fonschrinstheoretisch". teils .. verfallstheoretisch". d. h. teils als übergang von der Entfremdung zum Selbstsein. teils als übergang vom Selbstsein zur Entfremdung; ersteres gegenwärtig teilw. unkritisch in macxisti.schen und positivistischen Theorien. differenzien und durchpolemisien im Frankfuner psychoanalytischen (Th. W. Adorno. H. Marcuse) und Münsteraner hermeneutischen Hegelianismus (J. Ritter). letzteres gegenwärtig u. a. in der theologisch-uaditionalistischen (G. Krüger) und modifizien in der seinsgeschichtlichen (M. Heidegger) Konzeption. VgI. W. Kamlah. Die Wurzeln der neuzeitlichen Wissenschaft und Profanität (1948).
Anmerkungen
125
30 Tb. Hobbes, Leviathan (16H) bestimmt bes. Kap. 13/14 als "the NaturaUCondition of Manltind" (cd. Everyman's Library [19H), 63 ff.) den Vollzug des "Right of Nature" d. h. der "Libeny each man hath, to usc: bis own power, as he will himsclfe, for the preservation of his own Nature ... and consequently of doing any thing. which in bis ownJudgement, and Reason, he shall conceive to be the aptest means thereunto": 66. so daß "Narure ... dissociate, and render men apt to invade. and desuoy one another": 6~. mit der Konsequenz eines "Wane. where evecy man is Enemy to every man": 64; eines "wane of every man against every man": 66; "In such condition. there is ... continuali feale, and danger of violent death; And the life of man, solitary. poore. nasty. btutish and shon": 64/6~; als .. condition of warre one against another": 6~. ist es eine Verfassung der .. miscry": 63. 31 .. Das Denken beginnt erst dann. wenn wir erfahren haben. daß die seitJahrhundenen verherrlichte Vernunft die hannäckigste Widersacherin des Denlcens ist": M. Heidener. Holzwege (19~0) , 247. 32 Die geschichtliche Vernunft ist hier nicht bzw. nw indirekt thematisch. Als ihr Kronzeuge darf Hegel gelten; er wird darum in der Folge für die kritische Interpretation Kants vornehmlich konsultien. Zur dabei vorausgesetzten Hegelinterpretation vgl. durchpngigJ. Riner. Hegel und die französische Revolution (19~ 7). 33 Manifest etwa im Sichfreileben der sog. Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften. 34 .. nicht Eekenntnis-Theorie": H. Cohen. Logik der reinen Erkenntnis (1902), 34; .. Indt'm Kant ... auf die mathematische Naturwissenschaft die philosophische Frage richtete, so präzisiene er zu allernächst dieselbe als Frage nicht nach der Erkenntnis schlechthin ... sondern nach der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis": H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung eI88~). ~6. 3~ 1. Kam, Kritik der reinen Vernunft A, VIII. 36 1. Kant, Prolegomena ... (1783), Immanuel Kants Werke (hrsg. Cassirer 1912/22, im folgenden zitien als Werke), Bd. 4,8. 37 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft B, 19ff.; Prolegomena, a. a. 0 .. 24ff. 38 .. der Umfang der theoretischen Erkenntnis der reinen Vernunft ersueckt sich nicht weiter, als auf Gegenstände der Sinne. In diesem Satz ... sind zwei Sätze enthalten: I) daß die Vernunft. als Vermögen der Erkenntnis der Dinge apriori, sich auf Gegenstände der Sinne ersuecke, 2) daß sie in ihrem theoretischen Gebrauch zwar wohl der Begriffe, aber nie einer theoretischen Erkenntnis desjenigen fähig, was kein Gegenstand der Sinne sein kann": I. Kant. Welches sind die wirklichen Fortschritte ... (ca. 1793, publ. 1804) Werke. Bd.8, 153; und das richtet offenbar die Metaphysik, denn "der alte Name ",,'tCi 'tCi ~ gibt schon eine Anzeige auf die Gattung von Erkenntnis, worauf die Absicht mit derselben gerichtet war. Man will vermittelst ihrer über alle Gegenstände möglicher Erfahrung (trans physicam) hinausgehen, um, womöglich, das zu erkennen, was schlechterdings kein Gegenstand derselben sein kann, und die Definition der Metaphysik, nach der Absicht, die den Grund der Bewerbung um eine dergleichen Wissenschaft enthält. würde also sein: Sie ist eine Wissenschaft, vom Erkenntnisse des Sinnlichen zu dem des übersinnlichen fonzuschreiten": a. a. 0 .. 302. 39 .. Darum will der Kantische Spott gegen ... die Luftbaumeister des Gedankens so wenig besagen. Was soll es dem Anderen ausmachen. daß das Verfahren des
126
Anmerkungen
einen. das als Muster geseUt ist und wirklich für alle grauen Enten gilt. für das Andere. das wegen seiner Seltenheit. Aristokratie oder Höhe nicht als Muster gesetzt wird. konsequenterweise nicht gilt. eben weil es ein Schwan ist und anderer Regeln Lauf hat. Von hier aus läßt sich nichts beweisen ... Es bleibt also leutlich völlig unerheblich. wenn sich die Verfahrensweisen. die die reine Mathematik und Newtonsche Naturwissenschaft als allein akzeptiene Erkenntnis möglich machen. auf Gott. Freiheit. Unsterblichkeit. mithin auf die moralischen und religiösen Objekte nicht anwenden lassen und deshalb diesen Erkenntniszusammenhängen den Charakter der empirischen Realität enuiehen": E. Bloch. Geist der Utopie (1918).271/272. 40 "Kants Wendung gegen den metaphysischen .Dogmatismw' sowie seine .kritische' •Allzermalmer-Tätigkeit , gilt nicht der Vernichtung jeglicher Metaphysik. sondern nur ... der rationalistischen Schulmetaphysik seiner Zeit": H. Heimsoeth. Metaphysik der Neuzeit (1929).85; darum soU auch "diese Entgegensetzung ... nicht ... dem Skeptizmw der mit der ganzen Metaphysik kurzen Prozd macht. das Won reden; vielmehr ist die Kritik die norwendige vorläufige Veranstaltung zur Befördetung einer gründlichen Metaphysik als Wissenschaft": I. Kant. Kritik der reinen Vernunft B. XXXV/XXXVI. 41 " ... woraw denn freilich die Einschränkung aller nur möglichen spelru1ativen Erkenntnis der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung folgt. Gleichwohl wird. welches wohl gemerkt werden muß. doch dabei immer vorbehalten. daß wir ebendieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst. wenn gleich nicht erkennen. doch wenigstens müssen denken können". so daß "Kritik ... das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehn. nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst": a. a. O. XXVI/XXVII. "Hieraw fließt nun folgendes Resultat aller bisherigen Nachforschungen: .AUe synthetische Grundsäue apriori sind nichts weiter als Prinzipien möglicher Erfahrung' und können niemals auf Dinge an sich selbst. sondern nur auf Erscheinungen. als Gegenstände der Erfahrung. bezogen werden. Daher auch reine Mathematik sowohl als reine Naturwissenschaft niemals auf irgend etwas mehr als bloße Erscheinungen gehen können. und nur das vorstellen. was entweder Erfahrung überhaupt möglich macht. oder was. in dem es aw diesen Prinzipien abgeleitet ist. jederzeit in irgendeiner möglichen Erfahrung muß vorgestellt werden können": Prolegomena. Werke. Bd. 4.65. 42 I. Kant. Kritik der reinen Vernunft B. 131. 43 "Das: Ich denke muß alle meine Vomellungen begleiten können": ebd .• als Sollen gedeutet bereits von H. Cohen. Kants Theorie der Erfahrung eI885). 139; das ist also ein Imperativ. und zwar ein nicht-kategorischer nicht-hypothetischer. d. h. ein nicht-apodiktischer. nicht-problematischer und zugleich vom pragmatischen (Glücksforderung) verschiedener "assenorischer" Imperativ - also kein "Imperativ der Sittlichkeit". keiner der "Geschicklichkeit" und auch keiner der "Klugheit" • sondern? Zur Einteilung der Imperative vgl. I. Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Werke. Bd. 4.271- 274 und (m. E. ohne Not korrigierend) Erste Ein1eitung in die Kritik der Uneilskraft (gescbr. 1789/90). Werke. Bd. 5. 183. Anm. 1. 44 Instanz ist also das Prinzip Möglichkeit des exakten Ich und seiner Erfahrung. und diese "Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allgemeine Geseu der Natur. und die Grundsiue der emern sind selbst die Gcseue dei leutern": I. Kant. Prolegomena. Werke. Bd.4. 71; so "ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei": a. a. o. 72. und darum. wie H. Cohen da!
Anmerkungen
127
a. a. 0., 222 formulien hat .. Natur nur als Naturwissenschaft gegeben" - die prizisc Interpretation der Kantischen Erscheinungsthese. 4~ I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd.4, 297; .. natura ectypa" im Unterschied zur .. narura archetypa" der Dinge an sich: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Werke, Bd.~, ~o. Die Fundierung von jener in dieser ist nun freilich ein eigenes, dringliches Problem. Die Marburger haben es mit der das .. Denken der Wissenschaft" .. verunreinigenden" .. Sinnlichkeit", an der es diskutien werden muß, radikal eliminien: vgl. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis (1902),11 ff. Dieses Problem kommt überein mit der 00. von E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana 6 (19~4), betonten Frage nach der .. Lcbenswelt als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft" (a. a. 0.,48, vgl. 48 - ~4 u. ff.). M. Heidegger, Kam und das Problem der Metaphysik (1929), hat es im Blick auf die .. Zeit" in der bum stichhaltigen und darum inzwischen korrigienen Meinung. Kant habe sich .. fundamental-ontologisch" .. eine Suecke untersuchenden Weges in der Richtung auf die Dimension der Temporalität" bewegt (Sein und Zeit [1927]. 23). aus der Hand gegeben - die Frage blieb zunächst als KantProblem unOOprochen. Darum ist jetzt im Blick auf den .. Raum" und die .. ttanSzendentale Bewegung" den Kantischen Aussagen zu dieser Frage der (im Husserlschen Sinne) lebensweltlichen Fundierung der exakten Wissenschaften nachgegangen F. Kaulbach, u. a.: Zum Problem des Realraumes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 10 (19~6). 39~ - 410; Kanu Beweis des Daseins der Gegenstinde im Raume außer mir. in: Kant-Studien ~o (19~8/~9), 323 - 347; Die Metaphysik des bumes bei Lcibniz und Kant (1960). 46 Indiz: es gibt kein repräsentatives Kant-Buch des Positivismus bzw. Neopositivismus, sondern nur Kritik von Kantischen Einzeltheoremen (These: Apriorität nur der analytischen, Empirizität aller synthetischen Uneile) unter stillschweigender Voraussetzung allein wissenschafutheoretischer Ziele Kanu unter Abschung von seiner Wissenschaftskritilt. 47 I. Kam, Kritik der reinen Vernunft B, 349ff. 48 G. W. F. HegeI, Wer denkt abstrakt? (0.).), Sämtl. Werke (Glockner). Bd.20. 44~ -4~0.
49 Ich glaube damit in anderer Wendung und im Blick auf den speziellen Fall der Kritik der exakt-wissenschaftlichen Vernunft jene Form der transzendentalen Erkenntnis beschrieben zu haben, die W. Szilasi, ScheUings Anfange und die Andeutung seines Anliegens, in: Studia Philosophica 14 (19~4). ~ 1 - 67, in einer Analyse Kanu und Schellings allgemein als Auseinandersetzung des reinen mit dem empirischen Ich charakterisien hat: .. Das empirische Vermögen erwirkt das Sichanpassen des Menschen an die Welt, das reine Vermögen erlaubt. daß er sich anpaßt, oder nicht anpaßt": a. a. 0., 60; darum .. ist das reine Ich Auseinandersetzung mit dem Schicksal des empirischen Ich ... Die letzte Konsequenz des transzendentalen Sein.svemlndn.isses ist das Nicht-aufgehalten-werden-können ... von der eigenen empirischen Geschichte ... das fracende Rechten (sc. mit dieser) aus eigener Macht, wie machtlos sie auch sein sollte ... Das reine Ich rechtet mit dem Ganzen für die ,künftige Erfahrung' ": a. a. 0 .• 64: transzendentale Erkenntnis klagt durch das reine Ich gegenüber dem empirischen Ich (dem faktischen Stand seiner Dinge) das ein. was - von diesem verleugnet - zu ihm und seiner Wi.rk.lichkeit gehön. ~O Vgl. die berühmte Formulietung von L. Wittgenstein, Tractatus logico-philoso-
128
Anmerkungen
phicus \1951, 26: "Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen", zu der freilich bei Wittgenstein die Aussage gehön: "Ich bin also der Meinung, die Probleme (sc. dessen, was man sagen kann) im wesentlichen, endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wen dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind": a. a. 0.,28. 51 Die scheinbar durchs (exakte) Ich beherrschte und zw Konuollnatur gezähmte Natur wird zugleich zu der, die das Ich beherrscht. Diese "Wiederkehr der Triebnatur" ist der Kern des Herrschaftsversuchs der exakten Vernunft. Nicht, daß die exakte wissenschaftliche Vernunft das Ganze haben will, sondern, daß sie damit dieses Ganze faktisch der Triebnatur und dem Interessendenken überläßt, ist das eigentlich Fragwürdige; und wo Wissenschaftskritik tut, was sie tun soU te , wird sie nicht den "Rationalismus", sondern diesen latenten "Irrationalismus" des Dogmatismus der exakten Vernunft, d. h. einer jeden An von exaktem Positivismus zum Gegenstand ihrer Kritik machen. 52 "Endzweck ist derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf": 1. Kant, Kritik der Uneilslc.raft (1790), Werke, Bd. 5,514; "Endzweck ist bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft und kann aus keinen Datis der Erfahrung zu theoretischer Beuneilung der Natur gefolgen. noch auf Erkenntnis derselben bezogen werden. Es ist kein Gebrauch von diesem Begriffe möglich. als lediglich für die praktische Vernunft unter moralischen Geseuen; und der Endzweck der Schöpfung ist diejenige Beschaffenheit der Welt. die zu dem, was wir allein nach Gesetzen bestimmt angeben können. nämlich dem Endzweck unserer reinen praktischen Vernunft. und zwar sofern sie praktisch sein soll. übereinstimmt": a. a. 0., 536; in diesen Zusammenhang gehön der Begriff des "höchsten Guts", so daß "Glückseligkeit. ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wen der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein) ausgeteilt. das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen": Kritik der praktischen Vernunft (1788). Werke, Bd. 5, 121; vgl. 117ff. 53 1. Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Werke. Bd. 4. 27off. 54 I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft. a. a. 0 .• 35 ff. 55 A. a. 0 .• 48ff. 56 Unter Bezug auf die sog. zweite und dritte Formel (in der Zählung von Grundle· gung. a. a. 0 .• 295): "Handle so. daß du die Menschheit. sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern. jederzeit zugleich als Zweck. niemals bloß aIl Mittel brauchest": a. a. 0.,287; "Handle nach Maximen eines allgemein gescu· gebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reich der Zwecke": a. a. 0 .• 297. 57 Die - primär in der zumeist wenig gründlich gefühnen Auseinanderseuung mil der sogenannten Staatsapotheose Hegels - einerseits teils (in dcn pluralistischer Theorien: v. Gierke, Laski) temperien. teils (manisti.sch) radikal zugunsten dei "Gesellschaft". andererseits teils romantisch. teils theologisch (in der Kierke· gaard-Tradition). teils existenz philosophisch zugunsten des "Einzelnen" angc· griffcn wird. 58 In dcr Idealismus- und Humanismuskritik vor allem der dialektischen und perso· nalistischen Theologie. 59 Aus dcm einschlägigen Material H. Vaihingers. Die Philosophie des Als-ol (1911). bes. 647 -656. müssen ja nicht unbedingt die ftktionalistischen Konse quenzen gezogen werden; freilich ist auch dic cntgegengeseute Intcrpretatiol
Anmerkungen
129
des Als-ob durch G. Krüger, der Mensch nehme das Sittengesetz "bedingungslos an ... als hätte (er) es selbst gegeben": Der Maßstab der Kantischen Kritik, in: Kaot-Studien 39 (1934), 169, schwerlich stichhaltig. 60 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2 (hrsg. v. Lasson, Ed. 1948), vgl. bes. Die Objektivität, Teleologie 383 ff. sowie Die Idee 407 ff. ; dazu Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrlß (1817: Heidelberger Enzyklopädie), Sämtl. Werke (Glocmer), Bd. 6, 126 - 128: "Die teleologische Beziehung ist der Schluß, in welchem sich der subjektive Zweck mit der Objektivität durch eine Mitte zusa.rnmenschließt, welche die Einheit beider, als die Zweckmäßige Tätigkeit, und als die unter dem Zweck unmittelbar gesetzte Objektivität, das Mittel ist ... Diese nach außen gekehne Tätigkeit bezieht sich als die im subjektiven Zwecke ... unmittelbar auf das Objekt, und bemächtigt sich dessen. als eines Mittels. Der Begriff ist diese unmittelbare Macht ... Die ganze Mitte ist nun diese - innere Macht des Begriffes als Tätigkeit. mit der das Objekt als Mittel unmittdbar vereinigt ist ... Daß ... der subjektive Zweck. der die Macht dieser Prozesse ist. worin das Objektive sich aneinander aufhebt, selbst außer ihnen und das in ihnen sich erhaltende ist, ist die List der Vernunft ... Im Begriff hat sich aber der Zweck realisien ... Was in dem Realisieren des Zwecks geschieht. ist nur. daß seine eigene Subjektivität und der bloße Schein der objektiven Selbständigkeit aufgehoben wird. In Ergreifung des Mittels setzt sich der Begriff als das an sich seiende Wesen des Objekts ... Dieser realisiene Zweck ist die Idee." Vgl. Enzyklopädie. n. d. Fassung 1830. §§ 206 - 212. Dazu das entsprechende Stück der Rechtsphilosophie: übergang von der Moralität in Sittlichkeit: G. W. F. Hegd. Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821); hrsg. v. Hoffmeister 19n. § 141: .. Das Nähere über einen solchen Übergang des Begriffs macht sich in der Logik vemändlich. Hier nur so viel. daß die Natw des BeschränJcten und Endlichen und solches sind hier das abstrakte. nur sein sollende Gute und die ebenso abstrakte. nur gut sein sollende Subjektivität. - an ihnen selbst ihr Gegenteil. das Gute seine Wirklichkeit. und die Subjektivität (das Moment der Wirklichkeit des Sittlichen) das Gute. haben. aber daß sie als einseitig noch nicht gesetzt sind als das. was sie an sich sind. Dies Gesetztwerden erreichen sie in ihrer Negativität. darin daß sie. wie sie sich einseitig. jedes das nicht an ihnen haben zu sollen. was an sich an ihnen ist. - das Gute ohne Subjektivität und Bestimmung. und das Bestimmende. die Subjektivität ohne das Ansichseiende - als Totalitäten für sich konstituieren. sich aufheben und dadurch zu Momenten herabsetzen, - zu Momenten des Begriffs. der als ihre Einheit offenbar wird und eben durch dies Gesetztsein seiner Momente Realität erhalten hat. somit nun als Idee ist. Begriff. der seine Bestimmungen zur Realität herausgebildet und zugleich in ihrer Identität als ihr an sich seiendes Wesen ist": a. a. 0 .. 140. 61 M. Scheler. Der Formalismw in der Ethik und die materiale Wenethik (1913116): wenn er gegenüber Kant WertfühJen. Wenmaterie und Vernunfuezeptivität einklagt. bleibt m. E. gleichwohl das grundsätzliche Problem der Vernunftohnmacht bestehen - dem sich Schder in seiner Weise gestellt hat: vgl. Anm.68. 62 So ließe sich Hegels Kritik der praktischen Philosophie Kants zwammenfassen. Vgl. G. W. f. Hegel. Encylopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (hrsg. v. Hoffmeister ~1949). 82/83: "Die Idee ... wäre. daß die von der Vernunft bestimmte Allgemeinheit. - der absolute Endzweck. das Gute. in der Welt verwirklicht würde . . . Allein das Gute. - worin der Endzweck der Welt gesetzt wird. ist von vornherein nur als unser Gutes. als das moralische Gesetz
130
Anmerkungen
unserer praktischen Vernunft bestimmt; so daß die Einheit weiter nicht geht als auf die Übereinstimmung des Weluustandes und der Weltereign.isse mit unserer Moralität. Außerdem daß selbst nUt dieser Bestimmung der Endzweck, das Gute ein bestimmungsloscs Abstralctum ist ... Näher wird gegen diese Harmonie der Gegensatz, der in ihrem Inhalte als unwahr gesetzt ist, wieder erweckt und behauptet, so daß die Harmonie als ein nur subjektives bestimmt wird, - als ein solches, das nur sein soll, d. i. das zugleich nicht Rea.litit hat ... Wenn dieser Widerspruch dadurch verdeckt zu werden scheint, daß die Realisierung der Idee in der Zeit, in eine Zukunft, wo die Idee auch sei, verlegt wird, so ist solche sinnliche Bedingung wie die Zeit das Gegenteil vielmehr von einer Auflösung des Widerspruchs, und die entsprechende Verstandesvorstellung, der unendliche Progreß ist unnUttelbar nichts als der perennierend gesetzte Widerspruch selbst. " 63 Vor allem: I. Kam, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); Zum ewigen Frieden (1795); vgl. außerdem: Der Streit der Fakultäten in drei Abschnitten (1798), dortselbst: Zweiter Abschnitt. Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen. Erneuene Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fonschreiten zum Besseren sei? Werke, Bd. 7, 389 - 407. Zur These der erstgenannten Schrift vgl. Werke, Bd. 4, 161: "Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zweck, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann." A. a. 0., 155: "Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen". A. a. 0., 164: "Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschenganung abziele, zu bearbeiten. muß als möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden." 64 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Werke. Bd. 5. 13 2 ff.; Dj~ Rdigion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), bes. Drittes Stück: Der Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden, Werke, Bd. 6, 235 - 295. 65 "Ein solches Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regeln der kategorische Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zustande kommen, wenn sie allgemein befolgt würden. Allein, obgleich das vernünftige Wesen darauf nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich diese Maxime selbst pünktlich befolgte, darum jedes andere ebenderselben treu sein würde, im gleichen, daß das Reich der Natur und die zweckmäßige Anordnung desselben, mit ihm als einem schicklichen Gliede zu einem durch ihn selbst möglichen Reich der Zwecke zusammenstimmen, d. i. seine Erwartung der Glückseligkeit begünstigen werde, so bleibt doch jenes Gesetz ... in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist": I. Kam, Grundlegung, Werke, Bd. 4,297; die Moralität muß von der unsicheren Verwirklichung des Endzweckreiches unabhängig um ihrer selbst willen bestimmend sein. "So wesentlich es ist, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben, wie denn die Erkenntnis des Willens erst dwch die Kantische Philosophie ihren festen Grund und Ausgangspunkt durch den Gedanken seiner unendlichen Autonomie
Anmerkungen
131
gewonnen hat ...• so sehr seUt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts. der nicht in den Begriff der Sittlichkeit übergeht. diesen Gewinn zu einem leeren Formalismw und die moralische Wissenschaft zu einer Rederei von der Pflicht um der Pflicht willen herunter": G. W. F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts. a. a. 0 .• 120. 66 Die mindestens seit den 60er Jahren (1764: Beobachtungen über das GdühJ des Schönen und Erhabenen) manifesten überlegungen Kanu zur Ästhetik scheinen zunächst und auch nach ihrer weiteren Veniefung (vgl. Brief an Herz v. 21. 2.1772) mehr beiläufig; offenbar erst - aberauch sogleich - nach Abschluß der Kritik der praktischen Vernunft gerät das ästhetische Problem zu dem einer dritten Kritik (Briefe u. a. an Schüu v. 25.6. 1787. an Reinhold v. 28. 12. 1787). Bemerkenswen ist nun dabei außerdem. daß erst während der Arbeit an dieser dritten Kritik. die noch Ende 1787 einzig eine .. Kritik des Geschmacks" sein sollte (Brief an Herz v. 24.12.1787). das Problem der Natuneleologie hinzugezogen wird (erwa Frühjahr 1789; vgl. Brief an Reinhold v. 12.5. 1789). Knapp zusammenfassend darüber K. Vorländers Einleitung zw Uneilskraftkritikawgabe der Philos. Bibliothek (61924. Abdr. 1948. IX - XIII). lnsges. zu Kants dritter .Kritik , außer dem zitienen Werke A. Baeumlers (vgl. Anm. 10) u. a.: H. Cohen. Kants Begründung der Ästhetik (1889); O. Schlapp. Kanu Lehre vom Genie und die Entstehung der Kritik der Uneilskraft (1901); R. Odebrecht. Form und Geist. Der Aufstieg des dialektischen Gedankens in Kants Ästhetik (1930); W. Bieme!. Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst (1959). 67 Um emen solchen. um Sachzwang handelt es skh bei dieser Wende. nicht um das Ausfüllen einer .. Lücke im Gedankengebäude"; aw .. geschichdichen" Gründen wird für die Frage nach dem Menschen die Uneilskraftkritik nötig; es ist nicht so. daß Kant ein .. noch nicht berücksichtigtes" Vermögen .. auch noch" hat behandeln und eine Ästhetik und Teleologie .. auch noch" hat bearbeiten wollen - oder gar unter Symmetriezwang hat bearbeiten müssen - und so (aw Komplettierungsgründen) schJießlich auch noch eine Kritik der Uneilskraft schrieb: Kant war kein Knecht der Maxime .. jedem Vermögen sein Buch"; nicht das .. System" als ein vom geschichtlichen Denkweg unabhängig vorgegebenes Denksoll bestimmt Kants Denken und die Awwahl und Reihenfolge seiner Probleme - davon kann keine Rede sein; vielmehr umgekehn: diese Route des Denkens legt fest. was zum System gehön und was nicht. Die Vorstellung vom philos. System als einem Gefüge fixer Ressons. durch die fast beliebig hindurchgcwechselt werden kann. und die jeder Philosoph. der auf sich hält. komplett durchlaufen müsse. ist durchaw problematisch. Warum gehön z. B. 1790 - also zu einer üit. wo der Awdruck .. ästhetisch" bedeurungsmäßig noch gar nicht festliegt (vgl. Kritik der reinen Vernunft B 35 Anm. 1) und die großen Kunsrwerke und Künstlerrdlexionen der deutschen Klassik gerade erst hervorueten. wo aber andererseits die Königl. preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin längst die innerhalb von 10 Jahren zweite und (u. a. von Herder) heftig diskutiene sprachphilosophische Preisfrage (1769: nEn supposant les hommes abondonnb i leur facultb naturelles. sont-ils en ttat d'inventer le langage? et par quels moyens parviendront-ils d'eux-memes acette invention?") gestellt hatte. und wo längst (obzwar unpublizien) - vgJ.). G. Hamann. Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784) - die Sprachphilosophie gegen Kant eingeklagt war: warum gehön zu dieser üit bei Kant (offenbar nicht bei allen Philosophen) nun eben gerade doch
132
Anmerkungen
nicht die Sprachphilosophie. wohl aber die Ästhetik zum .. System"? (Um hier über den geschichtlichen On des System-Begriffs gar nicht zu reden). Was je zum System gehön. liegt offenbar nicht ein für allemal fest: gerade für eine Philosophie. die wie die Kantische im Begriff ist. sich von der "Schule" und ihrer Disziplinengliederung freizuleben und zu einem .. Weltbegriff" der Philosophie fonzugehen. ergibt sich das nicht aw einem immutablen philosophischen Pflichtpensum: das .. System" ist nicht Instanz. sondern Produkt des Problemwegs. 68 ..... ihr Zweck ist •... den verkehnen Weltlauf wieder zu verkehren und sein wahres Wesen hervorzubringen. Dies wahre Wesen ist an dem Weltlaufe nur erst als sein Ansieh: es ist noch nicht wirklich. und die Tugend glaubt es daher nur ... denn sie will das Gute erst ausführen und gibt selbst es noch nicht für Wirklichkeit aw ... denn sonst würde es nicht durch Bezwingung seines Gegenteils sich erst seine Wahrheit geben woUen": Hegel. Phmomenologie des Geistes. a. a. 0 .• 276/277: aber .. diesem Feinde ist ... seine Kraft also das negative Prinzip. welchem nichts bestehend und absolut heilig ist. sondern welches den Verlwt von allem und jedem wagen und enragen kann": a. a. 0 .• 278/279: darum .. hat die Tugend ihren Glauben an die ursprüngliche Einheit ihres Zwecks und des Wesens des Weltlaufes in den Hinterhalt gelegt. welche dem Feinde während des Kampfes in den Rücken fallen ... soll": a. a. 0 .• 277: freilich was diesen "Hinterhalt betrifft. aus welchem das gute Ansieh dem Weltlaufe listigerwcise in den Rücken fallen soll. so ist diese Hoffnung an sich nichtig. Der Weltlauf ist das wache. seiner selbst gewisse Bewußtsein. das nicht von hinten an sich kommen läßt": a. a. 0 .. 279; nicht also dieses durch Zurückgesetztsein dominieren wollen. nicht dieser listig-indirekte Rigorismw. sondern die ruhig heitere .. List. die der Tätigkeit sich zu enthalten scheinend. zwieht. wie die Bestimmtheit und ihr konkretes Leben darin eben. daß es seine Selbsterhaltung und besonderes Interesse zu treiben vermeint. das verkehne. sich selbst auflösendes und zum Moment des Ganzen machendes Tun ist": a. a. 0 .. 46. ist diejenige List. die der Tendenz und Absicht nach auch Kants Uneilskraftkritik prägt und bestimmt - und die übrigens auch M. Scheler - vgl. Die Stellung des Menschen im Kosmos ("1947). 74: "den Geist ... in Tätigkeit zu setzen und zu verwirklichen. vermag das Leben allein" - trotz seiner Abwehr des Hegelschen Gedankens der Vernunftlist (vgl. Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926J. 32; insges. 30ff.) mit seiner an Freud anknüpfenden Sublimierungstheorie im Blick hat: gegen Scheler ist dabei m. E. nicht sowohl geltend zu machen. daß der Geist .. mächtiger" • sondern. daß er am Ende .. ohnmächtiger" sein könnte. als Scheler ansetzt. der ihm die Kraft der .. Leitung und Lenkung" (a. a. 0 .. 31) zwprach. und daß Hegel gerade dies mit seiner Lehre von der List der Vemunft - die er eben vom listigen Hinterhalt der absuakten Tugend gegen den Weltlauf unterschied - in Rechnung stellen wollte: nicht trotz. sondern wegen .. dieser souveränen Gleichgültigkeit der Reaigeschichte ... gegen die Geistesgeschichte und gegen die Forderung ihrer Sinnlogik" (a. a. 0 .. 33) muß die Vernunft auf dem Wege der List sich verwirk.lichen und auch gerade und schon bei Kant manifestien sich das durch die Problematik der Uneilskraftkritik.
69 Auf das aus diesem Zwammenhang zwangsläufig sich ergebende Problem des Reflektierendseins der Uneilskraft. das der "zweck.losen" Zweckmäßigkeitsstcukturen. und auf das ganze Problem der "Technik der Natur" - Kritik der Uneilskraft. Werke. Bd.~. 467ff. - das G. Lehmann (Kants Nachlaßwerk und die
Anmerkungen
70 71 72 73 74
n 76
77
78
79
133
Kritik der Uneilskraft [1939]) so erhellend bis ins .Opus postumum' verfolgt hat (vgl. H. Heimsoeth. Kants Philosophie des Organischen in seinen letzten Systementwürfen. in: Blätter für deutsche Philosophie 14 [1941]. 81-108) - in ihrem Verhältnis zum .. Naturmechanism " • und die damit zusammenhängende. für den Fichte-Schellingschen Zusammenhang .. inteUektuelle Anschauung" zenual gewordene Frage des .. anschauenden Verstandes" (!Cant. a. a. 0 .. 479ff.) kann selbstredend nicht auch nur andeutungsweise hier eingegangen werden. I. !Cant. Kritik der Uneilskraft. Werke. Bd.~. 269-433. .. Die Definition des Geschmacks. welche hier zum Grunde gelegt wird; ist: daß er das Vermögen der Beuneilung des Schönen sei": a. a. 0 .• 271. Anm. 1. .. Als einer An von sensus communis": a. a. 0 .• 367. A.a.O .• 31Hf. .. Alle Hypotypose (Darstellung. subjectio sub adspectwn) als Versinnlichung. ist zwiefach: entweder schematisch ... ; oder symbolisch. da einem Begriffe. den nur die Vernunft denken. und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann. eine solche unterlegt wird": a. a. 0 .. 428. .. Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit": a. a. 0 .. 428 - 431; .. das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten; und (es) ... ist das Intelligibde. worauf ... der Geschmack hinaussieht": a. a. 0 .. 430. Das Problem dieses Stücks: es .. ist das sittlich Gute etwas dem Objekte nach Übersinnliches, für das also in keiner sinnlichen Anschauung" - nirgends in der .. Sinnenwelt" - "etwas Korrespondierendes gefunden werden kann. und die Uneilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft scheint daher besonderen Schwierig1:eiten untetworfen zu sein. die darauf beruhen. daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen als Begebenheiten. die in der Sinnenwelt geschehen und also sofern zur Natur gehören. angewandt werden soU. Allein ... es ist bei der Subsumtion einer mir in der Sinnenwelt möglichen Handlung unter einem reinen praktischen Gesetze nicht um die Möglichkeit der Handlung als einer Begebenheit in der Sinnenwelt zu tun" (a. a. 0 .. 76). sondern um ihre Beuneilung .. als durch (meinen) Willen möglich" (a. a. 0 .. 77) - und dazu bedarf es einer An Versinnlichung. eines .. Typus der Beuneilung der ersteren nach sittlichen Prinzipien" (ebd.): der Typus ist ein Mittel der Beuneilung für die Handlung (Realisierung) - und gerät alsbald in die Gefahr. ein Mittel zu werden der Beuneilung statt der Handlung. Ausführliche Interpretation der .. Typik" (von der hier zugrundegelegten durchaus abweichend) bei G. Krüger. Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik (1931). 79ff. Als Indiz kann die Flut der alsbald folgenden (ästhetischen ) Symbol-Theorien und Symbol-Reflexionen gelten. die eben deswegen entstehen. weil dieses Symbolisieren problematisch wird und das .. Symbol" längst unterwegs ist auf dem Wege seiner Verwandlung zum .. Symptom". Diese Natur ist in der Uneilskraftkritik dreifach thematisch: erstens als das .. Schöne der Natur" (a. a. 0 .. 31~ff.• bes. 352ff.), zweitens als die Natur. die durchs Genie .. der Kunst die Regel gibt" (a. a. 0 .. 382; vgl. 381 ff.). drittens als das .. System" der .. Narunwecke" gmannten (a. a. 0 .• 447ff.) Dinge. wobei ein Naturzweck als .. Analogon des Lebens" (a. a. 0 .. 4~2) gefaßt und .. als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen" (ebd.) bestimmt wird. d. h. als .. organisienes Produkt der Natur ... in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist" (a. a. 0 .• 4~4). A. a. 0 .. 43~ - ~68.
134
Anmerkungen
80 Vgl. insbes. G. Lukics. Beiträge zur Geschichte der Ästhetik (19~4). II - 96; B. v. Wiese. Friedrich Schiller (19~9). 00. 446 - ~06. 81 Motto des Horendrucks (1794) der Briefe awJ.J. Rousseau. Julie ou 1a nouvelle HEloise. T. 3. Br. 7. 82 Schillers Sämtliche Werke. Säkularausgabe. Bd. 12. 29. 83 Weil .. man. um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen. durch das ästhetische den Weg nehmen muß. weil es die Schönheit ist. durch welche man zu der Freiheit wanden": a. a. 0 .• 7. 84 A. a. 0 .• ~2ff. 8~ Denn der .. ästhetische Staat". von dem abschließend die Rede ist. hat mit dem politischen kaum noch etwas gemein; prekär aistien er .. dem Bedürfnis D2Ch ... in jeder feingestimmten Seele; der Tat nach ... in einigen wenigen awerlesenen Zirkeln": a. a. 0 .• 120. 86 .. die Dichter sind überall. schon ihrem Begriffe nach. die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht mehr sein können und schon in sich selbst den zemöreoden Einfluß willkürlicher und künstlicher Formen erfahren ... haben. da werden sie als die Zeugen und die Rächer der Narur auftreten": a. a. 0 .. 183. d. h. nicht mehr als .. naive" • sondern als .. sentimentalische Dichter" . 87 .. Ihre Wirklichkeit ist bloße Möglichkeit": S. Kierkegaard. Ober den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (übers. v. Schaeder 1929). H4. Der Ironiker. d. h. der Romantiker .. steht stolz in sich selber verschlossen. Er läßt die Menschen. wie Adam die Tiere. an sich vorbei passieren und findet keine Gesell· schaft für sich": a. a. 0 .. 237/H8; .. denn die Wirklichkeit. die ihm Inhalt geben soll. ist nicht da": a. a. 0 .. 219 usf. - und (obwohl er sie sucht) er will sie auch gar nicht: .. er will nicht mit der Aufgabe einer konk.reten Realisierung belästigt werden ... Der Romantiker weicht der Wirklichkeit aus. aber ironisch und mit der Gesinnung der Inuige ... Das Ergebnis der subjektivistischen Vorbehalte war. daß der Romantiker die Realität. die er suchte. weder in sich selbst. noch in der Gemeinschaft. noch in der weltgeschichtlichen Entwicklung. noch. solange er Romantiker war. im Gott der alten Metaphysik finden konnte. Aber die Sehn· sucht nach der Realität verlangte eine Erfüllung. Mit Hilfe der Ironie konnte er sich vor der einzelnen Realität schützen. Sie war jedoch nur die Waffe. mit der das Subjekt sich veneidigte. Die Realität selbst war subjektivistisch nicht zu errin· gen": C. Schmitt. Politische Romantik eI92~). 10~/107 (deren eigentliche These hier nicht diskutien werden kann; entsprechend bleibt der Romantikbegriff in unserem Zusammenhang recht unbestimmt): darum der Zug zur Natur. Daß nun aber auch die Natur unter der Bestimmung .. Möglichkeit" (im Unterschied zur Verwirklichung) steht. gehön zu den entscheidenden Charakteren dieser Roman· tiknatur - zu ihren Schwierigkeiten und. für den Romantiker. zu ihren großen Vorzügen: die romantische Qualität der Natur ist ihre Feme: .. das .Wahre , . .Echte' bedeutet die Ablehnung des Wirklichen und Gegenwänigen und ist schließlich nur das Anderswo und Anderswann. das Andere schlechthin. Die natur· ... philosophischen Konstruktionen. mit denen sie das Universum hand· habten. konnten sie als konkret existierende Menschen nicht für die Realitäten halten. die Wone. die sie gebrauchten. waren substanzlos. weil sie immer nur von sich selbst. nicht von den Gegenständen sprachen": a. a. 0 .. H2; .. Das ist es. Der Umgang mit der Natur ist in der Tat bei dem Romantiker Umgang mit sich selbst ... Alles kann zu einer handlichen Figuration des sich mit sich selbst beschäfti· genden Subjekts gemacht werden": a. a. 0 .• 110; .. Er kann nicht anders als sich
Anmerkungen
135
mit sich selbst beschäftigen, mag er nun Asuologie (oder heute Psychoanalyse oder in einiger Zeit vielleicht wieder Astrologie) ueiben oder seine Ablehnung des Ästhetentums der Andem stilisieren": a. a. 0., 176 - und so wird die Frage dringlich: was wird aus der romantisch gerufenen Natw, wenn sie sich alsbald weigen, die nur "feme" zu sein, und wenn sie sich alsbald weigen, durch die Bestimmung "Ich mit anderen Mitteln" ausgesagt zu sein? 88 So "daß man von der Freiheit und konstitutiven macht des Ich ausgehend, anstatt zu einer noch höheren Geistigkeit zu kommen, nur zw Sinnlichkeit, also zu deren Gegensatz kommt": Kierkegaard, a.a.O., 252.
Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst 1 Hegel, Ästhetik, ed. F. Bassenge, Frankfun 0.)., Bd. 1 p. 22. 2 Freud, Gesammelte Werke, ed. M. Bonapane, A. Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris, O.lsakower, tondon, 1940 sq., Bd. 10 p. 269 (Das Unbewußte, 1913); vgl. Bd. 2/3 p. 620 (Die Traumdeutung, 19(0); Bd. 13 p. 242 Anm. 1 (Das Ich und das Es, 1923). 3 Vgl. Freud, ed. eit. Bd. 13 p. 228 (Psychoanalyse und Libidotheorie, 1923): "Als die Analyse der Träume Einsicht in die unbewußten seelischen Vorgänge gab und zeigte, daß die Mechanismen, welche die pathologischen Symptome schaffen, auth im normalen Sederueben t2tig sind. wurde die Psychoanalyse zur Tiefenpsychologie und als solche der Anwendung auf die Geisteswissenschaften fähig." Vgl. Bd. 14 p. 88 (Selbstdarstellung. 1925). 4 Freud. ed. cit. Bd. 13 p. 239 (Das Ich und das Es, 1923). 5 Freud, ed. eil. Bd. 10 p. 53 (Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, 1914): .. Den hohen Genuß der Werke Nieusches habe ich mir dann in späterer Zeit mit der bewußten Motivierung versagt. daß ich in der Verarbeitung der psychoanalytischen Eindrücke durch keinerlei Erwanungsvorstellung behinden sein wollte." Vgl. Bd. 14 p. 86 (Selbstdarstellung, 1925): .. Nietzsche ... dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden; an meiner Priorit2t lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit." 6 E.)ones. Sigmund Freud. Life and Work. New York. 1954 sq., Bd. 2 p. 385: .. The Vienna Society held discussions on Nietzsche's writings on April 1 and october 28. 1908. On the first occasion Hitschmann read a section ofNietzsche's Genealogie der Moral and raised several questions for discussion. Freud related ... Nietzsche had in no way iofluenced his ideas. He had tried to read him. but found his thought so rich that he renounced the attempt. " 7 R.). Brandt, freud and Nieusche: a comparison. in: Revue de l'Universitf d'Ottawa, Bd. 25, 1955, p. 225 - 234. 8 Ober Freuds Nietzsche-Verhältnis 12ßt sich z. Z. erwa folgendes sagen; ,Freuds Nieusche' ist: a) der aus Sekundirliteratur (meist unkorrekt) zitiene Nietzsche: vgl. erwa Freud, ed. eit .. Bd. 2/3 p. 554; Bd.4 p. 162 Anm. 2; wiederholt Bd. 7 p. 407; Bd. 10 p.391;
136
Anmerkungen
b) der in der zeitgenössischen Salondiskussion durch Grundwone präsente Nieusche; vgl. etwa Obcnnensch Bd. 13 p. 138; Ewige Wiederkehr des Gleichen. Brief an Fcrenczi v. 16.12.1917; außerdem Bd. 13 p. 21; Es (mit Hinweis aufG. Groddeck) Bd. 13 p. 251 Anm. 2 und Bd. 15 p. 79; Umwenung aller Wene: Reflexion von 1897. zit. Jones op. eit. Bd. 1 p. 390/391; c) der Nietzsc.hc in der Vennittlung durch Nietzsche und Freud gemeinsam persönlich nahestehende Menschen. etwa: Lou Andreas-Salomc (1911 Weimar. ab 1912 Wien); vgl.Jones op. eil. Bd. 3 p. 227: .. He - d. i. Freud in einem bisher ungedruckten Brief an A. Zweig vom 11. 2. 1937 - described her as the only real bond between Nietzsche and himself"; ein solches Band aber war auchJ. Paneth: vgl. Anrn. 10; d) der im Gespräch der näheren Freud-Umgebung prä.sente Nietzsche. Zum frühen Freud-Kreis gehönen neben Hitschmann (vgl. Anm. 6) H. Sachs (der 1911 in Weimar gegenüber E. Förster-Nietzsche .. commented on the similarity betwecn same of Freud's ideas and her famous brother's": Joncs op. eit. Bd.2 p.97). Th. Reilc und O. Rank: also mindestens drei Mitglieder. die unennüdlich mit enormem Sammelfleiß damit beschäftigt waren. allüberall im Bereich der Geisteswissenschaften Anwendungsgebiete. Parallelen. Vorläufer der Psychoanalyse zu entdecken; das gelang oft nur mit Hilfe sehr fragwürdiger Interpretationen. Immerhin: Freud hat ihren mündlichen Berichten gewiß auch über Niewche schwerlich ausweichen können. Dazu kam - bis 1911 - A. Adler. der ja ausdrückJich Anschluß an Ideen Nietzsches suchte - .. Nietzsches .Wille zur Macht' und .Wille zum Schein' umfassen vieles von unserer Auffassung" in: Ober den nervösen Charakter, München und Wiesbaden 1912, 1922, p.5 - und von C. G.Jung mit Recht als Exponent eines Nietzsche-Flügels der Psychoanalyse gedeutet wurde: Ober die Psychologie des Unl>ewußten. 1916. 61948. p. 54 sq. Adler hat bei Freud Nietzsche zweifellos ebensosehr geltend gemacht wie seine Rezeption blockien: Freuds Bruch mit Adler (1911) hat Freuds Bereitschaft. sich für Nietzsche ausführlicher zu interessieren oder gar sich zu ihm zu bekennen. ohne jeden Zweifel beeinträchtigt. Prä.sent war Nietzsche dann späterhin durch G. Groddeck und A. Zweig; vgl. Freuds Briefe an Zweig. Jones op. eit. Bd.3 p.488-490 und Freud. Bride 1873-1939. ed. E.L.Freud. Frankfun 1962. p. 414. Freilich: welcher Nietzsche im Freud-Kreis präsent war. wird näherhin nur sagen können. wer die in diesem Kreis gelesenen Nieusche-Werke und -Bücher aufspün und die Nietzsche-Zitierungen im c:ruvre dieses Kreises sichtet: eine Arbeit. die noch zu tun ist. 9 J. Breuer I S. Freud. Ober den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. eingegangen in ihre Studien über Hysterie. 1895. 10 Vgl. Jones op. eit. Bd. 3 p. 489: sonst ungedruckter. don in eng I. Obers. vorgelegter Brief Freuds an A. Zweig vom 11. 5.1934: A Friend of mine. Dr. Paneth. had got to know him (sc. Nieusche) in the Engadine and he used to write me a lot about him. Ober das Verhältnis von Joscf Paneth (1857 - 1890) zu Frcud geben Briefe Frcuds an Martha Bernays und ihre Familie zwischen dem 22.8.1883 und 24.10.1887 Auskunft; vgl. Freud. Briefe von 1873 -1939, cd. cit .• bcs. p. 102 sq. 11 E. Förster-Niewche. Das Leben Friedrich Nieusche's. Bd. 2.2, 1902. p. 481 und p. 484; vgl. insgesamt p. 481 -493. 12 E. v. Hanmann. Philosophie des Unbewußten. 11 1923 p. IX. 13 C. G. Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. 1846 -1860. ed. L. Klagcs.Jena 1926. p. 1.9.39 u. iw.; es war - meint Carus - ein Imum. eine
Anmerkungen
14
1~ 16 17 18 19 20 21
137
.. Scheidewand zwischen Unbewußtem und Bewußtem zu errichten, wodurch man bewogen wurde, vom Bereich der Seele abzutrennen, was ... außcrhaib des Bewußtseins lag .. , daß man nichts als Seele gelten lassen woUte, dem dieses Vermögen nicht zugesprochen werden konnte": p. 1; denn: .. AUes Seelenleben ... ruht auf dem Bewußtlosen"; es gilt, .. das unbewußte Seelenleben als 8asis des bewußten zu erkennen": 1. c., .. und unser Dasein geistig zu rekonstruieren von dem bewußten Sein ins Unbewußte zwück": p. 3. ScheUing, Sämtliche Werke, ed. K. F. A. Schelling, Stungan und Augsburg 18~6-61. Bd. 10 p. 93; wir haben .. die feste überzeugung von der Realität der Dinge außer uns ... weil wir uns des Vermögens ihrer Produktion nicht bewußt werden": 1. c. (Zur Geschichte der neueren Philosophie. 1821 sq.); das ist - dazu A. Gehlen. über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd.40. 19~21H. p. 340 - zugleich die .. Fichtesehe Formel von der. verlorenen Freiheit' • von der Entfremdung und anscheinenden täuschenden Selbständigkeit und Übermacht des von uns Erzeugten. In psychologischer Anwendung ist diese Fichtesche Formel ... wdtpopulär geworden: in Freud. Denn was sind die Träume. die Ticks. die unüberwindlichen Zwänge und überhaupt das ganze neurotische Arsenal anders. als bewußtlose Produkte der Selbsttätigkeit des Ich. die sich ihm entfremden und als Übermacht gegenübertreten. und die nun die Analyse auflöst. indem sie sie •bewußtmacht , • in ihrer Genesis und Entstehungsgeschichte nachvollzieht. so die Freiheit und Verfügungsgewalt des Ich über seine eigenen Nachtgebunen wiederherstellend?" Kritik der reinen Vernunft 8. p. 103. Schdling. op. eit. p.93/95. Schelling, cd. eit. Bd. 8 p. 201 (Die Wdtalter. 1813). Ed. cit. Bd. 3 p. 391 (System des transzendentalen Idealismus, 1800). Op. eit. p. 34~. Op. eit. p. 3~1. Vgl. M. Dorer. Historische Grundlagen der Psychoanalyse. 1932; vgl. Verf.: über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19.Jahrhunderts. in: Literatur und Gesellschaft (Fcstschr. 8. v. Wiese). 1963. p.22-~5.
22 Vgl. Th. Mann. Die Stellung Freuds in der modemen Geistesgeschichte. Gesammelte Werke. Bd. 10 p. 278: .. Es gibt eine selbständige Abhängigkeit; und von dieser An sind offenbar die höchst merkwürdigen Beziehungen Freuds zur deutschen Romantik - Beziehungen. deren Merkmale fast auffälliger sind als die seiner unbewußten Herkunft von Nieusehe, bisher aber wenig kritische Würdigung erfahren haben ... 23 Hegd, Ästhetik. ed. eit.. Bd. 1. p. 498 - ~84. 24 Op. eit. p. ~O~. 2~ Hegd, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. cd. H. Glockner, Stungan, 1927 sqq., Bd. 1 p. 2811282 (Glauben und Wissen. 1802). 26 Hegd, Ä.sthetik. ed. eit. Bd. 1 p. 192. 27 Op. eit. p. 256. 28 Op. eil. p. 2~~. 29 Op. eit. p. 508. 30 Hegd, Grundlinien der Philosophie des Rechts. 1821. cd. J. Hoffmeister. Harnburg. 419~~. p. 7. 31 Heget, Ästhetik, ed. eit. Bd. 1 p21; vgl. p.22: .. es ist unsere Gegenwan ihrem
138
Anmerkungen
allgemeinen Zustande nach der Kunst nicht günstig. Selbst der ausübende Künstler ist nicht etwa nur durch die um ihn her laut werdende Reflexion ... verleitet und angesteckt. in seine Arbeiten selbst mehr Gedanken hineinzubringen; sondern die ganze geistige Bildung ist von der .Art. daß er selber innerhalb solcher reflektierenden Welt und ihrer Verhältnisse steht und nicht etwa durch Willen und EntschJuß davon abstrahieren oder dwch besondere Erziehung oder Entfernung von den Lebensverhiltni.ssen sich eine besondere. das Verlorene wieder erscuende Einsamkeit erkünsteln und zuwege bringen könnte . . . Was durch Kunstwerke jeut in uns erregt wird. ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Unei! ... Die Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den Zeiten. in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gcwähne. Die Kunst ladet uns zu denkender Beuachtung ein. und zwar nicht zu dem Zwecke. Kunst wieder hervorzurufen. sondern. was die Kunst sei. wissenschaftlich zu erkennen." Kunst wird also für Hegel in der modernen Welt die Gelegenheit. sie zu reflektieren; mit dieser These ist zugleich die weiterführende - bei Hegel nicht ins Auge gefaßte - vorbereitet: daß Kunst sich selber wachsend die Gelegenheit wird. sich selber zu rdlektieren. 32 Op. eit. p. 506. 33 Op. eit. p. 581. 34 Op. eit. p. 508. 35 Op. eit. p. 85. 36 Op. cit. p. 498. 37 Op. eit. p. 110. 38 Vgl. op. cit. p. 21: "nur wenn man es (sc. anders als Hegel) liebt. sich in KlageIl und Tadel zu gefallen. so kann man diese Erscheinung (sc. die Bedeutungsein· buße der Kunst) für ein Verderbnis halten und sie dem Übergewicht von Leiden· schaften und eigennüuigen Interessen zuschreiben. welche den Ernst der Kuns wie ihre Heiterkeit verscheuchen; oder man kann die Not der Gegenwan. der vetwickehen Zustand des bürgerlichen und politischen Lebens anklagen. welche dem in kleinen Interessen befangenen Gemüt sich zu den höheren Zwecken de Kunst nicht zu befreien vergönne. indem die Intelligenz selbst dieser Not un< deren Interessen in Wissenschaften dienstbar sei. wekhe nur für solche Zweck~ Nüulichkeit haben. und sich verführen lasse. sich in diese Trockenheit festzuban nen. " Demgegenüber will Hegel was wirklich ist als vernünftig erkennen und de Kunst auch gegenwänig hohe Stellung geben: 1. c. 39 Op. cil. p. 110. 40 Op. cit. p. 87. 41 Eine ähnliche Weiterführung der Ästhetik Hegels ist Absicht von D. Henrich Poetik und Hermeneutik II. p. 11- 32; vgl. auch p.524sqq. Diesen Aufsat konnte ich erst nach Ausarbeitung meiner Vorlage lesen. Er kommt - mit ~ine These über "Rdlektienheit" und "panialen Charakter" moderner Kunst - ZI weitaus differenzieneren und zweifelsfrei fruchtbaren Ergebnissen. Wohl ir Gegensatz zur von mir verfolgten Intention der Infragestellung ästhetischer Im manenz scheint Henrich eine neue ästhetische Immanenz aufbauen und durc ein Bündnis mit Unvordenklichkeitstatbcständen absichern zu wollen. So sin, ~ine "überlegungen mit Rücksicht auf Hegel" Hegel gegenüber recht rücksicht! los. indem sie zur Philosophie einer "Vermittlung" werden. die "vollzoge werden muß. ohne daß man sich ihrer versichern kann" (p. 20). einer "unVOI denklichen Vermittlung" (p.20. 21. 23. 26). eines "unverfügbaren Grundes
Anmerkungen
42 43 44 45 46
47
48 49 50
139
(p. 17. 20. 22. 23. 24. 25). eines .. ungreifbaren Grundes" (p.21) mit dem .. Charakter der Bedrohung" (p. 21. 22). usf. Henrichs Protest gegen die "Ausflucht in die Fixierung des Gemüts" (p. 22) und seine Philosophie .. unverfügbarer Autonomie" (p. 24) wiU Hegel gegenüber eine Korrekrur der "Defekte" (p. 17) und "Mängel seiner Theorie" (p. 27): es sind - meint er - .. alle Momente. die einer unvordenklichen Vermittlung zugehören. nicht Thema seines Denkens geworden" (p. 20). Das hatzuerst derspäte Schelling gegen Hegel eingewandt. So fällt es mir schwer. Henrichs These primär als Weiterführung Hegels. es fällt mir dagegen leicht. sie als - dessen Ästhetik freilich umwendende - Weiterführung von Denkmotiven des späten Schelling zu lesen; die prinzipieUe Auseinandersetzung mit HeDrich müßte offenbar als Auseinandersetzung mit diesen Motiven geführt werden und - versteht sich - mit dem pflichtschuldigen Bewußtsein. daß oftmals die Attacke nw ein Aggregatzustand der Desenion und der Angriff DW das vorletzte Stadium des Oberlaufens ist. Hegel. op. cit. p. 582. Schelling. ed. eit. Bd. 7 p. 295 (Ober das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. 1807). Hegel. Phänomenologie des Geistes. 1807. ed. J. Hoffmeister. Hamburg '1949. p. 12 sqq .. 20.42 sqq .• bcs. jedoch 55 - H. SchelJing. op. eit. p. 326 und p. 327. Besonders deutlich wird das bei Schellings Versuch. Platon nicht nur in Dingen der Anarnnesislehre. sondern auch in Dingen der Kunstphilosophie als Ahnen anzuwerben: das gelingt nur durch Bagatellisierung der Dichterkritik; vgl. SchdJing. ed. cit. Bd. 5 p. 345 ~qq. (Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. 1803). bcs. p. 346: .. was ist Platos Verwerfung der Dichtkunst. verglichen insbesondere mit dem. was er in anderen Werken zum Lob der enthusiastischen Poesie sagt. anders als Polemik gegen den poetischen Realismus ... ?" Zur Ortsbestimmung der romantischen Genieästhetik hier durchweg: J. Ritter. Philosophische Ästhetik. Milnstersche Vorlesungen 1947 sqq. Einschlägige Geniedefinitionen u. a. von Kant. Kritik der Uneilskraft. 1790. §46: .. Genie ist die angeborne Gemütslage (ingenium). durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt". über Schiller. Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe. Bd. 12 p. 181: es .. ist die Natur ... die einzige Flamme. an der sich der Dichtergeist nähn; aus ihr schöpft er seine ganze Macht" (Ober naive und sentimentalische Dichtung. 1795). bis zu Schelling. ed. cit. Bd.3 p. 612 sqq. (System des transzendentalen Idealismus. 1800). bcs. p.617: Genie produzien dank der .. Gunst seiner Narur"; vgl. u. Anm. 50. Vgl. Kant. op. eit. § 47: .. daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen sei"; so dann auch Kants romantische Schüler. Op. cit. § 46: .. daß es als Natur die Regel gebe ..... Schelling. ed. eit. Bd. 5 p. 349: .. daß die wahren Künstler ... sind ... wie die Natur" (Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. 1803); vgl. im gleichen Bd. p. 460 (Philosophie der Kunst. 1802 - 05): .. dies wird auch in der Idee des Genies gedacht. daß es nach der einen Seite ebenso als natürliches wie von der andern als idecUes Prinzip gedacht wird ... Es ist ein und dasselbe Verhältnis. durch welches in dem ursprünglichen Erkenntnisakt die Welt an sich. und durch welches in dem Akt des Genies die Kunsrwelt ... produzien wird." Vgl. ed. cir. Bd.7 p. 301 (Ober das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. 1807): der .. Künstler ... WoUte er sich ... dem Wirklichen ganz unterordnen. und das
140
Anmerkungen
Vorhandenscin mit knechtischer Treue wiedergeben. so würde er wohJ Larven hervorbringen. aber keine Kunstwerke. Er muß sich also vom Produkt oder vom Geschöpf entfernen. aber nur um sich zu der schaffenden Kraft zu erheben und diese geistig zu ergreifen ... Jenem im Innern der Dinge wirksamen durch Form und Gestalt nw wie durch Sinnbilder redenden Narurgeist soll der Künstler allerdings nacheifern, und nw indem er diesen lebendig nachahmend ergreift. hat er selbst etwas Wahrhaftes geschaffen." Vgl. Schellings Selbstinterpretation p. 321 Anm. I: .. Diese ganze Abhandlung weist die Basis der Kunst und also auch der Schönheit in der Lebendigkeit der Narur nach. " Vgl. insgesamt auchJcan Paul. Vorschule der Ästhetik. 1812. § 3: .. Aber ist es denn einerlei. die oder der Natur nachzuahmen und ist Wiederholen Nachahmen?" (Hinweis von W. Preisendanz) ~I Dieses Problem stellt sich also offensichtlich noch nicht in den .narurwüchsigen' Kulturen. sondern erst in der ,aniflZiellen' Kultw der entwickelten geschichtlichen d. h. fortgeschrittenen modemen Welt. Damit erklärt sich, warum die: Antwon auf dieses Problem, also die Theorie des Unbcwußten, erst don nämlich in der Romantik - zum Zuge kommt. ~2 Schelling. op. eit. p. 300. 53 Schelling. ed. eit .. Bd. 3. p. 612 -629. ~4 Op. eit. p. 616 sqq. ~~ Op. eit. p. 613. ~6 Jean Paul. op. eit. § 13. 57 C. G. Carus. Psyche. cd. eit .• p. 1~8; vgl. p. 242. ~8 Schopcnhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 1819. § ~2. ~9 Vgl. die Naturdiskussion in der frcihcitsphilosophischen Frühphase seiner Spät philosophie bei Schelling. ed. eit., Bd. 7, p. 3~7 sqq. (Philosophische Untersu chungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhän genden Gegenstände. 1809): Natur ist das .. dunkle Prinzip" (p.362 u. ö.) "irrationale Prinzip" (p.374 u. ö.), .. finstere Prinzip" (p.377 u. ö.), .. Chaos' (p.374 u. ö.), sie sei .. bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille" (p.363 und .. Möglichkeit des Bösen" (p. 364). usf. Dazu p. 3~9/360: .. immer liegt nocl im Grunde das Regellose. als könnte es einmal wieder durchbrechen. und nir gends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern aJ wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an dei Dingen die unergreifliche Basis der Realität. was sich mit der größten Anstren gung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt ... Ohn dies vorawgehende Dunkel gibt es keine Realität der Krcatw; Finsternis ist ih notwendiges Erbteil." Vgl. dazu nicht nur die romantische Nachtsciten-Diskw sion. sondern auch die Rezeption dieser verdüstenen Willens-Lehre bei Schopcr1 hauer. Sämtliche Werke. ed. P. Dewscn, Bd. 4. p. BI: .. daß die natura naruraru oder das Ding an sich. der Wille ... ist" (Parerga und Paralipomena I. 18~1: dieser aber .. endloses Streben. zu dem Abwesenheit alles Zieles gehön UD grenzenloses Leiden. weil er durchgingig an sich selber zehn: so sehen wir in dc NaturüberaUSueit, KarnpfundWcchscl desSicgcs •... die dem Willen wesentlich Entzweiung mit sich selbst": Die Welt als Wille und Vorstellung I. 1819. §§ 2/ 29. ~6 sqq. Dazu gehön dann, daß nicht mehr der narurphilosophische un ästhetische. sondern - so repräsentativ beim späten Schelling - der theologisch und - so bei Schopcnhauer - der asketisch-quietistische Ausweg dominieren 60 Dabei wird - vgl. bereits Hegel. Ästhetik. cd. eit. p. 22 - in wachsendem Ma die ästhetische Leitwihrung des .. unmittelbaren Genwscs" erscut durch die d.
Anmerkungen
141
.. UneiJs" und "denkender Betrachtung": Kunst ist fonan gedeckt nicht mehr durch Emotion. sondern durch Reflexion. Gerade das ermöglicht vieUeicht ein Emigrationsphänomen: wo die Kunst zur nicht mehr schönen wird. wird die Theorie dieser Kunst der Intention nach zur schönen; Entästhctisierung der Kunst erzwingt Ästhetisierung ihrer Theorie. Ob's stimmt. bleibe hier unentschieden. 61 Zum Gcsamrvorgang vgl. v. Verf.: Ober einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutilc in der Philosophie des 19.Jahrhunderts (Fcstschr. B. v. Wiese). 1963. bes. p. 42 sqq.: don die entsprechenden Belege; m. E. klän einen Teilstrang dieses Gcsamrvorgangs C. Heselhaus in seiner Vorlage. 62 Die in ihren Thesen sicher problematische Medizinerästhetik spätestens von G. Lombroso bis W. Lange-Eichbaum hat also nicht nw Symptomwen; auch ihre Provokationsleistung ist beuächtlich; und kaum bestreitbar ist ja folgendes: daß zu den entscheidendsten Leistungen der Geistesgeschichte gehön die Produktion jener lmürDer. die zu dem provozicnen. was einige weitere Generationen dann als Wahrheitsfindung betrachtet haben. 63 Freud. cd. cit. Bd. 7. p. 214 und p. 222 (Der Dichter und das Phantasieren. 19(7): .. Der Dichter tut ... dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine PhantasieweIt ... so ... daß die Dichtung wie der Tagtraum Fonseuung und Ersatz d~ einstigen kindlichen Spielens ist ... Dazu cd. eit. Bd. 8. p. 234 und p. 236 (Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. 1911): .. Mit der Einsetzung des Rcalititsprinzips wurde eine An Denktätigkeit abgespalten. die von der Rcalititsprüfung freigehalten und allein dem Lwtprinzip unterworfen blieb ...... Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Weg eine Versöhnung der beiden Prinzipien zusta.,de ..... Vgl. vor allem die kunsttheorctisch erhebliche Phantasietheorie ed. eit. Bd.9. pp. 386 - 391. 00. p.387 (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 1917): .. ln der Phantasietitigkeit genießt ... der Mensch die Freiheitvom äußeren Zwang weiter. auf die er in Wirklichkeit längst verzichtet hat ... Die Schöpfung des seelischen Reichs der Phantasie findet ein volles Gegenstück in der Einrichtung von .Schonungen' •• Naturschutzparks' don. wo die Anforderungen des Ackerbaw. des Verkehrs und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. Der Naturschutzpark erhält diesen alten Zustand. welchen man sonst überall mit Bedauern der Notwendigkeit geopfen hat. Alles darf darin wuchern und wachsen. wie es will. auch das Nutzlose. selbst das Schädliche. Eine solche dem Rcalititsprinzip entzogene Schonung ist auch das seelische Reich der Phantasie. " Derartige Äußerungen über die Kunst finden sich nur beim frühen Freud; nur er hat überhaupt eine ausführlichere Kunsttheorie; in seiner Spätphasc gibt es mit der einzigen Ausnahme cd. eil. Bd. 14. p. 439 - keine Theorie der Kunst; so ist bei Freud die ausdrückliche Ergänzung der These .Kunst ist Erossublimierung' durch die These .Kunst ist Todestriebsublimierung' ausgeblieben. Außer in den zit. Arbeiten finden sich Stellungnahmen Freuds zu Kunst und Künstler bcs. in: Der Wahn und die Träume in W.)ensrns Gradiva. 1907; Eine Kindheitscrinnerung des Lconardo da Vinci. 1910; Das Motiv der Kästchenwahl. 1913; Der Moscs des MKhdangclo. 1914. nebst Nachtrag zu dieser Arbeit. 1927; Eine Kindheitscrinnerung aus Dichtung und Wahrheit. 1917; rekapitulierend: SclbstdarsteUung. 1925; don 00. ed. cit. Bd. 14. p. 9Osqq.; Oostojewski und die Vatenötung. 1928. Wichtiger aber noch sind einschlägig die allgemein .. geisteswissenschaftlichen" Arbeiten über den Traum. die Fehlleistungen. den Witz. über Mythologisches.
142
Anmerkungen
den Humor und dgl. Hinzuziehen sollte man O. Rank. Der Künstler. Ansätze zu einer Sexualpathologie (1907): allein schon. um don die Vergröberungen der Freud.schule zu studieren und allgemeine Reflexionen über Schülerschaft und Kariltatur anzuknüpfen. 64 Ab 1893 (ed. eil. Bd. 1. p. 89: über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. zus. mit J. Breuer) und trotz der Korrektur 1923 (ed. eit. Bd. 13. p. 243 - 24~: Das Ich und das Es). 6~ Freud. ed. eit. Bd. 13. p. 241 (Das Ich und das Es. 1923). 66 Hier sind die Ausdrücke des späten Freud benutzt. definitiv flXien in: ed. eit. Bd. 17. p. 70 sqq. (Abriß der Psychoanalyse. 1938). 67 Damit ist angedeutet. daß bei Freud einschlägig nicht der Begriff des Unbewußten der entscheidende Begriff ist. Es ist nur derjenige. an dem Freuds Zeitgenossen am meisten Anstoß genommen haben. und derjenige. den das Vorbereitungsgremium dieses Kolloquiums für den entscheidenden hielt. Der Verdrängungsbegriff ist bedeutsamer. Auf dem Umweg besonders über seine englische übersetzung .. repression" läßt er sich mit den Unterdcückungsbegriffen revolutionärer Theorien in Zusammenhang bringen. So könnte also aktueller sein als die hier am Leitfaden des durchs Thema vorgegebenen Begriffs des Unbewußten verfolgte Verbindung Freuds mit der Romantilt seine Verbindung mit Marx. vgl. etwa H.). Sandkühler. Freud und der Marxismus. Die Entdeckung der Zukunft im Vergangenen. in: Bogawus4 (196~). p. 7 sqq. - und mit Hegel: vgl.). Taubes. Psychoanalyse und Philosophie. Noten zu einer philosophischen Interpretatioll der psychoanalytischen Methode. Rdfk.-Mskpt. 1963. Vgl. überdies auch die nUl bedingte Treue Freuds gegenüber dem Begriff des Unbewußten. ed. eil. Bd. 13, p. 244 sq. (Das Ich und das Es. 1923): .. Wenn wir uns so vor der Nötigung sehen, ein ... nicht verdrängtes Ubw aufzustdlen. so müssen wir zugestehen. daß dei Charakter des Unbewußten für uns an Bedeutung verlien. " 68 Zuerst 1896. ed. eit. Bd. 1. p.387 (Weitere Bemerkungen über die Abwehr· Neuropsychosen): .. Wiederkehr der verdrängten Erinnerungen ... die wiederbe lebten Erinnerungen treten aber niemals unveränden ins Bewußtsein ein. sonden ... sind Kompromißbildungen zwischen den verdrängten und den verdrängen den Vorstellungen ... Wiederkehr des Verdrängten ... " Oder 1907. ed. eit. Bd. 7. p. 60 (Der Wahn und die Träume in W. )ensen .Gradiva'): .. Das Verdrängte kann zwar in der Regel sich nicht ohne weiteres aI Erinnerung durchsetzen. aber es bleibt leistungs- und wirkungsfähig. es läßt eine Tages unter dem Einfluß einer äußeren Einwirkung psychische Abfolgen entste hen. die man als Verwandlungsprodukte und Abkömmlinge der vergessenel Erinnerung auffassen kann. und die unverständlich bleiben. wenn man sie nich so auffaßt ... dann ... darf man eine deranige Wiederkehr des Verdrängtel erwanen ... " Oder 1911. ed. cit. Bd. 8. p. 304 sq. (über einen autobiographiscl beschriebenen Fall von Paranoia): .. Fassen wir das •Verdrängung' Benannte schäl fer ins Auge. so finden wir Anlaß. den Vorgang in drei Phasen zu zerlegen ... AI dritte. für die pathologischen Phänomene bedeutsamste Phase ist die des Mißlin gens der Verdrängung. des Durchbruchs. der Wiederkehr des Verdrängten anzu führen ... " Ausführlichste Diskussion 1937. ed. eit. Bd. 16. p. 233 - 236. bes p. 236 (Der Mann Moses und die monotheistische Religion): .. Alle Phänomen der Symptombildung können mit gutem Recht als •Wiederkehr des Verdrängtell beschrieben werden." Vgl. op. eil. p. 240 sqq. Freuds Theorie der Wiederkehr des Verdrängten ist Dich
Anmerkungen
69 70 71
72 73 74
143
für die Kunsttheorie entwickelt worden, sondern für die Theorie der Symptombildung. Diese freilich ist die Mikrotheorie geschichtlicher Vorgänge; vgl. u. a. Fleuds Äußerung ed. eit. Bd. 13, p. 228 (,Psychoanalyse' und ,libidotheorie' , 1923): .. Die Würdigung der Psychoanalyse würde unvollständig sein, wenn man verslumte mitzuteilen, daß sie als die einzige unter den medizinischen Disziplinen die breitesten Beziehungen zu den Geisteswissenschaften hat und im Begriffe ist, für Religions- und Kulturgeschichte, Mythologie und literaturwissenschaft eine ähnliche Bedeutung zu gewinnen wie für die Psychiatrie. Dies könnte Wunder nehmen, wenn man erwägt, daß sie ursprünglich kein anderes Ziel hatte als das Verständnis und die Beeinflussung neurotischer Symptome. Allein es ist leicht anzugeben, an welcher Stelle die Brücke zu den Geisteswissenschaften geschlagen wurde. Als die Analyse der Träume ... zeigte, daß die Mechanismen, welche die pathologischen Symptome schaffen, auch im normalen Seelenleben tätig sind, wurde die Psychoanalyse ... der Anwendung auf die Geisteswissenschaften fähig ..... Die Gcschehensfigw der Wiederkehr des Verdrängten gehön in Freuds Katalog der Triebschicksale. Don - ed. eit. Bd. 10, p. 219 (Triebe und Triebschicksale, 191~) - wird von Trieben gesagt, was heute auch von Institutionen, Problemen, Antwonen und dgl. gesagt wird: .. Sie sind dadurch ausgezeichnet, daß sie in großem Ausmaß vikariierend für einander einueten und leicht ihre Objekte wechseln können. Infolge der letztgenannten Eigenschaften sind sie zu Leistungen befähigt, die weitab von ihren ursprünglichen Zielhandlungen liegen." Es wäre reizvoll, Stru1cturverwandtschaften zwischen Freuds Theorie der Triebschicksale und H. Blumenbergs Umbesetzungstheorie zu untersuchen, zumal u. a. der Ausdruck .. Besetzung" ja nicht nur im bildspendenden Feld der Personalpolitik, sondern auch im
144
Anmerkungen
und Marcuscs spannender Gedankengang ist nur deswegen interessant. weil er die Frage erlaubt. warum er ihn nötig hat. 15 Hegd. Ästhetik. ed. eit. Bd. 1 p. ~81. 76 Gerade bei dieser Feststellung wird es nützlich sein. an Freuds eigene Einschätzung der Psychoanalyse für die Theorie der Kunst zu erinnern; vgl. Frcud. ed. eit. Bd.8 p.416 (Das Interesse an der Psychoanalyse. 1913): .. Über einige der Probleme. welche sich an Kunst und Künstler knüpfen. gibt die psychoanalytische Beuachtung befriedigenden Aufschluß; andere entgehen ihr völlig."
Exile der Heiterkeit 1 Th. W. Adorno. Minima Moralia. Frankfurt 19~1. S. 7. 2 Nietzsche. Die fröhliche Wissenschaft (1882). in: Werke (hg. Schlechta). München 19~6. Bd. 2. S. 14. 3 Aristotdcs. ,,&01 '"Pi fP6vrloL\I XCIi \IOÜ\I CJOf(uv". npoßA.~« 9~~ a 40. 4 Vgl. dazu}. Ritter... Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei AristoteIcs". in: Metaphysik und Politik. Frankfun 1969. bes. S. 19. 5 Wallenstein. Prolog 138. 6 H. Weinrich ... Drei Thesen von der Heiterkeit der Kunst". in: Literatur für Leser. Stuttgan usw. 1971. S.12-22; vgl. auch S.7ff. H.Weinrich weist mich auf P. Eichhorn. Kritik der Heiterkeit. Heiddberg 1973. hin: dieses Buch war mü leider nicht bekannt; auch die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vomjahre 1972 war mir nicht bekannt, ein Umstand, der sich aul die in Anm. 21 beschriebenen Lelttürcgewohnheiten zurückführen läßt. Wäre mil die sehr eindrucksvolle Studie von Eichhorn bekannt gewesen, hätte ich meiner Text - nicht zwar in der These, wohl aber in der Durchführung - zweifello: anders geschrieben. 7 Mit etwa diesen Kategorien (,Depotenzierung', ,Herunterspielen') hat H. Blu menberg, .. Wirklichkeitsbcgriff und Wirkungspotential des Mythos" , in: PoetiJ und Hermeneutik IV, bes. S. ~ 7, den Mythos und A. Gehlen, Zeit-Bilder, Frank fun/Bonn ll96~, bes. S. 16, S. 220ft'. (,Entlastung'), die nachexprcssionistisch4 Kunst interpretien: es liegt nahe, beide Realitäten als Stationen des nämliche. Prozesses zu verstehen und insofern die Prinzipien beider Interpretationen aucl auf die KUnst der Kunstperiode anzuwenden. 8 Das ist keine sehr spezifISChe Defmition. Sie entstand bei einer durch den - wi, mir inzwischen scheint: falschen, gleichwohl heuristisch nicht wenlo:scn - Sat: von der .. prinzipiellen Konvenibilitlt von Kunst und Nichtltunst" (Verf. il Poetik und Hermeneutik IU, S. 387) geleiteten Fahndung nach Ähnlichlteitel zwischen der Faszination durch Bahnreisen, hilfsweise durch die Lektüre VOI Kursbüchern, durchs Auto (von dem ich nichts verstehe). durch Diagonalteilnah men bei Wissenschaftlerkongressen. durchs Woandersscin überhaupt, mit dc durch Kunstwerke. 9 ). P. Same, Was ist Literatur?, Paris 1948, dt. Hamburg 19~8. Bei.scitegelassen u die - diesseits von Produktions- und Rezeptionsästhetik wichtige - Rcprodulc tionsästhetik: W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technische Reproduzierbarkeit (1936), Frankfurt 1963 und A. Malraux. Das imaginäre Mll scum. Paris 1947. dt. Baden-Baden 0.).; beiscitegeiasscn ist ebenso die Ästheti
Anmerkungen
10
11
12
13
14
1~
16 17 18
145
der .. demonstrativen Verschwendung" (Th. Veblen) für das nachisthetische Zeitalter. vgl. Tom Wolfe. Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby. New York 1963. dt. Hamburg 1968. bes. S. IOff. Im Sinne von Heine: vgl. W. Preisendanz ... Der Funktioosübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine". in: Poetik und Hermeneutik III. bes. S.344. bzw. ders .• Heinrich Heine. München 1973. S. 23. HegeI. Vorlesungen über die Ästhetik (1818ff.). in: Theorie-Werkausgabe. Frankfun a. M. 1969f.• Bd. 13. S. 2~: es .. ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes" . Dieser . kritische , Funktionsbegriff zwingt. Partei für oder gegen etwas zu ergreifen; er erzwingt oder begünstigt also Freund-Feind- Verhältnisse. Er widersetzt sich dem neuualen Funktionsbegriff. der demgegenüber ernüchternd definien: Funktion hat das, was nicht überflüssig ist. Wenn man freilich weiterdcfmien: nicht überflüssig ist das Unerseuliche. dann wird die Kunst zum Paradox: sie ist das überflüssige Unerseuliche. Die genauere präzisierung des neuualen, das Utopiequantum des ,kritischen' Funktionsbegriffs reduzierenden Funktionsbegriffs muß daher bestimmen: Funktion hat das, was entweder nicht oder nicht ersaulos zum Verschwinden gebracht werden kann. Vgl. Freud, .. Das Ich und das Es" (1923). in: Gesammelte Werke, London 194of., Bd.8, S. 2~~: .. Nicht nur das Tiefste, auch das Höchste am Ich kann unbewußt sein". S.284: ,Je mehr ein Mensch seine Aggressionsneigung meisten. desto mehr steigen sich die Aggressionsneigung seines Ideals gegen sein Ich". Darin steckt die Möglichkeit der Umkehrung: je mehr ein Mensch (eine Menschengr.Jppe) der Aggression sei.rl~ Idealo; gegen sein Ich entkommen will, desto mehr muß er die Meisterung seiner Aggression durch eine Wendung zur Freigabe der Aggression gegen anderes ersetzen, so "daß dieser Sadismus eigentlich ein Todestrieb ist, der durch den Einfluß der narzißtischen libido vom Ich abgedrängt wurde, so daß er erst am Objekt zum Vorschein kommt": Ders., ,Jenseits des Lustprinzips" (1920), ebd., S. ~8. Vgl. Hegel. Phänomenologie des Geistes (i.807), ir.: 111e.>r:e-W~rf;aasgahe. Bd. 3, S. 28. IH u. i. w.; vgl. ScheUing. System des transzendentalen Idealismus (1800), in: Sämtliche Werke, hg. K. F. A. Schelling, Stuttgart u. Augsburg 18~6f., Bd. 3, S. 389. Der kritische Rationalismus hat u. a. gegen die dialektische Kritik, die Ernst machen will, den Immunisierungseinwand erhoben: vgl. H. Alben. Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1969, S. 30 u. i. w.; er hat geforden. die .. Immunisierung" als "Strategie". d. h. als Mittel. zu lassen. Metaphorologisch betrachtet bemüht dieser Einwand als bildspendendes Feld das medizinische des Impfwesens. Die kritische Dialektik aber denkt prozessual: da geht es in der Tat auch um Immunität, aber im juristischen Sinne der Unbelangbarkeit: diese Immunität aber ist - deswegen scheint mir der Einwand des kritischen Rationalismus zwar berechtigt, aber sehr zurückhaltend formulien zu sein - für die Kritik, die Ernst machen will, nicht etwa nur ein Minel. sondern der absolute Zweck: also nicht: Immunisierung ist nötig. um bestimmte Dogmen zu sichern; sondern: bestimmte Dogmen sind nötig, um den Status der absoluten Immunität zu haben. Vgl. C.Schmitt. Politische Romantik. München/Leipzig z192~, bes. S.22ff., 120ff. R. Barthes, Die Lust am Text, Paris 1973, dt. FranJcfun 1974. Also der Befund des Triebschicksals der Projektion.
146
Anmerkungen
19 Der Unterschied zwischen der Dialektik Hegels und der Dialektik der Kritik. die Ernst machen will. liegt also darin. daß jene das. was war und ist. als die eigene Geschichte übernimmt und sich für sie haftbar weiß. während diese das gerade nicht tut: darum habe ich in Poetik und Hermeneutik V. S. 246. geäußert: .. Der eigentliche Ertrag der Kritik ist nicht die Kritik. sondern das Alibi". Verf. ist die Überlegung nicht fremd. daß seine eigenen Verrichtungen - wie man auch hier sieht - mit dieser Figur der Kritik als Alibi eine gewisse Ähnlichkeit haben (vgl. Verf.... Inkompetenzkompensationskompetenz ?" . in: Gießener Universitätsblätter 1974, 1. S.89ff.). Das ist halt so, wenn man die kritische Theorie auf die kritische Theorie anwendet: um Laster auf Laster anzuwenden, muß man sie haben. 20 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfun 1970, hat die .. Hegelsche Perspektive eines möglichen Absterbens der Kunst ( ... ), ( ... ) daß ( ... ) Kunst ins Zeitalter ihres Untergangs ( ... ) eingeueten sein (könnte)" (S. Ilf.) so vemanden, daß .. die Stunde naiver Kunst, nach Hegels Einsicht. dahin" sei: S. S08. H. R.Jauß hat - nach seinen überlegungen zu .. Ursprung und Bedeutung der Fonschrittsidee in der .Querelle des Anciens et des Modemes' ", in: H. Kuhn I F. Wiedmann (Hgg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fonschritt, München 1964. S. SI -72 - in seiner Arbeit über .. Fr. Schlegels und Fr. Schillers Replik auf die .QuereUe des Anciens et des Modemes' ". in: H. Friedrich I F. Schalk (Hgg.). Europäische Aufklärung - Festschrift für H. Dieckmann. MilDchen 1966. S. 117 - 140. gleicherma.ßcn gezeigt. daß Schillers Opposition des .. Naiven" und .. Sentimentalischen" übereinstimmt mit der F. Schlegels .. Über das Studium der griechischen Poesie" behandelten Opposition zwischen griechisch- .. objektiver" und modem- .. interessanter" Poesie. und daß in beiden Oppositionen die im 17. Jahrhunden in Frankreich verhandelte •QuereUe' sich don repetien als die verspätete QuereUe einer schon damals verspiteten Nation. EI hat. soweit ich sehe. nicht behandelt. was ich bei P. Szondi ... Antike und Modeme in der Ästhetik der Goethezeit" , in: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Frankfun 1974, S. 11- 266. bcs. S. 249. anvisienfmde: daß gerade diese Opposition wohl nicht ohne Einfluß SchiUers und Schlegels - mit erneutem leichten Wechsel der Terminologie die Kunstphilosophievorlesungen Schellings und die Ästhetik Hegels beherrschen: für diesen ist die klassische Kunst der Griechen. die Schillel die naive nannte. die VoUendung: .. Schöneres kann nicht sein und werden", Hegel. Ästhetik. Bd. 14. S. 128; die romantische - sentimentalische. interes· sante. reflektiene - Kunst ist der Abstieg und das Ende der Kunst. Hier ist Hegell genauer Schätzungsantipode Adomo. der - wie zitien - Hegels Ende der Kunst als Ende der naiven Kunst und als Anfang der modemen. authentischen, rdlek· tienen, avantgardistischen begrüßt. Wenn alsoJauß damit recht hat. daß Schiller. und Schlegels Schriften die QuereUe repetieren. und wenn ich damit recht habe. daß diese Repetition der QuereUe sich in den Ästhetiken der gesch.ichtsphiJosophischen Altkantianer foment: dann ist Adomos Ästhetische Theorie die einst· weilen letzte Repetition und Replik in bezug auf diese .Querelle des Anciens e1 des Modemes': als Theorie vom Ende der naiven Kunst. Was hat Naivitlt mil Heiterkeit zu tun? Was also die Heiterkeit und ihre Isthetische Anciennitlt mil ihrer QuereUe mit der Modemitlt der Kritik und der Kunst. die selber kritisd Ernst machen will? 21 Systematiker sind jene leidenschaftlichen Leser. die immer anderes lesen. Keir Tag ohne Buch. aber fast nie ist es das Buch. das man eigentlich zu lese,
Anmerkungen
22 23 24 2~
26 27 28 29 30
31 32 33 34
3~
36 37
147
verpflichtet wäre. Darum gehön dazu ein Kompensationsphlnomen: in Analogie zum Quanalsäuferrum die QuanalJeserei in bezug auf Pilichdektüren, die anfallsweise im Zusammenhang vor allem mit Gutachterpflichten auftritt. 1m übrigen aber: wieviel üst ist - bei einer solchen Lage - nötig, um ein Scheinpensum an akribischer Lektürepflicht so plausibel aufzubauen, daß es einen anderen Text in jene beiläufige Randlage bringt, die einen ennuntcn, ihn zu lesen. Ein ,reader' , das ist da ein ganz hoffnungsloser Fall: reader - sozusagen Apparate in statu viatoris - trägt man herum, aber man liest sie nicht; was tut man nicht alles, um sich vor der Lektüre zu drüclten: am Ende schreibt man gar. J. Ritter, .. Ober das Lachen" (1940), in: Subjektivität, Frankfun 1974, S. 62 - 92. Ebd., S. 79. Ebd., S. 76. Ebd., S. 80. Ebd., S.88. H. Plessner, Lachen und Weinen (1941), in: Philosophische Anthropologie, Frankfurt 1970, S. 11 ff. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (1804), in: Werke, hg. N. MilIer, München 1963, Bd. 5, S. 104. J. Ritter, .. Ober das Lachen", S. 73 ff.; W. Preiscndanz, Ober den Witz, Konstanz 1970, S. 23 ff. W. Preiscndanz, ebd., S. 26f. Mir ist das Element der Unerreichbarkeitsgarantie wichtig, das in der Pointe liegt: sie ist eine sprachliche Hochstapelei mit der Geschwindigkeit Unendlich und der Erwischbarkeitswahrscheinlichkeit Null: jedenfalls idealiter. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905), in: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 133 ff. Plessner. Lachen und Weinen. S. 99. Ebd .• S. 138. 153 u.i.w. Ich stelle anheim. ob es sich - wenn man Unterscheidungen einteilt in solche. die man macht. nur um sie machen zu können. und solche. die interpretationskräftig sind - hier um eine Unterscheidung der ersten oder der zweiten An handelt. Mich intercssien u. a. die Frage. wie beide 1.achsonen kooperieren (koaJieren. opponieren) können. Eine Möglichkeit des Verständnisses eröffnet sich. wenn man - wie R. Warning ... Komik und Komödie als Positivierung von Negativität". in: Poetik und Hermeneutik VI. S. 341- 366. bei seiner Oberleitung der These Ritters in ein .. funktionales Modell komischer Positivierung von Negativität" (S. 348) vorschlägt - von der Annahme der Konvertibilität von Sprechen und Lachen abgeht (vgl. bes. S. 355 ff.) und dadurch eine linguistisch greifbare sprachliche und eine soziaJhistorisch greifbare vorsprach liehe Dimension koagiercn oder konteragieren lassen kann. R. Barmes. Die Lust am Text (Anm. 17). S. 34f. Man. Einleirung zur Kritik der HegeIschen Rechtsphilosophie (1843/44). in: Frühschriften, hg. Landshut. Stungan 1953. S. 208. Ich sehe hier vom Problem ab. das mit Divergenzen und Kongruenzen des Gottesbegriffs gem. Ex. 3.14 (vgl. C. H. Ratschow. Werden und Wirken - Eine Untersuchung des Wones hajah als Beitrag zur Wirklichkeitscrfassung des Alten Testamentes. Berlin 1941. S. 82 ff.) und des Gottesbegriffs in der Tradition von AristoteIes. Metaphysik A 1074 b 34 zwammenhängt und untemelle die wirkungsgcschiehtliche Prävalenz der Kongruenz: Gott ist sich selber total durchsich-
148
Anmerkungen
tig: da ist nichts Überraschendes. nichts Verdrängtes. nichts Nichtiges ... Gesetzt den fall. Sie glauben an einen Gott: kennen Sie ein Anzeichen dafür. daß er Humor hat?" M. Frisch. Tagebuch 1966-1971. Frankfun 1972. 5.219. Kann Gott lachen? Monotheistisch wohl nicht. polytheistisch sicher: nicht nur lachen die Götter (ob nun Homer den Griechen die Götter gegeben oder genommen hat; aber vielleicht haben die Götter sich totgelacht?). sondern es gibt auch - auf den Hinweis bei Gellius. Noctes Atticae 124.3 macht A. Wlosok mich aufmerksam einen Gott Risus und ein Fest für ihn. 38 Das Bonmot ist das Volkslied der InteUektueUen: zuweilen ist es unmöglich. den Autor zu ermitteln. Die hier gebrauchte Formulierung stammt aus der hessischen Schulreformdislrussion: ich habe sie zuem von F. Weberling gehön. 39 Vgl. Verf.. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfun 1973.
S.IHf. 40 Vgl. H. G. G2damer zu .. Poetik und Hermeneutik m". in: Philosophische Rundschau Bd. 18 (1971). 5.62: er macht geltend. daß .. für die HegeIsche Theorie der romantischen Kunst ( ... ) der Vergangenheitscharakter der Kunst gegeben und mit HegeIs Parole vom Vergangenheitscharakter der Kunst das Ende der klassischen Kunrueligion gemeint" ist: .. Marquard (wie die meisten. die sich hier auf Hegel berufen) nimmt die grundsätzliche Bedeutung von Hegels Satz. der die gesamte nachklassische Kunst mitmeint. nicht ernst genug". Gadamer hat selbstverständlich schlichtweg recht. darum habe ich hier - auch unter dem Eindruck der Argumente von W. Bröcker... HegeIs Philosophie der Kunstgeschichte" in: Auseinanderscuungen mit Hegel. Frankfun 196~. S.33ff. - meine damalige Interpretation berichtigt. Die biblische Religion bringt das Ende der Kunst: der .. Inhalt" der .. romantischen Kunstform ( ... ) fällt mit dem zwamrnen. was das Christentum von Gott als Geist aussagt" • aber gerade deswegen ist die .. romantische Kunst das Hinausgehen der Kunst über sich selbst". also deren Ende: Hegel. Vorlesungen über die Ästhetik (1808ff.). in: Theorie-Werkausgabe. Bd.13. 5.111.113. 41 Unter der Voraussetzung einer sehr weitgehenden Simplifizierungslizenz könnte man - ohne damit den Theorien zu nahe treten zu wollen. die der Komödie und Satire die RoUe des Abschieds von der griechisch klassischen Kunst zusprechen eine An von Dreistadiengesetz beim Prozeß des Endes der Kunst erwägen: es gibt das religiöse. das ästhetische. das soziologische Stadium dieses Endes. Im ästhetischen Stadium ist die Kunst transitorisch ihrem Ende in die Autonomie entkommen. Dieses Stadium hat Konfinien: das Konfinium zum religiösen (christlichen) Stadium ist das Konfinium der relativ autonomen Kunst der modernen Komödie; das Konfinium zum soziologischen (kritischen) Stadium ist das Konfinium der philosophischen Theorie des Lachens. 42 Kant. Kritik derUneilskrah (1790)§~4. in: Werke. hg. Cassirer. Berlin 1912f.. Bd.~. 5.409. 43 Schelling. Philosophie der Kunst (1802ff.). in: Sämtliche Werke. hg. K. F. A. ScheUing. Bd. ~. 5.712. 44 F. Th. Vischer. Über das Erhabene und Komische (1837). Frankfun 1967. bcs. S. 1~8. 5. 16Off. 4~ K. Rosenkranz. Ästhetik des Häßlichen. Königsberg 18B. S. B. 46 H. Bergson. Das Lachen (1900). dt. Meisenheim/Glan 1948. S. 21. 47 Freud. Gesammelte Werke. Bd. 6. 48 H. Plessner. Lachen und Weinen. S. n.
Anmerkungen
149
49 Vgl. Marx. Einleitung zur Kritik der HegeIschen Rechtsphilosophie. S. 21). )0 Kierkegaards Ironie der indirekten Mitteilung; vgl. Kierkegaard. Über den Begriff der lronie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (1841). in: Gesammelte Werke. hg. Hirsch. Düssddorf 19)0f.. 31. Abt. S.2)2: "Es ist die allergewöhnlichste Form der lronie. daß man mit ernster Miene etwas sagt. das doch nicht ernst gemeint ist. Die andre Form. daß man etwas zum Sehen. scherzend sagt. das ernst gemeint ist. kommt seltener vor" . ) I Vgl. Platon. Theaitet 174 A; dazu H. Blumenberg. "Contemplator cadi". in: D. Gerhardt I W. Weintraub I H. Winkel (Hgg.). Orbis ScriptUS - Festschrift für D. Tschizewskij. München 1966. S. ll3 -124. )2 Kant. Werke Bd. ). S.411. H Ebd .• S. 409.
Kompensation - Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse l 1 Eme Fassung: September 197); zweite Fassung: Januar 1976; dritte Fassung:
Februar I Män 1977. - Hinweis 1989: inzwischen ist einschlägig erschienen von - Gliederung: 1. Anfang. 2. Aktualität des Kompcnsationsbegriffs. 3. Übliche Genealogie: Adler. Jung. 4. Burckhardt. 5. AzaIs und Leibniz. 6. Tertullian. Qauberg. Kant: von der Heilsökonomie zur Theodizee. 7. Spekulativer Exkurs. 8. Von der Theodizee zur Geschichtsphilosophie. 9. Kompensation als Verlaufsfigur moderner Ge· schichtsprozesse. 10. Resultat. 2 Reinhan Kosellcck. Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerli. chen Welt (19)9). Frdburg-München 2. Aufl. 1969. S. 1)6; vgl. S. 6 -8. SO. 81ff.. BOf.. 147-157.21) (Anm. 147). 3 Reinhan Kosellcck. Anikel.Geschichte' in: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. von O. Brunner. W. Conze und R. KoseUeck. Bd. 2. Stuttgan 197). S. 667; vgl. S. 666 - 668. Vgl. auch: Odo Marquard. Idealismus und Theodizee (1965). In: ders .. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfun a. M. 1973. bes. S.60f. 4 Friedrich Schiller. Resignation (1784). Vers. 8). ) So bereits innerhalb der Geschichtsphilosophie der menschlich machbaren einen Geschichte. und zwar nicht nur durch ihre verschiedenen Hilfstheorien über nichtrnenschliche Protagonistenvikare (Gott. Narur). Daß die Menschen ihre Geschichte selber - "aber ... unter ... gegebenen und überliefenen Umständen": Karl Man. Der 18. Brumaire des Louis Bonapane. MEW. Bd. 8. S. 11) machen: dieser Vortxhalt wird gerade auch innerhalb der revolutionären Ge· schichtsphilosophien wachsend bedeutsam. Wo diese "gegebenen und überliefere ten Umstände" selber zunehmend auf geschichtsphilosophisch-revolutionärer Onhopraxis beruhen. werden negative Gegebenheiten als Verratsresultate inter· pretien durch "polizistische Geschichtsauffassung": vgl. Man~ Sperber. Die Achillesferse. Frankfun a.M .. Hamburg 1969. S. 7H.: "Ohne den Verrat könnte die absolute Herrschaft den Betrug ihrer Vollkommenheit nicht aufrechterhalten ... ; die ausschließliche. die totale Macht muß sich der Verantwonung für alljene Geschehnisse entledigen. die weder Ruhm noch Erfolg bringen ... So stellt die
Jean Svagelski: L'idEe de compcnsation en France. Lyon 1981.
l~O
Anmerkungen
Überzeugung, verraten worden zu sein ... eine An negativen Trost dar"; energischen Hinweis auf diese SteUe verdanke ich Christian Meier; vgl. auch Man~ Sperber, Der verbrannte Dornbusch. Bd. I, Frankfun-Berlin-Wicn 1971, S.322ff. 6 Eine dritte Möglichkeit deutet anJwgen Habermas, Zur Kritik an dcr Geschichtsphilosophic (R. KoseUcck, H. Kesting; 1960). In: den., Kultw und Kritik. Frankfun a.M. 1973, S. 364: "Machbarkeit ... wenn nicht der Geschichte selber, so doch der geschichtlichen Prozesse, die uns, wenn wir sie nicht mcistcrn, auf diese oder jene Weise aufreiben würden." - Andererseits ist an das Feld jener "Hilfsbegriffe" zu erinnern, die nicht nw "im Umkreis des Entwicklungsbegriffs" sich gebildet haben: "So beruft man sich gerne auf objektiv gegebene ,Trends', ,Triebkräfte', ,Suömungen' oder ,Tendenzen' ": Wolfgang Wieland, .Artikel Entwicklung in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 225. 7 Siegfricd Kracauer, Geschichte - Vor den letzten Dingen (posth. 1969). Schriften, Bd. 4, Frankfun a.M. 1971, S. SO, 185, 195; S. 201: "Das ,Genuine', das in den Zwischenräumen der dogmatisienen Glaubensrichtungen der Welt verborgen liegt, in den Brennpunkt steUen und so eine Tradition verlorener Prozesse begründen." Vgl. die Reflexion über Tocqueville bei Carl Schmitt, Ex captivitate salus. Köln 1950, S. 25 - 3~. 8 Das heißt, in denen man Verantwonung wirklich zu übernehmen vermag; vgl. Roben Spaemann, Nebenwirkungen als moralisches Problem. Philosophisches Jahrbuch 82 (1915). Vgl. außerdem Niklas Luhmann, Status quo als Argument. In: Studenten in Opposition. Hrsg. von H. Baier, Bidefdd 1968. 9 Hegds geschichtshinsichdiche These des grundsätzlichen Zuspätkommens der Theorie: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Theorie WerItausgabe, Bd. 7, S.28; vgl. Anhur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (1965). Frankfun a.M. 1974, S.465. Ich neige dazu, hier auch die antizipatorischen Konzepte zu subsumieren: ein Futurologe ist ein vorwäns gekehner Antiquar. 10 Hans Michael Baumganner, Kontinuität und ~ichte. Frankfun a.M. 1972. 11 Analog zur alternativen Bestimmung des Menschen als "Zielstreber" und "Defektflüchter" könnte man zwischen "erfüllenden" und "endastenden" Ergänzungen unterscheiden: Kompensationen gehören - als Ergänzungen ohne Ganzes - zur zweiten Sone. Ebenso wie die Anregung zu dieser überlegung verdanke ich einigen Diskussionen des im folgenden entwickdten Gedankengangs den Hinweis darauf, daß sich die Verlaufsfigur der Kompensation als Spezialfall der Dynamik von "chaUenge" und "response" (Toynbee) deuten lißt. Hier kann man im übrigen eine ganze Reihe von Fragen zwanglos anschließen, die teilweise das Themenfdd dieser überlegungen überschreiten; etwa die folgende: Wie verhält sich zu der im folgenden untersuchten Verlaufsfigur die von Thomas S. Kuhn, The structure of scicntific revolutions. Chicago-London-Toronto 1962, analysienc Verlaufsform des "paradigm change": a) wenn dabei doch gilt: "a scientific theory is declared invalid only if an alternate candidate is available to take i~ placc" (S. 77) - ein eine Paradigmakrise kompensierendes Paradigma? -, so daß immer nur "an older paradigma is replaced ... by an incompatible new one" (S. 91); b) wenn es sich dabei handelt um einen .. proccss that moved steadily from primitive beginnings but toward no goal" (S. 171), so daß man muß "substitute: evolution-from-what-we-do-know for evolution-toward-what-we-wish-to-know"
Anmerkungen (S. 170). was .. tbe abolition of tbat telcological kind of evolution" bedeutet (S. 171) zugunsten von - wie ich sagen würde - Dcfektfluchtprozcsscn. 12 Compensatory education for cultwaUy deprived. Hag. von S. Bloom. A.Davis und R. Hcss. Ncw York 19~8; vgl. die Programme: Demonstration Guidance Projcct. 19H /62; Higher Horizons Program. 19S9/62; Hcad Stan. 1964ff.; vgl. B. Brüggemann u. a. (Red.). Sozialisation und Kompensatorische Erziehung. Berlin. Juni 1969. S. 176ft". - Literaturhinweise zw kompensatorischen Erziehung verdanke ich G. Wilkending. 13 Vgl. Gerd lben. Kompensatorische Erziehung. 3. Aufl. München 1974; don S. 14: .. Kompensatorische Erziehungsprogramme wollen Eingriffe in soziale Systeme sein ... Durch Kompensation von Funktionsmängeln wird ein Funktionszusammenhang verändert. Die von nun an kompensatorisch Erzogenen gelangen in ein anderes Verhältnis zw Gesellschaft. " 14 Vgl. u. a.: A.Jeosen. How much an we boost IQ and scholastic achievement? (1969). In: ders .• Genetics and education. london 1972; I. N. Sommerkom. Kompensatorische Erziehung. Deutsche Schule 61 (1969). S. 720: .. Kompensation zur Anpassung. zur Integration in das bestehende System"; lben. Kompensatorische Erziehung. bcs. S. ~8 ff.; Basil Bernstein. Der Unfug mit der .kompensatorischen Erziehung'. Beuifft Erziehung (1970). bcs. S.16. Beiseite bleiben muß auch. daß in dieser Diskussion der Kompensationsbcgriff inzwischen durch den Lcitbegriff des Komplementären ersetzt ist; innerhalb der Pädagogik wird dadurch der Kompcnsationsbegriff frei für die Verwendung in der speziellen Curriculardislrussion; vgl.: Bildungswcge in Hessen. Eine Schriftenreihe des Hessischen Kultusministeriums (0.).) Heft 7. S. 4 f.: die .Jahrgangsstufe 11 ... hat ... zu erfüllen: ... Die Aufgabe des Ausgleichs von unterschiedlichen Ausbildungsvoraussctzungen zur Herstellung gleicher Ausgangschancen (Kompensation) ... Deshalb soll das 1. Halbjahr der Jahrgangsstufe 11 (lI/I) vorrangig der Kompensation ... dienen. " Zum schulbezüglichen Gebrauch des Wortes in den zwanziger Jahren vgl. - steUvenrctend tUr ein betrichtliches BelegpotentiaJ Walter Schulz in: Philosophie in Selbstdarstellungen. Bd.2. Hamburg 1915. S.270: .. Ich war im Spon ein völliger Versager. daher mußte ich .kompensieren' und konzenuiene mich ganz ... auf die Fächer Deutsch. Geschichte und Religion." 1~ John Maynard Keynes. The general thcory of employment. intercst and moncy (1936). CoUccted writings. Bd. 7; Wongcbrauch donsclbst S. n4. Vgl. Roben Lckachman. John Maynard Kcynes (1966); deutsch: München 0.).. S. 148ft".; Lcltachman datien (vgl. S. 311 ff.) für die USA die Durchsctzung des Keynesianismus im nicht-akademischen Raum oberhalb der Beratungsbürokratie zur offiziellen ökonomischen Regierungsdoktrin auf die Kennedy-Ara; das ist zugleich die Zeit der Durchsctzung des Begriffs .. compensatory education": es darf also nicht ausgeschlossen werden. daß der Kompensationsbcgriff aus der ökonomischen in die pidagogischc Diskussion kam. 16 A. H. Hanscn. policy and busincsscycles. Ncw York 1941. bcs. S. 261- 300: .. tbc concept of compensation" (S.261) .. implies ... that public cxpcnditurcs may bc uscd to compensate for tbe dcdine in private invCSlment" (S. 263). 17 Jürgen Habermas. Lcgitirnationsproblcme im Spätkapitalismus. Frankfurt a.M. 1973. s. 97; vgl. S. 78ft". 18 Seit 1940. JCUt zusammcngcfa.ßt in: J.lüttcr. Subjdttivitft. Sechs Aufsitze.
ruca.l
Anmerkungen
19
20
21
22 23
24
FranJcfun a. M. 1974; vgl. außerdem ders .• Metaphysik und Politik. Frankfun a.M. 1%9. bes. 5.319 - 3~4. Zum m. W. aktuellsten signifikanten Einsau des Kompensationsbegriffs kommt es in der philosophischen Diskussion der Beschleunigung des "sozialen Wandels" - bezogen auf Phänomene wie "WeUen der Nostalgie". "Historisierung und Muscalisierung unserer kultureUen Umwelt" (S. 7 f.). "Neoutopismus" • "Subkultur der Verweigetung" (S. 1~ f.) - bei Hermann Lübbe. Zukunft ohne Verheißung? Sozialer Wandel als Orientierungsproblem. Zürich (1976). S. 9: "Kompensation ist das entscheidende Stichwon. Wir haben es ... zu tun mit ... Kompensationen eines änderungstempobedingten Vertrautheitsschwunds"; angesichts der dadurch bedingten "Orientierungskrisen" ist "hilfreich ... nicht die Intensität progressiver Gesinnung. sondern der Pragmatismus der Politik der Kompensation kritischer Fonschrittsnebenfolgen" (5. 19). Lübbes Thesen sind. wenn ich das richtig sehe. Weiterentwicklungen derjenigen Ritters a. a. O. - Auch umgangssprachlich reüssien der Kompensationsbegriff. Beispiel: im SponteiJ der FAZ vom 1~. 11. 1976 heißt es über Borussia MönchengJadbach. "daß die Mannschaft in der Lage ist. den Ausfall einer kompletten Mittelfeldreihe (Stielilte. Wimmer. Danner) zu kompensieren" . Ausnahme: Historisches Wönerbuch der Philo~phie. Hrsg. von J. Ritter und K. Gründer. Bd. 4. Basel-Stuttgan 1976; aus der Arbeit des Verfassers am Kompensationsanikel dieses Lexikons ist diese Vorlage entstanden. Zur vorher üblichen Genealogie vgl. Odo Marquard. Skeptische Methode im Blick auf Kant. Freiburg-München 19~8. S. 20. Anm. 31. insbesondere aber D. L. Han. Der tiefenpsychologische Begriff der Kompensation. Zürich 19~6; den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich Niklas Luhmann. Alfred Adler. Studie über Minderwenigkeit von Organen. Wien-Berlin 1907. 2. Aufl. 1927. S.69: "alle Erscheinungen der Neurosen und Psychoneurosen (sind) zurückzuführen auf Organminderwertigkeit. den Grad und die An der nicht völlig gelungenen zentralen Kompensation und auf einuetende Kompensationsstörungen"; vgl. ders .. Ober den nervösen Charakter (1912).3. Aufl. München-Wiesbaden 1922. bes. S. 2~ ff.; ders .. Praxis und Theorie der Individualpsy. chologie (1920).2. Aufl. München-Wiesbaden 1924. 5.4. 10. 22ff. Vgl. Sigmund Freud. Selbstdarstellung (192~). Gesammelte Werke. Bd.14. S.79. Carl Gustav Jung. Psychologische Typen (1921). Gesammelte Werke. Bd.6. S. 484 f.; "Kompensation" bei Jung zuerst in: Ober die Psychologie der dementia praecox (1907). Ebd .. Bd. 3. S. 34. Vgl. außerdem: ders .• Ober die Psychologie des Unbewußten (1916).6. Aufl. Zürich 1948. S. 19~ ff.; ders .. Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten (1928). ~. Aufl. Zürich 19~0. S.98: "daß die unbewußten Vorgänge in einer kompensatorischen Beziehung zum Bewußtsein stehen"; vgl. ff. - In der psychologischen Persönlichkeitstheorie haben das Konzept der Kompensation weitergefiihrt. modifizien. differenzien: Philipp Lersch. Aufbau der Person (1938). 9. Aufl. München 1%4; Gordon W. Allpon. Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit (1949). Meisenheirn 1973. S. 174ff.. 5.603; K. H. Seiffen. Grundformen und theoretische Perspekti· ven psychologischer Kompensation. Psychologia universalis 12 ( 1969). bes. S. 3~ . L. Luciani. Das Kleinhirn (1893);). R. Ewald. Ober die Beziehungen zwischen deI excitablen Zone des Großhirns und dem Ohrlabyrinth. Berliner klinische Wochenschrift 33 (18%); G. Anton. Ober den Wiederersau der Funktion bei Erkran·
Anmerkungen
2~
26 27 28 29 30
31
32 B 34
3~
36 37
153
kungen des Gehirns. MonatsSChrift für die Psychiauische Neurologie 19 (1906). Kompensation ist dabei .. selbsterzeugter Kontrast". Den Hinweis auf diese Diskussion verdanke ich U. Schönpflug; vgl. Han. Der ticfenpsychologische Begriff. Jacob 8urckhardt. Weltgeschichtliche Betrachtungen (1868). Gesammelte Werke. 8asel-Stuttgan 19~ ~ ff.. Bd. 4. S. 192. Ebd .• S. 191. Ebd .• S. 193. Ebd .• S. 194. Ebd .• S. 19H. Vgl. Odo Marquard. Zur Bedeutung der Theorie des UnbcwuSten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst. In: Die nicht mehr schönen Künste. Hrsg. von H.-R.Jauß. München 1968. S. 379. Pierre-H. Azals. Des compensations dans Ics destinm humaines. Paris 1. Aufl. 1808. 2. Aufl. 1818. 3. Aufl. 1818.4. Aufl. 182~. ~. Aufl. 1846. ab der 2. Aufl. vermehn um sechs Novellen von MIne. Azals; hier zit. nach der 3. Aufl. Paris 1818.3 Bde. Für Hilfe bei der Onung und Beschaffung danke ich H. Hudde und 8. Klosc. - Zur Philosophie von Azals vgl. J. Schwieger. Der Philosoph PierrcHywnthe Azals. Phil. Diss. Bonn 1913. DonS. 70undS. n der Hinweis. daß das Gesetz .. Tout cst compense ici bas" in dieser Formulietung als .. Ioi de compensation. loi de fer" sich bereits findet bei A. de Lasalle. La balance naturelle. Paris 1788. Bd. 1. S. 272. das Azals kannte. Azals. Des compcnsations. Bd. 1. S. XII. A. Cournot. Exposition de la throrie des chances et des probabilites. Paris 1843. eh. 9 § 103. Azals. Des compensations. Bd. 1. S. 29: .. u son de I·homme. considerc dans son ensemble. est I'ouvrage de la nature enti~re. et tow Ies hommes sont cgaux par leurson. C'est toutce que Dieu pouvait faire. et c'est toutce qu'a fait pournoussa bienveillance supreme. " 1m Sinne von Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen (19H). I. Nr.67. Hans-Roben JauS. Literaturgeschichte als Provokation. Frankfun a. M. 1970. ,t Aufl. 1974. S. nl. Anm. 17. Uopold von Ranke, Ober die Epochen der neueren Geschichte (18~4). HistorischKritische Awgabe. hrsg. von Th. Schiederund H. Berding, München-Wien 1971.
S. ~9f. 38 Azals. Des compcnsations. Bd. I, S. 1: .. On se plaint du malheur; et c'est Dieu qui, dans sa justice. I'a disuibue sur Ics hommes. 11 faut un caur genereux et un bon esprit pour r«onnaitre cette verite. " 39 Ebd., S. 332; Bd. 2. S. XIV; Bd. 1. S. BI. 40 Ebd., Bd. I, S. 6. 41 Vgl. ebd.; der rationale Kern ist die traditionelle Charakteristik des Weisen: er vermag awgeglichen zu leben. weil er ausgleichen d. h. kompensieren kann; vgl. Cicero, Oe natura deorum 1,23: .. quod ita multa sunt incommoda in vita. ut ca sapientes commodorum conpensatione leniant"; Tusculanae Disputationes ~, 9~: .. itaque hac wurum compensatione sapientem, (ut) et voluptatem fugiat. si ca maiorem dolorem eff«tura sit. et dolorem suscipiat maiorem efficientem voluptatern": den Hinweis auf diese Stellen verdanke ich P. Sittig. 42 H. Hudde weist mich hin auf eine ähnliche Vorstellung bei S. Marechal (anonym). Apologues modemes. a I'wage du Dauphin, premi~rcs I~ons du fils aine d'un
154
Anmerkungen
Roi. Bruxelles 1788. Nachdruck Paris 1976. ~on XLV: "La Balance ... C'etoit une balance faite avec beaucoup de jwtessc. J' y pesai les biens &: les maux de la vie. Elle resta dans un equilibre a.ssez perfait. Elle m' apprit que tout est compense dans la vie" (S. 20f.). Untersucht werden muß m. E. außerdem sachliche Kongruenz und - zweifellos nur indirekter - historischer Zusammenhang der These von Azais mit den überlegungen von lmmanuel Kant. Versuch. den Begriff der negativen Größe in die Weltweisheit einzuführen (1763). insbes. AkademieAusgabe. Bd. 2. S. 197: "AUe Realgründe des Universum. wenn man diejenigen summien. welche einstimmig. und die voneinander abzieht. die einander entgegengesetzt sind. geben ein Fazit. das dem Zero gleich ist": man kann jene These von AzaJs als Spezialfall dieser Kantischen deuten. Azais folgt - wie Schwieger. Azais, S. 74 ff. plausibel macht - u. a. P. L. M. de Maupcnuis. Essai de cosmologie (1 nO). obwohl er dessen - im Essai de philosophie morale (1749). S.21 formuliene - Bilanz .. dans la Vie ordinaire Ia somme des Maux surpa.sse la somme des Biens" zugunsten seiner Ausgeglichenheitsthese zurückweist. jwt so wie Kant. a. a. 0 .. Bd.2. S. 181 f.: .. Der Calcul gab diesem gelehnen Manne ein negatives Facit. worin ich ihm gleichwohl nicht beistimme"; vgl. insgesamt S. 180 ff. Man muß hier sehen: a) daß Maupenuis Präsident der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften war. als sie 1753 (für 1755) die - indirekt gegen Leibniz aufporfene - Preisfrage einer Prüfung des "syst~me de I'optimisme" ( .. I·cxamen du syst~me de Pope. contenu dans la proposition: Tout est bien") stellte. deren Beantwonungsabsicht Kant u. a. auf die Thesen der Schrift über die "Negativen Größen" brachte; b) daß diese Schrift in einer bisher kaum voll gewürdigten Weise wirkungsreich war: nicht nur ist ihr Begriff der .. Realrepugnanz" (a.a.O .• Bd.2. S.I72 u. ff.) Vorläufer des Kantischen "Antagonism"Begriffs (vgl. Akademie-Ausgabe. Bd. 8. S. 20) und damit des daran anknüpfenden Konzepts der geschichtlichen Widersprüche der gcschichtsdialektischen Philosophien; auch das an Newton anknüpfende Theorem einander entgegengesetzter Kräfte - Repulsion und Attraktion -. die sich wechselseitig zu Produkten einschränken. kommt aus dieser Schrift einerseits über das Dynamikhauptstüd von Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaf1 (1786). Akademie-Ausgabe. Bd.4. S.496ff.. bes. S.523. andererseits überJo. hann Gottlieb Fichte. Grundlage der gesammten Wisscnschaftslehre (1794). I § 3. Sämtliche Werke. hrsg. von I. H. Fichte. Bd. 1. S. 105 ff.• bes. S. 110 ("das Nicht· Ich ... dem eingeschränkten Ich entgegengesetzt ist es eine negative Größe") ir F. W.). Schelling.ldcen zu einer Philosophie der Natur (1797). Sämtliche Werke. hrsg. von K. F. A. Schelling. bes. Bd. 2. S. 231 ff.: hier muß einschlägig die Frag« interessieren. wieweit bei dieser Bewegung der Überlegung aw der These einel vorhandenen Zero-Bilanz die These einer werdenden Zero-Bilanz ( .. Identitit" geworden ist: der .. dynamische Prozc6" wird zum stindigen Versuch des Aw gleichs - der Kompensation? - eines Negations-. eines Einscluinkungs-. d. h eines Verendlichungsdefizits. Dies ist wichtig. weil - jedenfalls in dieser Zeit die Naturphilosophie kategorienhinsichtlich der Probevorlauf der Gcschlchtsphi losophie ist. Wo dieser Ansatz heute - psychologisch-biologisch uansfonnien in der .. genetischen Erkenntnistheorie" (uDter Opferung der idealistischen End zweckteleologie) rcaktualisien wird. reüssien der Terminus "Kompensation" vgl. Jean Piaget. Die Aquilibration der kognitiven Strukturen (1975). Stungar 1976; den Hinweis auf die Kompensationsterminologie dieses Buchs verdanke id W. Kretschmer. - Auch im Kontext "Ie plw grand bonheur du plw graDe
Anmerkungen nombre d'individw" gibt es ein Kompensationstheorem ( .. Ie bonheur se compeosc asscz"); vgl. Chastellux. Chevalier de (anonym). Oe la FElicitE publique ou ConsidErations sur le $On des hommes dans les diffErentes Epoques de I'histoire. Amsterdam 1772. 2. Auf). 1776; dem Hinweis darauf, den ich H. Hudde verdanke. habe ich bisher ebensowenig nachgehen können wie dem Hinweis von Jörn Rüsen auf Kompensationsterminologie bei David Hume. 43 .. utte Eternelle perspective. immense compensation spontanee de toutes les misCres quelconques": Augwte Comte, Discours sur I'esprit positif (1844). Nr.66. Hamburg 19~6 (Phil05. Bibl.). S.192. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Manfred Riedel. - Noch C. G.)ung formulien: .. Das allgemeine Problem des Übels ... erzeugt ... kollektive Kompensationen wie kein anderes": Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten (1933). ~. Aufl. Zürich 19~O, S. 104. 44 .. L' auteur de la nature a compense ces maux et auues qui n' arrivant que rarement. par mille commodites ordinaires et continuelles": Gottfried Wilhelm Leibniz. Essais de ThEodicEe (1710). Philosophische Schriften. hrsg. von C.). Gerhardt. Bd. 6. S. 409. Reinhan Kosclleck verweist im Anikel Fortschritt in: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. S. 401 aufLeibniz. Oe rerum originatione radicali (1667). Opera philosophica. hrsg. von J. E. Erdmann, S. 1~O: .. daß Schicksalsschläge in der Gegenwan von Übel, im Effekt aber gut seien, .rum sint viae compendiariae ad majorem perfectionem' ". H. Poscr hat mir hier mit Recht eingewandt. daß der Nachweis einer innerweltlichen Kompensation der Übel durch Güter nicht das uagende Argument der Theodizee von Leibniz ist. In der Tat: Wenn Gott schaffen und das Bemnögliche schaffen wollte. mußte er - nach Leibniz - die Übel ggf. auch unkompensien in Kauf nehmen: das ist - wenn ich richtig sehe - die kreationstheologische Anwendung des Satzes .. der Zweck heiligt die Mittel" (wobei diese Heiligung wiederum eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Kompensation hat). Leibniz .. braucht" also nicht das Argument einer innerweltlichen .. Kompensation": dies erklärt. warum dieses Won bei Leibniz trotz allem nur selten vorkommt. 4 ~ .. Non Iicet compensos ... in festivitatibw Sanctorum facere": so noch mittelalterlicher Wongebrauch. vgl. Du Cange, Glossarium mediae et infunae latinitatis (,1937), Artikel Compensw. Compensum; vgl. Anikel Compensa, Compensatio. 46 .. Compensatio lucri cum damno": ein aw einem Schadensersatz sich ergebender Voneil muß bei der Festscuung der Ersauleistung awgleichend angerechnet werden; den Hinweis auf diesen Wongebrauch verdanke ich Th. Raiser. 47 Gajw. Institutiones 4, 66: .. inter conpensationem ... quae argentario opponitur et deductionem, quae obicitur bonorum emptori. illa differentia est. quod in conpensatione hoc solum vocatur. quod eiusdem generis et naturac est . .. in deductionem ... vocatur et quod non est eiusdem generis". Zur literatur über .. compensatio" im römischen Recht vgl. Artikel compensatio in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. I, Stungan 1964, S. 1264f. 48 Encyclopedie ou dictionnaire raisonnE. Hag. v. Diderot und d' Alemben. Paris 1751 ff.. Neudruck 1%6: .. Compensation Ourisprud.) est la confusion qui sc fait d'une dette mobiliaire liquide. avec une auue dette de meme nature." 49 Johann Heinrich Zedler, Großes voUstindiges UniversaUexikon aller Wissenschaften und Künste. Halle-Leipzig 1732 ff. ~O H. Sieber, Kompensation und Aufrechnuog (1899). Vgl. auch StGB §§ 199, 233;
156
Anmerkungen
einschlägig ist die unter Berufung auf Thomas von Aquin, Summa theologiac, 11 111, q. 89. von Franeisco Suirez, Commentaria in Sccundam Sceundae D. Thomac. im Tractatus V: Oe juramento et adjuratione, lib. 11, eap. 37 (Opera omnia, Bd. 14, S. 646 - 652) diskutiene Frage: .. an in juramcnto implendo liccat eompensatione uti?" Verwandte moraltheologischc Probleme im sog ... Kompensationssystem" bei D. M. PrümrDer, Manuale theologiac moralis (1915). - Beiseite bleiben muß hier eine Besprechung der Bedeutung von "eomperuatio" in der Rhetorik; vgl. Aquilae Romanae de figuris scntentiarum et docutionis liber, § 14. in: C. Halm. Rhctores Latini minores (1863). Neudruck 1964. S.26: .. dcvnLGq'(a)rTI. compensatio. Est autem huius modi. ubi aliquid difficile ct conuarium confitendum est. scd contra inducitur non minus fumum"; diese Bedeutung noch bei). Micraelius. Lcxicon philosophicum terminorum philosophis usitatorum. 2. Auf}. 1662. Neudruck 1966: don Verweis von .. compensatio" auf An. ~. don Hinweis auf ml\~. 51 .. eompensatione sanguinis sui": Tenullian. Apologcticum. 50. 15. Opera (Corpus Christianorum Scries Latina). Bd.l. S. 171; .. compensatione res acta est ... Compensatio autem rcvocabilis non cst. nisi dcnique rcvocabitur iteratione mac· chiae utique et sanguinis et idolatriac": ders., Oe pudicitia, 12.8. Opera. Bd. 2. S. 1303; vgl. ders .• Oe paenitentia, 6.4. Opera. Bd. 1. S. 330; Scorpiace. 6.8. Opera. Bd. 2. S. 1080. - Interessant wire die Frage nach Kongruenz und Inkon· gruenz dieses theologischen Kompensationsgedankens mit dem Gedanken dei SteUvertretung; vgl. - ohne daß don (was innerhalb der heideggerthcologischer Ansäue auch ganz unwahrscheinlich ist) das Won Kompensation gebraucht ist Dorothee SöUe. SteUvenrctung. Stuttgan-Berlin 1965. - Zum Wongebrauch be Augustinus vgl. Oe libero arbitrio 3. 23. 68: .. Quis ... novit. quid ipsis parvulis ir secreto iudiciorum suorum bonae compensationis reservet Deus?" 52 Vgl. Ansclm von Canterbury. Cur Deus homo? (um 1095). üb. 11. Cap. XVIII Christus hat durch das Opfer seines Lebens Gott etwas gegeben ... quod prl omnibus omnium hominum debitis recompensari potest"; vgl. üb. I. cap. XXIV 53 ). A. Quenstedt. Theologia didactico-polemica (1696). Bd.4. eap. IX. sect. 11 q.4: er betont in bezug auf die "quaestio ... an Ikus bona opera praemij temporalibus et aetemis eompensct". daß Gott durch .. gratuita compensatione' belohnt in einer .. compensatio ... qua propter unum non redditur aliud". DeI Hinweis auf diese Stelle verdanke ich C. H. Rauchow. 54 überschrift des leuten Kapitels (Kap. XXIV. §§ 350 - 356) von). Clauberg, On tosophia (1647). Opera omnia philosophiea. Amsterdam 1691. Neudruck 1968 Bd. 1. S. 398 f. Don die Definition: .. Compensationis nomine hie generalite intelligimus affumationis relationem. qua unum sumitur pro alio. ponitur locl alterius. viees ejus supplet. utpote simile vel acquivalens seu tantundem prae stans. Vocatur alias eommutatio. subrogatio. substitutio." Don auch § 356 ein Urformulierung des Prinzips kompensatorischer Erziehung: .. Causa universali compensat partieularem. uti rcspublica in educandis orphanis supplet vices paren tum." 55 .. Nam ea ipsa malorum ... eompensatio ... est proprie iUe finis. quem ob oculo habuit divinus anifcx": I. Kant. Principiorum primorum cognitionis metaphysi eae nova dilucidatio (1755). Akademie-Ausgabe. Bd. 1. S.405. In den Zusam menhang paßt. daß .. Kompensation" in einem kantinterpretiercnden Text auc. gegenwärtig genau don auftaucht. wo dieser in einem erwcitenen Thcodizeekol1 text steht; vgl. Hans Blumenbcrg. Die Genesis der kopernikanischen Weil
Anmerkungen
56
57 58
59
60 61
62
63 64 65
66
157
Frankfuna. M. 1975. S.17: .. die nackte Frage •... was das Faktum des Lebens ... rechtfenigen könnte •... gehön in den philosophischen Untergrund und uitt spätestens zutage. wenn Kant aw der Unmöglichkeit. die Zwtimmung der ins Leben Tretenden zuvor einzuholen. die Folgerung der ihnen rechtlich durch ihre Erzeuger geschuldeten Kompensation zieht. sie nachträglich mit der ungewollten Existenz zu versöhnen und ihnen dadurch die eigene Zustimmung zu diesem Faktum zu ermöglichen." (Bezug: I. Kant. Metaphysik der Sitten: Rechtslehre. § 28). Vgl. u. a. Hermann Lübbe. Traditionsverlwt und Fon.schrittskrise. Sozialer Wandel als Orientierungsproblem. In: ders .. Fon.schritt als Orientierungsproblem. Freiburg i.Br. 1975. S. 32ff. Rudolf Carnap. Scheinprobleme der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Rcalismusstreit. Nachwon von Günther Patzig. Franlcfun a. M. 1966. S.85. Johann Wolfgang Goethe. Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie. ausgehend aw der Osteologie (1795). Hamburger Awgabe. Bd. 13. S. 176f. Adolf Meyer-Abich. Naturphilosophie auf neuen Wegen (1948). S.268; vgl. ders .. Goethes Kompensations-Prinzip. das erste holistische Grundgesetz der modemen Biologie. In: Biologie der Goethezeit (1949). Vgl. Hermann Driesch. Philosophie des Organischen (1909).4. Aufl. 1928. S. 9Off.; K. Goldstein. Der Aufbau des Organismw (1934). Neudruck 1963. S. 71. 236f. Wilhelm Szilasi. 1954 gcsprichsweise. Stendhal. zit. bei Walter Mehring. Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur (1944). Münr.hen 1975. S. 15. Zum folgenden vgl. Odo Marquard. Idealismw und Theodizee (1965). In: ders .. Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. FranJcfun a.M. 1973. S. 52 - 65; don auch S. 69ff. Vgl. Georg Wilhdm Friedrich HegeI. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1822ff.). Theorie Werkausgabe. Bd. 12. S. 540 ( .. dies ist die wahrhafte Theodizee"); vgl. noch). G. Droysen. GrundriS der Historik (1858). Hrsg. von R. Hübner. 3. Aufl. 1958. S. 341. und im Vorwon zur Geschichte des Hellenismus. Bd.2. S.371: .. die höchste Aufgabe unserer Wissenschaft ist ja die Theodicee". Friedrich Hölderlin. Patmos (1803). Sämtliche Werke (Kl. Stuttganer Awgabe). Bd. 2, S. 173 bzw. 181 bzw. 187 bzw. 192. Wilhelm Busch. Die fromme Helene (1872). 16. Kap. Vers I. G. W. F. HegeI. u. a. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1822 ff.). Theorie Werltausgabe. Bd. 12. S. 49. An Hegels Überlegungen zur Bewegungsan der Geschichte (Kreislauf: S. 74; Veränderung: S. 97; Verjüngung: S. 98; etc.) läßt sich die Frage nach der Bewegungsmetaphorik. hier die spezielle nach der Kompensationsmetaphorik anschließen: es wäre u. a. reizvoll. das Phänomen der Kompensation mit dem Bildfeld des .. Wiederwuchses" in Verbindung zu bringen; vgl. J. Trier. Renaissance (1950). In: ders .• Holz. Etymologien aw dem Niederwald. Münster-Köln 1952. Die erforderlichen Recherchen nach einem Gebrauch des Kompensationsbegriffs innerhalb der historischen Schule des 19. Jahrhunderu stehen noch aw. Plawibel wäre eine Verzögerung seines Einsatzes durch die Konjunktur verwandter Kategorien in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderu: z. B... Wiederherstellung"; vgl. Friedrich Schlegel. Philosophie der Geschichte (1828). Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 9. S. 3 u. i. w.; einschlägig literarhistorisch: C. Heselhaw. Wie-
158
Anmerkungen
derhemellung. Rcstauratio - Restitutio - Regenerauo. Deutsche Vieneljahrsschrift für literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2~ (19~1): .. diese Untersuchung will den Nachweis erbringen. daß im •wiederhetstellenden' Dichter auch der Künstler erwas vom Restaurator erhält" (S.78); dieser .. Poeta restaurator" (S. 79) operien im Terrain zwischen zwei Grenzen: der einen .. Grenze. wo die Wiederhemellung sich ins Utopische verlien. Die andere Grenze liegt in der bloßen Restauration. Zwischen diesen Grenzen möchte ich den Kern des Wiederherstellungsgedankens sehen" (S.77): diese Untersuchung zeigt literaturgeschichtlieh. daß zwischen 1809 und 1868 (Stifter) im Sinnbezirk der Wiederherstellung - zu dem dann schließlich auch die Kompensation als Wiederersatz gehön - andere Kategorien dominieren. - Der Kompensation sinnverwandte Wendungen finde ich bei I.copold von Ranke. Ober die Epochen der neueren Geschichte. S.439: .. indem alles sich rekorrigiene"; Johann Gustav Droysen. Vorwon zur Geschichte des Hellenismus (1843). Bd.2. S.384: .. Ist denn die Geschichte nicht reich genug. jeden Verlust. den sie bringt. mit vollen Händen zu ersetzen?" - Auch die gegenwänige Historiographie ist einschlägig ununtersucht; z. B. bei Reinhan Koselleck. Preußen zwischen Reform und Revolution. Stuttgan 1967. ist Kompensation kein Geschichtsverlaufsbegriff (vgl. S. 636: .. ein schroffes Gesetz. dessen soziale Bestimmungen von schärfster Konuolle kompensien werden"); einschlägig in etwa S. ~1: .. Diesem Schrumpfungsvorgang entsprach nun eine nicht minder wichtige Gegenbewegung". - Gleiches gilt von deI modemen Philologie; meine Frau macht mich aufmerksam auf Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt (1964). Stuttgart-Berlin-Köln-Maim 2. Auf). 1971. S. 274: .. in der modemen städtischen Gesellschaft ... (hat das) ... Besprechen ... vom Tagewerk her auch den Feierabend eroben und verdrängt die Erzählrunde. Das Geschichtenerzählen zieht sich auf den Raum der schöner Literatur zurück. wo es nun freilich in der Form des Romans nach wie VOI unangefochten herrscht und vielleicht stärker ist denn je - eine Kompensation?" - Weitere Desideratenanmerkung: Kompensation hat mit Ausgleich. Bilanz Balance. Gleichgewicht zu tun; es wäre also auch das Begriffsfeld des politischer - außenpolitischen. diplomatischen. völkerrechtlichen ClC. - Gleichgewichts. denkens nach dem Gebrauch des Wones Kompensation - in Hoffnung auf di. Ermittlung eines Phänomens .. kompensatorischer Diplomatie" - abzusucher (Kompensationen von Störungen dieses Gleichgewichts): dies war mir - de Anikel Gleichgewicht in Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. gibt keine ein schlägigen Belege - bisher nicht möglich. - Es gibt auch eine Balance (Ausgewo genheit) der im Sinne der Gewaltenteilung geteilten Gewalten: wo dieses Gleich gewicht gestön ist. mögen ebenfalls Kompensationen erforderlich sein. Jedenfall stand der - neben den in Anm. 39 zitienen Stellen - vonheologisch philosophi sche Emgebrauch des Kompensationsbegriffs im KontCJ:t einer Vorform de Gewaltenteilungslehre; vgl. M. Tullius Cicero. De re publica 2. H: "nisi aequabi lis haec in civitate conpensatio sit et iuris et officii et muneris. ut et potestatis sati in magisuatibw et auctoritatis in principum consilio et libenatis in populo sit non posse hunc incommutabilem rei publicae conservari statum": den Hinwei auf diese Stelle verdanke ich P. Sittig. dessen weitere Untersuchungsergebfliss. über den lateinischen Gebrauch des Wones .. compensatio" und griechisch, Äquivalenzwone ich ebenso wie andere Ergebnisse aus meinem Kompensations seminar im Sommerscmester 1976 und Winterscmester 1976/77 hier leider noel nicht berücltsichtigen kann.
Anmerkungen
159
67 Amold Gehlen. Anthropologische Forschung. Hamburg 1961, S. 8 u. i. w.; ders., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940). 9. Aufl. Franktun a. M. 1971. S. 36; ..so die Mängel seiner organischen Ausstattung irgendwie erseuend" , S. 40. Die erstgenannte Stelle, auf die mich R. W. Schmidt hingewiesen hat. ist m. W. die einzige bei Gehlen, an der er den Kompensationsbegriff ausdrücklich vcnrendet; seinen sonstigen Nichtgebrauch bei Gehlen erkläre ich mir durch die bei ihm - durch deren Subsumtion unter den .. unwirklichen Geist" bedingte - vorherrschend negative Besetzung als psychoanalytisch geltender Vokabeln. Auch Herder, auf den Gehlen sich vor allem beruft (S. 82 ff.), benuut m. W. nicht das Wort .. Kompensation"; wohl aber hat er seine deutsche Oberseuung versucht: er will angesichts .. der allgemeinen thierischen Ökonomie" beim Menschen .. eben in der Mitte" seiner .. Mängel ... den Keim zum Ersaue" froden und .. diese Schadloshaltung" - was doch wohl Kompensation bedeutet - als .. seiDe Eigenheit", den .. Charakter seines Geschlechts" verstehen: Johann Gottlieb Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772). Werke, hrsg. von Suphan, Bd. 7, S. 27. Soweit Niklas Luhmann das Konzept des Entlastungsprinzips - unter Verwendung systemtheoreti.scher Mittel - foCtseut, ist zu erwarten, daß auch für ihn der Kompensationsbegriff interessant sein muß, und zwar nicht nur für Details; zu diesen vgl. die Analyse der .. Taktkompensationen" .. der Taktunfihigkeit des Routinehandelns" in: Niklas Luhmann, lob der Routine (1964). In: ders., Politische Planung. 2. Aufl. Opladen 1971, S.135, 136, vgl. 134ff.: .. Folgeprobleme und Kompensationen". Denn es ist doch so: Komplcxitiweduktion d. h. Verzicht an einer Stelle ermöglicht oder erzwingt Aufwand an einer anderen; in diesem Sinne ist z. B. ein Kompendium eine Kompensation, indem es dem Leser durch Detailersparung ObersichtsgcwinnC' verschafft; nach dem gleichen Kompensationsprinzip arbeiten - vgl. schon N. Ach, Das Kompensations- oder Produktionsprinzip der Identiftkation. Berichte des XII. Kongresses für experimentelle Psychologie (1931) - die menschlichen Sinnessysteme: just in dieser Form könnten wohl auch in Luhmanns Theorie Orientierungs-. Stabilisierungs-, Kontingenzbewältigungs- und Identitätseruäge durch .. Komplexitätsreduktion " als Kompensationen gedeutet werden. Erwa in diesem Sinn interpretiert er inzwischen .. Identität" als .. Kompensativ für Kontingenz": N. Luhmann, Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften. Manuskript für das KolJoquium .. Poetik und Hermeneutik VIII" (1976), S. 11. 68 .. Le choa que je suis": Jean-Paul Same, L'~tre et le nhnt. Paris 1943, S.638. Durch .. neantisation" ist das .. pour-soi" .. defaut d'etre" (S. 128): .. c'eS( le manque. Ce manque n'appanient pas a la nature de I'en-soi, qui est tout positivite. II ne paralt dans le monde qu'avec le surgi.ssement de la rklite humaine ... La realite humaine ... doit hre elle-meme un manque" (S. 129 f.). Diese Mängelverfassung der puren Existenz muß kompensiert werden: dabei wird auch bei Sanre - soweit ich sehe - das Wort .. Kompensation" in eigener Sache nicht terminologisch verwendet, weil es - vgl. ebd .. S. 551 ff., 00. n2 - für den speziellen Zusammenhang der Auseinanderseuung mit Adler reserviert bleibt. So heißen bei Same die mängelkompensierenden Leistungen .. projet" , .. choa" etc. Indes: auch Sames Existenzphilosophie der kompensatorischen .. transcendance" des zur puren Existenz genichteten Mängelwesens Mensch ist grundsätzlich ein Kompensationstheorem . 69 Vgl. Wilhelm Wundt, Ethik. Bd.l, 1912, S. 2S4f.; Rainer Specht. Innovation
160
Anmerkungen
und Folgelast. Stuttgan 1972: "Abstand zwischen Entschddungsintmtion und geschichtlichem Resultat": S. 227; vgl. insbes. S. 13 -18 und 225 - 229. 70 Vgl. die Interpretation bei Wilhelm Szilasi. Macht und Ohnmacht des Geistes. Frdburg i.Br. 1946. S. 216ff. 71 Hdmuth Plessner. Die verspätete Nation. Ober die politische Verführbarkdt bürgerlichen Geistes (1935). Frankfun a.M. 1974, S. 107. 167. Auch don der Kompensationsbegriff nicht apressis verbis; aber: "Ausgleich" S.96. 97. 101; der "in vielen geschichtlichen Vorgängen wirksame Mechanismus des Ersatzes irgendwie überlebter Dinge durch lebensfrische Äquivalente": S. 104; "ständig absinkende Ersauformen ": S. 119; usf. 72 Reinhan KoseUeck. Anikd Geschichte in: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. S.702ff. 73 "Die mit der GcseUschaft beginnende Zukunft verhält sich diskontinuierlich zur Herkunft": Joachim Ritter. Subjektivität. Frankfun a. M. 1974. S. 27; vgi. ders .. Europäisierung als europiisches Problem (1956). In: ders .. Metaphysik und Politik. Frankfun a.M. 1969. bes. S. 329.335. 338ff.; ders .. Hegd und die französische Revolution (1957). Ebd .. S. 212 u. ff. 74 G. W. F. Hegd. Glauben und Wissen (1802). Theorie Werkausgabe. Bd.12. S.289f. n Joachim Ritter. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modemen Gesellschaft. In: ders .. Subjektivität. 76 Ebd .. S. 132; vgi. S. 131. Kompensation ist also nicht nur eine individualbiographische. sondern eine historische Kategorie; darum scheint es mir zwar legitim. aber keineswegs notwendig. den Kompensationsbegriff - wie R. Heinz. Geschichtsbegriff und Wissenschafucharakter der Musikwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundens. Regensbwg 1968. dies in bezug auf die Genesis der autonomen. historisch sich wendenden Musiktheorie tut ("Theorie als Kompensation mangelnder kompositorischer Bdihigung": S. 81) - nur für die Interpretation "subjektiver Motive" einzusetzen: vgi. S. 81 ff. 77 Ritter. Aufgabe, S.132f. Man muß übrigens sehen. daß die hier von Ritter entwickelte Deutungsfigur im Prinzip dieselbe ist. mit der er in seinem Aufsatz Ober das Lachen ( 1940) die Funktion des Lachens charakterisien: Wiederhemdlung von offiziell negiener Zugehörigkeit unter Verwendung anderer Mittel; damit hängt "die seltsame Tatsache" zusammen. "daß in unserer Welt philosphisch in der Erscheinung des Humors dem Lachen eine Bedeutung zugefallen ist. durch die es gleichsam in den philosophischen Mittelpunkt der Welt selbst geruckt ... ist" als ein Kompensationsphänomen: Ritter. Subjektivität. S. 84. 78 Das Phänomen der - im Sinne von Touropa und Ben Brecht - Tui-Tui (Touristik Union International der Intellektuellen): vgl. Benolt Brecht. Der Tui-Roman. Fragmente. Fraokfun a.M. 1973. 79 Marquard. Skeptische Methode im Blick auf Kant. S. 11.
Kunst als Antifiktion - Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive Vgi. L. Oeing-Hanhoff. An. "Gedankending" . in: J. Ritter (Hg.). Historisches Wönerbuch der Philosophie. Bd. 3. BaseIlStuttgan 1974. Sp. 55 - 62.
Anmerkungen
161
2 Oescanes, "Meditationcs" 3. 13, in <Euvrcs (Adam/Tannery), Bd. 7, S. 38. 3 A. G. Baumganen, Aesthetica (1750), Hildesheim 1961, § H 1, vgl. §§ 505 ff. 4 J. Burckhardt, "Weltgeschichtliche Betrachtungen" (1768), in: Gesammelte Werke, BascIJStuttgan 1955ff., Bd.4, S.2. 5 J. Habemw, "Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikati· ven Kompetenz", in: J. Habermas / N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtcchnologie - Was leistet die Systemforschung?, Frankfun 1971, S. 120. 6 Nietzsche, "Ober Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn", in: Werke (Schlechta) Bd. 3, S. 309. 7 Nietzsche, "Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre", in: Werke (Schlechta) Bd. 3, S.844. 8 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B S. 799. 9 Kant, "Kritik der praktischen Vernunft", in: Akademieausgabe, Bd. 5, S. 122ff. 10 J. Harms, Jean Pauls Weltgedanken und Gedankenwelt unter theologie. und phiJ050phiegeschichtlichem Aspekt, Marbwg 1974. 11 In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie, 20 (1978), S. 39 - 90. 12 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Franlcfun 1966, S. 78. 13 Zit. bei C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 96. 14 H. Grotius, Oe jure belli ac paris, 1625, Proleg, 11, 12; vgl. lib. l. cap. I, sectio 10,5. 15 M. ScheIer, "Mensch und Geschichte". in: Philosophische Weltanschauung. Bonn 1929. S.15 -46; er dachte dabei an Kam, Nietzsche, Nicolai Hartmann. 16 Oescanes. "Meditationes" 1.12, CEuvres (Adam/Tannery), Bd. 7, S. 21. 17 Ebd. 1.15. S. 22. 18 E. Husserl. "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie". in: Husserliana 3, S. 114. 19 A. Comte. Discours sur L'Esprit Positif. Paris 1844. Abschnitte 3 ff., 9ff., 12 ff .• 12. 15. 20 Voltaire, Epitre a "auteur du nouveau livre des trois imposteurs, 1769, Vers 22. 21 Heidegger. Sein und Zeit, Halle 1927, S. 50 Anm. 1. 22 Kam, "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", in: Akademieausgabe Bd. 4, S.416f. 13 Vgl. Kant. Kritik der reinen Vernunft B S. 126: "Die tranSzendentale Deduktion aller Begriffe apriori hat also ein Principium. worauf die ganze Nachforschung gerichtet werden muß. nämlich dieses: daß sie als Bedingungen apriori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen ... Begriffe, die den objekti. ven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben, sind eben darum notwen· dig": die Kritik muß "dieser ihre Unentbehrlichkeit zur Möglichkeit der Erfah· rung ... dartun": B S. 5. 24 Ebd. B S. 349ff. 25 Kierkegaard, "Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philoso· phischen Brockco", in: Gesammelte Werke. 16. Abt .• S. 200. 26 Vgl. A. Adler, Ober den nervösen Charakter. München/Wiesbaden '1922, S.3-64. 27 K. Mannheim, Ideologie und Utopie. Frankfun '1952, S. 6Off. 28 A. Gehlen. Urmensch und Spätkultur. Frankfun/Bonn ll964. S. 20Hf. 29 Vgl. F. H. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, Freiburg/München 1972.
162
Anmerkungen
30 H. Schelsky. Die Hoffnung Blochs - Kritik der marxistischen Existenzphilosophie einesjugendbewegten. Stuttgart 1979. S. ~1. S. 230. 31 R. KoscUec.It ... Erfahrungsraum und Erwanungshorizont - zwei historische Kategorien". in: R. Kosellcck. Vergangene Zukunft - Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfun 1979. S. 349- 3n. 32 Vgi. M. Merleau-Ponty. Die Abenteuer der Dialektik (19~~). dt. Frankfurt 19~8. 33 G. Lukacs. Geschichte und Kla.ssenbewußtsein. Berlin 1923. S. 57 ff.; vgi. S. Hf. und das Vorwort 1967 in der Ausgabe Neuwied/Berlin 1970. S. 18. 34 ). Habermas ... Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz". im Anm. ~ zit. Buch S. 140. 35 M. Horkheimer I Th. W. Adorno. Dialektik der Aufklärung (1944). Amsterdam 1947. S. 307. 36 Th. W. Adorno. Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfun 19~ 1. S. 480 - 481. 37 Freud ... Das Unbehagen in der Kultur". in: Gesammelte Werke. Bd. 14. S. 432. 38 Vgi. H. R.Jauß (Hg.). Nachahmung und IUusion (Poetik und Hermeneutik I). München 1964. 39 Vgi. Ven.... Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz". in: O. Marquard I K. Stierle (Hg.). Identität (Poetik und Hermeneutik VIII). München 1979. S.36HI. 40 Fichte. Sämtliche Werke (hg. I. H. Fichte). Bd. 4. S. 3H. 41 Schelling ... System des uanszendentalen Idealismus" . in: Sämtliche Werke (hg. K. F. A. Schelling). Bd. 3. S. 629. 42 Ven.... Zur Bedeutung der Theorie des Unbcwußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst". in: H. R.Jauß (Hg.). Die nicht mehr schönen Künste (Poetik und Hermeneutik III). S. 387. 43 H. R.Jauß. Ästhetische Enahrung und literarische Hermeneutik I. München 1977. 44 Vgi. Ven.... Exile der Heiterkeit". in: W. Preisendanz I R. Warning (Hg.). Das Komische (Poetik und Hermeneutik VII). München 1976. S. 149 f.
Gesamtkunstwerk und Identitätssystem Folgende Autoren sind - durch Angabe von (römisch) Band- und (arabisch) Seitenzahl - nach folgenden Gesamtausgaben zitiert: Adorno. Theodor W.: Gesammelte Schriften. Frankfurt 1971 ff.; Benjamin. Walter: Gesammelte Schriften. Frankfurt 1972ff.; Fichte. )ohann Gottlieb: Sämtliche Werke. hg. I. H. Fichte. Berlin 1845/46; Hegel. Georg Wilhelm Friedrich: Theorie Werkausgabe. Frankfurt 1970ff.; Nietzsche. Friedrich: Werke in drei Bänden. hg. K. Schlechta. München 0.). (1954ff.); Schelling. Friedrich Wilhelm )oseph: Sämtliche Werke. hg. K. F. A. Schelling. Stuttgartl Augsburg 18~6 - 1861; Sehopenhauer. Arthur: Sämtliche Werke. hg. Löhneysen. Stuttgart/Frankfurt 1963; Wagner. Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 2. Auf) .. Leipzig 1887/88. - Außerdem sind folgende Autoren nach folgenden Einzelausgaben zitiert: Breton. Andre: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg 1968; Dahrendon. Ralf: Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte. Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (19~8). Köln/Opladen '1965;
Anmerkungen
163
Gehlen. A.moJd: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modemen Malerei (1960). Frankfurt/Bonn 1196~; GoU. Yvan: Die Unsterblichen. Zwei Oberdramen; vgJ. auch: Es gibt kein Drama mehr (S. 84); OberrcaJismw (S. 8~ f.) in: GoU. Yvan: Dichtungen. lyrik. Prosa. Dramen. hg. Qaire GoU. Darmstadtl Berlin/Neuwied 1960 (Dank an Barbara KJose); Kracauer. Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfun 1977; lenk. Elisabeth: Der springende Narziss. Andre Bretons poetischer Materialismw. München 1971; TocqucvilJe. Alexis de: Ober die Demokratie in Amerika (183~/40). München 1976; Wagner. Richard: Künstlenum der Zukunft. Zum Prinzip des Kommunismw (1849). in: Wagner. Richard: AusgcwähJteSchriften. hg. D. Mack. Franlcfun 1%6; Wapncwsk.i. Peter: Der uaurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden (1978). München 1982.
Kunst als Kompensation ihres Endes I ehr. Enzensberger.literatur und Intercssc. Eine politische Ästhetik. 2 Bde. München 1977. 2 A.a.O .. Bd.I. IB. 3 VgJ. E. Bloch. Das Prinzip Hoffnung (19~4). Bd. 1. Franlcfun 19~9. 242ff. 4 J. Ritter. Subjektivität. Sechs Aufsätze. Franlcfun 1974. 62 - 92 und 93 -104. ~ VgJ. G. W. F. Hegel. Glauben und Wissen (1802). Theorie-Werkausgabe Bd. 2. 289f. 6 F. Nietl.Khe. Die Gebun der Tragödie. Versuch einer Selb$tkriLik (1886). Werke (hg. K. Schlechta) Bd. I, 17. 7 VgJ. F. W.). ScheUing, System des uanszendentalen Idealismus (1800). Sämtliche Werke Bd. 3. 3~1. 8 .. In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes": G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1818ff.). Theorie-Werkawgabe. Bd. 13. 2~; vgJ. ff. 9 VgJ. ). Ritter. An. Ästhetik, in: ). Ritter (Hg.): Historisches Wönerbuch der Philosophie Bd.1. Basel/Stuttgart 1971, bes. Sp. ~24ff. VgJ. W.OdmüJJer. Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Kunst nach Hegel. in: Philosophisches Jahrbuch 73 (196~) n - 94; vgl. W.OdmüUer, Die unbefriedigte Aufklärung. Frankfun 1979. 240ff. 10 VgJ. oben, Ober die Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst. 11 H.G.Gadamer, in: Philosophische Rundschau 18 (1971) bcs. 62; vgJ. oben O. Marquard. Exile der Heiterkeit. Anm. 40. 12 W. Bröcker. Hegels Philosophie der Kunstgeschichte. in: W. Bröcker. Auseinandersetzungen mit HegeJ. Franlcfun 196 ~. H ff. 13 Gegen die .. Kunsueligion" der griechischen Antike; in dieser .. tritt die absolute Kunst hervor; früher ist sie das instinktanige Arbeiten .... Später ist der Geist über die Kunst hinaw": G. W. F. Hegel. Phänomenologie des Geistes (1807). Theorie-Werkawgabe Bd. 3. ~ 14. 14 VgJ. oben Anm. 2. 1~ Zur .. Verdoppelung der Ästhetik" vgJ. o. Marquard. Transzendentaler Idcalismw. romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse (1963). Köln 1987. 18~ff. 16 Der in der Sitzung der Academie Fran~aise vom 27. 1. 1687 durch Ch. Perraults
164
Anmerkungen
.. Poeme sur le siede Louis le Grand" hervorgerufene Streit um die überzeitliche Vorbildlichkeit der Anme oder die sie überbietende Fon.schrittlichkeit der Modernen; vgl. H. R.Jauß, Literarische Tradition und gegenwäniges Ikwu&sein der Modernität (196~), in: H. R.Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfun 1970,00. 29ff. 17 P. Szondi, Anme und Modeme in der Ästhetik der Goethezeit, in: P. Szondi, Poem und Geschichtsphilosophie I. Frankfun 1974, 11- 26~. 18 H. R.Jauß, Schlegels und Schillers Replik auf die .. QuereUe des Anciens et des Modernes", in: H. R.Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfun 1970, 67 -106. 19 G. W. F. Hegd, Vorlesungen über die Ästhetik (1818ff.). Thwrie Werkausgabe Bd.n, 24 und Bd. 14, 127f. 20 Th. W. Adorno, Ästhetische Thwrie. Gesammdte Schriften Bd. 7. Frankfun 1970, ~OI, ~08. 21 H. R.Jauß, Ursprung und Bedeutung der Fon.schrittsidtt in der .. Querdie des Anciens et des Modernes", in: H. Kuhn I F. Wiedmann (Hgg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fon.schritt. München 1964, ~ 1 - 72. 22 A. Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960). Frankfun/Bonn 2196~, 1~O: "Als nun die Sowjets die abstrakte Kunst ächteten, geschah etwas sehr Entscheidendes: Sie entpolitisienen damit die moderne westliche Malerei, denn es war jetzt unmöglich geworden, die jeweils neueste Richtung mit politischen VorsteUungen nach ünlcs hin glaubhaft zu verbinden. Damit wurde die Kunstrevolution von den politischen Nebengeräuschen befreit, d. h. in die bloße Kunstimmanenz hineingezwungen" , also zur .. entpolitisienen Revolution"; vgl. ff. 23 Vgl. O. Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18.Jahrhunderts (1978 bzw. 1980), in: O. Marquard, Abschied vom PrinzipieUen. Stuttgan 1981, 39 - 66. 24 W. Preisendanz, Der FunktionsUbergang von Dichtung und Publizistik bei Heine, in: H. R.Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Poetik und Hermeneutik 111. München 1968, 343 - 374, vgl. 629ff.; vgl. H. R.)auß. Das Ende der Kunstperiode - Aspekte der literarischen Revolution bei Heine, Hugo und Stendhal. in: H. R.Jauß. Literaturgeschichte als Provokation. Frankfun 1970. 107 -143. n Vgl. oben O. Marquard. Kunst als Antiftktion. Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive. 26 H. U. Gumbrecht, Lebenswelt als Fiktion - Sprachspide als Antiftlttion. Ober Funktionen des realistischen Romans in Frankreich und Spanien. in: D. Henrich I W.lser, Funktionen des Fiktiven. Poetik und Hermeneutik Bd. 10. München 1983.239 - 275.
Nachweise:
A~thetica
und Anaesthetica. Auch als Einleitung. Eine Vorfassung erschien unter dem Titel .. Nach der Postmoderne" in: P. Kosiowski I R. Spaemann I R. Löw (Hgg.): Modeme oder Postmoderne? Zur Signatw des gegenwinigen Zeitalters. Civiw Resultate Bd. 10. Weinheim (Acta Humaniora. VCH) 1986. Hier ergänzt und überarbeitet (1989).
Kant und die Wende zur Ästhetik. Zuerst in: Zeitschrift für Philosophische Forschung Bd. 16 (1962) 231- 243 und 363 - 374. Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst. Zuerst in: H. R. JauB (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Poetik und Hermeneutik Bd. 3. München (Fink) 1%8. 375-392. Exile der Heiterkeit. Zuem in: W. Preisendanz I R. Warning (Hgg.): Das Komische. Poetik und Hermeneutik Bd. 7. München (Fink) 1976. 133 - i 51. Kompensation. überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse. Zuerst in: K. G. Faber I Chr. Meier (Hgg.): Historische Prozesse. Theorie der Geschichte Bd. 2. München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 1978. 330 - 362. Kunst als Antifiktion. Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive. Zuerst in: D. Henrich I W.lser (Hgg.): Funktionen des Fiktiven. Poetik und Hermeneutik Bd. 10. München (Fink) 1983. 35 - 54. Gesamtkunstwerk und Identitätssystem. überlegungen im Anschluß an Hegels Sehellingkritik. Zuerst in: H. Sz«mann (Hg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Aarau und Frankfun (Sauerländer) 1983.40 - 49. Kunst als Kompensation ihr~ Endes. Zuem in: W. Oelmüller (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Kolloquium: Kunst und Philosophie Bd. 1. Paderbom usw. (Sehöningh-lJfB 1105) 1981. 159 -168. Auf dem Titel-Umschlag ist ein Tempera-Bild von mir aw dem Jahr 1960 reproduzien: das letzte Bild d~ sogenannten "frühen Marquard". zu dem es - auf dem Felde der Malerei und Graphik - einen späteren Marquard nicht mehr gegeben hat.
Biographisch-bibliographische Notiz Prof. Dr. Dr. h.c. Odo Marquard, geb. 1928, em. Professor für Philosophie am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Universität Gießen, Ehrendoktor der Universität Jena, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 1984 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, 1992 Erwin-SteinPreis, 1996 Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik, 1997 Hessischer Kulturpreis für Wissenschaft. Bücher: Skeptische Methode im Blick auf Kant, 1958; Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 1973; Abschied vom Prinzipiellen, 1981; Apologie des Zufälligen, 1986; Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, 1987; Aesthetica und Anaesthetica, 1989; Skepsis und Zustimmung, 1994; Glück im Unglück, 1995; Philosophie des Stattdessen, 2000.