Geisterfänger Band 15 Sklavin der bösen Geister von Mike Burger Loisa musste gehorchen und wurde selbst zur tödlichen G...
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Geisterfänger Band 15 Sklavin der bösen Geister von Mike Burger Loisa musste gehorchen und wurde selbst zur tödlichen Gefahr.
Mitternacht! Monoton prasselte der Regen vom Himmel und plitschte auf den schwarzen, wie gelackt wirkenden Asphalt der schmalen Straße. Tausende von winzigen Fontänen spritzten dort ununterbrochen auf. Der Nebel, der dicht über dem Boden schwebte, zerriss, wirbelte durcheinander, kam niemals zur Ruhe. Milchiges Mondlicht sickerte spärlich hinter schweren, träge über den Himmel kriechenden Regenwolken hervor und abgesehen vom Prasseln des Regens war es still. Unnatürlich still... Nicht einmal vom Piccadilly Circus, der ganz in der Nähe lag, dröhnte hin und wieder Motorengeräusch herüber. Londons Nachtschwärmer schienen heute ausnahmslos zu Hause geblieben zu sein. Es war eine unheimliche Nacht, aber Roger Courtenay ließ sich davon nicht beeindrucken. Er nannte eine ausgeprägte Kaltschnäuzigkeit sein eigen und die brauchte er in seiner Situation auch. Und noch etwas brauchte er. Geld. Viel Geld. Deshalb war er hier. Es war ihm nicht mehr gelungen, seine Gläubiger noch länger mit lahmen Ausreden hinzuhalten. Sie hatten ihm eine allerletzte Frist gesetzt und nun stand er unter mächtigem Druck... Wenn es ihm nicht irgendwie gelang, bis morgen Abend fünftausend Pfund aufzutreiben, dann würde er die nächsten drei Monate zweifellos in der Intensivstation eines Krankenhauses zubringen müssen. Eine Aussicht, die ihm überhaupt nicht gefallen wollte. Courtenay biss die Zähne zusammen. Er war ein 28jähriger, gut aussehender Bursche, schlank, hoch gewachsen, breitschultrig. Sein Gesicht war schmal, hübsch, mit großen, dunkelbraunen Augen, die immer ein bisschen wehmütig blickten. Diese Augen waren es, die ihm bei den Vertreterinnen des anderen Geschlechts jede Menge Chancen sicherten. Und das wiederum war der Hauptgrund, warum er konstant mehr Geld ausgab, als er verdiente. Er war ein Playboy. Ein Schmalspur-Casanova, setzte er in bitterer Selbsterkenntnis hinzu. Aber das würde sich jetzt schlagartig ändern. Bald besaß er so viel Geld, wie er noch nie auf einem Haufen gesehen hatte. Unwillkürlich straffte er sich. Seine Gedanken wanderten zurück. Zu jenem Abend vor fünf Tagen, an dem er in seiner Stamm-Diskothek die Be4
kanntschaft dieses komischen älteren Mannes gemacht hatte. Offenbar war er ihm sympathisch gewesen, denn der Alte hatte ihm mehrere Drinks spendiert. Sie hatten miteinander geplaudert, ganz ungezwungen. Etwas Seltsames hatte der Unbekannte ausgestrahlt... Etwas, das ihn - Roger - schließlich jegliche Zurückhaltung hatte vergessen lassen. Nach dem dritten Drink hatte er dem Unbekannten von seinen sämtlichen Problemen erzählt. Er hatte ihm davon erzählen müssen. Es war wie ein Zwang gewesen... Und dann war der Unbekannte ziemlich schnell zur Sache gekommen. Er hatte ihm ein Angebot unterbreitet... Er, Roger Courtenay, solle in einen Antiquitäten-Laden einbrechen und einen ganz bestimmten Gegenstand - einen Dolch mit durchscheinend wirkender, flammenförmiger Klinge - rauben und an der Eros-Statue des Piccadilly hinterlegen. Dort würde er dann das Honorar für seine Tat finden. Fünfzigtausend Pfund in bar. Allein die Höhe der Summe hätte Courtenay eigentlich misstrauisch werden lassen müssen. Aber er war es nicht geworden. Ein kühler Wind kam auf und fuhr in sein nasses Haar, das ihm am Kopf klebte. Er schreckte endgültig aus seiner Grübelei auf und konzentrierte sich wieder auf das, was er zu tun gedachte. Aus brennenden Augen starrte er zu dem Haus auf der anderen Straßenseite hinüber, in dessen Erdgeschoß der Antiquitäten-Laden untergebracht war. Es war ein schmalbrüstiges Haus, altehrwürdig, mit zum Teil verwitterter, grauer Fassade. Im Obergeschoß - das hatte ihm der Fremde gesagt - wohnte lediglich der Inhaber des Ladens, Peter Maddigan und dessen Frau Loisa. Ein handtuchbreiter Hof trennte das Haus beiderseits von den benachbarten Gebäuden. Kein Fenster war mehr erleuchtet. Er brauchte nicht mehr länger zu warten. Courtenay gab sich einen Ruck. Ein letztes Mal sicherte er lauernd nach beiden Seiten hin ab. Linker Hand, etwa dreißig Meter entfernt, flackerte das kalte elektrische Licht einer Straßenlaterne. Keine Menschenseele war zu sehen. Rechter Hand gab es keine Laterne, aber auch hier lag die schmale Straße einsam und verlassen im Regen. 5
Ein trostloser Anblick - aber für Roger Courtenay konnte es momentan keinen schöneren geben. »Okay«, murmelte er entschlossen. Dann trat er aus dem Hauseingang, in dem er gewartet hatte und überquerte die Straße. Das Unheil war nicht mehr aufzuhalten. * Geschmeidig und völlig lautlos überkletterte Roger Courtenay den schmiedeeisernen Zaun. Sekundenlang hielt er den Atem an und lauschte. Nichts. Nur sein Blut pochte hektisch in seinen Schläfen. Der Regen klatschte in sein Gesicht, aber darauf achtete er überhaupt nicht. Vorsichtig richtete er sich aus der kauernden Stellung auf. Er wusste, dass er sich sicher fühlen konnte. Selbst ein zufälliger Beobachter mochte ihn nur schwerlich ausmachen. Er trug eine schwarze Lederkleidung und die machte ihn in dieser Nacht so gut wie unsichtbar. Mit ein paar raschen Schritten erreichte er den rückwärtigen Hauseingang. Daneben gab es ein kleines, unvergittertes Fenster. Roger Courtenay kramte das Spezialwerkzeug, das er von seinem Auftraggeber erhalten hatte, aus seiner Jackentasche und machte sich an die Arbeit. Fünf Minuten später hatte er die Milchglasscheibe des kleinen Fensters geräuschlos entfernt und zu Boden gelegt. Der Weg ins Innere des Hauses war frei. Alarmanlagen waren nicht installiert. Zumindest hatte das der Unbekannte behauptet. Courtenay hoffte, dass auch diese Information der Wahrheit entsprach. Er atmete tief aus und zog sich am Fenstersims hoch. Wieder lauschte er. Kein Laut war zu hören. Nichts deutete auf Schwierigkeiten hin. Er zögerte nicht mehr länger und schob sich kopfüber durch die Fensteröffnung. Er machte ein paar behutsame Schritte, wobei er pedantisch darauf achtete, dass er nirgendwo anstieß. Jetzt war das Plätschern des 6
Regens nur noch gedämpft zu hören, ein allgegenwärtiges, monotones Geräusch, wie aus einer anderen Welt. Courtenay schluckte. Die Dunkelheit, die Wärme und die Ruhe, die ihn umfing, begann an seinen Nerven zu zerren. Er glaubte, eine namenlose Bedrohung zu fühlen und verspürte gleichsam den Drang, umzukehren und davonzulaufen. »Unsinn!«, zischte er rau und dann dachte er an seine Gläubiger und an die fünfzigtausend Pfund... Das half. Er setzte seinen Weg fort. Er war hervorragend informiert worden und das zahlte sich jetzt aus. Selbst im Schlaf hätte er sich in diesem Haus zurechtgefunden. Courtenay schlich den langen Korridor entlang und schob schließlich einen schweren, muffig riechenden Samtvorhang zur Seite. Dahinter lag die massive Eichentür, die in das Ladengeschäft führte. Courtenay zückte den Dietrich und knackte das primitive Türschloss innerhalb eines Sekundenbruchteils. Wieder keimte kurz Verwunderung in ihm auf. Er hatte doch noch nie ein Schloss auf diese Art und Weise geöffnet! Warum konnte er es dann...? Rein automatisch öffnete er die Tür und trat ein. Seine Verwunderung hatte er schon wieder vergessen. Er hatte sein erstes Etappenziel erreicht, nur das zählte jetzt. Ein zufriedenes Lächeln verzerrte sein hübsches, bleiches Gesicht. Courtenay sah sich um, orientierte sich. Der Laden war nicht so groß, wie er von draußen gewirkt hatte dafür aber mit viel Geschmack und Know-how eingerichtet. An den Wänden hingen Ölgemälde, altertümliche Waffen und Krimskrams. Davor waren allerlei Kuriositäten aufgestellt: eine Statue ohne Kopf aber mit drei Armen, eine Ritterrüstung, deren linker Beinschutz fehlte... Ein breiter Mittelgang führte zur Ladentür, über der mehrere Glöckchen angebracht waren und zu den Schaufenstern. Dort standen auch die Glasvitrinen, von denen sein Auftraggeber gesprochen hatte. Dort wurde der Dolch aufbewahrt... 7
Courtenay setzte sich in Bewegung. In seinen Augen flackerte die Erregung, das Gesicht war erhitzt. Er huschte durch den Laden und verhielt an der Vitrine. Sein Blick fiel - wie magisch angezogen - auf den Dolch mit der flammenförmigen Klinge. Ein kaltes Leuchten ging von dieser Klinge aus. Courtenay rieselte es eiskalt über den Rücken. Eine Frage drängte sich ihm auf: Warum bewahrte Maddigan ein derart kostbares Objekt hier und nicht in seinem Tresor auf? Unwichtig!, wisperte eine leise, gefährliche Stimme in seinem Gehirn. Courtenay reagierte entsprechend. Er räusperte sich. Ja, es war wirklich unwichtig. Alles war unwichtig. Dort lag der Dolch... Er brauchte also nur noch zuzugreifen und dann von hier verschwinden. Er hob das Glasdach der Vitrine ab und legte es achtlos auf eine daneben stehende, kostbare Blumensäule. Dann streckte er seine Hand aus. Das kalte Leuchten auf der Dolchklinge wurde intensiver... Oder täuschte er sich? Er musste sich täuschen. Seine Nerven spielten ihm sicher einen Streich. Courtenay griff zu. Seine Finger schlossen sich um den Griff des Dolchs. Ein harter Schlag zuckte durch seine Hand, seinen Arm und pflanzte sich in seinen Körper fort. Eiseskälte durchraste ihn. Courtenay stöhnte schmerzerfüllt auf. Vor seinen Augen zuckten sekundenlang feurige Spiralen... Woher kam dieser Schmerz? Hatte Maddigan den Dolch mit einem neuartigen System geschützt? Er vermochte es nicht zu sagen. Aber er löste seinen Griff nicht. Eisern hielt er den Dolch fest. Der Schmerz verklang. Langsam, den Blick unablässig auf den Dolch gerichtet, wich er zurück. Da geschah es! Er wischte das Glasdach der Vitrine von der Säule! Mit einem hässlichen Laut krachte es auf den Boden und zerbarst. Ein Splitterregen breitete sich aus. Das Geräusch hallte in Courtenays Ohren wie ein Donnerschlag. Er hielt den Atem an. Sein Herz hämmerte wie eine Riesenfaust gegen seine Rippen. Er war unfähig zu handeln. 8
So verlor er wertvolle Minuten. Draußen, im Treppenhaus, flammte das Licht auf. Schritte wurden laut. »Ist da jemand?«, rief eine zaghafte Frauenstimme. Courtenay stand der Angstschweiß auf der Stirn. Wie in Trance durchquerte er den Laden und presste sich neben der Tür, durch die er vorhin gekommen war, gegen die Wand. Die Schritte näherten sich... Jetzt musste die Frau ganz nahe sein. Noch ein paar Schritte, dann... * Loisa Maddigan war übergangslos wach. Schweiß perlte auf ihrer Stirn und ihr Herz hämmerte wie rasend. Dieses Geräusch, das sie gehört hatte... Hatte sie es nur geträumt? Nervös richtete sie sich auf und starrte sekundenlang in die Dunkelheit, die sie umgab. Draußen regnete es, ganz deutlich konnte sie es hören. Im Haus selbst aber war alles still. Trotzdem... Ein seltsames Gefühl sagte ihr, dass etwas nicht so war, wie es hätte sein müssen. Loisa knipste das Licht an. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie geblendet, dann hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt. »Peter«, flüsterte Loisa eindringlich. Ihr Mann reagierte nicht. Er lag in einer verkrümmten Stellung neben ihr und schnarchte leise. Loisas Blick fiel auf das Pillendöschen auf dem Nachttisch ihres Mannes. Natürlich!, schoss es ihr durch den Sinn.
Er nimmt ja in letzter Zeit immer diese Schlaftabletten!
Sie verließ das gemeinsame Schlafzimmer, durchquerte den großen, mit kostbaren antiken Möbeln eingerichteten Wohnraum und trat dann auf den Korridor hinaus. Mit vier schnellen Schritten erreichte sie die Treppe. Dort verharrte sie. Ihre Blicke schweiften... Unten, im Erdgeschoß, war es dunkel und still. Müsste sie von dort jetzt nicht verdächtige Geräusche hören? Schritte, die sich hastig näherten? Zweifel regte sich in ihr. Ob sie sich doch geirrt hatte? Fast war sie jetzt geneigt, das zu akzeptieren. 9
Da bemerkte sie den kühlen Luftzug. Er wehte in ihr Gesicht, ließ sie wie unter einem Stromstoß zusammenfahren und frösteln. Eine kalte Hand schien über ihren Rücken zu tasten. Sie kniff ihre Augen zusammen. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie die gähnende Fensteröffnung erblickte. Wie oft schon hatte sie Peter gebeten, auch dieses Fenster mit Gittern zu versehen! Und wie oft hatte er sie daraufhin ausgelacht und sich über sie lustig gemacht! »Wer sollte denn schon auf die irre Idee kommen, bei uns einbrechen zu wollen«, hatte er immer wieder gesagt. Nun, jetzt rächte sich seine Sorglosigkeit. Sie waren nicht mehr allein im Haus. Dort unten, in der Dunkelheit, hielt sich jemand auf. Sie spürte es instinktiv. Loisa dachte in diesem Augenblick nicht daran, dass es klüger wäre, die Polizei zu alarmieren und sich still zu verhalten. Im Gegenteil! Sie sagte sich, dass sie jetzt keine Furcht zeigen durfte, knipste die Treppenhausbeleuchtung an und ging die Treppe hinunter. Dabei bemühte sie sich, ihre Schritte fest aufzusetzen. »Ist da jemand?«, rief sie, wie sie hoffte, mit energischer Stimme. Stille. Keinerlei Reaktion. Mit der Zunge fuhr sie sich über die trockenen Lippen und ging weiter. Ihre Schritte hallten auf dem Marmorfußboden wider, als sie den Korridor entlang eilte. Die Tür, die in den Laden führte, stand offen, dahinter gähnte Finsternis. Nichts deutete darauf hin, dass der Einbrecher noch hier war. Möglicherweise ist er schon längst geflohen. Zeit genug blieb ihm ja, sagte sie sich. Sie trat über die Türschwelle, ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Im gleichen Augenblick fühlte sie beinahe körperlich die Nähe eines anderen Menschen. Sie schrie auf, wollte zurückweichen. Aber es war schon zu spät! Aus der Dunkelheit heraus schoss eine Hand, umklammerte wie ein Schraubstock ihr Handgelenk und verhinderte so ihre Flucht. Klamm und kalt war diese Hand. Wie die Hand eines Toten... Und dann ging alles blitzschnell! 10
Vor Loisa wuchs ein großer Schatten auf. Licht fiel auf ein schaurig verzerrtes, männliches Gesicht... Weit aufgerissene, gnadenlose Augen... Eine erhobene Hand, die einen Dolch umklammerte... Loisa Maddigan kam nicht mehr dazu, noch einmal einen Schrei auszustoßen. Dieser Verrückte! Er... er tötet mich! Mit dieser Erkenntnis starb sie. * Das Telefon klingelte laut und aufdringlich. Roy Porter war lange genug Inspektor bei Scotland Yard, um diese Art von Klingeln zu kennen. Da war irgendwo etwas Schreckliches passiert... Noch schlaftrunken tastete er nach dem Telefon, das er unter dem Kopfende seines Bettes stehen hatte und hob ab. Noch bevor er sich melden konnte, leierte der Anrufer los: »Inspektor Porter? Äh, ich soll Sie anrufen. Hier Zentrale, New Scotland Yard. Soeben wurde uns ein Raubmord gemeldet. Eine Frau ist erstochen worden. Der Ehemann hat die Tote gefunden und uns sofort benachrichtigt. Er war mächtig verstört, in Panikstimmung. Ich...« Porter unterbrach den Redefluss des jungen Beamten. »Sie haben heute wohl Ihren ersten großen Fall, was?« Der Beamte war sichtlich geschockt. »Yes Sir. Ich meine... Nun, normalerweise tue ich meinen Dienst nicht hier in der Zentrale. - Vertretung, wissen Sie«, setzte er wie entschuldigend hinzu. »Verstehe«, erwiderte Porter und richtete sich auf. Seine Müdigkeit war schon längst verflogen. »Äh, Sir - werden Sie kommen?« »Das war die Frage des Jahrhunderts«, knurrte Porter und schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie, Sir! Aber...« »Schon gut, Junge. Sagen Sie, haben Sie Inspektor Murray schon benachrichtigt?« »Er ist nicht zu erreichen, Sir.« »Ach?« 11
»Es ist so, wirklich, Sir!« »Schon gut«, sagte Porter noch einmal »Wenn Sie mir jetzt noch die genaue Adresse durchgeben, dann bin ich in ein paar Minuten unterwegs...« »282nd, Durham Lane. Ein Antiquitäten-Laden...« »Thanks. - Ach, noch etwas. Setzen Sie die Männer von der Spurensicherung in Trab, okay?« »Aber natürlich!«, beeilte sich der Beamte zu sagen. Porter legte auf und seufzte. Neben ihm rekelte sich seine Frau. Natürlich war sie ebenfalls wach geworden... Sie sah ihn an. Ein schmales Lächeln lag um ihre Mundwinkel. Porter fand, dass seine Sandy eine prächtige Frau war. Er küsste sie leicht auf den Mund, dann stieg er aus dem Bett. »Ärger?«, erkundigte sie sich. So fragte sie immer, wenn er mitten in der Nacht angerufen wurde. Er nickte nur. In seinem gut geschnittenen, etwas hageren Gesicht zuckte ein Muskel. »Es ist erst drei Uhr morgens«, meinte er zärtlich. »Versuche, noch ein bisschen zu schlafen.« »Und du - pass auf dich auf, hörst du!« »Schon versprochen.« Er verließ das Schlafzimmer und beeilte sich, fertig zu werden. Duschen und Rasieren fiel aus, das konnte er später im Yard nachholen. Er spülte sich den Mund aus, dann zog er sich rasch an und verließ die Wohnung. Während er mit dem Aufzug ins Erdgeschoß fuhr, schnallte er sich die Halfter mit seiner Dienstpistole um. Wenig später war er unterwegs. Es war immer noch dunkel, aber es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolkenberge waren vom Himmel verschwunden. Ein paar Sterne leuchteten. Zwölf Minuten später bog Porter in die Durham Lane ein. Es war eine schmale Seitenstraße. Das Haus mit der Nummer 282 erblickte er gleich darauf. Die Fenster waren hell erleuchtet, auch die Schaufenster. Am Ladeneingang stand ein mittelgroßer Mann mit leichtem Bauchansatz. Der Mann war verstört, verzweifelt. Sein schütteres blondes Haar hing strähnig und ungekämmt in seine Stirn. Die Augen waren gerötet. 12
Für Porter gab es keinen Zweifel daran, dass das der Ehemann der Ermordeten war. Er stoppte den unauffälligen Dienstwagen direkt vor dem Antiquitäten-Händler und stieg aus. »Endlich!«, stieß der Mann hervor und kam ihm händeringend entgegen. »Mein Name ist Porter«, stellte sich der Inspektor vor. »Ich habe mich beeilt. Meine Kollegen von der Spurensicherung werden auch gleich da sein.« »Maddigan. Peter Maddigan.« Porter räusperte sich unbehaglich. »Zeigen Sie mir bitte, wo es geschehen ist.« Peter Maddigans Gesicht schien einen Augenblick lang zu verschwimmen. Seine langen, feingliedrigen Finger nestelten nervös an der Jacke des eleganten, seidenen Hausanzugs herum. »Kommen Sie«, bat der Antiquitäten-Händler schließlich mit belegter Stimme. Er ging voraus. Eine schwere, unsichtbare Last beugte seine Schultern. Als sie in das Ladengeschäft traten, bimmelten einige Glöckchen, die über der Tür angebracht waren. »Der - der Mann ist durch ein Hoffenster ins Haus eingestiegen«, begann Maddigan zu erzählen. »Meine Frau - sie muss ihn überrascht haben...« Porter unterbrach ihn sanft. »Sie waren also während der Tat nicht im Haus?« Maddigan blieb stehen und erwiderte seinen Blick. »Doch, ich war im Haus. Ich - ich habe geschlafen. Ich nehme jeden Abend Schlaftabletten... Deshalb habe ich nichts gehört...« Seine Lippen pressten sich aufeinander. Porter nickte schweigend und merkte sich die ersten Fakten. Maddigan rieb sich verlegen über die Augen und wandte sich wieder um. Mit schlurfenden Schritten ging er zu einer nur spaltbreit offen stehenden Tür hinter der Verkaufstheke. 13
Porter beobachtete den Antiquitäten-Händler genau. Gab es in seinem Verhalten ein Indiz, welches gegen ihn sprach? Er verschob diese Frage auf einen späteren Zeitpunkt. Maddigan stieß die Tür auf - und zuckte mit einem krächzenden Entsetzensschrei zurück. Seine Haltung versteifte sich. »Aber das - das ist unmöglich! Das kann nicht sein! Ich habe sie doch selbst hier gefunden...«, stammelte er. »Was ist denn?«, fragte Porter nervös und trat an die Seite des völlig überraschten Mannes. Maddigan deutete mit zitternder Hand auf einen großen, bereits angetrockneten Blutfleck auf dem Marmorboden. »Sie ist weg!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Die Leiche meiner Frau ist verschwunden!« * Sie spürte weder die Nässe noch die Kälte und ihre Umgebung nahm sie nur verschwommen und in einem eingeengten Blickfeld wahr. Einige Frühaufsteher warfen ihr scheue Blicke zu und hasteten schneller gehend weiter. Sie beachtete sie nicht. Automatisch, wie an einer unsichtbaren Kette gezogen, setzte sie Schritt vor Schritt. Seit über einer Stunde schon. Seit jenem Augenblick, da sie erwacht war und diesen seltsamen, unerklärlichen Drang in sich verspürt hatte. Bis jetzt war es ihr nicht möglich gewesen, einen klaren, vernünftigen Gedanken zu fassen. Ihr Gehirn war wie ausgeschaltet. Wie ein Roboter ging sie weiter. Langsam und gleichmäßig waren ihre Bewegungen. Etwas rührte sich in ihr. Erinnerungsfetzen... Welche Erinnerung? Unwillkürlich horchte sie in sich hinein. Was war geschehen? Wer war sie? Nach ihrem Erwachen hatte sie festgestellt, dass sie auf einem kalten Marmorfußboden lag. Warum? Warum? Irgendetwas sagte ihr, dass etwas Furchtbares mit ihr geschehen sein musste. Aber was? Sie spürte das angstvolle Flattern ihres Her14
zens und ihre linke Hand tastete an ihre Brust. Als sie die Wunde berührte, zuckte sie zusammen. Plötzlich wurde sie von ihrer Erinnerung überschwemmt. Loisa Maddigan schluchzte trocken auf. Aber das war nur eine Reflexreaktion, erkannte sie. In ihrem jetzigen Zustand war sie nicht in der Lage, zu empfinden, zu fühlen. Sie war tot, ermordet - und doch lebte sie. Ihre Existenz sprach sämtlichen Naturgesetzen Hohn, war schlichtweg paradox... Eine geheimnisvolle magische Kraft hielt sie auf recht. Warum? Die Frage hallte in ihr nach. Und gleichsam kannte sie die Antwort darauf. Eine Prophezeiung und ein Fluch, beide ausgesprochen vor Jahrhunderten, erfüllten sich. Und sie war das Medium. Das Medium des Bösen... Im Osten graute der Morgen. Schlagartig wusste Loisa Maddigan, dass das Licht des Tages schädlich war. Sie durfte sich ihm nicht aussetzen, sonst war sie verloren... Der Auftrag der bösen Geister musste erfüllt werden. Um jeden Preis. Ihr Blick war glanzlos, stumpf, als sie sich umsah Sie vermochte nicht zu sagen, wo sie sich im Augenblick befand. Noch niemals war sie in dieser Gegend Londons gewesen. Einige Wagen rauschten an ihr vorbei. Der Motorenlärm bereitete ihr Schmerzen und die Abgase, die sie mit ihren verfeinerten Sinnen wahrnahm, machten ihr das Atmen zur Qual. Sie beschleunigte ihre Schritte. Und wenig später fand sie einen Unterschlupf, in dem sie die kommende Nacht abwarten konnte... * Mike Logan war bester Laune. Zum ersten Male seit langer Zeit war es ihm heute wieder gelungen, Punkt sieben Uhr aus den Federn zu kommen. Jetzt war es ein paar Minuten nach acht und eine Stunde Trimmtrab im Hydepark lag hinter ihm. Er schwitzte zwar ein bisschen, aber sonst konnte er sich selbst, ohne rot zu werden, Bestform bescheinigen. 15
Mit federnden, geschmeidigen Schritten betrat er die Halle des Wohnsilos, in dessen oberstem Stockwerk seine Penthouse-Wohnung und sein Büro untergebracht waren. Er spitzte die Lippen und pfiff einen Ohrwurm vor sich hin, der ihm schon seit gestern Abend im Kopf herumspukte. Der Lift ließ wie immer auf sich warten. Mike feixte und hüllte sich in Geduld. Mit gleich bleibender Lautstärke und Begeisterung pfiff er weiter. Seine Gedanken glitten ab zu seinem Mädchen. Wahrscheinlich horchte Ingar noch immer an der Matratze. Gegen Schönheitsschlaf kämpften selbst Götter vergebens, funktionierte er in Gedanken ein altes Sprichwort um. Trotz massivem Einsatz von Charme und guten Worten hatte er es heute Morgen nicht geschafft, Ingar zum Mittraben zu überreden. Sie hatte das warme Bett der körperlichen Ertüchtigung vorgezogen. Das konnte sie sich bei ihrer Figur auch leisten. Trotzdem... »Na warte«, murmelte er und der Schalk blitzte in seinen rauchgrauen Augen auf. »Dir werde ich das süße Nichtstun versalzen.« Nachdem er diesen Vorsatz gefasst hatte, hütete er sich aber, allzu konzentriert an die Ausführung desselben zu denken. Ingar war nämlich nicht nur rundherum prächtig gewachsen und clever - sie konnte auch Gedanken lesen. Obwohl er selbst kein Telepath war, war es ihnen im Laufe der Zeit gelungen, Ingars phantastische Fähigkeit zur ganz privaten Unterhaltung zu nutzen. Sie hatten gelernt, sich auf rein gedanklicher Ebene miteinander zu ›unterhalten‹ und im Grunde war es ganz einfach. Er musste seine Gedanken lediglich knapp und präzise formulieren, alles andere besorgte Ingar. Es war ihr und sein kleines Geheimnis und sie hüteten es gut. Kein Außenstehender brauchte zu erfahren, dass die PSI-Zukunft schon begonnen hatte... Sie waren eine verschworene Mini-Gemeinschaft und spätestens jetzt waren Mikes Rachegelüste verflogen. Er freute sich auf Ingar. Und er begann wieder zu pfeifen. 16
Endlich hatte sich die Lift-Kabine ins Foyer herunterbemüht und öffnete ihre Pforten. Mike vertraute sich ihr an. Er tastete den Knopf für die oberste Etage und lehnte sich gegen die Wandung. * Sie rekelte sich in dem in den Boden eingelassenen herzförmigen Bad und sie trug nichts als ihre samtweiche Haut. Der Schaum perlte bis zu ihren Schultern. Es roch intensiv nach Fichtennadeln. Ingar hatte ihr langes, blauschwarzes Haar hochgebunden. So oder so - sie sah wie immer hinreißend aus. Dass sie Fotoreporterin war - und eine sehr gut bezahlte obendrein - das sah man ihr nicht an. Sie war schlank, mit den richtigen Formen und Pölsterchen an den richtigen Stellen. Wenn sie in ihren hautengen Jeans durch Londons Straßen ging, dann konnte man außer dem Knistern der Luft auch förmlich die aufgeregten Herzschläge der Gentlemen hören. Ingars Gesicht war fein geschnitten, ein bildhübsches Gesicht, aber kein zahmes. Die Backenknochen waren hoch angesetzt und die großen, unergründlich grünen Augen leicht schräg gestellt. Nach dem nur mit knapper Not bestandenen gemeinsamen Abenteuer mit Parashthaar, der Prinzessin der bösen Geister, hatte es eine Zeitlang gedauert, bis Ingar wieder fit gewesen war. Aber sie hatte es mit der ihr eigenen Energie geschafft. Mike hatte daran keine Sekunde gezweifelt. Trotzdem, wenn er an Parashthaar dachte, dann rann ihm ein eisiger Schauer bedrückend langsam über den Rücken. Aber das ging vorbei. Er hatte gewusst, auf was er sich einließ, als er damals mit Ben Murray den Fall besprochen hatte. Trotzdem war er skeptisch gewesen... Wer glaubte heute schon an die Existenz von bösen Geistern? Nun, er hatte seine Erfahrungen gemacht - und seine Meinung revidiert. Und zwar gründlich. Und er hatte den seltsamsten Burschen kennen gelernt, der ihm jemals untergekommen war. Balthasar Rufus Schwarzschwert - seinen eigenen Worten zufolge der vierzehnte uneheliche Sohn des großen Magiers Merlin. Ob das stimmte oder nicht, das konnte Mike nicht mit 17
Bestimmtheit sagen. Dafür wusste er aber etwas anderes umso genauer. Nämlich, dass Balthasar Rufus Schwarzschwert ein Geist war, ein richtiger, waschechter Geist. Und was für einer! Balthasar hatte ihn davon überzeugt, wie wichtig es war, den Kampf gegen das Böse dieser Welt an der Basis zu führen. Gegen die Mächte der Finsternis, nicht nur gegen deren irdische Vertreter oder Marionetten. Sie waren übereingekommen, diesen Kampf gemeinsam zu führen. Ein Mensch und ein kauziger Geist - das seltsamste Team, das jemals dem Schattenreich den Kampf angesagt hatte... Seltsam, dass er gerade jetzt an ihn hatte denken müssen... Mikes Blick klärte sich wieder und er merkte, dass Ingar auf ihn aufmerksam geworden war. Sie wandte ihm ihren Kopf zu und sah ihn an. Ob sie seine Gedanken ›mitgehört‹ hatte oder nicht, das ließ sie mit keiner Geste erkennen. »Vom Kriegspfad zurück?«, erkundigte sie sich lächelnd. Obwohl es keinen Grund dafür gab, kam er sich vor wie ein ertappter Sünder. Ingar hatte aber auch eine Art, ihn anzusehen... Er räusperte sich. »Ein Gentleman genießt und schweigt«, meinte er dann harmlos. »Soso«, sagte sie schließlich. Eine zweideutige Bemerkung. Mike beschloss endgültig, vom Thema abzulenken. »Wenn ich mich richtig erinnere, dann bin heute ich mit dem Frühstücks-Dienst dran?« »Hmm.« »Ist irgendwas?« Sie schnippte mit den Fingern. »Ach ja, vorhin hat Dorian angerufen...« »Mein Bruder?« Mike runzelte die Stirn. »Was hatte er denn auf dem Herzen?« »Oh, eigentlich nichts Besonderes. Er wollte nur ein bisschen mit mir plaudern...« »Und sonst?« Mike merkte jetzt immer deutlicher, dass Ingar noch etwas in der Hinterhand hielt, einen Trumpf sozusagen. »Wir haben einen neuen Fall«, erklärte sie. 18
»Wir?« »Ja, wir. Du wirst meine Hilfe brauchen, denn es ist meiner Ansicht nach ein Fall von der ganz speziellen Sorte, weißt du...« Mike merkte, wie sein Mund trocken wurde. Also doch, resümierte er lakonisch. Das böse Gefühl in ihm verdichtete sich merklich. »Okay, lass hören«, bat er seufzend. »Ein gewisser Mr. Maddigan hat angerufen und um einen Termin gebeten. Seine Frau Loisa ist ermordet worden. Dieser Maddigan, er er war in einer scheußlichen Verfassung, Mike. Ben hat ihm empfohlen, sich an dich zu wenden.« »Hör mal, ich bin Privatdetektiv, kein Psychotherapeut. Das ist ganz klar ein Fall für Scotland Yard! Ich verstehe nicht, wie Ben auf die hirnrissige Idee kommen konnte und...« Ingar unterbrach ihn sanft aber bestimmt. »Laut Mr. Maddigan sieht sich ein gewisser Superintendent Russel außerstande, den Fall mit der nötigen Dringlichkeit zu bearbeiten. Na, was sagst du nun?« »Russel also wieder einmal«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Trotzdem kapiere ich nicht, warum...« Ingar unterbrach ihn wieder. Ihr Gesicht war jetzt sehr ernst. »Mrs. Maddigans Leiche ist verschwunden, Mike.« Sie schwieg kurz und ließ ihre Worte einwirken. Dann hängte sie an: »Weißt du, ich glaube, dass da ein dicker Hammer auf uns zurast...« Sie sollte sich nicht irren. »Eine Leiche verschwindet nicht so einfach mir nichts dir nichts«, nahm Mike das Gespräch nach einer kurzen Denkpause wieder auf. »Ganz deiner Meinung, großer Meister«, räumte Ingar mit einer unnachahmlichen Selbstverständlichkeit ein. »Du wirst den Fall also übernehmen?« Mike überhörte die Frage. »Welchen Termin hast du eigentlich mit Mr. Maddigan vereinbart?«, erkundigte er sich. »Neun Uhr. Habe ich dir das noch nicht gesagt?« »Neun Uhr?«, echote Mike und starrte auf seine Armbanduhr. »Aber das ist ja bereits in einer halben Stunde!« »Na und?«, gab Ingar unbeeindruckt zurück und bewies einmal mehr an diesem Morgen, dass sie sich wirklich glänzend erholt hatte. 19
»Ihr Männer seid doch sonst immer so stolz darauf, eure Morgentoilette wesentlich schneller absolvieren zu können als wir Frauen.« »Biest!«, brummte Mike, während er aus Hemd und Hose fuhr und sich unter die Dusche stellte. Als sich Mike drei Minuten vor neun Uhr von Ingar verabschieden wollte, schüttelte sie so entschieden den Kopf, dass ihre langen, schwarzen Haare flogen. »Ich komme mit. Möglicherweise erfahren wir so etwas mehr... Du weißt schon. Ich kann etwas, das du nicht kannst...« Honigsüß war ihre Stimme, aber auch entschlossen. Natürlich konnte es gut möglich sein, dass sie mit ihrer ParaFähigkeit etwas aus Mr. Maddigans Geist zutage förderte, das interessant war. Dennoch versuchte er, es ihr auszureden. »Und du weißt hoffentlich, dass diese Sache nicht mehr so glimpflich ausgehen konnte, wie die letzte.« »Bangemachen gilt nicht!«, versetzte sie ungerührt. »Meinetwegen.« Damit war alles klar. * Mr. Maddigan war so pünktlich wie die Garde des Buckingham Palace. Punkt neun Uhr - der letzte Glockenschlag Big Bens war gerade verhallt, trat er in Mikes Büro. Er war ein stattlicher Mann. Groß, breit in den Schultern, mit leichtem Wohlstandsbauch. Sein Gesicht war kantig und trotzdem gutmütig. Dieser Eindruck wurde vor allem von den etwas wässrigen Dackelaugen bestimmt. Jetzt war dieses Gesicht grau und in den Augen lag Trauer und Schmerz. Überhaupt drückte die ganze Haltung des Mannes aus, dass er nervlich so ziemlich am Ende war. Sie stellten sich vor und begrüßten sich, dann bot Mike dem Antiquitätenhändler an, Platz zu nehmen. Ingar nutzte die Gelegenheit und verschwand im Vorzimmer. Von dort aus war es ihr jederzeit möglich, Maddigans Gedanken zu erfas20
sen und, falls nötig, Mike einen gedanklichen Hinweis zukommen zu lassen. Maddigan hatte es sich in dem Ledersessel gegenüber Mike gemütlich gemacht. Die Unruhe, die dennoch unablässig von ihm ausstrahlte, war deutlich zu spüren. Mike merkte, dass der Mann nur mit äußerster Willensanstrengung ruhig sitzen konnte. Schweigend holte er eine Whiskyflasche und zwei Gläser aus der gut sortierten Bar für alle Fälle und stellte sie auf den Rauchglastisch. Dann setzte er sich ebenfalls und schenkte die Gläser halb voll. »Eis habe ich leider keins, Mr. Maddigan«, entschuldigte er sich. »Aber ich glaube, dass der Whisky trotzdem hilft...« Damit war der Bann gebrochen. Maddigan lächelte schwach, nickte, griff nach dem Glas. Sie stießen an und tranken. Dann kam der Antiquitäten-Händler zur Sache. »Sie wissen, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin, Mr. Logan«, schickte er voraus. Mike nickte ernsthaft. »Trotzdem, erzählen Sie mir die Geschichte. So, wie sie sich aus Ihrer Sicht zugetragen hat.« Und Peter Maddigan erzählte. Kurz vor drei Uhr morgens hatte die Wirkung der Schlaftabletten nachgelassen, er war aufgewacht, hatte seine Frau Loisa vermisst. Nichts Gutes ahnend war er ins Erdgeschoß hinuntergegangen. Dort hatte er sie gefunden... Maddigan sprach stockend, mit viel Mühe. Er machte sich Vorwürfe. »Ich hätte sie nicht einfach liegen lassen dürfen... Ich hätte bei ihr bleiben müssen...«, murmelte er, halb zu sich selbst. »Es blieb Ihnen keine Wahl. Sie mussten die Polizei benachrichtigen«, erwiderte Mike sanft. »Ja, ich musste es tun...« Maddigan schien in sich hineinzulauschen, dann gab er sich einen Ruck. Er lehnte sich vor, fixierte Mike. »Nachdem ich beim Yard angerufen hatte, brachte ich nicht mehr die Kraft auf, zu Loisa zu gehen. Ich - ich konnte es einfach nicht. Ich liebe - liebte - meine Frau über alles... Und nun lag sie da - tot, erstochen...« Er schluckte, brach ab, starrte auf das Whisky-Glas. »Ich habe vor dem Ladeneingang auf den Inspektor gewartet«, sagte er schließlich tonlos. »Können Sie sich noch an seinen Namen erinnern?« 21
»Selbstverständlich. Er hieß Porter.« Mike nickte. »Und wie lange - schätzungsweise - haben Sie vor dem Laden gestanden und gewartet?« Maddigan zuckte die Schultern. »Knapp fünfzehn Minuten würde ich sagen. Ich - ich weiß es nicht mehr genau. Die Zeit - sie ist wie im Fluge vergangen. Ich musste immer nur an Loisa denken...« »Erzählen Sie weiter«, bat Mike. »Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Ich - ich bat den Inspektor, mit mir zu kommen. Wir gingen in den Laden, durchquerten ihn. Ich stieß die Tür in den Korridor auf, in dem meine Frau liegen musste... Aber Loisa war verschwunden. Nur der Blutfleck... Er war noch da. Mr. Logan - ich habe mir das nicht alles nur eingebildet! Bitte, glauben Sie mir! Sie - sie war tot! Tot!« »Etwas anderes, Mr. Maddigan«, lenkte Mike ab. »Sie sagten mir, dass ein Einbrecher Ihre Frau ermordet haben müsse... Vermutlich im Affekt. Was wurde gestohlen?« »Ich - ich weiß es nicht. Ich habe noch nicht nachgesehen.« Maddigan wischte sich über die Stirn, dachte nach. »Aber der Dolch, mit dem meine Frau erstochen wurde, stammt aus meinem Laden. Der Yard hat die Waffe sichergestellt.« »Ich werde mich mit den entsprechenden Yard-Männern in Verbindung setzen.« Maddigan hob seinen Blick und sah Mike direkt an. »Dieser Superintendent Russel hat mir kein Wort geglaubt«, stieß er erregt hervor. »Er - er ließ sogar anklingen, dass er mich verdächtige, dies alles nur inszeniert zu haben! Ja, er scheint tatsächlich davon überzeugt, dass ich - ich! - meine Frau getötet und beseitigt habe... Dass es nur ein mieser Trick von mir sei...« »Nicht alle Yard-Beamte sind so wie dieser Superintendent Russel«, winkte Mike ab. »Inspektor Porter schien meine Worte ernst zu nehmen«, sagte der Antiquitäten-Händler leise. »Er besprach sich mit seinem Kollegen, einem gewissen Mr. Murray. Dieser Mr. Murray hat mir versichert, die Sache persönlich in die Hand zu nehmen. Er war es auch, der mir Ihre Adresse gegeben hat... Mr. Logan, werden Sie mir helfen?« 22
»Das werde ich, Mr. Maddigan«, erwiderte Mike einfach. Der Antiquitäten-Händler atmete erleichtert auf, griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. Dann holte er sein Scheckheft aus der Innentasche seines teuren Jacketts. Mike winkte ab. »Lassen Sie das nur stecken, Mr. Maddigan. Es ist zwar heutzutage nicht mehr üblich, aber bei mir erfolgt die Bezahlung erst nach geleisteter Arbeit. Fünfundzwanzig Pfund pro Tag plus Spesen.« Wenig später brachte Mike den Antiquitäten-Händler zur Tür und verabschiedete sich von ihm. »Ich werde Sie laufend über den aktuellen Stand der Ermittlungen unterrichten«, versprach er. Maddigan nickte. »Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Mr. Logan«, sagte er dankbar. Dann wandte er sich ab und ging mit schweren Schritten zum Lift. Er sah sich nicht mehr um. Mike ging in sein Büro zurück. Dort erwartete ihn bereits Ingar. »Er hat nicht gelogen, nichts beschönigt und nichts zufällig vergessen«, erklärte sie, als sie Mikes fragenden Blick bemerkte. »Er ist okay.« »Ich wusste es, Ingar«, murmelte Mike. Sie zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts. Schweigend schlug sie ihre aufregend langen Beine übereinander und Mike registrierte beiläufig, dass der Mini, den sie heute trug, kaum das nötige Stoffvolumen für eine modische Männerkrawatte hergeben würde. Er lächelte, riss seinen Blick los und griff sich das Telefon. Routiniert tippte er die Nummer von Scotland Yard, Mordkommission. Jetzt war ein Kriegsrat mit Ben fällig. Ben Murray war derselben Ansicht und so war bereits nach drei Minuten die Verabredung erledigt. Mike legte auf und griff nach seiner Jacke. »Du setzt dich also auf die Fährte«, bemerkte Ingar endlich. »Ja«, antwortete er knapp. »Weißt du, ich habe irgendwie das Gefühl, dass keine Zeit zu verlieren ist... Mein siebter Sinn klingelt wie verrückt...« Er wechselte das Thema. »Hältst du hier solange die Stellung?« Sie nickte nur. 23
»Bist ein Goldkind!« »Bin ich«, bestätigte sie. »Aber wenn es ernst wird, Mike, dann bin ich an deiner Seite.« »Trotzkopf!« »Diktator!« »Ich liebe dich trotzdem, weißt du das?« Bevor sie etwas erwidern konnte, küsste er sie sanft auf den Mund. Dann verließ er das Büro. Ein Wettlauf gegen die Zeit hatte begonnen. Aber das wusste Mike Logan in diesem Augenblick noch nicht... * In der Gruft herrschte absolute Finsternis. Es war feucht und empfindlich kalt. Hier und da plitschten Wassertropfen in monotoner Regelmäßigkeit von der niederen, gewölbten Decke. Im Zentrum der Gruft ruhte ein mächtiger Felsblock, dessen Oberseite an eine überdimensionale Opferschale erinnerte. In dieser Schale lag eine etwa faustgroße, kristallene Kugel. Jene Kugel, die seit Jahrhunderten das Gefängnis der bösen Geister war... Jetzt, scheinbar ohne ersichtlichen Grund, begann sich im Innern der Kristallkugel etwas zu regen... Zuerst war es nur ein unscheinbares, schwaches Glimmen. Aber das Glimmen wurde zum Flimmern, zum Pulsieren... Und es nahm stetig an Intensität zu! Das Pulsieren breitete sich aus. Unterschiedliche Farbtöne entstanden, wurden stärker. Geisterhaft zuckten Schatten und Licht über die unverputzten, rohen Felswände der Gruft, die seit Jahrhunderten in ewiger Dunkelheit gelegen war. Die beiden Wesenheiten des Bösen waren erwacht. Ihr dunkler Instinkt hatte ihnen eingegeben, dass es gut war, bereit zu sein... Wabernde Linien lösten das Pulsieren ab. Rote, grüne, gelbe, violette und schwarze Strahlen rasten hin und her, wanden, bogen, betasteten sich - und liefen wieder auseinander. Sie vermochten nicht, sich zu einer Gestalt zu vereinigen. Die Reliquie der Weißen Magie 24
der geweihte Felsblock, auf dem ihr Gefängnis ruhte - war zu mächtig. Nach wie vor waren sie hilflose Gefangene... Als die beiden Wesenheiten dies erkannten, schrieen sie ihre Enttäuschung und ihren Zorn hinaus. Aber die Wandung der Kristallkugel dämpfte ihr Schreien. Nur geisterhaft leise, wispernd, wehte es durch die Gruft. Niemand vermochte es zu hören. Die immateriellen Wesen kreischten, fluchten und schimpften. Es nützte nichts. Die Zeit war noch nicht reif. Noch nicht... Irgendwann beruhigten sie sich wieder. Sie kamen überein, kurzfristig eins zu werden und gaben ihr Individualdasein auf. Im nächsten Augenblick bildeten sie eine reingeistige Gemeinschaft. Sie konzentrierten sich. Lauschten... Und dann, plötzlich: KONTAKT! Sie registrierten die schwarzmagischen Schwingungen... Registrierten, das sie von den Ihren nicht vergessen worden waren. Der Fluch würde sich erfüllen. Der Zeitpunkt der Befreiung war nahe... Sie verspürten eine wilde, pochende, drängende Vorfreude und Triumph. Die verschiedenfarbenen Strahlen, die in rasender Geschwindigkeit durcheinander gewirbelt waren, gaben ihren wilden Tanz auf, kamen zur Ruhe, sanken wieder auf den Boden ihres Gefängnisses hinab. Das Leuchten innerhalb der Kugel wurde schwächer. Aber es versiegte nicht mehr. Die bösen Geister lauerten. Bald, sehr bald würde ihre Stunde schlagen... * Für die Strecke Queen's Gate - Victoria Street brauchte Mike sage und schreibe fünfundvierzig Minuten. Ziemlich frustriert stellte er seinen superflachen Lotus Eclat vor dem Glaspalast von New Scotland Yard, der das legendäre, backsteinrot-viktorianische Old Scotland YardGebäude an der Themse abgelöst hatte, ab. Ein paar Minuten später 25
fuhr er mit einem hypermodernen Lift ins vierte Stockwerk hinauf, in dem Murrays und Porters Gemeinschaftsbüro lag. Der Korridor hier oben erinnerte an den eines Krankenhauses. Alles war blitzsauber, steril, modern. Elektrisches Licht brannte. Männer und Frauen hasteten hektisch hin und her. Stimmengewirr. Irgendwo tickerte ein Fernschreiber. Telefone klingelten. »Puh«, machte Mike und beeilte sich in Murrays Heiligtum zu kommen. Mrs. Courry, Murrays füllige aber supertüchtige Sekretärin, begrüßte ihn so herzlich wie immer. »Der Chef erwartet Sie schon, Mr. Logan«, kam sie sofort zur Sache und deutete mit einem feinen, gekonnten Kopfnicken zur gepolsterten Tür, die nur angelehnt war. »Und bitte, seien Sie vorsichtig! Er ist heute ein bisschen - nun, gereizt, würde ich sagen.« »Wann ist er das nicht?«, seufzte Mike mit einem resignierten Schulterzucken. »Hält er immer noch Diät?« Sie schüttelte verneinend ihr Haupt und die beiden Doppelkinne kamen in Bewegung. »Das ist es nicht. Er - er hatte vorhin eine ziemlich harte und lautstarke Auseinandersetzung mit dem Superintendent.« »Oh!«, sagte Mike nur. Dann war er an der Tür, stieß sie mit Schwung auf und trat ein. Ben Murray war allein in dem hellen, nicht besonders großen Büro. Er saß hinter seinem Schreibtisch und war in die Lektüre einer Akte vertieft. Auf dem Schreibtisch stapelten sich weitere Akten. Bei Scotland Yard gab es den Auftragsrückgang, welcher der freien Wirtschaft des Kingdoms Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte bereitete, nicht. Hier herrschte nach wie vor Hochkonjunktur. Seit Mike den Inspektor das letzte Mal gesehen hatte - vor etwa zwei Wochen - hatte er mächtig abgespeckt. Sein Gesicht war jetzt kantig und überhaupt nicht mehr so rund wie ehedem. Aber auch sonst sah man das Ergebnis einer konsequent durchgehaltenen Hungerkur, wie Murray sich immer auszudrücken pflegte, wenn er von seiner Diät sprach. Seit Wochen lebte er nur von Salaten, Säften und Steaks. 26
»Morning, großer Häuptling«, sagte Mike gutgelaunt und mit betont harmloser Miene. Murrays Kopf ruckte hoch und seine Froschaugen richteten sich auf Mike. »Ah, du bist es!«, brummte er. »Das nenne ich eine herzliche Begrüßung unter Freunden!«, bemerkte Mike sarkastisch. »Eben«, konterte Murray trocken. Er erhob sich, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und streckte Mike seine Rechte hin. »Komm, setzt dich hin! Du hast dich ja am Telefon mächtig kurz gefasst, aber ich nehme an, du kommst wegen Maddigan.« »Man merkt, dass du bei Scotland Yard Dienst tust. Kombinieren kannst du.« »Von der Pike auf gelernt ist eben gelernt«, stieg Murray auf die Flachserei ein. Sie setzten sich in die ledernen Clubsessel - die einzigen Luxusgegenstände in diesem Büro - die in einer durch eine spanische Wand vom übrigen Raum abgetrennten Nische standen. Durch die großen Glasfenster stachen ein paar spärliche Sonnenstrahlen und flirrten auf dem modernen Messing-Glas-Tisch. »Also, was willst du wissen?« »Nanu, so bereitwillig?« Mike staunte ehrlich. »Red nicht lange um den heißen Brei herum, Mike! Ich bin der Ansicht, dass da eine böse Sache auf mittelprächtiger Flamme schmort. Und das ganze Ding stinkt bereits jetzt zum Himmel. Also...« »Hast du Maddigan deshalb zu mir geschickt? Ich meine, normalerweise geht das doch nicht an, dass ein Yard-Inspektor den Ehemann einer Ermordeten einfach an einen Privatdetektiv weiterleitet.« Murray nickte und jetzt verdüsterte sich sein Gesicht merklich. »Normalerweise hätte ich das auch nicht getan, Mike. Das ist doch wohl klar. Aber ich wollte den Fall Maddigan in guten Händen wissen, wenn ich hier meinen Platz räume.« »Soll das etwa heißen, dass du...« Mike sprach seinen Satz nicht zu Ende. Er starrte den Freund ungläubig an. 27
Murray zögerte kurz, brummte unwillig und beugte sich dann vor. »Maddigan wird dir erzählt haben, dass die ganze Sache Porters und meine Angelegenheit war. Nun, Russel hat sich wieder einmal eingemischt, große Reden geschwungen - kurzum: er hat uns den Fall entzogen. Dann kam Maddigan hier an und Russel nahm ihn sich vor. Nicht genug damit, dass er erklärte, Scotland Yard könne diesen Fall nicht so dringlich bearbeiten, weil ja schließlich gar nicht feststehe, ob Mrs. Maddigan wirklich ermordet sei... Er hat den armen Kerl auch noch unter Druck gesetzt. Obwohl es genügend Fakten gibt, die für Maddigan sprechen... Nachdem Maddigan gegangen war, bin ich zu Russel gestürmt und habe ihm meine Kündigung auf den Tisch geknallt. Es kam zum Krach.« Murray hob seine Schultern und ließ sie wieder sinken. Jetzt grinste er freudlos. »Es musste zum Krach kommen, Mike. Ich kann keine Verbrecher jagen und dingfest machen, wenn mir mein eigener Vorgesetzter unablässig Knüppel zwischen die Beine wirft.« »Aber bei der Sache gibt es doch noch eine Pointe. Komm schon... Heraus damit!« Murrays Grinsen verbreiterte sich. »Nun ja, der Rest ist rasch erzählt. Vorhin hat mich der Commissioner angerufen... Der Oberhäuptling, würdest du wohl sagen. Ich habe im Fall Maddigan Handlungsfreiheit. Russel ist gemaßregelt worden.« »Und deine Kündigung?« »Abgelehnt.« Mike atmete auf und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. »Okay, das wollte ich hören. Äh - vorhin hast du angedeutet, dass es Fakten gibt, die Maddigan entlasten...« »Womit wir wieder zur Tagesordnung übergehen«, kommentierte Murray zynisch. Dann wurde er wieder ernst. »Wir wissen definitiv, dass Mrs. Maddigan gestern Abend, 23.00 Uhr noch lebte. Da hat sie nämlich einem gewissen Jeremias St. James noch einen Schreibtisch aus dem 18. Jahrhundert geliefert. Mr. St. James ist jederzeit bereit, das zu bezeugen. Eine bei Mr. Maddigan vorgenommene Blutuntersuchung hat einwandfrei ergeben, dass er gestern Abend tatsächlich mit Schlaftablet28
ten voll gepumpt war. Nach den Rückständen zu urteilen, muss er die Tabletten gegen 22.30 Uhr geschluckt haben. Das bedeutet, dass er spätestens gegen 23.00 Uhr im Reich der Träume sein musste. Spuren von Aufputsch- oder Wachhaltemittel wurden im Labor nicht festgestellt. Gut, das alles ist immer noch kein Alibi, einen Mord kann man schließlich relativ schnell begehen. Aber schwieriger und weitaus zeitraubender wird dann das Verschwinden lassen der Leiche. Porter hat mit den Beamten der Spurensicherung das Haus in der Durham Lane gründlich durchsucht. Weder im Keller noch sonst wo gab es Schleif- oder Blutspuren. Nirgends war Staub gewischt. Das alles spricht - wenigstens meiner Meinung nach - vorerst für Maddigan. Andererseits... Vielleicht hatte er einen Komplizen. Das wäre möglich, muss aber erst mal bewiesen werden.« Mike wusste definitiv, dass diese Vermutung nicht zutraf. Maddigan war tatsächlich unschuldig - einer Gedankenleserin von Ingars Format konnte man nichts vormachen. Aber das konnte er seinem Freund nicht sagen. Murray hatte keine Ahnung von Ingars ParaFähigkeit... Und dabei sollte es auch bleiben. »Das Blut auf dem Fußboden und an der Dolchklinge könnte Mrs. Maddigans Blut sein«, fuhr Murray fort. »Blutgruppe und alles andere ist identisch...« »Und der Dolch?« »Ist noch beim Erkennungsdienst. Aber ich habe Fotos. Die kann ich dir überlassen.« »Danke, Ben.« Mike wandte den Kopf und sah aus dem Fenster. Das Wetter schien sich nicht schlüssig zu werden, ob es regnen oder die Sonne scheinen lassen wollte. Mike stellte dies nur beiläufig fest. Er grübelte nach. Murray war es schließlich, der das Schweigen brach. Er fasste Mikes Gedanken in Worte. »Vorerst bleibt uns nur eines übrig: Wir müssen Mrs. Maddigans Leiche finden.« »Wie konnte sie verschwinden, Ben? Hast du dir darüber schon Gedanken gemacht?« 29
»Hmmm«, brummte er und das war doch reichlich nichts sagend. Murray schien zu dem gleichen Schluss zu kommen, denn er räusperte sich vernehmlich, bevor er weiter sprach. »Setzen wir voraus, dass sie nicht von ihrem Mann oder dessen Komplizen - wie auch immer - beseitigt wurde. Hast du schon einmal etwas von Wiedergängern und Untoten gehört?« »Ich habe auch schon an diese Möglichkeit gedacht, Ben«, erwiderte Mike gedehnt. »Es wäre zumindest eine Erklärung... Aber lassen wir da unsere Phantasie nicht allzu sehr galoppieren?« Murray blätterte schweigend die Akte auf, die er vorhin scheinbar achtlos auf den Tisch zwischen ihnen gelegt hatte. Er nahm eines der Fotos, die in der Akte ganz obenauf abgeheftet waren und hielt es Mike hin. »Das ist der Dolch«, kommentierte er überflüssigerweise. Seine Stimme klang jetzt heiser, rau. »Siehst du diese Gravur? Da, an der Klinge...« Sein Zeigefinger tippte auf das Foto. Mike sah genau hin. »Ja, aber...« »Es ist unseren Spezialisten noch nicht gelungen, diese Inschrift zu enträtseln. Aber ich gehe jede Wette ein, dass das Schriftzeichen aus der alten, vergessenen Sprache der Druiden stammt.«
Druiden... Einst mächtige und gefürchtete keltische Zauberer und Opferpriester. Die Priesterschaft wurde schließlich von den Römern aufgelöst. Daraufhin manifestierte sich der Geheimkult der Druiden...,
rekapitulierte Mike in Gedanken das, was er über diese geheimnisvolle Zunft wusste. Murray deutete sein nachdenkliches Schweigen falsch. Er verzog sein Gesicht. »Du und ich - wir beide wissen, dass es Geister gibt, eine jenseitige Sphäre, deren Wesenheiten nur darauf lauern, den Menschen dieser Welt Böses tun zu können. Ist es da so abwegig, zu vermuten, dass jene Wesen von Mrs. Maddigans Leichnam Besitz ergriffen haben?« »Ein Zauber oder ein Fluch, der wirksam wird, wenn mit dem entsprechenden Relikt des Bösen ein Verbrechen verübt wird?«, murmelte Mike skeptisch. 30
»Vielleicht.« Mike überdachte seine These. Sie wollte ihm noch immer nicht so recht gefallen. Dabei war er damit - ohne es zu wissen - der Wahrheit so nahe gekommen. »Wir können momentan ohnehin nur raten«, bemerkte Murray plötzlich. Es klang wie eine Entschuldigung. Mike seufzte und schwieg weiter. Murray gab nicht auf. Er knüpfte das Gespräch an einer anderen Stelle an. »Vielleicht solltest du versuchen, über deinen GeisterFreund, diesen - diesen Schwarzschwert, etwas in Erfahrung zu bringen. Dem Burschen müsste es doch möglich sein, einen Überblick über die augenblicklichen Aktivitäten der bösen Geister zu bekommen.« »Wenn er den hätte, dann hätte er sich sicher schon längst mit mir in Verbindung gesetzt«, vermutete Mike. »Er unterliegt auch gewissen Gesetzmäßigkeiten. Glaub nur nicht, dass es so einfach ist, ein Geist zu sein.« »Hört, hört«, meinte Murray boshaft. Mike grinste jungenhaft und erhob sich. »Schon gut, Ben. Ich werde also versuchen, mit Balthasar Kontakt aufzunehmen. Das wird aber erst heute Abend möglich sein.« »Weil Geister nur nach Einbruch der Dunkelheit kontaktfreudig sind«, vollendete Murray Mikes Satz. »Stimmt's?«, erkundigte er sich dann scheinheilig und augenzwinkernd. »Jetzt verstehe ich so langsam überhaupt nicht mehr, was die gute Mrs. Courry gemeint hat, als sie mir vorhin riet, vorsichtig zu sein... Du scheinst heute vor guter Laune ja beinahe zu platzen.« »Wie bitte?«, knurrte Murray misstrauisch. »Nichts, nichts«, wehrte Mike schnell ab. Ben Murray zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch und schwieg ein paar Sekunden lang - so lange, wie er brauchte, um einen seiner unvermeidlichen Kaugummis aus dem Silberpapier zu wickeln und in seinen Mund zu stecken. Nachdem das geschehen war, war er wieder ganz der alte. Ernst und dienstlich sozusagen. 31
»Was unternimmst du in der Zwischenzeit? Ich meine, in der Zeit bis zur Geisterbeschwörung. Ich kenne dich doch. Nur herumsitzen und Däumchen drehen, das ist doch bei dir nicht drin.« »Ich werde ein paar meiner Fühler aktivieren.« Murrays Mund verzog sich zu einem verstehenden Lächeln. »Doppelt genäht hält besser, was?«, brummte er dann anerkennend. »Du hast's wieder mal erfasst!« »All right. Lass es mich wissen, wenn sich bei dir was tut, okay?« »Komisch. Das wollte ich dir auch gerade ans Herz legen«, versetzte Mike. Sie waren sich wieder einmal einig, lächelten und reichten sich dann die Hände. Wenig später fuhr Mike auf Direktkurs nach Hause. * Roger Courtenay erwachte wie aus einer tiefen Ohnmacht und im ersten Moment vermochte er nicht zu sagen, wo er sich befand, welche Tageszeit es war und wie er hieß. Er wusste überhaupt nichts mehr. Alles war wie von einer mächtigen Flutwelle weggeschwemmt... In seinem Kopf herrschte Leere, absolute, gähnende Leere. Stöhnend richtete er sich auf und rieb sich seinen schmerzenden Schädel. Aber das half nicht sonderlich. Die Schmerzen blieben, rannen von seiner Stirnpartie ausgehend in feurigen Wellen über seinen Schädel, seinen Nacken, sein Rückgrat hinunter. Zögernd nur klarte sich sein Blick. Seine Umgebung schien sich aus einem zerfließenden Kosmos, der nur aus Licht und Schatten bestand, herauszuschälen. Und plötzlich, mit der Wucht eines brutalen Schlages, war er wieder klar, war seine Erinnerung wieder komplett. Er hatte einen Mord begangen... Einen völlig sinnlosen Mord! Wie hatte er sich dazu hinreißen lassen können? Diese Frage fraß sich förmlich in sein Bewusstsein hinein. Er grübelte nach. Und kam zu dem Resultat, dass er die Frage falsch gestellt hatte. Richtig musste sie heißen: Was - hatte ihn dazu hingerissen? 32
Er erinnerte sich an eine Stimme... An eine geheimnisvolle Stimme von gewaltiger Überzeugungskraft, die direkt in seinem Gehirn gewesen war, die ihm Befehle erteilt, die ihn gelenkt hatte! Er war nicht er selbst gewesen! Irgendetwas hatte sich in seinem Geist eingenistet gehabt... Hatte ihn - sein Denken, Fühlen, Handeln vollkommen beherrscht! Namenloses Grauen erfasste Roger Courtenay, als er sich der Tragweite dieser Feststellung richtig bewusst wurde. Seine Zähne klapperten wie im Fieberwahn aufeinander. Jetzt war von seiner Kaltschnäuzigkeit nicht mehr sonderlich viel übrig. Er hatte nur noch Angst, fürchterliche Angst. »Ich - ich werde wahnsinnig«, krächzte er. Gehetzt sah er sich um. Er war zu Hause, in seiner Junggesellenwohnung. Sekundenlang drehte sich alles um ihn herum. Die Möbel schienen einen Geistertanz aufzuführen. Dann war es wieder vorbei. Seine Gedanken wirbelten um das Geschehene. Rekapitulierten, suchten verzweifelt nach einer akzeptablen Erklärung. Da war der Fremde gewesen... Der Auftrag, den Dolch zu stehlen... Das viele Geld, das er dafür bekommen sollte... Und dann: Der Einbruch - und der Mord. Nach der Tat war er wie von Sinnen geflohen. Der kalte Regen war ihm ins Gesicht gepeitscht. Dann riss der Erinnerungsfaden. Roger Courtenay wusste nicht mehr, wie und wann er nach Hause gekommen war. Er konnte nur schätzen. Sein fiebriger Blick glitt zu den Fenstern hinüber. Die Vorhänge waren noch zugezogen... Nur durch einen handbreiten Spalt fiel Licht. Er schluckte. Draußen war heller Tag. Es musste bereits später Mittag sein! Übelkeit übermannte ihn. Er würgte und vor seinen Augen wurde es schwarz. Und in dieser Schwärze sah er ein Gesicht... Das angstverzerrte Gesicht jener Frau, die er getötet hatte... »Nein!«, kreischte er. Der Schrei brachte ihn wieder zur Besinnung. Er atmete keuchend. Versuchte, nicht mehr an den Mord zu denken. Er durfte nicht mehr daran denken, wenn er nicht völlig durchdrehen wollte. Er war unschuldig! Niemals hätte er aus freien Stücken einen Mord begangen! Er 33
war ein leichtsinniger Bursche, ja, ein kleiner Schwindler... Aber er war kein Verbrecher - und erst recht kein Mörder! Dennoch hatte er gestern einen Einbruch und einen Mord verübt! »Nein, das - das war nicht ich!«, flüsterte er, plötzlich ganz ruhig werdend. »Das - das war der böse Geist in mir! Der böse Geist...« Er kicherte. Und gleichsam erschrak er, als er registrierte, dass es ein irres Kichern gewesen war. Wurde er verrückt? War er bereits verrückt? Er hatte irgendwann einmal etwas über Persönlichkeitsspaltung gelesen... Er schüttelte unwillig den Kopf und er rappelte sich auf. Mühsam kam er hoch. Seine Knie zitterten. Unsicher stand er. Dann ging es ihm besser. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und torkelte zur Sitzgruppe hinüber. Dort, auf dem niederen Tischchen vor der Gruppe, stand noch eine halbvolle Whisky-Flasche. Mit zittrigen Händen griff er danach, schraubte den Verschluss ab und setzte die Flasche an die Lippen. Gierig trank er. Der Whisky brannte in seiner Kehle, erzeugte in seinem leeren Magen ein wahres Höllenfeuer. Aber dieses Höllenfeuer belebte, weckte seine Lebensgeister. Mit einem erleichterten Aufseufzen ließ er sich auf die mit weißem Sackleinen bezogene hypermoderne Rustikalcouch fallen. Seine Gedanken hatten sich ein bisschen geklärt, aber er wusste, dass das nicht lange so bleiben würde. Er vertrug den Whisky nicht... Er musste sich der Polizei stellen, alles erklären. Das war sein nächster bewusster Gedanke. Aber er verdrängte ihn hastig wieder. Er durfte sich nicht stellen. Für die Polizei war er der Täter. Er war in das Haus der Maddigans eingedrungen. Er hatte die Frau umgebracht. Niemand würde ihm glauben, dass er nicht Herr seiner selbst gewesen war, als es geschah. Und das - das bedeutete lebenslängliches Gefängnis... Die kurze Euphorie nach dem hastig genossenen Whisky klang ab. Jetzt fühlte er sich ausgebrannt, wie tot - und so einsam wie ein ausgesetzter Hund, der auf der Suche nach einem Knochen um die überquellenden Mülltonnen strich. 34
Draußen rauschte der Verkehr. Menschen hasteten vorbei. Roger Courtenays Wohnung lag im Erdgeschoß. Ohne sich anstrengen zu müssen, sah er die Schatten der Menschen in dem hellen Spalt zwischen den Vorhängen auftauchen und sofort wieder verschwinden. Eine Weile starrte er hin, dann neigte er seinen Kopf. Vielleicht sollte er versuchen, den Fremden, der ihm den Auftrag gegeben hatte, der ihn hypnotisiert oder verhext hatte, ausfindig zu machen. Aber wo sollte er ihn denn suchen? Und selbst, wenn er ihn fand - was könnte er ihm schon nachweisen? Nichts. Überhaupt nichts. Courtenay wusste nicht, was er tun sollte. Sein Schädel begann wieder zu schmerzen. Bilder seiner Tat, Bilder, die er nicht ertragen konnte, drängten wieder in sein Bewusstsein. Wieder trank er hastig, in großen, gierigen Schlucken. Und als er die Flasche mit einem Ruck absetzte, dachte er zum ersten Male wieder an das Geld, das er so dringend brauchte. Er hatte den Dolch zurückgelassen. Also bekam er auch die fünfzigtausend Pfund nicht - falls der Fremde überhaupt jemals beabsichtigt hatte, ihm diese Summe wirklich zu geben. Roger Courtenay verfolgte diesen Gedanken nicht weiter. Er hatte jetzt andere Sorgen. John ›Spider‹ Antonin, der heimliche Wucherkönig von London und seine Geschäftsfreunde würden nun keine Gnade mehr kennen. Er hatte die letzte Frist, die sie ihm gesetzt hatten, wieder nicht eingehalten. Es war ihm nicht gelungen, die fünftausend Pfund aufzutreiben, die er ihnen schuldete. Roger Courtenay hatte geglaubt, seine Angst einigermaßen überwunden zu haben. Das war ein Irrtum gewesen. Die Angst war nach wie vor gegenwärtig, saß tief in ihm verankert. Und jetzt loderte sie wild empor. Eine eiskalte Knochenhand schien sich um sein Herz zu schließen. Courtenay schüttete den restlichen Whisky in sich hinein. Sein Blick wurde glasig. Der Whisky schlug voll zu und Courtenay trat einfach weg. Seine Gedanken und Ängste schwammen in einem Meer aus lauter Watte davon. Und dann war Ruhe... * 35
Mit Geld konnte man in London - und nicht nur hier - so ziemlich alles kaufen. Das war zwar traurig - aber eine unumstößliche Tatsache. Mike gefiel diese Tatsache nicht sonderlich gut, aber manchmal so wie heute - war er regelrecht gezwungen, sich ihrer zu erinnern. Er brauchte Informationen und zwar solche, die die altehrwürdige ›Times‹ nicht lieferte, einfach nicht liefern konnte. Informationen aus Londons Unterwelt. Nachdem er gemeinsam mit Ingar das Mittagessen hinter sich gebracht hatte, machte er sich an die Arbeit. Herumsitzen und Däumchen drehen, kurzum: der Dinge harren, die da zwangsläufig irgendwann einmal kommen oder auch nicht kommen würden - lag ihm wirklich nicht. Da hatte ihn Murray schon ganz richtig durchschaut. Er stellte eine Liste zusammen, die dreizehn Namen umfasste. Drei dieser Namen gehörten stadtbekannten Hehlern, die anderen kleinen Ganoven, Pennern, Spitzeln, Zuträgern. Wenig später zog er sich in sein Büro zurück und klemmte sich hinter sein Telefon. Die Hehler konnte er anrufen. Bei den anderen Info-Lieferanten war das anders. Die konnte man nur persönlich erreichen. Pro Hehler brauchte Mike genau dreieinhalb Minuten, um klarzustellen und sich davon zu überzeugen, dass es sehr nachteilig sein konnte, wenn man nicht guten Willens war und mit ihm zusammenarbeitete. Eine weitere Minute dauerte es, bis er mit jedem von ihnen einen persönlichen Termin vereinbart hatte. Als er diese ›Vorarbeiten‹ abgeschlossen hatte, war es 14.00 Uhr. Draußen schien inzwischen die Sonne von einem mit zahllosen kleinen Kumuluswolken übersäten blauen Himmel. Mike wandte sich vom Fenster ab und steckte die Namensliste ein. Im gleichen Moment kam auch schon Ingars telepathische Anfrage: Bist du fertig, großer Meister? Meinetwegen können wir nämlich... Der Unternehmungsgeist, der unterschwellig mitschwang, war kaum zu überhören. Mike lächelte in sich hinein, bevor er seine Gedankenantwort formulierte. Nur die Ruhe... Bin schon unterwegs. Treffpunkt: Lift. Okay? 36
Okay, kam es kurz und bündig zurück. Und daraufhin: Übrigens, ein gesunder Unternehmungsgeist kann nur von Vorteil sein. Das möchte ich doch einmal gesagt haben!
Mike schirmte seine Gedanken ab, so gut er konnte und zog es vor, zu schweigen. Ingar konnte manchmal aber auch wirklich so unberechenbar sein wie ein Rudel hungriger Löwen. Als er aus seinem Büro kam, wartete sie bereits mit Unschuldsmiene. Solange er telefoniert hatte, hatte sie sich umgezogen. Jetzt trug sie anstelle des Superminis ihre Jeans und, dazu passend, eine hübsche Seidenbluse mit leger geschnittenen Ärmeln. »Alles klar?«, erkundigte sie sich charmant. »Alles klar, du Tyrannin«, flachste er zurück. Sie lächelte ganz bezaubernd, dann spitzte sie ihren Mund und deutete einen Kuss an. Gleich darauf öffnete sich die Lifttür. Sie stiegen ein und fuhren ins Foyer hinunter. Sie waren unterwegs zu ihrem ersten Informanten. Die Kleinarbeit begann. Benny Looster und Ryan Ferrigan, die ersten beiden Namen auf seiner Liste, konnte Mike bereits eine halbe Stunde später streichen. Benny Looster, ein Penner, der ihm in der Vergangenheit schon manchen heißen Tipp gegeben hatte, war vor einer Woche im City Hospital einer Alkoholvergiftung erlegen. Bennys Kollege Ryan Ferrigan lebte zwar noch, aber auf Kosten der königlichen Staatskasse. Vor knapp drei Wochen war er auf frischer Tat ertappt und gefasst worden, als er versucht hatte, in eine Filiale der Bank of London einzusteigen. »Schöne Bekannte hast du, das muss ich schon sagen«, kommentierte Ingar, als sie schon auf dem Weg zu William Franklin waren, dem Inhaber des dritten Namens. »Zugegeben«, erwiderte Mike. »Aber das sind kleine Ganoven, Gelegenheitsschurken, sozusagen. Sie haben nicht nur mir, sondern auch der Polizei schon einige recht gute Tipps gegeben. Tipps, die große Verbrechen, Kapitalverbrechen, betrafen...« »Aber sie lassen sich ihre Informationen etwas kosten«, bemerkte Ingar. 37
»Was ist heutzutage schon umsonst auf dieser schönen Welt?«, beantwortete Mike ihren Einwurf. Sie schwiegen. Mike fuhr Richtung Soho und Shaftes Bury. Sie kamen nur langsam voran. Ein Wagen klebte an der Stoßstange des anderen, obwohl die berühmtberüchtigte Rushhour noch lange nicht begann. Mike hüllte sich in Geduld und legte sich noch einmal die Fragen zurecht, die er Franklin präsentieren wollte. Und er überdachte noch einmal den gesamten Stand der Dinge... Das, war er auf der Klar-Seite verbuchen konnte, war ziemlich dürftig. Als er endlich in die unscheinbare Gasse einbog, die von der Shaftes Bury abzweigte, stand - abgesehen von dem ›Fühler aktivieren‹ sein weiteres Vorgehen fest. Soweit man in diesem Fall überhaupt von Vorgehen sprechen konnte. Bis jetzt war alles, was er unternahm, lediglich ein Herumtasten - ein Sondieren. In der Drury Lane - so hieß die Gasse, in der Franklin wohnte und arbeitete - stank es ganz erbärmlich nach Fisch und brackigem Wasser. Wie dieses Naturwunder zustande kam, war Mike ein Rätsel. Die Themse war jedenfalls zu weit entfernt, um sich hier derart bemerkbar machen zu können. Die Gasse war eng. Verwinkelt gebaute, schmucklose Häuser standen dicht an dicht. Zeitungen und Abfälle lagen im Rinnstein. Hier war nichts von jenem Soho zu merken, das Touristenattraktion und so genanntes Vergnügungszentrum Londons war. Diese Gegend hier, das war die Welt hinter der Fassade. Die Realität. Mike wusste, dass das Leben vieler Menschen, die hier zu wohnen gezwungen waren, von Geburt an vorprogrammiert war. Nur wenige schafften den Sprung nach oben. Die meisten hielten sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser. Oder mit Gaunereien. In Gegenden wie dieser fand das Verbrechen üppigen Nährboden. William Franklin hatte sich für den einigermaßen geraden Weg entschieden. Er war verheiratet, hatte einen Jungen, zwei Jahre alt und arbeitete in einer Striptease-Bar als Rausschmeißer. Nur eine handvoll Leute - unter anderem Mike - wussten, dass er sich nebenberuflich als Informant noch ein Zubrot verdiente. 38
Über diesen Gedanken erreichten sie die Nina Rossini Bar. Mike parkte seinen Lotus halb auf dem Gehsteig, da er sonst nachfolgenden Wagen die Weiterfahrt unmöglich gemacht hätte. Unweit spielten drei Kinder, die nicht älter als fünf Jahre waren, mit einer Puppe ohne Kopf. Ingars Stirn kräuselte sich, als sie das sah. Ihr Blick wurde weich. »Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe«, sagte sie dann unvermittelt. »Ich war noch nie hier. Ich habe einfach nicht gewusst, wie das Leben hier verläuft.« »Jetzt weißt du es«, erwiderte Mike einfach und lächelte ihr aufmunternd zu. »Na, komm schon!« Sie nickte und wandte den Blick von den Kindern. Sie stiegen aus und überquerten die miserabel asphaltierte Straße. Die Nina Rossini Bar war im Kellergeschoß eines hohen, grauen Wohnhauses untergebracht. Das Haus war ein hässlicher Kasten mit kleinen, engen Fenstern. Überall bröckelte der Verputz ab. Das konnten auch die großen, bunten Plakate nicht tarnen, die auf die großartige Live-Striptease-Show in der Bar hinwiesen. Mike kannte sich hier aus, er hatte schon ein paar Mal Franklins Allround-Wissen in Anspruch genommen. Sie stiegen die schmale, steile Treppe hinunter und traten durch die offen stehende Tür. Abgestandener Zigarettenqualm und der Geruch von schalem Bier hing in der Luft. »Franklin!«, brüllte Mike. Hinter der einfachen Theke, die seitlich des Podiums aufgebaut war, auf dem Abend für Abend irgendein Girl ihre Hüllen fallen ließ, gab es eine Tür. Sie war nur angelehnt. Dort wurden jetzt Schritte laut. Der Mann, der in die Bar trat, war nicht Franklin. Er war groß, bullig und trug nur eine Hose und ein Unterhemd. Sein Gesicht war verwittert, die Nase knollig. Sie verriet, dass ihr Besitzer früher einmal aktiver Boxer war. »Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?« Diese beiden Fragen kamen wie aus der Pistole geschossen. 39
»Wir sind Freunde von Franklin«, erwiderte Mike. »Wir hätten ihn gern gesprochen.« »Soso, Freunde von Will seid ihr«, echote der Massige und kam heran. Sein Blick war misstrauisch, die Stirn gefurcht. »Und wer garantiert mir, dass ihr die Wahrheit sagt?«, brummte er dann barsch, als er vor ihnen stand. »Fragen Sie ihn, er wird es Ihnen bestätigen. Sagen Sie, Mike will mit ihm sprechen.« Bevor der Massige etwas erwidern konnte, erklang Franklins Stimme hinter ihm. »Schon gut, Alvin. Für Mike bin ich tatsächlich immer zu sprechen. Der ist okay.« Alvin nickte bedächtig und sein Gesicht hellte sich auf. »Wenn das so ist, dann ist ja alles klar. Ich will hier nur keinen Ärger. Das werden Sie verstehen, Mike.« »Klar doch, Meister!« Mike und Ingar begrüßten William Franklin, der im Vergleich zu Alvin geradezu mickrig wirkte. Er war klein, dicklich. Sein Gesicht war intelligent, die Augen listig - obgleich sie im Augenblick Ingars Figur taxierten. Das kurze Haar ließ ihn wie einen Primaner aussehen. Dass dieser Schein trog, wusste Mike definitiv. Franklin hatte Muskeln aus Stahl und er konnte sie einsetzen. Das hatte schon mancher betrunkene Raufbold einsehen müssen. »Was steht an, Mike?«, erkundigte er sich, nachdem sie sich in ein kleines Zimmer zurückgezogen hatten und sicher sein konnten, dass niemand mithörte. »Das Übliche...«, erwiderte Mike ausweichend und zückte die Fotos von dem Dolch. »Sieh dir das Ding mal an, Will. Kannst du damit was anfangen? Gibt es Gerüchte, Angebote? Interessiert sich irgendjemand für solche Dinger?« Franklin besah sich die Fotos nur ein paar Sekunden lang, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Momentan klingelt bei mir nichts, ehrlich, Mike. Aber ich werde mich umhören. Auch in den beiden Discos, die hier ganz in der Nähe sind... Ich liege doch richtig, wenn ich vermute, dass der Dolch geklaut worden ist?« 40
»Vielleicht sollte er gestohlen werden... Vielleicht musste er nur dazu herhalten, um auf eine falsche Spur zu führen.« Mike erwähnte die dritte Möglichkeit nicht, da sie ausschied. Der Dolch war nicht nur zufällig nur deshalb ins Spiel gekommen, weil der Einbrecher verzweifelt nach einer Waffe gesucht hatte, als er merkte, dass die Besitzerin etwas gehört hatte und nun kam, um nach dem Rechten zu sehen. Ingar hatte sich anhand Mr. Maddigans Gedanken ein genaues Bild des Antiquitäten-Ladens machen können. Im Verlauf ihrer Lagebesprechung während des Mittagessens hatte sie ihm erklärt, dass der Dolch in einer gläsernen Vitrine im Vordergrund des Ladens aufbewahrt worden war. Der Mord aber war mehr als sechs Meter entfernt verübt worden. Somit stand zumindest fest, dass sich der Einbrecher - aus welchem Grund auch immer - für den Dolch interessiert hatte. Aus Maddigans Gedanken war weiterhin der Wert der Waffe ersichtlich gewesen. Knapp eintausend Pfund... Telepathie, fand Mike, war eine feine Sache. Auch in diesem Fall. Wenn Franklin bereits etwas von der ganzen Angelegenheit gewusst hätte, so hätte Ingar ihm das sofort ›durchgegeben‹. Da sie sich unauffällig im Hintergrund hielt und schwieg, war klar, dass Franklin im Augenblick tatsächlich noch keine Informationen vorliegen hatte. William Franklin brach das Schweigen. »Vielleicht stand von vornherein fest, dass die Frau sterben musste«, kombinierte er. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein bezahlter Killer einen Einbruch vortäuscht.« »Kann sein. Kann aber auch nicht sein«, orakelte Mike. Er zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall: Möglicherweise gibt es bei der Sache einen Auftraggeber. Wenn es einen gibt, dann muss er irgendwo zu demjenigen Kontakt aufgenommen haben, der den Einbruch und den Mord durchgeführt hat. Und da kommst du ins Spiel, Will. Hör dich um, ja?« »Klar tue ich das. Nur noch eine Frage, Mike. Wo wurde eingebrochen? Damit musst du schon noch herausrücken...« »Durham Lane 282. Wie gesagt, ein Antiquitäten-Laden.« 41
»Alles klar«, versetzte William Franklin geschäftsmäßig. »Wie viel Zeit habe ich?« »Nicht viel. Kannst du mich morgen früh anrufen?« Franklin spitzte seinen Mund. »Das ist ziemlich knapp für eine derart vage Sache. - Aber gut. Ich will's versuchen.« »Fein!« Mike steckte ihm eine Zehn-Pfund-Note in die Brusttasche seines popfarbenen Hemdes und zwinkerte mit den Augen. »Die Anzahlung.« »Schon gut, Mike. Vertrauen gegen Vertrauen, wie immer.« »Das war's dann wohl fürs erste«, resümierte Ingar einige Stunden später, als sie den Namen des letzten potentiellen Informanten abhakte. Sie hatten jetzt elf Leute auf ihre Sache angesetzt und es war spät geworden. Definitive Informationen und Hinweise hatten sie nicht bekommen, aber das hatte Mike eigentlich auch nicht erwartet. Er hatte seine Fühler ausgestreckt, jetzt blieb abzuwarten, was sie in Erfahrung brachten. »Was hältst du davon, wenn ich dich zu einer Pizza ins Ristorante Kälberer einlade?«, erkundigte er sich. »Sorry, aber ich muss auf meine Linie achten. Du weißt schon, wer morgens nicht trimmt, sollte abends nichts essen. Aber was hältst du davon, wenn ich dich zu einer kleinen, romantischen Spazierfahrt durch London einlade?« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und sah ihn aus ihren grünen Hexenaugen heraus erwartungsvoll an. »Zu einer Spazierfahrt?«, echote er überrascht. Dann begann er zu kombinieren: »He, Liebling, du hast doch etwas vor... Ich seh's dir an der Nasenspitze an!« Ein Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. »Also, ich habe mir da etwas überlegt«, begann sie. »Vielleicht wohnt der Bursche, der Mrs. Maddigan ermordet hat, ganz in der Nähe des Tatorts. Weiter: Wenn man einen Mord begangen hat, dann ist man erregt. Man denkt unablässig daran, ob man nun will oder nicht.« »Es sei denn«, schränkte Mike ein, »es handelt sich um einen Profi.« So langsam aber sicher ahnte er, was Ingar ausgetüftelt hatte. 42
»Dass der Mörder die Mordwaffe - für die er sich aus irgendeinem Grunde interessiert haben muss - am Tatort zurückließ, spricht gegen den Profi«, konterte sie ruhig. »Außerdem haben wir in diesem Fall schon so viele wacklige Vermutungen aufgestellt, da kommt es auf die eine auch nicht mehr an. Wie gesagt: Der Mörder denkt also an seine Tat. Möglicherweise kommen wir durch puren Zufall nahe genug an ihn heran. Dann könnte ich ihn über seine Gedanken aufspüren...« Mike überlegte kurz, aber Ingar schaltete sich direkt in seine Gedanken ein. Nichts aber!, versetzte sie hartnäckig. Ich weiß schon, du willst
diesen Balthasar Schwarzschwert einschalten... Geisterbeschwörung und so... Aber so lange wir die Möglichkeit haben, solo voranzukommen, sollten wir diese Möglichkeit nutzen. Hm! »Sag' mal - hast du etwas gegen Geister?«, fragte Mike betont harmlos. »Nichts gegen nette!«, versetzte sie, um gleich darauf hitzig fortzufahren: »Aber ich bin auch der Meinung, dass...« »Dann bist du eifersüchtig!«, platzte Mike in gespieltem Entsetzen heraus. »Ich? Eifersüchtig? Mike, hör mal, das ist ein dicker Hund und ich... Ohhh!« Empört brach sie ab. Mike triumphierte innerlich. Jetzt hatte er es doch tatsächlich geschafft, sie zu schocken. Aus ihren Augen blitzte ein wahres Granatwerferfeuer. Aber dann hatte sie ihn durchschaut, merkte, dass er nur geflachst hatte. »Schuft!«, zischte sie inbrünstig. Und dann kam sie wieder zum eigentlichen Thema zurück. »Also, fahren wir?« »Klar doch, Liebling. Die Idee war goldrichtig... Besänftigt?« »Muss ich mir noch überlegen.« Der Vierzylinder-Zweiliter-Motor des Lotus, der mühelos seine 150 Pferdestärken entwickelte, wenn man ihn ließ, kam mit einem satten Wummern. Mike kuppelte, gab Gas. Das fahrbare Geschoß rollte an. Im Rückspiegel sah Mike die Sonne. Sie versank rasend schnell hinter Londons Skyline und schickte noch letzte, blutigrote Strahlen 43
über den Himmel. Die Schatten wurden länger und länger. Es dunkelte. Die Finsternis gewann an Macht... * Loisa Maddigan öffnete ihre Augen. Sekundenlang fühlte sie sich schwach, benommen... Aber das mochte ihr lediglich von jenen Sinnen vorgegaukelt werden, die sich noch nicht daran gewöhnt hatten, dass für ihren Körper nun andere Maßstäbe als die irdischen anzusetzen waren. Sie hatte den Tag in einem Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf überbrückt. Jetzt hatte sich die Dunkelheit wieder wie ein schwarzer, samtiger Schleier über London gesenkt - und ihre veränderten Sinne und Instinkte hatten angesprochen. Sie war erwacht. Und bereit, ihre Aufgabe zu erfüllen. Ihre Aufgabe... Wie ein Hauch wehte dieser Gedanke durch ihren Sinn. In tiefen, von einer unheimlichen Macht überlagerten Schichten ihres Bewusstseins regte sich flüchtiger Protest, Widerstand. Dann war es auch schon wieder vorbei. Loisa Maddigan handelte so, wie der ›Mächtige‹ es von ihr erwartete. Ruckartig richtete sie sich aus ihrer liegenden Stellung auf. Ringsum lag der Dreck knöcheltief. Es stank nach Alter und Verfall. Morsche Balken, zerbrochene Dachschindeln, Fensterrahmen mit bizarren Glasresten waren irgendwann einmal hier heruntergeschafft und vergessen worden. Es war eine schreckliche Umgebung. Sie kümmerte dies nicht. Der Keller des Abbruchhauses war ihr ein gutes Versteck gewesen. Kein Sonnenstrahl hatte bis hierher vordringen können. Nur diese Argumente zählten. Loisa Maddigan verharrte in ihrer sitzenden Stellung und lauschte in sich hinein. Ihre Körperfunktionen waren intakt. Dumpf schlug ihr Herz gegen ihre Rippen. Ja, es schlug, obwohl es von einem Dolchstoß durchbohrt worden war... 44
Blitzlichtartig materialisierte diese Erkenntnis erneut in ihr, brachte das Grauen - und verschwand gleich darauf, als hätte es sie niemals gegeben. Etwas regte sich in ihr... Hunger! HUNGER! Ein quälender, drängender, immer stärker werdender Hunger. Loisa verstand nicht, wie das möglich sein konnte - oder was das bedeuten konnte. Sie wunderte sich. Aber nur kurz, denn im gleichen Augenblick sickerten die benötigten Informationen in ihren Geist... Ihre Aufgabe erforderte, dass sie sich stärkte. Sie musste kräftiger werden, widerstandsfähiger, denn der ›Mächtige‹ hatte noch viel mit ihr vor. Unter anderem sollte sie wieder in der Lage sein, sich und ihren Körper gefahrlos den normalerweise vernichtenden Sonnenstrahlen auszusetzen. Die Stimme, die ihr dies einflüsterte, war kalt und eindringlich. Und sie erläuterte Loisa Maddigan auch, was sie zu sich nehmen musste... Energie. Die Lebensenergie eines Menschen! »Ich gehorche«, murmelte sie tonlos. Sie erhob sich. Ihr ehemals blütenweißer Morgenrock war verdreckt, aber das nahm sie - ebenso, wie die ungastliche Umgebung überhaupt nicht zur Kenntnis. Ihr Hunger wurde schlimmer und schlimmer. Alles in ihr krampfte sich zusammen. Die Wunde über ihrer Brust begann zu pulsieren. Loisa Maddigan sog witternd die Luft ein. Und dann machte sie sich auf den Weg. Sie wusste jetzt, wo sie ihren Hunger stillen konnte. Ein grausames Lächeln verzerrte ihr Gesicht. * Roger Courtenays Rauschzustand hielt nicht allzu lange an. Nicht so lange, wie er sich das gewünscht hätte. Er kam wieder zu sich. In seinem Schädel wühlte ein dumpfer, allgegenwärtiger Schmerz. Schwindelanfälle schüttelten ihn. Der Nachklang des Whiskys... 45
In seinem Mund klebte ein schaler, ekelhafter Geschmack. Die Erinnerung schwappte wie eine ölige Brühe heran und es schien, als hätte sie lediglich darauf gelauert, dass er wieder in der Lage war, sie bewusst wahrzunehmen. Courtenay wimmerte und presste seine Hände gegen die Ohren. Das war sinnlos, aber er erkannte es nicht. Der Whisky umnebelte sein Gehirn noch immer, machte ihm das Denken schwer. Aber die Erinnerungen - die waren da. Und sie blieben auch. Er hatte nur Zeit gewonnen, wenigstens was deren Schrecken anbelangte, den die Erinnerung brachte. Andererseits hatte er Zeit verloren... Es war verdammt spät geworden. Draußen war es bereits dunkel. Bald würden John ›Spider‹ Antonins Männer hier aufkreuzen und ihn auffordern, die fünftausend Pfund auf den Tisch zu blättern. Und wenn er das nicht konnte, dann... Courtenay begann zu zittern. Er war kein Held. Niederlagen konnte er nicht verschmerzen. Sie griffen sein ohnehin minimales Selbstvertrauen, das er bis jetzt immer wieder mit seinen Erfolgen bei Frauen aufpoliert hatte, an.
Ich muss von hier verschwinden!, sagte er sich, plötzlich halbwegs nüchtern. Hier werden mich die Kerle zuerst suchen... Er riss sich hoch. Alles begann, sich um ihn zu drehen. Wieder griff der Schwindel nach ihm... Er schloss seine Augen und versuchte, die feurigen Punkte zu ignorieren, die er dennoch sah.
Weg von hier! Nur weg! Das war alles, was er jetzt dachte. Er griff
sich wieder an den Schädel und stöhnte. Die Erinnerung an den Mord wurde stärker, mächtiger, blähte sich auf wie ein Luftballon, der mit Gas gefüllt wurde. Und zu dieser Erinnerung kam die erbärmliche Angst. Alles war noch viel schlimmer wie vor seinem Blackout! Er torkelte durch den modern eingerichteten Wohnraum, Richtung Korridortür. Mit pfeifenden Lungen erreichte er sie und hielt sich fest. Seine Finger pressten sich gegen den weißlackierten Türrahmen.
Weiter!, spornte sich Courtenay an. Keine Zeit mehr verlieren! Weg! 46
Der Korridor lag dunkel vor ihm. Courtenay glaubte, von unsichtbaren Augen belauert zu werden... Ein unheimliches Gefühl. Eine Gänsehaut bildete sich auf seinem Rücken, seinen Unterarmen. »Weg!«, keuchte er. Er stieß sich ab. Machte zwei, drei schwerfällige Schritte. Die Wohnungstür war nicht mehr weit entfernt, er würde es schaffen. Er musste es schaffen! Da hörte er die Stimmen! Zwei Männer. Sie mussten direkt vor seiner Wohnungstür stehen. Wie abgeschnitten erstarrte seine Bewegung. In seinen Ohren rauschte das Blut. Courtenay hielt den Atem an. Trotzdem glaubte er, jeden Augenblick bemerkt zu werden. Sein Herz schien so laut wie ein Schmiedehammer zu schlagen. Das waren Spiders Männer! Er hatte sich zu spät aufgerafft! Hatte zu spät begriffen, dass ihm nur noch Flucht helfen konnte. Zu spät!, hämmerten seine Gedanken. Er war verloren. Wie ein gehetztes Tier sah er sich um. Das hätte er nicht tun sollen, wenigstens nicht so ruckartig. Der Boden führte plötzlich ein Eigenleben. In Wirklichkeit war es Courtenay, der sich bewegte. Er verlor das Gleichgewicht, taumelte, versuchte vergeblich, irgendwo Halt zu finden. Schwer stürzte er zu Boden. Die Stimmen vor der Tür verstummten schlagartig. Courtenay wusste, was das bedeutete. Er rappelte sich wieder auf. Lehnte sich gegen die Wand, bis er sich wieder einigermaßen sicher fühlte. Dann wankte er los. Zurück ins Wohnzimmer! Vielleicht konnte er durchs Fenster entkommen... Er kam nur einen Schritt weit. Die Wohnungstür hinter ihm schwang auf, wie von Geisterhand geführt. Das kalte Flurlicht breitete sich in dem dunklen Wohnungskorridor aus. Courtenay war ein miserabler Spieler und Verlierer, aber er wusste, wann es an der Zeit war, aufzustecken. In seinem Zustand würde er nicht weit kommen, sogar das war ihm mit einem Male klar. Müde, mit hängenden Schultern, drehte er sich um. 47
Die beiden Männer, die in diesem Moment eintraten und das Licht anknipsten, grinsten süffisant. Natürlich hatten sie sogleich mit Kennerblick erfasst, was mit ihm los war. Roger Courtenay hasste sich. Und er hasste die beiden Kerle, die gekommen waren, um ihn zu verprügeln... »Na, Baby«, sagte der Größere der beiden, der mit seinen Muskelpaketen in jeder Bodybuilding-Reklame ein prächtiges Bild abgegeben hätte. »Hallo, Jungs«, erwiderte Courtenay mit zittriger Stimme. Sein Blick huschte zwischen den beiden Männern hin und her. Der Muskelmann drückte die Tür hinter sich und seinem Kumpan ins Schloss. »So, Baby, jetzt sind wir ganz unter uns«, meinte er gemütlich. Als er dann allerdings weiter sprach, vibrierte ein stahlharter Ton in seiner Stimme. »Hast du das Geld?« Roger Courtenay wollte Zeit schinden. Und es fiel ihm nichts Besseres ein, als den Ahnungslosen zu spielen. »We-welches Geld?«, fragte er und tat erstaunt. Gleichzeitig machte er einen vorsichtigen Schritt rückwärts. »Ach so, natürlich. Wir müssen uns erst einmal vorstellen. Schließlich handelt es sich hier um eine geschäftliche Unterredung zwischen Gentlemen«, meinte der Muskelmann und tat so, als hätte er Courtenays simple Frage überhaupt nicht gehört. »Also, der nette Typ neben mir heißt Donny. Ich bin Carter Und wir beide kommen vom lieben ›Spider‹ Antonin, der sich schon mächtig darauf freut, sein Geld nachzählen zu dürfen. Ich meine das Geld, das du ihm nun schon seit einiger Zeit schuldest. Ist jetzt alles klar?« Courtenay hörte den drohenden Unterton aus dieser Frage heraus, so betrunken war er nicht mehr. Er nickte. Sein Blick saugte sich beinahe flehend an den schwergewichtigen Männern fest. Donny war etwas kleiner und breiter als sein Kumpan Carter und er wirkte geschmeidig, zäh, drahtig. Ansonsten ergänzten sich die beiden ideal. Donny hatte langes, blondes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und ihn irgendwie bescheuert aussehen ließ. Carters Haarpracht war kurz geschoren und schwarz. Er wirkte geistig rege. Beklei48
det waren die beiden Geldeintreiber mit Maßanzügen, die dennoch nicht exakt saßen. Das verhinderten wohl die Muskeln und die Revolver, die sie in praktischen Schulterhalftern trugen. Courtenay hatte genug gesehen, um zu kapieren, dass diese Kerle keinen Spaß verstanden. Sie hatten ihre Anweisungen und die würden sie befolgen. Eigenmächtiges Handeln - oder gar Gnade - das waren Worte, die in ihrem Vokabular fehlten. Krampfhaft schluckte er, als er sich darüber im Klaren war. »Ich ich hatte einen Unfall. Konnte das Geld für euren Boss nicht ranschaffen«, würgte er endlich heraus. »Soso«, meinte Carter, der ganz offenbar der Wortführer der beiden war. Donny nickte nur und seine Kinnladen bewegten sich mahlend, so, als würde er auf einem besonders schmackhaften Kaugummi herumkauen. »Du hast fünf Sekunden Zeit, um uns davon zu überzeugen, dass du soeben nur einen kleinen Scherz gemacht hast«, schnauzte Carter. »Aber ich...« Courtenay sprach nicht mehr weiter. Er sah ein, dass es keinen Zweck hatte, Ausflüchte zu formulieren. Die beiden Schläger setzten sich in Bewegung. Sie drängten sich nebeneinander gehend - durch den engen Korridor heran wie zwei halbverdurstete amerikanische Bisonbullen an eine lange gewitterte Wasserstelle. Carters Linke zuckte vor, packte Courtenay am Revers seiner teuren schwarzen Jacke, die er immer noch trug und zog ihn mit einem harten Ruck zu sich heran. Seine rechte Faust war geballt und zum Schlag erhoben. Aber Carter schlug nicht zu. Er legte plötzlich seinen Kopf schief und lauschte. »Da macht sich doch jemand an der Tür zu schaffen! Eh, hörst du es auch, Partner?« Donny grunzte nur. »Hast du dir etwa ein paar Freunde eingeladen, Baby? Glaubst du, uns auf diese faule Tour loszuwerden?«, wandte sich Carter wieder an Courtenay. »Nein! Ich schwöre euch, dass ich...« 49
»Still!« In einer synchronen Bewegung zückten die beiden Männer ihre Revolver. Carter bugsierte Courtenay, der alles willenlos mit sich geschehen ließ, Richtung Wohnungstür. »Du wirst diese Tür jetzt öffnen und den geheimnisvollen Besucher, der mit einem Dietrich gerade daran herumfummelt, hereinbitten. Aber ich warne dich, Mann! Wenn du versuchst, abzuhauen, dann wird das sehr ungesund für dich werden...« Geschmeidig zogen sich Donny und Carter zurück und verschwanden im Wohnzimmer. Es gab jedoch keinen Zweifel daran, dass sie auf jedes Geräusch höllisch genau achteten. Diesen Männern konnte er nicht entkommen. Und wenn, dann nicht für lange. Die hatten Nasen wie Spürhunde, die fanden ihn immer wieder... Courtenay wischte sich sein verschwitztes Haar aus der Stirn und ging zur Tür. Seine Gedanken wandten sich dem neuen Problem zu. Wer mochte ihn zu dieser Zeit besuchen wollen? Irritiert riss er die Wohnungstür auf. Und das Grauen fiel ihn an wie eine reißende Bestie! Roger Courtenay starrte in ein weibliches Gesicht von seltsam überirdischer Schönheit. Es war ein totenbleiches Gesicht mit dunklen, gefährlich glimmenden Augen, die in tiefen Höhlen lagen. Courtenay konnte es nicht fassen, nicht glauben... Wie unter einem Zwang wanderte sein Blick tiefer. Da sah er die Wunde und jetzt wusste er, dass er sich nicht irrte. Vor ihm stand die Frau, die er getötet hatte! Sie lächelte, als errate sie seine Gedanken. »Ich bin gekommen, um mir deine Lebensenergie zu holen, Roger Courtenay. Du wirst sterben...«, flüsterte sie mit entrückter Stimme. * Zur gleichen Zeit lenkte Mike den Lotus in die Pearcoun Lane, eine Straße unweit vom Piccadilly. Graue Nebelschwaden krochen über den Asphalt. Das Abblendlicht hatte Mühe, sich durchzusetzen. Der Licht50
schein der wenigen Straßenlaternen ebenfalls. Er warf nur bescheidene Helligkeit in die Nebelnacht. Mike fuhr langsam. Immer wieder sah er zu Ingar hinüber, die verkrampft, mit angespanntem Gesicht, neben ihm saß. Sie hatte ihre Augen geschlossen. Die Konzentration trieb ihr feine Schweißperlen auf die Stirn. Ihr Atem kam flach. Hoffentlich übertreibt sie es nicht, dachte er kurz. Er machte sich Sorgen, zugegeben. Und das nicht zu unrecht. Er wusste, dass seine Lebensgefährtin im Augenblick Schwerstarbeit leistete. Es war ungeheuer schwer - im Grunde genommen sogar nahezu unmöglich - aus den Legionen von einstürmenden Gedanken, Überlegungen, Stimmungen ein ganz bestimmtes Gedankengut, ein ganz bestimmtes Gedankenmuster herauszufinden. Andererseits gab es wenigstens eine minimale Erfolgsaussicht, eine minimale Chance, in diesem Fall weiterzukommen. Gut, seit der Tat mochten erst vierzehn, fünfzehn Stunden vergangen sein. Aber dieses Argument ließ Mike nicht gelten. Er hatte es sich angewöhnt, keine Zeit zu vergeuden. Zu oft schon war es schließlich doch auf Sekunden oder gar auf einen Sekundenbruchteil angekommen... »Mike!«, flüsterte Ingar plötzlich aufgeregt und ihre schmale Hand legte sich um seinen Arm. »Mike, ich glaube, da ist etwas...« »Kannst du die Richtung bestimmen?«, fragte er knapp zurück. »Geradeaus, dann die nächste Straße links abbiegen«, antwortete sie, ohne zu zögern. Dann, wieder etwas leiser, fügte sie hinzu: »Ich kann mehrere männliche Gedankenmuster wahrnehmen. Starke Impulse... Viel stärker als alle anderen... Grauen! Verständnislosigkeit! Angst...« Mike zuckte leicht zusammen, als sich Ingars bislang ruhige Stimme verzerrte, schrill wurde. »Zieh dich zurück, Ingar!«, stieß er nervös hervor. »Jetzt ist es nicht mehr so schlimm«, erwiderte sie. »Ich habe mich daran gewöhnt... Ich sehe, Mike... Ich kann sehen, was dort vor sich geht...« Ingar brach abrupt ab und schlug ihre Augen auf. Sie suchte Mikes Blick. »Wir müssen uns beeilen! Da geschieht etwas ganz 51
Grauenhaftes... Loisa Maddigan ist zu ihrem Mörder gekommen, um sich dessen Lebensenergie zu holen...« Mike stellte keine Fragen. Er gab Gas. * Loisa Maddigans Blick lahmte Roger Courtenay. Er stand wie gebannt und starrte sie an - so, wie ein Kaninchen die Schlange anstarrt. Sie lächelte noch immer. »Du hast mich getötet, Roger Courtenay«, sagte sie. »Ist es da nicht recht und billig, wenn ich jetzt dich töte?« Courtenays Kiefer schienen aufeinander zu kleben. Er konnte seinen Mund nicht öffnen, nichts zu seiner Verteidigung sagen. Er stand nur da und starrte... Und dann überschlugen sich die Ereignisse! Hinter ihm wurden polternde Schritte laut. Die beiden Schläger Donny und Carter betraten die Szene. »He, was soll dieser Quatsch?«, brüllten sie. Die Untote war sekundenlang abgelenkt. Da rastete etwas in Courtenays Kopf ein. Sein Überlebenswille flammte auf. Er begriff, dass sich ihm hier die Chance seines Lebens bot. Er kreiselte herum, rannte los. Loisa Maddigan stieß einen fauchenden Laut aus, der ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Aber er sah sich nicht um. Er rannte, warf sich vorwärts... Die Muskelmänner reagierten zu spät. Er rempelte sie an, brach durch. Rannte weiter. »He, der will abhauen!«, gellte Carters harte Stimme. Courtenay registrierte das nur beiläufig. Er wusste in diesen Augenblicken nicht, was er tat. Er war nur ein schlotterndes Bündel Angst, dass sein armseliges Leben retten wollte. Retten um jeden Preis. Carter brüllte noch einmal. Dann krachte ein Schuss. Courtenay glaubte sein Trommelfell müsse zerreißen. Er wusste nicht, ob der Schuss ihm gegolten hatte. Es kümmerte ihn auch nicht. Er war nicht verletzt worden, konnte sich nach wie vor 52
bewegen... Er stürzte ins Wohnzimmer, strauchelte - und konnte in letzter Sekunde sein Gleichgewicht bewahren. Dann war er am Fenster. Er zögerte nicht, holte aus, schlug zu. Schmerz raste durch seine Faust. Courtenay keuchte. Er warf sich vorwärts... Jetzt spürte er den Schmerz schon nicht mehr, er spürte überhaupt nichts mehr. Sein von Grauen überschwemmtes Bewusstsein kapselte sich ab. Er befand sich jenseits allen Denkens, Fühlens, Empfindens. Er registrierte den rauen Asphalt der Straße unter seinen Füßen und begann automatisch loszuhetzen. Nebelfetzen trieben ihm durch die Nacht entgegen. Irgendwo war gurrendes Lachen zu hören. Vielleicht ein verliebtes Pärchen... Courtenay sah sich nicht um und er sah auch nicht zurück. Er rannte und rannte und rannte. Nacht und Nebel nahmen ihn auf. Carter bewies einmal mehr, dass er ein hervorragendes Reaktionsvermögen besaß. Noch während er zur Seite taumelte, riss er seinen Revolver hoch. »He, der will abhauen!«, brüllte er. Das brachte auch Donny wieder auf Hochtouren. Er kreiselte herum und rannte dem flüchtenden Roger Courtenay mit großen Sätzen nach. »Stehen bleiben! Du sollst stehen bleiben, sag ich!«, keuchte er. Aber Courtenay dachte gar nicht daran, diesem Befehl nachzukommen. Er schien überhaupt nichts zu hören. Donny hatte seine Anweisungen - er feuerte. Die Kugel fauchte in einer orangegelben Feuerblume aus dem Lauf und krachte irgendwo in die Korridorwand, ohne Schaden anzurichten. Donny fluchte. Das bekam Carter noch mit. Sein Hauptinteresse galt jedoch schon längst wieder der geheimnisvollen Frau, die ihnen die Tour vermasselt hatte. Komisch, sie stand noch immer da. Mehr noch. Sie schien sich sogar bereits mit der veränderten Situation abgefunden zu haben. Vorhin, als Courtenay so plötzlich herumgewirbelt und losgerannt war, da 53
hatte sich ihr Gesicht zu einer abstoßenden Fratze verwandelt. Dass es jetzt wieder ganz entspannt, ja, richtiggehend normal und freundlich aussah, zeigte, wie gefährlich die Frau war. Sie vermochte ihre Gefühle hervorragend zu verbergen... All das ging Carter durch den Kopf, während er sich vorwärts warf, sie packte und brutal zu sich heran riss. Sie fühlte sich eiskalt an. Diese Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Stromstoß. Aber es sollte noch schlimmer kommen... Ihre Hand, die sie bis jetzt gegen ihre linke Brust gepresst hatte, flog zur Seite. Und da erblickte Carter die Wunde... Den blutgetränkten Morgenrock... Kein Zweifel: Diese Frau - war eine Tote! Er stieß einen erstickten Schrei aus. Mit ungläubig geweiteten Augen, in denen der Schock flackerte, wankte er rückwärts. Der Dialog zwischen ihr und diesem Courtenay fiel ihm wieder ein. Bisher war er überzeugt gewesen, dass das nur Show gewesen war. Ein abgekartetes Spiel, um ihn und seinen Partner abzulenken. Aber jetzt... Sie war tot. Wirklich tot. Oder besser: Sie hätte tot sein müssen! Aber sie stand hier, vor ihm, höchstens zwei Schritte entfernt! Das gab es doch nicht! Das durfte es doch nicht geben! »Du wirst mich sättigen, Sterblicher...«, flüsterte sie, immerhin laut genug, dass er sie verstehen konnte. »Wer - wer sind Sie? Und was wollen Sie?« »Einst war ich eine Sterbliche, ein Mensch, so wie du. Aber jetzt bin ich eine treue Dienerin der Finsternis... Ich bin gekommen, weil ich hungrig bin. Roger Courtenay ist entkommen - vorerst. Aber mein Hunger ist drängend, quälend... Deshalb werde ich mich an deiner Lebensenergie sättigen...« »Nein! Das - das werde ich nicht zulassen! Ich werde schießen...« »Kugeln vermögen mir nichts anzuhaben«, erwiderte sie spöttisch und machte einen Schritt vorwärts. Carter wich nicht zurück. Sein Stolz ließ es einfach nicht zu, dass er vor einer Frau - auch wenn sie ein unheimliches Leben führte - da54
vonlief. Er ahnte, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, dass Kugeln ihr tatsächlich nichts anhaben konnten. Trotzdem hob er seinen Revolver. Sie sah es und lächelte. Lächelte, dass ihm schier das Blut in den Adern gerann. Er keuchte. Schweiß tropfte von seinen buschigen Augenbrauen. Sie nutzte seine Unschlüssigkeit aus, machte einen raschen weiteren Schritt vorwärts - und hatte ihn erreicht. Die Kälte ihres Körpers schien in seinen Körper einzudringen! »Nein...«, wimmerte er. Aber genauso wenig wie er mit Courtenay Erbarmen gehabt hätte, hatte sie nun Erbarmen mit ihm. Im Grunde genommen waren sie sich sehr ähnlich... So blitzschnell, dass er die Bewegung überhaupt nicht bemerkte, zuckten ihre Hände vor und legten sich wie Stahlklammern um seinen Hals. »Sonny!«, kreischte Carter. Um seine Selbstbeherrschung - und seinen Stolz - war es endgültig geschehen. Er hatte den Tod vor Augen - im wahrsten Sinne des Wortes! Jetzt erst begriff er das in vollem Umfang. Diese Frau war tot und sie brauchte seine Lebensenergie, um weiterexistieren zu können. Das Grauen explodierte wie eine Bombe in ihm. Aber ihre kalten Hände hielten ihn. Er merkte, wie die Kälte in seinen Hals einsickerte... Wie sie ihn lahmte... Nein!, gellte es in seinem Gehirn. Kampflos werde ich nicht aufgeben! Trotzdem, er fühlte sich hilf- und wehrlos. Diese tote Frau war zu stark... Dann flackerte sein Überlebenswille auf. Er mobilisierte seine Kraftreserven, seine Energien, ließ den Revolver fallen, um die Hände frei zu haben. Mit einem wütenden Laut umfasste er ihre Handgelenke und versuchte, ihre Hände von seinem Hals fortzureißen. Er spannte seine Muskeln. Nicht einen Zentimeter konnte er ihren Griff lockern! 55
Das gibt es nicht!, dachte er entsetzt. Er starrte fassungslos in das
Weiß, das ihre starren Pupillen umgab und er las den Hunger und die Gier in diesen Augen. Eine schreckliche Gier... Sie lächelte breiter. »Du entkommst mir nicht mehr...«, sagte sie zufrieden. Millimeter für Millimeter zog sie ihn heran zu sich. Er schlug zu, obwohl es ihm - trotz seiner sonstigen Skrupellosigkeit - bisher unmöglich gewesen war, eine Frau zu schlagen. Aber das war keine normale Frau... Das war nicht einmal mehr ein Mensch... Das war eine lebende Leiche! Wieder schlug er zu. Aber er spürte, dass seine Kräfte erlahmten. Jähe Panik schüttelte ihn. Er ahnte plötzlich, dass er sein Leben verwirkt hatte, wenn nicht doch noch ein Wunder geschah. Donny! Warum kam er ihm nicht zu Hilfe? Hetzte er immer noch hinter Courtenay her? Seine Gedanken zersplitterten. Er sah noch, dass die Unheimliche ihren Mund wie zum Kuss formte... Carters Bewusstsein erlosch einfach. Er bekam nicht mehr mit, was mit ihm geschah. * »Vorsicht, Mike!« Mike hieb den Fuß auf das Bremspedal. Die Reifen quietschten und radierten über den feuchten Asphalt und dann stand der monzablaue Lotus Eclat, wie von unsichtbaren Titanenhänden gehalten. »Was ist denn?« »Da vorn... Gleich wird ein junger Mann namens Roger Courtenay wie ein Irrer über die Straße rennen. Er ist auf der Flucht vor Loisa Maddigan. Seine Gedanken sind völlig verstümmelt... Er weiß nicht mehr, was er tut!«, erklärte Ingar halblaut. Wieder lauschte sie mit ihrem Para-Sinn in sich hinein. Und da kam der Mann auch schon! Er kam aus der Dunkelheil herausgeschossen, so blitzschnell, dass es Mike unmöglich gewesen wäre, rechtzeitig zu reagieren und zu 56
bremsen. Courtenay wäre blindlings vor die Räder des Lotus gelaufen, wenn Ingars Warnung nicht erfolgt wäre. Der Mann tauchte im Lichtkegel des Abblendlichts auf - und verschwand wieder, wie eine Spukgestalt. Mit großen Sätzen hetzte er weiter. Ingar projizierte ihre Erkenntnisse und Gedanken direkt in Mikes Geist. Deshalb wusste er in groben Zügen, was sich in diesen Augenblicken in der Wohnung Courtenays abspielte. Ingar esperte soeben die Gedanken des Schlägers Carter, sein Entsetzen... Zweifellos war es die Untote Loisa Maddigan, die dieses Entsetzen bei ihm hervorrief. Aber so sehr sich Ingar auch anstrengte, die Gedanken der Untoten waren nicht zu erfassen. Dann, Blende: Jetzt tauchten die Gedanken von Carters Partner, Donny, auf. Donny war bis vor wenigen Sekunden hinter Courtenay her gewesen, hatte es dann aber aufgegeben, weil er ihn aus den Augen verloren hatte. Er war mächtig wütend. Ingar beendete die Projektion. »Carter ist in tödlicher Gefahr«, berichtete sie ganz ruhig. Mike war inzwischen zu dem gleichen Resultat gekommen. »Dann müssen wir Courtenay wohl oder übel laufen lassen«, meinte er. Ingar schüttelte heftig den Kopf. »Das kommt nicht in Frage. Ich werde ihm folgen. Du brauchst mich im Augenblick ohnehin nicht. Das Haus dort vorne ist es... Erdgeschoß. Hilf Carter und Donny.« »Aber...« »Wir haben keine Zeit, um noch lange zu diskutieren«, kam sie seinem Einwand zuvor. »Außerdem, großer Meister: Du willst mich doch nicht in Gefahr bringen, nicht wahr? Also: Wenn ich Courtenay folge, bin ich immerhin außerhalb Loisa Maddigans Reichweite. Na, ist das ein Argument?« Sie wartete seine Antwort nicht mehr ab. Für sie war das Thema erledigt. Mit einer raschen Bewegung hatte sie den Sicherheitsgurt gelöst und die Tür aufgestoßen. Geschmeidig wie eine Wildkatze glitt sie in die Dunkelheit hinaus und nahm Courtenays Verfolgung auf. Mike zerbiss einen kernigen Fluch zwischen den Zähnen. Aber er sah ein, dass Ingars Argument stach. 57
Außerdem war Courtenay der Bursche, dem sie den ganzen Rummel zu verdanken hatten. Er hatte bei den Maddigans eingebrochen und Mrs. Maddigan getötet... Aus seinem Erinnerungsgut hatten sie auch erfahren, dass er im Auftrag eines Unbekannten gehandelt hatte. So gesehen, mochte Courtenays detaillierte Aussage wichtig sein. Mike brauchte nur einen Herzschlag lang, um das alles zu verdauen. Noch während sich diese Spanne hinzog, beschleunigte er schon. Der Lotus zog an. Mike wurde in den schwarzen Schalensitz gepresst. Noch einmal brachen seine Überlegungen aus. Courtenay hatte schon einen beträchtlichen Vorsprung gewonnen. Wenn alles klar ging, dann bedeutete das für Ingar kein Hindernis. Sie kannte ja inzwischen sein ID-Muster und anhand dessen vermochte sie ihn so ziemlich überall aufzuspüren, wenn sie ihm nur einigermaßen dicht genug auf den Fersen blieb... Dann hatte er das Haus erreicht, in dessen Erdgeschoß Roger Courtenays Wohnung lag. Die Fenster waren hell erleuchtet. Eines war zerschlagen... Mike hatte genügend Phantasie, um zu wissen, von wem. Er stoppte den Lotus und schwang sich ins Freie. Den Motor ließ er laufen. Er hatte jetzt keine Sekunde zu verlieren. Wie ein Sturmwind fegte er los. Noch im Laufen legte er sich seinen Schlachtplan zurecht. Er hatte einen guten Überblick über das, was ihn in der Wohnung erwartete. Darauf konnte er aufbauen. Hoffentlich kam er noch nicht zu spät... Mike machte sich nicht die vergebliche und deshalb zeitraubende Mühe, an der Haustür des Fertigbauwohnhauses zu klingeln. Courtenay war unterwegs. Und Loisa Maddigan würde ihm wohl kaum öffnen. Er nahm den direkten Weg, jenen Weg, auf dem Roger Courtenay seine Wohnung vor drei Minuten verlassen hatte. Mike fixierte das zertrümmerte Fenster. In der Fensteröffnung bauschte sich ein dünner Vorhang im nächtlichen Wind. Im gleichen Augenblick begann in der Wohnung jemand mit sich überschlagender Stimme zu kreischen! Carter? Oder Donny? 58
Mike zog sich hoch, kam auf einem schmalen Fassadenvorsprung zu stehen und konnte nun bequem einsteigen. Lautlos glitt er in den Raum. Es war der Wohnraum. Vorsichtig sah er sich um, bevor er weiterging. Dann hörte er einen dumpfen Fall. Draußen im Korridor war das gewesen. Er rannte los. Aber er kam nicht weit. Ein Koloss von einem Mann kam ihm entgegen. Die Augen des Mannes irrlichterten, Schaum stand vor seinem Mund. Weitere Einzelheiten bekam Mike nicht mehr mit, denn der Bursche krachte gegen ihn. Sie verloren beide das Gleichgewicht. Donny - Mike nahm an, dass er es war - kam flink wie ein Wiesel wieder auf die Füße - und griff an! Darauf war Mike nicht vorbereitet gewesen! Er steckte den harten Schlag ein und wurde nach hinten geschleudert. Der Aufprall auf dem Fußboden war hart, trotz des flauschigen Teppichs. Vor Mikes Augen führten ziemlich viele Sterne einen ziemlich hektischen Reigen auf. Der Koloss grunzte und setzte nach. Von Fairness schien er nicht viel zu halten. Mike war gezwungen zu handeln. Er walzte sich zur Seite. Donnys unbeherrschter Rammschlag ging ins Leere - und riss ihn vorwärts. Das war die Chance, auf die Mike gehofft hatte. Er bekam Zeit, sich aufzurichten. Immer noch ein bisschen benommen kam er hoch. Donnys Schlag hätte genauso gut von einem störrisch auskeilenden Wildesel stammen können... Mike tastete vorsichtig nach seinem Kinn. Es war noch vorhanden und sogar ganz, aber es tat höllisch weh. Donny tänzelte herum, seine weit aufgerissenen Augen richteten sich auf ihn. »Ich mach dich fertig, du Teufel! Dich lass ich nicht entkommen!« »Mann, du musst mich mit irgend jemandem verwechseln«, versuchte Mike, den Koloss zu besänftigen. »Wir sollten vernünftig miteinander reden... Ich meine, ich weiß doch überhaupt nicht, warum du mich fertigmachen willst...« Donny glaubte ihm kein Wort, das sah man ihm deutlich an. Er setzte eine noch grimmigere Miene auf und ging wieder zum Angriff 59
über. Seine Riesenpranke zuckte vor. Gezwungenermaßen konterte Mike. Noch einen Schlag von der Güteklasse Dampfhammer hätte er so leicht nicht mehr verkraften können. Donnys Schlag glitt harmlos ab. Mike hatte seine Rechte freibekommen und damit brachte er jetzt einen kurzen Haken an. Aber das beeindruckte Donny nicht im Geringsten. Sein Bauch schien aus einer einzigen Muskelpartie zu bestehen, die hart wie Gummi war. Aber wenigstens torkelte er zwei Schritte zurück. Wenigstens war er jetzt auf Distanz. »Komm endlich zu dir, Mann!«, versuchte es Mike noch einmal. »Ich bin hier, weil ich dir und deinem Partner helfen will.« »Helfen...?«, höhnte Donny. »Carter kannst du nicht mehr helfen... Und ich - ich helfe mir selbst! Da!« Mike hatte plötzlich wieder alle Hände voll zu tun, um die nun folgenden Schläge zu parieren und abzuwehren. Donny sah nicht nur so aus wie ein besserer Gorilla, er war mindestens ebenso stark. Seine Muskeln schienen aus Eisen zu bestehen, seine Knochen aus hochwertigem Stahl. Er war hart im Geben wie im Nehmen. Mikes Fäuste begannen zu schmerzen. Und überhaupt, er fühlte sich wie ein mürbe geklopftes Steak. Zu viele Treffer - wenn auch durch sein Kontern abgeschwächt, hatte er hinnehmen müssen. Sie belauerten sich. Dann kam Donnys dritter Angriff. Mike wich seitwärts aus - und pflanzte in einer spielerisch anmutenden Bewegung einen Handkantenschlag in Donnys Stiernacken. Damit war der kurze aber heftige Kampf entschieden. Donny stöhnte überrascht auf und sackte zu Boden. »Wirst du mir jetzt endlich zuhören?«, erkundigte sich Mike, während er sich die rechte Hand massierte. Benommen pendelte Donnys Kopf hin und her. Die kleinen, misstrauischen Augen glitzerten erregt. »Also gut...«, sagte er dann endlich. Mike lächelte grimmig. »Wurde auch Zeit, Donny. Also, was ist mit deinem Partner geschehen?« 60
Unwillig zuckte Donny mit den Schultern. »Keine Ahnung, was mit ihm geschehen ist. Ich weiß nur, dass etwas mit ihm geschehen ist. Das, was von ihm übrig ist, liegt draußen...« Mit drei Schritten war Mike im Korridor. Wenige Meter entfernt lag der mumifizierte Körper eines Mannes. Loisa Maddigan, die Untote, war spurlos verschwunden. Die Wohnungstür stand offen. Ein Frösteln durchlief Mike. Das war der Augenblick, in dem ihn der wuchtige Schlag von hinten her am Kopf traf. Ohne einen Laut von sich zu geben, brach Mike zusammen. Den Aufprall auf dem Boden bekam er schon nicht mehr mit. * Ingar hielt unwillkürlich den Atem an. Roger Courtenay, nur knapp sechs Meter voraus, blieb nämlich plötzlich so abrupt stehen, als wäre er gegen eine gläserne Wand gerannt. Sein keuchender Atem war in der stillen Nebelnacht überdeutlich zu hören. Ob der Mann gemerkt hatte, dass er verfolgt wurde? Ingar wagte nicht, telepathisch zu sondieren. Das hätte sie zu sehr von ihrer Umgebung abgelenkt. Und wenn Courtenay tatsächlich auf sie aufmerksam geworden war, dann war es oberstes Gebot, wachsam zu sein... Schon vor einigen Minuten hatte sie beschlossen, ihre Parafähigkeit nur noch sporadisch einzusetzen. Dann nämlich, wenn Gefahr bestand, dass sie Courtenay verlor. Die bisherige Konzentration hatte sie mächtig angestrengt - weitaus mehr, als sie sich zuerst hatte eingestehen wollen. In ihrem Kopf summte und brummte es, als würde er ein komplettes Bienenvolk beherbergen. Courtenay lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er machte ein paar tapsende, schlurfende Schritte nach rechts. Dort lehnte er sich - offensichtlich erschöpft - gegen die Mauer eines sieben Stockwerke hohen Hauses. Ingar verhielt sich mucksmäuschenstill und presste sich noch tiefer in den dunklen Hauseingang. 61
Dann schien sich Courtenay wieder erholt zu haben. Er stieß sich ab und ging weiter. Aber jetzt rannte er nicht mehr. Seine Schritte waren kurz und kraftlos. Und jetzt wurde Ingar doch neugierig. Ganz vorsichtig streckte sie ihren telepathischen Fühler aus und griff damit in Roger Courtenays Geist. So sacht war dieser Eingriff, dass der Mann überhaupt nichts davon bemerkte. Er setzte seinen Weg unbeirrt fort. Ingars Gedankenfühler tauchte in ein Gefühlschaos ein! Reaktionsschnell zog sie sich wieder zurück. Der Augenblick, in dem sie Kontakt gehabt hatte, hatte jedoch vollauf genügt. Sie hatte erfahren, was Courtenay vorhatte. Er wollte bei einer Freundin unterschlüpften und neue Kräfte sammeln. Daraufhin wollte er London auf schnellstem Weg verlassen. In diesem Zusammenhang hatte er auch an John ›Spider‹ Antonin gedacht, dem er Geld schuldete und der seinerseits bereits zwei Schläger auf ihn angesetzt hatte... Donny und Carter, resümierte Ingar und nickte. Courtenay hatte eine Höllenangst vor Antonins Zorn und Einfluss. Dennoch rechnete er sich eine gute Chance aus, seinem Zugriff entkommen zu können. Courtenay ging jetzt schneller, zielsicherer. Seine Freundin musste hier ganz in der Nähe wohnen. Ingar folgte ihm lautlos, wie ein Schatten. Beiläufig registrierte sie, dass die Häuserlandschaft in diesem Teil Londons nicht ganz so lädiert wirkte wie jene in Soho. Die Hausfassaden waren einfach, aber ordentlich, Hauseingänge und Hinterhöfe einigermaßen sauber. Nirgendwo bröckelte der Verputz von den Mauern, nirgendwo waren Fensterscheiben eingeschlagen oder ganze Fensterreihen vernagelt. Ein Auto fuhr an ihr vorbei. Das Abblendlicht schnitt durch Nacht und Nebel, ließ den feuchten Asphalt glänzen. Courtenay drückte sich dicht gegen eine Hauswand. Erst, als der Wagen verschwunden und das Motorengeräusch in der Ferne verklungen war, ging er weiter. Zehn Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Er stieg drei Stufen zu einer wuchtigen Haustür empor, blieb davor stehen und be62
gann, in seinen Hosentaschen zu kramen. Dann beförderte er einen Schlüsselbund zutage. Sekunden darauf schwang die Haustür auf und er trat ein. Noch einmal esperte Ingar. Courtenays Freundin hieß Mary-Ann Rooner und wohnte im dritten Stock. Mehr hatte sie nicht wissen wollen. Jetzt war alles nur noch ein Kinderspiel. Zufrieden schob sie ihr Kinn vor und wandte sich ab. Von der nächsten Telefonzelle aus rief sie Inspektor Murrays Privatnummer an. Ingar ließ zweimal durchläuten. Vergeblich. Niemand hob ab. »Dann eben nicht«, murmelte sie unverdrossen. Gleich darauf wählte sie Porters Nummer. Zwei Sekunden vergingen, dann wurde abgenommen. Porter war höchstpersönlich am Apparat. Ingar meldete sich und erzählte ihm knapp, was vorgefallen war. Porter stellte keine unnötigen Fragen. Von überflüssigen Debatten hielt er ganz offenbar ebenso wenig wie Ben Murray und Mike und das machte ihn sympathisch. Schweigend hörte er zu, bis Ingar fertig war. »Okay, Miss Thorssen«, sagte er dann freundlich. »Ich habe mir Name und Adresse notiert und werde sofort losfahren.« »Soll ich hier Posten beziehen und auf Sie warten?« »Nicht nötig«, wehrte Porter ab. »Es ist wohl nicht anzunehmen, dass der Vogel nach den Abenteuern heute noch einmal ausfliegt. Ich werde in ein paar Minuten vor Ort sein und ihn mir kaufen.« Das hörte sich grimmig an. »Gut, Inspektor«, erwiderte Ingar zufrieden, während sie nur mühsam ein Gähnen unterdrückte. »Wir sehen uns dann morgen im Yard«, bemerkte Porter noch. »Sie wissen schon - das Protokoll.« »Alles klar, Inspektor«, bestätigte Ingar. »Prima. Grüßen Sie Mr. Logan von mir.« »Mache ich!« Aber das hatte Porter vermutlich schon nicht mehr gehört. Er hatte aufgelegt. Ingar seufzte und verließ die Telefonzelle. Jetzt schnell ein Taxi entern, dachte sie, und dann zu Mike... Sie beeilte sich, Richtung Pic63
cadilly Circus zu kommen. Dort patrouillierten Tag und Nacht einige Taxis. Erst jetzt merkte sie so richtig, wie erschöpft, ausgebrannt und müde sie war. Nur sehr schwer ließ sich das alles beiseite schieben. Flüchtig dachte sie an Mike. Ob bei ihm alles gut gegangen war? Hoffentlich... In Gedanken versunken schritt sie weiter. Sie bemerkte nicht, dass dieses Mal sie verfolgt wurde. * Loisa Maddigan hatte Mühe, ihre Gier nicht laut hinauszuschreien. Seit sie die Lebensenergie des Mannes in sich hinein gesogen hatte, schien sich ihr Hunger verdreifacht zu haben. Mehr... Mehr... Mehr..., flüsterte die Stimme in ihrem Kopf und ihr Körper reagierte entsprechend. Sie bewegte sich geschmeidig und mit kraftvollen Schritten vorwärts, überhaupt nicht mehr steif und roboterhaft. Wie ein Schemen huschte sie durch die Dunkelheit. Sie war gestärkt - aber noch lange nicht gesättigt. Das würde sie erst sein, wenn die finsteren Mächte, denen sie bedingungslos gehorchen musste, dies befanden. Die finsteren Mächte... Sie wussten genau, was sie brauchte. Loisa Maddigans versklavtes Bewusstsein registrierte dieses Vertrauen mit Unbehagen. Sie merkte, dass es selbst immer mehr in den Bann des Bösen geriet. Bald würde sie völlig integriert sein... Instinktiv fürchtete sich Loisa Maddigan vor diesem Augenblick, aber sie wusste auch zugleich, dass sie nichts tun konnte, um ihn hinauszuzögern. Sie war zu schwach. In dem Maße, in dem die Kraft ihres bösen Ichs wuchs, wurde ihr gutes Ich schwächer... Es war schrecklich. Sie hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen. Sie hatte gemordet. Und sie würde wieder morden. Immer wieder... Warum? Warum musste sie so stark werden? Was hatte der Böse mit ihr vor? 64
Sie bekam keine Antwort, obwohl ihre Fragen registriert worden sein mussten. Der böse Einfluss in ihr schlug zu, verdrängte das rebellische gute Ich wieder in die tiefsten Tiefen des Unterbewusstseins. Loisa Maddigan war jetzt wieder ausschließlich böse... Der Hunger nach menschlicher Lebensenergie übernahm die Steuerung ihres Körpers. Die bösen Mächte waren zufrieden. Gleichsam strahlten sie einen beruhigenden Impuls an ihre gefangenen Artgenossen ab. Plötzlich wurden hinter ihr Schritte laut. »Aber Miss!«, sagte eine freundliche Männerstimme, in der nur ganz schwacher Tadel mitschwang. »Sie können doch unmöglich so durch Londons Straßen gehen.« Loisa Maddigan erschrak nicht. Ihre Sinne zeigten ihr an, dass sich ihr ein potentielles Opfer näherte. Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Gleich darauf hatte sie der Mann erreicht. Es war ein Bobby. Wahrscheinlich war er eingeteilt worden, in dieser einsamen Gegend Nachtstreife zu gehen. Loisa Maddigan konnte sein pulsierendes Leben beinahe körperlich spüren. Dennoch ließ sie sich nichts anmerken. Stocksteif blieb sie stehen. Der Bobby war ahnungslos. Mit einem letzten Schritt kam er an ihre Seite. »Sie werden sich mächtig erkälten, Miss. Ich meine, wenn Sie so leicht bekleidet herumlaufen, dann...« Jetzt hatte er die Wunde gesehen. Loisa Maddigan wusste, dass sie jetzt handeln musste. Ihre Hände schossen vor, packten zu. Der Polizist schrie erschrocken auf. Aber sein Schicksal war besiegelt. Loisa Maddigans Kräfte waren beachtlich gewachsen. Mühelos zog sie den jungen Beamten zu sich heran. Aus schreckgeweiteten Augen heraus starrte er sie an. Er begriff nicht einmal richtig, was mit ihm geschah... Er war freundlich gewesen, hatte helfen wollen - und nun sollte er sterben... Nach einem lauernden Rundblick setzte Loisa Maddigan ihren Weg fort. 65
Nur wenig später sprachen ihre hypersensiblen Sinne bereits wieder an. Sie hatten eine ihr bekannte Ausstrahlung registriert. Roger Courtenays Ausstrahlung... * »Das glaube ich dir nicht, Roger«, sagte Mary-Ann Rooner mit Tränen in den Augen. »Das kann ich dir einfach nicht glauben!« Roger Courtenay bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Wenn ich es dir doch sage, Baby. Ich bin nur gekommen, weil ich Sehnsucht nach dir hatte. Weil mir leid tut, was geschehen ist... Ich - ich brauche dich! In den letzten Tagen ist mir das mehr und mehr klar geworden.« »Aber du hast doch gesagt, dass es aus und vorbei sei mit uns beiden«, warf sie unsicher werdend ein. Sie schüttelte den Kopf und ihre blonden Löckchen flogen. »Ich war ein Dummkopf«, entgegnete Roger Courtenay wegwerfend. »Als ich Schluss gemacht habe, da habe ich doch keine Ahnung gehabt, wie es wirklich um mich steht. Ich habe nicht gewusst, wie sehr ich dich liebe und brauche. Kannst du denn das nicht verstehen? Mary-Ann, bitte, schick mich jetzt nicht weg!« Zärtlich sah er sie an. Und seinem Blick konnte sie nicht widerstehen. Sie hatte es noch nie gekonnt. »Oh, Roger!«, hauchte sie und flog in seine Arme. Courtenay atmete erleichtert auf, aber er hütete sich, Mary-Ann das merken zu lassen. Alles in ihm war kalt, wie abgestorben. Er wusste, dass er nie wieder ein normales Leben führen konnte. Zuviel war geschehen... Und er hatte zuviel gesehen. Das Grauen hatte seinen Tribut von ihm gefordert. Courtenay presste Mary-Ann an sich und seufzte. Aber es war nur Theater. Sie war ihm völlig gleichgültig. Nur eines war wichtig: Er hatte vorübergehend ein neues Zuhause gefunden. Hier konnte er abwarten... Versuchen, zu vergessen. Und dann, wenn er sich einigermaßen erholt hatte, dann konnte er verschwinden. Ganz ruhig überlegte er sich all das, während das Mädchen sein Gesicht mit Küssen bedeckte und abwechselnd weinte und lachte. 66
»Du siehst müde und hungrig aus, Roger«, flüsterte es schließlich. »Soll ich dir etwas zu essen zubereiten?« »Ich habe seit gestern nichts mehr gegessen«, antwortete er rau. »Nur deinetwegen... Ich habe mir überlegt, wie ich meine Riesendummheit wiedergutmachen könnte.« »Und jetzt bist du hier. Hier, bei mir. Alles ist gut, Roger. Oh, Roger...« Ihre Zudringlichkeit und Zärtlichkeit war ihm lästig. »He, he, nicht so stürmisch, Baby«, bremste er sie vorsichtig ab. »Wir haben doch noch so viel Zeit für diese Dinge. Du erdrückst mich ja!« Sie löste sich von ihm. Ihre Augen glänzten. »Ja, natürlich, Roger. Du hast ja Recht. Oh, ich bin nur so glücklich, so überglücklich, weißt du. Aber jetzt - jetzt werde ich dir etwas zu essen machen. Du siehst wirklich ganz verhungert aus, du Ärmster!« Er nickte und strich ihr über die Stirn. »Das ist der Preis der Liebe«, erklärte er dann mit dunkler Stimme, weil er genau wusste, dass sie so etwas Ähnliches von ihm hören wollte. »Ja, Roger, ja«, flüsterte sie. Sie schenkte ihm wieder ein strahlendes Lächeln, dann wirbelte sie herum und verschwand in der kleinen, sauberen Küche. Roger lehnte sich zurück und sah sich in Mary-Anns Wohnzimmer um. Es war klein, aber sehr hübsch möbliert. Mary-Ann war Arzthelferin und sie verdiente nicht schlecht. Sie hatte auch - zumindest was das Einrichten anbelangte - Geschmack. Hier würde es sich eine Weile aushaken lassen, fand Courtenay. Er schloss die Augen. Dann bemerkte er, dass seine Gedanken abzugleiten drohten. Zu Mrs. Maddigan. Zu der Frau, die er getötet hatte und die trotzdem noch lebte... Sie hatte ihn töten wollen, aber er war ihr entkommen. Hier, bei Mary-Ann, war er in Sicherheit. Ob dieser Carter und dieser Donny wohl ebensoviel Glück gehabt hatten? Hatten sie der lebenden Toten entkommen können? Courtenay zweifelte jedenfalls keine Sekunde lang daran, dass sie - nachdem er geflohen war - versucht hatte, sich 67
an den Schlägern schadlos zu halten. Wie hatte sie sich doch ausgedrückt? Sie benötige Lebensenergie... Er merkte, dass die Erinnerung die Angst wieder aufflackern ließ. »Nein!«, flüsterte er hastig. Und er verdrängte alle Gedanken an das Schreckliche, das geschehen war. Schweiß trat auf seine Stirn. Seine Hände zitterten. Er bemerkte es und biss sich auf die Lippe. Ich darf nicht mehr daran denken, sonst werde ich wahnsinnig!, sagte er sich. Mary-Ann rumorte in der Küche und trällerte ein Lied vor sich hin. Sie schien ihm seine Geschichte voll abgenommen zu haben. Diese dumme Gans, resümierte er und grinste. Aber dieses Grinsen verging ihm sehr schnell. Ein grässlicher, dumpfer Schlag erfolgte! Das - das muss an der Wohnungstür gewesen sein!, erkannte Courtenay. Das Geräusch wiederholte sich. Und dann war das Splittern und Krachen von berstendem Holz zu hören! Mary-Ann kam aus ihrer Küche gerannt. In ihren Augen flackerte Verwirrung, Verständnislosigkeit. »Roger, was...«, begann sie - nur um gleich wieder abzubrechen. Roger Courtenay war hochgefahren, hatte sich versteift. Er starrte zu der Tür hinüber, die in den Flur hinausführte. Mit keinem Blick beachtete er das Mädchen, dem er noch vor ein paar Minuten die große Liebe vorgeheuchelt hatte. Die Spannung in ihm verdichtete sich, wurde unerträglich. Und das, obwohl er wusste, wer da gekommen war... Ja, er wusste es! Loisa Maddigan hatte ihn gefunden. »Nein!«, kreischte Courtenay und kreiselte herum. »Ich will nicht sterben. Nimm ihre Lebensenergie...« Und bevor Mary-Ann verstand und reagieren konnte, hatte er sie schon ergriffen. Er versetzte ihr einen harten Stoß, so dass sie genau auf die Korridortür zutorkelte. Und dort tauchte jetzt Loisa Maddigan auf. Mary-Ann schrie! Roger Courtenay achtete nicht mehr darauf. Er war bereits am Fenster und riss es auf. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Er musste 68
versuchen, der Untoten ein zweites Mal zu entkommen! Er musste die Feuerleiter erreichen... Und dann eine größtmögliche Distanz zwischen sich und die Untote bringen! Er schwang sich aus dem Fenster. Seine tastenden Füße fanden auf einem schmalen Sims Halt, der etwa fünfzig Zentimeter unterhalb des Fensters verlief. Courtenay hörte rasche, geschmeidige Schritte herankommen... Mary-Ann schrie wieder. So schnell er konnte, schob er sich an der Hauswand entlang vorwärts. Dabei vermied er es tunlichst, in die finstere Tiefe zu sehen. Wenn er einen Schwindelanfall bekam, dann... Er führte den Gedanken nicht zu Ende, konnte ihn nicht zu Ende führen. Plötzlich fühlte er, dass etwas an seiner Jacke zerrte! Er erschrak fürchterlich! Die lebende Leiche musste ihn eingeholt haben! Und jetzt - jetzt versuchte sie, ihn in die Tiefe zu stürzen! Courtenays Kopf flog herum. Er hatte erwartet, die triumphierende Mrs. Maddigan neben sich zu sehen. Aber sie war ihm nicht gefolgt. Seine Jacke war lediglich an einem verrosteten Nagel hängen geblieben, der aus der Wand ragte. Diese Erkenntnis kam für Roger Courtenay zu spät. Die heftige Kopfbewegung hatte ihn sein Gleichgewicht verlieren lassen. Er stürzte... Seine Arme und Beine ruderten hilflos umher, waren nicht imstande, den tödlichen Sturz zu bremsen. Roger Courtenays Schicksal war besiegelt. Endgültig. * Roy Porter stellte seinen Dienstwagen am Straßenrand ab, rieb sich noch einmal die Müdigkeit aus seinen Augen und stieg dann aus. Mit langen Schritten marschierte er zu dem Haus, das Ingar Thorssen ihm genannt hatte. Nummer 115, dritter Stock, wiederholte er in Gedanken. Er sah hoch. Im dritten Stock waren zwei Fenster erleuchtet. In der nebligen Dunkelheit wirkten sie wie die Augen eines riesigen Raubtieres. Als sich Porter den Treppenstufen näherte, stieg ein ungutes Gefühl in ihm auf. Ein Gefühl, das ihn alarmierte... 69
Die Haustür stand offen. In dem schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen gähnte Dunkelheit. Im Innern des Hauses war alles ruhig. Zu ruhig, fand Porter. Das ungute Gefühl in ihm blieb. Er kniff die Augen zusammen, sah genauer hin - und zuckte kaum merklich zusammen. Die Tür war mit brutaler Gewalt aufgebrochen worden. Nicht einmal ein besonders kräftiger Bursche hätte dieses Kunststück vollbringen können, ohne sämtliche Hausbewohner aus den Federn zu werfen. Nein, hier stimmte eine ganze Menge nicht... Dass diese Vermutung nur zutreffend war, erkannte er im nächsten Augenblick. Da erblickte er nämlich den Körper, der bisher von der Treppe verborgen worden war! Porter fluchte und rannte los. Nur kurz ließ er sich neben dem Mann nieder, der mit verrenkten Gliedern am Boden lag und tastete nach Puls- und Herzschlag. Nichts. Hier kam jede Hilfe zu spät. Ruckartig kam Porter wieder hoch und eilte zu seinem Wagen zurück. Seit Ingars Anruf mochte höchstens eine Viertelstunde vergangen sein. Was war in der Zwischenzeit hier geschehen? Diese Frage nagte in ihm, dennoch handelte er nicht überstürzt. Roy Porter war ein vorsichtiger Mann und dieser Tatsache verdankte er schon mehr als einmal sein Leben. Safety first, das war seine Devise. Dann hatte er den Wagen erreicht. Er öffnete die Beifahrertür, lehnte sich ins Innere und forderte über Funk Verstärkung an. Die Einsatzzentrale bestätigte. »Ich werde nicht warten«, erklärte Porter abschließend. »Begebe mich jetzt sofort in den dritten Stock, in die Wohnung von Miss MaryAnn Rooner. Möglicherweise schwebt sie in Lebensgefahr!« »Verstanden, Sir. Die Beamten bekommen entsprechende Order.« »Okay. Dann vorerst Ende, Einsatzzentrale. Ich melde mich wieder, wenn alles vorbei ist.« »Verstanden, Ende. Und - viel Glück, Sir!« »Danke, kann ich gebrauchen.« Porter hängte ein und richtete sich wieder auf. Seine Gedanken jagten sich, während er losging. Er war hierher gekommen, um einen ahnungslosen, übermüdeten Mörder zu verhaften. Der Vorteil war klar 70
auf seiner Seite gewesen. Er hatte sich Zeit lassen können. Das konnte er jetzt nicht mehr. Jetzt stand er unter Zugzwang. Er rannte die Stufen hoch und zog die Dienstpistole. Behutsam stieß er die Tür auf. Nachdem er eine Sekunde lang gewartet hatte, tauchte er mit angespannten Sinnen in die Dunkelheit hinein. Nichts geschah. Gleich darauf hatte er den Lichtschalter gefunden. Mit einem vernehmlichen Klacken flammte das Licht im Treppenhaus an. Porter sah sich nur kurz um. Momentan drohte keine Gefahr. Im Gegenteil. Er kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass er zu spät eingetroffen war. Dass der Film bereits von der Spule gesprungen war. Er stürmte in den dritten Stock hinauf. Sein Magen verkrampfte sich, als er vor Mary-Ann Rooners Wohnung anlangte. Die Tür war regelrecht aus den Scharnieren gerissen... Und das hatte keiner der Nachbarn gehört? Porter verschob seine Überlegungen. Er pirschte näher. Als er direkt vor der schief hängenden Tür stand, begann sie, sich zu bewegen... Ganz langsam wurde sie aufgezogen... Porter hielt unwillkürlich den Atem an. Dann taumelte ihm das Mädchen entgegen. Porter fand nicht einmal mehr genügend Zeit, um aufzuatmen. Blitzschnell musste er reagieren, wenn er noch verhindern wollte, dass das Mädchen stürzte. Er griff zu. Das Mädchen klammerte sich an ihn und schluchzte. »Sie - sie war tot... Richtig tot. Ich habe die Wunde gesehen, ganz deutlich... Trotzdem hat sie sich bewegt...«, stammelte sie immer wieder. »Bitte, Miss, beruhigen Sie sich! Jetzt ist ja alles gut. Sie sind nicht mehr allein...« Erst jetzt schien sie sich seiner Gegenwart bewusst zu werden. »Wer - wer sind Sie?« »Mein Name ist Roy Porter. Ich komme von Scotland Yard«, antwortete er so ruhig wie möglich. »Scotland Yard...«, echote sie. »Sie werden mir nicht glauben, Mister... Aber ich habe sie gesehen, die lebende Leiche. Sie stand vor 71
mir und hat mich so seltsam angesehen... So hungrig - und hasserfüllt. Ich - ich habe schon geglaubt, dass sie sich auf mich stürzt, aber da fiel ihr Blick auf mein silbernes Kreuz. Wie gebannt starrte sie darauf und dann wandte sie sich um und rannte weg!« Mit einem hysterischen Schluchzen brach sie ab. »Es ist ja vorbei, Miss Rooner«, murmelte Porter und er ärgerte sich, weil ihm nichts Besseres einfiel. Wie lahm sich das doch anhörte! Sie schien ihm gar nicht zugehört zu haben. »Roger ist tot, nicht wahr?«, flüstert sie fragend. Porter nickte. »Ja, Miss.« »Ich wusste es«, hauchte sie. Ihr Kopf sank gegen seine Brust. Porter erschrak - aber im gleichen Augenblick erkannte er, dass sie nur ohnmächtig geworden war. Das mochte das Beste sein, was ihr jetzt hatte passieren können... Behutsam hob er sie hoch. Im Erdgeschoß waren Stimmen und hastige Schritte zu hören. Vermutlich die Verstärkung, überlegte Porter. Während er die Stufen hinunter stieg, gingen ihm Mary-Ann Rooners Worte durch den Sinn. Sie hatte von einer lebenden Leiche gesprochen. Während der Lagebesprechung mit Ben Murray war dieser Begriff ebenfalls gefallen, scheinbar zufällig. Aber er arbeitete lange genug mit Murray zusammen, um ihn zu durchschauen. Er hatte nicht erst zu überlegen brauchen, um die auf geheimnisvolle Weise verschwundene Leiche Mrs. Maddigans mit dem Begriff ›untot‹ in Verbindung zu bringen. Als er das Murray gesagt hatte, hatte ihn dieser nur seltsam angesehen und schließlich sorgenvoll genickt. Trotzdem, von der Theorie zur Praxis war es dann aber doch noch ein gewaltiger Schritt. Er hatte sich einfach nicht vorstellen können, dass die ermordete Mrs. Maddigan nun als lebender Leichnam durch Londons Straßen geisterte. Jetzt, nach Mary-Ann Rooners Worten, würde er sich wohl oder übel an diese Vorstellung gewöhnen müssen... * 72
Jeder Atemzug tat ihm höllisch weh. Zuerst wunderte sich Mike darüber, aber dann glaubte er, zu verstehen. Er war von einem Elefanten getreten worden und dieser Tritt hatte ihn ins Reich der Träume geschickt. Der Elefant, fügte er gleich darauf sarkastisch hinzu, hieß in diesem Falle Donny. Und dann konnte er seine Benommenheit endgültig abschütteln und die Lider anheben. Er blickte in ein Gesicht, das er nur zu gut kannte. »Ben!«, krächzte er verständnislos. »Welcher Wind hat dich denn hierher getrieben?« In Murrays Gesicht zuckte ein Muskel. Vermutlich war das ein Ausdruck seiner Erleichterung. »Eine ähnliche Frage will ich dir auch schon seit einiger Zeit stellen. Aber du hast so nett und friedlich geschlafen - ich brachte es einfach nicht über mich, dich aufzuwecken.« Mike seufzte und rieb sich seinen schmerzenden Nacken. »Tja, da siehst du, wie wir privaten Schnüffler sind. Wir schuften und rackern uns ab, bis wir vor lauter Erschöpfung umfallen.« »Und das ausgerechnet neben einer mumifizierten Leiche. Ha, ha, deine Scherze waren auch schon mal besser, Junge!« Murrays Gesicht verdüsterte sich. »Nun mal im Ernst, Mike. Was war hier los? - Ein anonymer Anrufer hat mir den Mord gemeldet. Und die Tatsache, dass sich der Mörder noch am Tatort aufhält, hat er gleich frei Haus mitgeliefert. Ich komme her, finde die Leiche - und dich. Also...« Auch Mike wurde jetzt ernst, denn die ganze Situation war wirklich alles andere als lustig. »Sei so nett und hilf mir mal«, bat er und machte Anstalten, auf die Füße zu kommen. Murray brummte und war behilflich. Mike nickte dankbar, dann wankte er ins Wohnzimmer und ließ sich auf die hypermoderne Couch fallen. Murray, der ihm gefolgt war, setzte sich ihm gegenüber und sah ihn fragend an. Mike erzählte dem Freund die ganze Geschichte im Telegrammstil, jedoch ohne auch nur einen einzigen Fakt wegzulassen. 73
»Und dann habe ich mich benommen wie ein Anfänger«, schloss er drei Minuten später mit schöner Selbsterkenntnis. Murray ging nicht darauf ein. »Du hast ganz vergessen, mir zu sagen, warum du und Ingar ausgerechnet in dieser Gegend herumgekreuzt seid«, erinnerte er. »Ist das denn so wichtig?« »Ich bin ziemlich neugierig, weißt du.« Mike seufzte wieder. »Zufall, Ben. Es war purer Zufall«, erwiderte er dann. »Ingar wollte noch ein bisschen spazieren fahren und das machten wir dann auch...« »Soso«, brummte Murray. Aber er stellte keine weiteren Fragen mehr zu diesem Thema. Mike war ihm dankbar. So war er nicht gezwungen, weiter zu schwindeln... Zugleich aber überlegte er sich, dass Ingar Ben gegenüber wohl irgendwann einmal Farbe bekennen musste. Er war ein wirklicher Freund, kauzig zwar, aber ehrlich und fair. Bei ihm würde ihr Geheimnis ebenfalls sehr gut aufgehoben sein. Aber schließlich musste Ingar das selbst entscheiden. Er konnte und wollte ihr nicht vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hatte. »Gehen wir also«, murmelte Murray schließlich und erhob sich schnaufend. »Hier gibt's nichts mehr zu tun für uns.« Schweigend stand Mike ebenfalls auf. Sie verließen die Wohnung und schlenderten zu Murrays Dienstwagen, der knapp zehn Meter vom Hauseingang entfernt abgestellt war. »Eigentlich sind wir keinen Schritt weitergekommen«, brach der Inspektor endlich sein Schweigen. Mike widersprach. »Wir wissen jetzt wenigstens, dass unsere Theorie von der untoten Mrs. Maddigan richtig war. Ganz abgesehen davon, dass wir zusätzlich herausgefunden haben, wer sie zu dem Wesen gemacht hat, dass sie nun ist.« »Aber wir wissen weder, wo sie sich jetzt herumtreibt, noch, warum sie das tut«, versetzte Murray beinahe heftig. »Überhaupt: Warum lebt sie? Es muss doch einen Grund geben... Die Mächte, die sie auferweckt haben, tun nichts ohne besonderen Grund!« 74
Nachdenklich nickte Mike. Er musste an Roger Courtenays Auftraggeber denken. Genau genommen war der - neben Mrs. Maddigan und ihren augenblicklichen Beweggründen - die dritte Unbekannte in der Gleichung. Dennoch gab sich Mike zuversichtlich. »Wir werden die Antworten auf unsere Fragen finden, Ben«, sagte er leise, aber eindringlich. »Hoffentlich nicht erst dann, wenn es zu spät ist«, unkte Murray und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Verflixt und zugenäht, Mike, es muss doch irgend etwas geben, das wir jetzt tun können! Ich meine, außer abwarten... Die Maddigan ist unterwegs und jeden Augenblick kann sie wieder auf die Idee kommen, einen Menschen zu töten.« Diese Worte erinnerten Mike nur zu gut an das Gefühl, das er mit sich herumschleppte, seit er Mr. Maddigans Auftrag angenommen hatte. Nagende Unruhe. Das rationell nicht erklärbare Gefühl, das ihm sagte, dass irgendwo im Verborgenen etwas kochte und brodelte - um demnächst zu explodieren. Mrs. Maddigan war nur die Spitze des Eisberges. Und gleichzeitig war sie die Schlüsselperson. Aber - was war der Urgrund? Inzwischen waren sie an Murrays Wagen angekommen. Der Inspektor schloss auf und ließ sich hineinfallen. Mit einer müden Geste wischte er sich über die Augen und aktivierte schließlich das Funkgerät. Mit knappen Worten informierte er die Einsatzzentrale über den Fund der mumifizierten Leiche und bat Doc Spencer und die Leute vom Erkennungsdienst loszuschicken. »Und zwar ein bisschen plötzlich, verstanden?« »Verstanden, Sir!«, bestätigte der diensthabende Beamte militärisch exakt. »Gut, Murray, Ende.« Mike räusperte sich. »Immerhin haben wir noch einen hübschen Trumpf im Ärmel«, nahm er dann das Gespräch an der Stelle wieder auf, an der sie vorhin unterbrochen hatten. Murray verzog sein Gesicht. »Deinen Kumpel aus dem Geisterreich.« »Genau den!« 75
»Den hättest du schon längst aktivieren können.« »Aber ich habe dir doch vorhin erklärt, dass Ingar und ich voll ausgebucht waren...« Mike unterbrach sich, als er das erschrockene Aufkeuchen seines Freundes vernahm und beugte sich vor, um ins Innere des Wagens sehen zu können. »He, Ben - was ist denn?«, erkundigte er sich. »Nichts von Bedeutung, Mike«, erwiderte eine krächzende Stimme, die er nur zu gut kannte. »Ich habe deinem Polizistenfreund lediglich eine kleine Lektion erteilt, weißt du. Schließlich habe ich einen guten Ruf zu verlieren... Man aktiviert mich nicht einfach! Ich bin ein Geist - und keine Maschine, die auf Knopfdruck in Aktion tritt! Unverschämtheit...!« »Balthasar!«, sagte Mike nur. Balthasar Rufus Schwarzschwert war ein unscheinbares Kerlchen, knapp einszwanzig groß. Sein rundliches Gesicht mit der Lederhaut wirkte sympathisch und ließ ihn wie eine gelungene Mischung zwischen Jean Paul Belmondo und Lois de Funes erscheinen. Große, listig dreinblickende Äuglein, ein schlohweißer Rauschebart und eine riesige Hakennase beherrschten dieses ehrliche und zugleich hintergründige Gesicht. Wie alt Balthasar war, das war unmöglich zu schätzen. Er wirkte irgendwie - zeitlos. Alt und jung zugleich. Und jetzt feixte er übers ganze Gesicht. »Was starrt ihr mich denn so an?«, erkundigte er sich harmlos. »Habt ihr noch nie einen Geist gesehen?« »Jedenfalls noch nie einen so frechen!«, knurrte Murray, der sich erst jetzt von seinem Schrecken erholt hatte, boshaft. Zuerst sah es so aus, als rieselten diese Worte an Balthasar ab wie Quellwasser an einer Speckschwarte. Aber der erste Eindruck täuschte. Plötzlich lief das Gesicht des Geistes rötlich an, was trotz der schlechten Lichtverhältnisse deutlich zu erkennen war. Dann explodierte er. »Frech? Ich?«, keuchte er empört. »Also, das ist doch die Höhe! Wer hat denn angefangen, ha? Du oder ich? Auch Geister haben ein Gefühlsleben!« Murray stöhnte. »Ein sensibler Geist! Auch das noch!« 76
Balthasar Schwarzschwert wandte sich mit verschwörerischer Miene an Mike, der nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte. Hast du gehört, Partner? Er scheint kapiert zu haben. Na ja, wurde auch Zeit, nicht?« Murrays Grinsen fror ein. Aber bevor er zu einer Erwiderung ansetzen konnte, knackte es im Funkgerät. »Hier Einsatzzentrale. Wagen 7631, bitte melden! Wagen 7631, bitte melden!« »Dein Partner hat nicht nur schlechte Manieren, er hat auch noch Glück«, brummelte Murray Richtung Mike, dann drückte er die Antworttaste und meldete sich. »Hier Wagen 7631, Murray. Was gibt es?« »Soeben wurde von Inspektor Porter Meldung gemacht. Ein Toter in der Stasham Road 115. Ein Mann namens Roger Courtenay. Porter gab Anweisung, Sie sofort zu verständigen, Sir.« »Courtenay«, murmelte Murray und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Wie ist er gestorben?« »Er stürzte aus einem Fenster im dritten Stock.« Mike pfiff durch die Zähne. »Die Stasham Road ist doch nur ein paar Straßenecken entfernt«, überlegte Murray halblaut. »In der Tat, Sir.« »Okay, Einsatzzentrale. Over!« Er hängte ein und schlug mit der geballten linken Faust aufs Lenkrad. »Da haben wir den Salat! Während wir hier fröhlich plaudern, passiert nur ein paar hundert Meter entfernt dieses Malheur! Äh, Mike, hast du nicht gesagt, dass Ingar dem Burschen auf den Fersen bleiben wollte?« Mike nickte düster. »Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen«, sprach Murray das aus, was ihn bewegte und bewies, dass er in Situationen wie der augenblicklichen von Feingefühl nichts hielt. »Nur die Ruhe, Freunde!«, sagte Balthasar beschwichtigend und jetzt war auch sein Gesicht sehr ernst. »Wir müssen hin, Balthasar«, erwiderte Mike und wollte sich abwenden und zu seinem Lotus hinüber rennen. »Courtenay ist tot. Der läuft uns nicht mehr weg«, erklärte Schwarzschwert geduldig. 77
»Aber Ingar...« »Ist wohlauf und bereits mit einem Taxi hierher unterwegs. Und Mrs. Maddigan... Nun, die hat ohnehin schon längst das Weite gesucht und gefunden.« Mike entspannte sich. »Was weißt du denn von Mrs. Maddigan?«, erkundigte er sich, hellhörig geworden. Schwarzschwert machte ein bedeutungsvolles Gesicht. »Einiges. Aber ihr scheint euch nicht sonderlich dafür zu interessieren. Andauernd redet ihr von Nebensächlichkeiten. Besonders du, Inspektor Murray! Wenn du mich nicht herausgefordert hättest, dann...« »Nun lass es endlich gut sein, Balthasar«, unterbrach Mike seinen Geisterpartner ungeduldig. Er öffnete die Fondtür und setzte sich neben ihn. »Du bist also wegen dem Fall Maddigan hier aufgetaucht?« »Klar - oder hast du etwa geglaubt, ich quetsche mich zu meinem Vergnügen in diesen Alabasterkörper? Wenn ich auftauche, dann ist es sieben vor Zwölf!« Er sagte das, ohne rot zu werden und warf Murray einen spitzbübischen Blick zu. Der Inspektor reagierte offenbar ganz so, wie Balthasar es erwartet hatte. »Ich halte den Kerl nicht aus!«, stöhnte Murray. Mike sah Schwarzschwert an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Schluss jetzt«, sagte er dann energisch. »Vertragt euch endlich! Und du, Balthasar, komm zur Sache!« »Das werde ich auch tun, sobald Ingar in unserer Mitte weilt.« »Was hat denn Ingar damit zu tun?« »Warum soll sie unaufgeklärt bleiben?«, versetzte Schwarzschwert. »Gut. Warten wir«, stimmte Mike zu, bevor sich Ben und Balthasar wieder eine Wortschlacht zu liefern begannen. Mike wusste, dass er sich auf Balthasar Rufus Schwarzschwert in jeder Hinsicht verlassen konnte. Da Balthasar normalerweise den Kampf gegen die Mächte der Finsternis sehr ernst nahm, konnte seine augenblickliche gute Laune nur eines bedeuten: Es war noch nichts verloren. Sie hatten noch Zeit. 78
Ha! Du hast mich also durchschaut, flüsterte da auch schon Balthasars Gedankenstimme in Mikes Kopf. Aber den Dicken lassen wir noch ein bisschen schmoren! Strafe muss sein. Du bist doch sonst nicht so empfindlich!, dachte Mike verwundert. Bin ich auch nicht, erklärte die Gedankenstimme. Aber warum soll sich ein Geist nicht auch einmal ein Späßchen erlauben? Das hat Ben nicht verdient! Er ist in Ordnung! Weiß ich doch! Zu deiner Beruhigung: Der nimmt unsere Flachserei auch nur halb so ernst... Mike blieb skeptisch. So sieht er aber gar nicht aus..., erwiderte er.
Er ist eben durch und durch Polizist und weiß, wie man seine Würde bewahrt..., gab Schwarzschwert zurück. Manchmal bist du unmöglich. Tja. Nicht nur ihr Sterblichen habt eure Laster... Mike zog es vor, zu schweigen. »He, Mike, bist du etwa böse?«, erkundigte sich Balthasar plötzlich besorgt. »Muss ich mir noch ernsthaft überlegen.« Dieses Mal hatten sie sich ›normal‹ unterhalten, aber Ben Murray verstand trotzdem nicht. »Warum soll er denn böse auf dich sein?«, fragte er und drehte sich halb um. »Schließlich gehst du mir die ganze Zeit auf die Nerven. Warum fragst du also ihn - und nicht mich?« Balthasar zog sich mit einer salomonischen Antwort aus der Affäre: »Ich gelobe Besserung!« Dabei sah er Murray treuherzig in die Augen. »Also, wenn das ein Friedensangebot war, dann - dann bin ich einverstanden«, brummte Murray gutmütig. »Spaß muss sein«, philosophierte Schwarzschwert und streckte dem Inspektor seine Hand hin. Murray ergriff und schüttelte sie. Und Mike atmete erleichtert auf. Drei Minuten lang war es in Murrays Dienstwagen so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Und dann stellte Balthasar trocken fest: »Na bitte. Da kommen sie ja schon. Hinter uns die Ingar 79
- und hundert Meter voraus die eifrigen Herren von der Mordaufklärung. Jetzt kommt Leben ins Geschehen.« Während Ben Murray seinen anstürmenden Kollegen im Kasernenhofton Anweisungen gab und so deutlich machte, dass mit ihm heute beileibe nicht gut Kirschen essen war, fiel Ingar wortlos um Mikes Hals. Die hinter ihr liegenden Strapazen - vor allem die unablässige parapsychische Konzentration - hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihr normalerweise eher bräunlicher Teint hatte winterliche Blässe angenommen und um ihre Augen lagen dunkle Ringe. Trotzdem presste sie sich so stürmisch an Mike, dass er fast sein Gleichgewicht verlor. Sanft und ohne ein Wort zu sagen, strich er über ihr Haar. Worte waren jetzt überflüssig. Jeder von ihnen hatte sich um den anderen gesorgt und nun waren sie froh, sich unverletzt wieder zu sehen. »Und wer küsst mich?«, brachte sich Balthasar mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit in Erinnerung. »Oh!«, machte Ingar und löste sich von Mike. »Dich habe ich ja gar nicht gesehen!« »Dabei bin ich doch wirklich groß genug!« Er warf sich in die Brust und wippte auf Zehenspitzen und Fußballen auf und ab. Ingar nickte ernsthaft und warf ihm einen Kuss zu. »Genügt der als Anzahlung?« »Klar. Bescheidenheit ist meine Zier«, erwiderte Schwarzschwert lächelnd und verbeugte sich. »Genug mit der Flirterei!«, mischte sich Mike ein. »Oho, eifersüchtig, Liebling?«, erkundigte sich Ingar mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Mike ging nicht darauf ein. Er war nervös. Das Nichtstun zerrte an seinen Nerven. »Er ist tot«, bemerkte er nur. »Wer?« »Roger Courtenay.« Verwirrung spiegelte sich auf ihrem Gesicht. »Mrs. Maddigan?«, fragte sie dann ganz leise. 80
Mike zuckte die Schultern. »Er stürzte aus einem Fenster im dritten Stock.« »Und seine Leiche war nicht mumifiziert«, ergänzte Murray, der unbemerkt wieder zu ihnen getreten war. »Das hat der diensthabende Beamte aber nicht erwähnt«, sagte Mike. »Eben deshalb. Wenn Courtenays Leiche mumifiziert wäre, dann hätte er es erwähnt. Der Junge war nicht von gestern. Die Parallelen hätte er gesehen.« »Und Mary-Ann Rooner? Lebt sie noch?« Ingar wischte sich mit einer automatischen Bewegung die langen Haare zurück und sah Mike und Ben Murray fragend an. »Keine Ahnung«, antwortete Murray nach kurzem Zögern. »Der Beamte hat sich kurz gefasst und ich hatte keinen Anlass zu weiteren Fragen. Aber ich werde rück fragen. Moment!« Er klemmte sich wieder in seinen Wagen und rief die Einsatzzentrale. Zwei Minuten später hatte er sämtliche Informationen bekommen. »Ihr habt es gehört«, sagte er und sah Balthasar, Mike und Ingar der Reihe nach an. »Da Miss Rooners Aussage noch nicht vorliegt«, resümierte Murray, nachdem er Ingars Nicken gesehen hatte, »wissen wir also nicht definitiv, ob Courtenays Tod auch auf Mrs. Maddigans Schuldkonto geht.« Balthasar, der in den letzten Minuten konsequent geschwiegen hatte, hüstelte. »Aber sie war dort«, erklärte er überzeugt. Murray wandte dem Kleinen sein Gesicht zu. »Woher willst du denn das nun wieder wissen?« Balthasars linke Hand strich behutsam über seinen prächtigen Rauschebart. »Nun, von einem Kollegen, sozusagen. Um genau zu sein - von Roger Courtenays Geist. Zufrieden?« »Von seinem Geist, soso«, nickte Murray mit eingefrorenem Lächeln. Langsam aber sicher schien er ein Patentrezept gefunden zu haben, wie er mit Balthasar Schwarzschwert auskommen konnte. Er provozierte ihn nicht mehr. 81
Mike sah demonstrativ auf seine Uhr. »Solltest du jetzt nicht endlich zur Sache kommen, Balthasar?«, fragte er. Schwarzschwert nickte beiläufig. Ganz kurz nur blieb sein Blick getrübt, so, als lausche er konzentriert in sich hinein - auf eine Stimme, die nur er allein hören konnte. »Ja, ich glaube, jetzt ist die Zeit reif...«, murmelte er dann. »Es ist eine ziemlich kurze Geschichte, dafür aber mit einer tödlichen Pointe. Okay, das vorab, jetzt zu den Fakten: Es gibt da eine uralte Prophezeiung. Sinngemäß heißt es da, dass nach Ewigkeiten der Einsamkeit und des Hassens zwei in einer Kristallkugel gefangene schreckliche Geister zurückkehren und an den Sterblichen Rache nehmen werden. Rache deshalb, weil Menschen maßgeblich daran beteiligt waren, sie zu überwältigen. Ein Relikt, das die Rückkehr der bösen Geister sichert, ist ein verzauberter Druidendolch. Die Schwarze Legende weiß hierzu nicht sonderlich viel zu berichten. Bekannt ist nur, dass ein Schwarzer Druide, ein Abtrünniger, einen Teil der schwarzmagischen Energie der beiden gefangenen Geister in der Klinge des Dolches arretierte. Der Kerl war ein Verbündeter der Mächtigen der jenseitigen Sphäre. Wahrscheinlich hoffte er, durch die Befreiung der Gefangenen noch mehr Gunst zu erringen. Nun, diese Hoffnung durfte der Gute bis heute nicht aufgegeben haben...« »Dann lebt dieser Druide also noch heute«, stellte Mike ganz ruhig fest. Allerdings existierte diese Ruhe nur äußerlich. In seinem Kopf purzelten die Gedanken rasend schnell durcheinander. Und dann bildete sich ein Muster. Ein Mosaik fügte sich wie von selbst zusammen... Mike behielt seine Erkenntnis aber für sich und hörte Balthasar wieder aufmerksam zu. »Das ist mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit anzunehmen«, sagte der gerade. »Zeit hat für Geister keine Bedeutung mehr. Sie haben alle Zeit des Universums auf ihrer Seite. Ebenso der Schwarze Druide, da er seine Existenz den Bösen Geistern geweiht hat. Was für euch Menschen hundert Jahre sind - das sind für die Wesenheiten der jenseitigen Sphäre nur Nanosekunden.« 82
»Uff!«, knurrte Murray und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Balthasar warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und dozierte weiter. »Der Plan des Druiden wurde vereitelt, denn der Dolch verschwand auf ungeklärte Weise. Man nimmt an, dass ein weiser Magier das Opfer auf sich nahm, diese Waffe des Bösen zu hüten. Und jetzt ist sie wieder aufgetaucht. Woher - das vermag niemand zu sagen. Aber es ist wohl auch nicht wichtig. Es musste so kommen, wie es endlich gekommen ist, denn so stand es geschrieben. Der Dolch tauchte aus dem Dunkel der Vergessenheit auf - und ein Mensch wurde damit getötet: Loisa Maddigan. So konnte das Unheil seinen Lauf nehmen... Weiter: Das, was bisher geschehen ist, war lediglich ein Vorgeplänkel. Loisa Maddigan musste ihre Kräfte mehren, um ihrer Aufgabe gerecht werden zu können. Daher ihre Gier nach menschlicher Lebensenergie. Inzwischen dürfte sie stark genug sein. Sie vermag nun aller Wahrscheinlichkeit nach Dinge zu tun, die normalerweise allein den Mächtigen der jenseitigen Sphäre vorbehalten sind. Das allein zeigt schon, wie wichtig den Bösen Geistern das Gelingen von Loisa Maddigans Mission ist. Fazit: Wenn sie erfolgreich ist, dann wird das totale Chaos über die Erde hereinbrechen. Auch das steht geschrieben... Einzelheiten erspare ich euch. Schließlich will ich euch nicht demoralisieren.« Alle schwiegen. Murray starrte Balthasar Schwarzschwert abschätzend an. Dann brach er das bedrückende Schweigen. »Und warum hast du dich erst jetzt dazu bequemt, uns das alles zu erzählen?« Balthasar zuckte in einer sehr menschlichen Geste bedauernd die Schultern. »Auch mir sind gewisse Grenzen gesetzt, Ben, deshalb. Oder besser: Ich hatte meine Gründe. Mehr kann ich vorerst nicht ausplaudern.« »Wo wird es geschehen, Balthasar?«, fragte Mike leidenschaftslos. Er glaubte, Schwarzschwerts Gründe zu kennen. »Ich werde dich hinbringen«, erklärte Balthasar einfach. Und während er dies sagte, sah er Ingar fest in die Augen. Kurz fragte sich 83
Mike, was das nun wieder zu bedeuten hatte. Er fand die Antwort nicht. Da nickte Ingar. »Ingar, was...« Sie ließ ihn nicht weiter sprechen. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn auf den Mund. Zugleich bekam er ihre Gedanken auf telepathischem Wege übermittelt: Mach dir keine Sorgen um mich,
Mike. Balthasar hat mich soeben wissen lassen, was Ben und ich zu tun haben. Es ist wichtig. Wir haben nicht mehr viel Zeit...
Mike wollte etwas einwenden, aber sie sah ihn nur zärtlich an. Er schwieg. In ihrem Blick lag ein Hauch von Abschied... Ich liebe dich!, sagten ihre Gedanken ganz leise. Ich dich auch. Und ich glaube, ich verstehe, erwiderte er, ebenfalls gedanklich. Dann hob er seine Hand und strich mit seinem Zeigefinger über Ingars Stupsnase. Ben starrte von Balthasar zu Mike und schließlich zu Ingar. Auf seiner Stirn schwoll eine gewaltige Ader an. »Wollt ihr mir nicht endlich mitteilen, was eure geheimnisvolle Schweigeminute zu bedeuten hat? Verdammt, wir müssen etwas unternehmen!«, brüllte er dann los. »Wir sind gerade dabei, Ben«, versetzte Schwarzschwert ruhig und berührte Mike am Kopf. Im nächsten Augenblick verschwand die Realität! Die Finsternis des Universums umgab ihn. Er hatte das Gefühl, in einem Karussell zu sitzen, das sich immer schneller und schneller drehte... Erst jetzt erfasste er, dass Ingar ihm in letzter Sekunde noch etwas mitgeteilt hatte: Du musst Balthasar vertrauen, Mike. Er weiß, was
er tut... Pass auf dich auf – und viel Glück...!
Dann wurden die Drehungen des ›Karussells‹ langsamer und die Dunkelheit lichtete sich kaum merklich. Die Konfrontation mit dem absolut Bösen stand unmittelbar bevor... * Irgendwo schlug eine Uhr mit dumpfem Schlag. Sie ging vor. Big Ben ließ sich erst drei Sekunden später vernehmen. Mitternacht. Die Stunde der Geister... 84
Loisa Maddigan blieb erschrocken stehen. Aber sie erkannte zugleich, dass ihr keine Gefahr drohte. Sie lächelte grausam und reckte ihr bleiches Gesicht dem Mond entgegen, der geisterhaft über den nur spärlich bewölkten Nachthimmel kroch. Sein Silberlicht ließ Häuser und Autos, die am Straßenrand geparkt waren, harte, scharfe Schatten werfen. Das Licht des Mondes tat ihr gut. Sie registrierte es beiläufig, mit gelindem Erstaunen und ging weiter, ohne sich noch länger mit diesem geheimnisvollen Phänomen zu befassen. Verloren hallten ihre Schritte nach. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte Loisa Maddigan die Erregung in sich wachsen. Sie kam ihrem Ziel näher und näher... Und sie würde es erreichen. Sie würde den Auftrag erfüllen. Die Nacht war wie ein schützender Mantel. Niemand vermochte sie zu sehen... Oder gar aufzuhalten. In ihrem Gesicht stand grimmige Entschlossenheit. Ihre starren Augen glommen in einem unirdischen bernsteinfarbenen Licht. Zugleich mit der Erregung wusste sie die KRAFT in sich. Eine Kraft, die ein normaler Sterblicher niemals erlangen konnte. Jene Mächte, die sie lenkten, waren mit ihr zufrieden. Sie hatten erkannt, dass sie ihre Gegenwehr aufgegeben hatte. Dass das gute Ich der Loisa Maddigan nahezu besiegt war. Nur noch ganz schwach und in immer größer werdenden Abständen pulsierte es. Zur Gegenwehr war es nicht mehr fähig. Schon lange nicht mehr. Plötzlich verzerrten sich Loisa Maddigans Züge unter einem scharfen Gedankenbefehl. Du musst dich beeilen!, wies die Stimme in ihrem Kopf, die ihr inzwischen vertraut geworden war, an. Ungeduld schwang darin. Aber nicht nur das... Da war auch noch ein anderes Gefühl, unterschwellig. Es war Furcht. Furcht - wovor? Vor ihr zuckten grellbunte Neonreklamen. Wie schützend hob Loisa Maddigan beide Hände vor ihre Augen und drückte sich gegen eine rau verputzte Häuserwand. Das Leuchten erlosch Loisa Maddigan reagierte schnell. Sie rannte los. Da - eine finstere Seitenstraße. Sie er85
reichte sie gerade noch rechtzeitig. Hinter ihr flammte das Licht wieder auf. Sie musste vorsichtiger sein, erkannte sie. Auf ihre Umgebung achten... Lauernd schritt sie in nordwestlicher Richtung weiter. In ihrem Kopf wühlte ein seltsamer Schmerz... Warum bemerkte sie das erst jetzt? Und was hatte das zu bedeuten? Schneller! Schneller!, drängte die Stimme. Sie verursachte den Schmerz! Aber kaum hatte Loisa das erkannt, da vergaß sie es auch schon wieder. Noch schneller hetzte sie voran. Stoßweise und keuchend kam ihr Atem. Ihr Herz hämmerte wie wild. Du wirst zu spät kommen!, dröhnte die Stimme, von Silbe zu Silbe lauter, hallender werdend. Unsere Feinde sind im Vorteil... Besinne
dich deiner Kraft! Besinne dich - und nütze sie! Zögere nicht!
Und Loisa Maddigan gehorchte. Sie stoppte abrupt. Kapselte sich gegen ihre Umwelt ah. Die Gegend, in der sie sich aufhielt, war einsam und finster. Hier gab es keine Straßenlaternen. Hier konnte sie sich konzentrieren... In der Ferne war Motorenlärm zu hören. Sekundenlang geisterten Lichtfinger über eine dunkle Häuserfront. Das Auto entfernte sich. Es wurde wieder still. Im gleichen Augenblick klickte in Loisa Maddigans Gehirn etwas ein. Der Kontakt aktivierte ihre Kräfte. Sie wuchsen, wölbten sich empor. Blähten sich auf, mehr und mehr... Und dann wurden sie explosionsartig frei! Loisa Maddigan verschwand von einer Sekunde zur anderen in einen grellweißen mit Funkenpartikeln durchwobenen Nebel. Es schien so, als hätte es sie niemals gegeben... * Der Friedhof Highgate liegt in Londons Nordwesten und grenzt an das vornehme Viertel Hampstead an. Highgate ist ein ehrwürdiger, einhundertfünfzig Jahre alter Friedhof, in einer landschaftlich wunder86
schönen Gegend, in der ansonsten nur noch gepflegte, zu hochherrschaftlichen Villen gehörende Rasenflächen und der Waterlow Park liegen. Wäre Highgate in der Lage, zu protzen, so könnte er dies lediglich mit den wuchtigen Marmorgräbern, Engelsstatuen, Obelisken, Kreuzen und Grüften aus viktorianischer Zeit tun. Denn jene sind die einzigen Relikte, die an eine große Vergangenheit erinnern. Heute ist der Friedhof fast in Vergessenheit geraten - und mit ihm auch die meisten der hier ruhenden Toten. Die Natur wuchert und gedeiht ungehindert, denn niemand kümmert sich mehr darum. Highgate ist seit langem schon verwildert und für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Das war dem Totengräber Mervin Finch gerade recht. Er war sozusagen illegal hier und somit hatte er einiges gegen Publicity. Seit einigen Jahren schon hauste er im alten Teil des Friedhofs, inmitten eines herrlichen Blätterwaldes. Von den Gräbern war nämlich nicht mehr allzu viel zu sehen. Die wurden von Sträuchern, Büschen, Bäumen und Unterholz verdeckt, von Jahr zu Jahr mehr. Finch war ein Gemütsmensch. Zeit seines Lebens hatte er Gräber ausgehoben und darüber war er krumm und bucklig - und alt geworden. Als es Zeit war, in Pension zu gehen, hatte er sich nach einem ruhigen Plätzchen umgesehen - und Highgate gefunden. Hier fühlte er sich wohl. Vielleicht wegen der vertrauten Atmosphäre. Er nahm einen großen Schluck aus der Pulle, die ihn überallhin begleitete und ohne die er unsagbar einsam gewesen wäre. Der scharfe Whisky rann wie Lava durch seine Kehle. Finch musste hüsteln. Ansonsten aber fühlte er sich gut. Trotz der mitternächtlichen Stunde war er noch putzmunter. Der Mond stand hoch am Himmel und tauchte den Dschungel in ein silbernes Licht. Es war eine Nacht, wie geschaffen für einen Spaziergang. Leise vor sich hin brummend - singen konnte man das beim besten Willen nicht nennen - wankte er einen ausgetretenen Pfad entlang. Links und rechts ragten eindrucksvolle Familiengrüfte empor. Die meisten waren zugemauert. Einige wenige nicht. In die konnte man hineinblicken und die dunklen Särge sehen, die darin aufbewahrt wurden. 87
Plötzlich vernahm Mervin Finch das Rascheln. Nur ein Windhauch, der durch das Efeu und die Farne strich... Oder eine Taube? Finch wusste, dass hier Tausende von Tauben nisteten. Die offenen Grüfte boten ihnen eine sichere Heimstatt. Er schluckte mühsam, als er den Lichtschein durchs Gebüsch schimmern sah. Ganz plötzlich musste dieses Licht aufgeflammt sein. »Was soll denn das sein?«, krächzte er im Selbstgespräch und kratzte sich seinen Einsiedlerbart. Zugleich warnte ihn etwas. So betrunken war er nicht, dass sein Instinkt nicht mehr ansprach. Trotzdem war vorerst die Neugier größer und stärker. Finch bückte sich und tauchte ins Unterholz ein. Es raschelte. Ein Ast brach unter seinem Schuh. Noch vorsichtiger pirschte er vorwärts. Plötzlich roch er etwas... Aufmerksam sog er die Luft durch die Nase. Verflixt, dachte er nervös werdend, das riecht doch nach Schwefel... »Vielleicht ist der Teufel höchstpersönlich gekommen, um hier einmal nach dem Rechten zu sehen«, kombinierte er dann in einem Anflug von schwarzem Humor. Er kicherte. Aber das verging ihm schnell wieder. Jetzt war er nämlich weit genug vorgedrungen, um in die kleine Lichtung hinaussehen zu können, in deren Mitte das Licht waberte. Eine Gestalt tauchte inmitten des Leuchtens auf. Eine Frau! Zuerst waren ihre Körperkonturen ganz durchscheinend, vage, dann festigten sie sich. Und dann verschwand das Leuchten, wie ausgeknipst! Finch kniff seine Augen zusammen und zwickte sich. Aber die Erscheinung dachte nicht daran, zu verschwinden. Ich bilde mir alles bloß ein!, überlegte er. Ja, das wäre möglich! Der Suff... Der viele
Whisky... Ich phantasiere!
Dann fiel das Mondlicht direkt auf den dunklen Fleck auf der Brust der Unheimlichen! Finch traf schier der Schlag. Seine Augen quollen regelrecht aus den Höhlen. Das ist ein Blutfleck!, schoss es durch seinen Sinn. Die - die ist tot! »Oh, Mann!«, entfuhr es ihm. Und jetzt war seine Neugier erloschen. Er hatte genug! Er machte eine rasche Kehrtwendung - und 88
knallte stockvoll gegen ein verwittertes Grabmal. Er stieß einen Schmerzlaut aus. Wenn das die Unheimliche gehört hatte! Dann war es aus mit ihm... Seine Gedanken zerplatzten. Sein von Whisky umnebeltes Gehirn verkraftete das alles nicht so, wie er sich das wünschte. Mervin Finch rannte einfach los. Er sah sich nicht um. Das war seiner Ansicht nach auch nicht mehr nötig. Er glaubte, die leichten Schritte der Toten direkt hinter sich zu hören, ihren Moderatem direkt in seinem Genick zu spüren... Finch nahm den Kopf zwischen seine Schultern und flitzte wie irr dahin. Er übersprang Grabhügel, flog über umgestürzte Grabsteine und wieselte zwischen Grabfassungen hindurch. Und plötzlich sprang er ins Leere! Sein rechter Fuß machte noch eine Schrittbewegung, aber das half nichts. Mervin Finch stürzte in eine pechschwarze Tiefe - mitten in ein vor Jahrzehnten ausgehobenes und nicht belegtes Grab hinein. Hart knallte er auf verfilztes Unterholz, das auch vor dieser Grube nicht halt gemacht hatte, aber sein Bewusstsein verlor er nicht. Er rappelte sich wieder auf und lauschte. Stille. Also war er der Unheimlichen entkommen. Oder... Finch zögerte, an die andere Möglichkeit zu denken. Aber dann tat er es doch. Oder hatte er sie sich doch nur eingebildet? Er kam hoch. Und da hörte er die Schritte! Nicht von einer, nein, von mindestens zwei Personen! Dann: Leise Stimmen... Und plötzlich glaubte Finch zu begreifen. Vorhin hatte es Mitternacht geschlagen! Das, was er jetzt sah und hörte - waren Geister... Die Geister der Verstorbenen hatten ihn umzingelt! Die Erkenntnis war nun endgültig zuviel für Mervin Finch. Der Schrecken ließ ihn ohnmächtig zusammensinken. Die beiden Männer, die nur ein paar Meter von Finchs vorläufiger Ruhestätte aus dem Gebüsch traten, sah er nicht mehr. Einer der Männer war klein, höchstens ein Meter zwanzig und sein buschiger weißer Rauschebart war zerzaust. Der andere Mann war groß, schlank, durchtrainiert... Jede seiner Bewegungen signalisierte geballte Kraft und lauernde Vorsicht. 89
Bei diesen beiden Männern handelte es sich um niemand anderes als Balthasar Rufus Schwarzschwert – und Mike Logan. * Nachdem Ben Murray seine Überraschung überwunden und seinen Mund wieder zugeklappt hatte, schüttelte er den Kopf. Man sah ihm an, dass er sich bemühte, Haltung zu bewahren. Ingar legte ihm ganz ruhig ihre schmale Hand auf den Unterarm. Aber sie schwieg. »Sie sind verschwunden!«, sagte der Inspektor überflüssigerweise. Dann schien er sich einen Ruck zu geben. Er ergriff Ingars Handgelenk und stieß impulsiv hervor: »Verflixt, ich komme mir vor, wie ein kleiner dummer Junge! Ingar, wenn du auch nur den geringsten Ahnungsschimmer von dem hast, was dieser famose Schwarzschwert und Mike hier abziehen, dann wird es jetzt langsam aber sicher Zeit, dass du mich einweihst! Alles klar?« Aus seinen Froschaugen heraus sah er sie hart an. Ben Murray war ein Bursche, mit dem man die sprichwörtlichen Pferde stehlen konnte und er besaß auch einen beinahe eisernen Geduldsfaden. Aber wenn der einmal riss - so wie jetzt - dann war es an der Zeit, vorsichtig zu sein. Das alles machte sein Blick klar. Ingar hatte dies schon vorher gewusst. Nicht etwa, weil sie gespürt hatte, nein, ganz einfach aus dem Gefühl heraus. Weibliche Intuition. Sie mochte den kauzigen Ben und wollte sich seine Freundschaft nicht verscherzen. Dennoch war es jetzt im Interesse der Sache wichtig, ihn noch ein paar Minuten lang hinzuhalten. »Fährst du mich nach Hause?«, erkundigte sie sich und erwiderte seinen Blick. »Unterwegs werde ich dir alles erzählen, was ich weiß«, versprach sie schnell, als sie bemerkte, dass er eine scharfe Erwiderung auf der Zunge liegen hatte. »Also gut«, knurrte er bedächtig und wandte sich um. Mit großen, wuchtigen Schritten marschierte er zu seinem Wagen. Ingar folgte ihm. Sie gab sich Mühe, sich ihre Nervosität nicht merken zu lassen. Unauffällig musterte sie ihre Umgebung. Niemand 90
war zu sehen. Dennoch wusste sie, dass jede ihrer Bewegungen beobachtet wurde... Murray hielt ihr die Tür auf und ließ sie einsteigen. Sie streckte sich im Sitz, nachdem die Tür neben ihr ins Schloss fiel. Gleich darauf klemmte sich Murray hinters Steuer. »Warum fährst du eigentlich nicht mit dem Lotus?« »Frag doch nicht so viel, Ben«, erwiderte sie heftiger als beabsichtigt. »Fahr endlich los!« Er warf ihr einen seltsamen Blick zu und startete den Motor. Dann rollte der Wagen sanft an. Murray beschleunigte und fuhr zügig Richtung Queen's Gate. Fünf Minuten vergingen in quälendem Schweigen. Hinter Murrays Stirn arbeitete es. »Ich höre«, sagte er, als die sechste Minute gerade zwei Sekunden alt war. Und jetzt klang seine Stimme schon nicht mehr so unpersönlich schroff. Vermutlich hatte er inzwischen eingesehen, dass sie für ihre Hinhaltetaktik ihre Gründe gehabt hatte. »Balthasar und Mike kümmern sich um Mrs. Maddigan. Sie wollen verhindern, dass sie die Bösen Geister befreit«, begann sie. »Das dachte ich mir schon, Mädchen«, brummelte er, ohne zu ihr herüberzusehen. »Wo? Und warum ohne uns?« Ingar zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, wo, Ben, wirklich nicht. Balthasar hat mir nur mitgeteilt, welche Rolle er in diesem Spiel für uns beide vorgesehen hat.« »Und?«, drängte Murray gespannt. »Wir müssen den Schwarzen Druiden von Balthasar und Mike ablenken«, antwortete sie betont ruhig. »Ben...«, sekundenlang verschlug es Murray die Sprache. Er schüttelte den Kopf. »Natürlich. Jetzt verstehe ich! Oh, ich Dummkopf!« »Unsinn, Ben. Du konntest schließlich nicht wissen, dass uns der Kerl beobachtet. Niemand von uns konnte das wissen - außer Balthasar. Wir mussten damit rechnen, telepathisch belauscht zu werden. Deshalb konnten wir dich nicht einweihen. Du bist nicht darin geübt, deinen Geist vor dem Zugriff eines Gedankenlesers zu verschließen.« 91
»Und du und Mike - ihr könnt das?« »Ja.« Zu Ingars Erleichterung ging Murray nicht weiter darauf ein. Er war mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders. Das bewiesen seine halb zu sich selbst gemurmelten Worte: »Daher also Schwarzschwerts übertrieben harmlose und unverbindliche Flachserei. Er hat den Schwarzen Druiden gewittert und versuchte auf die Art, ihn abzulenken... Ihn von unserer Ahnungslosigkeit zu überzeugen. Und dann hat er zugeschlagen. Das soll ihm erst einmal einer nachmachen.« Anerkennend schüttelte er den Kopf und sein Gesicht hellte sich merklich auf. »Okay, ich habe meine Meinung revidiert. Ich sehe jetzt klar, Ingar. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Wie gehen wir vor?« »Wir werden den Schwarzen Druiden in eine Falle locken«, erwiderte sie, als wäre dies die selbstverständlichste Sache der Welt. »Und wir beide sind die Köder«, lächelte Murray. »Ja.« »Und wenn wir ihm als Köder nicht schmackhaft genug sind? Was dann?« »Ihm bleibt eigentlich keine Wahl. Balthasar und Mike sind für ihn im Augenblick unauffindbar. Auf die Idee, dass sie Mrs. Maddigans Ziel kennen und sie dort abzufangen versuchen, wird er hoffentlich nicht kommen... Er wird sich an uns halten.« Schweigend sah sie in den Rückspiegel. Dann huschte ein freudloses Lächeln über ihr Gesicht. »Ich hatte Recht, Ben. Da ist er schon. Knapp zehn Meter hinter uns...« Murray nickte grimmig. Er hatte den dunklen Wagen auch gesehen. * »Wir sind da«, erklärte Balthasar bescheiden. »Ich noch nicht ganz«, widersprach Mike sarkastisch und rieb sich die Augen. 92
Sie schmerzten und tränten, so dass er außer wirbelnden Nebelschleiern überhaupt nichts sehen konnte. »Ein echter Brite kennt keinen Schmerz«, belehrte Balthasar. »Ach, woher weißt du denn das? Wenn ich mich nicht mächtig irre, dann ist ›Schwarzschwert‹ alles andere als ein britischer Name. Daraus lässt sich schließen, dass...« Balthasar unterbrach ihn. »Für meinen Namen kann ich schließlich nichts. Der geht auf das Schuldkonto meines Vaters, des ehrwürdigen Merlin. Und der war eben international... Hinzu kommt: Die Klasse zählt, mein Lieber. Nicht der Name. Der ist ohnehin nur Schall und Rauch.« »Kannst du nicht einmal ernst sein?« »Nun ja, ich könnte es zumindest einmal versuchen...« Mike stöhnte - aber nicht wegen seiner schmerzenden Augen. Dann versuchte er abzulenken. »Wo sind wir hier eigentlich?« »Kannst du noch immer nichts sehen?« »Würde ich sonst so dumm fragen?« »Diese Fangfrage beantworte ich dir lieber nicht. Aber du sollst wissen, dass wir im Friedhof Highgate zu Besuch weilen.« Mike nickte schweigend. Die Schleier vor seinen Augen verflüchtigten sich jetzt zusehends und wenig später vermochte er schon, Umrisse wahrzunehmen. Vorsichtig richtete er sich aus der kauernden Stellung auf. Balthasar ließ ihm keine Zeit, sich genauer zu orientieren. Er zupfte an Logans Lederjacke und zischte: »Runter, Mike! Wir sind nicht allein hier...« »Darauf wäre ich nun niemals gekommen«, versetzte Mike spöttisch. Dann wurde er wieder ernst. »Also ist Mrs. Maddigan ebenfalls hier?« »Klar. Oder meinst du, ich habe umsonst so viele gute Geister bemüht?« »Wie meinst du denn das nun wieder?« Balthasar seufzte leise. »Nun, die zeitlose Ortsversetzung unserer beiden Körper - die konnte ich doch nur schaffen, weil mich ein paar meiner Freunde - hm - unterstützt haben. Ich bin zwar nicht von Pap93
pe, aber so etwas schaffe ich dann doch nicht ganz allein. Gab's da bei euch nicht einmal ein Liedchen...? With a little help from my friends...« »Du überrascht mich immer wieder.« »Kleine Überraschungen erhalten die Freundschaft.« »Okay, dann kannst du mir jetzt vielleicht noch erzählen, warum wir Ben und Ingar zurückgelassen haben?«, erkundigte sich Mike. Er sah den neben ihm kauernden Balthasar an. Dessen Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Nur der Rauschebart leuchtete, als wäre er in Leuchtfarbe getaucht worden. »Weil sie uns den Schwarzen Druiden vom Hals halten müssen«, antwortete Balthasar nach einem kaum merklichen Zögern. »Sag das noch einmal!« »Tu ich nicht. Du hast mich doch verstanden.« Balthasar wandte ihm sein Gesicht zu. »Der Schwarze Druide hat uns vorhin belauscht...« Mike atmete tief durch und nickte dann verstehend. So etwas Ähnliches hatte er sich vorher, während Balthasar seinen Bericht abgespult hatte, schon gedacht... »Deshalb also dein Theater!«, räumte er ein. »Ja, deshalb.« »Der Bluff ist dir gelungen.« »Danke für die Blumen, Mike.« Mike überlegte kurz, dann formulierte er seine Vermutung: »Dann war es wohl auch dieser Schwarze Druide, der Roger Courtenay angehalten hat, den Dolch zu rauben...« »Ja. Er muss irgendwie erfahren haben, dass die Zauberwaffe wieder aufgetaucht ist.« »Und weil er wollte, dass ein Mord geschieht, hat er sie nicht ganz einfach gekauft«, vervollständigte Mike. »Ich sagte vorhin schon: Alles musste so kommen. Der Druide wusste das auch. Deshalb begnügte er sich damit, Courtenay bei den Maddigans einbrechen zu lassen. Es stand von vornherein fest, dass der Einbruch nicht unbemerkt bleiben - und dass Courtenay von dem Zauberdolch Gebrauch machen würde.« »So einfach war das also...« 94
Balthasar wechselte das Thema. »Hör mal, Mike, wir sollten langsam aufbrechen. Sind deine Augen wieder okay?« »Ja«, antwortete Mike wegwerfend. »Noch eine Frage, Balthasar. Haben Ingar und Ben eine Chance...?« »Traust du mir etwa zu, ich würde die beiden opfern?«, schnaufte er empört. »Aber sie haben keine Waffe, um...« »Ich habe dafür gesorgt, dass sie eine haben. Ingar weiß Bescheid.« Und erst jetzt bröckelte der Felsblock, der Mike seit einigen Minuten auf die Brust gedrückt hatte, ab und ließ ihn wieder die ersten befreiten Atemzüge tun. »Gehen wir?«, fragte er. Und Balthasar nickte. »Gehen wir! Das Finale war schon lange fällig.« Vorsichtig pirschten die beiden so ungleichen Gefährten los. Mike gab sich keinen Illusionen hin. Noch lag ein schweres Stück Arbeit vor ihnen. Es würde beileibe nicht leicht sein, Mrs. Maddigan in diesem riesengroßen verwilderten Friedhof zu entdecken... Aber Balthasar gab sich zuversichtlich. Zielsicher steuerte er eine breite Gräberstraße an. »Siehst du es?«, hauchte er unvermittelt und blieb stehen.. Mike starrte in die angedeutete Richtung. Da war ein waberndes Leuchtgebilde hinter der absolut schwarzen Wand von Gestrüpp, Büschen und Bäumen aufgetaucht. Nur fragmentarisch war es zu sehen, aber Mike wusste auch so, was das zu bedeuten hatte. Sie hatten Loisa Maddigan entdeckt. Schneller, als er vermute hatte. Gleichzeitig hörten sie einen unter drückten Schmerzenslaut, dann hastige, wieselflinke Schritte, die sich rasch näherten. Mike zog Balthasar in einen mannshohen Strauch. Mit angehaltenem Atem warteten sie. Eine Minute später sahen sie einen Schatten über eine vom Mondlicht beschienene Lichtung spurten. »Was macht der denn hier?«, entfuhr es Mike. 95
»Keine Ahnung«, wisperte Balthasar verwirrt zurück. »Wer treibt sich schon um die Zeit auf 'nem Friedhof herum?« Er machte eine bezeichnende Geste: Er tippte mit seinem Zeigefinger gegen seine Schläfe. Im nächsten Moment war der Bursche verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. »Ich glaube, die Luft ist rein«, sagte Balthasar. »Sieht so aus.« »Trotzdem würde mich brennend interessieren, was der Typ hier suchte...« Balthasar schüttelte seufzend den Kopf. »Darum kümmern wir uns später«, bestimmte Mike. »Wenn wir dann noch dazu in der Lage sind.« Düster starrte er in die Richtung, in der vorhin das Leuchten zu sehen gewesen war. Jetzt lastete dort wieder undurchdringliche Finsternis. Es war still. Aber Mike ließ sich nicht beirren. Die schreckliche Drohung, die zweifellos von Loisa Maddigan ausstrahlte, war regelrecht zu riechen, wie ein Pesthauch. Mikes Kopfhaut zog sich zusammen. »Na komm schon, Balthasar«, sagte er, nur um etwas gesagt zu haben. Sie rannten los. * Loisa Maddigan zuckte zusammen, als sie den Schmerzenslaut vernahm. Ein Sterblicher, registrierte sie. Ihre Gier nach Lebensenergie zuckte wie eine Stichflamme in ihr empor. Der Jagdinstinkt drohte, übermächtig zu werden, ihr gesamtes logisches Denken und Handeln zu überschwemmen und auszuschalten. Aber es gelang ihr, sich zu beherrschen. Sie sagte sich, dass sie stark genug war, um die Aufgabe erfüllen zu können. Durch die Jagd würde sie nur unnötig Zeit verlieren... Und das durfte nicht sein! Lauernd blickte sie sich um, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Witternd lauschte sie... Ihre unbegreiflichen Sinne sagten ihr, dass ihr von 96
dem Sterblichen keine Gefahr drohte. Er war harmlos - und halb verrückt vor Angst. Er floh... Sie hatte nichts anderes erwartet. Sie konzentrierte sich auf ihre Aufgabe, ihre Mission. Die Stimme hatte ihr inzwischen erklärt, was die Mächte der Finsternis von ihr erwarteten. Sie musste die gefangenen Geister Gorghool und Pesthor befreien... So, wie es geschrieben stand in den Büchern des Bösen. Sie lächelte zynisch, als sie daran dachte, welche Bedeutung ihrer Tat beigemessen wurde. Sie war es, die Tod und Verderbnis über diese Welt und die elenden Sterblichen brachte. Tod und Verderbnis in Gestalt der schrecklichen Mordgeister Gorghool und Pesthor... Sie würde ihnen die Freiheit schenken. Loisa Maddigan wusste, wohin sie sich zu wenden hatte und sie nahm den direkten Weg. Sie brach durch verfilztes Unterholz und Gestrüpp und wischte Dornenranken, Äste und Zweige, die sich ihr hindernd in den Weg streckten, achtlos beiseite. Hier und da fiel bleiches Licht auf verwitterte Grabsteine und Statuen. Sie bemerkte es nicht. Nichts und niemand lenkte sie ab. Nichts und niemand konnte sie aufhalten. Ihr Ziel war nahe... So nahe! Jetzt konnte sie bereits die triumphierenden Ausstrahlungen der beiden Gefangenen fühlen. Die Stimme in ihrem Kopf schien dies auch bemerkt zu haben. Ein Freudentaumel schoss prickelnd in Loisa Maddigans Geist. Dann die stereotypen Anweisungen: Schneller... Schneller...! Sie
erwarten dich! Spürst du es? Sie sind ungeduldig... Schneller! Lass sie nicht warten, meine Lieblinge...
Und Loisa Maddigan arbeitet sich noch schneller voran. Die Gedanken, Gefühle, Stimmungen der gefangenen Geister sickerten in sie ein, peitschten sie noch mehr an. Dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stand vor einem riesigen, protzigen Grabmal, dessen Eingang lediglich mit einem zierlichen schmiedeeisernen Gitter versperrt war. Das Gitter war kein Hindernis für Loisa Maddigan. Sie zerfetzte es mit bloßen Händen und tauchte in die totale Finsternis ein. Den geheimen, raffiniert getarnten Schacht, der in die Tiefe - in die Gruft der Bösen Geister - führte, fand sie auf Anhieb. Sie 97
schob die schwere Marmorplatte beiseite. Ein mahlendes, knirschendes Geräusch entstand. Noch einmal sah sie sich um. Dann glitt sie wie ein Schemen in den Schacht. Rasch stieg sie in die feuchte Tiefe... * »Da ist sie!«, zischte Mike. »Sie betritt das Grabmal!« »Schon gesehen«, gab Balthasar grimmig zurück. Mike mobilisierte sämtliche Kräfte, die in ihm steckten. Wie von Furien gehetzt, spurtete er weiter. Balthasar hatte einige Mühe, ihm auf seinen kurzen, krummen Beinchen zu folgen. Er fluchte ungeniert. »Spar dir deinen Atem!«, riet ihm Mike atemlos. Drei Sekunden später hatte er das Grabmal erreicht, in dem Loisa Maddigan verschwunden war. Sekundenlang wartete er ab. Sein Atem normalisierte sich. Das Hämmern in seinen Schläfen verstummte. Dann war Balthasar neben ihm. Aus dem Innern des Grabmals waren scharrende Geräusche zu hören. Dann - Stille. Mike warf Balthasar einen knappen Blick zu. Das genügte. Sie waren ein aufeinander eingespieltes Team und handelten zugleich: Sie sprangen in die Dunkelheit hinein. Von Loisa Maddigan war keine Spur zu sehen. Vorsichtig, jederzeit darauf gefasst, ihr Leben verteidigen zu müssen, bewegten sie sich vorwärts. Dreck knirschte unter ihren Schritten. Sehen konnten sie nichts. Dazu war es zu dunkel. Mike blieb stehen und horchte. »Verflixt, wenn das eine Falle war...« »Alles klar?«, hauchte Balthasar. Er musste halbrechts von ihm stehen. »Wenn wir eine Taschenlampe hätten, wär's klarer«, versetzte Mike sarkastisch. Da spürte er den kühlen Luftzug. Er orientierte sich daran. Tastete sich ganz langsam, Millimeter für Millimeter vorwärts. Knapp einen Meter weit kam er. Dann tappte sein linker Fuß ins Leere! 98
Blitzartig zog er ihn zurück. »Hierher, Balthasar!« »Bin schon da!« Mike ließ sich auf die Knie nieder und tastete mit seiner Rechten über den Boden. »Ein Schacht«, erkannte er. Gleich darauf fand er auch die erste in die Schachtwand eingelassene Sprosse. Sie fühlte sich rostig und brüchig an. Aber das war nicht zu ändern. Sie mussten hinter Loisa Maddigan her, koste es, was es wolle. Ein Risiko gab es immer. Mike handelte. Behände und doch vorsichtig genug kletterte er in die Tiefe. Es wurde empfindlich kalt. Von den Schachtwänden tropfte Wasser. Hier und da wucherten Pilze, die in einem schwachen, gelblichen Licht schimmerten. Nach einer kleinen Ewigkeit erreichte Mike - dicht gefolgt von Balthasar die Schachtsohle. Linker Hand führte ein Stollengang waagerecht davon. Mike folgte ihm. Hin und wieder rieselten nasse, glitschige Erdkrumen von der niederen Decke des Stollens. Wurzeln ragten herein. Mehr als einmal stieß er sich den Schädel. Er achtete nicht auf den Schmerz. Nach etwa hundertzwanzig Schritten wurde der Gang breiter und höher. Jetzt konnte er mühelos aufrecht gehen. Die Pilze wucherten hier zahlreicher. Ihr Schimmern gab ein schwaches Licht ab. Wenigstens konnte er sehen, wohin er trat. Knapp einen Meter voraus knickte der Gang nach rechts ab. Mit zwei schnellen Schritten hatte Mike die Biegung erreicht. Vorsichtig streckte er den Kopf vor und lugte um die Ecke. Was er sah, trieb ihm den kalten Schweiß aus allen Poren! Ein mächtiges Portal, das mit seltsamen Schriftzeichen und Symbolen versehen war, stand weit offen. Dahinter lag eine Gruft. Loisa Maddigan trat soeben an einen gewaltigen Felsen heran, dessen Oberfläche wie eine Schale geformt war. Vor ihr, im Zentrum der Schale, ruhte eine Kristallkugel, in der Feuerlinien und Farben hektisch waberten und tanzten. Das Gefängnis der Bösen Geister! 99
Loisa Maddigan streckte ihre Hände danach aus... * Ingar ließ den Wagen, der inzwischen dicht aufgeschlossen hatte, keine Sekunde lang aus den Augen. Sie ahnte, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Der Schwarze Druide handelte zu schnell! Er ließ sich nicht - wie geplant - in eine Falle locken! Murray zog seinen schwarzen Austin mit viel Gefühl in eine Kurve. Die Reifen jaulten gequält. Der Verfolger hielt mühelos mit. Jetzt blinkte Murray. In kurzen Abständen flammte der Blinker hinter ihnen auf. »Er will uns überholen, Ben!«, stieß Ingar hervor. Murray antwortete nicht. Verbissen starrte er auf das schwarze Band der Straße. Und dann reagierte er völlig verrückt. Er wich aus, machte dem Überholenden Platz! »Ben!« Keine Reaktion. Der Verfolger zog vor... Und fuhr auf gleicher Höhe. Ingar starrte Murray fassungslos an. Dessen Gesicht schien gefroren zu sein. Keine Regung lag mehr darin. Die Erkenntnis traf Ingar wie ein Schlag. Der Schwarze Druide hatte Murray gebannt, verhext - oder was auch immer! Jetzt war sie ganz allein auf sich gestellt! Im nächsten Augenblick sah sie das Gesicht des Schwarzen Druiden. Oder besser - auf jene Fläche, die das Gesicht hätte sein sollen. Flirrende Finsternis war dort. Eine Finsternis, die zu pulsieren, zu strahlen schien! Ingar rüttelte verzweifelt an Bens Arm. »Ben, wach auf! Reiß dich zusammen!«, rief sie. Er schien es nicht wahrzunehmen. Stoisch starrte er vor sich hin. Da trat der Druide wild aufs Gaspedal. Sein Wagen ruckte an, zog vor. Und im nächsten Moment riss er das Lenkrad hart nach links! Mit einem ekelhaften Knirschen und Kreischen schrammten die beiden Wagen gegeneinander. Blech krachte gegen Blech. Murray 100
nahm es gelassen hin. Gleichzeitig verlor er die Kontrolle über den Austin. Es schien ihn nicht zu kümmern. Ingar wurde in ihren Sicherheitsgurt gepresst. Sie schrie auf. Der Wagen brach aus, rumpelte über den Gehsteig, kreischte an einer Hausmauer entlang, dass die Funken stoben. Dann kam der Aufprall... Sekundenlang versank die Welt für Ingar in einem einzigen Lärmchaos! Dann war es vorbei. Sie spürte einen scharfen Schmerz an ihrem Hals und achtete nicht weiter darauf. Ihre schreckgeweiteten Augen flogen zu Ben hinüber, der schlaff, scheinbar bewusstlos in seinem Gurt hing. Dann, wie im Zeitraffer nahm sie die Umgebung wahr. Der Austin hatte sich in die Mauer einer Hofeinfahrt gebohrt. Metall knisterte. Irgendwo tröpfelte Benzin. Überlaut konnte sie das hören. Dann näherten sich Schritte! Ingar esperte, schickte ihre Gedankenfühler auf die Reise, so behutsam, wie nie zuvor. Sie zuckte zusammen, als sie erkannte, dass sich der Schwarze Druide näherte. Seine Gedanken hatte sie nicht erfassen können, nur seine absolute Bösartigkeit, die hatte sie gespürt... Er war voll wilden Triumphs... Und er war fest entschlossen, sie gnadenlos zu vernichten... Die Schritte verhielten. Eine Sekunde später wurde die Tür an Ingars Seite mit brutaler Gewalt aufgerissen! * »Nein!«, brüllte Mike und warf sich im nächsten Augenblick wie von der Tarantel gebissen vorwärts. Aber Loisa Maddigan war noch schneller. Mit einer rasend schnellen Bewegung wischte sie die Kristallkugel zu Boden. Sie zersplitterte. Gelbliche Dämpfe wallten auf... Jetzt erst wirbelte Loisa Maddigan herum. In ihren Augen glomm ein tödliches Feuer, ihre Finger waren zu gefährlichen Klauen gekrümmt. Sie duckte sich. Mike prallte gegen sie. 101
Ihre Hände fuhren vor, umklammerten seinen Hals - und drückten zu. Aus den Augenwinkeln heraus sah Mike, dass die Dämpfe begannen, Form anzunehmen. Zwei riesige Körper... Loisa Maddigan sah es ebenfalls. Einen Sekundenbruchteil lang war sie abgelenkt. Das genügte Mike. Mit einem geschmeidigen Sidestep gewann er Distanz, dann konnte er einen Judogriff anlegen. Er wirbelte Loisa Maddigan über sich hinweg. Sie kreischte - und kam auf allen vieren auf. Keine Sekunde verlor sie. Sie griff wieder an, ihre Lippen waren gefletscht. Mike konnte sich vorstellen, warum Sie wollte sich seine Lebensenergie holen... Mike wich aus. Wo ist Balthasar?, fragte er sich gehetzt. Der kleine Bursche war nirgends zu sehen... Doch - da! Er begann, sich aufzulösen! Sein Körper wurde nebulös - und dann zu einem Silberstreif, der direkt auf Loisa Maddigan zuraste. Ich kümmere mich um sie, Partner!, hallte seine gedankliche Stimme in Mikes Kopf. Pass du auf die beiden netten Zeitgenossen auf!
Die verstehen nämlich keinen Spaß!
Mike sah noch, wie der Silberstreif in Loisa Maddigans Kopf eindrang und sie wie vom Blitz getroffen zusammenbrach. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von Gorghool und Pesthor beansprucht. Und wie! Die beiden Bösen Geister griffen mit einem infernalischen Brüllen an. Blitzschnell mussten sie die Situation erfasst haben. Scharfe Krallen fetzten Mikes Jacke auf. Glühendheiß spürte er einen schrecklichen Schmerz. Er wich aus. Aber da war schon der zweite Angreifer heran. Mit einem schrillen Triumphlachen sauste er heran... Ein harter Schlag traf Mike vor die Brust. Rücklings stürzte er zu Boden. Er war verloren! 102
Die beiden Mordgeister schwebten auf ihn herunter... Ihre Gesichter waren wilde Fratzen des Triumphs, ihre schrecklichen Kiefer klafften auf und zeigten rasiermesserscharfe, dolchartige Reißzähne. * Eine Hand packte Ingar brutal und zerrte sie aus dem Austin. Scheinbar willenlos und völlig erschöpft ließ sie es mit sich geschehen. Der Druide lachte. »Du wirst sterben, Elende!«, knurrte er und seine rechte Hand, die einen Dolch mit flammenförmiger Klinge hielt, zuckte hoch. Da handelte Ingar! Sie warf sich vorwärts, riss gleichzeitig ihre rechte Hand hoch, welche die Waffe umkrampft hielt, die Balthasar auf dem Rücksitz des Austins zurückgelassen hatte. Mit all ihrer Kraft schleuderte sie den magischen Silberstern in das flimmernde Gesichtsoval des teuflischen Druiden hinein. Die Wirkung war überwältigend! Der Verbündete des Schattenreichs schrie gellend auf und torkelte rückwärts. Das nützte ihm nichts. Der Stern hatte seine vernichtende Macht bereits voll entfaltet! Der Druide wurde von einer gleißenden Lichtaura eingehüllt. Er schrie, zappelte - und stürzte zu Boden. Seine Hände ruderten wie verrückt. Noch einmal bäumte sich sein Körper auf. Ingar wich zurück. Voller Scheu starrte sie auf das Schauspiel, das sich vor ihr abspielte! Der Schwarze Druide löste sich in etwas auf, das unmöglich zu definieren war. Sein Körper schrumpfte, zerfiel, verschwand nahezu völlig. Zurück blieb nur eine grünlich-schwarze, schillernde brodelnde Masse, die erbärmlich stank. Sie war nicht größer als die geballte Faust einer Frau. Die Lichtaura erlosch. Ingar begriff, dass sie gesiegt hatte. Die Spannung fiel von ihr ab und sie begann zu zittern. Das war eine ganz natürliche Reaktion nach dem Schrecken... Sie schluckte. 103
Dann fiel ihr Ben ein. Noch immer mit wild klopfendem Herzen eilte sie um das Autowrack herum und öffnete die Tür. Ben Murray kam soeben wieder zu sich. Er schien - abgesehen von einer Beule, die seine Stirn zierte - unverletzt zu sein. Verständnislos starrte er sie an. Bevor er etwas sagen konnte, drückte ihm Ingar einen Kuss auf die Stirn. »Es ist vorbei, Ben«, flüsterte sie dann. Und insgeheim dachte sie an Mike... Lieber Himmel, lass ihm nichts zustoßen!, flehte sie. * Mike registrierte den Schweißfilm auf seiner Stirn. Und zugleich wusste er glasklar: Wenn mir jetzt nichts Blitzgescheites einfällt, dann kann
ich in Zukunft Balthasar im Geisterreich Gesellschaft leisten...
Die Mordgeister waren nur noch Zentimeter entfernt. Sie genossen seine hilflose Lage... Das wurde ihnen zum Verhängnis. Plötzlich erschien - wie hingezaubert - das magische Silberschwert, das ihm schon gegen die Geisterprinzessin Parashthaar eine gute Waffe gewesen war, in Mikes rechter Hand. Das war Balthasars Werk! Mike schlug zu. Die Mordgeister kreischten in schriller Todesangst auf. Mike handelte, ohne zu denken. Sein Körper schnellte hoch. Blitzend fuhr das Silberschwert durch den wallenden Nebelkörper Gorghools. Ein röchelnder Todesschrei! Wie weggewischt, verschwand der Körper. Pesthor wich zurück. Heimtücke und Angst glitzerten in seinen drei riesigen Augen. Mike hielt seinem Blick stand. Er war jetzt ganz ruhig, eiskalt. Er war entschlossen, jetzt mit dem Teufelsspuk ein Ende zu machen. Da raste Pesthor heran. Er hatte geglaubt, Mike überraschen zu können. Es war ein tödlicher Irrtum. Breitbeinig erwartete Mike den Angriff. Mit beiden Händen hielt er das magische Schwert. Pesthors 104
Nebelkörper waberte... Der stinkende Atem des Mordgeistes fauchte in Mikes Gesicht. Er wich keinen Zentimeter. Seine Rechte zuckte vor... Die Klinge des Silberschwertes fuhr in Pesthors Körper. »Aaaarrrghhh!«, brüllte der Mordgeist. Zuckend wich er zurück, während er zugleich begann, zu zerfasern. Wie Nebel unter den unbarmherzigen Strahlen der Sonne, so löste sich sein Körper auf. Mike atmete keuchend. Schweigend sah er zu, wie Pesthor verging. Der Kampf war vorbei. Mike ließ seine Rechte sinken. Das Silberschwert verschwand so plötzlich, wie es aufgetaucht war. »Das war knapp«, keuchte Mike und wandte sich um. Balthasar war nirgends zu sehen. »He, Balthasar?« Keine Antwort. Mikes Blick fiel auf Loisa Maddigan. Ihr Körper ruhte auf dem Felsblock im Zentrum der Gruft. In diesem Moment schien sie zu erwachen. Sie schlug ihre Augen auf und kam ruckartig hoch. Ihr Blick flackerte, als sie Mike bemerkte. Mike duckte sich unwillkürlich. Alles in ihm verkrampfte sich. »Wo - wo bin ich?«, hauchte sie. Sie ist geheilt, Mike, wisperte Balthasars Stimme in Mikes Kopf. Sie
will leben. Bring sie nach Hause. Ihr Mann wird sich freuen... Alles ist gut... »Aber wie...?« Balthasar unterbrach ihn. In dem Augenblick, da Ingar den
Schwarzen Druiden getötet hat, fiel die schwarzmagische Geisterfessel. Der Rest war ein Kinderspiel. Ich unterstützte die Bemühungen ihres stark geschwächten guten Ichs, förderte sie... Das ist alles. Loisa Maddigan ist wieder ein Mensch. Und da sie für das, was geschehen ist, nicht verantwortlich zu machen ist, wird ihr nichts geschehen. Dafür habe ich gesorgt. »Okay«, murmelte Mike halblaut. »Alles klar. Aber kannst du mir verraten, wie wir jetzt nach London zurückkommen?« 105
Tja, ließ sich Balthasar vernehmen. Das ist jetzt wohl dein Problem, Partner. Aber auf jeden Fall solltest du dich beeilen. Ingar wartet nämlich schon sehnsüchtig auf dich... »Balthasar!«, brüllte Mike. Aber sein Partner aus dem Geisterreich rührte sich nicht mehr. Mike zuckte die Schultern und lächelte Loisa Maddigan beruhigend an. Aber innerlich kochte er. Es gab manchmal Tage, da nahm er sich fest vor, einem gewissen Balthasar Rufus Schwarzschwert sämtliche Barthaare einzeln auszurupfen. Heute war so ein Tag! Ende
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